Die Kenntnis beider “Indien” im frühneuzeitlichen Europa: Akten der Zweiten Sektion des 37. deutschen Historikertages in Bamberg 1988 [Reprint 2018 ed.] 9783486827729, 9783486558968


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German Pages 186 [192] Year 1991

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Verzeichnis der Bilddokumente
Humanismus in den deutschsprachigen Ländern und Entdeckungsgeschichte 1493-1534
Verständnislosigkeit und Verstehen, Sicherheit und Zweifel: Das Indiobild spanischer Chronisten im 16. Jahrhundert
Der Eintritt des amerikanischen Überseebewohners in die europäische Geschichte (15.-18. Jahrhundert)
Die Faszination des Exotischen: Deutsche Indien-Berichte der frühen Neuzeit (1500-1750)
Abundantia, Sapientia, Decadencia: Zum Wandel des Chinabildes vom 16. bis zum 18. Jahrhundert
Zur Person der Herausgeber, Verfasser und Bildkommentatoren
Nachweis der Bildquellen
Personenregister
Sachregister
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Die Kenntnis beider “Indien” im frühneuzeitlichen Europa: Akten der Zweiten Sektion des 37. deutschen Historikertages in Bamberg 1988 [Reprint 2018 ed.]
 9783486827729, 9783486558968

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Die Kenntnis beider 'Indien' im frühneuzeitlichen Europa

Die Kenntnis beider 'Indien' im frühneuzeitlichen Europa

Akten der Zweiten Sektion des 37. deutschen Historikertages in Bamberg 1988 herausgegeben von

Urs Bitterli und Eberhard Schmitt

R. Oldenbourg Verlag München 1991

Umschlagbild: Schiffslände am Tejoufer in Lissabon: vor dem königlichen Arsenal liegen zahlreiche Schiffe, zwischen ihnen bewegen sich Boote aller Art. Ausschnitt aus der Seite "Der Hl. Johannes auf Patmos" im Stundenbuch König Manuels von Portugal (fol. 25 v.), 1. Hälfte des 16. Jhs. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Museu Nacional de Arte Antiga, Lissabon.

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Die Kenntnis beider "Indien" im frühneuzeitlichen Europa : Akten der zweiten Sektion des 37. Deutschen Historikertages in Bamberg 1988 / hrsg. von Urs Bitterli u n d Eberhard Schmitt. München : Oldenbourg, 1991 ISBN 3-486-55896-X NE: Bitterli, Urs [Hrsg.]; Deutscher Historikertag

© 1991 R. O l d e n b o u r g Verlag GmbH. M ü n c h e n Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Satz und Druck: Kaisser, Salach ISBN 3-486-55896-X

Inhalt Vorwort Verzeichnis der Bilddokumente Dieter Wuttke: Humanismus in den deutschsprachigen Ländern und Entdeckungsgeschichte 1493-1534 Hans-Joachim König: Verständnislosigkeit und Verstehen, Sicherheit und Zweifel Das Indiobild spanischer Chronisten im 16. Jahrhundert Urs Bitterli: Der Eintritt des amerikanischen Uberseebewohners in die europäische Geschichte (15.-18. Jahrhundert) Gita Dharampal-Frick: Die Faszination des Exotischen: Deutsche Indien-Berichte der frühen Neuzeit (1500-1750) Walter Demel: Abundantia, Sapientia, Decadencia Zum Wandel des Chinabildes vom 16. bis zum 18. Jahrhundert Zur Person der Herausgeber, Verfasser und Bildkommentatoren Nachweis der Bildquellen Personenregister Sachregister

Vorwort Der vorliegende Band versammelt die erweiterten Texte der Referate, wie sie in der Arbeitsgruppe zur vergleichenden Uberseegeschichte der frühen Neuzeit auf dem 37. Deutschen Historikertag in Bamberg (Zweite Sektion) am 13. Oktober 1988 gehalten worden sind. Der Titel, den die Herausgeber gewählt haben, "Die Kenntnis beider 'Indien' im frühneuzeitlichen Europa, weist auf die globale Weite, aber auch auf die innere Geschlossenheit der Thematik hin. In der europäischen Weltvorstellung vom Mittelalter bis zur Aufklärung erschienen die "beiden Indien", das östliche und das westliche, als die Altarflügel eines Diptychons, die sich beidseits einer Achse, die man selber darstellte, öffnen ließen. Zum östlichen Indien hat das Abendland früher Kontakt aufgenommen: durch direkte Beziehungen zum Vorderen Orient bereits in der Antike und im Zeitalter der Kreuzzüge, aber auch durch den von Zwischenhändlern vermittelten Austausch von Waren über die Verbindungsstraßen zu Land und See bis in den Fernen Osten. Die Entdeckung des westlichen Indien, der "Neuen Welt", durch Christoph Kolumbus vor bald fünfhundert Jahren, kann als eine Antwort auf die Herausforderung durch den Osten begriffen werden. Ausgehend vom Gedanken der Kugelgestalt der Erde hoffte der Genuese, auf einem kürzeren Wege als ihn die Portugiesen bereits ums Kap der Guten Hoffnung herum angetreten hatten, zu den Reichtümern Indiens zu gelangen. Kolumbus selbst erkannte nie die volle Bedeutung seiner Entdeckung. Erst nach seinem Tod gewann die Entwicklung der westindischen Kolonien unter der spanischen Krone, die man nun in Anlehnung an den Seefahrer Amerigo Vespucci auch "Amerika" nannte, ihre Eigendynamik, die bald auch andere Seemächte auf den Plan rufen sollte. Auch wenn der Aufbau der kolonialen Herrschaft in beiden Indien - portugiesisches Stützpunktsystem im Osten, spanische Landnahme im Westen - sehr unterschiedlich verlaufen sollte, blieb doch ein Zusammenhang zwischen beiden Weltregionen in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht immer bestehen: Edelmetalle aus dem Westen dienten zur Bezahlung der Importprodukte aus dem Osten; die völkerrechtlichen Abmachungen, in denen sich die Kolonialmächte über ihre Besitzanteile einigten, gingen

Vorwort

von diesem zweigeteilten Weltbild aus; die Missionierung wurde als Mittel der geistigen Dominanz in beiden Bereichen mit ähnlichen Methoden, wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg, erprobt. Im Schrifttum der europäischen Kommentatoren schließlich, die sich seit dem 16. Jahrhundert darum bemühten, das Faktum der überseeischen Entdeckungsreisen geistig zu verarbeiten, wird die Vorstellung "beider Indien" immer wieder sichtbar, nicht sosehr als ein ihrem Weltbild immanenter Gegensatz, sondern als sich ergänzende Dualität. Welch überraschende Herausforderung die Tatsache der KolumbusReisen für das humanistische Denken bedeutete, macht der einleitende Beitrag des vorliegenden Sammelbandes von Dieter Wuttke (Bamberg) deutlich. Der Verfasser wendet sich besonders dem Werk von Humanisten im deutschsprachigen Kulturbereich zu, von denen die Nachricht der Entdeckung Amerikas als erwünschte Weitung des Horizonts fast durchwegs begrüßt worden ist. In seinem Aufsatz über das "Indiobild spanischer Chronisten" befaßt sich Hans-Joachim König (Eichstätt) mit dem Problem der durch ideologische Voreingenommenheit und Mängel des methodischen Vorgehens erschwerten Beurteilung des Uberseebewohners im 16. Jahrhundert. An Königs Ausführungen schließt der Aufsatz von Urs Bitterli (Zürich) an, der die französischen und englischen Reiseberichte zu Nordamerika auf ihr Indianerbild hin überprüft und für das 18. Jahrhundert eine Erweiterung des völkerkundlichen Verständnisses konstatiert, das jedoch wieder durch die Beschränkungen des aufgeklärten Fortschrittglaubens gefährdet erscheint. Dem Bild des östlichen Indien in Europa wenden sich die beiden abschließenden Beiträge zu. Gita Dharampal-Frick (Augsburg) beschäftigt sich mit den gedruckt vorliegenden deutschen Indien-Berichten im Zeitraum von 1500 bis 1750 und zeigt, wie schwer es auch hier den Berichterstattern fiel bei der Beurteilung der Fremdkultur über exotische Vorstellungen hinauszukommen, die sich in einer bloßen "Gegenprojektion des eigenen kulturellen Selbstverständnisses" erschöpften. Noch stärker als bei Indien scheint sich, wie Walter Demel (München) schließlich ausführt, beim Beispiel der chinesischen Kultur das europäische Verständnis auf wenige Begriffe zu reduzieren, die einen von der Realität weitgehend unabhängigen Eigenwert gewinnen. Die in dem vorliegenden Sammelband vereinigten Aufsätze thematisieren nur wenige, aber symptomatische Aspekte der "Kenntnis beider Indien im frühneuzeitlichen Europa" und sollen den Leser zu vertiefter Reflexion und weiterführenden Vergleichen anregen. Bedenkt man die Aufbruchstimmung, welche die Nachricht von der Entdeckung Amerikas unter europäischen Humanisten verbreitete, so will der seither zurückgelegte Weg zum besseren Verständnis der Fremdkulturen "beider Indien" VIII

Vorwort

als reichlich verschlungen erscheinen. Das östliche und das westliche Indien sind im ursprünglichen Wortsinn aus dem heutigen Sprachgebrauch verschwunden und unter dem Druck der Entwicklungsproblematik in den Ländern der Dritten Welt durch die Nord-Süd-Perspektive abgelöst worden; doch die Frage nach der europäischen Annäherung an das Verständnis der asiatischen und amerikanischen Fremdkulturen stellt sich wie eh und je. Noch ein Wort des Dankes: Die Drucklegung dieser Akten kam zustande dank eines Zuschusses der Forschungsstiftung für vergleichende europäische Überseegeschichte e.V. sowie einer Zuwendung der Universität Bamberg. Mitarbeiter der Forschungsstiftung besorgten auch die meisten Vorlagen für die sachgerecht und einfühlsam kommentierten Bilddokumente des Bandes. Sie sind weit mehr als Illustrationen: Als visuell erfaßbare zeitgenössische Aussagen von hohem Quellenwert ergänzen sie die Aussagen der Texte, ob sie nun mit diesen unmittelbar verschränkt sind oder nicht. Den zuständigen Sammlungen danken wir aufrichtig für die vorzüglichen Bildvorlagen und die freundliche Genehmigung, sie in diesem Band zu veröffentlichen. Die Umsetzung der Manuskripte in eine Satzvorlage für den Verlag lag in den Händen von Dr. Thomas Beck und Andreas Erdmann. Das Personenregister erstellte Stephan Diller, das Sachregister Gisela Schmitt. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Die Redaktion des Bandes lag in den Händen von Eberhard Schmitt. Urs Bitterli

Eberhard Schmitt

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Verzeichnis der Bilddokumente 1. Europa und Afrika auf der Weltkarte der Schedeischen Weltchronik. Holzschnitt (1493) (S. 7) 2. "Plvs vltra": Karl V. läßt die Säulen des Hercules nach dem fernen Westen versetzen. Federzeichnung von Giulio Romano (1530) (S. 13) 3. Philosophia von Albrecht Dürer. Holzschnitt (1502) (S. 31) 4. König Ferdinand, der Gemahl Isabellas, erhält von Christus den Auftrag zur Missionierung der Neuen Welt. Frontispiz der ersten deutschen Übertragung des Kolumbusbriefs von 1493. Holzschnitt (1497) (S. 39) 5. Poma de Ayala: Ein spanischer Priester zwingt eine peruanische Indianerin, für ihn zu weben. Federzeichnung (um 1615) (S. 49) 6. Die Gefangennahme des Inkakaisers Atahualpa durch Francisco Pizarro 1532. Frontispiz der deutschen las-Casas-Ausgaben durch Theodor de Bry. Kupferstich (1597) (S. 55) 7. Sauvage de La Nation des onneiothehaga: "Er raucht Tabak, zu Ehren der Sonne, die er als seinen besonderen Schutzgeist verehrt". Zeichnung (um 1700) (S. 71) 8. Die Algonkinsiedlung Secoton im späten 16. Jahrhundert am heutigen Pamlico River a. Das Originaldokument: ein Aquarell von John White (1585) (S. 77) b. Der weltberühmte Kupferstich von Theodor de Bry nach der Vorlage Whites (1590) (S. 79) XI

V e r z e i c h n i s der B i l d d o k u m e n t e

9. Tishcohan, eines der Häupter der Delaware. Ölgemälde von Gustavus Hesselius (1735) (S.91) 10. Handelsgeschäfte auf dem Marktplatz in Bantam. Romeyn de Hooghe zugeschriebener Kupferstich (1682) im vierbändigen Kompendium von Simon de Vries über Ost- und Westindien (S. 99) 11. Die Reichtümer Ostindiens, Frontispiz des Asienberichts von Philipp Baldaeus. Kupferstich (1672) (S. 113) 12. Die protestantische Mission in Tranquebar. Frontispiz zu der von Johann Jacob Kleinschmidt herausgegebenen Abhandlung: Kurtzgefaste historische Relation von der zu Bekehrung der heyden in Ost-Indien aufgerichteten Königl. Dänischen Mission. Augsburg 1736 (S. 119) 13. Der Jesuit Matteo Ricci und sein chinesischer Schüler, der Mandarin Xu Guangqi. Kupferstich (1667) (S. 135) 14. Chinesische Frauen - chinesische Männer. Kupferstiche (1669) aus dem Ostindien-Kompendium des Johan Neuhof (S. 144/145)

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Humanismus in den deutschsprachigen Ländern und Entdeckungsgeschichte 1493-1534 Dieter Wuttke für William S. Heckscher "Quaenam igitur fugiendi ratio? Si contrahas et astringas, vt dixi, curiositatem, potissimum autem, si mentem verteris ad ea, quae magis prosunt juuantque. Curio.se perquire, quae sunt in coelo, quae in terra, quae in aere, quae in mari. Vtrum paruarum rerum contemplatione delectaris an magnarum? Si magnarum, circa solem curiosus esto, vbi occidat et vnde exoriatur.... At magna contemnis? Curiosus igitur esto circa minora...." (Plutarch "De curiositate", ins Lateinische übersetzt von Erasmus von Rotterdam. Erstdruck 1526).

In meinen früheren Forschungen habe ich mich noch nie mit dem Thema "Humanismus und Entdeckungsgeschichte" beschäftigt. Als mich Eberhard Schmitt aus Anlaß des Bamberger deutschen Historikertages bat, zu diesem Thema einen Beitrag zu übernehmen, sagte ich nur zögernd zu, weil ich meinte, die deutschen Humanisten hätten zwar die Erfindung der Bombarda und vor allem des Buchdrucks positiv gewürdigt, die Entdeckung beider 'Indien' aber kaum beachtet. Ich schlug daher vor, eher über die Nicht-Resonanz der Entdeckungen bei den Humanisten zu sprechen und über die Gründe dafür einige Reflexionen vorzutragen. Kaum hatte ich mit bibliographischen Vorarbeiten und mit Quellenlektüre begonnen, als ich bemerkte, daß mein Themenvorschlag unbewußt von jenem Vorurteil geleitet gewesen war, das das allgemeine historische Bewußtsein bestimmt, die Humanisten der Renaissance seien viel zu sehr in philologisch-literarischem Sinne mit den antiken Schriftstellern beschäftigt gewesen und mit deren Wiederbelebung und hätten die Inhalte der antiken Schriften als unantastbare Autorität verehrt, als daß sie für den an sich aufregenden und das Weltbild revolutionierenden Vorgang der Entdeckung unbekannter Länder und Völker hätten aufge-

Dieter Wuttke

schlössen sein können. Ich wurde also gezwungen, meinen Themenvorschlag zu ändern, und bin Eberhard Schmitt dankbar, daß er mir zu einem höchst notwendigen Akt der Selbstaufklärung verholfen und dann noch die Gelegenheit geboten hat, unter einer so ehrenvollen Bedingung vor deutschen Historikern davon Rechenschaft ablegen zu dürfen. Bei der Beurteilung meiner Ausführungen bitte ich zu berücksichtigen, daß ich kein Expansionsgeschichtsforscher bin und mich mit dem Thema nur mit erheblichen Unterbrechungen beschäftigen konnte sowie insgesamt nicht länger, als des Kolumbus erste Reise dauerte. Ich konnte daher die uferlose Forschungsliteratur nur ausschnittweise zur Kenntnis nehmen, mußte mich auf den Humanismus in den deutschsprachigen Ländern beschränken und innerhalb dieser geographischen Region auf Quellen aus dem Zeitraum zwischen 1493 und 1534. Die obere zeitliche Grenze 1534 ist ganz willkürlich gesetzt, weitere Quellen konnte ich in der kurzen Zeit einfach nicht bewältigen, zumal sie ja mühsam aufgesucht werden müssen. Zwar fand ich durchaus mehr Quellen in der Staatsbibliothek Bamberg, und das ist bereits ein interessanter, sprechender Befund, als in den Bibliotheken Nürnbergs; doch konnte ich die quellenbezogene tour d'horizon zu einiger Befriedigung erst in den reichen Beständen der British Library in London abschließen. Vielleicht war auch Zahlenmagie im Spiel, insofern ich meinte, daß ein Untersuchungszeitraum von 40 Jahren bereits signifikante Richtungen erkennen lassen müßte. In 58 Schriften von ca. 40 Autoren und im Werk zweier bildender Künstler, die als Humanisten gelten müssen, bin ich fündig geworden. Enthalten sind in der Summe auch Schriften von ausländischen Autoren, sofern sie in dem genannten Zeitraum im Deutschen Reich gedruckt worden sind und die ausländischen Humanisten guten Kontakt zu deutschen unterhielten wie Baptista Mantuanus, Gianfrancesco Pico della Mirandola, Erasmus von Rotterdam und Thomas Morus. Ziel meiner Untersuchungen ist es nicht, neue faktische Wahrheiten über die Entdeckungsreisen zu eruieren oder die schon so oft besprochenen Berichte der Entdecker erneut zu besprechen. Die mich leitende Frage ist vielmehr die: Wie haben die deutschen Humanisten und die im deutschen Sprachgebiet schnell rezipierten ausländischen Humanisten auf die Entdeckungsberichte reagiert? Welche über die Berichte hinausgehenden Erfahrungsmöglichkeiten standen ihnen zur Verfügung? Mein Ziel ist es, eine vorläufige Typologie der Reaktionen zu erarbeiten. Dabei war auf Empfehlungs- und Widmungsschreiben bzw. entsprechende Gedichte sowie auf Nachworte und auf Adressen an den Leser besonders zu achten, ferner auch auf die Aufmachung und Typographie der Drucke.

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Humanismus und Entdeckungsgeschichte 1493-1534

Nach meinen Beobachtungen gibt es nicht nur eine im historischen Bewußtsein aufzuwertende Geschichte humanistischer Reaktionen auf die Entdeckungen, sondern auch eine wohl noch nicht in allen Facetten erfaßte Geschichte der gelehrt-intellektuellen, 'philosophischen', dabei auch literarischen Vorbereitung, die als bewegungsstiftendes, beschleunigendes Element, insbesondere seit dem 15. Jahrhundert, beschrieben werden muß. In dem ersten Hauptteil meiner Ausführungen möchte ich daher darauf eingehen. Dante hat in seiner "Göttlichen Komödie" den großen Seefahrer Odysseus in die Hölle versetzt. Dies wird überwiegend als Verurteilung des Strebens nach neuem Wissen und nach Entdeckung angesehen. Und mit Hans Blumenberg wird begründend angeführt, Odysseus und seine Gefährten hätten sich der Sünde der curiositas schuldig gemacht. In Petrarca sieht man den ersten modernen Menschen, weil er entweder tatsächlich oder in gekonnter Fiktion den Mont Ventoux bestieg, in seiner Entdeckerfreude dem Odysseus Dantes gleich. Doch gleichzeitig gilt er als zutiefst bedauernswürdig, weil er die Entdeckung um der Entdeckung willen, den Naturgenuß um seiner selbst willen, nicht ausgehalten hat. Sein mittelalterliches, kirchlich gefangenes Gewissen läßt ihn mit den Bekenntnissen des Augustinus den Weg in die äußere Erfahrung als Abkehr von dem Weg in die innere Erfahrung, von der Selbsterkenntnis, und daher als sündhaft erleben. Wenn ich versuche, beide Stellen neu zu lesen, komme ich zu einer etwas anderen Deutung: Sie sind nach meiner Meinung eine Reaktion darauf, daß nicht nur der Mensch der Antike, sondern der Mensch der Gegenwart Dantes und Petrarcas die Möglichkeit kennt und ausübt, in äußerster Anspannung seiner praktischen, technischen und theoretischen Fähigkeiten, zu neuen Erfahrungen und Entdeckungen vorzudringen. Eben dies Tun wird positiv ausformuliert, und es wird nicht gesagt, dies dürfe der Mensch auf keinen Fall. Aber warum befindet sich dann der Odysseus Dantes in der Hölle und warum sieht gerade in dem Augenblick Petrarcas Auge nach innen, in dem vorher nicht geschaute Naturpracht außen vor ihm liegt? Weil es beiden Autoren darum geht, eine Grenze sichtbar zu machen, eine Lehre zu vermitteln: Diese Lehre lautet nicht: Erfahrung, nein. Sie lautet vielmehr: Erfahrung, ja, aber nur bis zu der Grenze, an der der Mensch äußerlich und vor allem innerlich nicht in Gefahr kommt. Odysseus spricht bei Dante die Lehre mit aller Deutlichkeit aus: "Ihr sollt nach Tugend und nach Wissen streben". Das meint kein unverbundenes Nebeneinander von Tugend und Wissen, sondern eine funktionale Beziehung. Das Streben nach beidem gehört zum Menschen, aber es gibt eine Rangfolge der Werte. Der Wert Tugend steht über dem 3

Dieter Wuttke

Wert Wissen. Das Tugendstreben läßt das Wissensstreben dort begrenzen, wo der Mensch äußerlich und/oder innerlich in Gefahr kommt. Odysseus hat sein und seiner Männer Wissensstreben nicht durch Besonnenheit gezügelt, darum gingen alle unter und darum muß er in der Hölle büßen. Und Petrarca wollte ein Exempel schreiben darüber, daß die Selbsterkenntnis vor aller anderen Erkenntnis steht. Daß die andere Erkenntnis möglich ist, war ihm so selbstverständlich wie nur etwas, dessen bin ich sicher. Wollen wir postmodernen Historiker eigentlich fortfahren, die Antworten Dantes und Petrarcas auf die Frage des Verhältnisses von Tugend und Wissen als 'mittelalterlich' und damit als hoffnungslos antiquiert abzuqualifizieren? Dann 'gute Nacht' Postmoderne! Ist die Frage nach dem Verhältnis von Tugend und Wissen nicht immer relevant gewesen, höchstens zeitweilig verdrängt, und ist sie nicht heute drängender denn je, wo der Wissensfortschritt rasend vorangeht, niemand ihn aufhalten will, aber doch mit neuem Nachdruck vom 'Prinzip Verantwortung', von der Notwendigkeit einer Wissenschaftsethik gesprochen und längst wieder die Frage gestellt wird, ob wir alles wissen dürfen, was wir wissen können? Ich vermag keinen Bruch zwischen diesen berühmten Äußerungen Dantes und Petrarcas und der Aufwertung von Wissenschaft, insbesondere auch Naturwissenschaft, im Zuge der Aristoteles-Rezeption seit dem dreizehnten Jahrhundert zu sehen. Es ist mindestens seit den Forschungen von Anneliese Meier bekannt, daß die Aristoteles-Rezeption bei aller Aristoteles-Anerkennung nicht die Züge einer Denkmal-Vergötterung trug, sondern die eines eigenständigen Umgangs, der Kritik sehr wohl einschloß. Und diese Rezeption hat, wie wir an Albertus Magnus sehen, den Weg in die naturkundliche experientia freigemacht. Die Nominalisten der Scholastik haben diesen Weg verbreitert, auch das ist bekannt genug. Es ist daher nicht verwunderlich, daß dies gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts institutionelle Folgen erstmals sichtbar werden läßt und inneruniversitär den Vorgang zeigt, den ich Aufwertung der Artes Liberales nenne gegenüber den 'höheren' Fakultäten Medizin, Jurisprudenz und Theologie. Aufwertung der Artes heißt Aufwertung des sprachlich orientierten Triviums und des mathematisch-naturkundlichen Quadriviums. Damit beginnt die Vorgeschichte jenes Prozesses, der in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts kulminiert, danach zum praktischen Auseinanderbrechen der geistes- und naturwissenschaftlichen Fächer führt und in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zu deren institutioneller Trennung. Um 1400 kann die Artes-Fakultät in Paris eine so starke Stellung ausbauen, daß sie bis zu neunzig Prozent der Studierenden auf sich zieht. Die Universität Wien ist zu diesem Zeitpunkt auf dem Wege, die von der modernen Forschung so genannte Erste 4

Humanismus und Entdeckungsgeschichte 1493-1534

Mathematische Schule aufzubauen. In der Wiener Universität entstanden die "Versus de materia, fine et ordine scientiarum omnium", die gleichzeitig um 1400 in deutsche Prosa übersetzt wurden. In ihnen heißt es selbstbewußt, wie ich meine, zu den Artes: "dy siben freyn chunst machent scharff das gemüt vnd der-leuchtend dy äugen des gemucz vnd habent das recht, das sew vor den andern chunsten dy ersten schullen sein". Auch wenn ich mir im klaren bin, daß der zweite Halbsatz auf den propädeutischen Charakter der Artes abhebt, glaube ich aus der Formulierung "vnd habent das recht, das sew vor den andern chunsten dy ersten schullen sein" die genannte Aufwertungstendenz heraushören zu können, insbesondere aus der Wendung "vnd habent das recht". Die von mir als Aufwertung der Artes Liberales genannte Tendenz setzt sich in den Bestrebungen der Humanisten unmittelbar fort. Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II., dessen Bedeutung für die Geschichte des Frühhumanismus in den deutschsprachigen Ländern längst erkannt ist, verfaßte 1443 seinen berühmten Brief über humanistische Fürstenerziehung, den er als Sekretär Kaiser Friedrichs III. an den jungen Herzog Sigismund von Österreich richtete. Entgegen einer weitverbreiteten Vorstellung vom Humanismus empfiehlt Enea Silvio u.a. hier das Studium sämtlicher Artes und, fern eines fortschrittshemmenden Autoritätskultes gegenüber der Antike, die unablässige Überprüfung des bildungsmäßig Gelernten an der Erfahrung bzw. die Erprobung des Gelernten in der Praxis. Er formuliert dies keineswegs sozusagen aus freien Stücken, sondern hat durchaus die Rückenstärkung eines antiken Schriftstellers hinter sich, der mit seinen Formulierungen zur Verbindung von Theorie bzw. Buchwissen und Praxis, im Konzept einer Definition von Philosophie, in der Folgezeit eine immer vernehmlichere Stimme bekommen sollte. Aus Enea Silvios Formulierungen ist zu merken, daß er das achte Kapitel des dreizehnten Buches der "Attischen Nächte" des Aulus Gellius kennt. Hier gibt Gellius die Sapientia-Definition des römischen Tragödien-Dichters Afranius wieder und bekennt sich positiv zu ihr. Diese Definition lautet: "Sapientia ist die Tochter von Erfahrung und Erinnerung". Damit kommt neben die andere, seit der Antike bekannten Definition von sapientia bzw. philosophia, sie sei die Kenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge und von deren Ursachen, eine ergänzende Definition ins Bewußtsein, und es zeigt sich, daß wichtige deutsche Humanisten der Folgezeit beide Definitionen verbinden. Gellius erläutert seine positive Einstellung zu dieser Definition so: Damit werde gesagt, wer als sapiens gelten wolle, dürfe sich nicht nur im Buchwissen sowie in der Rhetorik und Dialektik auskennen, sondern müsse sich mit den Dingen selbst eingelassen haben sowie Wissen und Rat aus überstandenen Gefährdungen nehmen. 1477 hat der Humanist Rudolf Agricola eine 5

1. Europa und Afrika auf der Weltkarte der Schedeischen Weltchronik. Holzschnitt (1493) Die Weltchronik des Nürnberger Stadtarztes Hartmann Schedel (1440-1514) zählt wohl zu den bekanntesten Inkunabeln des deutschen Sprach- und Kulturraums. Auf dem noch jungen Buchmarkt steht sie am Beginn einer Gattungstradition, die im folgenden Jahrhundert mit den Kosmographien Sebastian Francks (1534), Christian Egenolffs (1535) und sichtlich am erfolgreichsten mit der zwischen 1545 und 1628 in zahlreichen erweiterten Auflagen publizierten und ähnlich wie der Wiegendruck üppig illustrierten "Cosmographia" Sebastian Münsters ihre Fortsetzung erleben sollte. Das zeitgenössische Nürnberg, wo der Schedeische Foliant 1493 in sowohl lateinischer als auch deutscher Fassung auf den Markt kam, war als Ort für seine Entstehung wie geschaffen: Hier hatte sich ein humanistisch gesinnter, eng zusammenarbeitender und kapitalkräftiger Gelehrtenkreis gebildet, dem u. a. die Patrizier Sebald Schreyer und Willibald Pirckheimer sowie Schedel selbst angehörten; während der Autor, wie Pirckheimer Besitzer einer großen Privatbibliothek, wohl rund zehn Jahre an der Abfassung der Weltchronik arbeitete, sollten Schreyer und sein Schwager Sebastian Kammermeister die Finanzierung des wegen seiner ungewöhnlich hohen Holzschnittanzahl und beträchtlichen A u f l a g e n h ö h e (vermutlich 1000-2000 Exemplare) kostenaufwendigen Druckes besorgen. Hier wirkte der renommierte Maler und Zeichner Michael Wolgemut, in dessen Werkstatt kein geringerer als Albrecht Dürer in die Lehre ging; er und ein Stiefsohn Wilhelm Pleydenwurff ließen sich für die Fertigung der Holzstöcke für die in der Weltchronik gezeigten Städteansichten, Porträts und szenischen Darstellungen gewinnen - mehr als 1800 an der Zahl! Und hier konnte man für die Drucklegung des Werkes ein Verlagshaus beauftragen, das zu den bedeutendsten deutschen des 15. Jahrhunderts zählte - das über internationale Geschäftsbeziehungen verfügende Unternehmen Anton Kobergers. Freilich wird man im Werk Schedels vergeblich nach einem Niederschlag der von Kolumbus eben entdeckten Neuen Welt suchen - fiel doch die, wenn auch in Europa mittels Flugschriftversionen massiv einsetzende Verbreitung dieser Sensationsnachricht gerade ins Druckjahr der Weltchronik und war man sich doch zu diesem Zeitpunkt noch nicht im klaren darüber, was jene Entdeckung bedeutete: nicht die Auffindung einer westlichen Seeroute nach "Cathay", sondern die eines von Asien unabhängigen, riesigen und unbekannten Kontinents. Noch zeigt deshalb Schedels Weltkarte, deren Form er bezeichnenderweise gemäß der Wiederentdeckung der antiken Lehrmeinung (1477 erschien die erste Ausgabe von Ptolemäus' "Geographia" in lateinischer Sprache mit einer Rekonstruktion seiner Weltkarte) nicht mehr als Scheibe, sondern "(ge)kugelt" umschrieben wissen will, lediglich die geläufigen drei Erdteile Europa, Afrika und das doppelt so große Asien. Sie sind umgeben von den für die zeitgenössische Kartenikonographie typischen Winden, symbolisiert durch Köpfe (benannt sind hier von links oben nach links unten: Chorus bzw. Agrestes [müßte korrekt heißen: Argestes] = Westnord; Favonius bzw. Zephir = West; Africanus bzw. Lips = Westsüd; Libanotus bzw. Euroauster = Südwest). Zu sehen ist weiter Japhet, ergänzt - im nicht

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Dieter Wuttke

gezeigten Teil der Weltkarte - um Harn und Sem; diese drei Söhne Noahs sollen nach der Sintflutkatastrophe als neue Stammväter die Völker Europas, Afrikas und Asiens begründet haben. Aufgrund der asymmetrischen Anordnung der Weltkarte blieb auf ihrer linken, hier gezeigten Hälfte ein Streifen frei, der Schedel die Gelegenheit gab, mittels der Figuren-Randleiste das Thema aufzugreifen, dem er bereits die vorangegangene Seite gewidmet hat - die Wunder des Ostens. Nicht weniger als 21 Holzschnitte stellen die ob ihrer Monstrosität wohl kaum eine sensationelle Wirkung auf den Betrachter verfehlenden Repräsentanten jener in entlegenen Gebieten Asiens vermuteten Rassen zur Schau, von denen hier - von oben nach unten - zu sehen sind: Mehrarmige Wesen, mit Fell bewachsene Jungfrauen, Zwölffingrige, Kentauren, Hermaphroditen, Vieräugige, Kranichköpfige. Diese - und zahlreiche andere - Fabelwesen des Orients erfreuten sich seit dem Altertum bis ins 17. und teilweise sogar 18. Jahrhundert hinein einer ungebrochenen und äußerst zählebigen Tradition und wanderten mit der Zunahme der europäischen Erdkenntnisse in der verarbeitenden Publizistik auch nach Afrika und besonders in die Neue Welt: Die Americana-Litera tur wußte sie rasch dort, wo die spröde Kartographie der Zeit - so sie denn auf Ausschmückungen verzichtete- - nur weiße Flecken auf der Erdkarte vermeldete. A. Menninger Im einzelnen zeigt der hier wiedergegebene Ausschnitt das alte Weltbild mit seinem "non plus ultra", seiner Westbegrenzung an den Säulen des Hercules. Während in das Kartenbild von 1500 an schnell die Ergebnisse der Entdeckungsreisen Eingang finden sollten, blieb die Vorstellung von den fernen Wunderwesen noch lange erhalten, auch in bezug auf die Neue Welt. Doch sollten wir Heutigen, angeblich so Aufgeklärten uns nicht vorschnell mokieren: das mythenschaffende Phantasiepotential ist - wenn auch in anderen Bereichen - weiterhin präsent. Es gehört offenbar zum Menschen. Man mag es bedauern, daß diese WeltchronikKarte nichts von der Entdeckerlust ahnen läßt, von der gegen Ende des Werkes wenigstens der Abschnitt über Portugal spricht, in dem mit Recht Heinrich der Seefahrer als Initiator in den Blick gerückt wird und Martin Behaim lokalpatriotisches Lob erfahrt. Die revolutionierende Tat des Kolumbus kam für dieses Werk zu spät, so daß es von dem "plus ultra" noch nicht berichten kann. Und dem Ende 1493 gefaßten Plan zu einer Neubearbeitung, der in die Hände des deutschen "Erzhumanisten" Conrad Celtis gelegt wurde, lief die Entwicklung förmlich davon. D. Wuttke

Lebensbeschreibung Petrarcas verfaßt, die Petrarca seine philosophische Größe aus seiner planvollen Reisetätigkeit gewinnen läßt. Gleich am Anfang scheint die Aulus-Gellius-Stelle durch, an der Agricola sagt, Petrarca habe unter der Führung der peregrinatio als hervorragender Lehrerin der Tüchtigkeit alles, was wert zu erinnern, angenehm zu wissen und großartig zu tun sei, aus Erfahrung selbst bestätigen wollen. 8

Humanismus und Entdeckungsgeschichte 1493-1534

Im selben Jahr 1477 hat Johannes Reuchlin in einer zu Basel gehaltenen Baccalaureatsrede die erfolgreichen Absolventen, gleichsam um sie für ihre Mühen im Dienste der Artes zu trösten, zu denen natürlich auch die peregrinatio académica nach Basel zu rechnen war, darauf hingewiesen, welche Reisen Plato, Apollonius und Philostratus auf sich genommen hatten, um den Gipfel der sapientia und philosophia zu erklimmen. Ähnlich hatte sich Agrícola bereits in der ein Jahr vorher gehaltenen Rede zum L o b e der Philosophie und der übrigen Wissenschaften geäußert. Wir beginnen jetzt zu ahnen, daß der Anlaß, der so zahlreiche Humanisten des fünfzehnten Jahrhunderts zu sogenannten Wanderhumanisten machte, einen philosophischen Hintergrund hatte. Seit im neunzehnten Jahrhundert das Stempelwort "Wanderhumanist" für dies Phänomen geprägt worden war, sollte damit abschätzig ein moralisches Defizit dieser Humanisten angesprochen werden: Reisen nicht als Tugend, sondern als Laster. So ist bis zum heutigen Tage unerkannt, daß kein anderer Reisewunsch diese Humanisten zur Bildungsreise und peregrinatio académica führte, als der aus altem Wissen philosophisch legitimierte Wunsch, den eigenen Erfahrungsraum zu erweitern, kein wesentlich anderer Reisewunsch, als er seit demselben neunzehnten Jahrhundert Kolumbus und den anderen Entdeckern fraglos zugebilligt worden ist, die, wenn auch im Dienste von Macht- und Handelsinteressen, keineswegs ausschließlich diesen Interessen folgten. Ich möchte auf folgende, höchst erstaunliche Interessen- und Ereignisparallelität hinweisen: Der berühmteste Schüler des Rudolf Agrícola ist der deutsche 'Erzhumanist' Conrad Celtis gewesen. Nach dem Vorgange Petrarcas und Enea Silvios wurde er als erster Deutscher 1487 auf der Nürnberger Kaiserburg von Kaiser Friedrich III. zum Poeten gekrönt. Wie kein zweiter hat Celtis in seinem zwischen 1486 und 1502 entstandenen Œuvre und in seinen Briefen peregrinatio und experientia als Führer zur wahren philosophia und sapientia propagiert und zu zeigen versucht, wie Gefahr und Irrtum die Wahrheit fördernde Faktoren sind, wenn die rechte philosophische Grundeinstellung gegeben ist. Bei der Ausformulierung dieses Programms bediente er sich mit wörtlichem Zitat des Aulus Gellius. Institutionell ist ihm der bis dahin größte Erfolg auf dem langen Weg der Aufwertung der Artistenfakultät, und zwar zu Wien mit Hilfe König Maximilians, gelungen. Er konnte das collegium poetarum et mathematicorum 1501/02 begründen, quasi als eine Art fünfte Fakultät, in der - modern gesprochen - Geistes- und Naturwissenschaften eine neuartige, innige Verbindung eingehen sollten. Celtis war seit 1487 mit dem nürnbergischen Humanisten, Arzt und Geographen Hieronymus Münzer befreundet. Münzer sah in dem gerade ausgezeichneten achtundzwanzigjährigen Poeten vor allem eine große kosmographische Be9

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gabung. Und während Münzer 1493 kurz nach Erscheinen der auch von ihm mit Beiträgen unterstützten Weltchronik Hartmann Schedels seinen bekannten Brief an König Johann II. von Portugal schrieb, er solle auf dem Westwege den Fernen Osten entdecken lassen, veranlaßten er und die Nürnberger Freunde um Schedel und Sebald Schreyer Conrad Celtis, reisend das Land zu entdecken und zu beschreiben, das vor der Tür lag, nämlich Deutschland sowie weite Teile Nord- und Osteuropas, und auf dieser Grundlage eine Neuauflage der Schedeischen Weltchronik und eine umfassende "Germania Illustrata" vorzubereiten. Z.B. aus dem Ende seiner Vorrede zu den "Amores" wird ganz klar, daß Celtis eine äußerst bewußte Wahl für die Richtung seiner Interessen getroffen hatte. Den "überseeischen Ländern" u.a. galt sein Interesse ausdrücklich nicht. Da die antiken Geographen Deutschland und andere Teile des übrigen Nordeuropa nicht gekannt und daher nicht beschrieben hatten, waren diese Regionen eigentlich so unbekannt wie die Neue Welt. Auch Münzer stellte sich in den Dienst dieser Sache, indem er Berichte über seine ausgedehnten Reisen verfaßte. Zum selben Zeitpunkt also, als Europa sich anschickte, neue, unbekannte, vorher höchstens geahnte Außenwelten zu entdecken, beginnt es mit nicht geringerer Energie, seine Innenwelt zu entdecken und überschreitet in vollem Bewußtsein der Defizite des antiken Weltbildes auch nach innen die Grenzen des traditionellen Wissens. Mir liegt daran, die beiden Vorgänge als komplementär vor Augen zu stellen. Daß dies berechtigt zu sein scheint, zeigt die Person Münzers besonders schön: Münzer ist belegbar nach beiden Richtungen hin tätig. Für die Folgezeit ließe sich leicht zeigen, wie die Interessen für die eigene und die fremde Welt häufig bei ein- und demselben Gelehrten komplementär parallel gehen. Doch will ich diesen Gesichtspunkt im folgenden außer acht lassen und mich auf die Typologie der humanistischen Reaktionen auf die Entdeckungen außereuropäischer Länder beschränken. Ich weiß nicht, ob es noch irgendein anderes deutsches Werk der Zeit gibt, in dem so deutlich darauf hingewiesen wird, daß seit einigen Jahrzehnten ein sich beschleunigender Prozeß der Entdeckung neuer Länder auf dem Seewege in Gang gekommen ist, wie in dem Abschnitt über Portugal in der am 12. Juli 1493 in Nürnberg erschienenen Schedeischen Weltchronik. Der Abschnitt läßt die Entwicklung mit Heinrich dem Seefahrer beginnen, hebt dann insbesondere den Beitrag Martin Behaims hervor und nennt ihn stolz einen Deutschen und Nürnberger. Wie kein anderer Zeitgenosse erfährt Behaim in dem Werk eine nähere Charakterisierung. Er besitze ein vorzügliches geographisches, mit Ausdauer er10

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rungenes Wissen von Land und Meer. Die Längen- und Breitengrade des Ptolemäus kenne er im Westen aus langer Seefahrterfahrung aufs Genaueste. So hätten er und Diogo Cäo durch ihre Tüchtigkeit einen bis dahin unbekannten Weltkreis entdeckt. Da ich in meinem Beitrag nicht primär an den Fakten der Entdeckungsgeschichte interessiert bin, brauche ich nicht zu bedauern oder zu kritisieren, daß der Name des Kolumbus bei Schedel nicht genannt wird. Aber wäre es überhaupt möglich gewesen, nachdem Kolumbus erst seit vier Monaten wieder in Europa war? Oder anders gefragt, wäre es für die nationalstolzen Nürnberger überhaupt möglich gewesen, in dieser kurzen Zeit zu wissen und zu entscheiden, ob Kolumbus eigentlich mehr und anderes gefunden hatte, als von Behaim bereits bekannt war, der ja 1491 und 1492 in seiner Vaterstadt verbrachte? Jedenfalls erweist sich der nürnbergische Humanistenkreis um Schedel, Schreyer und Münzer, der so intensive Beziehungen zu Celtis unterhielt, daß er ihn Ende 1493 mit der Neubearbeitung der Weltchronik beauftragte, als der erste, der auf die zeitgenössischen Entdeckungsfahrten äußerst positiv reagierte und sie als eine bedeutende Erweiterung früherer Kenntnisse würdigte. Damit haben wir bereits die mit Abstand häufigste Reaktion deutscher bzw. in Deutschland publizierter Humanisten in dem Zeitraum 1493 bis 1534 kennengelernt. In 36 der 58 Schriften, in denen ich fündig geworden bin, kommt die Würdigung der Entdeckungen als Großtat zum Ausdruck. Sehr häufig wird dabei betont, daß damit die Antike überboten und insbesondere die Geographie des Ptolemäus wesentlich ergänzt werde. Diese Art Hervorhebung kann mit einem Herrscherlob verbunden sein, etwa Ferdinands, der 1492 Granada eroberte und Restspanien aus der Herrschaft der Mauren befreite, oder des deutschen Königs und Kaisers des Hl. Römischen Reiches, Maximilians, oder der spanischen Majestäten. Das Motiv der Überbietung der Antike erhält einige Male eine betont 'literarische' Note, so wenn es heißt, was Vergil bereits verkündet habe, daß es jenseits der Säulen des Hercules Länder gebe, das habe sich nun bewahrheitet oder wenn von Magalhäes und seinen Seeleuten gesagt wird, ihr Verdienst sei ungleich höher als das der Argonauten, und ihr Schiff verdiene eher als die Argo unter die Sterne versetzt zu werden. Zu den Autoren solcher Äußerungen gehören Hieronymus Münzer, Johannes Collaurius, Jacob Locher, Johannes Cuspinianus, Matthias Ringmann Philesius, Conrad Peutinger, Baptista Mantuanus, Gianfrancesco Pico della Mirandola, Jobst Ruchamer, Willibald Pirckheimer, Benediktus Chelidonius, Johann Schöner, Joachim Vadianus, Martin Waldseemüller und überraschenderweise auch Sebastian Brant, der eigentlich mit dem Stigma behaftet ist, den Entdeckungstaten ablehnend gegenüber gestanden zu sein. Die bisher von der Forschung übersehene Stelle steht in einem 11

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1494 verfaßten lateinischen Gedicht, in dem der Humanist König Ferdinand zur Vollendung der Reconquista gratuliert. Zu seinem Herrschaftsbereich rechnet er auch die "regna reperta mari", die im Meer gefundenen Reiche, und ruft aus, "O Vaterland, o glückliches Deutschland, wenn das Schicksal oder Gott dir doch ebenbürtige König gäbe!" Wichtigstes Leitwort in all diesen Äußerungen und in zahlreichen Buchtiteln oder Uberschriften ist "novus", neu. Häufigste Verbindungen sind "novae insulae", neue Inseln, oder "mundus novus", neue Welt. Das Leitwort begegnet auch in der Substantivierung "nova", Neues. Ein sprachkünstlerisch besonders eindrucksvolles Beispiel der Propagierung von "nova", Neues, ist jenes Distichon an den Leser, das 1507 der zweiten Ausgabe von Waldseemüllers "Cosmographiae Introductio" beigegeben ist: "Cum nova delectant fama testante loquaci / Q u a e recreare queunt, hic nova lector habes." (Wem Neues gefällt, von wortreicher Fama bezeugt, das Erholung zu verschaffen vermag, hier findest du Neues, Leser.) Es wäre aber falsch zu meinen, erst mit der Tat des Kolumbus entstehe in den Köpfen der Zeit der Neuigkeitshorizont. Längst war man sich bewußt, daß durch Gelehrte wie Regiomontan im Bereich der mathematischen Wissenschaften und daß technisch durch Erfindungen wie Buchdruck und Bombarda, ja daß auf fast allen Gebieten, wie bereits 1492 formuliert wird, der Aufbruch in Neuland erfolgt war, der weit über altes Wissen und Können hinausführte. Ab 1516 wählte der spätere Kaiser Karl V. als Herzog von Burgund und designierter spanischer König die Devise "Plus Oultre", die er Ende 1517 auf spanische Initiative latinisiert als "Plus ultra" fortsetzte. Vor 1516 ist diese Devise unbekannt, es liegt also eine bewußte Wahl Karls vor, die kaum ohne humanistischen Einfluß erfolgt sein dürfte. Die Devise heißt "Darüber hinaus!" oder in zeitgenössischem Deutsch "Noch weiter!" Gemeint ist, über die Säulen des Hercules, also über die der Antike bekannte Welt hinaus. Damit ist die Vorstellung der Überbietung der Antike zur stolz-selbstbewußten Devise des späteren Kaisers des Römischen Reiches Deutscher Nation geworden. Da in "Oultre", "ultra", ein alter Pilger- und Kreuzfahrerruf weiterlebt, hat diese Devise durchaus nicht nur eine machtpolitische, sondern ebenso eine christlich-missionarische Bedeutung. Eng verwandt mit der bewundernden Bewertung der Entdeckungen als unerhörte Großtat ist der Ausdruck von Interesse und Freude am Fremden und Exotischen. Als Anregung stehen die Brief-Berichte des Kolumbus und Vespucci dahinter oder tatsächliche erste Begegnungen mit Menschen, Tieren, Pflanzen und Gegenständen aus der Neuen Welt oder mit Seeleuten, die dort waren. Schon 1494/5 hat Hieronymus Münzer auf seiner Spanien-Reise Indianer und Neger gesehen, wie er in dem 12

2. "Plvs vltra": Karl V. läßt die Säulen des Hercules nach dem fernen Westen versetzen. Federzeichnung von Guilio Romano (1530) Die Federzeichnung des Guilio Romano trägt den Titel "Triumph Kaiser Karls V." Anlaß für ihre Entstehung war, wie der Kunsthistoriker van Regieren Altena vermutet, der feierliche Einzug Karls V. in Mantua im März 1530. Guilio Romano nahm bei seiner Glorifizierung Karls V. eine Fülle antiker Motive auf: das Schiff ist einer römischen Kampfgaleere nachempfunden; der Flußgott ist in Anlehnung an den berühmten "Tiber" der Antike gestaltet, dessen Skulptur sich heute im Louvre befindet; die Gefangene in der unteren Bildmitte erinnert an ein Relief vom Diokletiansbogen in Rom, das gerade um 1520 wieder aufgefunden worden war. 13

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In der Mitte des Bildes steht Kaiser V. in antiker Rüstung, in der linken Hand hält er eine Standarte, deren Spitze ein römischer Adler ziert. Vor ihn, an den bewehrten Bug, ist "Fama", die Tochter der Erde und Botin der Wahrheit und Lüge, charakterisiert durch Fanfare und Palme, geeilt, hier wohl als Übermittlerin des Unglaublichen zu deuten: sie hält deutlich sichtbar einen Schild mit dem Motto Karls V. "PLVS VLTRA", "darüberhinaus". Neben dem Schiff schickt sich Hercules an, die berühmten, nach ihm benannten Säulen mit kräftigem Arm nach Westen zu versetzen, der erwähnte Flußgott unter ihm hält ein Füllhorn, wohl eine Anspielung auf den Reichtum der Neuen Welt. Die Darstellung bringt in ihrer Gesamtkonzeption wie in ihren Einzelheiten, gestellt auf geläufige Topoi der Zeit, zum Ausdruck, daß Karl V. der legitime Nachfahre der römischen Kaiser und Herr über die Alte wie die Neue Welt sei: gewissermaßen in seinem Dienst versetzt der Heros Hercules die nach ihm benannten Säulen, die einst das Ende der Welt im Westen markierten, weit hinaus ins bisher Unbekannte, Karls V. Motto in die Tat umsetzend. E. Schmitt

Itinerar angibt. 1503 hält sich der humanistische Sekretär Johannes Collaurius zusammen mit dem Humanisten und Kardinal Matthaeus Lang in Antwerpen auf. Sie treffen dort portugiesische Seeleute, deren Berichte über unerhörte Neuigkeiten sie überwältigen; so Collaurius brieflich an Conrad Celtis. "Wärest du doch hier", ruft er dem Erzhumanisten zu, "dann hättest du auch jene neue Karte vom Seeweg zum Südpol gesehen, die Lang abgezeichnet hat. Du sollst das in Kürze gezeigt bekommen". Und: "Alius orbis repertus est priscis ignotus!" Johannes Stamler, Kirchenvorsteher in Kissingen, sieht 1506 zwei junge Eingeborene, die er sich sorgfältig anschaut. Hutten berichtet 1519, er habe ein Gespräch mit Paulus Ricius in Augsburg gehabt, in dem dieser sich auf einen Spanier als Gewährsmann bezogen habe, der in der Neuen Welt gewesen sei. Von den zeitgenössischen bildenden Künstlern rechne ich zwei zu den Humanisten, Hans Burgkmair in Augsburg und Albrecht Dürer in Nürnberg. Burgkmair illustriert 1508 Balthasar Springers Bericht der Indienfahrt von 1505/6; bei Dürer finden wir, seit er 1515 die Randzeichnungen zum Gebetbuch Kaiser Maximilians schuf, die Spuren der Auseinandersetzung mit den Neu-Entdeckungen. Berühmt ist ja die Stelle im Tagebuch der niederländischen Reise zum Jahre 1520, in der er seinen Eindruck von den mexikanischen Schätzen wiedergibt, die Cortés für Karl V. mitgebracht hatte und die nun in Brüssel zur Besichtigung standen. 1507 schreibt Conrad Peutinger an Sebastian Brant, er müsse ihm unbedingt die Papageien zeigen, die er nun besitze. 1508 hebt Jobst Ruchamer in der Vorrede zu seiner deutschen Übersetzung der italienischen Vespucci-Berichte, die unter dem Titel "Paesi novamente retrovati..." erschienen waren, in starkem Maße auf das Leser-Interesse am Fremden, Exotischen ab. 1511/12 sagt Willibald Pirckheimer in einem nicht genau datierten Brief 14

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an einen Ungenannten, er habe sich an einem Bericht über "indische" Verhältnisse nicht wenig gefreut. Er sei nämlich ein neugieriger Erforscher dieser Dinge "harum rerum curiosus scrutator". Wir kennen eine fragmentarische "Descriptio Indiae" Peutingers, in der er eine kurze Charakteristik des Nashorns gibt. Es kommt in dieser Zeit zu neuen Ansätzen einer vergleichenden Kulturkunde. Jakob Locher fordert 1507 Johann Stamler auf, den er einen Odysseus und Reisenden zu vielen Völkern nennt, er solle einen Vergleich der christlichen mit den nichtchristlichen Religionen verfassen, um dem Christen etwas an die Hand zu geben, die nichtchristlichen Religionen zu widerlegen. Die Schrift erscheint 1508 als gelehrtes Gespräch: "Dialogus de diversarum gencium sectis et mundi religionibus". Kaiser Maximilian bespricht 1515 mit Johannes Trithemius die Frage, wie es um die Erlösung der neu gefundenen Völker im Vergleich zu den Christen stehe. Trithemius antwortet, wer glaube und sich taufen lasse, werde erlöst. Erasmus erörtert 1524 in einem Gespräch die Relativität der Bewertung kultureller Phänomene am Beispiel der öffentlichen Nacktheit der entdeckten Insulaner. Was bei ihnen Ausdruck selbstverständlicher Würde sei, errege im europäischen Kulturkreis öffentlichen Anstoß. Als bedeutendstes Werk dieser Richtung, das die Fremdheitserfahrung unter vergleichendem Aspekt fruchtbar umsetzt und zum Namengeber einer bestimmten literarischen Gattung wird, ist die "Utopia" des Thomas Morus zu nennen, die 1516 erstmals erscheint und auf deutschsprachigem Boden zuerst 1518 in Basel nachgedruckt wird. Angeregt von den Vespucci-Berichten führt Morus das vorbildliche Eigene im Nachdenken über die beste Staatsform als Utopie einer fremden Welt an die Mitwelt heran. Außer den eben schon genannten Autoren reflektieren noch weitere über das Verhältnis des Christentums zu den Entdeckungen. 1507 feiert Pico della Mirandola in seinem Hymnus an Christus die Entdeckungen als einen Sieg Christi. Ruchamer würdigt 1508 die unerhörte, gefährliche Reise als ein großes Wunder, das die Christen vollbracht hätten. Baptista Mantuanus liest in seinen 1516 erstmals publizierten "Fasten" aus den Entdeckungen den Auftrag Gottes ab, den wie wilde Tiere lebenden Barbaren das Christentum zu bringen. Bereits 1494 hatte er festgestellt, die biblische Verheißung "Ihr Wort ging aus in alle Welt" sei offensichtlich noch nicht erfüllt. Und 1516 will er nicht ausschließen, daß es weitere Länder geben könne, die von Christus noch nichts gehört hätten. Sebastian Bunderlius sieht in einer 1514 in Wien vor Maria, der Erzherzogin von Österreich, gehaltenen Rede "tota Christiana religio quam latissime et aucta et diffusa." Ahnlich äußert sich 1519 Benedictus Chelidonius. Erasmus dagegen zeigt sich 1526 in einem seiner "Colloquia" wenig überzeugt 15

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von der Ernsthaftigkeit des Missionierungsgedankens, indem er einen Teilnehmer sehr kritisch bemerken läßt: "Ich habe genau gesehen, daß von dort Beute weggeschleppt worden ist, von der Einführung des Christentums habe ich nichts gehört." Mit dem letzten Zitat sind wir bei dem Materialismus-Vorbehalt der Humanisten angelangt, der, wo er im Zusammenhang mit den Entdekkungen begegnet, die Humanisten bei den modernen Beurteilern gehörig in Mißkredit gebracht hat. Nachdem die Historiker einmal die Tat des Kolumbus zum Beginn der Neuzeit gemacht hatten, konnten sie eine einschränkende Bemerkung zu dieser Tat oder eine vermeintliche Ablehnung nicht akzeptieren. Es war recht folgenreich für die Beurteilung aller Humanisten, daß ausgerechnet der erste deutsche Humanist, der die jüngsten Entdeckungen der Portugiesen und Spanier zitiert und auf Kolumbus anspielt, dies in einem Werk, das über Nacht zum Bestseller werden sollte, mit einschränkender Reserve tut. Es ist Sebastian Brants "Narrenschiff" vom Jahre 1494 gemeint. Im 66. Kapitel hebt er allein den materiellen Aspekt hervor, man habe Goldinseln gefunden und nackte Menschen, die man vorher nicht gekannt habe. Da er im übrigen Kontext des Kapitels, das "von erfarung aller land", von der geographischen Erforschung der Erde also handelt, vermeintlich alles Reisen und geographische Forschen ablehnt, ist er zum Nörgelhumanisten, zum Anwalt der Schwermut des Spätmittelalters und Christlich-Konservativen abgestempelt worden. Es ist erstaunlich: Kein Beurteiler, auch keiner der Literaturwissenschaftler unter den Beurteilern, hat bisher den literarischen Charakter des Werkes, seine Zugehörigkeit zur Gattung Satire, berücksichtigt. Den Zeitgenossen war dies vollkommen bewußt. In 112 Kapiteln geißelt Brant alle möglichen größeren und kleineren Laster der Menschen als Narrheiten und schafft so eine Art Super-Beichtspiegel, ein großes Lehrbuch der Narrheit in Einzelbeispielen, das mit seiner prachtvollen Ausstattung und bilderreichen Aufmachung zugleich ein Augenschmaus war und auch heute vielfach noch so empfunden wird. Aber dies Lehrbuch der Narrheit sollte natürlich ein Spiegel der Weisheit sein, durch tausendfache satirische Übertreibung die Mitmenschen auf den Weg der Tugend bringen, um gesamtgesellschaftlich einen mittleren Zustand zuträglicher Verhältnisse und Ordnungen befördern zu helfen, zum Wohle der christlichen Seele des Einzelnen und der Christenheit als Ganzes. Beurteilt man seine Sachaussage zu den Entdeckungen im Lichte der vielfältigen historischen Forschungen über die Motive, Ziele und Ergebnisse der Expansion, fragt man sich, wieso er eigentlich mit seiner Beurteilung so falsch liegen soll. Die modernen Beurteiler meinen, er habe doch alles Reisen und Entdecken abgelehnt. Aber er hat in seiner Satire auch tausend andere Dinge abgelehnt, wie z. B. den Buchdruck und die 16

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Vielheit der Bücher, so daß in konsequenter Fortführung der den Gattungscharakter nicht berücksichtigenden Argumentation nur ein Schluß erlaubt wäre: Brants Lehre ist: alle Tätigkeit, alles Leben ist wegen Lasterhaftigkeit einzustellen. Aber lehnt er denn einfach nur ab? Nein, er argumentiert und differenziert; dies allerdings übersehen die Beurteiler konsequent. Der Maßstab seiner Beurteilungen ist eine klar definierte Werteordnung: 1. Gott ist die oberste Autorität. Der Mensch soll ihm nicht ins Handwerk pfuschen wollen. 2. Weisheit, Tugend und Selbsterkenntnis als einziger Weg zu Gott gehen vor das Wissen und die materiellen Lebensbezüge. Somit ist Brants Haltung nicht grundsätzlich anders als die Dantes und Petrarcas. Er sagt es selbst in dem fraglichen Kapitel: Reisen und Entdecken sind gut, wenn sie nicht als Selbstzweck betrieben werden, sondern mit dem Ziel, vertiefte Kenntnisse und insbesondere vertiefte Selbsterkenntnis zu gewinnen. Dadurch will er helfen, daß der mächtig spürbare Forscherdrang der Zeit sich nicht verselbständigt, daß er an die Frage gebunden bleibt, was dem Menschen als einem Geschöpfe Gottes und einem Geistwesen wirklich zuträglich ist, damit er sich nicht scholastisch in nutzlosen Fragen verzettelt. Ich vermag nicht zu sehen, daß Autoren wie Brant mit ihrer Argumentation den Prozeß der theoretischen Neugierde haben aufhalten oder verlangsamen wollen. Im Gegenteil, sie verlangen ja gerade, ihre Sprache in unsere übersetzt, die vertiefte, umfassende und die nicht geradlinig und flach einer Praxis zugewandte Forschungstätigkeit: im wahren Wortsinne verlangen sie die theoretische, die durch geistiges Anschauen gelenkte Neugierde. Freilich ist zuzugeben, daß Brant das 66. Narrenschiff-Kapitel schließt, indem er in einer letzten Abwägung das Reisen gegenüber dem Am-OrtBleiben abwertet. Wessen Sinn auf Ortsveränderung ausgehe - gemeint ist, auf ständige Ortsveränderung -, der könne Gott nicht vollkommen dienen. Lehnt Brant also Pilgerreisen ab? Wohl kaum. Wenn er hier die aristotelische Lehre, daß sedere und quiescere die Voraussetzungen geistiger Arbeit seien, auf christliche Lebensführung überträgt, so folgt er seinem Prinzip, daß das Geistige über dem Materiellen steht, lediglich völlig konsequent. Ubertragen auf den geistigen Haushalt des Menschen heißt es, daß die Konzentration über der Zerstreuung steht, daß das auf einen höchsten Sinn durchreflektierte Wissen höher steht als das reine Wissen, von dem Brant in eben dem Kapitel durchaus sagt, es sei "gwyß vnd wor", und daß Gott dienen, der höchste Wert ist, der nicht in der Rastlosigkeit, sondern nur in der Ruhe verwirklicht werden kann. Deswegen wird auch vom Intellektuellen verlangt, die Einfachheit und Reinheit des Herzens zu erlangen. Als allgemeine, nicht mehr christlich gebundene Lebenslehre ist damit gesagt: Die innere Einkehr und Ruhe 17

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sind gegenüber der Bewegung, der Unruhe, der Rastlosigkeit elementar lebenserhaltende Kräfte. Bedeutende reflektorische, theoretische Geistestätigkeit ist noch nie denkbar gewesen (und auch heute nicht denkbar) ohne Ruhe und Einkehr. Die Zeitgenossen haben Brant offenbar so verstanden. Nicht nur, daß sie ihn nicht kritisiert haben, sie haben ihn und das "Narrenschiff" hochgeachtet, ob es nun Trithemius, Locher, Hutten oder Erasmus war. Mit Celtis hat er Bücher ausgetauscht; mit Peutinger, der den materiellen Aspekten der Entdeckungsreisen so unmittelbar verbunden war wie kein zweiter deutscher Humanist, war er befreundet. Daß meine Sicht nicht ganz falsch sein kann, zeigt auch Brants Lebenspraxis. Zuerst als Universitätsjurist sowie als praktizierender Richter in Basel, dann als Kanzler der Freien Reichsstadt Straßburg war er unermüdlich sein Leben lang dem Leben verbunden. Gereist ist er nicht viel. Wie kein zweiter Humanist der Aetas Maximiiiana aber hat er sich für alle außergewöhnlichen Naturerscheinungen interessiert, hat sie deutend bedacht und darüber geschrieben, so daß er die umfangreichste Beobachtungsreihe eines Zeitgenossen hinterlassen hat. Wie schon gesagt, würdigte er 1494 in seinem Gratulationsgedicht für König Ferdinand die Entdeckungen positiv. Dies geschah überdies in dem Basler Druck, der als erster auf deutschem Boden den Kolumbusbrief verbreitete. Er dürfte übrigens für die Zusammenstellung des Druckes neben dem Drucker und Verleger mitverantwortlich gewesen sein. Noch ein drittes Mal bezieht sich Brant auf die Entdeckungen. Es geschieht in seiner Vorrede zu dem juristischen Werk von Ulrich Tengler mit dem Titel "Der neü Leyenspiegel", das 1510 in Augsburg herauskam. Hier sehen wir, in welchem Maße Brant das Faktum der Entdeckungen in sein Bild von der Gegenwart hineingeholt hat. Er benutzt das Sprechen über die Entdeckungsfahrten, u m einen wertenden Vergleich daraus zu formen, d.h. im Sinne von Ernst Robert Curtius, einen neuen Überbietungs- und Lobtopos zu schaffen, der vorher so kaum möglich gewesen wäre. Er sagt nämlich, viele Gelehrte hätten in seiner Zeit mit Hilfe der edlen Buchdruckerkunst Werke zum gemeinen Nutzen erscheinen lassen und glaubten wegen ihrer Mühen damit höchst Rühmenswertes hervorgebracht zu haben und dies glaubten auch die, die Afrika umfahrend, das arabische, persische und indische Meer durchfurcht und neue Inseln und Länder gefunden hätten; aber deren Mühe sei doch geringer im Vergleich zu der Mühe, die Ulrich Tengler auf sich genommen habe. Er habe sich mit der Kühnheit eines Hercules mitten durch das abgrundtiefe Meer der Rechte gewagt. Es muß jemand die Entdeckungsfahrten erst als groß und unerhört anerkannt haben, bevor er auf den Gedanken kommen kann, das Sprechen davon zu einem Uberbietungstopos zu formen. Zu dem 18

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Topos gehört, wie wir sehen, auch die Aussage, daß Tengler die gesamte zeitgenössische Gelehrsamkeit übertreffe, womit indirekt die Entdeckungen als eine geistige Tat, also nicht als Ergebnis von reiner Praxis, ja als geistige Großtat, anerkannt sind. Das einzige, das Brant mit diesem Uberbietungstopos sagen will - es kommt auch in den anderen Vorreden und Beigaben anderer zu dem Buch zum Ausdruck - ist dies: Rechtswissen und Rechtsanwendung betreffen die menschliche Gemeinschaft so elementar und zentral, daß jemand, der in diesem schwierigen Bereich neue Grundlagen schafft, höchstes Lob und höchste Beachtung verdient. Was soll man dagegen sagen? Übrigens war der Vollzug von hoheitlichen Rechtsakten jeweils das erste, was Kolumbus nach den Landungen durchführte. In anderer Weise verarbeitet Benedictus Chelidonius in einem 1507 Conrad Celtis gewidmeten Epigramm das Entdeckungsstreben literarisch: Wo immer Celtis hinstreben werde (z. B. "ad nigros ... indos"), um Neues zu erfahren, Celtis werde durch seine Bücher doch stets bei Chelidonius und dessen Lehrer der Dichtkunst bleiben. Auf den ersten Blick könnten die Vorbehalte, die Brant gegenüber vorgebracht werden, Jacob Locher gegenüber tatsächlich angemessen sein. Er übersetzte Brants "Narrenschiff" ins Lateinische. Am 1. März 1497 erschien in Basel die erste Ausgabe. Brants 66. Kapitel ist bei ihm "De geographica regionum inquisitione" überschrieben und gegenüber der Vorlage stark verkürzt. Das Thema Reise spricht er nicht an, daher auch nicht das dialektische Verhältnis zwischen Reise und Ruhe; ebenso fehlt der Materialismus-Vorbehalt. Als Randschlagwort fällt einem neben dem Bild die Formulierung "Mathematice superstitio", mathematischer Aberglaube, ins Auge. Im Einleitungsepigramm liest man: "Wer Himmel und Erde und die weite Welt ausmißt, die Erdzonen beschreibt und die Völker in Erinnerung ruft, der vertreibt einen Narren, der vom feisten Nacken nicht abläßt". Letzteres soll heißen: Er vertreibt einen Narren, der im Rücken droht, unsichtbar droht - so auch die Aussage des Holzschnittes - einen Narren, den er nicht los wird. Anders gesagt, der vertreibt Teufel mit Beizebub. Nur auf den ersten Blick scheint klar, was hier gemeint ist: Der Humanist Jacob Locher legt sich also vermeintlich, angeregt durch den Humanisten Sebastian Brant, quer gegenüber geographisch-kosmographisch-mathematischer Forschung. Dies scheinen auch die Verse mit folgenden Feststellungen zu bestätigen: Plinius, obwohl ein beachtlicher Autor, habe (auf diesem Felde) geirrt, Ptolemäus enthalte verschiedenartige Irrtümer, Nutzloses habe die Herzen vieler beunruhigt, die in Ungewissem ihren Schweiß vergossen hätten. Der Kapitelschluß hebt sich davon merkwürdig ab. Locher sagt: "Erde, die vordem den Alten unbe19

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kannt war, steht heute offen vor Augen. Auf hohem Meer im Westen hat König Ferdinand jetzt zahllose Völker entdeckt." König Ferdinand soll also kein Narr sein? Wird der Humanist vor dem Königsthron zum Feigling, der unbedenklich eben erst Autoritäten wie Plinius und Ptolemäus in die Narrenschar gereiht hatte? Oder erzwingt dieser Schluß eine ganz andere, ja konträre Deutung? Wie, wenn Locher sagen wollte, alle bisherige Welt- und Himmels- (sprich: Weltraum-) forschung war rein spekulativ, ihr Fragen gehörte zum Bereich des nutzlosen Fragens, ihr Wissen-Wollen beruhte auf Buchwissen, auf einem Fragen, dem jeweils nur spekulativ geantwortet werden konnte? Die auf wirklicher experientia gegründete Kosmographie kann erst jetzt beginnen. Die Tat König Ferdinands hat dazu das Tor aufgestoßen. Wahrhaftig fehlte ja damals jeder nicht-spekulative Ansatz zu einer realistischen Vermessung von Erde und Weltraum. Die Schwierigkeiten, die Kolumbus überwinden mußte, sein Unternehmen zu starten, hatten damit fundamental zu tun, sein Problem nicht recht zu wissen, was er eigentlich gefunden hatte, ebenso. So gesehen, gehört Lochers Text zu den anderen Quellen, die in den Entdeckungen eine Großtat feiern. Darüber hinaus zeichnet er sich als der erste deutsche Text aus, der das Geschehen als den Beginn einer neuen, auf experientia gegründeten Kosmographie begreift, indem er die Kosmographie als Buchwissenschaft auf antikem Fundament an ihr Ende gekommen sieht, deren Fortsetzung nur noch als Narretei gewertet werden könnte. Diese Auffassung paßt nahtlos zu den Äußerungen seines Briefes vom Jahre 1506 an Johannes Stamler, in dem er diesen als einen neuen Odysseus und erfahrenen peregrinator und Kenner vieler Länder und Völker bewundert und von ihm Berichte über die Entdeckungen haben möchte. Wegen anderer Bildungsaufgaben komme er selbst nicht dazu, sich in dem von ihm gewünschten Maße darum zu kümmern. Diese Auffassung paßt auch zu den Äußerungen anderer Humanisten zum Thema, welches Wissen das erstrebenswerte sei. 1498 hielt Geiler von Kaysersberg im Straßburger Münster Predigten über das Narrenschiff. Die lateinische Fassung erschien 1510, die deutsche 1520 im Druck. Hierin beginnt die 65. Predigt: "Die lxv. narrenschar ist land narren, landfarer, erfarer der land on vernunfft. sie lauffen alle land vß es sei mit hertzen, mit dem mund oder mit den füssen, das ist auch mit dencken, mit fragen, mit reden, oder mit dem werck." Seine Predigt liest sich wie ein Kommentar zum einschlägigen Narrenschiff-Kapitel 66. Bei ihm spielt der Materialismus-Vorbehalt wieder eine offen ausgesprochene, entscheidende Rolle. Die Entdeckungen ordnet er dem Motiv 'Reisen aus Habsucht' zu, und er tadelt die Kaufleute dafür, daß sie entbehrungsreich bis Indien fahren, um merkwürdige Dinge und Kleider mitzubringen. Wie Brant kennt er die verschiedenen Formen des 'höheren', 20

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'geistigen' Materialismus. Also wer nur herumzieht, um seine innere Leere zu übertönen, oder wer als Pilger oder Mönch nach Jerusalem geht, nur um dort gewesen zu sein, der macht sich dessen schuldig. Ebenso auch der, der Ptolemäus liest, nur um des Wissens willen. Die Werteordnung, nach der Tugend über Wissen geht, formuliert er so: "Alle Lehre und Wissenschaft und alles Tun, sofern es nicht in der Ausführung oder Gesinnung Bezug zum Seelenheil und einem guten Leben hat, ist zu kritisieren." Für Geiler ist eindeutig die von geistlicher Einkehr begleitete Pilgerreise - in dieser Hinsicht zu erfahren, was man in den Büchern gelesen hat - die erfüllteste Form der Bewegung und mönchisches "an eim ort bleiben" die erfüllteste Form der Ruhe. Aber ebenso wie er die Gewinnsucht der Kaufleute tadelt, tadelt er die "vil münch, die die gantze weldt durch laufen." Eine Gefahr für den Prozeß der theoretischen Neugierde hat aber von dieser Predigt Geilers kaum ausgehen können, da er wie Brant "die grösten philosophi" wie Pythagoras oder Plato ausdrücklich zu den in der rechten Gesinnung Reisenden rechnet. Alle Renaissance-Humanisten waren in diesem Sinne Anti-Materialisten. Dieser Punkt gehört zum Kern der Definition. Sie wollten die Menschen und die Gesellschaft, soweit es geht, von allen Formen materieller Gefangenheit befreien, um sie emporzubilden. Denn in der ethisch gelenkten Geistigkeit sahen sie das wertvolle Teil des Menschen, das ihm seine Würde unter den irdischen Wesen gibt und ihn mit seinem Schöpfergott verbindet, der ihn nach dem eigenen Bilde geschaffen hat. Diese antimaterialistische Haltung zeichnet z. B. auch die Utopier des Thomas Morus aus. Oder wir finden sie mit aller Deutlichkeit angesprochen von Johannes Cochläus, der ab 1510 für fünf Jahre in Nürnberg als Rektor der Schule von St. Lorenz wirkte. Zur Verwendung im Unterricht gab er während dieser Zeit einige Schriften heraus, darunter 1512 die "Cosmographia" des Pomponius Mela, über die gleich noch zu reden sein wird, und die "Meteorologia", also die Lehre von den Himmelskörpern, des Aristoteles mit der Paraphrase des französischen Humanisten Faber Stapulensis und mit einem Kommentar von sich selbst, eine Ausgabe, die für uns ebenfalls interessant ist. In dem Kapitel über die Einteilung der Erde erwähnt er das "allerjüngst gefundene neue Land America" und fügt mit der Distanz dessen, der es nicht selbst gesehen und keine zuverlässigen Nachrichten darüber hat, hinzu: "Es soll sogar größer als ganz Europa sein." Den modernen Leser, den es freut, daß Cochläus in die Ausgabe einer antiken naturwissenschaftlichen Schrift die neuesten Erkenntnisse eingearbeitet hat, verblüfft es zu sehen, wie der Autor die Ausgabe schließen läßt. Er fügt ein "Corollarium Morale: contra Opes / pro Sapientia" an, einen moralischen Zusatz gegen den Reichtum, für die Weisheit. Wie Sebastian Brant hebt er eingangs auf die Selbsterkenntnis ab und sagt: 21

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"Der Mensch muß sich selbst erkennen. Nur wenn er sich kennt, überragt er alles Übrige. Doch sinkt er unter das Tier, wenn er sich zu kennen abläßt." Cochläus warnt dann vor Reichtum, sprich vor dem Streben nach den äußeren Gütern dieser Welt. Wahrhaft reich sei nur der Weise, und das Studium der philosophia sei süß und nützlich auf dem Wege der Weisheit. Aufgabe der philosophia sei es, im Hinblick auf die himmlischen und irdischen Dinge die Wahrheit zu finden: "De diuinis humanisque verum in venire." Wir sehen also, wie gerade diese Werteordnung, das Wissen-Wollen keineswegs verhindert, sondern befördert. Ein Aufklärer des achtzehnten Jahrhunderts hätte das "sapere aude!" poetisch nicht eindringlicher der Jugend nahelegen können, als es Cochläus in einer vierstrophigen abschließenden sapphischen Ode "Ad iuuentutem" tut: "Jugend, vertiefe Dich in die Heiligtümer der Natur; denn glücklich, wie Vergil ruft, wer die verborgenen Ursachen in gelehrtem Herzen weiß!" "Dum licet, quaeso, sape!" "Bitte, widme dich dem Wissen- und Erkenntnisstreben, solange dein Geist frei von allen Sorgen ist,..., keinesfalls aber nach Art der Phrygier": "Ne Phrygum ritu sapias!" Die Phrygier waren nämlich wegen ihrer Trägheit und Dummheit bei den Römern verachtet. Gianfrancesco Pico della Mirandola spricht den materiellen Aspekt der den Entdeckungen folgenden Handelsreisen in zwei Schriften ohne besondere Kommentierungen, sozusagen als gegeben, an. Ganz anders die beißende Schärfe des franziskanischen Humanisten Thomas Murner, der die Entdeckungen in seiner 1512 erschienenen "Narrenbeschwörung" motivisch verarbeitet, einer Satire in der Nachfolge von Brants "Narrenschiff". Soweit ich sehe, ist man auf Murner in der einschlägigen Forschung bisher noch nicht aufmerksam geworden. Murner macht im 24. Kapitel seines Werkes "Inseien finden" zur Metapher und benutzt diese als synonym zu rauben. Wahrscheinlich wurde er zu dieser Prägung angeregt durch das 20. Kapitel von Brants "Narrenschiff", wo dieser diejenigen tadelt, die Güter finden und dann als Eigentum behalten, ohne vorher Anstrengungen unternommen zu haben, das fremde Eigentum dem Besitzer zurückzugeben. In dem Zusammenhang setzt Brant finden und rauben gleich. Murners Ziel ist es, in seinem Kapitel, das er "Die satel narung" überschreibt (er meint damit, sich vom Sattel aus ernähren), das Raubrittertum zu geißeln. In seiner Argumentation geht er von dem zunächst ganz harmlos klingenden Exempel aus, daß König Ferdinand "vil nüwer inseien fandt" mit Spezerei, Silber und Gold. Kaum sind die fünf Verse vorbei, die Murner für das Exempel braucht, wird der Leser oder Hörer gleichsam geschockt. Es heißt da nämlich "Inseien finden ist kein kunst" und "Inseien find ich, wann ich will." Es ist deutlich, daß der Autor hier das Vorwissen seiner Rezipienten von der Unerhörtheit der Entdeckungen auf den Kopf stellt. Er befördert dadurch das Weiterlesen; 22

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denn das möchte man nun doch Wissen, wie sich diese Aussagen erklären. Die Erläuterung folgt in den folgenden dreizehn Versen, wo von Wegelagerei und Kaperung eines mit wertvollen Gütern beladenen Rheinschiffes die Rede ist. Damit ist klar, "Inseien finden" heißt auf Raub ausgehen, "Inseien finden ist kein kunst" heißt rauben ist keine Wissenschaft, "Inseien find ich, wann ich will" heißt rauben kann ich, wann immer ich will. Und der auf König Ferdinand gemünzte Vers, daß er "vil nüwer inseien fandt", erhält nun den Sinn, daß er auf zahlreiche neue Raubzüge ausging, eine Aussage, die abgeschwächt wird nur dadurch, daß der Autor bis zum Ende des Kapitels auf die Entdeckungen nicht mehr zu sprechen kommt, also nicht in einem Rückverweis als Fazit etwa hervorhebt, daß König Ferdinand sich nicht anders als die apostrophierten Raubritter verhalten habe. Die Metapher "Inseln finden" für rauben ist nicht in den deutschen Sprachschatz eingegangen, wahrscheinlich weil sie doch eine zu einseitige Auslegung der dahinter stehenden Vorgänge beinhaltet. Anders steht es mit der Prägung "terra incognita", die Pico verdankt werden soll. Sie hat sich als Metapher für jegliches Neuland durchgesetzt. Bei Murner erreicht die Materialismus-Kritik an den Entdeckungen innerhalb der von mir beobachteten Autoren ihren Höhepunkt. Murner ist der einzige Autor, der die Entdeckungen so ausschließlich in negativer Konnotation anführt, als hätte er ein polizeiliches Verbot erreichen wollen. Doch vergessen wir nicht, seine Äußerung fällt im Rahmen einer Satire... Außer der Kritik an dem mit den Entdeckungen verbundenen materiellen Gewinnstreben ist mir nur noch zweimal Kritik begegnet, und zwar an der bisherigen Berichterstattung über die neuentdeckten Länder und ihre geographische Lage. Es ist sozusagen eine wissenschaftsinterne Kritik, wie sie auch heute zum Alltag der Forschung gehört. Der erste Kritiker dieser Art ist der bereits genannte Johannes Cochläus. In seinem Kommentar zur Schrift des Aristoteles über die Himmelskörper, wir kamen darauf zu sprechen, erfahren wir davon nichts. Er äußert sie vielmehr in seiner im selben Jahr 1512 ebenfalls zu Schulzwecken veranstalteten Ausgabe der "Cosmographia" des Pomponius Mela, der er ein Kompendium über die Grundlagen der Geographie und - seinerseits in Neuland vorstoßend - eine "kurze Beschreibung Deutschlands" beigab. In dem Kompendium nun berichtet er in Kürze über die Westfahrten des Vespucci und sagt dann: "Er behauptet, Afrika habe eine lange Ausdehnung. Jene neue Welt sei davon völlig getrennt und sogar größer als unser Europa. Ob das wahr oder erdichtet ist: zur Kenntnis der Kosmographie und Geschichte trägt dies nichts bis wenig bei. Denn sowohl die Völker wie die Ortlichkeiten jener Welt sind bis jetzt so unbekannt wie unbenannt 23

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für uns. Seereisen dorthin finden nur unter großen Gefahren statt, daher brauchen sich die Geographen darum nicht zu kümmern." Moderne Beurteiler haben ihm diese Sätze übelgenommen und als eine Kritik an den Entdeckungen verstanden. So allerdings darf man sie nicht auffassen. Sie sind eine Kritik an den bisherigen Berichten und im Grunde eine Aufforderung, endlich einen wissenschaftlich geschulten Geographen in die neue Welt mitzunehmen, damit die minutiöse Aufnahme und Beschreibung im Sinne der alten Autoritäten des Faches in Angriff genommen werden kann. Man kann die Worte auch als eine Kritik am Uberwiegen wirtschaftlicher Gesichtspunkte bei den Uberseefahrten verstehen. Solche Kritik an den Berichten, freilich ohne in der Schlußfolgerung soweit zu gehen wie Cochläus, äußert auch noch Heinrich Glarean in seinem "De geographia liber unus", das 1528 in erster Auflage erschien. Am Schluß seines Werkes handelt er "De Regionibus Extra Ptolemaem" und beginnt hier mit der Bemerkung "Que extra Ptolemaei descriptionem sunt regiones, non ita certis authoribus traditae sunt, nec etiam tanta diligentia ac arte descriptae." Dann wendet er sich Vespucci und Kolumbus zu. Natürlich interessierte es einige Autoren auch, wie neu man die unerhörten Taten des Kolumbus und Vespucci und der Orientfahrer wirklich einschätzen durfte. Dieser Gesichtspunkt spielt ja noch heute eine Rolle. Conrad Peutinger führt 1506 Quellen an, die Ostindienfahrten bereits für Antike und Mittelalter belegen. Glareanus berichtet 1528, man sage, Amerika sei schon unter Kaiser Augustus bekannt gewesen und führt als Beleg die Verse 795-798 aus dem sechsten Buch von Vergils "Aeneis" an. Dort ist von der Ausbreitung des augustinischen Friedensreichs die Rede, das sich auch auf eine Erde erstrecken werde ausserhalb des (gewohnten) Sternhimmels, außerhalb der Wege von Jahr und Sonne, jenseits des Punktes, wo Atlas, der Himmelsträger, auf seinen Schultern das Himmelsgewölbe trage, also jenseits der Meerenge von Gibraltar. Auch Willibald Pirckheimer fragt sich, ob die neuen, von den Spaniern gefundenen Inseln tatsächlich alle Zeit unbekannt gewesen seien und meint 1530 in seiner "Germaniae ex variis scriptoribus perbrevis explicatio" mit Zeugnissen der Antike belegen zu können, daß das nicht der Fall war. Bei einigen modernen Beurteilern ist die Tendenz spürbar, in solchen Rückbezügen auf die Tradition eine Unfähigkeit der Humanisten zu sehen, sich von den antiken Autoritäten zu lösen. Tatsächlich liegt dasselbe kritische Verfahren zugrunde, das auch heute unablässig dazu dient, das Neue als neu zu klassifizieren: Sein Verhältnis zur Tradition, zur vorausgehenden Forschung muß untersucht werden. Für die Zeit um 1500 war die Antike noch so nah, daß sie mit ihren wissenschaftlichen und anderen Leistungen zur unmittelbar relevanten Tradition gehörte. 24

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Die Frage nach dem für den Menschen zuträglichen Wissen und danach, ob das Erfahrungswissen der neuen Entdeckungen zum zuträglichen Wissen gehört, sowie die Frage des Verhältnisses von Tugend und Wissen begleiteten uns vom Beginn unserer Erörterungen, weil die verschiedenen, an die Quellentexte zu stellenden Deutungsfragen dies unumgänglich machten. Wir wurden auf die Gefahr aufmerksam gemacht, die der Entdeckungsdrang geistig und physisch dem Menschen bringen kann, von einem Verdikt, sozusagen einem curiositas-Verbot lasen wir nirgendwo etwas. Auch nicht davon, daß solches Tun mit dem Tun des gerade damals durch die Lande ziehenden Dr. Faustus verglichen worden wäre. Im Gegenteil, wir fanden überwiegend die Würdigung der Entdeckungen als unerhörte Großtat, als ein Zeichen der Uberwindung und Ubertrumpfung der bewunderten und als Maßstab empfundenen Antike. Und in einem Zusammenhang, in dem es nicht zu vermuten war, in Jacob Lochers lateinischem Narrenschiff, ergab unsere Interpretation, die den von modernen Beurteilern gesetzten Horizont weit hinter sich lassen mußte, die Aussage: Narren sind, die sich auf dem Felde der Kosmographie weiterhin der Buchwissenschaft hingeben, die notwendigerweise nur spekulativ sein kann; mit Kolumbus - so Locher - beginnt für die Kosmographie das Zeitalter des aus tatsächlicher Expeditionserfahrung gewonnenen Wissens. Da die vorausgehenden Erörterungen keine Gelegenheit boten, sämtliche das wichtige curiositas-Thema berührenden Stellen der untersuchten Autoren zu behandeln, sei dies jetzt nachgeholt. Ab 1505 hat der Bericht des Vespucci von seiner zweiten Reise 1501 / 2 mit Cabral auf Latein und in verschiedenen deutschen Ubersetzungen eine immer neue Auflagen fordernde starke Verbreitung gefunden. Die lateinische Ubersetzung hat Frater Jucundus Veronensis angefertigt. Er wollte damit dafür sorgen, daß in Gelehrtenkreisen, die er "Lateiner" nennt, die unerhörten geographischen Entdeckungen zur Kenntnis genommen werden konnten. Ich nehme an, daß diese Stelle im Blick der modernen Beurteiler für die Humanisten nicht günstig war und ist. Wenn schon ein Frater eingreifen muß, um ein so wichtiges Dokument in die Gelehrtensprache zu übertragen und so für seine Bekanntschaft zu sorgen, dann kann es mit dem humanistischen Interesse für die Entdeckungen nicht weit her gewesen sein. Tatsache aber ist, daß zwischen einem Frater, überhaupt zwischen geistlichen Herren und Humanismus keine Trennungslinie verlief. Seine abschließende Bemerkung ist aber nicht nur wegen der Aussage über die Rezeptionssituation für uns interessant, sondern vor allem auch, weil das Thema des rechten Wissens, das curiositas-Thema, angesprochen wird. Hören wir die Stelle im Zusammenhang: "Ex italica in latinam linguam iucundus interpres hanc epistolam 25

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vertit vt latini omnes intelligant quam multa miranda indies reperiantur et eorum comprimatur audacia qui celum et maiestatem eius scrutari et plus sapere quam liceat sapere volunt quando a tanto tempore mundus cepit ignota sit vastitas terre et que contineantur in ea." In unserer Sprache: "Aus dem Italienischen hat diesen Brief der Übersetzer Jucundus ins Lateinische übertragen, damit alle Gelehrten verstehen, wie Wunderbares täglich gefunden wird, und deren Vermessenheit abgestellt wird, die den Himmel und seine majestätische Herrlichkeit durchforschen und mehr wissen wollen als zu wissen erlaubt ist, während seit Erschaffung der Welt deren Weite und was sie alles enthält unbekannt ist." Wir finden hier dieselbe Aussage, die wir schon bei Locher antrafen: Spekulatives Buchwissen, nein, Wissen, aus wirklicher Erfahrung gewonnen, ja. Und wir dürfen hinzusetzen, weil dies Erfahrungswissen viel zuverlässiger von Gottes Herrlichkeit Bericht gibt als jenes andere. Wenn wir von Blumenberg herkommen, können wir diese Stelle, soweit ich sehe, überhaupt nicht verstehen, an der zwei curiositates unterschieden werden. Die eine wird als dringend erwünscht, die andere als abwegig klassifiziert. Die erwünschte ist überdies ausgerechnet jene, die auf der Erfahrungsseite steht. Wir können die Stelle aber verstehen, wenn wir mit Anneliese Meier und vor allem mit dem Theologen Heiko A. Oberman erkennen, daß sie in der Tradition des philosophischen Nominalismus steht, der längst eine curiositas gegen eine "vana curiositas" gestellt hatte oder anders gesagt, der Erfahrung, experientia, gegen spekulativen Intellektualismus stellte, bzw. mit Oberman gesagt, der "Erfahrung als das beste Gegengift gegen curiositas" bewertete. Die Variante, neues Entdeckungswissen unter der Prämisse zu verbreiten, daß Neues den Leser freut und erfrischt, hatten wir bereits berührt, als wir über Martin Waldseemüllers "Cosmographiae introductio" des Jahres 1507 in der Ausgabe vom 29. August sprachen. Das Distichon mit dem Beginn "Cum nova delectent..." finden wir 1523 wörtlich bei Johann Schöner in seiner Schrift "De nuper ... repertis Insulis ac Regionibus" wieder. In der Widmungsvorrede an den Bambergischen Domherrn Reimar von Streytpergk schmückt Schöner dies Motiv noch etwas aus. Er vertritt die Meinung, Neues vermöge häufig die Gemüter der Menschen zu besänftigen und Feinde versöhnlicher zu stimmen. Nach alter Lehre ist der Mensch wegen seiner aufrechten Haltung und seines geisthaltigen runden Kopfes, der die Rundheit des Kosmos widerspiegelt, zur Betrachtung des Himmels geboren. So hatten es Astronomen bzw. Astrologen nie schwer, das Erscheinen entsprechender Werke zu rechtfertigen. Sie sollten dazu dienen, den dem Geistwesen Mensch besonders angemessenen Blick nach oben zu schulen. Angesichts einer Erdbeschreibung konnte die Meinung aufkommen, sie sei dem Menschen 26

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nicht würdig genug, da sie den Blick nach unten erfordert. In einem Epigramm an den Leser greift Johannes Camerarius diesen Gedanken 1533 auf und begründet, ohne die Unterschiede im Wertegefüge einzuebnen, die Notwendigkeit der Erdkunde für jedermann sehr hübsch so: "Wenn du auch von der himmlischen Luft lebst, so bietet die Erde Dir doch Nahrung und Weg." Das Epigramm des wie Schöner in Bamberg ja nicht Unbekannten steht auf dem Titelblatt von Schöners "Opusculum geographicum" (Nürnberg 1533). Schöner nimmt den Gedanken auf in seiner Widmungsvorrede an Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen. Die Zuwendung zum Irdischen hätten insbesondere die Herrscher nötig. Wenn die Gestirne auch ein viel göttlicherer und höherer Gegenstand seien, so böten diese (irdischen), gleichsam häuslichen Gegenstände ein Mehr an handgreiflicher Freude. Wenn es einer Bestätigung bedürfte, was Oberman über den Gegensatz ausführte zwischen spekulativem Intellektualismus als "vana curiositas" und experientia als "digna curiositas" - letztere Begriffsbildung stammt von mir -, dann läßt sie sich aus der "Utopia" des Thomas Morus gewinnen. Die vana curiositas wird hier den modernen Dialektikern zugeschrieben, die es unter den Utopiern überhaupt nicht gäbe. Den Lauf der Gestirne aber kennten sie genau und könnten ihn mittels Maschinen, sprich Armillarsphären, nachbilden. Astrologie lehnen sie ab. Aber auf Erfahrung gestützt können sie Regen, Wind und Wetterwandel vorhersagen. Vermutungen stellen sie nur im Hinblick auf die Ursachen von Naturerscheinungen auf. In diesem Bereich gäbe es bei ihnen genauso Unterschiede in den Theorien wie bei den Europäern. Mit diesen Sätzen gibt Morus uns von allen untersuchten Autoren den abgerundetsten Einblick humanistischer Haltung gegenüber dem Wissenschaftsfortschritt: Naturwissenschaft ist selbstverständlich in allen interessant erscheinenden Feldern zugelassen, und zwar ebenso erfahrungs- wie theoriebezogen. Theoriebezogen ist sie - was sie erfahrungsbezogen ohnehin ist - besonders vernunftgeleitet. Dialektische Subtilität und Spitzfindigkeit werden abgelehnt. Die Darlegungen über das Verhältnis der Utopier zur naturwissenschaftlichen Forschung sind Teil einer umfassenden Weltanschauung, in der die Geist- und Vernunftzugewandtheit des Menschen und eine dadurch bedingte natürliche Gottesliebe die zentrale Rolle spielen. Während Morus die "Utopia" publizierte, arbeitete sein Freund Willibald Pirckheimer in Nürnberg an einer zeitgemäßen Tugendlehre. Diese Bemühungen führten ihn 1517 dazu, einen Katechismus der fünf wichtigsten Tugenden abzuschließen. Alle anderen Tugenden entsprängen aus diesen. Es sind: Ewiger Glaube, Suche wahrer Weisheit, Gerechtigkeit, Bescheidenheit, Geduld. Als ich in diesem Katechismus, der unpubliziert ist, unlängst 27

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zum ersten Male las, traute ich meinen Augen nicht, als ich im Abschnitt "warhafftige weyßheit suchen" ein Konzept der Einbindung von Mathematik und Naturwissenschaft in den Tugendkanon fand, der schönste Fund, der mir aus Anlaß dieser Untersuchung gelang. Die Entdeckungsgeschichte wird zwar nicht erwähnt, als Einzelfall hätte sie in die allgemeine Lehre auch nicht hineingehört. Aber sie laßt sich mühelos einordnen. Unter der Überschrift "Die ander tugendt ist warhafftige weyßheit suchen, die Rechten warheyt zu Erfinden" lesen wir - ich zitiere nur auszugsweise: "die Nature Erlernen vnd Erkennen den lauff der himel vnd Sternen wissen die mugliche ding lernen Niessen die himlisch wurcklich einfliessent krafft Erkennen die Verporgen krefftige Wirkung des Ertrichs erfarenn die Nutzlichen ding lernen messen die kunst der Zall in gebrauch haben Ein schone lieblickeit in allen dingen haben die musica des gleichen vil grosmechtiger kunst werden nit ausgeschlossen Rechte Ordnung in allen Dingen haben das schwer vnd das leicht zu verNemen zu wissen allen geprauch aller hantwerck." Und schließlich am Schluß: "got alle Ding heim setzen Vnnd verharen jm gutten pis an daz Endt." 1507 erhielt die Neue Welt von einem Humanisten ihren Namen. Der Geograph und Kartograph Martin Waldseemüller (Ilacomilus) leitete ihn vom Vornamen des Vespucci, von Amerigo, ab. Vielleicht kam der Anstoß dazu auch von dem mit ihm zusammenarbeitenden Matthias Ringmann. Es ist sicherlich nicht zuletzt der Humanist in Kolumbus gewesen, der diesen veranlaßte, in den eigenen Vor- und Nachnamen hineinzuhorchen, um die eigene Bestimmung um so sicherer zu erfahren, und in der Neuen Welt geographisch zu benennen, was ihm möglich war. Die modernen Beurteiler scheinen diesem Phänomen eher mit Unverständnis zu begegnen, einem Unverständnis, das sich in nichts von dem unterscheidet, das man den ersten Entdeckern vorzuwerfen nicht müde wird: Sie seien zu sehr im Eigenen befangen und nicht genug für das Fremde aufgeschlossen gewesen. Es läßt sich dies Unverständnis z. B. bei Todorov (Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, zuerst 1982, 28

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deutsch 1985) greifen, wenn er von einer wahren Benennungswut des Kolumbus spricht. Ich kann den Sachverhalt hier nicht näher verfolgen, möchte aber wenigstens darauf hinweisen, daß noch heute jede Findung und Erfindung aus verständlichen Gründen mit einem Benennungsvorgang elementar verbunden ist. Der einzige Humanist, der in die Lage kam, Handelsinteressen offen zu vertreten und politisch-rechtlich abzusichern, auch weil er den richtigen Wohnort hatte, war der Augsburger Conrad Peutinger. Er unterstützte das Handelshaus der Welser, indem er bei der Beschaffung von Schutzprivilegien behilflich war, und dabei, den Kaiser in das Unternehmen einer Oslindienfahrt als Schutzherrn einzubinden. Diese Fahrt fand zwischen dem 26. März 1505 und dem 15. November 1506 tatsächlich statt. Die Welser beteiligten sich mit drei Schiffen, die am 22. Mai und am 15. November 1506 zurückkamen. Wir wissen, daß Peutinger wie kein zweiter alle erreichbaren Berichte über die Entdeckungsreisen sammelte und daß er in Lissabon mit Valentin Moravus bzw. Fernandez einen literarisch hochgebildeten Handelsagenten als Gewährsmann hatte. In Augsburg befand sich ebenfalls der humanistische Künstler Hans Burgkmair, der Springers Bericht der Indienfahrt 1505/06 illustrierte. Natürlich war er mit Peutinger befreundet. Burgkmair ist so zum ersten bedeutenden Bildkünstler geworden, der Illustrationen über die exotische Fremde nach Augenzeugenberichten fertigen konnte. Zu einem eigenen literarischen Werk wurden Humanisten durch die Entdeckungen zweimal angeregt. Vielleicht ist man berechtigt, ein einschränkendes 'nur' hinzufügen. Wahrscheinlich liegt dieser Mangel daran, daß die Entscheidungsträger wegen der wirtschaftlichen Interessen eine offene Informationspolitik nicht unterstützten, die dem Erfahrungsdrang der Humanisten Genüge getan hätte. Es scheint recht aussagekräftig zu sein, daß als erstes ein literarisches Werk im engeren Sinne publiziert wurde, nämlich 1516 die "Utopia" des Thomas Morus. Und dies ist kein Lehrgedicht, wie man es eigentlich hätte erwarten sollen, sondern eben eine Utopie. Selbst in Portugal dauerte es noch bis in die zweite Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts, bis die "Lusiaden" des Camöes entstanden (1553-1570), die die Tat des Vasco da Gama verherrlichen. Das zweite Werk ist der 1523 erscheinende Bericht des Maximiiianus Transsylvanus ("De Moluccis..."), der die Weltumseglung des Magalhäes schildert. Darüberhinaus lassen sich noch zweimal Publikationspläne erschließen. Peutinger sammelte die Entdeckungsberichte vielleicht zu solchem Zweck. Bei Pirckheimer gibt es ab 1511 Anzeichen dafür, daß er eine Geschichte der Entdeckungen plante.

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3. Philosophia von Albrecht Dürer, Holzschnitt (1502) Der Holzschnitt stellt es nicht nur dar, er ist buchstäblich ein Weltbild. Er ist das Programmbild des deutschen Humanismus um 1500. Entspechend der Aussage der Text- und Bildteile des Holzschnittes erweist sich die Philosophie des Celtis als eine universale Wissenschaft von integrativer Kraft. In ihr ist die traditionelle Opposition von scientia als Wissenschaft von den Dingen und sapientia als Weisheit in Bezug auf die göttlichen Dinge aufgehoben. Auf die Schärpe ihres Gewandes sind die griechischen Anfangsbuchstaben folgender Begriffe geschrieben: sinnliches Leben - Grammatik, Logik, Rhetorik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik - schauendes Leben. Es werden also die Sieben Freien Künste aufgezählt und zugleich in einen bestimmten Rahmen gestellt. Es sind die Wissenschaften, deren sich die Philosophie bedient, um zur Theoria, dem Leben im Geiste, zu führen. Die Rangfolge von Philosophie und Theologie, das cui bono allen Wissens - als moralische Maxime formuliert - hält die griechische Inschrift fest, die man in den Thronwangen liest: "Vor allem ehre Gott - Allem gib Gerechtigkeit". Die drei Bücher, die die Philosophie in der Rechten trägt, symbolisieren ihre drei Teile: philosphia naturalis, moralis und rationalis, d.h. Naturwissenschaft mit Metaphysik, Ethik und Logik bzw. Dialektik. Die Philosophie ist von einem Rosenkranz umgeben, in den vier Medaillons eingefügt sind. Das obere stellt den Mathematiker und Geographen Ptolemaios dar mit einem Weltmodell und Astrolab, der interessanterweise die Priester der Ägypter und die Chaldäer vertritt. Die Ägypter und Chaldäer haben nach damaliger Meinung die Philosophie durch Himmelsbeobachtung erfunden, die dementsprechend mathematischnaturwissenschaftlich bestimmt war. Die uranfängliche Nähe zur Theologie erhellt aus dem Umstand, daß bei ihnen die Priester Philosophen waren, wie aus der Medaillonunterschrift hervorgeht. Im rechten Medaillon erscheint Piaton als der höchste der griechischen Philosophen. Piaton und übrigens auch Pythagoras, um 1500 als Inbegriff griechischer Philosophie verehrt, haben das Verdienst, keine Mühe des Reisens, also der Erfahrung, gescheut zu haben, sich die Philosophie aus dunkler orientalischer Quelle angeeignet und schriftlich aufgezeichnet zu haben. Im unteren Medaillon steht die Gestalt eines lorbeerbekränzten Dichters gleichzeitig für Vergil und Cicero und vertritt die Dichter und Redner der Römer. Auf diese Weise wird an den Römern betont, daß sie die antike Philosophie in bestimmte dichterische und rhetorische Formen gebracht haben. In dieser aesthetisch besonders ansprechenden Gestaltung haben sie sie dem christlichen Abendland überliefert. Die deutschen Philosophen haben die Philosophie erweitert. Als Zeuge wird im linken Medaillon Albertus Magnus aufgerufen, der Theologe, Philosoph und Naturwissenschaftler in einer Person war und von dem man wußte, daß er die lebendige Erfahrung gesucht hatte. Das Programm des Holzschnittes habe ich umfassend erläutert in dem Aufsatz "Humanismus in Nürnberg um 1500". In: Zs. f. bayer. Landesgeschichte 48 (1985) S. 677-688, sowie in der kleinen Monographie "Humanismus als integrative Kraft", die die Anmerkung auf S. 33 verzeichnet. D. Wuttke

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Dieter Wuttke

Sechsmal sehen wir Humanisten an der Herausgabe von Entdeckungsberichten beteiligt. 1494 gibt es eine Verbindung zwischen Sebastian Brant und der ersten Edition des Kolumbusbriefes auf deutschsprachigem Boden in Basel; 1505 ediert Matthias Ringmann Vespuccis Bericht über seine zweite Reise in Straßburg; 1507 gibt Martin Waldseemüller die "Quattuor Navigationes" des Vespucci in Saint-Dié in Lothringen heraus; 1508 erscheint die deutsche Ubersetzung Jobst Ruchamers der Vespucci-Berichte in Nürnberg, und dort gibt 1523, also im Erscheinungsjahr der Originalausgabe, Johann Schöner den Bericht des Maximiiianus Transsylvanus ("De Moluccis...") erneut heraus. Mit Simon Grynaeus beginnen 1532 die Sammelausgaben. Sein "Novus Orbis Regionum Ac Insularum Veteribus Incognitarum", in Basel erschienen, enthält die Berichte des Kolumbus, Petrus Alonsus, Amerigo Vespucci, Petrus Martyr. Als Gräzist und Theologe meint er, die übrigen Werke Gottes schienen ihm diejenigen zu wenig zu beachten, die sich um die Neuigkeiten aus der Neuen Weit nicht kümmerten. 1534 kam in Straßburg bereits eine deutsche Ubersetzung des Werkes heraus, die Michael Herr besorgte. Er widmet sie allen Ständen, hebt jedoch die Kaufleute besonders hervor. Bei den im deutschen Sprachgebiet erschienenen Ausgaben der Berichte des Petrus Martyr und des Hernán Cortés konnte ich humanistischen Einfluß nur einmal sehen. Eine beide vereinigende Ausgabe erschien aus Anlaß des Reichstages bei Friedrich Peypus in Nürnberg 1524, aufwendig gedruckt, die vom Erscheinungsbild her humanistischen Charakter trägt. Die Tat des Cortés gebe der eigenen Zeit Überlegenheit über alle vorausgegangenen, vor allem wenn man berücksichtige, mit wie geringen Mitteln er sein Vorhaben bewerkstelligte. Cortés gehöre unter die großen Helden der Weltgeschichte, sagt der Ubersetzer Petrus Savorgnanus, Sekretär des Bischofs von Wien. In derselben schönen Aufmachung folgt dieser Schrift die des Petrus Martyr "De rebus et insulis noviter repertis..." Zweimal erfahren wir, daß der eine Humanist dem anderen Entdekkungsberichte zur Information schickt. 1506 ist es Johann Stamler, der damit eine Anfrage Jacob Lochers beantwortet; 1508 kündigt Johannes Cuspinianus Stanislaus Thurzó, dem Bischof von Olmütz, in seiner Widmung des von ihm herausgegebenen "Situs orbis" des Dionysius Periegetes an, er werde ihm Entdeckungsberichte senden. Die eigentlich wissenschaftliche Auseinandersetzung der Humanisten des deutschen Sprachgebietes mit den Entdeckungen findet in Werken von zweierlei Art statt. Es handelt sich einmal um eigenständige geographische Werke, zum anderen handelt es sich um Kommentare zu antiken Autoren. Die eigenständigen Werke setzen 1507 ein, die Kommentare 1512. 1507 ist ein erstaunlich frühes Datum, wahrscheinlich 32

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bewirkt durch die zahlreichen Drucke der Vespucci-Berichte, die zuerst 1504 erscheinen und ab 1505 boomhaft Verbreitung finden. Die erste eigenständige Schrift ist die des Walter Ludd, Sekretär des Herzogs von Lothringen und gleichzeitigen Königs von Sizilien sowie Oberhaupt des Humanistenkreises in Saint-Die in Lothringen. Sie erscheint bei Johann Grüninger in Straßburg mit dem Titel: "Speculi Orbis ... Declaratio et Canon ...". In dem schmalen Band, der Gedichtbeigaben des Matthias Ringmann enthält, weist er darauf hin, daß eine von ihm, Ludd, und Martin Waldseemüller vorbereitete Ergänzung des Ptolemäus bald erscheinen solle. Im selben Jahr erscheint auch eine deutsche Ubersetzung des Luddschen Büchleins. Die Ergänzung des Ptolemäus läßt nicht lange auf sich warten. Ohne den Namen Ludds erscheint am 25. April 1507 die "Cosmographiae Introductio" des Martinus Ilacomilus (= Waldseemüller) mit einer Gedichtbeigabe Ringmanns. Schon der Titel weist darauf hin, das Buch enthalte die Berichte über die vier Reisen des Vespucci sowie eine allgemeine Weltbeschreibung, in die eingefügt sei, was dem Ptolemäus noch unbekannt gewesen sei. Es sollte nicht übersehen werden, daß das Buch in humanistischer Drucktype, also in Antiqua, erscheint. Noch im selben Jahr erscheint in Saint-Die am 29. August die nächste Auflage, eine weitere 1509 in Straßburg. 1509 erscheint ebenfalls in Straßburg beim selben Drucker auf lateinisch und deutsch Waldseemüllers "Globus mundi". Es ist bekannt genug, daß die Schriften Waldseemüllers Begleitbücher zu einem Globus und zu einer Plankarte waren und daß diese als erste Karte überhaupt den Namen Amerikas trägt. Ein Exemplar der editio princeps der "Cosmographiae Introductio" aus dem Besitz des Humanisten Beatus Rhenanus hat sich in dessen Schlettstädter Bibliothek erhalten. Die nächste Schrift dieser Gattung ist Joachim Vadians Brief an Rudolf Agricola, der ab 1515 in immer neuen Auflagen erscheint. In ihm erörtert Vadian geographische Probleme, wie die Frage, ob es Antipoden gibt. Im selben Jahr tritt Johann Schöner mit seiner "Luculentissima quaedam terrae totius descriptio" hervor, 1523 mit seiner Schrift "De nuper sub Castiliae ac Portugaliae Regibus Serenißimis repertis Insulis ac Regionibus". Sie enthält eine Ausgabe der Schrift des Transsylvanus "De Moluccis Insulis" und war, wie Waldseemüllers Schriften, Begleitbuch zu einem Globus. Schließlich ließ Schöner 1527 noch die" Appendices in opusculum Globi" und 1533 das "Opusculum Geographicum" erscheinen. Lorenz Fries brachte 1525, mit weiteren Auflagen 1527 und 1530, unter dem Titel "Uslegung der Mer carthen" ebenfalls ein Begleitbuch heraus. Die Auflage von 1527 ist wegen ihrer Holzschnitte besonders interessant. Petrus Apianus' kleine Schrift von 1521 "Declaratio mundi" habe ich noch nicht gesehen, jedenfalls ist sein "Cosmographicus liber studiose correctus ac erroribus vindicatus per Gemmam Phrysium" von 1529 einschlägig. 1530 33

Dieter Wuttke

tritt Pirckheimer mit seiner "Germaniae ex variis scriptoribus perbrevis explicatio" hervor und schließlich Henricus Glareanus 1534, bereits in dritter Auflage, mit seiner Schrift "De geographia liber unus", die zuerst 1527 erschienen war. "Extra Ptolemaeum" oder "extra Ptolemaei descriptionem" gibt das Stichwort von Walter Ludd an, unter dem die Entdeckungen vorgestellt werden. Das Stichwort ist dasselbe in den Kommentar-Ausgaben antiker Autoren, die mit Hinweis auf die Entdeckungen, wie gesagt, ab 1512 erscheinen: 1512 die Ausgabe der "Meteorologia" des Aristoteles durch Cochläus, Ausgaben der Kosmographie des Pomponius Mela 1512 und 1518 durch Cochläus und Vadian, und dann die Reihe der Ausgaben der Geographie des Ptolemäus: 1513 Waldseemüller und Ringmann mit Neuauflage 1520; 1514 Johann Werner; 1522 Lorenz Fries mit Neuauflage 1525; 1525 Willibald Pirckheimer. Es ist aufschlußreich zu sehen, daß das Stichwort "extra Ptolemaeum" nicht erst durch die Entdeckungen des Kolumbus und Vespucci sich einstellt. Der Aufmerksamkeit von Uta Lindgren ist der Hinweis zu verdanken, daß es bereits in einem von Hartmann Schedel stammenden handschriftlichen Zusatz zu dem ihm gehörenden Druck des Ulmer Ptolemäus von 1482 begegnet. Die Ergänzung hat Schedel um 1490 geschrieben. Sie betrifft nicht außereuropäische Entdeckungen, sondern den Nord- und Ostseeraum. Hiermit seien die Erörterungen des Themas abgeschlossen. Sie sind notwendig fragmentarisch. Weitere Schriften wären zu mustern und zusätzliche Aspekte zu verfolgen. So wäre z.B. eine Beschäftigung mit dem Kreis der Beiträger und der Widmungsempfänger wichtig und ebenso die Beobachtung der Rolle gewisser Zentren mit ihrem sozialen und mentalen Geflecht. Auch die übernationale Komponente wäre viel stärker zu berücksichtigen. Hier und heute muß es genügen, wenn es mir gelungen ist zu zeigen, daß die Humanisten im deutschsprachigen Raum vielfältigen und lebendigen Anteil an der Entdeckungsgeschichte genommen, ja, daß sie sie intellektuell mit vorbereitet haben. Wenn ich mich nicht täusche, ist das Bild des vorwiegend literarisch interessierten und antike Autorität vergötternden sowie Mathematik und Naturwissenschaften ablehnenden oder vernachlässigenden Humanisten falsch. Es ist eine Rück-Projektion von Forschungsvorurteilen, die sich seit dem neunzehnten Jahrhundert aufgebaut haben, auf den Renaissance Humanismus. Ohne damit antikirchliche oder antireligiöse Ziele zu verfolgen, waren es im fünfzehnten Jahrhundert die Humanisten Enea Silvio, Rudolf Agricola und in engem Kontakt mit dem Nürnberger Kreis der Erzhumanist Conrad Celtis, die 34

Humanismus und Entdeckungsgeschichte 1493-1534

Reise und Erfahrung theoretisch und praktisch in vorher nicht gekanntem Maße aufwerteten. Es war der Humanist Jacob Locher, der 1497 die auf antiker Grundlage theoretisierend messende Geographie als Narretei satirisch angriff und indirekt das Zeitalter der auf praktischer Erkundung beruhenden Geographie für eröffnet erklärte. Der Humanist Celtis lehrte in seinem 1502 in Nürnberg erschienenen Hauptwerk, den "Amores", den Zusammenhang von Welt-, Gotteserkenntnis und Moral und machte diesen Zusammenhang in dem berühmten Lehrbild der Philosophia, einem von Dürer geschaffenen Holzschnitt, augenfällig. Der Humanist Willibald Pirckheimer schließlich nahm 1517, dem Jahr, in dem Luthers neue religiöse Erfahrungen weltverändernde Macht bekommen sollten, Pirckheimer also nahm die mathematischen Wissenschaften, die Erfahrung, die Kenntnis aller weiteren Wissenschaften und aller Handwerke in einen von ihm formulierten christlich-humanistischen Tugendspiegel auf. Und zu den Handwerken gehörten nach damaliger Lehre auch der Schiffbau und der Handel... Ein Dezennium nach Pirckheimer machte sich der Fürst der Humanisten, Erasmus, zum Sprachrohr Plutarchs. Wie der Motto-Text meines Beitrages zeigt, hatte bereits Plutarch das Streben nach umfassender Himmels- und Weltkenntnis als rechte curiositas verstanden. Seine Schrift "De curiositate" propagiert sie als das geeignete Mittel gegen falsche und böse curiositas.*

* Die vorstehenden Erörterungen geben den Text wieder, dessen Kurzfassung ich auf dem Bamberger Historikertag am 13. Oktober 1988 zur Diskussion stellen durfte. Eine erweiterte, auch mit Quellenbelegen und Anmerkungen versehene Fassung werde ich zu einem späteren Zeitpunkt publizieren. Zu meinem Humanismus-Verständnis, das vom gängigen in wesentlichen Punkten abweicht, vgl. "Humanismus als integrative Kraft. Die Philosophia des deutschen 'Erzhumanisten' Conrad Celtis. Eine ikonologische Studie zu programmatischer Graphik Dürers und Burgkmairs". Nürnberg: Hans Carl 1985, und "Beobachtungen zum Verhältnis von Humanismus und Naturwissenschaft im deutschsprachigen Raum". In: Der Weg der Naturwissenschaft von Johannes von Gmunden zu Johannes Kepler. Hrsg. von Günther Hamann und Helmuth Grössing. Wien 1988, S. 119-138. Auf Seite 133 versuche ich, eine neue Humanismus-Definition zu geben. Eine erweiterte und in Einzelheiten berichtigte Fassung dieses zuletzt genannten Aufsatzes erscheint 1990 in Bd. 97 der Zeitschrift Gymnasium.

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Verständnislosigkeit und Verstehen, Sicherheit und Zweifel: Das Indiobild spanischer Chronisten im 16. Jahrhundert Hans-Joachim König Alexander von Humboldt, der wegen seiner naturgeographischen und historisch-politisch-sozialen Untersuchungen und Beschreibungen Lateinamerikas zu Beginn des 19. Jahrhunderts gemeinhin als der zweite Entdecker oder der wissenschaftliche Wiederentdecker Amerikas gilt1, hat mehrfach die Schriften des spanischen Jesuitenmissionars und Chronisten José de Acosta über die Beschaffenheit der Neuen Welt und die Missionsmethode (1588) sowie über die Geschichte Amerikas (1590)2 wegen der vielfältigen und systematischen Beobachtungen von Flora, Fauna und amerikanischen Menschen als eine meisterhafte und nützliche Darstellung der Neuen Welt charakterisiert. Ein ähnlich positives Urteil meinte er über die einige Jahrzehnte zuvor erschienene Geschichte Amerikas (1526/1535/1557) des Gonzalo Fernández de Oviedo3 abgeben zu können4. Was war an den Schriften Acostas so bedeutend, was macht sie so wichtig für unser Thema? 1 Siehe dazu Richard Konetzke: Alexander von Humboldt als Geschichtsschreiber Amerikas, in: Historische Zeitschrift 188 (1959), S. 526-565. Ders.: Alexander von Humboldt und Amerika, in: Jahrbuch für Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas. Bd. 1 (1964), S. 343-348. - Vgl. auch Charles Minguet: Alejandro de Humboldt, historiador y geógrafo de America. 2 Bde. México 1985. 2 José de Acosta: De natura Novi Orbi libri duo et de promulgatione evangelii apud barbaros sive de procuranda indorum salute libri sex. Salamanca 1588. Neue Ausgabe lat. und spanisch, 2 vols. Madrid 1984 (Corpus hispanorum de pace vol. XXIII und XXIV). - Aus den beiden ersten Kapiteln dieses Werkes entwickelte Acosta dann das weitere Werk Historia Natural y Moral de las Indias. Sevilla 1590. - Reproducción en Facsimile, con introducción, apendice y antalogía por Barbara B. Beddall. Valencia 1977. - Siehe auch Obras del P. José de Acosta de la Compañía de Jesus, con una introducción del P. Francisco Mateos. Madrid 1954 (Biblioteca de Autores Españoles 73). 3 Gonzalo Fernández de Oviedo: Historia General y Natural de Las Indias. Edición y Estudio Preliminar de Juan Pérez de Tudela Bueso. 5 vols. Madrid 1959 (Biblioteca de Autores Españoles 117-121). 4 Alexander von Humboldt: Kosmos. Entwurf einer Physikalischen Weltbeschreibung. Bd.2, Stuttgart 1847, S. 298.

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4. König Ferdinand, der Gemahl Isabellas, erhält von Christus den Auftrag zur Missionierung der Neuen Welt. Frontispiz der ersten deutschen Übertragung des Kolumbusbriefs von 1493. Holzschnitt (1497) Wie überhaupt die sensationellen Nachrichten des von Christoph Kolumbus entdeckten neuen Erdteils den über Amerika informierenden Literaturmarkt in ganz Europa eröffneten - zwischen 1493-1497 kursierten darüber im Abendland immerhin mehr als 10 Ausgaben in verschiedenen Sprachen -, so bildete vorliegender Druck den Auftakt zum deutschsprachigen Americana-Markt im besonderen. Alle diese auf dem Augenzeugenbericht des großen Entdeckers zu seiner ersten Fahrt beruhenden Versionen des noch an Bord geschriebenen Briefs an Luis de Santangel vom 15. Februar 1493 erschienen als Flugschriften - sicher die geeignetste Gattung für jene nur wenige Seiten umfassenden, aber brandneuen Informationen, die ob ihrer Aktualität umgehend die Druckerpressen zu verlassen hatten. Kolumbus - überzeugt davon, mit den von ihm gefundenen Antillen lediglich eine Asien und damit seinem Reiseziel vorgelagerte Inselgruppe entdeckt zu haben - entwirft über weite Strecken seines Berichts ein Bild paradiesischer Idylle von Landschaft und Bewohnern: Inmitten immergrüner und fruchtbarer Flora und natürlichen Goldreichtums würden die "indier" in unschuldiger Nacktheit ohne Waffenbesitz friedlich miteinander leben, sich gastfreundlich den Europäern gegenüber erweisen und selbst begierig sein, den christlichen Glauben anzunehmen. Ganz im Kontrast dazu steht die Bedrohung dieser Naturkinder durch jene "wilde(n) lüt" einer unwirtlichen und felsigen Karibikinsel, die, mit Pfeil und Bogen bewehrt, "stelent vh roubent" deren Siedlungen überfallen, "vnküscheit" treiben und "menschenfleisch" essen sollen. In dieser Rolle des primitiven, nackten, angeblich hemmungslos der Promiskuität frönenden und ahnungslosen Europäern auflauernden Anthropophagen sollte der Indio der europäischen Öffentlichkeit im Laufe der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts am nachhaltigsten begegnen. Dafür sorgte vor allem der massive Erfolg der Berichte von Kolumbus' Nachfolger auf dem Buchmarkt, Amerigo Vespucci, über die brasilianischen 'Menschenfresser' kurz nach der Jahrhundertwende. Zu diesem Erfolg dürfte die mit den Americana Vespuccis einsetzende, auf ethnographischen Details fußende ikonographische Tradition erheblich beigetragen haben: Lockte Kistler, wie hier auf dem Frontispiz zu sehen, sein Publikum noch mit nur einem und geradezu dürftigen, nämlich lediglich Europäer darstellenden Holzschnitt zum Griff nach der Lektüre über jene Neue Welt, gaben da viele Vespucci-Ausgaben ihrem Leser schon die Möglichkeit, sich auch durch gezielte Illustrationen, die häufig reißerisch die Sitte des Kannibalismus exponierten, von Aussehen und sensationellem Tun der Bewohner des vierten Erdteils eine Vorstellung zu machen. Im übrigen hat Häbler darauf hingewiesen, daß der im Kolumbus-Brief als Frontispiz verwendete Holzschnitt für einen anderen, ebenfalls von Kistler zeitgleich besorgten Druck entworfen wurde: für die im Oktober 1497 und damit nur einen Monat nach der Veröffentlichung des Americanum in deutscher Fassung erschienene "Prognosticatio" des Johann Lichtenberger (vgl. Konrad Häbler

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(Hrsg.): Der deutsche Kolumbus-Brief. Faksimile-Ausgabe. Straßburg 1900, Vorwort, S. 21-22). Diese Information, die Häbler nach seinen Worten einem Mitarbeiter des British Museum verdankt, kann hier bestätigt werden: Im Exemplar besagter Inkunabel der Ulmer Stadtbibliothek (Signatur: v.B.B.596) findet sich auf Bl. 14 r derselbe Holzschnitt, der in Kistlers Kolumbus-Brief als Frontispiz dient, und zwar unter folgender Bildüberschrift: "Hye soll sten der saluator vn reden zuom Roemischen kuing. Du solt besehyrmen mit gewappneter hande." Letztlich läßt wohl das Zahlenverhältnis der Illustrationen in beiden Drucken - die "Prognostica tio" ist mit über 40 Holzschnitten ausgestattet, das Americanum dagegen nur mit einem einzigen - den Schluß zu, daß der Drucker aus dem Illustrationsfundus, bestimmt und hergestellt für den Lichtenberger-Druck, einen Druckstock 39

Hans-Joachim König

für die Flugschrift ausgekoppelt hat. Nun kann die Tatsache, daß Kistlers clevere Doppelverwendung dieses Holzschnitts durchaus aufgrund des auch für den Text des Kolumbus-Briefs passenden Motivs zu akzeptieren ist, wohl kaum verhehlen, daß sich dahinter ein geschäftstüchtiges Branchengehabe verbirgt: Konnten doch auf diesem Weg Drucker und Verleger Zeit- und Kostenaufwand für die Anfertigung neuer Druckstöcke sparen. In der Tat stellt Kistler diesbezüglich keine Ausnahme dar: So fand beispielsweise auch der Frankfurter Drucker Weygandt Han für seinen 1557 in Frankfurt erschienenen Raubdruck des im selben Jahr in Marburg erstmals veröffentlichten und reich illustrierten Sensationsberichts von Hans Staden über die brasilianischen 'Menschenfresser' dieselbe vorteilhafte Lösung: Er köderte seine Kunden mit einer text- und formatgleichen und ebenfalls wie die Vorlage üppig bebilderten Ausgabe - nur bestückt mit den Originalholzschnitten u.a. javanischer Kannibalen aus dem bereits 1515 erschienenen Ostindienbericht Ludovico de Varthemas! A. Menninger

Einen ersten wichtigen Hinweis gibt das Vorwort an den Leser, in dem Acosta Ziel und Methode seiner Historia Natural y Moral de Las Indias vorstellt und von den bisherigen Darstellungen abhebt: "Über die Neue Welt und Westindien haben viele Autoren zahlreiche Bücher und Berichte geschrieben; in ihnen künden sie von den neuen und merkwürdigen Dingen, die man in diesen Gebieten entdeckt hat, und von den Taten der Spanier, die diese Gegenden erobert und bevölkert haben. Aber bis jetzt habe ich noch keinen Autor gesehen, der die Gründe und Ursachen so vieler Neuigkeiten und Merkwürdigkeiten zu erklären versuchte und darüber Überlegungen und Untersuchungen angestellt hätte; ebensowenig ist mir ein Buch begegnet, dessen Thema die Indios selbst, die alten und ursprünglichen Bewohner der Neuen Welt, gewesen wären. Tatsächlich bieten beide Aspekte große Schwierigkeiten. ... Der zweite, d.h. die eigene Geschichte der Indios zu schreiben, würde intensiven und gründlichen Umgang mit den Indios erfordern, woran es den meisten Autoren, die über Las Indias geschrieben haben, mangelte, teils weil sie die Sprache nicht kannten, teils weil sie sich um die Vergangenheit der Indios nicht kümmerten. Deshalb haben sie sich damit zufrieden gegeben, einige oberflächliche Dinge zu beschreiben" 5 . Traf dies Urteil über die vorhergehenden Chronisten zu, hatten die Autoren überhaupt Interesse an einer Erklärung des Neuen und Merkwürdigen? Wer waren diese Autoren? Ich habe den Bereich "frühneuzeitliches Europa" auf Spanien bezogen, auf das Land also, das weitgehend die Entdeckung, Eroberung und Kolonisation Amerikas im 16. Jahrhundert betrieb und deshalb ein ganz natürliches Interesse an Berichterstattung und an Information besaß. Ich 5 José de Acosta: Historia Natural y Moral, Ausg. Valencia 1977, S. 9.

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Das Indiobild spanischer Chronisten im 16. Jahrhundert

beziehe mich hinsichtlich des Indiobildes auf die Aussagen der spanischen Chronisten des 16. Jahrhunderts, deren Werke damals veröffentlicht wurden, also Kenntnis über Amerika oder Westindien sowohl in Spanien selbst als auch im übrigen Europa vermittelten. Mit einem Blick auf die Verbreitung ihrer Werke in Europa kann deshalb doch ein umfassenderer Eindruck von den in Europa vorhandenen bzw. zugänglichen Kenntnissen über Amerika und seine Menschen entstehen 6 . Die folgenden Ausführungen beruhen im wesentlichen auf den im Laufe des 16. Jahrhunderts erschienenen Werken folgender Autoren, die im Unterschied zu den früheren Entdeckungs- und Reiseberichten von Christoph Kolumbus 7 oder Amerigo Vespucci 8 in größerem Stil und umfassender die Ereignisse in Amerika seit der spanischen Entdeckung beschrieben. Die chronistische Darstellung beginnt mit den ab 1511 erscheinenden Dekaden über die Neue Welt des Pedro Mártir de Angleria. Obwohl gebürtiger Italiener, gehört er in die Reihe der spanischen Chronisten, bekleidete er doch das Amt des Chronisten im Indienrat und hatte als solcher Zugang zu mündlichen und schriftlichen Augenzeugenberich6 Die neueste Zusammenstellung der europäischen Americana, der jeweiligen Originale, ihrer Editionen und Verbreitung in Europa, liefern J. Alden und D. C. Landis (Hrsg.): European Americana, Vol. I. 1493-1600, New York 1980, Vol. II. 1601-1650, New York 1982. - Vgl. zum daraus sich entwickelnden Bild von Amerika und seinen Einwohnern F. Chiapelli (Hrsg.): First Images of America. The Impact of the New World on the Old. 2 Vols. Berkeley, Los Angeles, London 1976. - Jean-Paul Duviols: L'Amérique espagnole vue et rêvée. Les livres de voyages de Christophe Colombe à Bougainville. 1492-1768. Paris 1986. - Ulrich Knefelkamp und Hans-Joachim König: Die Neuen Welten in alten Büchern. Entdeckung und Eroberung in frühen deutschen Schrift- und Bildzeugnissen. Bamberg 1988 (Ausstellung der Staatsbibliothek Bamberg anläßlich des 37. deutschen Historikertages). - Siehe auch demnächst die Ergebnisse eines Internationalen Symposiums 1987 in La Rábida zum Thema: La Imagen del Indio en la Europa del siglo XVI y XVII. 7 Christoph Kolumbus hatte in verschiedenen Briefen über seine Entdeckung 1492 bzw. die nachfolgenden Unternehmungen auf seinen insgesamt 4 Reisen informiert. Besonders der Brief über die 1. Reise war in Europa schnell verbreitet worden und hatte die Entdeckung Amerikas bekannt gemacht. Das von Kolumbus verfaßte Bordbuch über die 1. Reise erschien erst im 19. Jahrhundert, in der Historia de Las Indias von Bartolomé de las Casas. Siehe Cristóbal Colón: Textos y documentos completos. Relaciones de viajes, cartas y memoriales. Edición, prólogo y notas de Consuelo Varela. Madrid 1982. - Konrad Häbler (Hrsg.): Der deutsche Kolumbusbrief. Faksimileausgabe der Übersetzung von 1497. Straßburg 1900. - Ernst Weil (Hrsg.): De Insulis inventis; Eyn schon hübsch lesen von etlichen inßlen. Facsímile der lat. und deutschen Ausgabe. München 1922. 8 Amerigo Vespucci hatte 1502 in einem Brief an Lorenzo di Pier Francesco de Medici über seine Erlebnisse und Eindrücke an der brasilianischen Küste berichtet. Wie kaum ein anderer Bericht hat dieser Brief, der bald in zahlreichen Editionen und Übersetzungen in Europa kursierte, das Bild des primitiven, nackten, teils wilden Indio geprägt. - Americo Vespucio: El Nuevo Mundo. Cartas relativas a sus viajes y descubrimientos. Textos en Italiano, Español e Ingles. Estudio preliminar de Roberto Levillier. Buenos Aires 1951. A. Vespuccio: El Nuevo Mundo. Viajes y documentos completos. Madrid 1985. 41

Hans-Joachim König

ten über die Geschehnisse in der Neuen Welt9. Hernán Cortés gab sozusagen als sein eigener Chronist in Form von Briefberichten an Karl V. (1522,24,25) eine detaillierte Darstellung seiner militärischen und politischen Aktivitäten in Mexiko 10 . Gonzalo Fernández de Oviedo, ein vielbeschäftigter, vielgereister und an historischen Fragen interessierter Jurist, Schriftsteller und Kolonialbeamter, verfaßte in jahrzehntelanger Arbeit eine monumentale Natur- und Humangeschichte Amerikas. Schon frühzeitig, sicher aber seit seinem ersten Aufenthalt in Amerika, 1514/15, als er als Schreiber und Inspektor der Goldschmelze an der von Pedrarias Dávila geleiteten Expedition nach Panamá (Darién) teilnahm, hatte er begonnen, Material für eine Geschichte der neuentdeckten Gebiete zu sammeln, eine Arbeit, die er bei späteren Aufenthalten in Mittelamerika oder auf Hispaniola - insgesamt lebte er mit Unterbrechungen über 25 Jahre in der Neuen Welt - fortsetzte. 1526 veröffentlichte er in Spanien einen Karl V. gewidmeten "Uberblick über die Naturgegebenheiten von Las Indias", um des Kaisers Informationsbedürfnis zu befriedigen, aber auch dessen weitere Unterstützung zu erlangen. 1535, drei Jahre nach seiner Ernennung zum offiziellen Chronisten, erschien der erste Teil seiner "Historia General y Natural de las Indias" mit 20 Büchern. Von den 9 Pedro Mártir, der schon ab 1494 in Briefen a u s Spanien an italienische Freunde auf die neuen Entdeckungen eingegangen war, faßte diese Briefe zu Dekaden zusammen, die sich im Laufe der Zeit und mit zunehmendem Material auf insgesamt acht beliefen. P. Martyris Angli mediolanensis opera. Legatio Babylonica, Oceani Decas, Poemata, Epigrammata. Cum privilegio Imper. Hispali 1511. (Enthält die 1. Dekade). - De rebus oceanis et Orbe N o v o Decades tres. Alcalá d e Henares 1516. - De orbe novo decades, opus epistolarum. Alcalá de Henares 1530. - Veröffentlichungen in Europa: Basel 1521,1533; Nürnberg 1524; Köln 1532,1574; Venedig 1534; Paris 1536,1587. - Neuausgaben; De Orbe Novo, ed. Francis Augustus Mac Nutt. 2 vols. New York 1912, Repr. 1970. - Opera. Ed. Facsimile von 1530. Graz 1966. - Acht Dekaden über die Neue Welt, übersetzt, eingeführt und mit Anmerkungen versehen von Hans Klingelhöfer. 2 Bde. Darmstadt 1973. 10 Hernán Cortés, eine der interessantesten Gestalten der spanischen Konquista, schrieb im Zeitraum von Juli 1519 bis September 1526 insgesamt fünf Cartas de Relación an Kaiser Karl V., in denen er sein Vorgehen bei der Eroberung des Aztekenreiches und seine Vorstellungen über die spanische Herrschaft in Neu-Spanien vortrug. Von diesen Briefen sind der 2. (30. Oktober 1520), der 3. (15. Mai 1522) und der 4. Brief (15. Oktober 1524) damals veröffentlicht worden. Hernán Cortés; Cartas de relación. Sevilla 1522; Carta d e relación. Caragoza 1523; La quarta relación. Toledo 1525. - Weitere Ausgaben in Europa: Nürnberg (lat. 2. und 3.)1524; Köln (lat.) 1532; Augsburg (deutsch 2. und 3.) 1550; Basel 1555; Paris 1588. - Neuere Ausgaben in: Historiadores Primitivos de Indias. Colección dirigida e ¡Ilustrada por Don Enrique de Vedia. 2 Tomos, Madrid 1946 und 1947 (Biblioteca de Autores Españoles 22 und 26), T. I., S. 1-153. - Hernán Cortés: Cartas de relación. Edición Mario Hernández. Madrid 1985 (Historia 16, Crónicas de América 10). - Deutsche Ausgabe: C. Litterscheid (Hrsg.): Die Eroberung Mexikos. Drei Berichte von Hernán Cortés an Kaiser Karl V. Übers, von Mario Spira u. C. W. Koppe. Frankfurt a.M. 1980.

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Das Indiobild spanischer Chronisten im 16. Jahrhundert

bis 1549 verfaßten zwei weiteren Teilen mit 30 Büchern erschien lediglich das erste Buch des zweiten Teils im Jahr 1557, ein Jahr nach Oviedos Tod 11 . Gegenüber dieser umfangreichen und detaillierten Chronik fällt der 1534 veröffentlichte "Wahrhafte Bericht über die Eroberung Perus" des Sevillaners Francisco de Jerez oder Xerez, der ab 1519 mit wechselvollem Glück an den Aktivitäten in Amerika, zuletzt als Sekretär Francisco Pizarros, beteiligt war, schon allein wegen seiner Kürze ab 12 . Eine ausführliche Geschichte über Amerika und vor allem über die Eroberung Mexikos legte dann 1552 Francisco López de Gomara, ein humanistisch gebildeter Geistlicher, in einer allgemein beachteten und schnell verbreiteten Ausgabe vor. Er war seit 1542 als Hauskaplan bei Hernán Cortés nach dessen Rückkehr nach Spanien (1540) tätig gewesen und hatte dadurch Zugang zu wichtigen Informationen gehabt 13 . Ebenfalls 1552 veröffentlichte Bartolomé de las Casas, Bischof von Chiapas und Protector de los Indios, seinen "Kurzgefaßten Bericht über die Zerstörung der Indien", den er im Zuge seiner nimmermüden Bemühungen um eine gerechte Behandlung der Indios anläßlich der Überlegungen zu einer neuen Indianerschutzgesetzgebung (Leyes Nuevas) zur offiziellen Information für den spanischen Hof schon 1541/42 verfaßt hatte 14 . Seine 11 Gonzalo Fernández de Oviedo: Sumario de la natural historia de las Indias. Toledo 1526. - La historia general de las Indias. Sevilla 1535. - Coronica de Las Indias. La hystoria general de las Indias, agora nuevamente impresa, corregida y emendada. Salamanca 1547. Libro XX. De la segunda parte de la general historia de las Indias. Valladolid 1557. - Europäische Veröffentlichungen des Sumario: Venedig 1534, London 1555; der Historia General: Paris 1555, 1556, London 1577. - Neuausgabe des Sumario in: Historiadores Primitivos de Indias. T. I., S. 473-515. - Sumario, Edición, introducción y notas de José Miranda. México 1950,1979. - Edición de Manuel Ballesteros. Madrid 1986. (Historia 16, Crónicas de America 21). - Historia general, siehe Anm. 3. 12 Francisco de Jerez: Verdadera Relación de la Conquista del Peru y Provincia del Cuzco, Llamada laNueva Castilla. Sevilla 1534, Salamanca 1547 (zusammen mit der Überarbeitung des 1. Teils der Historia General von Gonzalez de Oviedo). - Europäische Veröffentlichungen: Mailand 1535, Venedig 1535. - Neuausgabe in: Historiadores Primitivos de Indias. T. II., S. 319-348. 13 Francisco López de Gomara: Crónica de la Historia General de las Indias y Conquista de Méjico. Zaragoza 1552, Medina del Campo 1553, Zaragoza-Antwerpen 1554. - In Spanien wurden durch Philipp II. Druck und Verkauf des Werkes verboten, in Europa aber gibt es zahlreiche Veröffentlichungen dieser Geschichte, die für Cortés Partei ergreift: Rom 1556; Venedig 1 5 5 7 , 1 5 6 0 , 1 5 6 4 , 1 5 6 5 , 1 5 6 6 , 1 5 7 6 , 1 5 9 9 ; Paris 1568,1569,1577,1578,1580, 1584,1587,1588; London 1578,1596. - Neuausgabe in: Historiadores Primitivos de Indias I, S. 155- 455 (Teil 1. S. 157-294; Teil 2 (Mexiko) S. 295-455). - Historia General de Las Indias y Vida de Hernán Cortés. Prólogo y Cronología por Jorge Guerría Lacroix. Caracas 1979 (Biblioteca Ayacucho 64) - Historia de la Conquista de México. Prólogo y Cronología por Jorge Guerría Lacroix. Caracas 1979 (Biblioteca Ayacucho 65). 14 Bartolomé de las Casas: Brevísima Relación de la Destrucción de Indias. Sevilla 1552. - Europäische Veröffentlichungen: Paris 1582; Amsterdam 1579,1596; Frankfurt 1597,

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beiden anderen umfangreicheren und differenzierteren historischen Werke blieben im 16. Jahrhundert leider unveröffentlicht 13 . Die "Chronik Perus" des Pedro Cieza de León, eines Soldaten, der von 1535-1547 an den Unternehmungen in Neu-Granada und von 15481550 in Peru teilgenommen, sich daneben aber mit historischen Studien beschäftigt hatte, erschien auch unvollständig. Im Jahre 1553 wurde lediglich der erste Teil, sozusagen der Einleitungsteil, gedruckt, während die anderen Teile, darunter der besonders wichtige zweite Teil über die Herrschaft der Inkas, erst im 19. Jahrhundert öffentlich bekannt wurden. 1 6 Mit der Entdeckung und Eroberung Perus befaßte sich ebenfalls Agustín de Zarate, ein hoher Beamter im kolonialen Wirtschafts- und Finanzwesen und z.Zt. der Bürgerkriegsunruhen in Peru tätig; 1555 veröffentlichte er seine Historia in Antwerpen 1 7 . Den Abschluß in der Reihe der spanischen Chronisten, deren Arbeiten über Amerika im 16. Jahrhundert auch tatsächlich erschienen, bildete dann der Jesuit José de Acosta mit seinen beiden Werken über die Natur und die Menschen in Amerika 1 8 . Entsprechend diesem Kriterium der Veröffentlichung, also der Verfügbarkeit im 16. Jahrhundert, fallen außer den Werken von Las Casas und Cieza de León weiterhin so wichtige Geschichtsdarstel1599. - Neuausgabe: Facsímile der Ausgabe von Sevilla, Introducción y notas de Manuel Ballesteros Goibros. Madrid 1977. - Brevísima Relación, Edición de André Saint-Lu. Madrid 1982. - Kurzgefaßter Bericht von der Verwüstung der westindischen Länder, hg. von H. M. Enzensberger. Frankfurt a.M. 1981. 15 Bartolomé de las Casas: Historia de las Indias (1527- ),1. Ausgabe im 19. Jahrhundert, dann Edición de Agustín Millares Carlo. 3 vols. México 1951, 1981. - Apologética historia sumaria (1551-), ed. por Edmundo O'Gorman. 2 vols. México 1967. Besonders in diesem Werk gibt Las Casas eine differenzierte Darstellung der indianischen Gesellschaften und Kulturen mit einem komparatistischen Ansatz, ohne allerdings dabei die eigenen Kategorien in Frage zu stellen. 16 Pedro Cieza de León: La Crónica del Perú. Sevilla 1553. - Neuausgabe in: Historiadores Primitivos de Indias II, S. 349-458. - Edición de Manuel Ballesteros. Madrid 1984 (Historia 16, Crónicas de América 4). - Segunda parte de la Crónica del Perú, que trata del Señorío de los Yncas Yupanquis y de sus grandes hechos y gobernación. La publica Marcos Jiménez de la Espada. Madrid 1880. - El señorío de los incas. Edición de Manuel Ballesteros. Madrid 1985 (Historia 16, Crónicas de America 5). - Tercera Parte. Del descubrimiento y conquista del Perú. Edición de Carmelo Sáenz de Santa María. Madrid 1986 (Historia 16, Crónicas de América 17). 17 Agustín de Zarate: Historia del Descubrimiento y Conquista de la Provincia del Perú. Amberes (Antwerpen) 1555, Sevilla 1577. - Europäische Ausgaben: London 1581; Antwerpen 1563,1564; Venedig 1563; Amsterdam 1596. - Neuere Ausgabe in: Historiadores Primitivos de Indias II, S. 459-574. 18 Siehe oben Anm. 2. - Seine Werke wurden im 16. Jahrhundert in Europa verbreitet, Köln 1589,1596,1600; Venedig 1596; Haarlem 1598; Paris 1598,1600.

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lungen wie z.B. die von Bernal Díaz del Castillo 19 , Bernardino de Sahagún 2 0 , Pedro Sarmiento de Gamboa 2 1 , Juna de Tovar 2 2 , Fray Diego Durán 2 3 , Inca Garcilaso de la Vega 2 4 und die Betrachtung von indianischer Seite, von Felipe Guarnan Poma de Ayala 2 5 aus der direkten Analyse heraus, weil sie erst im 17. bzw. gar erst im 19. Jahrhundert oder noch später zum ersten Mal veröffentlicht wurden, also die Kenntnisse im 16. Jahrhundert nicht beeinflussen konnten. Bevor ich näher darauf eingehe, wie die Spannung zwischen Verständnislosigkeit und Verstehen, Sicherheit und Zweifel bei den einzelnen Autoren ein Bild vom Indio geprägt hat, will ich kurz das grundsätzliche Problem der Entdeckung Amerikas andeuten, das sich von dem der Entdeckung Asiens und Afrikas ganz wesentlich unterscheidet. Wohl der erstaunlichste Vorgang in der Geschichte der europäischen Expansion, durch die verschiedene Kulturen miteinander in Berührung kamen, ist die Entdeckung Amerikas - im spanischen Sprachgebrauch Las Indias genannt -, d.h. die Begegnung der Europäer mit den Einwohnern dieses Kontinents. Im Unterschied zur Entdeckung Amerikas war diejenige der anderen Kontinente nicht wirklich mit dem Gefühl radikaler Fremdheit ver19 Bernal Díaz del Castillo: Historia Verdadera de la Conquista de la Nueva España. Madrid 1632. - Edición Crítica por Carmelo Sáenz de Santa María. Madrid 1982. - Deutsche Ausgabe: Wahrhafte Geschichte der Entdeckung und Eroberung von Mexiko. Herausgegeben und bearbeitet von Georg A. Narciß, mit einem Nachwort von Tzvetan Todorov. Frankfurt a.M. 1981. 20 Bernardino de Sahagún: Historia General de las Cosas de Nueva España. (1570-1582). 1. Ausgabe 1829,1830. - Ed. por Angel Maria Garibay K. México 1981 . 4 Tomos. 21 Pedro Sarmiento de Gamboa: Historia Indica. (1572). Edición R. Levillier. Madrid 1935. Deutsche Ausgabe: Richard Pietschmann: (Hrsg.): Geschichte des Inka reiches von Pedro Sarmiento de Gamboa. Abhandlungen der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Philolog.-Histor. Klasse, Neue Folge Bd. VI, Nr. 4. Berlin 1906. 22 Juan de Tovar: Historia de la benida de las Indios a poblar Méjico de las partes remontas de Occidente (1576-78). Relación del origen de los indios que habitan esta Nueva España. Según sus historias (1583). Ausgabe 1979. 23 Fray Diego Durán: Historia de las Indias de la Nueva España y Islas de Tierra Firme (1570-81). México 1867-1880. 24 García Laso de la Vega (El Inca Garcilaso de la Vega): Primera Parte de los Comentarios Reales que tratan del origen de los Incas... de su idolatría, leyes... de sus vidas y conquistas y de todo lo que fue aquel Imperio y su República, antes que los Españoles pasaron a el. Lisboa 1609. - Neuere Ausgabe, Comentarios reales de los Incas. Prólogo, edición y cronología de Aurelio Miro Quesada. 2 vols. Caracas 1976 (Biblioteca Ayacucho 5 und 6). 25 Wie kaum eine andere Darstellung gibt das Werk des Poma de Ayala, eines Angehörigen der eroberten Bevölkerung Perus, Einblicke in Kultur und Geschichte der Peruaner ebenso wie in die Probleme des "Kulturkontakts" zwischen Spaniern und Indios. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts (1908) wurde das umfangreich illustrierte Manuskript in Kopenhagen gefunden. Felipe Guarnan Poma de Ayala: Nueva Corónica y Buen Gobier-

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bunden gewesen. Die Existenz Afrikas, Indiens, Chinas und ihrer Menschen war den Europäern niemals vollständig unbekannt gewesen, selbst wenn man auch dort, besonders jenseits des Äquators, in entlegenen Regionen nach alten Vorstellungen Monster, Fabelwesen oder Halbmenschen angesiedelt wähnte 26 . Über die Menschen in der Neuen Welt aber wußte man nichts. Es fiel schon schwer genug, Flora und Fauna der Neuen Welt zu klassifizieren und mit Namen zu belegen, um wieviel schwerer mußte es sein, unbekannte Menschen einzuordnen, sie in ihrem eigenen kulturellen System anzuerkennen und nicht mit europäischen Vorstellungen zu vergleichen 27 . Was die behandelten Werke betrifft, so hatten ihre Autoren bis auf Mártir de Angleria und Gomara längere Zeit persönlich in Amerika gelebt, schienen also zu einer präzisen Objektbeschreibung fähig zu sein; no. Ed. Facsimilar Paris 1936. - Neuere Ausgabe: Edición, Transcripción, Prólogo, Notas y Cronología. Franklin Pease. 2 Vols. Caracas 1980 (Biblioteca Ayacucho 75 und 76). - Der Frage, ob und wieweit die NichtVeröffentlichung zahlreicher Schriften zur indianischen Geschichteauf eine gezielte staatliche Politik zurückzuführen ist, kritische Informationen zu verhindern, kann an dieser Stelle nicht nachgegangen werden. 26 Die Cosmographien der damaligen Zeit belegen die geographischen Kenntnisse über Afrika und Asien. Doch selbst so bekannte Cosmographen aus dem deutschsprachigen Raum wie Hartmann Schedel, Johannes Schöner, Sebastian Franck und Sebastian Münster hielten in ihren Werken am Vorhandensein von Fabelwesen fest, eine bedenkliche Voraussetzung für die Bewertung des Indio. Im übrigen zeigt die zögerliche Einarbeitung der Informationen über Amerika auch ihre Schwierigkeiten, das Neue zur Kenntnis zu nehmen. Vgl. dazu Knefelkamp/König (Anm. 6), passim. 27 Unbekannte Pflanzen und Tiere der Neuen Welt wurden in den Darstellungen jeweils mit den bekannten verglichen und gemessen; siehe z.B. Fernández de Oviedo: Sumario (Ed. Miranda) S. 143 ff.; hier spricht er selbst das Problem der Beschreibung an. Wie sehr die Chronisten von dem Neuen, das sie sahen und zur Kenntnis bringen wollten oder sollten, geradezu überwältigt waren und sich fast überfordert fühlten, erhellt z. B. aus der Widmung zum 1. Teil der Historia General von Fernández de Oviedo: "Ich weiß, es gibt in diesem Imperium Indien, ..., so große Reiche und Provinzen, so viele fremde Völker mit unterschiedlichen Sitten, Zeremonien und Götzendienst, abgeschieden von dem seit jeher bis in unsere Zeit Beschriebenem und Bekanntem, so daß das Leben eines Menschen zu kurz ist, um alles zu sehen, zu verstehen und einzuordnen. Welcher sterbliche Geist vermöchte eine solche Vielzahl von Sprachen, von Kleidung, von Gewohnheiten bei den Menschen dieser Indien zu verstehen? Solche Vielfalt der Tiere, Haustier wie wilde Tiere? Solch unbeschreibliche Menge von Bäumen, voll von verschiedenen Früchten oder auch ohne Frucht, sowohl jener, die die Indios anbauen, als auch solcher, die die Natur von sich aus ohne die Hilfe sterblicher Hände hervorbringt? Wieviele Pflanzen und Kräuter, nützlich und heilbringend für den Menschen? Wieviele unzählige andere, die er gar nicht kennt,...? Solche Vielfalt der Raubvögel und anderer Vogelarten? Wieviele hohe und fruchtbare Berge, und andere so wild und verschieden? Wieviele Fluren und Landschaften für die Landwirtschaft geeignet, gelegen an zugänglichen Flußufern? Wieviele Berge großartiger als der Ätna,...? Und alles im Herrschaftsbereich Eurer Monarchie gelegen?" (Ausgabe Tudela, I, S. 8) - Vgl. auch unten die Widmung von López de Gomara an Karl V. zum 1. Teil seiner Geschichte.

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sie selbst jedenfalls reklamierten für sich den Anspruch von Objektivität, von Sicherheit, hatten sie doch mit eigenen Augen gesehen, schrieben also nicht auf der Basis von fremden Berichten28. Was aber bzw. worüber schrieben sie? Machte es einen Unterschied, ob sie von Spanien aus mit Hilfe von Berichten an die Krone, von Erzählungen zurückgekehrter Konquistadoren, Beamter oder Missionare schrieben oder ob sie die Neue Welt und die Indios selbst gesehen hatten? Machte es einen Unterschied, ob sie Soldaten oder Missionare waren? Schon ein Blick auf die Titel zeigt, daß sie vor allem die politische Geschichte der spanischen Entdeckung, Eroberung und Kolonisation sowie die naturgeographische Ausstattung der neuen Gebiete interessierte. Wenn sie dann von den Indios, ihren Sitten und Gebräuchen berichteten, von Kannibalismus und Nacktheit, von Menschenopfern und Abgötterei, von tyrannischer Herrschaft der Azteken und Inkas, dann geschah dies häufig genug, um die Berechtigung der Konquista und der nachfolgenden Christianisierung zu untermauern 29 . Sie waren sich des Rechts der Spanier und Christen als Zivilisatoren sicher, ob sie nun wie Cortés und Oviedo Konquistadoren und Beamte oder wie Mártir de Angleria und Gomara Theologen waren. Bei dem "Soldaten" und Chronisten Pedro Cieza de León ist von dieser Sicherheit wenig zu spüren, wenn er z.B. in bezug auf die vorspanische Zeit in Peru nicht die Bestialität der Inkas behauptet, sondern lediglich von der Meinung einiger Befragter spricht:"... man sagt (porque dicen), daß die Ureinwohner sehr bestialisch waren und viele Menschenfleisch 28 Fernández d e Oviedo z.B. distanzierte sich von Pedro Mártirs Art zu schreiben, weil dieser im Unterschied zu ihm selbst die Neue Welt nicht persönlich kennengelernt habe und deshalb nicht als Augenzeuge die Berichte anderer habe überprüfen können, Historia General (Ausgabe Tudela), Bd. II, S. 34 (Buch X) und S. 56 (Buch XIII). - Vgl. auch Las Casas, der im Prolog zur Brevísima seinen Aufenthalt von über 50 Jahren in Amerika als Qualitätsgarantie für seine eigenen Aussagen anführte (Ausgabe Saint-Lu, S. 68); dementsprechend unterstrich er im Verlauf des Berichtes seinen Wahrheitsgehalt mit Formeln wie "Una véz vide que,..." (S. 77); "y sé por cierto" (S. 83); "que yo sé y vide" (S. 149). - Pedro Cieza de León betonte ebenfalls das methodische G r u n d p r i n z i p der eigenen Erfahrung, wenn er im Proömium seiner Chronik ausführte: "Ich bekam große Lust, über einiges von d e m zu schreiben, w a s ich mit eigenen Augen gesehen habe und wovon ich sehr vertrauenswürdige Personen habe reden hören", Ausgabe Ballesteros, S. 61. 29 Siehe z.B. die Argumentation von Hernán Cortés bei der Beschreibung der Stadt Tenochtitlan (Mexiko) und der Herrschaft Montezumas im 2. Brief, Ausgabe Hernández, S. 131141, bes. S. 135 ff., die Tempelzerstörung u n d die Errichtung eines Marienbildes. - Vgl. auch die Haltung von López d e Gomara; z.B. im Widmungsbrief an Karl V. (Ausgabe Historiadores), S. 156; oder das Schlußwort "Lob der Spanier", in d e m er die Bedeutung der Konquista darin sieht, daß die Spanier die Indios vom Heidentum, vom Teufel, von Unwissen etc. befreit haben; d a ß es dabei Tote gegeben hat, interpretiert er als Strafe Gottes, S. 294. Ähnliche Argumente finden sich im 2. Teil (Conquista Mexicos), S. 295, S. 449-451.

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a ß e n u n d a n d e r e d i e T o c h t e r o d e r d i e M u t t e r z u r F r a u n a h m e n . . . u n d sich z u T y r a n n e n a u f s c h w a n g e n ! " 3 0 Ü b e r h a u p t ist in d e r C h r o n i k v o n C i e z a d e L e ó n , d i e eine B e s c h r e i b u n g s e i n e r Erlebnisse, B e o b a c h t u n g e n u n d N a c h f o r s c h u n g e n w ä h r e n d seines A u f e n t h a l t e s in N e u - G r a n a d a , d e m h e u t i g e n K o l u m b i e n , a b 1 5 3 5 u n d v o r a l l e m in P e r u v o n 1 5 4 8 bis 1 5 5 0 darstellt, im Unterschied zu a n d e r e n Chroniken eine besondere Bezieh u n g z u d e n I n d i o s festzustellen. S c h o n a u s d e m U m f a n g d e r Beschäftig u n g m i t d e n I n d i o s läßt sich ein g r o ß e s Interesse a b l e s e n ; C i e z a s p r i c h t s t ä n d i g v o n ihnen, b e s c h r e i b t ihre Feste, ihre B e s t a t t u n g s r i t e n , ihre Reli5. P o m a de Ayala: Ein spanischer Priester zwingt eine peruanische Indianerin, für ihn zu weben. Federzeichnung (um 1615) Der aus einer mit dem Clan der Inkakaiser verfeindeten adeligen Familie s t a m m e n d e Felipe G u a m á n Poma de Ayala verfaßte eine umfangreiche Chronik Perus von der im Dunkel liegenden Gründungszeit bis zur Vernichtung des Inka-Staates durch die Spanier (fast 1200 Seiten mit 400 ganzseitigen Federzeichnungen). Das um 1615 verfaßte Geschichtswerk, das mehr durch die Bilder als durch den Text beeindruckt, war für den spanischen König bestimmt, erreichte seinen Adressaten jedoch nie und w u r d e erst zu Beginn dieses Jahrhunderts in Kopenhagen wieder aufgefunden. Es erschien 1936 zum ersten Mal im Druck. Durch den Umsturz hatte die Familie des Poma de Ayala anfänglich zu den Siegern gehört, denn die Spanier privilegierten sie, banden sie an sich und machten sich ihre Landeskenntnisse zu nutze. Der Autor unserer Chronik bekleidete verschiedene Positionen in der Kolonialverwaltung, fand sich aber nach Rückkehr in seine Heimatregion seiner Ländereien beraubt und wurde sogar aus der Provinz verbannt. In seiner dreiteiligen Chronik (1. Die neue Chronik; 2. Die Geschichte der Eroberung; 3. Die gute Regierung) solidarisiert er sich mit der ausgebeuteten indianischen Bevölkerung und kritisiert die Herrschaftspraxis der neuen Herren. Im Zentrum des dritten Teils, dem die Abbildung entnommen ist, steht das Unrecht, das an den Indianern von spanischen Pfarrern, Ordensgeistlichen, Corregidores, Encomenderos, Reisenden, aber auch von Mestizen, Mulatten und Schwarzen verübt worden ist. Die bei Poma de Ayala anklingenden Uberlieferungen der Andenvölker beschrieben ihre Geschichte als eine Abfolge von Epochen, die von Aufständen unterbrochen wurden, und in diesen Erklärungszusammenhang wurde die spanische Konquista integriert. Der christlichen Mission gelang es nicht, dieses indianische Gedankengut in ihre Lehre v o m Jüngsten Gericht einzubauen. Vielm e h r ordnete sie den Mythos der Inka, ihr erster König sei ein Nachfahre der Schlange, der Affinität von Schlange und Teufel zu. Poma de Ayala sucht in seiner Chronik zwischen diesen beiden Weltsichten zu vermitteln, wobei er den Unterschied zwischen den gepredigten Idealen der Barmherzigkeit und der gelebten Wirklichkeit der spanischen Konquista eindrücklich vermerkte. Th. Schleich 30 Cieza de León: Crónica del Perú (Ed. Ballesteros), S. 181. 48

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giosität, ihre Städte und Wege, ohne dabei die Indios abzuwerten. Man spürt vielmehr ein menschliches Mitgefühl mit den Indios, die nicht verabscheuenswürdig, sondern vielmehr bemitleidenswert erscheinen. Schon im Vorwort an den Leser kommt dies zum Ausdruck, wenn er seine Geschichtsschreibung damit begründet: "... indem wir zweitens bedenken, daß wir Spanier und alle diese Indios, alle von denselben Ureltern Adam und Eva abstammen und daß der Sohn Gottes für alle Menschen vom Himmel stieg und, Mensch geworden, den grausamen Kreuzestod erlitt, um uns zu erretten und von der Macht des Teufels zu befreien; daß ferner der Teufel mit Gottes Billigung diese Menschen lange Zeit in Knechtschaft hielt, dann war es recht und billig, alle Welt erfahren zu lassen, wie diese vielen Menschen durch die Anstrengung der Spanier in den Schoß der heiligen Mutter Kirche zurückgeführt wurden" 31 . Ich bin so ausführlich auf Cieza de León eingegangen, weil sich hier ein Verstehen des Anderen andeutet, das gleichzeitig mit direkter Kritik am Vorgehen der Spanier verbunden ist. Verstehen insofern, als Cieza de León die für ihn unverständlichen und nicht zu billigenden heidnischen Unsitten wie Menschenopfer, Kannibalismus, Sodomie etc. nicht auf eine verderbliche bzw. verderbte Natur des Indio oder auf seinen Zustand als Nicht-Mensch zurückführte, sondern lediglich auf sein Unwissen, d.h. sein Fernsein vom christlichen Gott. Die Frage, ob es sich bei den Indios um wirkliche Menschen handelte, war für die Chronisten wie auch für die anderen Spanier gar nicht so selbstverständlich. Dazu hatte erst einmal geklärt werden müssen, daß es die in Antike und Mittelalter verneinten Menschen jenseits der heißen Zone, daß es Antipoden gab, Menschen auf der jeweils entgegengesetzten Seite der Erde . Um welche Art Menschen aber handelte es sich? Die spanische Krone hatte schon frühzeitig die Indios als rechtsgleiche Vasallen anerkannt und war insgesamt um eine positive Haltung gegenüber den Indios im Sinne einer Indianerschutzgesetzgebung bemüht . Welcher Monarch wollte schon gern Herrscher über Barbaren oder Nicht31 Ebda. S. 62. 32 Die Kugelgestalt der Erde und das Vorhandensein der Antipoden diskutieren u.a. López de Gomara, im 1. Teil seiner Geschichte, S. 159, und José de Acosta: Historia Natural (Ausgabe Beddall), S. 24-36 (Lib. I, Cap. 4-8). Hier wurde die alte Antipoden-Theorie, daß die Menschen auf der anderen Seite der Erde mit dem Kopf nach unten gehen mußten, überholt. Wichtig war, daß es jenseits der heißen Zonen (von Europa aus gesehen) überhaupt Menschen gab. 33 Zur Indianerpolitik der Spanier und zur Gesetzgebung zum Schutz der Indios, aus denen besonders die Gesetze von Burgos (1512/13) und die Neuen Gesetze (Leyes Nuevas von 1542) herausragen, siehe Lewis Hanke: The Spanish Struggle for Justice in the Conquest of America. Boston 1949,1965. - Joseph Höffner: Kolonialismus und Evangelium. Spani-

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Menschen sein?! Bei den Chronisten ist dagegen die Tendenz nicht zu übersehen, die Indios nur als unvollkommene Menschen darzustellen. So übernahm Mártir de Angleria als Beleg gänzlich unkommentiert die Bewertung des Dominikaners Tomás Ortís; dieser hatte die Indios auf eine Stufe mit Tieren gestellt, weil sie bar jeder Zivilisation, wie sie die Europäer kannten, seien 34 . Gonzalo Fernández de Oviedo degradierte die Indios geradezu zu unbelebten Objekten; seine Einschätzung des Indio ist ein prägnantes Beispiel dafür, wie mit einer verallgemeinernden Charakterisierung des Indio als tierisch die Überlegenheit der Spanier dokumentiert und deren Rechte als Eroberer bestätigt wurden: Schon das äußere Erscheinungsbild, wie es Oviedo zeichnete, mußte abstoßend wirken: "Auch ihre Köpfe sind nicht wie die der anderen Menschen, sondern ihre Schädel sind derart dickknochig, daß die Christen beim Kampf ganz besonders achtgeben müssen, ihnen nicht auf die Köpfe zu schlagen, ansonsten die Schwerter brechen" 30 . Dieser Schädelform entsprechend glaubte Oviedo bei ihnen nur ein tierisches Verständnis zu bemerken 36 . Für Oviedo stand es fest, daß es sich bei den Indios um Barbaren handelte, die mit den Äthiopiern und Thrakern, den antiken und mittelalterlichen Prototypen des Barbaren, verglichen werden müßten 37 . Oviedo sprach den Indios menschliche zivilisatorische Qualitäten ab; im Zusammenhang mit der Frage nach der Berechtigung des Arbeitseinsatzes von Indios meint er: "Aber für sich allein genommen sind diese Indios nur wenig wert; schon geringe Arbeitsanstrengungen lassen sie sterben oder in die Berge verschwinden. Denn ihr hauptsächliches Streben (- und so haben sie sich immer verhalten, auch bevor die Spanier sehe Kolonialethik im Goldenen Zeitalter. 3. verb. Auflage Trier 1972. - Estudios sobre política indigenista española en América. Simposio conmemorativo del V Centenario del Padre las Casas. Terceras Jornadas Americanistas déla Universidad de Valladolid. 3 vols. Valladolid 1975-1977. - Horst Pietschmann: Staat und staatliche Entwicklung am Beginn der spanischen Kolonisation Amerikas. Münster 1980. - Hans-Joachim König: Barbar oder Symbol der Freiheit? Unmündiger oder Staatsbürger? Indiobild und Indianerpolitik in Hispanoamerika, in: Der europäische Beobachter außereuropäischer Kulturen. Zum Problem der Wirklichkeitswahrnehmung, hrsg. von H.-J. König, W. Reinhard und R. Wendt, Berlin 1989, S. 97-118. - Die beste Sammlung entsprechender Gesetze ist immer noch Richard Konetzke: Colección de documentos para la historia de la formación social de Hispanoamérica. 1493-1810. Madrid 1953; hier Band I. 34 Pedro Mártir de Angleria: Decadas, hier 7. Dekade, Buch IV; Deutsche Ausgabe Bd. II, S. 199 ff. 35 Fernández de Oviedo: Historia General Bd. I, S. 111 (Buch V, Proömium). Schon im Sumario hatte Fernández de Oviedo diese Charakterisierung gegeben, Ausgabe Miranda, S. 140. 36 Historia General, Bd. I, S. 111. 37 Zur Diskussion des Terminus "Barbaren" z. Zt. der Antike und der Konquista siehe Anthony Pagden: The Fall of Natural Man. The American Indian and the origins of comparative ethnology. Cambridge 1982, bes. Kap. 2.

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kamen -) war zu essen, zu trinken, zu schlemmen, ihre Wollust zu befriedigen, Götzendienst zu betreiben und viele andere bestialischen Schmutzigkeiten auszuüben" 38 . Oviedo bezieht sich hier zwar auf die Indios auf Santo Domingo, die nicht zu einer Hochkultur gehören; aber ähnliche Beurteilungen finden sich auch für die Indios Mexikos (allerdings erst später veröffentlicht), so daß hier eine Grundtendenz vorliegt. Und dennoch ist auch bei Oviedo eine gewisse Unsicherheit darüber zu spüren, ob sich bei den Indios in ihrer Andersartigkeit nicht die Vielfalt von menschlichen Verhaltensweisen und Lösungsmöglichkeiten als Ausdruck einer gemeinsamen Vernunftbegabung zeige. Bei der Beschreibung gewisser Fertigkeiten der Indios fragt sich Oviedo: "Wer mag diesen Indios, die doch soweit entfernt von jeglicher schriftlicher Uberlieferung und Unterweisung leben" - er hatte zuvor auf die Unterweisung durch antike Schriften bezüglich hierarchischer Gesellschaftsordnungen hingewiesen - "alle diese Standesunterschiede in ihren Gemeinwesen gezeigt haben, die sie mit soviel Demut gegenüber ihren Oberen und in beständiger Gewohnheit bezeugen? Ich vermute, die Natur ist die Führerin aller Künste; und nicht ohne Grund pflegen die Florentiner in einem Sprichwort zu sagen: Tuto il mondo e como a casa nostra. So scheint es mir in der Tat, daß unsere Augen bei den vielen Dingen, die wir voll Verwunderung bei diesen Völkern und wilden Indios angewendet sahen, das gleiche oder fast das gleiche erblicken, was wir bei anderen Völkern Europas oder der bekannten Teile der Welt gesehen und gelesen haben"39. Trotzdem von "Indios salvajes" zu sprechen, zeigt die Spannung zwischen Sicherheit und Zweifel in der Begegnung des spanischen Chronisten Oviedo mit den Indios. Die Tatsache, daß Papst Paul III. im Jahre 1537, immerhin zu einer Zeit, als die Spanier in Mexiko und Peru Hochkulturen begegnet waren, in einer Bulle den Indios ausdrücklich den Status von Menschen bescheinigte 40 , verdeutlicht die allgemeine Schwierigkeit der damaligen Zeit, den Indio als Menschen anzuerkennen und sich ein objektives Bild von ihm zu machen. Hier erhebt sich die Frage, woran es gelegen hat, daß spanische Chronisten wie z.B. Mártir de Angleria, Oviedo oder Gomara solche Schwierigkeiten hatten, die Indios als gleichwertige Menschen zu erkennen und 38 Fernández de Oviedo: Historia General, Bd. I, S. 95 (Buch IV, Cap. 2). Vgl. auch seine Beurteilung Bd. I, S. 67 (Buch III, Cap. 6). 39 Fernández de Oviedo: Historia General, Bd. I, S. 218 (Buch VI, Cap. XLIX). 40 Zur Bulle "Sublimis Deus" und zu Papst Paul III. siehe Lewis Hanke: Pope Paul III a n d the American Indians, in: Harvard Theological Review 30 (1937), S. 65-102. - Alberto d e la Hera: El derecho de los indios a la libertad y la fe. La bula Sublimis Deus y los problemas indianos que la motivaron, in: Anuario d e historia del derecho español 26 (1956), S. 119-139.

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anzuerkennen, d.h. Verschiedenheit nicht als Ungleichheit und Inferiorität zu charakterisieren. Immerhin hatten sie den Auftrag zur Information. Oviedo war z.B. mit dem 1532 geschaffenen Posten eines offiziellen Chronisten für das Kolonialreich Las Indias beauftragt worden, nicht nur Entdeckung und Kolonisation, die Besonderheiten und Eigenarten der jeweiligen Region, sondern auch die dortigen Einwohner zu beschreiben 4 1 . Daß dieses Informationsbedürfnis nicht w i s s e n s c h a f t l i c h im S i n n e e t h n o l o g i s c h e r Untersuchungen motiviert war, sondern politisch-administrativen Erfordernissen entsprang, geht beispielhaft aus einer Instruktion Karls V. aus dem Jahre 1534 hervor, in der er vom Pater Fray Tomás de Berlanga Auskünfte über Peru erbittet: "... nachdem ich die Berichte über die Ereignisse und Reichtümer und die Großartigkeit Perus gelesen habe, möchte ich weiter und ausführlich über die Dinge dieser Provinz informiert werden, um die notwendigen und geeigneten Regierungsmaßnahmen und Vorsorge treffen zu können, besonders hinsichtlich der Errichtung von Tempeln und der Gottesdienste sowie auch hinsichtlich der guten Behandlung und Unterw e i s u n g der U r e i n w o h n e r j e n e r R e g i o n . ... I n f o r m i e r t E u c h besonders über die Qualität und den Reichtum der Provinz, über Häfen und Siedlungen, Flüsse und Berge. ... Informiert Euch über die Siedlungen der Christen ... . Informiert Euch auch über die Indiobevölkerung in dem Gebiet und darüber, welcher Art ihre Siedlungs-, Regierungs- und Gesellschaftsformen sind, welche Sitten und Gebräuche sie haben, wie sie ihre Häuser bauen, wie sie ihre Familien behandeln, wovon sie ihren Lebensunterhalt bestreiten, ob sie reich sind und welche Art Besitz sie haben; informiert Euch auch über ihre Riten, Zeremonien, Glaubensvorstellungen sowie über ihre Vernunftbegabung und darüber, welche Grundstücke sie haben und wo diese sich befinden; teilt schließlich mit, welchen Tätigkeiten sie bisher nachgegangen sind; welche Minen entdeckt worden sind" 4 2 . Angesichts dieser Funktion von Information für Herrschaft, wie sie auch in den späteren Informationsanweisungen zur Landesbeschrei41 Siehe die Zusammenfassung der entsprechenden Cédula Real vom 15. Oktober 1532 bei Enrique Otte: Gonzalo Fernández de Oviedo y los Genoveses. El primer registro de Tierra firme, in: Revista de Indias 22, Nr. 89-90 (1962), S. 515-519. - Vgl. auch Pérez de Tudela in der Einleitung zu der von ihm besorgten Ausgabe der Historia General, Bd. I, S. CXVI-CXIX. 42 Zitiert in: Marcos Jiménez de la Espada, Relaciones Geográficas de Indias - Peru por Don Marcos Jiménez de la Espada. Edición y estudio preliminar por José Urbano Martínez Carrera. 3 Tomos, Madrid 1965 (Biblioteca de Autores Españoles 183-185), hier T. I, S. 29. Zu früheren Informationsbedürfnissen siehe ebda.

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6. Die Gefangennahme des Inkakaisers Atahualpa durch Francisco Pizarro 1532. Frontispiz der deutschen las-Casas-Ausgaben durch Theodor de Bry. Kupferstich (1597) 1541/42 hatte der berühmte Indianerprotektor Bartolomé de las Casas seine "Brevisima Relación" geschrieben und 1552 in Sevilla veröffentlicht, in der er die Grausamkeiten der Spanier bei Eroberung der Neuen Welt schilderte und ihnen die Friedfertigkeit und hohe Kultur der Indios gegenüberstellte. Der berühmte Kupferstich zeigt im oberen Teil links die Gefangennahme des Inkakaisers Atahualpa in Cajamarca am 16. November 1532: Er wird durch spanische Soldaten aus seiner Sänfte gekippt, die einheimischen Träger werden getötet oder verdrängt, die Truppen des Kaisers ergreifen die Flucht, während die Spanier mit Arkebusen und einem Geschütz das Feuer auf sie eröffnen (rechts oben). In der Mitte oben sieht man Atahualpa als Gefangenen der Spanier, eigenhändig ergriffen vom Anführer des Peru-Unternehmens, dem Konquistador Francisco Pizarro (kenntlich an seinem Edelmannshut), der ihn an der linken Hand festhält, während ein Bewaffneter seinen rechten Oberarm ergreift. Der untere Teil zeigt den gefangenen Inkaherrscher Atahualpa in der Gefangenschaft. Er ist umgeben von Indios, die - von bewaffneten Spaniern bewacht das von Pizarro als Lösegeld geforderte Gold herbeischaffen. Die dargestellten Indios sind zwar nackt, aber nicht wild, und bei dem herbeigeschafften Gold handelt es sich um verarbeitetes Gold, um Goldgefäße: ein deutlicher Hinweis auf den hohen kulturellen Stand der andinen Bevölkerung, auch wenn die Gefäße europäische Formen besitzen. Mit diesen Szenen wird schon im Titelkupfer angedeutet, was dann der Text des las Casas weiter ausführt: Grausamkeit und Goldgier der Spanier auf der einen Seite, Friedfertigkeit, Kulturbegabung und fehlende Goldgier der Indios auf der anderen Seite. Las Casas gab mit seinem Text, der bald in alle großen europäischen Sprachen übersetzt wurde, einer grundsätzlich antispanischen Haltung Nahrung, die von Puritanern und Cal vinisten ausging, und trug damit zur Bildung der sogenannten "Leyenda negra" bei, der grundsätzlich ins Negative, Katholisch-Fanatische, Böse gewendeten Deutung der spanischen Kolonisierung der Neuen Welt. Diese Tendenz ergänzten zweifelsohne die berühmten Kupferstiche von Theodor de Bry, dessen las Casas-Ausgaben die breiteste Wirkung in Europa erzielten. In der vorstehend genannten Ausgabe des las Casas berichten allein 17 weitere Kupferstiche von den Greueltaten der Spanier bei der Eroberung Amerikas. De Bry, der 1570 in Frankfurt am Main ansässig gewordene niederländische Exulant aus Lüttich, gestaltete sie - wie in einzelnen Teilen seines berühmten Kompendiums "America", das zur selben Zeit erschien (vgl. Kommentar zu Bilddok. 8) - möglicherweise auch deshalb so einseitig, um mittels eines Bildmaterials, das den Sensationskitzel des Lesers ansprach, die Verkaufschancen seiner Werke zu erhöhen. Das hier wiedergegebene Frontispiz des Bandes trägt die handschriftlichen Vermerke (am oberen Bildrand:) "colleg. Societ. JESV LIBER MENDACIIS REFERTVS Bamb. 20 Jan. 1631" (und in der Mitte:) "Friderici Pontif Suffr. Bamb. Ex eig Testamento". Es stammt mithin aus dem Nachlaß des Bamberger Weihbischofs 54

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Hans-Joachim König

u n d T i t u l a r b i s c h o f s v o n H e b r o n , Friedrich F ö r n e r , d e r a m 5. D e z . 1 6 3 0 v e r s t o r b e n w a r (frdl. M i t t e i l u n g Prof. G e r d Z i m m e r m a n n , B a m b e r g ) u n d d e n B a n d d e m J e s u i t e n k o l l e g bei St. M a r t i n v e r m a c h t h a t t e . N i c h t o h n e Interesse ist d e r K o m m e n t a r a m o b e r e n B i l d r a n d "ein Buch m i t L ü g e n " .

H.-J. K ö n i g / E S c h m i t t

bung von 1571/77 zum Ausdruck kommt 43 ,verwundert es nicht, daß auch die Chronisten entsprechend diesem Informationsbedürfnis schreiben. Entscheidend aber waren zwei Faktoren, die den Zugang zu einem objektiven Indiobild in den Chroniken ganz entscheidend erschwerten, ein ideologischer und ein methodischer. Ich brauche an dieser Stelle auf das Problem von Objektivität nicht näher einzugehen. Die spanischen Chronisten, wie alle damaligen Europäer, dachten und beurteilten nach den abendländisch-christlichen Wertvorstellungen. Sie lebten in Gesellschaften, die an die Allgemeinheit, Allgemeingültigkeit gesellschaftlicher Normen und an die Gemeinsamkeit der Gattung Mensch glaubten44. Was sie also in Amerika sahen bzw. wovon sie hörten und lasen, mußte ihnen deshalb als eine denaturierte Abweichung von der Norm, der als allgemeingültig erachteten europäischen Norm erscheinen. Deshalb konnte das bisher nicht Gekannte und Andersartige, zumal wenn die religiöse Seite betroffen war, schwerlich als kulturell Eigenständiges, als Ergebnis eines eigenständigen historischen Entwicklungsprozesses verstanden werden. Zweifellos mußten Kannibalismus, Mehrehe, Promiskuität - Praktiken, die die Spanier bei einigen Indiostämmen auf den Karibikinseln und bei den Tieflandindios an der südamerikanischen Ostküste antrafen, allerdings schnell auf andere Regionen undifferenziert übertrugen -, ferner die in Mexiko erlebten und in Peru berichteten Menschenopfer tiefe Verständnislosigkeit und Abscheu hervorrufen. Daß sie auch verurteilt wurden, können wir heute noch nachvollziehen. Daß aber an sich positive Züge wie Genügsamkeit, das Fehlen von Gier nach Gold, das Fehlen von Individualbesitz, ferner das Fehlen von Buchstabenschrift zunehmend als Negativmerkmale erschienen, mit denen sich die Inferiorität belegen ließ, muß doch sehr 43 Vgl. dazu Howard F. Cline: The Relaciones Geográficas of the Spanish Indies, 1577-1786, in: Hispanic American Historical Review 44 (1964), S. 341-374. - Richard Konetzke: Die "Geographischen Beschreibungen" als Quelle zur Hispanoamerikanischen Bevölkerungsgeschichte der Kolonialzeit, in: Jahrbuch für Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas Bd. 7 (1970), S. 1-75. 44 Ausgangspunkt des einheitlichen Menschengeschlechts war die gemeinsame Abstammung von A d a m und Eva. In dieser Weise argumentierten z.B. López de Gomara: Widmungstext zum 1. Teil, S. 156. - Pedro Cieza de León: Crónica del Perú (Ausgabe Ballesteros), S. 62. - José de Acosta: Historia Natural (Ausgabe Beddall), S. 57 (Lib. I, Cap. 16). - Vgl. auch A. Pagden: Fall of Natural Man, S. 5, passim. 56

Das Indiobild spanischer Chronisten im 16. Jahrhundert

verwundern 45 . Die Betonung solcher Züge, die zu Beginn der Entdeckung z.B. von Kolumbus und bei Mártir de Angleria noch idealisierend beschrieben wurden 4 6 , oder die Mißachtung anderer, oraler Kommunikation sowie der Bilder- oder der Knotenschrift (Quipu) der Inkas zeigen, wie stark der europäische Bewertungsmaßstab und damit Vorurteile zur Geltung kamen und wie sehr der Beobachter gleichzeitig Bewerter war. Wenn es um die Darstellung der Kulturen ging, dann stand nicht die Verschiedenartigkeit der Kulturen im Zentrum der Betrachtung, sondern die sich im Unterschied manifestierende Inferiorität der amerikanischen Kulturen. Ein prägnantes Beispiel für diese Sichtweise der Neuen Welt und ihrer Menschen liefert Franciso López de Gomara im Widmungstext an Karl V. zum ersten Teil seiner Historia General de las Indias: "Erhabener Herr! Das größte Ereignis nach der Erschaffung der Welt, abgesehen von der Menschwerdung und vom Tod ihres Schöpfers, ist die Entdeckung der Indien (Amerikas), und deshalb nennt man sie Neue Welt. Man nennt sie nicht so sehr neue, weil sie neu gefunden ist, sondern weil sie riesig groß ist, fast so groß wie die Alte Welt, die Europa, Afrika und Asien umfaßt. Man kann sie ebenfalls Neue Welt wegen all der Dinge nennen, die von denen der Alten Welt verschieden sind. Die Tiere sind, obwohl es nur wenige Gattungen gibt, sehr andersartig; ebenso die Fische im Wasser, die Vögel in der Luft, die Bäume, die Früchte, Gräser und das Korn der Erde, während die Elemente denen von hier gleichen. Die Menschen sind wie wir, abgesehen von der Hautfarbe, denn sonst wären sie ja Tiere und Monster und stammten nicht von Adam ab, was aber zutrifft. Aber sie haben keine (Buchstaben)Schrift, kein Geld, keine Lasttiere, für die Ordnung und die Lebensbedingungen der Menschen äußerst wichtige Dinge. Daß sie nackt gehen, weil es warm ist und ihnen Wolle und Leinen fehlen, muß nicht verwundern. Da sie nicht den wahren Gott und Herrn kennen, begehen sie die schweren Sünden der Idolatrie, der Menschenopfer, des Verzehrs von Menschenfleisch, der Gespräche mit dem Teufel, der Vielweiberei und anderer übler Dinge" 47 . Hier zeigt sich auch eine andere Tendenz der Chronisten. Sie geben häufig ein Pauschalurteil ab oder zeichnen ein grobrastriges Bild vom Indio, d.h. sie gehen selten auf regionale und kulturelle Unterschiede bei den Indios selbst ein. Seit der Eroberung Mexikos und Perus, also seit 1519/22 bzw. 1531/53 hätte das Bild des Indio als Nackter und Wilder, 45 Fernández de Oviedo und López de Gomara sind die Hauptvertreter dieser Sichtweise. 46 Hier ist besonders der Kolumbus-Brief von der 1. Reise hervorzuheben. Vgl. auch Pedro Mártir de Angleria: 2. Dekade, 3. Buch; 7. Dekade, 1. Buch. 47 López de Gomara: Historia (Ausgabe Hist. Primitivos de Indias) 1, S. 156.

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wie es nach den Insel- bzw. Tieflandkulturen gezeichnet war, eigentlich überholt sein müssen, denn nun trafen die Spanier auf bekleidete Hochlandindios mit Städten und durchorganisierten Reichen. Dennoch lebte auch bei den Chronisten die Vorstellung vom nackten, teils paradiesischen, teils wilden, ordnungslos lebenden Indio fort, wie ihn die frühen Berichte von Kolumbus und Vespucci vorgestellt hatten. Lediglich im "Kurzgefaßten Bericht" des Las Casas erhielt der Indio uneingeschränkt positive Züge. Las Casas schildert ihn als sanftmütigen und friedfertigen Menschen ohne Falsch und Habgier, zartgebaut und anfällig, mit Vernunft begabt und fähig, den christlichen Glauben anzunehmen 4 8 . Hier treten schon die später so bekannten Züge des Edlen Wilden hervor. Allerdings differenziert Las Casas in diesem Werke ebensowenig wie die meisten anderen Chronisten seiner Zeit. Entsprechend seinem Bestreben, die grausamen und gewaltsamen Europäer anzuklagen - hier sind sowohl die Spanier als auch die Deutschen in Venezuela gemeint 49 , ohne die einzelnen Akteure jedoch jeweils namentlich zu nennen -, liefert auch er ein nun ins Positive gewendetes Pauschalbild des Indio. Indem er die Vielfalt ausließ, erschwerte er ebenfalls eine offene Begegnung mit den Indios und ein Verständnis ihrer Eigenarten. Überdies wirkte sich der "Kurzgefaßte Bericht" keineswegs modifizierend auf das gängige negative Bild vom Indio in Europa aus 50 ; vielmehr bestärkte er die antispanische Haltung in Europa, obwohl Las Casas das grausame Vorgehen der an der Konquista beteiligten Deutschen in Venezuela in gleicher Weise verurteilt hatte . Der zweite Faktor, der die Annäherung an die indianische Andersartigkeit erschwerte, war der methodische Zugang. Da es den genannten spanischen Chronisten mit Ausnahme von Cieza de León primär um die Aufzeichnung der spanischen Aktivitäten in Amerika und weniger um 48 Bartolomé de las Casas: Brevísima relación (Ausgabe Saint-Lu), S. 71 f. - Es handelt sich hier u m eine der eigentlichen Schilderungen vorangestellte Gesamtcharakterisierung der Indios. 49 Ebda. S. 143 ff. - Siehe zur deutschen Beteiligung an der Konquista Georg Friderici: Der Charakter der Entdeckung und Eroberung Amerikas durch die Europäer. 3 Bde. Gotha 1925-1936. Ndr. Osnabrück 1969; im Band 2 behandelt Friderici die Rolle von Portugiesen, Deutschen, Franzosen, Niederländern. 50 Der zumeist negative Imagotyp - in schriftlicher und bildlicher Darstellung - blieb bis weit ins 17. Jahrhundert bestehen. Wie die zahlreichen Ausgaben von Reiseberichten und Sammelwerken (de Bry, Hulsius u.a.) belegen, war dies Bild wohl auch beim europäischen Publikum gefragt. Siehe dazu oben die Literatur in Anm. 6. 51 Nach dem Urteil zahlreicher Spanier begründete Las Casas mit seiner Brevísima Relación die sogenannte Leyenda Negra über die Unta ten der Spanier. Siehe dazu Romulo Carbia: Historia de la Leyenda Negra. Estudios acerca del concepto de España en el extranjero. Barcelona 1943.-S. Arnoldsson:La leyenda negra. Estudios sobre sus orígenes. Göteborg 1960.

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Das Indiobild spanischer Chronisten im 16. Jahrhundert

die Geschichte der Indios ging, beschrieben sie das, was sie selbst sahen und miterlebten oder die spanischen Eroberer und Missionare gesehen hatten, durch ihre Optik. Sie übersahen dabei keineswegs die vorhandenen materiellen Leistungen der Indios, besonders der andinen Bevölkerung. So berichteten die Chronisten voller Bewunderung von den Tempeln (als Bauwerken) und Städten, vom Handel der Azteken, von den verfeinerten Eßgewohnheiten Montezumas (vorgewärmte Teller), vom Wege- und Postensystem und von der Bevorratung der Inkas 52 . Der Leser solcher Schriften erhält auch Kenntnis vom Ballspiel der Indios, vom Tabakrauchen, von ihren handwerklichen Fertigkeiten als Weber und Silberschmiede, vom Kanubau, von der Jagd mit dem Bogen, von ihrer Musikalität, ja sogar von ihren Kommunikationsmitteln, von ihrer Art der mündlichen Überlieferung 53 . In solchen Beschreibungen erwiesen sich die Chronisten als nüchterne vorurteilslose Historiker. Sobald aber diese Andersartigkeit in Berührung mit den Europäern gebracht wird, sobald es um die Tempel als kultische Zentren, um die Indios als politische, an nicht christliche Gottheiten glaubende Menschen geht, wenn dann noch diese Menschen sich den Spaniern widersetzen und der Christianisierung Widerstand leisten, dann tritt an die Stelle der Bewunderung Verständnislosigkeit und Abscheu. Der "objektive" Historiker wird zum moralisierenden, dogmatischen Historiker. Die Frage nach dem "Warum" des Andersseins wird gar nicht gestellt bzw. auf das Wirken des Teufels reduziert 54 ; sie richtet sich nicht an die Indios selbst. Die Aussagen der spanischen Chronisten über die Indios, über ihre Kulte, ihre Vorstellungen von Welt und Gott beruhen nicht auf empirischen Befragungen der Anderen. Der Indio bleibt lediglich Objekt der Betrachtung. So entgehen den Chronisten, weil sie nicht als Ethnologen vorgehen, 52 Bzgl. Tempelbauten siehe Cortés, 2. Brief; Mártir de Angleria: 5. Dekade, Buch 4; López de Gomara, S. 346-350. - Eßgewohnheiten Montezumas: siehe Cortés, 2. Brief; López de Gomara: Historia, 2. Teil, S. 342. Z u m Wegenetz siehe Francisco de Jerez, loe. cit. S. 325 f., 339; Zarate, loe. cit. S. 471; Cieza de León, loe. cit. S. 335. - Zur Bevorratung siehe Cieza de León, loe. cit. S. 183, 258,308, 313, 329. 53 Fernández de Oviedo hat in seiner Historia zahlreiche solcher Informationen auch zu den Tieflandindios der Karibik gegeben, siehe zum Tabakrauchen, I, S. 116 (Buch V, Cap. I), zum Ballspiel, I, S. 145 (Buch VI, Cap. II), zur mündlichen Überlieferung, I, S. 112 f. (Buch V, Cap. I). - Zum Ballspielen siehe auch López de Gomara, loe. cit. S. 342. - Zur Silberschmiedearbeit und zur Weberei siehe Franciso de Jerez, loe. cit. S. 330; Cieza de León, loe. cit. S. 384; Zarate, loe. cit. S. 465. 54 Vgl. z.B. López de Gomara, Im Widmungstext zum 2. Teil, loc. cit. S. 295,357,444 (Einfluß des Teufels auf Montezuma). Cieza de León sieht den Teufel ebenfalls im Spiel, allerdings um die Indios zu entschuldigen. Der Teufel habe die Indios getäuscht oder verführt, Ausgabe Ballesteros, S. 62,209,222.

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damals noch gar nicht vorgehen konnten, die Religiosität der Indios, die Bedeutung der Priester und die Funktion der rituellen Tötungen zur Aufrechterhaltung der kosmischen und klimatischen Ordnung. Aus den veröffentlichten Darstellungen der genannten spanischen Chronisten des 16. Jahrhunderts entsteht deshalb trotz positiver Einzelzüge insgesamt ein grobes und weitgehend negatives Bild. Die Verständnislosigkeit angesichts des Fremdartigen verhinderte das Verstehen; die Sicherheit über die Berechtigung der Spanier als Kolonisatoren, Erzieher und Missionare ließ Zweifel an der Überlegenheit der Europäer gegenüber den Indios sowie an einem einheitlichen Ordnungssystem der Gattung Mensch nur selten zu. Selbst bei einem so vorsichtigen Mann wie Mártir de Angleria überwiegt letztlich doch das negative Bild. Zwar sind seine Ausführungen erkennbar um eine objektive, zumindest nicht reißerische Darstellung bemüht, er unterschlägt auch nicht die kulturellen und materiellen Leistungen einiger Indiostämme, zeichnet kein pauschal negatives Bild von dem Indio und sieht in Amerika sogar Züge des Goldenen Zeitalters. Aber er übernimmt auch ohne kritische Prüfung Berichte über kannibalische Sitten und die Zeremonien bei den Menschenopfern in Mexiko, ohne als europäischer Christ die religiösen Hintergründe zu verstehen. Damit lieferte er ebenso wie Cortés mit seinen Berichten Material über die Bewohner Amerikas, das sich in Europa zu einem weitgehend negativen Bild vom Indio formte 55 . Die Skizzierung der Chroniken hat gezeigt, daß das Urteil José de Acostas hinsichtlich der Beschäftigung mit dem Indio bis zu seiner Zeit weitgehend zutraf. Es gab keine - veröffentlichte - spezielle Chronik zur Geschichte der Indios, die Chroniken gaben sich bei der Charakterisierung des Indio mit "Oberflächlichem" zufrieden. Was trug nun José de Acosta selbst zur Differenzierung des Indiobildes, zur Erklärung der Andersartigkeit inhaltlich und methodisch bei? Warum haben sich seiner Meinung nach im Laufe der Zeit ethnische und kulturelle Unterschiede in Amerika selbst und im Vergleich zu Europa ausgebildet? Acosta geht grundsätzlich davon aus, daß es sich bei den Indios um vernunftbegabte, der christlichen Religion zugängliche Menschen handelt. Die Unterschiede erklärte er über die geographische Herkunft und die Wanderung der Indios. Die geographische Verteilung der Menschheit hatte in gewissem Sinn ein Problem bereitet, denn wenn Menschen in der Neuen Welt vorhanden waren, dann weil Gott sie geschaffen hatte. Nur, wie waren sie dorthin gekommen? Bei der Beantwortung dieser Frage durften ihre Abstammung von Adam, ihre Rettung 55 Siehe zur Rezeption in Europa, bzw. in Deutschland u.a. Knefelkamp/König (Anm. 6), S. 74-91,170 ff., 196.

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Das Indiobild spanischer Chronisten im 16. Jahrhundert

durch die Arche Noahs nicht in Frage gestellt werden. Acosta belegt in einer umfänglichen Beweisführung, daß die Indios aus Asien, aus der Alten Welt, über die Bering-Straße, die Halbinsel Kamtchatka nach Amerika gewandert seien und sich hier entsprechend den geographischen Bedingungen weiterentwickelten 56 . Ihr jeweiliger Entwicklungsstand rührte dabei von der Dauer der Wanderung und vom Zeitpunkt derselben her. Auch für Acosta waren die Indios "Barbaren" gemessen an der wahren Vernunft und den Gebräuchen der menschlichen Gattung, auch der wahren Religion - dahinter ist das europäische Normen- und Wertesystem nicht zu übersehen. Aber er unterschied drei Arten von "Barbaren" entsprechend ihrer politischen und sozialen Ordnung und Kommunikation. Die erste Gruppe bildeten diejenigen mit stabilen Gemeinwesen, Gesetzen, Städten und Herrschern; das Vorhandensein von Schrift war auch wichtig. China und Indien gehörten seiner Meinung nach dieser Gruppe an. Die zweite Kategorie bilden die organisierten Gemeinwesen mit religiösen Kulten, jedoch ohne Schrift. Hierzu rechnete er besonders Mexiko und Peru. Die dritte Gruppe, die unterste Kategorie, bilden die nomadisierenden, keine vernünftige Kommunikation besitzenden Stämme; es sind die Wilden im Tiefland, bei ihnen ist auch Kannibalismus möglich. Eine Erklärung für diese Unterscheidung glaubt Acosta, wie gesagt, in der Dauer der Wanderung, im Anhalten der Wanderung zu sehen. Die untersten Gruppen waren entweder die Letztkommer oder diejenigen, die von anderen an der Seßhaftwerdung gehindert waren. Die Mexikaner und Peruaner (Inkas) gehörten zu den Erstkommern in Amerika und hatten sich seßhaft weiterentwickeln können 57 . Acosta stützte sich bei seiner Erklärung und Systematisierung auf spekulative Überlegungen, aber auch auf Befragungen der Indios, wandte also eine neue Methode an, zu der vor allem die Kenntnis der indianischen Sprache erforderlich war 08 . Acosta, 1540 in Spanien in Medina del Campo geboren, war nach dem Studium der Theologie am Jesuitenkolleg in Alcalá de Henares im Jahre 1571 nach Peru gekommen und hatte dort an zahlreichen Informationsreisen durch das Land teilgenommen. Er hatte also ausreichend Material für seine Geschichte sammeln können. Diese schrieb er mit dem Ziel, die indianische Vergangenheit aufzuzeigen, da56 José de Acosta: Historia Natural, Lib. I, Cap. 16-20, Ausgabe Beddall S. 56-72. 57 José de Acosta: De procuranda Indorum salute, Proömium, Ausgabe Madrid, I., S. 58-69. Acosta beschreibt die Mexikaner und Inkas dann in den Büchern 5 bis 7 seiner Historia Natural. - Vgl. zu Acostas vergleichender Vorgehensweise auch A. Pagden: The Fall of Natural Man, S. 146-200. 58 José de Acosta: De procuranda Indorum salute, Lib. I, Cap. IX, Ausgabe Madrid Bd. I, S. 156 ff. und Lib. IV, Cap. IX, Ausgabe Madrid Bd. II, S. 70 ff. 61

bei den historischen Entwicklungsprozeß der Menschheit zu erfassen und dadurch im vergleichenden Verfahren etwas über das allgemeine Verhalten von menschlichen Gesellschaften zu erfahren. Daß diese Methode auch dazu diente, die Missionierung und Christianisierung besser durchführen zu können, ist nicht zu übersehen; denn an der Berechtigung der Spanier als Vertreter einer höherwertigen Religion, die Indios zum Christentum zu bekehren, ließ auch Acosta keinen Zweifel. Allerdings sollte dies, wie es schon Las Casas propagiert hatte, auf friedlichem und gewaltlosem Wege erfolgen. In gewissem Sinn betrieb Acosta Feldforschung, die später der Jesuit Joseph-François Lafitau (1724) weiterentwickelte 59 . Mit seiner Geschichte, die bald in andere europäische Sprachen übersetzt wurde, leistete Acosta einen wichtigen Beitrag zu einer differenzierteren Betrachtung der Indianer in Amerika, er erweiterte die Kenntnisse über die Indios. Doch obwohl er die Vielfalt der indianischen Kulturen und Entwicklungen konstatierte, war die Vielfalt, selbst in ihrem höchsten Entwicklungsgrad, nicht gleichrangig mit der europäischen Entwicklung, die auch für ihn Maßstab blieb.

59 Joseph-François Lafitau: Mœurs des sauvages amériquains comparées aux mœurs des premiers temps. 2 vols. Paris 1724. 62

Der Eintritt des amerikanischen Uberseebewohners in die europäische Geschichte (15.-18. Jahrhundert) Urs Bitterli

Die Geschichte der kolonialen Expansion Europas ist immer auch eine Geschichte der Begegnung, des Zusammenstoßes und der Vermischung von Völkern verschiedener Kultur gewesen. Im Falle Amerikas hat diese Geschichte einen besonders folgenschweren Verlauf genommen und zu einschneidenden Veränderungen in der demographischen Struktur des Kontinents geführt. Als Kolumbus in der Karibik eintraf, mögen in Amerika fünfzig, vielleicht auch hundert Millionen Indianer gelebt haben; die Schätzungen weichen stark voneinander ab, und man weiß lediglich, daß die Bevölkerungsdichte sehr unterschiedlich war, gering im Norden, wesentlich höher in Mittelamerika und im Andenhochland. Sehr unterschiedlich waren auch die durch Sprachen und Lebensform bestimmte ethnische Eigenart und der Kulturstand der indianischen Völker. Um 20000 v. Chr. über die damals trockene Beringstraße aus Asien einwandernd, überfluteten die Indianer in mehreren Schüben den Kontinent und bildeten dabei ein weites Spektrum von Kulturformen aus, das vom nomadisierenden Jäger und Sammler bis zum Bürger politisch und wirtschaftlich weit entwickelter Hochkulturen reichte. Und verschieden war schließlich auch das Schicksal der indianischen Völker in der Folge des Kulturkontakts: vollständige Auslöschung durch eingeschleppte Krankheiten und Fronarbeit in Westindien; Verdrängung und Dezimierung durch die "rollende Grenze" der voranschreitenden Besiedlung in Nordamerika; teilweise Vermischung mit negriden und weißen Elementen in Brasilien. Und noch ist die Geschichte der europäisch-indianischen Begegnung nicht abgeschlossen: Das Wachstum der indianischen Bevölkerung und deren Abwanderung vom Reservat oder von Randgebieten in die Städte hat in letzter Zeit zu neuen Kontakt- und Konfliktformen geführt. Es ist unerläßlich, sich die Dynamik solcher Vorgänge und den 63

Urs Bitterli

Pluralismus ihrer Erscheinungsformen in Erinnerung zu rufen, bevor man, aus ethnozentrischer Perspektive stark vereinfachend, vom "europäischen Indianerbild" spricht. Der Eintritt des Indianers und seiner Kultur in den europäischen Gesichtskreis, wie er sich im Gefolge der maritimen Entdeckungsreisen vollzieht, wird von den zeitgenössischen Beobachtern früh als eine intellektuelle Herausforderung begriffen, die dazu zwingt, das eigentliche Welt- und Geschichtsbild zu überdenken. Die Wahrnehmung, die schriftliche Erfassung und die Diskussion dieses Vorgangs geschieht auf zwei Ebenen: im Augenzeugenbericht des Reisenden selbst und in der zusammenfassenden Darstellung, die der Gelehrte in Europa, gestützt auf jene Zeugnisse und seinen eigenen Bildungshintergrund, verfaßt. Der Reisebericht stellt die spontanere, individuell stärker geprägte Form der europäischen Auseinandersetzung mit der Gestalt des Uberseebewohners dar. Bereits die erste Reise des Kolumbus im Jahre 1492 führt uns die beiden hinfort üblichsten Formen der Reiseberichterstattung vor. Das sogenannte "Bordbuch" repräsentiert den Typus der täglich vorgenommenen, eng mit dem Augenblickserlebnis verknüpften Aufzeichnung; der Brief an den Hofbeamten Luis de Santangel, den Kolumbus auf der Rückreise schreibt, steht für den Typus des Rechenschaftsberichts gegenüber dem Auftraggeber oder einer weiteren Öffentlichkeit 1 . Der Reisebericht ist hinsichtlich seiner Ergiebigkeit und seines Wahrheitsgehalts abhängig von der Motivation, der Auffassungsgabe und dem Vorwissen des Reisenden, ferner von seiner Funktion im kolonialen Kontext. Was den Überseebewohner anbetrifft, erweist es sich, daß Seereisen mit ihren kurz bemessenen Landaufenthalten meist weniger ergiebig sind als Landreisen; und es versteht sich, daß der Missionar über diesen Gegenstand mehr und anderes, wenn auch nicht unbedingt Wichtigeres, zu bemerken hat als der ungebildete Matrose. Sehr unterschiedlich ist auch der Wahrheitsgehalt von Reiseberichten. "Wer von weit her kommt, hat gut lügen", lautet ein altes Sprichwort, und in der Tat erweist sich der Ubersee-Reisebericht der Erfindung, Verfälschung und Mystifikation als besonders zugänglich, weiß doch der Reisende, daß seine Angaben kaum durch persönlichen Augenschein verifiziert werden können 2 . Reiseberichte finden früh große Verbreitung, so etwa der genannte KolumbusBrief, der dank der Erfindung des Buchdrucks zwischen 1493 und 1497 in nicht weniger als siebzehn verschiedenen Ausgaben und Übersetzungen, darunter auch in Deutsch, herausgegeben wird. Untersuchungen zur 1 Z u r Quellenlage der Kolumbus-Reisen vgl. Morison, S. E., The European Discovery of America (New York 1974), S. 18 ff. 2 Vgl. Adams, I'. G., Travelers and Travel Liars 1660-1800 (Berkeley 1962).

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Geschichte des Verlagswesens zeigen die wachsende Beliebtheit von Reiseberichten, die gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Frankreich mehr Leser finden als die Romanliteratur und nur wenig hinter der theologischen und der Erbauungsliteratur zurückbleiben 3 . Paul Hazard hat in dieser Beliebtheit der Reiseliteratur und in der dadurch dokumentierten Öffnung Europas über seine geistigen Grenzen hinaus ein Symptom für die "Crise de la conscience européenne" an der Wende zum 18. Jahrhundert gesehen 4 . Dem Reisebericht gegenüber steht die zusammenfassende Darstellung, verfaßt meist in Europa und von jemandem, der von den Ereignissen an der kolonialen Peripherie persönlich nicht betroffen ist. Als Vorläufer solcher Darstellungen können die Sammlungen von Reiseberichten gesehen werden, die, zuweilen in kolonial-propagandistischer Absicht mit Kommentaren versehen, zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert zu erscheinen pflegen. Das erste Werk dieser Art stammt von Giovanni Battista Ramusio und erscheint nach der Mitte des 16. Jahrhunderts in Venedig; die wichtigste derartige Sammlung bleibt "The Principal Navigations of the English Nation" von Richard Hakluyt, publiziert nach 1590 in England 5 . Neben diese Sammlungen stellen sich die Chroniken und Kosmographien, in denen von den Reiseberichten reger Gebrauch gemacht wird, so beispielsweise die "Acht Dekaden über die Neue Welt" des Pietro Martire d'Anghiera, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Spanien verfaßt werden und eines der wichtigsten historischen Werke der damaligen Zeit darstellen, oder die "Cosmographia universalis" des Sebastian Münster, die 1544 in Basel erscheint 6 . Im 17. und 18. Jahrhundert werden schließlich solche Chroniken durch universalhistorische Darstellungen abgelöst, die sich von der Vorstellung zunehmend freimachen, außereuropäische Kulturen seien nur von ihrer Bedeutung für die Geschichte der Alten Welt her interessant. Als wegweisende Beispiele in dieser Richtung seien genannt der "Essai sur les mœurs" von Voltaire aus dem Jahre 1756 und William Robertsons "History of America" vom Jahre Vgl. Atkinson, G., The Extraordinary Voyage in French Literature from 1700-1720 (Paris 1922), S. 10 ff. Ferner Bitterli, U., Der Reisebericht als Kulturdokument; in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, No. 9 (1973). 4 Hazard, P., La Crise de la conscience européenne 1680-1715 (Paris 1961). 5 Ramusio, G. B., Navigazioni e viaggi (Venezia 1550-1559; Neuaufl. Milanesi, M., ed. Torino 1979). Hakluyt, R., The Principal Navigations, Voyages, Traffiques and Discoveries of the English Nation (London 1598-1600; Neuaufl. Masefield,}., ed., London 1967). 6 Martire d'Anghiera, P., De orbe novo decades octo (Alacalà 1530; dtsch. Neuaufl. Klingelhöfer, H., ed., Darmstadt 1972). Münster, S., Cosmographia universalis (Basel 1544; Faksimile-Nachdruck der dtsch. Ausgabe, Lindau 1984). 3

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1 I I I 1 . Mit dem Aufklärungszeitalter tritt auch die Forderung hervor, man möge dem Überseebewohner und seiner Kultur in den geschichtlichen Darstellungen mehr Raum als bisher zugestehen, eine Forderung, die zwei voneinander so verschiedene Geister wie Rousseau und Voltaire gleichzeitig anmelden. Auch wird in dieser Zeit erstmals die Kluft zwischen dem reisenden Augenzeugen und dem daheim gebliebenen "Lehnstuhlgelehrten" als schmerzlich empfunden. "Die Leute mögen noch so hin und her reisen, die Philosophie scheint immer zu Hause zu bleiben", klagt Rousseau in einer seiner berühmten Preisschriften; und er fährt fort, es sei unbedingt zu wünschen, daß sich Persönlichkeiten wie Buffon, Diderot und Condillac selbst auf die Reise machten - dann erst würde man "eine neue Welt unter ihrer Feder hervorkommen sehen, wodurch wir die unsrige besser kennenlernen können" 8 . Den Uberseebewohner persönlich kennenzulernen, ihn empirisch zu beschreiben, um sich selber besser verstehen zu können - dies ist ein wichtiges Postulat des 18. Jahrhunderts. In seiner umfangreichen universalhistorischen Abhandlung, dem "Essai sur les mœurs", der zu gleichen Zeit erscheint wie Rousseaus Preisschriften, stellt Voltaire am Beispiel der Chinesen und ihrer Kulturentwicklung erstmals die globale Verbindlichkeit der christozentrischen Weltsicht in Frage 9 . Mit Rousseau stimmt er darin überein, daß das Studium der Uberseebewohner und ihrer Kultur um ihrer selbst willen betrieben werden solle. Die Chinesen, die Afrikaner und die Indianer erscheinen, in Voltaires Sicht, nicht mehr als kuriose Abweichung von der eigenen Kultur, sondern als aufschlußreiches Sinnbild für das, was man innerhalb des neu erkannten Pluralismus weltweiter Kulturentwicklungen möglicherweise selbst einmal gewesen ist, hätte werden oder bleiben können. Denselben Gedanken nehmen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zahlreiche universalhistorische Darstellungen auf, die von der Information durch die Reiseberichterstattung ausgehen. Erwähnt seien als deutschsprachige Beispiele die "Geschichte der Menschheit" von Isaak Iselin, die "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" von Johann Gottfried Herder und der "Grundriß der Geschichte der Menschheit" von Christoph Meiners l0 . 7

Voltaire, Essai sur l'histoire générale et sur les mœurs et l'esprit des nations depuis Charlemagne jusqu'à nos jours (Genève 1756; Neuaufl. Pomeau, R., ed., Paris 1963). Robertson, W., History of America (Edinburgh 1777). 8 Rousseau, J.-J., Discours sur l'origine de l'inégalité parmi les hommes; in: Œuvres complètes, Bd. II (Paris 1964), S. 212 ff. 9 Voltaire, Essai, op. cit., Bd. I. S. 66, Zu Voltaires Anthropologie vgl. Duchet, M., Anthropologie et Histoire au siècle des lumières (Paris 1971), S. 281 ff. 10 Iselin, I., Philosophische Mutmaßungen über die Geschichte der Menschheit (Zürich 1764-1770). Herder, J. G., Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (Riga 1784-1791). Meiners, Chr., Grundriß der Geschichte der Menschheit (Lemgo 1793).

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In den nachfolgenden Ausführungen geht es darum, einige Hauptaspekte des europäischen Bildes vom Überseebewohner, wie es auf der doppelten Reflexionsebene von Reisebericht und zusammenfassender Darstellung zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert in Erscheinung tritt, im geistesgeschichtlichen Zusammenhang darzustellen. Im Vordergrund steht das Bild des nordamerikanischen Indianers. Bereits in den frühesten Augenzeugenberichten, welche der Erscheinung des Indianers gelten, herrscht weitgehend Einigkeit darüber, daß es sich bei ihnen um Menschen handle. Allerdings verbindet sich diese Feststellung häufig mit einem gewissen Staunen, legen doch das Vorwissen und die Erwartung der Reisenden im 15. und 16. Jahrhundert noch durchaus die Vermutung nahe, man könnte, so weit von den eigenen Klimazonen und dem eigenen Kulturkreis entfernt, auf wesensmäßig andere Geschöpfe stoßen. Die Vorstellung, daß in entlegenen Regionen der Erde Monstren und Mittelwesen zwischen Mensch und Tier ihr Unwesen treiben könnten, Riesen und Zwerge, hundsköpfige, einäugige und einfüßige Kreaturen, hat eine Tradition, die sich bis auf Plinius den Älteren und Herodot zurückführen läßt11. Wie lebendig diese Tradition im Mittelalter noch gewesen ist, zeigen etwa der phantastische Reisebericht des John Mandeville aus dem 14. Jahrhundert oder die Abbildungen von Fabelwesen in Hartmann Schedels Weltchronik, die ein Jahr nach Kolumbus' erster Entdeckungsreise, aber noch ohne deren Kenntnis, in Nürnberg erscheint12. In Kolumbus' Bericht wird deutlich, wie sich bei ihm die Realität des indianischen Menschen erst gegenüber einer mit dem Außerordentlichen rechnenden Erwartung durchsetzen muß. "Auf diesen Inseln", schreibt Kolumbus, "konnte ich keine Ungeheuer in Menschengestalt feststellen, sondern fand überall Leute mit angenehmem Äußeren" 13 . Im Zeugnis des Italieners Alberto Cantino, der um 1500 in Lissabon eine Gruppe deportierter Indianer zu Gesicht bekommt, tritt dieselbe Mischung von Verwunderung und Gewißheit in bezug auf die menschliche Natur des Indianers hervor. "Ich habe diese Leute gesehen, berührt und untersucht", schreibt Cantino, "und, mit ihrer Gestalt zu beginnen, erkläreich, daß ihre Gliedmaßen den unsrigen entsprechen

11 Vgl. Dickason, O. P., The Myth of the Savage and the Beginning of French Colonialism in the Americas (Edmonton 1984), S. 70 ff. u n d passim. 12 Vgl. Stemmler, Th., ed., Die Reisen des Ritters John Mandeville durch das Gelobte Land, Indien und China (Stuttgart 1966); ferner Schedel, H., Liber chronicarum (Nürnberg 1493). 13 Kolumbus, Ch., Bordbuch (Frankfurt 1981). Vgl. auch Gewecke, F., Wie die neue Welt in die alte kam (Stuttgart 1986), S. 90ff.

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und wohlgestaltet sind... Sie scheinen mir, abgesehen von dem schrecklich abweisenden Gesichtsausdruck der Männer, in jeder Hinsicht der Gestalt und dem Bild von uns selbst zu gleichen"14. Gewiß kommt es noch in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts und vereinzelt auch später vor, daß Reisende davon berichten, Monstren getroffen zu haben. So will beispielsweise Richard Whitbourne um 1610 auf Neufundland einer "Meerfrau oder einem Meermann" begegnet sein15, und Marc Lescarbot glaubt um dieselbe Zeit, in Kanada Indianer auf ihren Schwänzen sitzen gesehen zu haben16. Aber es ist offensichtlich, daß diese Monstren und Fabelwesen sich mit der fortschreitenden Besiedlung und Kenntnis des Landes verflüchtigen oder in sehr unzugängliche Gegenden abgedrängt werden. Im 18. Jahrhundert ist nur noch selten, meist nach dem Hörensagen, die Rede von der Zwergenhaftigkeit der Eskimos, von streitbaren Amazonenvölkern und von den Riesen Patagoniens. Gerade am Beispiel der Patagonier läßt sich immerhin verfolgen, wie fehlerhafte Feststellungen einer früheren Quelle, in diesem Falle von Pigafettas Schilderung der Magellanischen Weltumsegelung, ohne Überprüfung andauernd wiederholt werden und zuletzt fast kanonisches Gewicht erhalten17. Auch läßt sich feststellen, daß Illustrationen, wie sie den Reiseberichten beigegeben werden, um die Neugier der Leser zu wecken, damit fortfahren, Indianer als Monstren darzustellen: So wird noch das im übrigen sorgfältig recherchierte Werk von Pater Lafitau über die "Mœurs des sauvages américains" aus dem Jahre 1724 mit einer Kupferstichtafel versehen, die einen Indianer als "Acephalus", den Kopf auf der Brust tragend, vorstellt18. Dennoch darf gelten, daß die Erscheinung des Indianers von der überwiegenden Mehrzahl der europäischen Berichterstatter früh als menschlich erkannt wird und daß bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Monstren kein ernsthaftes Thema mehr sind. Diese Tatsache findet ihren völkerrechtlichen Niederschlag bereits im Jahre 1537, als eine Bulle Papst Pauls III. die Indianer ausdrücklich als "veros homines" bezeichnet und damit eine Rechtsgrundlage zu deren Missionierung schafft19. 14 Zit. n. Quirin, D. B., ed., America from Concept to Discovery. Early Exploration in North America, Bd. I (New York), S. 148. 15 Zit. n. Sheehan, B. W., Sa vagism and Ci vility. Indians and Englishmen in Colonial Virginia (Cambridge 1980), S. 72. 16 Ebenda, S . 6 9 . 17 Vgl. Adams, op. cit., S. 19-43. 18 Lafitau, P.E., Mœurs des sauvages américains comparées aux mœurs des premiers temps (Paris 1724; Neuaufl. Paris 1983). Zur bildlichen Darstellung des amerikanischen Überseebewohners vgl. Honour, H., The New Golden Land (New York 1976) und ders., L'Amérique vue par l'Europe (Paris 1976). Ferner Sturtevant, W. C., First Visual Images of America; in: Chiapelli, F., ed., First Images of America, Bd. I (Los Angeles 1976). 19 Dickason, op. cit., S. 58 f.

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Während also die Zugehörigkeit des Indianers zur menschlichen Gattung von seiner physischen Erscheinung her nicht bestritten wird, legen doch manche der Bezeichnungen, mit denen man ihn benennt, Wert auf die Feststellung seiner kulturellen Andersartigkeit. Am wertfreisten und neutralsten sind Begriffe wie "Indianer" und "Amerikaner", welche auf die geographische Herkunft Bezug nehmen: Der erste geht bekanntlich auf den irrtümlichen Sprachgebrauch des Kolumbus zurück, der Mittelamerika für Indien hielt; der zweite kommt im 17. Jahrhundert vor allem in der englischen und französischen, aber auch in der deutschen Sprache auf, wird aber nach Erlangung der Unabhängigkeit der dreizehn nordamerikanischen Kolonien nurmehr auf die weißen Siedler angewandt20. Neben diesen Bezeichnungen werden, bereits deutlich negativ besetzt, die Termini "Barbaren" und "Heiden" verwendet. Als Barbaren hatten bereits die Griechen Vertreter von Fremdvölkern bezeichnet, die sich sprachlich nicht verständlich machen konnten und durch ihr Verhalten von der eigenen Nonn abwichen21. Der Begriff des "Heiden" als des Ungläubigen, welcher der apostolischen Vollmacht unterworfen ist und entweder durch Mission oder aber "gerechten Krieg" zum wahren Glauben zurückgeführt werden muß, ist in der christlichen Welt des Mittelalters allgemein gebräuchlich22. In der englischen und französischen Version von "infidel" und "infidèle" erhält der Begriff des "Heiden" in den vom Indianer handelnden Berichten oft eine Doppelbedeutung, die nicht nur auf die Ungläubigkeit, sondern auch auf Treulosigkeit und Unzuverlässigkeit des Charakters anspielt23. Am häufigsten gebraucht wird bis ins 19. Jahrhundert der auf das Lateinische "silvaticus" zurückgehende Begriff des "Wilden", des "sauvage" oder "savage"24. In einer frühen Anwendung auf die Tupi-Indianer Südamerikas beschreibt der französische Reisende Thevet um 1550 die "sauvages" als ein "absonderlich wildes, fremdes und rohes Volk, ohne Glaube, ohne Gesetz, Religion und Gemeinsinn"25. Wie unverändert diese 20 Vgl. Oxford English Dictionary, vol. I (Oxford 1961), S. 279. Zur Begriffssprache allgemein vgl. Berkhofer, R. T., The White Man's Indian (New York 1978), S. 12 f. 21 Vgl. Baldry, H. C., The Unity of Mankind in Greek Thought (Cambridge 1965). 22 Zur Definition des "Heiden" zu Beginn der Überseekolonisation vgl. vor allem das Standardwerk von Höffner, ]., Christentum und Menschenwürde (Trier 1947). Zu Fragen der Missionierung und des "gerechten Kriegs" vgl. auch Hanke, L., The Spanish Struggle for Justice in the Conquest of America (Philadelphia 1949). 23 Vgl. Robert, P., Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française, vol. III (Paris 1959), S. 749. 24 Zur Terminologie des "savage" und des "sauvage" vgl. White, H., The Forms of Wildness: Archeology of an Idea; in: Dudley, E., and Novak, M. E., The Wild Man within (Pittsburg 1972). 25 Thevet, A., Les singularitez de la France Antarctique (Paris 1558; Neuaufl. Paris 1878), S. 135.

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7. Sauvage de La Nation des onneiothehaga: "Er raucht Tabak, zu Ehren der Sonne, die er als seinen besonderen Schutzgeist verehrt". Zeichnung (um 1700) Das Manuskript des Codex Canadensis stellt mit seinen naiven Illustrationen eine der f r ü h e n detailgenauen ethnologischen Dokumentationen der i n d i a n i s c h e n Kulturen des französischen Einflußgebietes in Nordamerika dar. Seine Urheberschaft liegt im Dunkeln. Zunächst war angenommen worden, die Zeichnungen stammten von Charles Becart de Granville, der als Kartograph 1675-1703 In Quebec wirkte. Nach jüngsten Untersuchungen w u r d e der Text des Manuskripts jedoch vermutlich von dem Jesuiten-Missionar Louis Nicolas verfaßt, der von 1667-1675 in NeuFrankreich war u n d 1675 aus dem Orden entfernt wurde. Möglicherweise stammen auch die Zeichnungen aus seiner Feder. Die Zeichnung zeigt einen Indianer, der sein Kalumet raucht - wie der Autor meint, zu Ehren seines guten Geistes, der Sonne. Die Sonne, wie sie oben rechts dargestellt ist, w u r d e auch als Motiv für Gesichts- u n d Körpertätowierungen verwendet. In der rechten Hand hält der Indianer ein Paar Schneeschuhe, ein indianisches Utensil, das auch von den Europäern angesichts der winterlichen Schneeverhältnisse im kontinentalen Klimabereich Nordamerikas schnell ü b e r n o m m e n w u r d e u n d ähnlich dem Kanu einen essentiellen Transfer von Transport- und Fortbewegungstechniken darstellte, ohne den die europäische Durchdringung Nordamerikas sicherlich einen ganz anderen Charakter angenommen hätte. Die Körperzeichnung stellt teilweise die übliche Tätowierung dar, die uns als Teil der Initiationsriten verschiedener Indianervölker von f r ü h e n europäischen Beobachtern überliefert ist. Häufig w u r d e n die Tätowierungen rot eingefärbt, was ganz wesentlich zur A u s f o r m u n g der rassistischen Einstufung der Indianer als "Rothäute" beitrug. Z u m Teil stellt die Körperzeichn u n g w o h l a u c h W a m p u m - S t i c k e r e i e n d a r , die L e n d e n s c h u r z u n d umgeschlungene Bänder zierten. Aus frühen Berichten, etwa des Thomas Harriot, sind uns auch die auf der rechten Gesichtshälfte des Indianers dargestellten runenartigen Zeichen bekannt, die wohl die Clan-Zugehörigkeit symbolisierten. Th. Beck

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Vorstellung vom "Wilden" im Lauf der Jahrhunderte bleibt, zeigt ein Vergleich von Thevets Definition mit derjenigen der französischen "Encyclopédie". Der "Wilde", heißt es dort, lebe "ohne Gesetz, ohne Ordnung, ohne Religion und festen Wohnsitz"26. Während Epitheta wie "barbarisch" und "heidnisch" deutlich in pejorativem Sinn gebraucht werden, erscheint der Begriff des "Wilden" in der Reiseliteratur wie in den zusammenfassenden Darstellungen als schillernd und ambivalent. Einerseits weist seine Wildheit, wie in der eben zitierten Charakterisierung Thevets, den Indianer ?- Geschöpf einer niedrigeren Kulturstufe aus, menschlich in der Erscheinung zwar, aber tierisch im Verhalten, ungebildet und unfähig zu staatlicher Ordnung wie zur Aufnahme der christlichen Botschaft, ja, im schlimmsten Falle, kannibalischen Orgien nicht abgeneigt. Andererseits kommt es bereits in der frühen Reiseberichterstattung immer wieder vor, daß sich das Charakteristikum der Wildheit überraschend ins Positive wendet: Der Indianer erscheint dann als ursprünglich und unverbildet, frei von den Zwängen staatlicher Organisation und den Leidenschaften, die der Leistungswettbewerb entfacht; seine Tugenden sind die des einfachen Menschen: Naturverbundenheit, Gelassenheit, Gastfreundschaft, Befähigung zum ruhigen Daseinsgenuß, Unschuld. Zuweilen kann sich diese Ambivalenz an der Bewertung von ein und demselben Merkmal erweisen, etwa an der Nacktheit des Indianers: Nacktheit kann in den Augen der Europäer beides sein, Zeichen tierähnlicher Verrohung, aber auch Hinweis auf die Unschuld des Menschen vor dem Sündenfall. Ein schönes Beispiel für solch wechselnde Wertung von "Wildheit" gibt Amerigo Vespucci in seinem berühmten Bartolozzi-Brief aus dem Jahre 1502. "Wir fanden das Land von Menschen bewohnt", schreibt Vespucci von den brasilianischen Indianern, "die völlig nackt gingen, Männer und Frauen, ohne darüber die geringste Scham zu empfinden... Sie haben keine Gesetze und keinen Glauben, sie leben der Natur gemäß. Sie haben keinen Begriff von der Unsterblichkeit der Seele, es gibt unter ihnen kein persönliches Eigentum, weil alles gemeinsam ist; sie kennen keine Bezeichnung für Reich und Provinz; sie haben keinen König: sie gehorchen niemandem, jeder ist sein eigener Herr..."27. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts ist es der Franziskanerpater Du Tertre, der in seiner Beschreibung der Kariben das Wort "wild" deutlich ins Positive wendet. "Unter dem Wort 'wild'", schreibt Du Tertre, "stellt sich die Mehrzahl der Menschen eine Art von barbarischen, grausamen, un26 Diderot, D., Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, vol. XIV (Neuchâtel 1765). 27 Zit. n. Schmitt, E., Hg., Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. II (München 1984), S. 177.

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menschlichen, vernunftlosen, mißgebildeten, riesenhaften und bärenhaft behaarten Menschen vor, mit einem Wort eher Monstren als Vernunftwesen; indessen sind unsere Wilden 'wild' nur dem Namen nach, ähnlich wie die Pflanzen und Früchte, welche die Natur ohne jede Pflege in den Wäldern und Wüsten hervorbringt und die doch, auch wenn sie 'wild' genannt werden, die wahren Tugenden und Eigenschaften in ihrer ganzen Kraft und Stärke besitzen, Eigenschaften, die wir durch die künstliche Pflege unseres Gartenbaus zerstören oder schmälern. Es ist meine Absicht, hier zu zeigen, daß die Wilden dieser Inseln die zufriedensten, glücklichsten, tugendhaftesten, gesellschaftsfähigsten, wohlgestaltetsten und am wenigsten von Krankheiten heimgesuchten Menschen auf der ganzen Welt sind" 28 . Es sind diese Sätze, welche das Indianerbild eines Rousseau oder Chateaubriand maßgeblich bestimmen werden und jene Vorstellung vom "Edlen" und "Guten Wilden" vorbereiten helfen, der vom Ansatz her doch immer der Zwillingsbruder des rohen Wilden bleibt, ein Trugbild wie jener. Doch damit bin ich, einer terminologischen Doppeldeutigkeit folgend, bereits in den Bereich der Beurteilung des Indianers gelangt, wo doch zuerst von dessen Beschreibung die Rede sein sollte. Versucht man sich das europäische Indianerbild in der frühen Neuzeit zu vergegenwärtigen, lassen sich drei Beobachtungen grundsätzlicher Art machen. Zuerst wird man feststellen, daß dieses Indianerbild über drei Jahrhunderte hinweg kaum verändert pauschalen Charakter zeigt: Es beschränkt sich nicht auf eine bestimmte ethnische Gruppe, sondern zielt immer wieder auf wissenschaftlich fragwürdige Verallgemeinerung ab. Wohl werden in den Berichten Randbevölkerungen wie die Eskimos oder die Patagonier abgesondert, die Hochkulturen der Azteken und der Inkas werden als solche erkannt, und gewisse regionale Gruppen werden hin und wieder beim Namen genannt; aber von Fallstudien, welche eine bestimmte Stammesgruppe als geschichtliche Einheit begreifen, ist man noch im 18. Jahrhundert weit entfernt. Dasselbe trifft auch auf der Rezeptionsebene der zusammenfassenden universalhistorischen Darstellungen zu; denn der europäische Gelehrte kann selbstverständlich dort nicht differenzieren, wo sein Informant, der Reisende, zu differenzieren unterlassen hat. So unterscheidet Buffon kaum mehr als ein halbes Dutzend indianischer Stämme, und spätere Autoren wie 28 Du Tertre, J.-B., Histoire générale des Isles de Saint Christophe de la Guadeloupe, de la Martinique et d'autres dans l'Amérique, vol. II (Paris 1654), S. 356 f. Vgl. auch Chinard, G., L'Amérique et le rêve exotique (Paris 1934).

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Meiners und Herder gehen noch hinter diese Zahl zurück 29 . Bezeichnend für diese Neigung zur Generalisierung ist etwa, wenn Thomas Jefferson, der die Indianer Virginias aus eigener Anschauung kennt, in seiner im übrigen sehr bemerkenswerten Replik auf Buffons schwache Darstellung der indianischen Urbevölkerung selber ganz im Allgemeinen bleibt, statt mit präzisem Bezug auf seine lokale Erfahrung zu antworten 30 . Zweitens läßt sich beobachten, daß sich das methodische Vorgehen bei der Beschreibung von Fremd Völkern bis zum 18. Jahrhundert kaum verändert, worauf insbesondere Margaret Hodgen hingewiesen hat 31 . Dies hängt damit zusammen, daß die Art der Beobachtung von Uberseebewohnern im allgemeinen und von Indianern im besonderen während dieser Zeitperiode kaum einem Wandel unterworfen ist. Kennzeichnend für diese Art der Beobachtung ist es, daß der Beobachter keineswegs primär als Ethnologe, sondern vor allem in seiner Hauptfunktion als Seemann, Kaufmann, Beamter oder Missionar auftritt und die Verfassung eines Reiseberichts meist als Nebenbeschäftigung betrachtet. Daß sich jemand zum längeren Aufenthalt unter den Indianern entschließt mit dem ausschließlichen oder auch nur hauptsächlichen Ziel, diese zu beobachten und zu beschreiben, kommt bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nicht vor. Dies hat zur Folge, daß in dieser Phase der "Präethnologie" 32 oder der "Paraethnologie" 33 der Indianer durchwegs von außen und vorwiegend in seiner Teilfunktion als Partner des Europäers gesehen wird; seine Rolle im Stammesverband bleibt ebenso verborgen wie seine Prägung durch Stammesgeschichte und archaische Sozialstruktur. Die Beschreibung des Indianers begnügt sich zwangsläufig mit der bloß additiven Aufreihung leicht feststellbarer Merkmale und Verhaltensformen. Dabei hält man sich in der Regel an Beobachtungs- und Beschreibungsschemata, wie sie in der europäischen Reiseberichterstattung seit dem 16. Jahrhundert existieren, indem man von der Schilderung der äußeren Erscheinung, der bezeichnenderweise am meisten Raum zugemessen wird, stereotyp zur Darstellung der Sitten, Tugenden, Laster, 29 Buffon, G. L. L. de, Histoire générale des animaux et de l'homme, vol. III (Paris 1749-1804), S. 241 ff. Meiners, Chr., Grundriß der Geschichte der Menschheit (Lemgo 1793; Neuaufl. Meisenheim 1981), S. 66 ff. Herder, J. G., Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (Riga 1784-1791; Neuaufl. Sämtliche Werke, Suphan, B., Hg., Bd. XIII, Berlin 1887), S. 239ff. Vgl. dazu Duchet, M., Anthropologie et Histoire au siècle des lumières (Paris 1971), und Droixhe, D., ed., L'homme des lumières et la découverte de l'autre (Bruxelles 1985). 30 Jefferson, Th., Notes on the State of Virginia (Neuaufl. New York 1954), S. 61 ff. 31 Hodgen, M. T., Early Anthropology in the Sixteenth and Seventeenth Centuries (Oxford 1964). Vgl. ferner De Waal, A., Images of Man: A History of Anthropological Thought (New York 1974), S. 73 ff. 32 Poirier, J., ed., Ethnologie générale (Paris 1968), S. 22 ff. 33 Poirier, J., Histoire de l'ethnologie (Paris 1969), S. 19 ff.

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der Sprache, Religion und Regierungsform voranschreitet 34 . Man zeigt sich außerstande, die Bedeutung der konstatierten Merkmale und Eigentümlichkeiten von der Totalität des kulturellen Innenlebens einer bestimmten ethnischen Gruppe her zu erhellen, und der Indianer erscheint als geschichtsloses Wesen, dessen soziale Verantwortung ebenso übersehen wird wie seine individuell geprägte Persönlichkeit. Erst um die Wende zum 19. Jahrhundert erscheint mit Joseph-Marie Degérandos Schrift "Considérations sur l'observation des peuples sauvages" eine wissenschaftliche Projektstudie, die neue Wege öffnet und als Ankündigung kommender Feldforschung gelesen werden kann 35 . Eine dritte Beobachtung grundsätzlicher Art drängt sich auf. Die Beschreibung des Indianers bleibt nicht nur einem höchst pauschalen Rassenbegriff und einer vordergründig-summarischen Ordnungsschematik verhaftet, sie erfolgt auch explizit unter Bezug auf Wertungskriterien, die der Kultur des europäischen Betrachters entnommen sind. Obwohl, wie wir gesehen haben, die Zugehörigkeit des Indianers zur menschlichen Gattung schon im 16. Jahrhundert kaum je bestritten wird, tendiert der europäische Reisebericht dahin, die amerikanische Urbevölkerung nicht primär in dem darzustellen, was sie mit den Europäern verbindet, sondern in dem, was sie von dem Europäer abhebt. Der Uberseebewohner erscheint so entweder als ein sonderbarer Exot, oder aber als ein Mängelwesen, das über bestimmte Eigenschaften und Errungenschaften nicht verfügt, die einem längst selbstverständlich geworden sind. Dieses Phänomen der "Ethno-" oder "Europazentrik" 36 wird von den Reiseberichterstattern der frühen Neuzeit kaum je selbstkritisch ins Bewußtsein gehoben; Michel de Montaigne macht mit seiner relativierenden Beschreibung der brasilianischen Indianer gegen Ende des 16. Jahrhunderts eine seltene Ausnahme 37 . 34 Zur Schematik der Reiseberichterstattung hat in Deutschland vor allem Justin Stagi gearbeitet. Vgl. Stagi, }., Die Apodemik oder Reisekunst als Methodik der Sozialforschung vom Humanismus bis zur Aufklärung; in: Rassem, M., Hg., Quellen und Abhandlungen zur Geschichte der Staatsbeschreibung und Statistik, Bd. I (Paderborn 1980), und Stagi, ]., Der wohlunterwiesene Passagier. Reisekunst und Gesellschaftsbeschreibung vom 16. bis 1 S.Jahrhundert, in: Krasnobaev, B. I., Reisen und Reisebeschreibungen im 18. und 19. Jahrhundert als Quellen der Kulturbeziehungsforschung (Berlin 1980). 35 Degérando, J.-M., Considérations sur les diverses méthodes à suivre dans l'observation des peuples sauvages (Paris 1796). Nachdrucke in: Revue d'Anthropologie, Bd. VI (1883), und bei Stocking, G. W., ed., Degérando, J.-M., The Observation of Savage Peoples (London 1960). 36 Zu diesem Problemkreis gibt es eine reichhaltige Literatur. Zur Einführung vgl. LéviStrauss, Cl., Race et Histoire (Paris 1961), und Leclerc, G., Anthropologie et colonialisme (Paris 1972). Beide Werke sind auch in deutscher Übersetzung erschienen. 37 Vgl. Montaigne M. de, Essais; in Œuvres Complètes (Paris 1962), S. 200ff. Zu Montaigne vgl. Kohl, K.-H., Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation (Berlin 1981), S. 21 ff.

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8. Die Algonkinsiedlung Secoton im späten 16. Jahrhundert am heutigen Pamlico River a. Das Originaldokument: ein Aquarell von John White (1585) b. Der weltberühmte Kupferstich von Theodor de Bry nach der Vorlage Whites (1590) John White w a r der erste "Entdecker mit Pinsel u n d Feder" in Nordamerika, dessen Arbeiten in zentralen Teilen erhalten geblieben sind. Er w a r höchstwahrscheinlich ein ausgebildeter Miniaturmaler aus eher bescheidenen sozialen Verhältnissen, der im Zuge der ersten englischen Kolonialbestrebungen unter Elisabeth I. die eindringlichste Bilddokumentation dessen lieferte, was man in den 1580er Jahren in England "Virginia" nannte (praktisch die amerikanische Ostküste vom Süden des heutigen Virginia bis zur Mitte des heutigen North Carolina, d.h. die Region von Cape Henry bis Cape Fear). Auf die englischen Erkundungs- u n d Eroberungsfahrten jener Jahrzehnte w u r d e n stets ausgesuchte Künstler mitgen o m m e n , d e r e n I n s t r u k t i o n e n w o h l im w e s e n t l i c h e n d e r e i n z i g erhaltenen, nämlich der für Thomas Bavin, den Zeichner der Gilbert-Expedition von 1578, glichen. Bavin sollte neben allen exotischen Pflanzen u n d Tieren insbesondere Gesichtszüge, Kleidung u n d Gebräuche fremder, nichteuropäischer Menschen im Bild festhalten. John White nahm an mehreren der Unternehmungen Sir Walter Raleigh's zur Kolonisierung Virginias zwischen 1584 und 1590 - die letztlich alle scheiterten - teil, als Expeditionsschreiber u n d -Zeichner. Den Auftrag f ü r die Teilnahme an der Expedition von 1585 erhielt er wohl nicht zuletzt a u f g r u n d seiner Erfahrungen als Zeichner bei der Frobisher-Suche nach einer Nordwest-Passage von 1576. Diese 1585er Expedition führt zur ersten Festsetzung der Engländer in Nordamerika auf Roanoke Island hinter der Nehrungskette der Outer Banks dicht vor der Festlandsküste von Carolina. Von dort aus unternahmen die Kolonisten anfangs im guten Einvernehmen mit den Einheimischen mehrere Vorstöße ins Landesinnere u n d zu anderen Teilen der Küste. Dabei hielt White Flora und Fauna u n d vor allem die Menschen und ihre angetroffenen Verhältnisse sorgfältig fest, meist in Aquarellen. Die Algonkinsiedlung Secoton w u r d e auf diese Weise, wie wir aus dem Tagebuch eines Teilnehmers wissen, am 15. Juli 1585 besucht u n d vermutlich im Anschluß daran vom Expeditionszeichner im C a m p auf Roanoke Island sorgfältig in der vorliegenden Form mit Feder u n d Pinsel als Bilddokument ausgearbeitet. White war ein ausgezeichneter Beobachter, u n d einige seiner Zeichnungen weisen eine Detailgenauigkeit auf, die von der jüngsten ethnologischen und ethnohistorischen Forschung als authentisch bestätigt wird. Die Zeichnung der Siedlung Secoton stellt eine Komposition dar, die verschiedene kulturelle Aspekte des Lebens der Secoton bildlich festhält. Im Zentrum des Ortes, an einem breiten Weg gelegen, zeigt White die 76

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