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German Pages 297 Year 2010
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Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ Codex – Geschichte – Umfeld
Herausgegeben von Jens Haustein und Franz Körndle unter Mitwirkung von Wolfgang Beck und Christoph Fasbender
De Gruyter
ISBN 978-3-11-021896-1 e-ISBN 978-3-11-021897-8 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
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Vorwort
Der lang gehegte Gedanke, der ›Jenaer Liederhandschrift‹ (J) am Ort ihrer Verwahrung eine Tagung zu widmen, gewann in dem Augenblick Gestalt, als von Seiten der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena (ThULB) die Entscheidung gefallen war, den Codex umfassend zu restaurieren und in diesem Zusammenhang auch zu digitalisieren. Ganz im Sinne methodischer Überlegungen zur Funktion von Handschriften in einer Manuskriptkultur sollten dabei die Handschrift als Handschrift und ihre Geschichte im Vordergrund stehen und nicht wie herkömmlich die durch sie tradierten Texte und Autoren. Aus dieser Aufgabe der Erforschung einer der wichtigsten Handschriften des deutschen Mittelalters ergab sich zweierlei für den Zuschnitt und die Ausrichtung der Tagung: Zum einen waren mit ihr zwei Fachwissenschaften zusammenzuführen – die germanistische Mediävistik mit ihren Teildisziplinen und die historische Musikwissenschaft –, zum anderen waren zwei Institutionen zu beteiligen – die Universität in Gestalt ihrer einschlägig ausgewiesenen Fachvertreter und die Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek als bewahrende und forschende Einrichtung. Die hier nun in Aufsatzform vorgelegten Vorträge der Tagung, die vom 3. bis 5. Oktober 2007 in den Räumen der ThULB stattfand, zielten genau auf dieses Aufgabenfeld. Sie reichen von Fragen der sprachhistorischen Situierung und Entstehung über solche des Aufbaus der Handschrift und der Notationspraxis zu solchen ihrer Geschichte und Verwahrung. Hinzu treten Beiträge, die die Ergebnisse der Restaurierung präsentieren, und solche, die die ›Jenaer Liederhandschrift‹ in ihrem kodikologischen Umfeld diskutieren. Parallel zur Tagung wurden ebenfalls in der ThULB neben J selbst und einer Reihe von Zeugnissen der Verwahrgeschichte jene deutschen Fragmente ausgestellt, die in der Forschung seit langem auf Grund ihres Sprachstandes, ihrer Einrichtung und ihrer Texte mit J in Zusammenhang gebracht werden. Die Katalogisate zu den Fragmenten und jenes zum Dillinger Blatt aus J sind im Anhang dieses Bandes in ergänzter und um Literaturhinweise erweiterter Form dokumentiert. Das ›Verzeichnis abgekürzt zitierter Literatur‹ hat ein doppeltes Ziel: Es soll zum einen bei mehrfacher Nennung von Literatur die Anmerkungen entlasten, zum anderen aber jene Literatur zusammenstellen, die für den Fragekreis dieses Bandes einschlägig ist. Daher enthält es auch Titel, die in den Aufsätzen nicht genannt werden. Die Herausgeber haben vielfachen Dank abzustatten: zuerst und vor allem Frau Dr. Sabine Wefers, der Direktorin der ThULB. Sie hat nicht nur die Restaurierung und Digitalisierung angeregt, sondern auch jeden Schritt der Planung im Vorfeld tatkräftig unterstützt. Weiterhin gilt unser Dank Dr. Joachim Ott, dem Leiter der Abteilung Handschriften und Sondersammlungen der ThULB, der mit Umsicht die vorbereitenden Arbeiten für die Tagung begleitet und der vor allem die Ausstellung mit großer Sachkenntnis und Geschick organisiert hat. Weiterhin gilt unser Dank den zahlreichen weiteren in das Pro-
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Vorwort
jekt eingebundenen Mitarbeitern der Bibliothek, namentlich der Abteilung Handschriften und Sondersammlungen sowie der Restaurierungswerkstatt, dann Stefanie Weiß, die zudem das Register angefertigt hat, Christoph Pflaumbaum und Kerstin Wuthenow für tatkräftige Unterstützung während der Tagung und der Drucklegung. Darüber hinaus gilt unser Dank Prof. Dr. Klaus Dicke, dem Rektor der Friedrich-Schiller-Universität, und Dr. Heiko Hartmann vom de Gruyter-Verlag (Berlin) für finanzielle Unterstützung. Das ensemble für frühe musik augsburg hat den Eröffnungsabend dankenswerterweise mit dem Vortrag von Liedern aus der ›Jenaer Liederhandschrift‹ begleitet. Jena, den 31.12.2008
Jens Haustein Franz Körndle
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX SUSANNE KULL / JOACHIM OTT / FRANK SCHIEFERDECKER Die Restaurierung und Digitalisierung der ›Jenaer Liederhandschrift‹ im Jahr 2007 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 LUISE CZAJKOWSKI Die Sprache der ›Jenaer Liederhandschrift‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 GISELA KORNRUMPF Der Grundstock der ›Jenaer Liederhandschrift‹ und seine Erweiterung durch Randnachträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 JOHANNES RETTELBACH Die Bauformen der Töne in der ›Jenaer‹ und in der ›Kolmarer Liederhandschrift‹ im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 OLIVER HUCK Die Notation der mehrfach überlieferten Melodien in der ›Jenaer Liederhandschrift‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 FRANZ KÖRNDLE Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und das Basler Fragment. Aspekte notenschriftlicher Traditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 LORENZ WELKER Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ im Kontext großformatiger liturgischer Bücher des 14. Jahrhunderts aus dem deutschen Sprachraum. . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 JÜRGEN WOLF J und der Norden. Anmerkungen zu einigen kodikologischen und paläographischen Indizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 CHRISTOPH FASBENDER Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und ihr Umfeld im 16. Jahrhundert – Mit einem Rückblick auf das 15. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
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Inhaltsverzeichnis
KARL STACKMANN Das Interesse an den deutschen Handschriften des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . 181 JENS HAUSTEIN J und seine frühen Editionen. Mit einem Editionsanhang (B. Chr. B. Wiedeburg an J. J. Bodmer und J. J. Breitinger). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 JOACHIM OTT Zur Verwahr- und Benutzungsgeschichte der ›Jenaer Liederhandschrift‹ in Jena. . . 237 KLAUS KLEIN Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und ihr Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Fragmente aus dem Umfeld der ›Jenaer Liederhandschrift‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Verzeichnis abgekürzt zitierter Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
Register (zusammengestellt von STEFANIE WEISS) 1. Namen und Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 2. Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
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Abkürzungsverzeichnis
ADB
Allgemeine Deutsche Biographie
ATB
Altdeutsche Textbibliothek
BSB
Bayerische Staatsbibliothek
Cgm
Codex germanicus monacensis
Clm
Codex latinus monacensis
Cod. Pal. germ./Cpg
Codex palatinus germanicus
DTM
Deutsche Texte des Mittelalters
FB
Forschungsbibliothek
GA
s. ›Verzeichnis abgekürzt zitierter Literatur‹
GA-S
Sangsprüche in Tönen Frauenlobs. Supplement zur Göttinger Frauenlob-Ausgabe. Unter Mitarbeit von Thomas Riebe und Christoph Fasbender hg. von Jens Haustein und Karl Stackmann, 2. Teile. Göttingen 2000 (Abh. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen. Philol.-hist. Kl., 3. Folge, Nr. 232)
GAG
Göppinger Arbeiten zur Germanistik
HMS
s. ›Verzeichnis abgekürzt zitierter Literatur‹
²KLD
s. ›Verzeichnis abgekürzt zitierter Literatur‹
LHA
Landeshauptarchiv
MF
s. ›Verzeichnis abgekürzt zitierter Literatur‹
MGG
Die Musik in Geschichte und Gegenwart […], hg. von Friedrich Blume, 17 Bde. Kassel u.a. 1949/51–1986
²MGG
Die Musik in Geschichte und Gegenwart […]. 2., neu bearbeitete Ausgabe, hg. von Ludwig Finscher, Sachteil, 9 Bde. und Register; Personenteil, 17 Bde. und Register. Kassel u.a. 1994–2007
MMS
Münstersche Mittelalter-Schriften
Ms. germ. fol.
Manuscriptum germanicum folio
Ms. germ. oct.
Manuscriptum germanicum octav
X Ms. germ. qu.
Manuscriptum germanicum quart
MTU
Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters
NB
Nationalbibliothek
NDB
Neue Deutsche Biographie
NF
Neue Folge
ÖNB
Österreichische Nationalbibliothek
PBB
Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur
RSM
s. ›Verzeichnis abgekürzt zitierter Literatur‹
SA
Staatsarchiv
SBB-PK
Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
SIMG
Sammelbände der internationalen Musik-Gesellschaft
StLV
Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart
SUB
Staats- und Universitätsbibliothek
ThULB
Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek
²VL
Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Aufl., hg. von Kurt Ruh und Burghart Wachinger, 14 Bde. Berlin 1978–2008
WdF
Wege der Forschung
ZfdA
Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur
ZfdPh
Zeitschrift für deutsche Philologie
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SUSANNE KULL / JOACHIM OTT / FRANK SCHIEFERDECKER
Die Restaurierung und Digitalisierung der ›Jenaer Liederhandschrift‹ im Jahr 2007
Im Frühjahr des Jahres 2007 wurde die ›Jenaer Liederhandschrift‹ (Ms. El. f. 101) in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena einer eingehenden Untersuchung unterzogen. Seit langem hatte deutlich vor Augen gestanden, dass der Codex von massiven Schädigungen betroffen war. Seine vollständige Restaurierung durfte nicht länger aufgeschoben werden. Die Analyse bestätigte, was schon zuvor vermutet werden konnte: Ohne die Handschrift komplett auseinander zu nehmen, würde dies nicht zu bewerkstelligen sein. Das freilich würde den unschätzbaren Vorteil bringen, sie dokumentarisch optimal wie auch konservatorisch verantwortungsvoll digitalisieren zu können: Blatt für Blatt einzeln. Die über die Jahrhunderte graduell aufgetretenen Schäden an der Substanz der Handschrift waren früher schon einmal so sehr aufgefallen, dass man sich für eine Teilrestaurierung entschieden hatte. Sie fand am 9. und 10. Juni 1954 in den Räumlichkeiten der Handschriftenabteilung der Jenaer Universitätsbibliothek statt.1 In lediglich 25 Stunden Arbeitszeit löste der Restaurator Hans Heiland laut seinem Protokoll das Einbandleder2, reinigte und flickte es, entseuchte die Holzdeckel, klebte das Leder wieder auf, reparierte die Schließen, klebte Spiegel auf und behandelte die ersten Blätter der Handschrift.3 Was
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Die Handschriftenabteilung befand sich damals in einem Hochbunker aus Kriegszeiten im Osten Jenas, vgl. den Beitrag von Joachim Ott zur Verwahr- und Benutzungsgeschichte der ›Jenaer Liederhandschrift‹ in diesem Band. Der Restaurator war vom damaligen Leiter der Handschriftenabteilung per Postkarte vom 2. Juni gebeten worden, die Restaurierung an der Liederhandschrift vorzunehmen. Die Korrespondenz findet sich in den Akten der Abteilung Handschriften und Sondersammlungen der ThULB Jena. Es überrascht, dass selbst der ausgewiesene Spezialist Hans Heiland in seinem Restaurierungsprotokoll fälschlich angibt, der Deckelbezug bestehe aus Pergament. Dieselbe Angabe findet sich wiederholt in der Literatur, vgl. besonders Pensel (1986), S. 308. Es handelt sich jedoch klar erkennbar um – freilich sehr dünnes – Schweinsleder, das zur Anfertigungszeit weiß war und später wie üblich gelblich nachgedunkelt ist. Der mit Blindstempeln versehene Schweinsledereinband ist charakteristisch für die Wittenberger Bibliotheca Electoralis, in der sich nur vereinzelt Bände mit anderen Ledersorten finden. Ein Kurzprotokoll Heilands zur Restaurierung liegt in zwei Varianten vor. Zum einen als mit Schreibmaschine beschriftetes, auf den 11. Juni 1954 datiertes und von Heiland unterzeichnetes Papierblatt (Text zitiert bei Pensel [1986], S. 307), das bis zur Restaurierung von 2007 im hinteren Deckel der Liederhandschrift eingeklebt war und seither separat verwahrt wird. Auf dem Blatt kleben drei Schwarz-Weiß-Fotos sehr kleinen Formats (alle nochmals als weiterer Abzug in der Abteilung Handschriften und Sondersammlungen der ThULB Jena vorhanden). Zwei von ihnen zeigen – kaum erkennbar – den Zustand des Einbandes vor der Restaurierung von 1954, das dritte den restaurierten Band. Heiland hatte mit Brief vom 14. Juni 1954 die Negative an die Universitätsbibliothek Jena mit der Bitte geschickt, dort Abzüge davon anfertigen
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Susanne Kull / Joachim Ott / Frank Schieferdecker
bei der Lektüre des Protokolls angemessen und schlüssig zu sein scheint, sollte jedoch nachteilige Folgen zeitigen und sich somit als kontraproduktiv erweisen, wie unten dargelegt wird. Zunächst sei noch erwähnt, dass kleinere Reparaturen der Liederhandschrift im August 1958 in Vorbereitung einer Ausstellung zum 400jährigen Jubiläum der Universität Jena sowie im Mai 1992 in der Universitätsbibliothek Jena durchgeführt wurden.4 Nachfolgend seien die Resultate der Untersuchung der ›Jenaer Liederhandschrift‹, der Verlauf ihrer Restaurierung und die dabei gemachten Beobachtungen sowie der Vorgang der Digitalisierung in der hier gebotenen Kürze geschildert.5 Die Ausführungen werden ergänzt durch ausgewählte Abbildungen sowie ein kommentiertes Lagenschema6 und eine schematische Darstellung des Heftlochbefunds. Sämtliche konservatorischen Arbeiten an der Handschrift wurden in und von der Restaurierungswerkstatt der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek durchgeführt und beanspruchten den Zeitraum von Anfang April bis Ende September 2007, also ein halbes Jahr.
Schadenserfassung Die Begutachtung der ›Jenaer Liederhandschrift‹ ergab ein komplexes Schadensbild, das im Grundsatz zwar ihrer zahlreiche Jahrhunderte überschreitenden Verwahr- und
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zu lassen. Eine ausführlichere Version seines Restaurierungsprotokolls schickte Heiland der Bibliothek als Bestandteil seiner Rechnung vom 13. Juni 1954, die sich auf 153 Mark belief. Diese Version sei hier zitiert: »Gemäß Ihrem geschätzten Auftrag restaurierte ich in Jena am 9. und 10. Juni in 25 stündiger Arbeitszeit die ›Jenaer Liederhandschrift‹. Ausgeführte Arbeiten: Pergamentüberzug von beiden Deckeln gelöst und gereinigt – ausgebrochene, mürbe Stellen insbesondere an den 4 Eckenpartien und am Kopf und Fuß des Rückens zur Restaurierung vorbereitet u. entspr. Flicken aus Pergament eingepaßt. Vom beginnenden Wurmfraß befallene Holzdeckel der Vorderflächen beider Holzdeckel entseucht und 2 morsche, brüchige Ecken mit Messingschienen versehen. In Deckelstärke fehlende Teile formgerecht mit Holzkitt ergänzt. Restaurierte Pergamentdecke auf Buchblock übergezogen und echte Bünde abgebunden. – 1 Riemenschließe ausgebessert. Messingteile der Schließen geputzt und wieder angebracht. Flickstellen auf Pergamentdecke abgefasert und gefestigt. – 1 Titelschild restauriert. – Vorder- u. Rückenspiegel neu bezogen und handschriftl. Vermerke eingeklebt. – Erste 4 Pergamentblätter (Textseiten) um die Griffkantenpartien mit Pergament verstärkt und mit Japanpapier gefestigt.« Laut Rechnung vom 16. August 1958 nahm Hans Heiland, damals ansässig in Gera, in der Universitätsbibliothek Jena vom 13. bis 15. August an zahlreichen Inkunabeln und Handschriften kleinere konservierende Maßnahmen vor, bestrich etwa die Einbände mit Bienenwachs. In der Objektliste findet sich auch die ›Jenaer Liederhandschrift‹, ohne dass deutlich würde, was speziell an ihr getätigt wurde. Dazu vermerkt ein zugehöriges handschriftliches Protokoll des Leiters der Handschriftenabteilung: »Jenaer Liederhs.: Einb., Ecken- u. Rücken-Schlußkonservierung«. Laut Bericht Nr. 1992/13 der Restaurierungswerkstatt der ThULB Jena wurden am 14. und 15. Mai 1992 Roststellen am oberen Rand von fol. 123–125 entfernt, ferner wurde eine Kassette für die Handschrift angefertigt. Die Grundlage des vorliegenden Beitrags bilden das Schadensprotokoll und der Restaurierungsbericht der Restaurierungswerkstatt der ThULB Jena, die sehr viel detaillierter sind. Aus dem umfangreichen zugehörigen Fotomaterial können hier nur einige wenige Eindrücke als Abbildungen beigegeben werden. Für frühere Schemata und Erörterungen der Lagenkonstellation vgl. vorrangig Pickerodt-Uthleb (1975), S. 229f., mit Anm. 505–515; Pensel (1986), S. 307.
Die Restaurierung und Digitalisierung der ›Jenaer Liederhandschrift‹ im Jahr 2007
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Benutzungsgeschichte, jedoch in nicht geringem Maß erst der heute als unglücklich zu bezeichnenden Restaurierungen von 1954 und 1958 geschuldet war. Was zunächst den Einband betraf, so fiel besonders ins Auge, dass das Einbandleder am Buchrücken im Bereich des vorderen Gelenkes einen über die gesamte Buchhöhe reichenden klaffenden Riss aufwies, der untere Doppelbund war zudem angebrochen. Bedingt durch den Riss waren Reparaturunterklebungen von 1954 aus Pergament teilweise zum Vorschein gekommen, die sich in Teilen gelockert, also keine dauerhafte Stabilität erzielt hatten. Außerdem hatte Heiland etliche schadhafte Stellen des Einbands mit Hanffaserstücken überklebt, was allerdings offensichtlich erst der im August 1958 erfolgten Konservierungsaktion zuzurechnen ist. Diese Technik, seine eigene Erfindung, war nach seiner Auffassung eine moderne, größte Stabilität erzeugende Konservierungsmethode.7 Freilich haftete das Hanfmaterial keineswegs lange und nahm einen zunehmend dunkleren Farbton an. So hatte es bereits lange vor 2007 den Einband ausgefranst erscheinen und somit höchst unansehnlich werden lassen. Hanf war insbesondere am Kopf und Fuß des Rückenleders bis zum jeweils ersten Bund, somit auch im Bereich der noch von der Wittenberger Bindung um 1540 stammenden Kapitale, sowie an den Einbandecken verklebt. An letzteren waren unter dem Hanf liegende Reparaturunterklebungen aus Pergament von 1954 sichtbar geworden (Abb. 1–3). Solche Unterklebungen fanden sich auch bei den Schließenösen, die gleichwohl instabil geworden waren. Die obere Öse wie auch der untere Schließenhaken und das obere, ersichtlich nachgefertigte Halteblech waren 1954 mit auffallend überdimensionalen Nägeln befestigt worden. Das noch ursprüngliche untere Halteblech war verbogen. Die Oberfläche des Schweinsleders war 1954 gereinigt worden, allerdings unregelmäßig. Das eigentliche Grundproblem der Handschrift war 1954 und 1958 allerdings nicht angegangen worden. Beide Holzdeckel waren deutlich erkennbar verformt, sie ragten zu den Ecken hin aus der Flucht nach außen. Die Fugen zwischen den jeweils zwei Brettern, aus denen die Holzdeckel zusammengefügt sind, hatten sich geweitet, was zur Verformung beitrug. Entlang dieser Fugen war das als Spiegel eingeklebte Papier teils eingerissen. Es stellte sich heraus, dass diese Spiegel wie auch das fliegende Blatt hinten erst 1954 eingesetzt worden waren. Dabei handelt es sich allerdings keineswegs um Papierbögen in der benötigten Größe der Handschrift. Um diese zu erreichen, hatte Heiland jeweils mehrere kleinere Blätter verschiedener Formate des 18. Jahrhunderts, die
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Darauf, dass die Hanf-Ergänzungen nicht von 1954 stammen, deutet ein Artikel über Heiland in den Thüringer Neuesten Nachrichten vom 23. August 1958 (Jg. 8, Nr. 195): »Seit Januar dieses Jahres arbeitet Herr Heiland mit einem neuen Verfahren der Einbandrestaurierung, das er selbst entwickelte. Dieses Faser-Konservierungsmittel, wie er es nennt, wird für die gesamte Buchrestaurierung bahnbrechend sein. Es handelt sich dabei um die Verarbeitung von Hanffasern in Verbindung mit einem Spezialkleber.« Dass Hanffaser bereits in alten Zeiten zur Stabilisierung von Einbandholz eingesetzt wurde (so auch bei der ›Jenaer Liederhandschrift‹, vgl. weiter unten), habe Heiland zu diesem Verfahren inspiriert. In einer Anmerkung zur Rechnung vom 16. August 1958 (vgl. Anm. 4) schreibt er: »Die neue Arbeitsweise der Konservierung alter Einbände mittels einer Hanffaser garantiert eine Haltbarkeit der behandelten Stellen auf Jahrhunderte, während Lederflicken nach geraumer Zeit schon innerhalb eines Jahrhunderts wieder zundrig und mürbe werden können.«
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Susanne Kull / Joachim Ott / Frank Schieferdecker
zu seinem Fundus gehört und jedenfalls keinen Bezug zur Liederhandschrift hatten,8 ohne Beachtung von Rippen, Stegen und Wasserzeichen teils stark überlappend zusammen geklebt. Vorbild waren die noch in Resten vorhandenen Papierspiegel des Wittenberger Einbands, welche Heiland mit seinem Konstrukt überklebte und die bei der Restaurierung von 2007 wieder freigelegt wurden. Während im vorderen Deckel lediglich sehr geringfügige Reste zum Vorschein kamen, erwies sich der alte Spiegel im hinteren Deckel als noch großenteils erhalten. Auf ihm steht eine mit Bleistift geschriebene neuzeitliche Kollationsnotiz zur Handschrift. Es stellt sich die Frage, wie die Innendeckel zu dem Zeitpunkt aussahen, als die Restaurierung von 1954 angegangen wurde. Da eine fotografische oder schriftliche Dokumentation dazu fehlt, kann hier nur spekuliert werden. Jedenfalls zeigte sich, dass der im vorderen Deckel befindliche Holzschnitt mit dem Porträt Johann Friedrichs I. mittig durchgehend gerissen ist, was bereits Heiland vor Augen hatte, der deswegen das Holzschnittblatt mit Papier hinterklebte. Der Grund für diesen Riss liegt auf der Hand: Der Holzschnitt klebte ursprünglich in der Mitte des vorderen Deckels und lag damit über der Fuge zwischen den beiden Brettern des Vorderdeckels. Diese hatte sich, wie bereits erwähnt, mit der Zeit verbreitert, wodurch das Papier von Spiegel und Holzschnitt unter Spannung geriet und riss. Die Positionierung des Porträts Johann Friedrichs in der Mitte des vorderen Innendeckels ist für die Bibliotheca Electoralis typisch. Heiland klebte, vielleicht um einer erneuten Rissbildung entgegen zu wirken, den Holzschnitt in das linke obere Viertel des Innendeckels der Liederhandschrift.9 Vielleicht befand sich dieser aber schon vor der Restaurierung 1954 nicht mehr in der Mitte des Deckels. Falls Heiland den Holzschnitt dort noch vorgefunden haben sollte, hätte er auch den darunter befindlichen alten Vorderspiegel noch in größeren Resten vor Augen gehabt, als sie 2007 zum Vorschein kamen.10 Mit dem Einband war auch der Buchblock aus der Form und damit die gesamte Handschrift sozusagen aus ihrem Grundgleichgewicht geraten. Für den Lagenverbund hatte dies insbesondere zur Konsequenz, dass die nicht mehr genügend in Form gepress-
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In einem Porträt Heilands in den Thüringer Neuesten Nachrichten vom 27. Juni 1953 (Jg. 3, Nr. 145) heißt es: »Hans Heiland besitzt eine umfangreiche Sammlung alter Büttenpapiere aller Tönungen mit hunderten verschiedenartiger Wasserzeichen von der Anfangszeit der ersten Papiermühlengründungen in Deutschland (um 1380) bis in die Jetztzeit. Die Verwendung dieser Materialien bieten [sic!] die Gewähr für stilvolle Arbeit.« Am Ende der Restaurierung von 2007 wurde der Holzschnitt ebenso wieder an der vorgefundenen Stelle eingeklebt wie rechts daneben ein Papierzettel mit einem Kollationsvermerk vom 18. Juni 1826 (angefertigt vor der Abreise der Liederhandschrift nach Berlin, vgl. die Beiträge von Jens Haustein und Joachim Ott in diesem Band). Dieser Zettel müsste, falls sich 1826 der Holzschnitt noch an seinem ursprünglichen Platz in der Mitte des Innendeckels befand, an anderer Stelle situiert gewesen sein, da er sich sonst mit letzterem überlappt hätte. Unterschrift zum Porträt und Text des Vermerks zitiert bei Pensel (1986), S. 309. Es mag irritieren, dass der Holzschnitt direkt an seiner Kontur beschnitten ist. Dieser Beschnitt könnte, muss aber nicht in späterer Zeit erfolgt sein, denn auch weitere Bände der Bibliotheca Electoralis, deren Spiegel seit dem 16. Jahrhundert unverändert sind, weisen knapp beschnittene, aufgeklebte Holzschnitte mit dem Porträt Johann Friedrichs auf. Der Befund ist nicht einheitlich: In anderen Bänden bis hin zum Folioformat findet sich dieses Motiv auf ein Papierblatt in Innendeckelformat gedruckt.
Die Restaurierung und Digitalisierung der ›Jenaer Liederhandschrift‹ im Jahr 2007
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ten Blätter eine umfangreiche Falten- und Wellenbildung aufwiesen (Abb. 4). In den bis zu acht Millimeter starken Vertiefungen der Falten hatte sich Schmutz abgelagert. Elemente der Beschriftung und teils auch Partien der Initialen waren durch die Falten in ihrer Substanz bedroht; einzelne Lombarden wiesen bereits Farbverluste auf. An den Blatträndern hatten sich stellenweise kleine Risse gebildet, so insbesondere fol. 58 und 103. Die Doppelblätter 76/79, 77/78 sowie das Einzelblatt 103 saßen locker.11 Im Falzbereich der Pergamente zeigten sich deutliche Schmutzansammlungen. Hinzu kam eine weitere missglückte Aktion der Restaurierung von 1954: Die ersten vier Blätter der Handschrift waren damals jeweils beidseitig auf dem unteren Rand mit Japanpapier beklebt worden, was das an diesen Stellen abgenutzte Pergament stützen sollte. Abgesehen davon, dass der Sinn dieser Aktion fragwürdig ist, war sie ästhetisch unbefriedigend und nicht fachgerecht ausgeführt worden. Die Beklebung hatte einen helleren Farbton als das Pergament, reflektierte stark und störte den Gesamteindruck beim Aufschlagen der ersten Seiten der Liederhandschrift erheblich (Abb. 4). Zur Schadenserfassung der Liederhandschrift gehörte neben der Anfertigung des Schadensprotokolls eine umfassende digitalfotografische Dokumentation, um den Zustand der Handschrift unmittelbar vor der bevorstehenden Restaurierung im Detail festzuhalten. Dazu gehörte, dass die Handschrift in Gesamtansicht von vorne bis hinten aus der Aufsichtperspektive fotografiert wurde und zudem sämtliche Blätter des Buchblocks in extremem Streiflicht aufgenommen wurden, um die starke Wellen- und Faltenbildung zu dokumentieren. Um sie restaurieren zu können, musste die ›Jenaer Liederhandschrift‹ zunächst in all ihre Einzelteile zerlegt und damit in einen Zustand gebracht werden, wie er zuletzt dem Wittenberger Buchbinder Wolfgang Schreiber um 1540 respektive – was den Buchblock anbelangt – bei Anfertigung der Handschrift im früheren 14. Jahrhundert vor Augen gestanden hatte (1954 war der Buchblock nicht auseinander genommen worden). Am Beginn stand die Trockenreinigung der Papiervorsätze von 1954 (Spiegel vorn, Spiegel und fliegendes Blatt hinten). Sie zeigten leichte bis mittlere Verschmutzungen, die mit Radierpulver (DCP 3) beseitigt werden konnten. Das verbrauchte Pulver wurde abgebürstet und vorsichtig abgesaugt. Die 1954 hinzugefügten Spiegel wurden daraufhin mit Wasserkompressen kontrolliert befeuchtet, um sie mit einem Skalpell abnehmen zu können. Die Papiere wurden anschließend luftgetrocknet. Es folgte die Abnahme der Schließenteile und der Kette. Die Messingösen, Haltebleche und Schließenriemen konnten nach Entfernen der Messingnägel abgehoben werden. Als Hinzufügungen von
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Fol. 103 war nicht wie die übrigen Einzelblätter der Handschrift fadengeheftet, sondern dadurch fixiert, dass der vom Gegenblatt übrig gebliebene Steg an fol. 102 geleimt war. Zumal dieser Leim in seiner Konsistenz nicht mit dem bei der Wittenberger Bindung verwendeten übereinstimmte, kann dies nur eine Verklebung jüngerer Zeit sein. Als der Steg wieder von fol. 102 getrennt und von Leimresten befreit worden war, kamen dort auf der ehemaligen Klebefläche die zuvor verborgenen kleinen Buchstabenvorgaben für die Initialen, welche auf dem verlorenen Gegenblatt zu fol. 103 recto auf der linken Spalte gestanden hatten, zum Vorschein (im Digitalisat sichtbar). Allerdings stellte sich bei der mit Jens Haustein geführten Diskussion darüber heraus, dass auch dieser Befund einstweilen nicht bei der in der Forschung erörterten Frage weiterhelfen kann, wie der Textverlust am Beginn des Frauenlob-Corpus zu quantifizieren sei, vgl. Pickerodt-Uthleb (1975), S. 394f., Anm. 513.
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1954 stellten sich die Nägel zur Kettenbefestigung heraus. Auch sie wurden mechanisch entfernt. Die geschilderten Schritte bildeten die Voraussetzung, den Schweinslederbezug des Einbands ablösen zu können. Zunächst wurden die Ledereinschläge und schließlich das gesamte Leder trocken mit Skalpell und Falzbein vorsichtig angehoben und von Holzdeckeln und Rücken entfernt. Dann wurden die Ansatzfalze (s. u.) mit Wasserkompressen kontrolliert befeuchtet, mit dem Skalpell abgenommen und der Trocknung unter leichtem Druck zwischen Filterkarton zugeführt. Als Trennmaterial diente Holitex. Als das Deckelleder entfernt war, konnte der Buchblock durch Herauslösen der Bünde aus den Deckeln von diesen getrennt werden. Durch kontrolliertes Befeuchten der Verpflockungen wurde der Leim angequollen, dann wurden die Holzpflöcke herausgenommen und die Hanfbünde herausgezogen. Es blieb noch, die Kapitale und die Hinterklebung an Rücken und Deckelholz (s. u.) zu lösen, um die Deckel vollständig trennen zu können. Hierzu wurden auf die Kapital-Befestigungen und die Makulaturstreifen Methylcellulose-Kompressen aufgetragen. Nach einer Einwirkzeit von einer halben Stunde konnten die Pergamentstreifen mit dem Skalpell abgehoben werden. Methylcellulose-Reste wurden abgenommen und noch verbliebene Spuren abgetupft. Die Trocknung der Makulatur erfolgte zwischen Filterkarton unter leichtem Druck. Als Trennmaterial diente wiederum Holitex. Den nächsten Schritt bildete das Entfernen des Rückenleims. Der Rücken des Buchblocks wurde zwischen den Bünden mit Methylcellulose eingestrichen und mit Polyethylen-Folie abgedeckt. Auch hier konnte nach halbstündiger Einwirk- und Quellzeit der alte Leim mit einem Spatel mechanisch abgehoben werden. Anschließend wurden die Heftfäden aufgeschnitten und entfernt sowie die Hanf-Doppelbünde vom Buchblock abgehoben.
Analyse der Makulatur Nach ihrer Separierung konnte die historische, also bei der Bindung in Wittenberg um 1540 integrierte Einbandmakulatur aus Pergament, die unter den Spiegeln und dem Deckelleder der ›Jenaer Liederhandschrift‹ zu Tage trat, untersucht werden. Sie fand sich entlang der Gelenke (Ansatzfalze) und zwischen den Bünden (Hinterklebungsmakulatur). Wie sich herausstellte, verwendete der Wittenberger Buchbinder Schreiber zu Stabilisierungszwecken Fragmente zweier unterschiedlicher mittelalterlicher Pergamenthandschriften. Der besseren Festigkeit wegen klebte er die Streifen, welche in den Feldern zwischen den Bünden den Rücken des Buchblocks mit den Holzdeckeln verbanden, doppelt, also in zwei Schichten.12 Die obere Schicht besteht aus Resten einer Handschrift, von deren in relativ großer, mit hellbrauner Tinte ausgeführten Beschriftung in gotischer Minuskel nur noch einzelne Buchstaben sehr schwach zu erkennen sind, die also nicht näher datierbar, geschweige denn inhaltlich bestimmbar ist. Die darunter liegende Schicht bilden Streifen einer anderen Handschrift. Die darauf sichtbare Schrift und Musiknotation gibt ausreichend zu erkennen, dass diese Streifen zu
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Hierüber lagen teilweise, als dritte Schicht, Streifen aus neuem Pergament, die bei der Restaurierung von 1954 aufgeklebt worden waren.
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derselben Handschrift (wahrscheinlich zum selben Doppelblatt) gehörten wie die Ansatzfalze. Während der Ansatzfalz des vorderen Gelenks nur den Bruchteil einer Note oder eines Buchstabens aufweist, aber fraglos zugehörig ist, kann die einstige Handschrift über den hinteren Ansatzfalz im Grundsatz bestimmt werden. Dieser Falz (4 × 56 cm), der seit jeher sichtbar gewesen war, da er teilweise frei stand, ist der Rest eines Doppelblatts aus einem großformatigen Codex. Dieser wies eine Seitenbreite von 36 cm (oder wenig mehr) und eine Schriftraumbreite von 23 cm auf. Erhalten sind Teile liturgischer Gesänge in Quadratnotation auf (wahrscheinlich) vier mit roter Tinte gezeichneten Linien. Die Schrift ist in großer, akkurater Textura ausgeführt; die Datierung kann um 1500 angesetzt werden. Vom Eindruck der Form her wäre an ein Graduale oder Antiphonar zu denken, doch bieten sich nicht genügend Ansätze für eine genauere Einordnung. Dass bei der Bindung um 1540 noch weitere Streifen dieses Doppelblatts oder zumindest derselben Handschrift als Ansatzfalzmaterial in die Liederhandschrift eingeklebt worden waren, erweisen Leimspuren auf dem Holz beider Deckel. Es ist davon auszugehen, dass diese Streifen bei der Restaurierung von 1954 entfernt wurden; leider sind sie nicht auffindbar. Die oben beschriebene noch erhaltene Makulatur wurde 2007 nicht wieder eingefügt, sondern wird seitdem separat verwahrt (Abb. 10).
Analyse der Heftlöcher: zum Produktionsablauf von Buchblock und Einband im 14. Jahrhundert Bevor die Lagen beziehungsweise die sie konstituierenden Einzel- und Doppelblätter separiert wurden, war auch die Gelegenheit gegeben, den vom Leim und Heftmaterial befreiten Lagenverbund, speziell die Disposition der Heftlöcher, in der Gesamtschau zu untersuchen. Dabei ergaben sich sehr interessante Beobachtungen, die nachfolgend ausgewertet werden sollen und zudem in den beiden angefügten Schemata der Lagen und Heftlöcher dokumentiert sind. Am Rücken des Buchblocks zeigten sich bei genauerem Hinsehen in sämtlichen 19 Lagen winzige, zumeist gepaarte Einstichlöcher, die teils mit einem Messer geschlitzt, teils, wahrscheinlich mit einer Nadel, gestochen worden waren. In einem derartigen Doppelloch (Lage 4, fol. 28/29) befand sich ein in sich gedrehtes Pergamentriemchen noch in situ; ein weiteres wurde, lose einliegend, im Falzbereich zwischen fol. 110 und 111 gefunden. Dies erklärte den Sachverhalt. Die einzelnen Lagen waren mit Hilfe der durch die kleinen Löcher geschlungenen Riemchen provisorisch fixiert worden – eine Aktion, die im Skriptorium selbst durchgeführt worden sein dürfte, um der Gefahr zu begegnen, dass Doppelblätter oder Lagen vor, während beziehungsweise nach dem Schreibvorgang durcheinander geraten könnten. Die je sieben Hauptheftlöcher und jene für die Fitzbünde (s. u.) existierten zu dem Zeitpunkt selbstverständlich noch nicht, sondern wurden erst später von Buchbinderhand gefertigt. Als die Handschrift einen Einband erhalten sollte, konnte die vorläufige, kaum stabile Heftung wieder entfernt werden, wobei zwei Riemchen übersehen wurden, die später auch Wolfgang Schreiber in Wittenberg nicht bemerkte. Der erste Buchbinder, in dessen Werkstatt sich die Handschrift befand, hatte den Buchblock, nachdem er die Lagen aufeinander gelegt und vermutlich leicht gepresst hatte, mit Hilfe eines Messers in einem Schwung hinten sieben Mal eingeritzt, um bündige Öffnungen für die Heftfäden zu schaffen. Wegen dieses etwas groben Verfahrens reichen
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die Einschnitte zuweilen einen halben Zentimeter in die Blattfläche hinein. Dieser Befund lässt sich jedoch an einer einzigen Position nicht feststellen: Lage 11 (fol. 75–80) weist kreisrunde Heftlöcher auf; dies betrifft sowohl die Hauptheftlöcher als auch die Fitzbundlöcher. Sie sind zwar bündig zu den übrigen Heftlöchern positioniert, jedoch nicht wie diese geschlitzt, sondern – wahrscheinlich mit einer Nadel – gestochen. Das muss als umso interessanter angesehen werden, als diese runde Lochung genau diejenige Lage betrifft, auf welcher das nicht vom Hauptschreiber der Handschrift geschriebene Werk des Wizlav von Rügen steht. Es fällt allerdings alles andere als leicht, diesen Befund zu deuten. Wie so oft, wenn es um Fragen zur Entstehungszeit der ›Jenaer Liederhandschrift‹ geht, kann auch hier kein Rekonstruktionsvorschlag ohne Widersprüche vorgebracht werden. Unzweifelhaft ist allein das Folgende: Als der Buchbinder des 14. Jahrhunderts die Rückenfläche des ihm bis dato gelieferten Buchblocks (von dem noch die Lagen 1–10, 12–19 erhalten sind) an den sieben Positionen einritzte, die er für eine Fadenheftung vorgesehen hatte, war Lage 11 nicht im Blickfeld seiner Werkstatt, lag dort also nicht vor. Doch wann kam sie respektive das Wizlav-Corpus zur Handschrift? Ein erster Rekonstruktionsvorschlag beruht auf der Annahme, dass es mit sehr geringer zeitlicher Verzögerung hinzukam: Die Buchbinderwerkstatt erhielt, als sie eben an die Bindung der Handschrift gehen wollte – die geschlitzten Heftlöcher waren vorbereitet –, die Mitteilung, noch zu warten, da eine Textnachlieferung erwartet werde. Erst nach Eintreffen des Wizlav-Corpus und damit der Lage 11 (respektive noch weiteren, heute verlorenen Materials, das sich an die heutige Lage 11 angeschlossen hätte) vollzog die Werkstatt die Bindung der Handschrift. Vorher versah ein Mitglied der Werkstatt – das es vorzog, nicht zu schlitzen – die Lage 11 an den durch den übrigen Buchblock vorgegebenen Positionen mit runden Heftlöchern. Wäre der Vorgang so abgelaufen, hätte freilich die (heutige) Lage 10 zwischenzeitlich dem Skriptorium zurückgegeben werden müssen, denn auf deren zuvor leeren letzten Seiten beginnt das nachgetragene Wizlav-Corpus (ab fol. 72vb). Gravierender ist, dass die Frage gestellt werden müsste, warum der WizlavNachtrag, wäre er kurz nach den übrigen Texten entstanden, nicht ebenfalls dem kalligraphisch routinierten Hauptschreiber der Handschrift anvertraut, sondern von einer handwerklich deutlich weniger bemittelten Hand ausgeführt wurde. Der in der gesamten übrigen Handschrift dokumentierte repräsentative Anspruch war damit – namentlich aus der Sicht des Auftraggebers – durchaus konterkariert. Vieles ist hier denkbar (stand der Hauptschreiber nicht mehr zur Verfügung?), nichts aber bewiesen. Auch die weiteren noch am ehesten diskutabel erscheinenden Lösungsansätze des Problems bleiben nicht ohne Widersprüche. Es wäre immerhin möglich, dass die Handschrift vom Skriptorium direkt zum Binden gegeben wurde und diese Bindung tatsächlich unmittelbar anschließend erfolgte – ohne das Wizlav-Corpus. Als zu einem unbestimmbar späteren Zeitpunkt die Entscheidung fiel, dieses der Handschrift noch hinzuzufügen, wäre der Einband entfernt, das Wizlav-Corpus (nicht unbedingt noch in demselben Skriptorium, das die übrige Handschrift erstellte) niedergeschrieben und dann, nach Anbringen der runden Heftlöcher, der alte Einband erneut oder ein neuer Einband angebracht worden. Doch wäre es denkbar, dass man eine solche Handschrift nur wegen einer Ergänzung auseinander genommen und wieder gebunden hätte? Dies wäre nicht zu problematisieren, wenn man eine weitere Möglichkeit in Betracht zöge: Der Buchblock könnte, als die Werkstatt ihn vom Skriptorium erhielt, zwar durch das Anbringen der ge-
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schlitzten Heftlöcher für eine Bindung vorbereitet, diese dann aber – aus welchen Gründen auch immer – nicht durchgeführt worden sein. Die Handschrift hätte dann zunächst, durchaus über mehrere Jahre, ungebunden gewesen sein können, bevor sie schließlich, als der Wizlav-Nachtrag niedergeschrieben war, doch gebunden wurde.13 Das freilich hätte eben zur Voraussetzung, dass die buchbinderische Aufbereitung der eigentlichen Handschrift seinerzeit abrupt abgebrochen worden wäre. Denn jeder Buchbinder, der einen Buchblock bereits mit Heftlöchern versehen hat, wird diesen unmittelbar danach binden – es sei denn, etwas Unvorhergesehenes kommt dazwischen. Paläographisch lässt sich der Wizlav-Nachtrag nicht exakt genug bestimmen; er könnte ebenso gut zeitgleich zur übrigen Handschrift wie Jahre oder gar ein oder zwei Jahrzehnte später entstanden sein. Der bereits erwähnte Qualitätsabfall könnte für Letzteres sprechen. Eine weitere Möglichkeit, dass nämlich die Heftlöcher erst von Wolfgang Schreiber in Wittenberg angebracht wurden, ist abwegig, da dann alle Lagen einheitlich geschlitzte Heftlöcher hätten aufweisen müssen. Wie sich 2007 zeigte, benutzte Schreiber, als er um 1540 die seinerzeit bereits fragmentarische, augenscheinlich längere Zeit nicht mehr gebunden gewesene Liederhandschrift mit ihrem heutigen Einband versah, die vorgefundenen alten Heftlöcher wieder. Hiervon wich er lediglich an drei Stellen ab. Das Einzelblatt 69 faltete er um 5 mm gegenüber dem heutigen Falz versetzt neu und versah es mit neuen Heftlöchern, so dass die alten Heftlöcher der früheren Bindung seitdem auf dem Steg (Rest des abgeschnittenen Gegenblatts) zu fol. 69 ungenutzt liegen und das Blatt insgesamt entsprechend nach innen verschoben ist. Es zeigte sich darüber hinaus, dass Schreiber das Blatt gar nicht in diejenige Lage einhängte, der es ursprünglich zugehörig gewesen war. Denn auf der heute fol. 74 zugewandten Seite des Stegs fanden sich Leimreste. Diese und weitere Leimspuren außen am Falz des Doppelblatts 70/74 waren von dem bei der Wittenberger Bindung verwendeten Leim klar unterscheidbar. Sie sind einer zeitlich früher liegenden Bindung der Liederhandschrift zuzurechnen. Der Befund steht klar vor Augen: Im Rahmen dieser früheren Bindung hatte fol. 70/74 das äußere Doppelblatt der Lage 10 gebildet – daher dort die Leimreste. Das in Wittenberg dieser Lage als erstes Blatt vorgehängte fol. 69 dagegen hatte mitsamt Steg – umgekehrt gefalzt! – ursprünglich das Abschlussblatt der vorhergehenden Lage 9 gebildet, war also vor deren heutigem äußeren Doppelblatt (fol. 62/68) eingehängt und daher mit Leim bestrichen gewesen. Für die Textabfolge hatte Schreibers Modifikation keine Konsequenz. Allerdings ist festzuhalten, dass der von dem abgeschnittenen Gegenblatt zu fol. 69 übrig gebliebene Steg ursprünglich nicht zwischen fol. 74 und 75, sondern zwischen
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Auch wenn die 2007 auseinander genommene Handschrift keine Beweise dafür geboten hat, scheint es bei allen hier zur Diskussion gestellten Rekonstruktionen doch das Nächstliegende zu sein, dass das Wizlav-Corpus an dem Ende des bereits bestehenden Buchblocks, einsetzend auf dort zur Verfügung stehenden, weil leer gebliebenen Seiten (heute fol. 73vb–74vb), ergänzt wurde, ursprünglich also den Schluss der Handschrift bildete. Zwar sitzt es heute und damit spätestens seit der Wittenberger Bindung um 1540 inmitten der Handschrift, doch besitzt die von Pickerodt-Uthleb (1975), S. 258f., auch aus inhaltlichen Gründen favorisierte Rekonstruktionsvariante Stichhaltigkeit, dass die heutigen Teile I (fol. 2ra–72va) und III (fol. 81ra–136vb) der Handschrift ursprünglich in umgekehrter Reihenfolge situiert waren. Die optische Anmutung des Buchblockrückens mit seinen einheitlich bündigen Heftlöchern verstärkt zudem den Eindruck, dass die Handschrift von Beginn an als ein Buch (nicht als zwei oder mehr Teilbände) konzipiert war, in welcher Lagenabfolge auch immer.
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fol. 61 und 62 in der Handschrift situiert war. Bei der Neubindung von 2007 wurde der Beschluss gefasst, wieder die Wittenberger Variante zu wählen, um keine Verwirrung zu stiften, da der Lagenaufbau der Handschrift einschließlich der Verzeichnung eines abgeschnittenen Blattes zwischen fol. 74/75 in der Literatur bereits mehrfach referiert worden ist. In das dem vorliegenden Beitrag angefügte Lagenschema ist aber eine Rekonstruktion des ursprünglichen Zustands einbezogen. Auch den Sitz der beiden Einzelblätter 58 und 66 veränderte Schreiber. Das wird daraus ersichtlich, dass dort – wie bei fol. 69 – jeweils ungenutzte Heftlöcher auf dem umgehängten Steg zu finden sind, die hier um 15 mm (fol. 58) respektive 19 mm (fol. 66) gegenüber dem heutigen Falz versetzt sind. Es handelt sich wiederum um Heftlöcher der früheren Bindung, die Schreiber auch in diesen beiden Fällen nicht – wie sonst – wiederverwendete. Stattdessen falzte er auch diese beiden Blätter versetzt neu (so dass sie entsprechend nach innen verschoben sind) und brachte neue Heftlöcher an. Die Untersuchung der Heftlöcher und Blattveränderungen hat keine Klarheit darüber erbringen können, ob die ›Jenaer Liederhandschrift‹ zu ihrer Entstehungszeit tatsächlich ohne Verzug einen Einband erhielt beziehungsweise welche Form und Materialien dieser aufgewiesen hätte. Dass die Handschrift, bevor sie in Wittenberg neu gebunden wurde, einen Einband besaß, belegen die genannten Heftspuren an den drei versetzt eingebundenen Blättern. Dies klärt freilich nicht die Frage, ob es lediglich einen (wie zu vermuten) oder sogar mehrere Vorgängereinbände gegeben hat.
Restaurierung des Buchblocks und Rekonstruktion der ursprünglichen Blattmaße Nach der Analyse des Buchblocks konnte die eigentliche Restaurierung der ›Jenaer Liederhandschrift‹ angegangen werden. Ohne den Halt von Leim und Heftfäden war der Buchblock darauf vorbereitet, in Einzel- und Doppelblätter separiert werden zu können, um die folgenden, sehr wesentlichen Arbeitsschritte vorzubereiten: die Reinigung und Glättung der Pergamente. Zunächst wurde jedes Einzel- beziehungsweise Doppelblatt der Handschrift mit größter Vorsicht von Oberflächenverschmutzungen gereinigt. Dazu wurde Radierpulver (DCP 3) auf die Flächen gestreut und mit kreisender Handbewegung sanft verteilt, was im Bereich der Beschriftung, insbesondere der Initialen besonders kontrolliert erfolgte (Abb. 5). Das Radierpulver nahm, wie seine Graufärbung anzeigte, reichlich Schmutz auf. Die Farben der Initialen, Schrift und Notation gewannen wieder an Klarheit. Mit einem Pinsel wurde das verschmutzte Radierpulver entfernt. Um die Pergamente glätten zu können, mussten sie zuerst geringfügig befeuchtet werden. Das hier notwendige Maß an Kontrollierbarkeit gewährleistete ein speziell entwickelter Unterdrucktisch mit großer Plexiglashaube, der den Effekt einer Klimakammer erzeugt (Abb. 6). Jedes Pergamentblatt der Handschrift lag pro Vorder- und Rückseite zehn Minuten bei relativer Luftfeuchtigkeit von 95 % und einer Temperatur von 20° Celsius in dieser Kammer. Diese Zeit war zu veranschlagen, damit das Pergament einerseits im nötigen Umfang Feuchtigkeit aufnehmen konnte, ohne dass andererseits die Beschriftung in Gefahr geriet. Die Befeuchtung bot auch und zunächst die Gelegenheit, die 1954 auf den ersten vier Blättern aufgebrachten Beklebungen mit Japanpapier abzunehmen. Der eigentli-
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che Zweck der Befeuchtung lag aber darin, die dadurch ausreichend weich und flexibel gewordenen Pergamentblätter der Liederhandschrift glätten zu können. Sobald ein (Doppel-) Blatt die nötige Feuchtigkeit aufgenommen hatte, wurde es aus der Klimakammer genommen und umgehend auf einem Tisch, der mit einer weichen Auflage aus Polypropylenfilz und Holitex versehen war, vorsichtig auf das eigentliche Außenmaß gedehnt, das sich nach vorsichtigem Glattstreichen aller großen Falten und etwa 90 % der mittleren und kleinen Falten wieder ergab. Auf das restlose Entfernen kleinerer Falten wurde dort verzichtet, wo man das unbedingt angeratene Höchstmaß an Kraftausübung hätte überschreiten müssen. Die geglätteten Pergamente wurden an den Rändern mit Gewichten fixiert und nach kurzem Trocknen zwischen Filterpapier und Holitex leicht gepresst. Halbstündliches Wechseln des Filterkartons entzog dem Pergament die überschüssige Feuchtigkeit. Nach jeweils fünf Stunden Trocknung konnten die Pergamente wieder an den vorgegebenen Stellen gefalzt werden. Um einen scharfen Knick im Falzbereich zu vermeiden, wurden in jedes Doppelblatt zwei Filterkartons und Holitex eingelegt. Die anschließende Endpressung der Pergamente erfolgte über einen Zeitraum von zwei Wochen, wobei Filterkarton und Holitex täglich ausgewechselt wurden. Anschließend wurden Risse im Randbereich der Pergamente, die bei der Schadenserfassung erkannt worden waren, geschlossen, indem dort beidseitig Goldschlägerhaut mit Pergamentleim aufgeklebt wurde. Außerdem wurden noch verbliebene Klebstoffreste von 1954 auf den ersten vier Blättern der Handschrift abgenommen. Danach konnten die Einzel- und Doppelblätter wieder in die ursprüngliche Lagenreihenfolge gebracht werden. Durch behutsames Pressen wurde der Buchblock bis zur Fertigstellung der Arbeiten am Einband in der erlangten Form gehalten. Zuvor waren die Außenmaße des Buchblocks in seiner geglätteten, also der aktuellen Form gemessen worden. Da die einzelnen Pergamentblätter wie üblich materialbedingt leichte Abweichungen aufweisen, wurde das Mittel errechnet. Der Buchblock der ›Jenaer Liederhandschrift‹ ist demnach 56,0 cm hoch, 41,7 cm breit und 3 cm dick. Das Glätten der Pergamente ließ unverhofft einen weiteren wichtigen Aspekt der Geschichte der ›Jenaer Liederhandschrift‹ sichtbar werden. Nachdem Wolfgang Schreiber um 1540 den Buchblock zum Binden erhalten hatte, beschnitt er ihn – wie vielfach üblich – an allen drei Außenseiten. Beim Glätten der Handschrift wurde nun deutlich, wieviel damals weggeschnitten wurde, mit anderen Worten, welches Format die Handschrift in ihrer ursprünglichen Gestalt des 14. Jahrhunderts aufwies. Dem kam dabei zugute, dass Schreiber oder ein Mitglied seiner Werkstatt den Beschnitt flüchtig und daher nicht allzu präzise vorgenommen hatte. Einige wegen schlechter Lagerung der Handschrift eingefaltete Ecken und Kanten an den Blatträndern wurden vom Beschneidhobel nicht erfasst und blieben daher eingefaltet. 2007 wurden sie beim Glätten nach außen geklappt, vermessen und nach der Digitalisierung (s. u.) wieder eingefaltet. Das angefügte Lagenschema dokumentiert die Positionen dieser Faltstellen, die auf fol. 23 (an der oberen Ecke), fol. 79 (Vorderschnitt) und fol. 98 (unterer Blattrand am Falz) besonders auffällig sind. Nach Maßgabe der jeweils am stärksten aus der Flucht der heutigen Schnitte ragenden Faltstellen war der Buchblock der ›Jenaer Liederhandschrift‹ ursprünglich am Kopf- und am Vorderschnitt um je 5 mm sowie am Fußschnitt um 11 mm größer als heute.
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Digitalisierung und UV-Licht-Analyse Als die ›Jenaer Liederhandschrift‹ vollständig auseinander genommen und sämtliche Pergamentblätter des Buchblocks gereinigt und geglättet worden waren, also inmitten des Restaurierungsprozesses, war der Moment gekommen, den Codex digitalisieren zu können. Denn er konnte jetzt ungebunden Blatt für Blatt, Einzelseite für Einzelseite digitalisiert werden, hinzu kamen der Einband, die Vorsätze und die Makulatur. Dabei stand die Notwendigkeit größtmöglicher Schonung der Handschrift im Vordergrund. Da die Pergamentblätter dank der Glättung plan auf der Auflage des Scanners lagen und somit einschließlich der Falzbereiche restlos ausgeleuchtet werden konnten, wurde das denkbar beste dokumentarische Ergebnis erzielt. Dies wäre nicht möglich geworden, hätte man die Handschrift im gebundenen Zustand digitalisieren müssen. Die in einem solchen Fall üblichen Probleme, insbesondere dass die tieferen Falzregionen kaum erreichbar sind und beim Aufschlagen eines Buches im Bundstegbereich eine Wulstbildung und damit optische Deformierung entsteht, kamen dadurch gar nicht erst auf. Das Vorhaben wurde in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena von den Spezialisten des dortigen Digitalisierungszentrums in Zusammenarbeit mit der Abteilung Handschriften und Sondersammlungen und der Restaurierungswerkstatt umgesetzt. Die Aufnahmen wurden berührungsfrei auf einem Auflichtscanner14 unter Lauflicht angefertigt, gestützt durch ein Farbmanagement. Pro Seite, also pro Digitalisat, waren rund zehn Minuten Vorbereitungszeit und fünf Minuten reine Digitalisierungszeit zu veranschlagen. Stets beigelegt wurden ein Graustufen- und ein Farbkeil mit Maßleiste, so dass die Farben der Handschrift jederzeit exakt errechenbar sind. Mit einer Auflösung von 600 dpi wurde den derzeitigen Forderungen mit Blick auf herausragende Kulturschätze entsprochen, aber auch ein arbeits- und speicherplatzökonomisch sinnvolles Maß eingehalten, zumal hiermit eine ausreichende Vergrößerung auch kleiner Details der Liederhandschrift erreicht werden kann. Eine komplette Farbreproduktion der ›Jenaer Liederhandschrift‹ war stets ein Desiderat gewesen.15 Dank der Digitalisierung der Handschrift konnte dieser aus Sicht der Forschung wie aus konservatorisch-dokumentarischer Perspektive sehr missliche Zustand überwunden werden. Die Liederhandschrift selbst darf künftig noch stärkere Schonung als zuvor erfahren, da sich triftige Anliegen auf Benutzung des Originals kaum noch ergeben werden. Denn inzwischen sind die Digitalisate in der über die University Multimedia Electronic Library (UrMEL) aufrufbaren Internetpräsentation der ›Jenaer Liederhandschrift‹ frei zugänglich einsehbar.16 Der auseinander genommene Buchblock bot auch die Gelegenheit, sämtliche Pergamentblätter unter UV-Licht auf Rasuren, Blindgriffel-Einträge oder sonstige versteckte Elemente hin bequem untersuchen zu können. Die Quarzlampe brachte zwar kaum mehr
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Cruse CS 90, modular ausstattbarer multifunktionaler Scanner mit patentiertem Synchronlicht inklusive Texturmodus, automatisches Lichtkorrekturprogramm, Color 24 bit und Graustufen 8 bit sowie schwarz-weiß; bis Format DIN-A1 600 dpi leistbar; Buchwippe für Bücher bis zu einer Dicke von 30 cm. Vgl. dazu den Beitrag von Joachim Ott zur Verwahr- und Benutzungsgeschichte der ›Jenaer Liederhandschrift‹ in diesem Band. http://www.urmel-dl.de/SonstigeProjekte/Jenaer Liederhandschrift.html
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zum Vorschein, als es der Augenschein schon vermuten ließ, und ein verborgenes Geheimnis großer Tragweite fand sich nicht. Doch waren es neben der einen oder anderen mit bloßem Auge nicht sichtbaren Blindgriffelprobe oder getilgten kleineren Randnotiz namentlich die zahlreichen Korrekturen der Schreiber wie auch späterer Leser auf Rasur, die viel deutlicher als zuvor erkennbar wurden und die den Werdegang der Beschriftung der Liederhandschrift sehr gut nachvollziehen lassen. So ist etwa vielfach nachweisbar, dass ein besonders penibler Korrektor nicht lange nach der Entstehung der Handschrift Verbesserungen, die er bereits vorfand, an ihm offenbar (ästhetisch?) passender erscheinende Stellen auf gleicher Höhe übertrug, um dann die früheren Korrekturen zu tilgen. Alle Korrekturen und Ergänzungen einzeln zu dokumentieren und zu bewerten, konnte nicht Aufgabe der Restaurierung sein, sondern wäre eine Teilaufgabe einer Neuedition der ›Jenaer Liederhandschrift‹.17
Restaurierung des Einbands Nach Abschluss der Arbeiten an dem auseinander genommenen Buchblock stand die Aufgabe an, den gleichfalls bereits zerlegten Einband der ›Jenaer Liederhandschrift‹ zu restaurieren. Ein erster Schritt war, sämtliche 1954 angebrachten Unterlegungen und Überklebungen der Risse und Fehlstellen des Leders mit dem Skalpell trocken abzunehmen. Leimspuren mussten dabei mit Methylcellulose-Kompressen angequollen werden, um sie entfernen zu können. Des Weiteren wurden die auf den Deckelinnenseiten in Resten noch in situ befindlichen ursprünglichen Papierspiegel aus der Zeit um 1540 (s. o.) nach vorsichtigem Befeuchten abgenommen. Zuvor war ihre genaue Position durch Skizzen festgehalten worden. Sie wurden daraufhin, ebenso wie die schon zuvor abgenommenen Spiegel- und Vorsatzpapiere der Restaurierung von 1954, eine halbe Stunde lang bei einer Wassertemperatur von 30° Celsius gebadet. Dies bereitete die Grundlage, in den jüngeren Papieren Fehlstellen mit Cellulosefaser ausfüllen zu können. Zusätzliches rückseitiges Aufkleben von Japanpapier (Paper Nao 9 g/qm Kozo-Faser) diente der weiteren Stabilisierung der Spiegelpapiere. Als Ersatz für die nicht wieder eingesetzten ursprünglichen Ansatzfalze aus Pergament (s. o.) wurden neue Pergamentfalze angefertigt. Einer separaten Behandlung mussten die verzogenen Holzdeckel unterzogen werden. Beide Deckel bestehen aus je zwei Buchenholzbrettern. Diese sind mit Hilfe von sich in der Mitte verjüngenden Buchenholzkeilen verstrebt, die vorder- und rückseitig versetzt längs der Schmalseiten mit einigem Abstand zum Rand eingelassen sind. Dadurch verlieh der Wittenberger Buchbinder Wolfgang Schreiber den großen Holzflächen höhere Stabilität, was er noch verstärkte, indem er über die Fugen zwischen den Brettern großflächig Hanffaser zur zusätzlichen Stabilisierung verklebte. Diese Maßnahmen wurden erkennbar, als zuletzt auch Schreibers Spiegelmaterial abgelöst war. Entfernt wurden außerdem Ergänzungen von 1954 an den Deckelecken. Dort waren damals an den Vorderkanten Messingblech-Streifen eingeschlagen und mit Holzkitt Fehlstellen ergänzt worden. Die Leimabdrucke der verlorenen Makulatur auf dem Holz (s. o.) wurden mit Methylcellulose (MH 300) fixiert. Damit waren sie beim anschließenden Wässern der
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Vgl. zu Korrekturen in der Liederhandschrift Pickerodt-Uthleb (1975), S. 234–239.
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Deckel, das Leim- und Hanffaserreste der Reparaturen Heilands abzulösen half, gegen Substanzverlust geschützt. Die Holzdeckel verblieben 20 Minuten in 60° Celsius heißem Wasser und wurden anschließend an der Luft getrocknet. Nach nochmaligem leichtem Befeuchten wurden die Deckel vier Tage lang zwischen Filterkarton leicht gepresst. Im Anschluss daran wurden Fehlstellen im Holz mit acetonlöslichem Holzkitt ausgefüllt und verschliffen, und Gelatine (Speisegelatine Gelita 220 Bloom) wurde in die Fugen eingebracht. Letztere wurden zur zusätzlichen Festigung beidseitig mit dünnem Kalbspergament überklebt. Als Klebstoff diente Methylcellulose.
Zusammenfügen der Handschrift Nach Beendigung der geschilderten Arbeiten an Buchblock und Einband konnte damit begonnen werden, die Liederhandschrift wieder zusammenzufügen. Am Beginn stand das Heften des Buchblocks, nach alter Tradition auf einer hölzernen Heftlade mit gewachstem Heftfaden und Hanfschnur für die Bünde (Abb. 7). Es wurde selbstverständlich auf die überlieferten Heftlöcher zurückgegriffen, so dass der Buchblock wieder auf die sieben Doppelbünde und zwei Fitzbünde geheftet wurde. Der Buchblock wurde dann, zwischen Holzbrettern sitzend, mit Hilfe von Schraubzwingen fixiert und konnte so am Rücken beleimt und hinterklebt werden. Als Leim wurde Gelatine verwendet (Speisegelatine Gelita 220 Bloom), für die Hinterklebung doppelt gelegtes Baumwollgewebe. Anschließend wurden die originalen Kapitale der Wittenberger Bindung vorsichtig mit Wattetupfern gereinigt und mit Gelatine angeklebt. An den solchermaßen vorbereiteten Buchblock wurden zunächst die beiden Holzdeckel in der Originalposition montiert. Die Bünde wurden durch die Deckellöcher und Kanäle gezogen und mit Gelatine verklebt (Abb. 8). Bevor das Deckelleder wieder angebracht werden konnte, mussten daran einige restauratorische Maßnahmen getroffen werden. Das Leder wurde trocken abradiert (Radierpulver DCP 3). Auch waren die Lederränder an den zu unterlegenden Fehlstellen, also im Bereich der Einbandecken und der Rückenfalze, mit dem Skalpell vorsichtig auszuschärfen. Für sämtliche Fehlstellen des Leders wurden formgerechte Unterlegungsstücke aus vegetabilisch gegerbtem Schweinsleder zugeschnitten und deren Ränder ausgeschärft. Diese Teile wurden auf dem Deckelholz passgenau mit Methylcellulose (MH 300) angeklebt. Insbesondere wurde der gesamte Buchrücken zu seiner besseren Stabilisierung mit Unterlegungsleder bezogen und entsprechend dem Originalbefund abgebunden. Nun konnte das historische Leder wieder aufgebracht werden. Zunächst wurden die Deckelflächen bei sparsamer Befeuchtung bezogen und ihrerseits mit Methylcellulose aufgeklebt. Der Buchkörper wurde daraufhin zwischen Schaumgummimatten behutsam fixiert. Nachdem die Lederflächen an den Deckeln getrocknet waren, konnte auch das Rückenleder, das durch den alten Riss (s. o.) geteilt war, aufgeklebt und entsprechend der Originalabdrücke abgebunden werden. Wie sehr sich die Stabilität wie auch die Ästhetik der Handschrift gegenüber dem Vorzustand gebessert hatten, erweist insbesondere ein Blick auf die Kapitalbereiche (Abb. 2–3, 9). Die letzten Arbeitsschritte standen an. Zunächst mussten die Gelenkbereiche der Schließenriemen gefestigt werden. Hierzu wurde Methylcellulose (MH 300) unter das Leder der Riemen gestrichen. Die Verklebungen trockneten unter leichtem Druck. Mit Messingnägeln, deren Köpfe leicht abgeflacht worden waren, wurden die Schließentei-
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le an den Deckeln befestigt. Dann konnte die alte Wittenberger Kette der Liederhandschrift wieder an ihrer Stelle, zentral am Kopf des hinteren Deckels, positioniert und angenietet werden. Die zu Beginn der Restaurierung entfernten, von 1954 stammenden Eisenstifte der Kettenbefestigung wurden durch neue Eisenstifte ersetzt. Anschließend folgte die Retusche des neuen Schweinsleders der Unterklebungen, um eine farbliche Angleichung an das Originalleder zu erzielen. Hierzu wurde Lederfarbe verwendet. Im nächsten Schritt wurden die Flügel der Baumwollhinterklebung, die neuen Ansatzfalze und auch der Verbund der 1954 eingebrachten Spiegelpapiere an ihren alten Positionen mit Methylcellulose (MH 300) auf die Deckelinnenseiten geklebt. Das vormals unter diesen neueren Spiegeln gelegene Fragment des ursprünglichen hinteren Spiegels aus der Zeit um 1540 wurde an dieselbe Position, nun allerdings über Heilands Spiegelmaterial geklebt, so dass es jetzt freiliegt. Bei den alten Spiegelfragmenten auf dem vorderen Deckel wurde wegen deren sehr geringfügigem Umfang darauf verzichtet, sie wieder aufzukleben, sondern entschieden, sie separat zu verwahren. Als zuletzt das Holzschnitt-Porträt Johann Friedrichs I. mit Methylcellulose (MH 300) wieder auf den vorderen Spiegel geklebt worden war,18 hatte – mit der Rückkehr des großen Förderers der Wittenberger Bibliotheca Electoralis, wenn man so will – die Restaurierung der ›Jenaer Liederhandschrift‹ zu ihrem Ende gefunden (Abb. 11).
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Gleiches gilt für den Notizzettel von 1826 rechts daneben, vgl. Anm. 9. Die bei Pensel (1986), S. 309 genannten Dokumente, die vormals im hinteren Spiegel eingeklebt waren – der Restaurierungsbericht von 1954 und zwei Zeitungsausschnitte –, werden jetzt separat verwahrt, da ihr Vorhandensein in der Handschrift keinen Sinn ergibt und zudem die säurehaltigen Papiere dieser Dokumente substanzgefährdend wären. Ein vormals unten am Rücken befindliches, nicht eben schmückendes kleines Signaturschild aus Papier, das frühestens 1980, als die Liederhandschrift ihre Signatur erhielt, entstanden sein kann, wurde ebenfalls nicht wieder aufgeklebt. Auf die Anfertigung eines neuen Signaturschilds wurde verzichtet.
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Abb. 1 ›Jenaer Liederhandschrift‹ (ThULB Jena, Ms. El. f. 101), Zustand vor der Restaurierung: beschädigte Einbandecken mit Hanfverklebungen
Abb. 2 ›Jenaer Liederhandschrift‹ (ThULB Jena, Ms. El. f. 101), Zustand vor der Restaurierung: beschädigter Fußbereich mit Hanfverklebungen
Die Restaurierung und Digitalisierung der ›Jenaer Liederhandschrift‹ im Jahr 2007
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Abb. 3 ›Jenaer Liederhandschrift‹ (ThULB Jena, Ms. El. f. 101), Zustand vor der Restaurierung: beschädigter unterer Kapitalbereich
Abb. 4 ›Jenaer Liederhandschrift‹ (ThULB Jena, Ms. El. f. 101), Zustand vor der Restaurierung: Doppelseite 1v–2r mit Faltenbildung und Überklebungen
18
Susanne Kull / Joachim Ott / Frank Schieferdecker
Abb. 5 ›Jenaer Liederhandschrift‹ (ThULB Jena, Ms. El. f. 101), Restaurierung: Trockenreinigung mit Radierpulver
Abb. 6 ›Jenaer Liederhandschrift‹ (ThULB Jena, Ms. El. f. 101), Restaurierung: Befeuchten der Pergamente
Die Restaurierung und Digitalisierung der ›Jenaer Liederhandschrift‹ im Jahr 2007
19
Abb. 7 ›Jenaer Liederhandschrift‹ (ThULB Jena, Ms. El. f. 101), Restaurierung: Heften des Buchblocks
Abb. 8 ›Jenaer Liederhandschrift‹ (ThULB Jena, Ms. El. f. 101), Restaurierung: Buchblock mit Holzdeckeln vor dem Beziehen mit dem Deckelleder
20
Susanne Kull / Joachim Ott / Frank Schieferdecker
Abb. 9 ›Jenaer Liederhandschrift‹ (ThULB Jena, Ms. El. f. 101), restaurierter unterer Kapitalbereich
Abb. 10 ›Jenaer Liederhandschrift‹ (ThULB Jena, Ms. El. f. 101), von Rücken und Gelenken abgelöste Makulatur
Abb. 11 ›Jenaer Liederhandschrift‹ (ThULB Jena, Ms. El. f. 101), Zustand nach der Restaurierung (70v–71r)
Die Restaurierung und Digitalisierung der ›Jenaer Liederhandschrift‹ im Jahr 2007
21
22
Susanne Kull / Joachim Ott / Frank Schieferdecker
LAGENSCHEMA DER ›JENAER LIEDERHANDSCHRIFT‹ Leim der Wittenberger Bindung (um 1540) Einfaltungen (Hinweise auf ursprüngliches Blattformat) Leimreste einer früheren Bindung (14. Jahrhundert?) ursprüngliche Heftlöcher, seit der Wittenberger Bindung versetzt positioniert
Lage 1
2
3
4
Gegenblatt zu Bl. 8 (ehem. Bl. 1) fehlt (Textverlust); weiterer Textverlust vor Lage 1 nicht auszuschließen Bl. 6 Einfaltung am unteren Blattrand links (5 mm über Fußschnitt hinaus)
Lage 2
Lage 3
8
7
6
5
9
10
11
12
16
15
14
13
17
18
19
20
Bl. 23 Einfaltung an der rechten oberen Ecke (2 mm über Kopfschnitt, 5 mm über Vorderschnitt hinaus)
Lage 4
24
23
22
21
25
26
27
28
Gegenblatt zu Bl. 25 (ehem. Bl. 32) fehlt (Textverlust)
31
30
29
Bl. 28 / 29 Pergamentriemchen in zwei kleinen Heftlöchern zwischen zweitem und drittem Bund von unten vorgefunden: Rest der provisorischen Bindung bei Entstehung der Handschrift (vgl. Heftlochschema)
23
Die Restaurierung und Digitalisierung der ›Jenaer Liederhandschrift‹ im Jahr 2007
Lage 5
34
35
36
Gegenblatt zu Bl. 40 (ehem. Bl. 33) fehlt (Textverlust)
Lage 6
40
39
38
41
42
43
37
Bl. 43 Einfaltung am oberen Blattrand links (5 mm über Kopfschnitt hinaus) Bl. 44 Einfaltung am oberen Blattrand links (2 mm über Kopfschnitt hinaus)
Lage 7
Lage 8
Bl. 45 Einfaltung am unteren Blattrand links (Quetschfalte)
46
45
44
47
48
49
50
54
53
52
51
56
55
57
Gegenblätter zu Bl. 60, Bl. 58 (kein Textverlust) und Bl. 57 (Textverlust) fehlen am Steg zu Bl. 60 Einfaltung am Fuß (2 mm über Fußschnitt hinaus)
Lage 9
61
60
62
63
59
58
Bl. 58 ursprüngliche Heftlöcher um 15 mm gegenüber jenen der Wittenberger Bindung versetzt
64
Gegenblatt zu Bl. 66 fehlt (kein Textverlust) Bl. 66 ursprüngliche Heftlöcher um 19 mm gegenüber jenen der Wittenberger Bindung versetzt 62
63
68
67
64
ursprüngliche Form Lage 9 (vgl. Lage 10) 68
67
66
65
69
66
65
24
Lage 10
Susanne Kull / Joachim Ott / Frank Schieferdecker 69
70
71
72
Gegenblätter zu Bl. 72 (Textverlust) und Bl. 69 (kein Textverlust) fehlen; Bl. 69 ursprüngliche Heftlöcher um 5 mm gegenüber jenen der Wittenberger Bindung versetzt; älterer Leim auf Außenfalz Bl. 70/74 und Steg zu Bl. 69, das ursprünglich Lage 9 zugehörte 70 71 72 74
ursprüngliche Form Lage 10 (vgl. Lage 9)
73
72vb – 80vb Wizlav-Nachtrag 74
Lage 11
75
76
73
77
Gegenblätter zu Bl. 79 und Bl. 75 fehlen (jeweils Textverlust); weiterer Textverlust nach Lage 11 möglich Bl. 78 Einfaltung an der rechten Kante oben (3 mm über Vorderschnitt hinaus)
Lage 12
81
80
79
78
82
83
84
Bl. 79 Einfaltung an der rechten Kante (5 mm über Vorderschnitt hinaus)
Gegenblätter zu Bl. 82 und Bl. 83 fehlen (jeweils Textverlust)
85
86
Lage 13
87
88
89
90
Gegenblatt zu Bl. 88 fehlt (Textverlust)
93
Lage 14
94
95
92
91
96
97
Bl. 98 Einfaltung am unteren Blattrand links (11 mm über Fußschnitt hinaus)
101
100
99
98
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Lage 15
25
102
Gegenblatt zu Bl. 103 fehlt (Textverlust); weiterer Textverlust in der Lage möglich Steg zu Bl. 103 an Bl. 102 geklebt vorgefunden; Leim nicht identisch mit dem der Wittenberger Bindung, wahrscheinlich jüngeren Datums
Lage 16
Lage 17
Lage 18
104
103
105
106
107
108
112
111
110
109
113
114
115
116
120
119
118
117
121
122
123
124
Bl. 126 Einfaltung im Falzbereich
Lage 19
128
127
126
125
129
130
131
132
ehemaliges inneres Doppelblatt der Lage fehlt (Textverlust)
136
135
134
133
Textverlust nach Lage 19
26
Susanne Kull / Joachim Ott / Frank Schieferdecker
HEFTLOCHSCHEMA DER ›JENAER LIEDERHANDSCHRIFT‹ Heftloch am Doppelbund, geschlitzt / gelocht Heftloch am Fitzbund, geschlitzt / gelocht Heftloch provisorische Bindung, vertikal geschlitzt / horizontal geschlitzt / gelocht 10 cm
Kopfschnitt (0 cm) 2,2 Bl.
/8
Bl. 3 / 6 Bl. 4 / 5
Bl. 9 / 16
Bl. 11 / 14 Bl. 12 / 13
4,8
41,7
28,5
48,7 52,8
35,3 38,5 39,5
4,3
38,7 39,7
5,3
40,0
5,3
39,7
5,3 5,3
Bl. 20 / 21
39,7 39,7
40,7
38,1
39,1
38,1
39,1
38,4
39,1
38,4
39,1
Lage 3
Bl. 19 / 22
39,0 39,9
Bl. 25 / 5,4
39,0 39,9
5,4
39,0 39,9
5,1
Lage 4
Bl. 28 / 29
34,5
4,3
Bl. 18 / 23
Bl. 27 / 30
27,4
34,0
Bl. 17 / 24
Bl. 26 / 31
20,4
Lage 2
Bl. 10 / 15
13,4
Lage 1
Bl. 2 / 7
6,2 4,5
Fußschnitt (56,0 cm)
39,0 39,9
Pergamentriemchen in situ vorgefunden Bl.
/ 40
Bl. 35 / 38 Bl. 36 / 37
Bl. 42 / 45 Bl. 43 / 44
6,7 7,4
40,0 40,7
6,7 7,4
40,0 40,7
6,7 7,4
40,0 40,7
4,2 4,8
40,5
4,2 4,8
40,5
4,2 4,8
40,5
Lage 6
Bl. 41 / 46
40,0 40,7
Lage 5
Bl. 34 / 39
6,7 7,4
27
Die Restaurierung und Digitalisierung der ›Jenaer Liederhandschrift‹ im Jahr 2007
Kopfschnitt (0 cm) 2,2
Bl. 47 / 54
Bl. 49 / 52 Bl. 50 / 51
Bl. 55 / 61 / 60
Bl. 56 / 59 Bl.
20,4
27,4
34,5
41,7
48,7 52,8
42,6
5,6 6,4
42,6
5,6 6,4
42,6
5,6 6,4
42,6
5,8
39,4 40,2
5,8
39,4 40,2
5,8
39,4 40,2
5,8 6,5
39,4 40,2
Lage 8
Bl.
13,4
5,6 6,4
Lage 7
Bl. 48 / 53
6,2
Fußschnitt (56,0 cm)
39,4 40,2
/ 58*
Bl. 57 /
Bl. 62 / 68
Bl.
/ 66*
Bl. 64 / 65
5,6 5,6
Lage 9
Bl. 63 / 67
5,6
40,6
5,6
Bl. 69* /
Bl. 71 / 73 Bl. 72 /
4,9 5,7
40,7
4,6 5,3
40,1 40,7
4,6 5,3
40,1 40,7
Lage 10
Bl. 70 / 74
72vb – 80vb Wizlav-Nachtrag Bl. 75 /
Bl.
/ 79
4,3 5,3
Lage 11
Bl. 76 / 80
4,0 4,6
Bl. 77 / 78
Bl. 81 / 86
Bl. 83 / Bl. 84 / 85
41,2 42,0
6,0 6,8
41,2
6,0 6,8
41,2 42,0
6,0 6,8
41,2
42,0 43,0
42,0 43,0
55,0 50,4 50,4
53,8 55,0
55,0 53,8 55,0
* Bl. 58, 66 und 69 wurden bei der Wittenberger Bindung um 1540 neu gefalzt und mit neuen Heftlöchern versehen. Die ursprünglichen Heftlöcher befinden sich deswegen – um 15 mm (Bl. 58), 19 mm (Bl. 66) beziehungsweise 5 mm (Bl. 69) gegenüber der Wittenberger Bindung versetzt – jeweils auf dem vom abgeschnittenen Gegenblatt übrig gebliebenen Steg.
Lage 12
Bl. 82 /
6,0 6,8
28
Susanne Kull / Joachim Ott / Frank Schieferdecker
Kopfschnitt (0 cm) 2,2
6,2
Bl. 87 / 93
Bl. 89 / 92 Bl. 90 / 91
Bl. 94 / 101
Bl. 96 / 99 Bl. 97 / 98
27,4
34,5
41,7 39,2 40,2
5,2
39,2 40,2
5,2
39,2 40,2
5,2
39,2 40,2
5,2 5,7
22,8
40,0 41,0
4,9 5,7
22,8
39,7 41,0
4,9 5,7
22,8
40,0 41,0
4,9 5,7
22,8
39,7 40,8
48,1
5,8 6,8
Bl.
47,7
/ 103
Bl. 105 / 112
Bl. 107 / 110 Bl. 108 / 109
Bl. 113 / 120
Bl. 115 / 118
41,2
5,6 6,5
40,8
6,5
40,8
6,7 7,2
40,3
6,9 7,5
40,0 40,3
6,9 7,2
40,3
6,7 7,2
40,0
Lage 17
Bl. 114 / 119
40,8
6,5
Lage 16
Bl. 106 / 111
5,6 6,5
Lage 15
5,8 6,8
Bl. 102 / 104
48,7 52,8
Lage 14
Bl. 95 / 100
20,4
5,2
Lage 13
Bl. 88 /
13,4
Fußschnitt (56,0 cm)
Bl. 116 / 117
39,8 40,4
Bl. 121 / 128
Bl. 123 / 126 Bl. 124 / 125
Bl. 129 / 136
Bl. 131 / 134 Bl. 132 / 133
39,8 40,4
7,0
39,8 40,4
1,9 2,2 5,9 7,2 2,2
6,2 7,5
1,9
5,9 7,2
1,9
5,9 7,2
42,8 42,6 42,6 42,6 42,8
Lage 19
Bl. 130 / 135
39,8 40,4
7,0
Lage 18
Bl. 122 / 127
7,0
29
LUISE CZAJKOWSKI
Die Sprache der ›Jenaer Liederhandschrift‹
Wenn es in der Forschung um die ›Jenaer Liederhandschrift‹ geht, stehen meist der Inhalt und die Noten, also literatur- und musikwissenschaftliche Fragen im Vordergrund. Über die Sprache der ›Jenaer Liederhandschrift‹ sind dagegen oft nur Verweise auf die umfassende, aber eben schon recht alte und bisweilen auch unsystematische Arbeit von Karl Bartsch aus dem Jahr 1923 zu finden.1 Bartsch hatte damals sehr detailreich die dialektalen Merkmale in J aufgeschlüsselt und auf diese Weise versucht, die Heimat der Handschrift zu bestimmen. Im Jahr 1987 veröffentlichte dann Thomas Klein neuere Erkenntnisse.2 Doch seitdem ist die Sprache in J kaum weiter untersucht worden. Das sei nun an dieser Stelle nachgeholt. Dazu sollen zunächst einmal die Haupterkenntnisse von Bartsch neu zusammengestellt und soll somit ein Überblick über die Sprache in J geschaffen werden, um dann, in einem zweiten Schritt, mit Hilfe der Erkenntnisse Kleins neue Überlegungen anzustellen. Viele Angaben von Bartsch wurden mithilfe des Faksimiles von Tervooren3 überprüft. Der Abdruck des Textes, den Holz schon 1901 vorgelegt hat,4 ist aber für sprachliche Analysen nur bedingt geeignet. Eine neue, digitale Edition des gesamten Textkorpus (mithilfe der nun zur Verfügung stehenden Digitalisate der restaurierten Handschrift) wäre wünschenswert. Damit wäre auch eine umfassende neue (statistische) Untersuchung der Sprache möglich. Denn die Erkenntnisse von Bartsch erweisen sich als zum Teil einseitig und unzureichend, zum Teil sogar als falsch. Deshalb sei an dieser Stelle auch nicht alles wiederholt, was Bartsch über die Sprache von J geschrieben hat, sondern es werden hier lediglich einige Punkte erwähnt, die Bartschs Conclusio betreffen, nämlich dass in der Handschrift zwar »durchaus die schriftsprachlichen Formen Mitteldeutschlands« herrschen, dass aber »das gesamte, in unserer Hs. und ihren Verwandten vorliegende Schriftwerk auf ndd. Boden aus der Hand ndd. Schreiber hervorgegangen ist«.5 Niederdeutsche Merkmale in einem sonst mitteldeutschen Text, der zudem auch noch einst in Wittenberg gelegen hat, lassen sofort an den niederdeutsch-ostmitteldeutschen Interferenzraum denken. Doch davon sei später noch die Rede.
1 2 3 4 5
Bartsch (1923). Klein (1987), S. 72–112. Tervooren/Müller (1972). Holz (1901). Bartsch (1923), S. 4.
30
Luise Czajkowski
Schreibsprache Die Sprache von J zeigt zunächst die Merkmale der mitteldeutschen Schreibsprache6: Zum einen kam sie in dieser Form nicht als natürliche Sprache vor, und zum anderen ist sie relativ gleichförmig, obwohl es sich um Texte verschiedener Autoren aus sehr verschiedenen Regionen mit ihren Dialekten (von oberdeutsch bis niederdeutsch) handelt.7 Eine größere Ausnahme stellt höchstens der Wizlav-Einschub dar, in dem übermäßig viele mundartliche Formen zu finden sind und der sprachlich demnach nicht in dem Maße angepasst ist wie die anderen Texte.8 Bestimmte Lautphänomene des damaligen Ostmitteldeutschen wurden in der Schreibsprache (und damit eben auch in J) konsequent vermieden.9 So findet man etwa die mitteldeutsche Monophthongierung von /ie/ zu /Ư/10 nur in Einzelfällen (z. B. Lib, Frauenlob 85 [fol. 111va]), und ob die Wiedergabe des alten Diphthongs /uo/ als immer für den neuen Monophthong steht, ist eher fraglich.11 Auch die Diphthonge /ou/ und /ei/, die in weiten Teilen des Mitteldeutschen zu /ǀ/ und /Ɲ/ werden,12 sind in J bis auf wenige Ausnahmen (z. B. kristenhet, Stolle 23 [fol. 5vb]) bewahrt. Die Senkung von /i/ zu /e/ und von /u/ zu /o/13 ist schon häufiger zu finden (z. B. erdescher, dorst). Anders herum begegnen in J aber auch Hebungen /e/ > /i/ (z. B. wyrme, Frauenlob 59 [fol. 107rb]) und /o/ > /u/, was zum Teil auf hyperkorrekte Schreibungen schließen oder, im Fall der Partizipien der helfen-Klasse, sogar schon an das Mittelniederdeutsche denken lässt (z. B. gehulfen, beschulten).14 Weiterhin vermisst man in J die typisch ostmitteldeutschen Merkmale wie vor allem /t/ für /d/15, das gehäuft nur beim Meißner (z. B. dauites 15 [fol. 83ra]; tynkel 103 [fol. 96va]) zu finden ist, und das besonders typische /a/ für /o/16 in adir für ›oder‹ und ab für ›ob‹, die in J überhaupt nicht in Erscheinung treten. Mhd. /ԅ/ wird außerdem nicht – wie
6 7 8 9 10
11
12 13 14
15 16
Bartsch (1923), S. 92 u. ö. hatte diese Schreibsprache »Schriftmitteldeutsch« genannt. Vgl. dazu Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Band 1: Einführung – Grundbegriffe – 14. bis 16. Jahrhundert. Berlin/New York 2000, S. 114f. Vgl. auch Wachinger (1983). Vgl. dazu von Polenz (Anm. 7), S. 153. Vgl. Hermann Paul: Mittelhochdeutsche Grammatik, 25. Aufl., bearb. von Thomas Klein, HansJoachim Solms und Klaus-Peter Wegera, Tübingen 2007 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte, A. Hauptreihe Nr. 2), S. 107 und Günter Feudel: Das Evangelistar der Berliner Handschrift Ms. germ. 4° 533, II. Teil, Berlin 1961 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 23/II), S. 45. Die Frage nach der Bedeutung von Ĥ wird in der Forschung immer wieder diskutiert. Sie ist für jeden Text wieder neu zu stellen. Bartsch (1923), S. 8 erklärt den Umstand, dass kurzes u vor r zu o, Ĥ hingegen nicht gebrochen wurde, als Schreibgewohnheit und setzt u = u, ü und Ĥ = uo, üe. Die zahlreichen mĤgen – mĤchte-Formen ignoriert er und erklärt die Fehler als vorlagenbedingt. Vgl. Mhd. Grammatik (Anm. 10), S. 103f., Feudel (Anm. 10), S. 40ff. Vgl. Mhd. Grammatik (Anm. 10), S. 86, Feudel (Anm. 10), S. 36 und 40. Vgl. Bartsch (1923), S. 8 und John Evert Härd: Morphologie des Mittelniederdeutschen. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, hg. von Werner Besch. Bd. 2.2, 2. Aufl. Berlin/New York 2000, S. 1431–1435, hier S. 1434. Vgl. Mhd. Grammatik (Anm. 10), S. 166, Feudel (Anm. 10), S. 103. Vgl. Mhd. Grammatik (Anm. 10), S. 53, Feudel (Anm. 10), S. 23f.
Die Sprache der ›Jenaer Liederhandschrift‹
31
sonst im Ostmitteldeutschen üblich – ausschließlich zu /nj/17, sondern bleibt auch als stehen. Und die dentale Affrikata zeigt sich im Ostmitteldeutschen eher als oder 18, selten aber nur – wie in J (außer beim Goldener-Nachtrag) – als . Auffällig ist auch, dass die Verbalpräfixe vnt- statt ent- (z. B. vntzundet, Wizlav 28 [fol. 78ra]) und vĤr- statt omd. vor- für ›ver-‹ stehen (z. B. vĤrterben, Goldener 3 [fol. 47rb]).19
Mitteldeutsch Dennoch ist der Einfluss des Ostmitteldeutschen auf die Schreibsprache auch in J deutlich zu erkennen. In diese Richtung weisen die Präfixe tzĤ- für zer-20 und ir- für er-.21 Die Umlaute von /o/ und /u/ werden nicht graphisch angezeigt, und für die Präposition ›auf‹ steht of statt uf (außer bei Wizlav und Boppe)22. Die Präposition gegen erscheint gehäuft als kegen (Meißner 26 [fol. 84va]).23 Bei den Konsonanten steht überdies meist typisch omd. für mhd. /tw/24 und überwiegend auch für verschobenes /p/ im Anlaut (z. B. phlege, Meißner 26 [fol. 84va]). Im In- und Auslaut ist dagegen seltener (z. B. kamphe, Meister Alexander 2 [fol. 22ra]); hier steht meist schon .25 Und auch dass von der binnendeutschen Konsonantenschwächung26 in J so gut wie nichts zu merken ist, zeigt deutlich, dass sich die Schreiber der ›Jenaer Liederhandschrift‹ um eine möglichst gleichförmige Schreibsprache bemüht haben.27
Hyperkorrekte Schreibungen Dass diese Bemühung aber bisweilen auch übertrieben wurde, zeigt sich in hyperkorrekten Schreibungen,28 wie etwa in den fehlerhaften Digraphen für /Ɲ/ (z. B. gie ›geh‹, Meißner 53 [fol. 88vb]), so als läge nd. /Ɲ/ vor, und in dem schon oben angemerkten, recht häufigen oder für /e/ (z. B. wyrme). Vermeintlich niederdeutsche Wörter werden dann mit hochdeutschem Konsonantismus ausgestattet, wie z. B. mhd. tjost, mhd. tuc und mhd. tolde zu tzyost (Frauenlob 67 [fol. 108va]), tzucke (Meister Alexander 11 [fol. 22vb]) und tzolde (Konrad von Würzburg 2 [fol. 101vb]). Teilweise wird auch das
17 18 19 20 21 22
23 24 25 26 27
28
Vgl. Mhd. Grammatik (Anm. 10), S. 100f., Feudel (Anm. 10), S. 38. Vgl. Feudel (Anm. 10), S, 106f. Vgl. Mhd. Grammatik (Anm. 10), S. 52, Feudel (Anm. 10), S. 57. Vgl. Mhd. Grammatik (Anm. 10), S. 46, Feudel (Anm. 10), S. 58. Vgl. Mhd. Grammatik (Anm. 10), S. 52, Feudel (Anm. 10), S. 58. Vgl. Frühneuhochdeutsche Grammatik, hg. von Oskar Reichmann und Klaus-Peter Wegera. Tübingen 1993 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte, A Hauptreihe Nr. 12), § L 16 Anm. 5, Feudel (Anm. 10), S. 28. Vgl. Feudel (Anm. 10), S. 80. Vgl. Mhd. Grammatik (Anm. 10), S. 166f., Feudel (Anm. 10), S. 97. Vgl. Mhd. Grammatik (Anm. 10), S. 152. Vgl. Mhd. Grammatik (Anm. 10), S. 133f. Siehe dazu die Ausführungen Thomas Kleins zur niederdeutsch-hochdeutschen Schreibsprache: Thomas Klein: Niederdeutsch und Hochdeutsch in mittelhochdeutscher Zeit. In: Raphael Berthele (u. a.) (Hg.): Die deutsche Schriftsprache und die Regionen, Berlin/New York 2003 (Studia Linguistica Germanica 65), S. 204. Zur Ursache hyperkorrekter Schreibungen siehe ebd., S. 207.
32
Luise Czajkowski
vermeintlich fehlende ge- eines Partizips ergänzt, so dass es zu fehlerhaften Formen wie z. B. volgebracht (Friedrich von Sonnenburg 11 [fol. 65ra]) kommt.29 Die besprochenen, von der ausgleichenden Schreibsprache abweichenden Ausnahmen betrafen bisher immer nur das (Ost-)Mitteldeutsche. Sie sind in J nur selten zu finden, auch wenn an dieser Stelle sicher längst nicht alle genannt wurden.30 Sie können aber dennoch als Beweis dafür dienen, dass das Ostmitteldeutsche die Sprache von J beeinflusst hat. Ob dieser Einfluss lediglich auf Vorlagen beschränkt ist, wie es Bartsch annimmt,31 oder ob er doch auf neue ostmitteldeutsche Gewohnheiten in der Sprache der Schreiber zurückzuführen ist, müsste noch (z. B. anhand der Parallelüberlieferungen) genauer untersucht werden.
Niederdeutsch Viel deutlicher als die ostmitteldeutschen Einsprengsel zeigen sich trotz alledem die niederdeutschen Elemente in J. Am auffälligsten im Vokalsystem sind dabei wohl die durchgehende Verwendung von sunte für sancte,32 das bisweilen für den Diphthong /ie/ stehende (z. B. eman, Stolle 11 [fol. 4ra])33 und für /uo/34. Bei den Konsonanten zeigen sich darüber hinaus bisweilen unverschobene Formen (z. B. pant, Meißner 32 [fol. 85rb]) und seltenes bzw. für /b/ im In- und Auslaut (z. B. gave, Reinhold von der Lippe 6 [fol. 46va]). Die Assimilation von /hs/>/ss/ in wassen (beim Hauptschreiber) und für /ft/ (z. B. achterruwe, Bruder Wernher 21 [fol. 10rb]) erinnern zwar zunächst an das Mittelfränkische; beide Merkmale sind aber auch für das Niederdeutsche bezeichnend.35 Auf Flexions- und Wortbildungsebene erinnert vor allem die sehr häufige ge-lose Partizipbildung (z. B. unmeisterliche tan, Zilies von Sayn 4 [fol. 21rb]36) an das Niederdeutsche.37 Zwar gibt es auch im Mittelhochdeutschen ge-lose Partizipien, diese sind aber auf bestimmte Lexeme beschränkt, wie etwa komen und bracht. J geht darüber hinaus; selbst bei der Wortbildung der Substantive lassen sich entsprechende Fälle nachweisen.38 Weil »die Schreibung dann immer dem Verse gemäß ist,« schließt Bartsch daraus, »daß auch sorgfältigen Schreibern solch ge-Ausfall näherlag und mundgerechter war als doppelte Senkung, Apokope, Ekthlipsis oder andere Lesehilfen mit ge-. Solch Verhalten eines Schreibers ist nur auf ndd. Boden möglich.«39
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Zu weiteren hyperkorrekten Schreibungen bei J siehe Bartsch (1923), S. 39ff. Vgl. die detaillierten Ausführungen bei Bartsch (1923), die allerdings alle neu überprüft werden müssten. Ebd., S. 7. Vgl. ebd., S. 5. Vgl. Klein (Anm. 27), S. 216. Siehe außerdem die Tabelle bei Bartsch (1923), S. 12ff. Vgl. Klein (Anm. 27), S. 216f. Vgl. Mhd. Grammatik (Anm. 10), S. 49 und 162, Robert Peters: Die Diagliederung des Mittelniederdeutschen. In: Besch (Anm. 14), S. 1478–1490, hier S. 1480. Viele weitere Beispiele bei Bartsch (1923), S. 33. Vgl. Bartsch (1923), S. 32, Härd (Anm. 14), S. 1434. Vgl. die Tabelle bei Bartsch (1923), S. 34. Ebd., S. 32.
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Ebenfalls auf das Niederdeutsche verweisen die Verwechslungen von /ei/ und /ie/ in der Bildung des Präteritums (z. B. trieb, blieb, Bruder Wernher 10 [fol. 9rb])40, der Umlaut in den Präterita weren ›waren‹ (Gervelin 18 [fol. 35vb]), quemen ›kamen‹ (Frauenlob 59 [fol. 107rb]) u. ä.41 sowie die Beispiele für den -Plural bei Verben42 (z. B. den nemet die herren, Stolle 33 [fol. 7ra]). Die md.-nd. Form sal43 kommt aber nur ein einziges Mal, nämlich in saltu (Frauenlob 80 [fol. 110rb]) vor. Das Personalpronomen der 3. Sg. ist am Anfang der Handschrift (bis Höllefeuer) und auch bei Frauenlob überwiegend er, sonst wechselt er mit der Mischform her, und es gibt sogar hie-Schreibungen, die allerdings selten und daher möglicherweise als Vorlagenschreibungen aufzufassen sind. Das Possessivpronomen 1. Pl. steht häufig in der r-losen md.-nd. Form unse.44 Das Zahlwort ›zwei‹ lautet im Genitiv ausnahmslos tzwier bzw. tzwyer, liegt also der nd. Form twiger sehr nahe.45 Das Genus des Wortes grunt ist in J bisweilen feminin (z. B. Gervelin 6 [fol. 34ra]), was ebenfalls an das Niederdeutsche erinnert. Überdies finden sich in J s-ch-Silbentrennungen. Niederdeutsche Elemente häufen sich bei Gervelin, Rumelant, Frauenlob, Wolfram, Wizlav und bei Meister Alexander. Letzteres ist besonders auffällig, denn bei Meister Alexander handelt es sich um einen oberdeutschen Dichter und so würde man eher oberdeutsche Merkmale erwarten. Dass in J bei Meister Alexander bisweilen ch für k steht (z. B. schelchliche, Meister Alexander 18 [fol. 23va]), ist – weil typisch für das Oberdeutsche – daher nicht verwunderlich. Es darf deshalb aber nicht automatisch als Vorlagenschreibung gewertet werden, zumal diese Form auch bei dem niederdeutschen Rumelant zu finden ist, nämlich in starch (Rumelant 4 [fol. 48rb]).
Unterschiede zwischen den Autoren Die sprachlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Autoren sind bisweilen beträchtlich. Nach den (unvollständigen) Angaben von Bartsch ergibt sich folgendes Bild: Stolle hat als einziger die r-lose Form des Possessivpronomens uwe, während es sonst uwer heißt. Bei Meister Alexander zeigen sich vermehrt Adjektive mit der Endung -iz; bei Verben mit kurzer Stammsilbe erscheint des Öfteren -mpt aus -mt. In der 2. Pl. der Verben konkurrieren die Endungen -et und -ent. Letzteres findet sich auch bei Bruder Wernher und bei Friedrich von Sonnenburg. Dieser hat auch wieder -mpt statt -mt, genau wie Rumelant (z. B. kvmpt 9 [fol. 48vb]) und auch Frauenlob, bei dem sich zusätzlich die Besonderheit zeigt, dass das Pronomen der 3. Sg. wie am Anfang der Handschrift (bis Höllefeuer) überwiegend er lautet, obwohl in allen umstehenden Texten (Gervelin bis Wolfram) her neben er gleichermaßen vertreten ist. Deutet letzteres vielleicht darauf
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Vgl. Klein (Anm. 27.), S. 216f. Vgl. Härd (Anm. 14), S. 1435. Der -Plural deutet auf das Niederdeutsche westlich der Elbe hin, vgl. Härd (Anm. 14), S. 1434. Vgl. Bartsch (1923), S. 35. Vgl. ebd., S. 29. Vgl. ebd. und Härd (Anm. 14), S. 1433.
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hin, dass der Frauenlob-Text ursprünglich gar nicht an der heutigen Stelle der Handschrift platziert war? Bei Gervelin steht laut Bartsch öfter als sonst im Pronomen iz. Der Meißner46 verwendet für mhd. /ie/, immer nach , wo sonst häufig zu finden ist; häufiger als sonst neben dominierenden und für /d/. Im ›Wartburgkrieg‹ werden enklitische ne / en gemieden. Ausnahmen sind Formen wie vonme, amne, offen ›auf dem‹. Hier steht auch initiales und auch häufiges hie für das maskuline Personalpronomen der 3. Sg. /u/-Ausfall nach herrscht darüber hinaus gleichermaßen bei Bruder Wernher (z. B. vĤrswnden, 58 [fol. 15ra]), Meister Alexander, Rumelant und Wizlav (z. B. wnsche, 16 [fol. 76va]). Die Verwechslung von /ei/ und /ie/ findet sich am häufigsten bei Bruder Wernher, Meister Alexander, Goldener, dem Meißner und bei Wolfram. Bei Wizlav und Goldener ist außerdem besonders häufig der Diphthong /ie/ entsprechend niederdeutschem Usus durch wiedergegeben und /iu/ vor zu verengt. Bei Goldener ist die Affrikata außerdem nicht wie sonst in J als , sondern als notiert.47 Ferner erscheint bei Wizlav und Boppe die Präposition ›auf‹ als vph (Wizlav 18 [fol. 76vb]) bzw. Nf (Boppe-Nachtrag 15 [fol. 112r]), anstatt als of. Überhaupt hat Wizlav häufig für lautverschobenes /f/. Fazit: Vor allem in den Texten des Bruder Wernher, Meister Alexander, Goldener, Rumelant, Wizlav, Meißner, Frauenlob und Wolfram lassen sich vielerlei Abweichungen von den restlichen Texten aufzeigen. Ist das Zufall? Oder liegt mit Bartschs Analyse lediglich eine unvollständige Arbeit vor, die eine solche Tendenz suggeriert, obwohl sie gar nicht existiert? Sind diese Abweichungen ausschließlich durch Vorlagen zu erklären? Wohl kaum, wenn auch Texte von oberdeutschen Dichtern niederdeutsche Elemente enthalten. Wie kommt es dann aber, dass die Texte von oberdeutschen und niederdeutschen Dichtern gleichermaßen dieselben sprachlichen, aber eben nicht schriftsprachlichen Besonderheiten aufweisen? Ist es überhaupt noch möglich, die Vorlagenschreibungen aus J herauszufiltern, wenn doch mittelhochdeutsche Spruchdichtung im niederdeutschen Raum in dieser Zeit in großem Umfang rezipiert wurde und sicher auch schon die Vorlagen von J mit niederdeutschen Elementen durchsetzt waren? Der Einfluss der Vorlagen auf die Texte in J sollte auf jeden Fall nicht – wie von Bartsch, der die Vorlagenschreibungen für selten und deshalb »unwesentlich für die Beurteilung der Sprache der Hs.« gehalten hatte48 – unterschätzt werden. Hier besteht dringender Forschungsbedarf.49
Unterschiede zwischen den Schreibern Leichter nachzuweisen sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Schreibern, wenn zuvor geklärt wurde, welche Nachträge von welchen Schreibern stammen. Verlässt man sich auf die paläographische Analyse von Meyer,50 sind sieben Schreiber zu unterschei-
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Über die Sprache des Meißners in J finden sich abgesehen von Bartschs Gesamtanalyse einige detailliertere Ausführungen bei Objartel (1977), S. 143–153. Vgl. Bartsch (1923), S. 54. Hier ist Bartsch ungenau, denn steht nur im Goldener-Nachtrag. Ebd., S. 53. Dies bekräftigte auch schon Klein (1987), S. 111. Vgl. Meyer (1896/97), S. 93–103.
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den. Dabei sei erneut auf Bartsch verwiesen: »Die sprachliche Grundlage und die Hauptschreibgewohnheiten sind bei allen in J. vertretenen Händen die gleichen.«51 Den Vorteil, der sich aus der Vielzahl der Schreiber ergibt, hatte Bartsch bereits benannt: Die Gefahr, dass sich nur bestimmte Merkmale einer Sprache zeigen, verringert sich. Es werden nur die wirklich wesentlichen Merkmale einer Sprache bei allen Schreibern in den Mittelpunkt gerückt; Randerscheinungen werden nicht überbewertet. Will man aber gerade detailliert Kenntnisse über die Herkunft der einzelnen Schreiber, die an der Handschrift gearbeitet haben, und damit auch neue Informationen über die Herkunft der Handschrift selbst erhalten, müssen auch die noch so kleinen Unterschiede zwischen den Schreibern analysiert werden. Der Hauptschreiber (fol. 1–72 und 81–136) etwa zeigt die Assimilation von /hs/ zu /ss/ in wassen, während der Wizlav-Schreiber waxen hat.52 Der wiederum (fol. 72v–80) schreibt mhd. /g/ bis auf wenige Ausnahmen als , was im Mitteldeutschen eher selten, im Niederdeutschen aber durchaus normal ist.53 Außerdem schreibt er im Gegensatz zu dem Hauptschreiber überwiegend für /f/ und her für ›er‹. Ein dritter Schreiber (Stolle 39, 40 [fol. 7ra]) schreibt ebenfalls , aber nur in ghe- und -ngh. Weiterhin findet sich bei ihm das Pronomen iz für ›es‹ und jeweils einmal auch bzw. für die dentale Affrikata. Ein vierter Schreiber (Goldener 4, 5 [fol. 46vb, 47ra]) schreibt für die Affrikata statt und kein . Er verwendet aber für mhd. /ie/ und für mhd. /ԅ/ und stimmt damit mit dem Wizlav-Schreiber überein. Ein fünfter Schreiber (Frauenlob 24–53 [103r–106r]), der der Haupthand insgesamt sehr ähnlich ist, verwendet unübliche Abkürzungen, schreibt häufig für sonstiges , vf neben of ›auf‹ und bisweilen für mhd. /ie/. Ein sechster Schreiber (Frauenlob 86–88 [fol. 110v]) schreibt wieder und für /f/. Außerdem hat er nicht, wie alle anderen Schreiber, germ. /f/ als im In- und Auslaut. Und ein siebter Schreiber schließlich (Boppe 13–15 [fol. 111v, 112r]) schreibt zwar wieder , dafür aber vnd statt vnde der Haupthand, er für ›er‹, , wo der Hauptschreiber hat und Nf für dessen of.54 Es fällt erwartungsgemäß auf, dass sich die sprachlichen Unterschiede zwischen den Dichtern teilweise mit denen der verschiedenen Schreiber decken. Übrig bleibt aber dennoch eine Anzahl niederdeutscher Elemente beim Hauptschreiber, die das insgesamt dominante Ostmitteldeutsch durchsetzt.
Herkunft der Handschrift Woher also stammt die Handschrift? Diese Frage zu beantworten, wurde schon oft versucht. Doch ist es überhaupt sinnvoll, nach der Heimat der Handschrift zu suchen, wenn
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54
Bartsch (1923), S. 42. Vgl. ebd., S. 54. An dieser Stelle sei auf die vom Deutschen Orden in Auftrag gegebene, frühneuhochdeutsche Übersetzung des altnordischen Rechtsbuches ›Gutalag‹ und der Chronik ›Gutasaga‹ aus dem Jahr 1401 verwiesen, in der neben gleichermaßen oft vorkommt. Siehe dazu Luise Czajkowski: Gutalag und Gutasaga Frühneuhochdeutsch. Teil 1: Neue Untersuchungen zum Sprachstand. Magisterarbeit Leipzig 2005, S. 44. Eine Übersicht über die Schreiberunterschiede bietet Bartsch (1923), S. 48f.
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sie doch auch mehr als eine Heimat haben kann und ihre Heimat nicht unwesentlich von ihren Schreibern abhängt? Bekannt ist, dass die Handschrift etwa Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden ist und dann zwischen 1536 und 1541 gebunden wurde, und zwar von einem gewissen Wolfgang Schreiber in Wittenberg.55 Bekannt ist außerdem, dass J 1549 nach Jena kam und dann an die 1558 gegründete Universität in Jena überging. Weiterhin ist bekannt, dass es in Wittenberg mindestens zwei großformatige Liederhandschriften gab, und es ist zu vermuten, dass J eine von ihnen war.56 Aber ist J deshalb auch in Wittenberg entstanden? Und wenn nicht, wie kam die Handschrift dorthin? Die Sprache als Hilfsmittel anzusehen, um die Herkunft einer Handschrift, im Speziellen die von J, näher zu bestimmen, wenn sonst wenig über die Handschrift bekannt ist, gilt als probates Mittel. Schon Bartsch war der Ansicht, dass eine große Sammelhandschrift »als der natürliche Niederschlag des Schrifttums ihrer Landschaft anzusehen« sei.57 Holz meinte Anfang des 20. Jahrhunderts, dass »die dialektischen und orthographischen Gewohnheiten« des Hauptschreibers nach Ostmitteldeutschland wiesen, woraus er folgerte, dass die Handschrift im Auftrag Friedrichs des Ernsthaften von MeißenThüringen hergestellt worden sei.58 Doch meinte Bartsch dazu, dass es nicht ausreiche, »einige ausgewählte lautliche Erscheinungen in der betreffenden Gegend, die man als Heimat ins Auge gefasst hat, nachzuweisen. Es kommt darauf an, alle sprachlich orthographischen Merkmale einwandfrei zu verwerten.«59 Behaghel hatte die Handschrift aufgrund einiger Verwechslungen zwischen Dativ und Akkusativ bei den Pronomen dem mik-Gebiet im südöstlichen Niedersachsen zugewiesen.60 Doch auch hiergegen richtete Bartsch seinen Einspruch mit dem Hinweis, dass sich Dativ-Akkusativ-Unsicherheiten auch in denjenigen Mundarten ergeben, wo eine Form (hier mi) für mehrere in Betracht kommende Kasus steht.61 Er selbst unternahm dann eine detaillierte Zuordnung der sprachlichen Merkmale zu den in Frage kommenden Dialekten. Er schloss das Oberdeutsche definitiv und auch das Westmitteldeutsche weitestgehend aus, beschäftigte sich dann vor allem mit der Möglichkeit, dass J aus dem hessischen Raum kommen könnte, verwarf aber auch dies, weil eben nicht alle Merkmale der Handschrift im Hessischen zu verorten sind. Schließlich ging er davon aus, dass J wegen der vielen niederdeutschen Elemente auf niederdeutschem Boden entstanden sei. Gestützt werde diese Annahme dadurch, dass J insgesamt, trotz der vielen Ausnahmen, doch eine relativ homogene Schreibsprache aufweise. Ein solches Bestreben sei im Vergleich zu Niederdeutschland bei mitteldeutschen Schreibern nicht ohne weiteres anzunehmen. Diese hätten bedenkenlos ihre Schreibgewohnheiten beibehalten.62
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Vgl. Brandis (1929), S. 108f. Vgl. Wachinger (1987), Sp. 513. Vgl. dazu aber den Beitrag von Fasbender in diesem Band. Bartsch (1923), S. 2. Holz (1901), Einleitung, S. V. Bartsch (1923), S. 52. Zit. nach ebd., S. 36. Vgl. ebd., S. 37. Vgl. ebd., S. 91.
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Auch sei zum Beispiel für /ie/ und auch für /uo/ in mittelalterlichen Urkunden selten, und wenn, dann nur in ostmitteldeutschen Texten zu finden, die auf niederdeutschem Boden entstanden sind. Aus diesem Grund verweist Bartsch auf das niederdeutsche Altland zwischen Unstrut und Magdeburg, wo das Mitteldeutsche das Niederdeutsche zurückgedrängt habe,63 also das Gebiet des niederdeutsch-ostmitteldeutschen Interferenzraums. Bartsch hat schließlich auf zwei Forschungsansätze aufmerksam gemacht: die Aufarbeitung der Überlieferung hochdeutschen Schrifttums auf niederdeutschem Boden und die Klärung, inwieweit mitteldeutsche Dichterhandschriften von ihrer Heimatmundart abzuweichen pflegen. Solange diese beiden Fragen nicht geklärt seien, sei es unmöglich, die genaue Herkunft von J zu ermitteln.64 Thomas Klein griff diese Fragen auf und verwies dabei auf Behaghel und Roethe, die nachgewiesen hatten, dass »die niederdeutschen Autoren des 12. und 13. Jahrhunderts nicht mittelniederdeutsch, sondern ein mit nur wenigen niederdeutschen Zügen durchsetztes Mitteldeutsch schrieben«.65 Mittelhochdeutsche Dichtung sei im niederdeutschen Raum also meist hochdeutsch rezipiert worden, woraus Klein schließt, dass bei der dialektgeographischen Bestimmung mhd. Handschriften immer auch der niederdeutsche Raum mit einbezogen werden müsse. Ähnliches äußert auch Gisela Kornrumpf, wenn sie anmerkt, dass wegen des »Schriftmitteldeutsch« (auch sie benutzt den Terminus von Bartsch), »dessen sich niederdt. Schreiber bei literarisch anspruchsvollen Texten befleißigten, […] die Herkunft vieler Zeugnisse aus Norddeutschland bis in die jüngste Zeit verkannt« wurde.66 Klein macht darüber hinaus deutlich, dass J nicht dem Mittel- oder Niederfränkischen zugeordnet werden könne, nur weil die überwiegend mitteldeutsche Handschrift mit niederdeutschen Elementen versehen sei.67 »Je nach Art und Ausmaß der niederdeutschen Anteile ergeben sich vielerlei verschiedene Varietäten der mitteldeutsch-niederdeutschen Schreibsprache.«68 Bei J liege eine mittlere Varietät vor. Eine Lokalisierung von mitteldeutschen Handschriften mit niederdeutschen Elementen, im Speziellen der ›Jenaer Liederhandschrift‹, hält aber selbst Klein für schwierig. Die niederdeutschen Einsprengsel seien dialektal einfach zu unspezifisch.69 Der Großteil der niederdeutschen Lyrikhandschriften gehöre aber nach Ostfalen oder in das angrenzende Ostniederdeutsch. Deshalb vermutet Klein auch, dass die Heimat von J in einem westelbischen Skriptorium in der Altmark liege. Zumindest die Vorstufen der Handschrift seien in Stendal oder Salzwedel oder aber in den askanischen Hausklöstern Lehnin oder Chorin entstanden.70 Er widerspricht damit Pickerodt-Uthleb, die vermutete, dass der in Wittenberg residierende Her-
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Vgl. ebd., S. 58. Bartsch nennt zum Beispiel Magdeburger Urkunden, in denen b für germ f häufig neben tz für die Affrikata im Anlaut und gh steht. Ebd., S. 93. Zit. nach Klein (1987), S. 73. Kornrumpf (1990), S. 94. Zu den Unterscheidungskriterien zwischen Mittel- und Niederfränkisch und anderen Dialekten siehe Klein (1987), S. 73f. Ebd., S. 74. Vgl. ebd., S. 106. Zit. nach Welker (1996), Sp. 1455–1460, hier Sp. 1456.
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zog von Sachsen, der Askanier Rudolf I. (1298–1356), den Auftrag für die Handschrift erteilt habe.71 Auch Thiele72 hatte J in diesem Umkreis vermutet. Klein aber verweist auf die von Bartsch untersuchte Sprache von J, in der sich zum Beispiel für /ie/ und für /uo/ als hervorstechendes niederdeutsches Charakteristikum beim Hauptschreiber zeigten, und auf Teuchert73, der für das Südbrandenburgische und damit auch Wittenberg die Monophthongierung von /ie/ > /Ư/ und /uo/ > /nj/ nachgewiesen hatte. Wittenberg komme daher nicht als Heimat für J in Frage. Der /Ɲ/-/ǀ/-Vokalismus stimme hingegen zum Altmärkischen. Zwar gebe es dort heute auch statt der /-et/- die /-en/-Plurale, aber das könne ja um 1300 noch anders gewesen sein; eher jedenfalls als im Südbrandenburgischen, denn bereits Ende des 13. Jahrhunderts hatte sich schon im nördlich vom Südbrandenburgischen liegenden Elbostfälischen der /-en/-Plural durchgesetzt.74
Der niederdeutsch-ostmitteldeutsche Interferenzraum Doch woher wissen wir, dass die Sprache, wie sie heute in Wittenberg gesprochen wird und wie sie Teuchert vor einigen Jahrzehnten untersucht hat, nicht eine andere ist als zu der Zeit, als J entstanden ist? Das Ostmitteldeutsche ist vor allem zu Zeiten Luthers stark nach Norden vorgedrungen und hat das Niederdeutsche verdrängt. Dadurch ist ein großes Gebiet mit einer Mischsprache entstanden – der niederdeutsch-ostmitteldeutsche Interferenzraum. Die Sprache in diesem Areal hat sich natürlich stetig verändert. Je weiter das Ostmitteldeutsche nach Norden vordrang, desto »ostmitteldeutscher« wurde auch die Sprache in den Schreibstuben. Die Kanzleien in Wittenberg sind erst im 15. Jahrhundert zum Mitteldeutschen übergegangen.75 J ist aber in der Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden, als in Wittenberg (zumindest in den Kanzleien) noch Niederdeutsch geschrieben wurde. Ist J also vielleicht doch in Wittenberg entstanden? Vielleicht läßt sich diese Frage beantworten, wenn umfassende Untersuchungen zum niederdeutsch-ostmitteldeutschen Interferenzraum vorliegen.76
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Vgl. Pickerodt-Uthleb (1975), S. 250ff. Vgl. Gerhard Thiele: Ein ostdeutscher Artusroman des 13. Jahrhunderts. In: ZfdA 77 (1940), S. 61–63. Hermann Teuchert: Die Mundarten der brandenburgischen Mittelmark und ihres südlichen Vorlandes. Berlin 1964 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für Deutsche Sprache und Literatur 30), S. 29ff. Vgl. Fritz Jülicher: Zur Charakteristik des Elbostfälischen. In: Jahrbuch für niederdeutsche Sprachforschung 52 (1928), S. 21 und Karl Bischoff: Elbostfälische Studien. Halle 1954 (Mitteldeutsche Studien 14), S. 73f. Vgl. Saskia Luther/Ursula Föllner: Das älteste Wittenberger Stadtbuch. Einblicke in den Personennamenbestand des 14. und 15. Jahrhunderts. In: Maik Lehmberg (Hg.): Sprache, Sprechen, Sprichwörter. Festschrift für Dieter Stellmacher zum 65. Geburtstag. Stuttgart 2004 (Beihefte der Zs. für Dialektologie und Linguistik 126), S. 282. In Arbeit ist eine Dissertation zu diesem Thema, in der zunächst Urkunden (und im Idealfall später auch andere Textsorten) aus dem gesamten Interferenzraum untersucht und das Gebiet damit sprachlich kartographiert werden soll.
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GISELA KORNRUMPF
Der Grundstock der ›Jenaer Liederhandschrift‹ und seine Erweiterung durch Randnachträge
I. Die ›Jenaer Liederhandschrift‹,1 im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts – genauer: um 13302 – in kalligraphischer Textualis und sorgfältiger Quadratnotation raumverschwenderisch auf großformatige Pergamentbögen (etwas größer als 820 × 560 mm) geschrieben, gibt viele Rätsel auf. Wer Überlegungen zu ihrem Programm und den Umständen ihres Entstehens anstellt, stößt schnell an Grenzen, nicht zuletzt deshalb, weil er es mit einem Torso zu tun hat: Da sind die Lücken im Innern; und es sind Anfang und Schluss verloren, ohne dass sich der Umfang der Verluste einigermaßen präzise abschätzen ließe. Hinzu kommt eine Zäsur in der Mitte, die schwer zu deuten ist. Weder die Lagen noch die Blätter weisen eine zeitgenössische Zählung auf, die Aufschluss geben könnte. Einen Überblick über das Vorhandene – 133 Blätter und den in Dillingen wiedergefundenen Rest eines entfernten Doppelblatts – möge Tabelle 1 vermitteln.3
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Der Beitrag greift Anregungen auf, die ich Teilnehmern der Tagung in Jena verdanke, und ist gegenüber der Vortragsfassung, in deren Mittelpunkt die Randnachträge standen, modifiziert und erweitert. Für die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und das Dillinger Blatt daraus sowie für die Fragmente aus dem ›Umfeld‹ von J sei auf die unter http://www.urmel-dl.de/SonstigeProjekte/ JenaerLiederhandschrift.html zugänglichen Digitalisate verwiesen. Die Fragmente werden außerdem im Anhang dieses Bandes vorgestellt; ich beziehe mich auf sie nur mit Standort und/ oder Autor/Liedtitel und der Sigle. – Grundlage meiner Untersuchung waren für J vor allem K. K. Müller (1896), Tervooren/Müller (1972), Holz (1901) und Farbabbildungen u. a. bei Voetz (1988) und Welker (1988) sowie Notizen anlässlich einer Autopsie am 23.4.1990. Die Bemerkungen zu den Liedbruchstücken stützen sich hauptsächlich auf Abbildungen bzw. Filmaufnahmen, Transkriptionen sowie ältere Notizen anhand der Originale. Diese Datierung verwendet auch Karin Schneider: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung. Tübingen 1999 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte B, 8), S. 94. Fettdruck hebt Grundstockcorpora mit Text- und Melodienachträgen hervor. Kursiv erscheinen sämtliche Nachträge. Winkelklammern schließen Blätter ein, die mit Text- und Melodiestrophenverlust fehlen; sofern sie nicht in die frühneuzeitliche Zählung (bis 49) einbezogen sind, ist die moderne Foliierung mit Exponenten (a, b usw.) fortgeführt. Verstümmelte Töne, Melodien und Strophen werden als ganze gezählt, restlos verlorene Töne und (Melodie-)Strophen bleiben unberücksichtigt. Die Leichs sind in die Spalte »Töne« einbezogen und in der Spalte »Strophen« gesondert ausgewiesen. Töne, zu denen der vorgesehene Melodieeintrag vollständig oder teilweise unterblieb, sind in der Spalte »Melodien« durch ° bzw. (°) markiert. Dass die Nachträge zu den Tönen Stolles, Bruder Wernhers, Frauenlobs und Boppes schubweise erfolgten, ist in der Spalte »Strophen« angedeutet (vgl. dazu Tabelle 2).
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Gisela Kornrumpf
Zur Zeit der ersten, bis 49 reichenden Foliierung (frühes 16. Jh.) waren die heute fehlenden Blätter 1, 32, 33 noch vorhanden. Dass fol. 1 nicht den eigentlichen Anfang der Sammlung gebildet haben kann, wissen wir seit 1981: Burghart Wachinger hat in dem geistlichen Textfragment 2ra, Z. 1–22 den Schluss einer Kontrafaktur des Leichs von Walther von der Vogelweide erkannt.4 (So häufig neue Sequenzen in der Form und auf die Melodie vorhandener Sequenzen gedichtet wurden, die deutschsprachige geistliche Kontrafaktur eines deutschsprachigen geistlichen Leichs ist bislang ein Unicum.) Als Rest eines Leichs hatte schon Docen die 22 Zeilen bezeichnet, als er sie 1809 erstmals abdruckte.5 Georg Holz nahm 1901 an dieser Auffassung Anstoß: »ein leich müsste unter notenlinien stehen [wie Alexanders Minneleich und der geistliche Leich Hermann Damens], was nicht der fall ist«; und: »die annahme, dass die sammlung mit zwei leichen gleicher melodie begonnen hätte, wird dadurch ausgeschlossen, dass sie auf dem zur verfügung stehenden raume«, insgesamt 4 Ҁ Spalten, »nicht untergebracht werden konnten«.6 Holz erwog deshalb, das Textfragment könne der Schluss eines »nicht componierten« Eröffnungsgedichts sein. Dann hätte also nach einem Prolog Meister Stolle, einer der ältesten Tonerfinder in der Sammlung, die Spitzenposition eingenommen. Wachinger bestätigte nun Holz’ erste Überlegung: Das Textfragment gehört zu einem Leich und steht deshalb nicht unter Noten, weil tatsächlich ein Leich auf dieselbe Melodie voranging. Der Text der Kontrafaktur muss allerdings das ganze erste Blatt beansprucht haben. Davor ist eine Lage oder Lagengruppe zu denken, die mit Walthers Leich unter Noten (ca. 3 Blätter und 1 Seite) endete. Ein Codex, auf den dies tatsächlich zutrifft, ist 1437 bezeugt: Nr. 1 des Verzeichnisses von 31 deutschsprachigen Handschriften der Kurfürstlichen Bibliothek in Wittenberg, die in zwei Kästen aufbewahrt wurden und von denen jeweils Incipit und Explicit festgehalten sind.7 Der Inhalt beider Kästen ist in der Reihenfolge libri magni (Nr. 1–6 bzw. Nr. 14–17, jedoch ohne den Zusatz mangnus bei Nr. 3 und Nr. 16), libri und – nur im zweiten Kasten – libelli erfasst. Ob liber mangnus für überdurchschnittlich große Codices reserviert war oder sich auch auf Foliobände in gängigen Maßen bezieht, bleibt offen; letzteres träfe zu, wenn der liber mangnus Nr. 6 des Verzeichnisses tatsächlich gleichzusetzen wäre mit Hs. 24 der ›Sächsischen Weltchronik‹ in Gotha (310 × 225 mm).8 Dann hätten wir uns unter den in Wittenberg versammelten ›großen‹ Liederhandschriften Bände wie die vorzustellen, denen die mit J verwandten Bruchstücke in Wolfenbüttel (Rumelant Wo) und Soest (Frauenlob
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Wachinger (1981), S. 300. Docen (1807), Bd. 1. Mit Zusätzen vermehrte Ausgabe. München 1809, Anhang S. 14; s. auch HMS III, S. 820 zu S. 431, XXXVII; HMS IV, S. 900. Holz (1901), S. VIf. Erstmals abgedruckt von E. G. Vogel: Verzeichniss von Büchern, ehemals in der Schlosscapelle zu Wittenberg befindlich. In: Serapeum 21 (1860), S. 299–301; danach Bartsch (1879), mit Identifizierung zahlreicher Einträge. Erneuter, besserer Abdruck nach dem Original – ohne Kenntnis von Vogel und Bartsch – Lippert (1895), danach die Zitate. Vgl. auch Brandis (1929), S. 109–111, und Pickerodt-Uthleb (1975), S. 254 mit S. 414 Anm. 613. – Auf Walthers Leich in Nr. 1 hat zuerst Moriz Haupt in der von ihm besorgten 4. Ausgabe von Lachmanns WaltherEdition hingewiesen (Berlin 1864, S. XI). Vgl. Hubert Herkommer: Einführung [zur Edition]. In: Das Buch der Welt. Kommentar und Edition zur ›Sächsischen Weltchronik‹. Ms. Memb. I 90 Forschungs- und Landesbibliothek Gotha, hg. von H. H. Luzern 2000, S. III*–LXIX*, hier S. LXIX*.
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Der Grundstock von J und die Randnachträge
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– J Nr. Blatt Tonautorname Töne Melodien Strophen ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 1 1ra–2ra Walther von der Vogelweide noch I in Bd. 1 Leichkontrafaktur 2 2ra–7vb Meister Stolle I 1 36; + 1 + 1 + 1 + 1 3 7vb–16va Bruder Wernher VI 6 50; + 15 + 2 4 16va–20va Meister Kelin III 3 26 5 20va–21vb Meister Zilies von Sayn II 2 7 41 und Leich 6 21vb–28rb Meister Alexander VI 4 (°I, (°)III) Robin I 1 2 7 28rb–vb 8 28vb–29ra Meister Rudinger I 0 (°I) 3 9 29ra–30ra Spervogel I 1 13 10 30ra–31rb Der Höllefeuer I 1 7 11 31rb–vb Meister Gervelin noch I noch 1 noch 4 32ra–vb ??? 32vb–33vb Fegfeuer 11a 34ra–35vb Fegfeuer II noch 1 (Mel.str. noch 14 zu I verloren) 12 35vb–36va Der Urenheimer I 0 (°I) 3 13 36va–38rb Der Henneberger I 1 11 14a 38rb–39ra Der Guter (a) I 1 8 15 39rb–42ra Der Unverzagte III 3 22 16 42ra–vb Der Litschauer I 1 6 17 42vb–43vb Der Tannhäuser I 1 4 18 43vb–44va Meister Singauf I 1 6 14b 44va–45ra Der Guter (b) I 0 (°I) 3 19 45rb–46va Reinolt von der Lippe II 1 (°II) 6 20 46vb–47rb Der Goldener I 0 (°I) 3; + 2 21 47va–57vb Meister Rumelant (von Sachsen) X 8; + 1 (V) noch 105 (°IX) fol. 57a 58ra–62vb 22 62vb–63rb Rumelant von Schwaben I 1 4 23 63va–72va Meister Friedrich von Sonnenburg III 3 62; + 1 ENDE DER ZEHNTEN LAGE, URSPRÜNGLICH UNBESCHRIEBEN; 72vb–74vb DIE ELFTE LAGE IST NACHTRÄGLICH ZUGEFÜGT. + Wizlav + noch XVIII + noch 18 + noch 47 + 24 72vb a fol. 72 73ra–76vb fol. 76a 77ra–80vb fol. 80a, und eine weitere Lage? 25
27
81ra–85vb fol. 85a–b 86ra–92vb fol. 92a 93ra–101rb 101rb–102vb fol. 102a fol. 102b.c?d?e 102eva–vb 103ra–111va
28 29 30a
111va–113vb 113vb–123vb 123vb–127vb
26
30b
Der Meißner
XX
Meister Konrad von Würzburg
noch I
??? Frauenlob Frauenlob
noch IV
Meister Boppe Hermann Damen Der (Heinrich) von Ofterdingen (Wartburgkrieg-Ton I) Herr Wolfram (von Eschenbach) (Wartburgkrieg-Ton II)
I VI I
noch 16 noch 128 (Mel.str. zu XII verloren) (°XVIII, °XIX, °XX) 1 noch 10
noch 3 (Mel.str. zu I verloren) 1 6 1
noch 55; + noch 30 + 3 12; + 2 + 4 Leich und 39 26
127vb–132vb I 1 noch 93 fol. 132a (27–77. 78–119) Dillinger Frgm. plus 11 (77k–77u) 133ra–136vb || … ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Tabelle 1. Grundstock der ›Jenaer Liederhandschrift‹ und Nachträge
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A) entstammen, während Handschriften im Format der Basler Blätter (Kelin; Boppe, Fegfeuer; ›Wartburgkrieg‹ Ba) eventuell schon zu den libri zählten.9 Immerhin schließt der Terminus liber mangnus übergroße Codices nicht aus, und diese wurden am ehesten zu Anfang aufgeführt. Man wird schwerlich umhin können, in dem mangnus liber […] cum notis Nr. 1 den zu J gehörigen ersten Band der Liedersammlung zu sehen; denn es wäre ein merkwürdiger Zufall, wenn Walthers Leich zweimal eine großformatige Liederhandschrift mit Melodien beschlossen hätte. Mit Wachinger möchte ich den liber mangnus […] cum notis Nr. 2 des Verzeichnisses für J halten; das angegebene Incipit (Alpha et O. Got reyne) passt im Versmaß zum Incipit von Walthers Leich (Got, dîner trinitâte), die Kontrafaktur an der Spitze von J könnte mit diesen Worten begonnen haben.10 Nach den neuen Untersuchungen und Überlegungen von Christoph Fasbender ist es allerdings unwahrscheinlich, dass J sich 1437 in der Kurfürstlichen Bibliothek in Wittenberg befand.11 Versuchsweise nehme ich weiterhin an, dass im mangnus liber Nr. 1 der J vorausgehende Teil einer Liedersammlung bezeugt ist, die anlässlich ihrer ersten Bindung zweigeteilt wurde.12 Eine Zäsur vor der Leichkontrafaktur empfahl sich, weil hier Text- und Lagenbeginn zusammentreffen, was in J (abgesehen von fol. 81, worauf ich zurückkomme) sonst nirgends der Fall ist; so wurde zwar die Kontrafaktur von ihrem Vorbild samt der Melodie separiert, aber wenigstens kein Text zerrissen. Die Wege der zwei Bände müssten sich dann relativ früh getrennt haben13 und der erste Band in Wittenberg verblieben oder vor 1437 dorthin gelangt sein. Wahrscheinlich haben die insgesamt fünf im Verzeichnis aufgeführten libri cum notis (Nr. 1–4 und 10) erst nach und nach hier zusammengefunden. Wohl vom Grundstockschreiber der Jenaer Handschrift wurden Abschriften ungewöhnlich großen Formats von Wolframs ›Parzival‹ und des Artusromans ›Segremors‹ hergestellt, von denen als Archivalien-Einbände verwendete Reste erhalten sind.14 Auf sie hat bereits Rochus von Lilien-
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Maße des Blatts in Soest: 322 × 223 mm (Innenrand weggeschnitten, Schriftspiegel 233 × 178 mm, 36 Zeilen); maximale Größe der Basler Blätter: 283 × 210 mm (Schriftspiegel ca. 200 × 145 mm, 38 Zeilen); s. die Angaben im Anhang. – Am größten war der Codex, dessen Überbleibsel uns im Wolfenbüttler Ausschnitt aus dem innersten Doppelblatt einer Lage mit den untersten 20 Zeilen der Innenspalten vorliegt: Bei ursprünglich 42 oder 39 Zeilen und einer Spaltenbreite von 84 mm maß der Schriftspiegel ungefähr 280 oder 260 × 185 mm (Blattgröße, breite Ränder vorausgesetzt, etwa 390 × 270 mm?). Das Explicit des Bandes (Und weren synes trostes gerende) ist bisher keinem strophischen Text zugeordnet. Gelänge dies, so wäre doch kein Argument für oder gegen die Identität des liber mangnus Nr. 2 mit J gewonnen, da wir nicht wissen, mit welchen Worten J vor der Verstümmelung schloss. Vgl. Christoph Fasbenders Beitrag in diesem Band. Dass J bereits einmal gebunden war, bevor der Codex im 16. Jahrhundert, verstümmelt, einen Einband erhielt, hat die Untersuchung anlässlich der Restaurierung ergeben. Vgl. den Beitrag von Susanne Kull, Joachim Ott, Frank Schieferdecker in diesem Band. Erinnert sei beispielsweise an das ›Hausbuch‹ Michaels de Leone, dessen zweiter Band im 16. Jahrhundert in Würzburg erworben wurde (und schließlich in die UB München gelangte: 2o Cod. ms. 731). Der erste Band befand sich wohl damals schon in anderen Händen und wurde zu Buchbinderzwecken zerstört; über seinen Inhalt informieren das Repertorium capitulorum in Bd. 2 sowie einige wiederentdeckte Blätter. Vgl. zu den Epenfragmenten in Gotha, Sondershausen und Weimar den Anhang dieses Bandes.
Der Grundstock von J und die Randnachträge
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cron (1852–1855 Professor in Jena) 1854 aufmerksam gemacht;15 sein Hinweis, den er selbst 1894 und K. K. Müller 1896 in seinem Vorbericht zur Lichtdruckausgabe wiederholte,16 wurde anscheinend nicht beachtet.17 Ob die Epen und die Liedersammlung für denselben Auftraggeber bestimmt waren und zumindest der zweite Teil der Liedersammlung, also J, nach der Bindung zunächst in denselben Händen wie die Epenabschriften verblieb, bedarf noch der Klärung.
Eine Teilung der Liedersammlung machte nur Sinn, wenn der erste Band einigen Umfang hatte und mehr enthielt als ein Walther-Corpus – mit Sangspruchtönen (vgl. die Bruchstücke Z und wXX), wohl auch Liedern, vielleicht sogar Minneliedern (vgl. Fragment O), und dem Leich.18 Doch fehlt uns jeglicher konkrete Anhalt; lediglich das in J enthaltene Tönerepertoire scheidet aus. Der im Wittenberger Bücherverzeichnis als Incipit von Nr. 1 zitierte Vierheber Ich sage dir lob Jhesu Crist würde, da das Versmaß zum Frau-Ehren-Ton Reinmars von Zweter stimmt, der Vorstellung nicht widersprechen, ein Reinmar-Corpus könne die Sammlung eröffnet haben. Mit einem solchen Corpus setzte anscheinend Nr. 4 des Wittenberger Verzeichnisses ein, jener liber mangnus […] cum notis, der mit dem Leich Hermann Damens endete; denn das Incipit dieses Codex (Do ere ires hoves erst began) entspricht dem einer Strophe im Frau-Ehren-Ton, die durch das in Los Angeles aufgefundene bairische Rollen-Fragment aus dem 13. Jahrhundert
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Liliencron, in: Liliencron/Stade (1854), Vorwort, S. 1 Anm. *: »In Gotha und anderwärts finden sich Fragmente von W o l f r a m s P a r z i v a l und T ü r l e i n s K r o n e [lies: ›Segremors‹], welche in Schrift und Ausstattung so sehr mit unserm Codex übereinstimmen, dass sie wol aus derselben Schreiberei hervorgegangen sind. Wenn dies aber der Fall ist, so kann der Liedercodex kaum, wie gewöhnlich angenommen wird, für eine der Meistersängerschulen jener Zeit geschrieben sein.« – Vgl. zuerst Docen (1807), Bd. 2, S. 276: »Daher vermuthe ich, dass dieser Kodex wirklich für irgend eine Meistersängerschule bestimmt gewesen sey; auch die Grösse des Formats und der Schrift deutet darauf. Wenn er das Eigenthum eines grossen Herrn hätte werden sollen, wie Wiedeburg glaublich findet, so würde man doch wohl ein schöneres und weniger beschädigtes Pergament dazu genommen haben. (?)« Liliencron (1894), S. 252; K. K. Müller (1896), Vorbericht, [II]ra. Den codex- und gattungsübergreifenden Zusammenhang hat Schiewer für die Forschung wiederentdeckt (1988, S. 228–230). Ohne Kenntnis von Liliencrons Bemerkung konstatierte Franz Pfeiffer (Quellenmaterial zu altdeutschen Dichtungen. II. Wien 1868, S. 47), der 1861 in Gotha auf das Doppelblatt A des ›Parzival‹-Fragments 9 (h) gestoßen war, dass es »in den Zügen, der Grösse und der Einrichtung genau« zum 1859 publizierten Gothaer ›Segremors‹-Fragment stimme. Bartsch (1923) hätte die Epenbruchstücke zweifellos in seine Untersuchung von J einbezogen, wenn ihm die Verbindung präsent gewesen wäre. Von Bartsch ausgehend, stellte Thiele (1940, S. 62f.) die schreibsprachliche Verwandtschaft der ›Segremors‹-Fragmente AB mit J dar, auf die ihn eine von Karl Helm 1913 zitierte briefliche Mitteilung des Gothaer Bibliothekars Rudolf Ehwald lenkte; von den ›Parzival‹-Blättern wusste er nichts. Ehwald selbst erwähnte den Zusammenhang der Abschriften beider Epen mit J in seiner Beschreibung des Gothaer ›Parzival‹-Doppelblatts von ca. 1909 für die Deutsche Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften, die freilich seinerzeit nicht veröffentlicht wurde (vgl. http://dtm. bbaw.de/HSA/startseite-handschriftenarchiv.htm, hier unter Gotha, Herzogl. Bibliothek, Membr. I 130). Zu den Walther-Fragmenten Z (mit Melodien) in Münster und O in Krakau vgl. den Anhang. – Die Walther-Fragmente w (13. Jh.) in Wolfenbüttel und Krakau sind niederdeutscher Herkunft, vgl. Klein (1987), S. 76–85; sie gehören jedoch nicht zur ›J-Gruppe‹.
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bekannt wurde.19 Und die Existenz eines Reinmar-Corpus, das Schreibsprache sowie Stropheneinrichtung in die Nähe von J rücken, beweist das ehemals Bonner, jetzt Berliner Fragment einer Quarthandschrift aus dem ersten Viertel des 14. Jahrhunderts (Reinmar Bo).20 Welche Autoren könnten zwischen Reinmar und Walther eingereiht gewesen sein? An den Marner wird man vor allem deshalb denken, weil er in J vielfach präsent ist – durch Strophen, die ihn attackieren, verhöhnen, in Schutz nehmen, betrauern und seiner rühmend gedenken (von Rumelant, vom Meißner, von Fegfeuer und Hermann Damen), und durch drei Strophen am Ende des Kelin-Corpus,21 die der ›Codex Manesse‹ als Sangsprüche des Marner überliefert;22 allerdings fällt es schwer, Gründe für eine Postierung des Marner zwischen Reinmar und Walther zu finden.23 Das gilt freilich für andere Autoren gleichermaßen. Vielleicht war unter ihnen jener niederdeutsche Dichter, von dem das rätselhafte ›Magdeburger Frühlingslied‹ stammt, das teilweise im Fragment Mb (Berlin, mit Noten) bewahrt ist.24 Der Sammlung fehlt also zu Anfang eine beträchtliche Partie ungewissen Inhalts, die dennoch zu den in J erhaltenen Corpora hinzugedacht werden muss. Verloren ist ferner der Schluss. Das brauchen nur ein paar Strophen in dem hier Wolfram zugeschriebenen ›Wartburgkrieg‹-Ton II (später: Klingsors Schwarzer Ton) gewesen zu sein, vielleicht bloß der Schluss des Rätsels von den verlockten Schafen25 auf einem
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Vgl. Franz H. Bäuml und Richard H. Rouse: Roll and Codex: A New Manuscript Fragment of Reinmar von Zweter. In: PBB 105 (1983), S. 192–231, 317–330, hier S. 199 (mit S. 203), 213. Der Aufgesang ist korrekt gereimt: began, chan, genvch [!], also [!], fro, trvch (in der Transkription stehen die Reimwörter der Verse 3 und 4 im Folgevers). – RSM 5, 1991, S. 282: 1ReiZw/1/247. Tervooren (1983); Karin Schneiders oben verwendete Datierung ist S. 383 Anm. 8 mitgeteilt. Vgl. den Anhang und Martin J. Schubert: Verschriftlichung bei Sirventes und Sangspruch. In: Sangspruchdichtung. Gattungskonstitution und Gattungsinterferenzen im europäischen Kontext, hg. von Dorothea Klein zusammen mit Trude Ehlert und Elisabeth Schmid. Tübingen 2007, S. 261–293, hier S. 282 (mit der oben verwendeten Sigle). Eventuell enthielt die kleinformatige Handschrift ein Pendant des Reinmar-Corpus im Wittenberger liber mangnus Nr. 4 (oder Nr. 1?). Wangenheim (1972), Kelin III,11–13; vgl. dazu S. 29f. Der Marner, hg. von Philipp Strauch (1876). Mit einem Nachwort, einem Register und einem Literaturverzeichnis von Helmut Brackert. Berlin 1965 (Deutsche Neudrucke, Reihe: Texte des Mittelalters), XIII,3. 1. 4. Vgl. Jens Haustein: Marner-Studien. Tübingen 1995 (MTU 109), Register S. 279f. Genannt sei immerhin seine Reinmar-Schelte (Strauch XI,3). Vgl. Haustein (Anm. 22), S. 14– 31; Margreth Egidi: Sängerpolemik und literarischer Selbstbezug in der Sangspruchdichtung: Aspekte der Streitkommunikation. In: ZfdPh 126 (2007), S. 38–50, hier S. 45–48, 50; Eva Willms: Noch einmal Anmerkungen zum Marner. In: ZdfA 137 (2008), S. 335–353, hier S. 335–342. Vgl. den Anhang. Hervorzuheben sind die Beiträge zum Text (2KLD 38 Namenlos Mb), zur Sprache und zur Melodie von Klein (1987), hier S. 75, 107f., und von Christoph März: Frauenlobs Marienleich. Untersuchungen zur spätmittelalterlichen Monodie. Erlangen 1987 (Erlanger Studien 69), S. 4f., 10, 15, 19, 22–31, 68. Ausgabe: Rompelman (1939), S. 193f., ›Rätselspiel‹ Str. 44–46, dazu S. 9, 329–331; vgl. Tomas Tomasek: Das deutsche Rätsel im Mittelalter. Tübingen 1994 (Hermaea NF 69), S. 235f.; Burghart Wachinger: [Art.] ›Wartburgkrieg‹. In: 2VL 10 (1999), Sp. 740–766, hier Sp. 748. Der Umfang des Rätsels ist unbekannt. Der ›Codex Manesse‹ überliefert die ersten beiden Strophen. J bricht in der zweiten Strophe ab. Das im Schaferätsel sehr eng mit J verwandte Bruchstück
Der Grundstock von J und die Randnachträge
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Einzelblatt, das der letzten Lage (fol. 129–136) angefügt werden musste, als sich herausstellte, dass das Corpus Nr. 30b doch noch ein wenig mehr Raum benötigte als geschätzt; die Lage war eventuell dem voraussichtlichen Restbedarf angepasst worden, wie es öfter am Ende eines Codex geschieht, und war deshalb in intaktem Zustand umfangreicher als sämtliche Lagen sonst in J.26 Ebenso gut können freilich auf die beiden ›Wartburgkrieg‹Corpora noch Dichtungen in anderen Tönen gefolgt sein, etwa Rätselgedichte des König Tirol, wie der ›Codex Manesse‹ sie bietet; als Mühlweise wird der Ton in der ›Kolmarer Liederhandschrift‹ Wolfram zugewiesen, und inhaltliche Bezüge zum ›Rätselspiel‹ sind bekannt.27 In Frage kämen auch die Winsbeckischen Gedichte; als deren (Ton-) Autor firmiert in der ›Kolmarer Handschrift‹ der am ›Fürstenlob‹ beteiligte Tugendhafte Schreiber.28 ›Aurons Pfennig‹ im ›Wartburgkrieg‹-Ton II und ›Winsbecke‹ waren in einer Handschrift niederdeutscher Herkunft vereint;29 und im ›Codex Manesse‹ sind die Winsbeckischen Gedichte und beide ›Wartburgkrieg‹-Töne (unter Klingsors Namen) benachbart. Am Ende könnten Zusätze (neue Töne mit Melodie?) Platz gefunden haben. Unübersehbar ist die starke Zäsur in der Mitte der ›Jenaer Liederhandschrift‹. Das stattliche Corpus Friedrichs von Sonnenburg (Nr. 23) mit drei Tönen und – ohne den Randnachtrag – 62 Strophen schließt knapp vor der Mitte eines Quaternio (72va); der Rest der Lage blieb zunächst leer. Die Corpusfolge Nr. 25ff., deren erste Stelle die Sangsprüche des Meißner in zwanzig Tönen einnehmen, setzt, auffallend sorgfältig geschrieben, auf neuer Lage (fol. 81) ein:30 warum? Pickerodt-Uthleb hat mit guten Gründen erwogen, Nr. 25ff. sei die vordere Hälfte des Codex gewesen und im 16. Jahrhundert seien die beiden Hälften von J »falsch zusammengebunden« worden.31 Eine solche Erklärung ist durch Wachingers Entdeckung zum Inhalt des verlorenen Blattes 1 hinfällig. Erwägenswert scheint mir indes, dass ursprünglich eine Sammlung geplant war, die nur Nr. 25ff. umfasste,32 und dass erst während ihrer Anfertigung der Plan erweitert wurde; dazu mochte das den Redaktoren ohnehin verfügbare Material ermuntern. Diese hypothetische Erweiterungspartie, die letztlich das Übergewicht erhalten hätte und in der, aufs Ganze
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Wb (München, Cgm 5249/10, Anfang 14. Jh.) reicht bis in eine dritte Fragestrophe. Eventuell folgte eine dreistrophige Antwort. Wahrscheinlich war die Lage, abgesehen von der erwogenen Erweiterung am Schluss, ein Quinio; doch s. unten Anm. 150. Vgl. RSM 5, 1991, S. 436f.: 1Tirol/1; S. 582: 1Wolfr/4/2; Tomasek (Anm. 25), S. 252–259. Die epischen Fragmente sind wohl niederdeutscher Herkunft; vgl. Tervooren (1983), S. 385. Vgl. RSM 5, 1991, S. 568–573: 1Winsb/1n–o, 1Winsb/2g. Vgl. Frieder Schanze: Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs. 2 Bde. München 1983, 1984 (MTU 82. 83), Bd. II, S. 218; RSM 1, 1994, S. 223. Das verschollene Doppelblatt-Bruchstück aus dem 14. Jahrhundert (ehemals Münster, Gräflich Galensches Archiv, R 11) wies nicht die für die ›J-Gruppe‹ charakteristische Strophengliederung (s. unten) auf. Auf der Anfangsseite ist bemerkenswerterweise die Initiale der ersten Textstrophe (81rb) genauso aufwendig gestaltet wie die Initiale des Corpus (81ra), d. h. drei statt zwei Zeilen hoch und gespalten blau-rot statt blau oder rot. Eine dreizeilige, aber einfarbige Stropheninitiale findet sich sonst nur noch 9vb (Bruder Wernher J 18, die erste Textstrophe des zweiten Tons). – Im Wolfenbüttler Rumelant-Fragment ist die erste Textstrophe des Tons V sogar durch eine vierzeilige Initiale (gespalten blau-rot) ausgezeichnet (2vb). Pickerodt-Uthleb (1975), S. 259. Vgl. dazu unten Abschnitt III.
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gesehen, die älteren Meister dominiert haben dürften, wäre der Corpusfolge Nr. 25ff. spätestens bei der Teilung der Sammlung vor der ersten Bindung vorangestellt worden. Eindeutig nicht eingeplant war das Corpus mit Wizlavs Liedern und Sangsprüchen (Nr. 24), das ich hier nur streifen kann.33 Es wurde nach dem Sonnenburg-Corpus von einem besonderen Schreiber geraume Zeit nach dem Grundstock – »wohl kurz vor der oder um die Mitte des 14. Jh.s«34 – auf der freien Spalte 72vb und der zweiten Lagenhälfte am Ende der hypothetischen Erweiterungspartie begonnen35 und auf – mindestens – einer angefügten Lage weitergeführt. Die Pergamentqualität dieser heute elften Lage ist deutlich schlechter.36 Text- und Noten-Schreiber orientieren sich bei der Gestaltung an der ihnen vorliegenden Sammlung, erreichen jedoch bei weitem nicht deren kalligraphisches Niveau; und in Details sind vielerlei Abweichungen zu beobachten.37 Das betrifft u. a. die Schriftraumvorzeichnung der Zusatzlage,38 die Versanfänge (Klein- statt Großbuchstabe), die geringere Größe der Ton- und zunächst auch der Stropheninitialen, bestimmte Buchstabenformen,39 den Verzicht auf Blau und auf Fleuronnée bei der Auszeichnung, die Gliederungsbuchstaben in den Melodiestrophen (rote Lombarden wie in den Textstrophen), die Notenlinien (in Texttinte, nicht rot), die Position der Schlüssel (vor dem statt im Notensystem, gegebenenfalls auch vor der Toninitiale). Sechsmal ist für zu ergänzende dritte oder zweite und dritte Strophen eines Tons Platz ausgespart,40 wie man es aus dem ›Codex Manesse‹ kennt; im Grundstock – in dem immerhin sieben Töne nur durch zwei Strophen vertreten sind – gibt es solche Freiräume nicht. Den Autornamen einzutragen wurde vergessen;41 Docen hat ihn aus Selbstnennungen erschlossen.42
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Zum Autor s. Burghart Wachinger: [Art.] Wizlav. In: 2VL 10 (1999), Sp. 1292–1298, und Bleck (2000), der die These, es handle sich um Fürst Wizlav III. von Rügen († 1325), mit neuen Argumenten verteidigt. So Karin Schneider; s. Wachinger (Anm. 33), Sp. 1293. Ursprünglich sollte das Corpus direkt an das Sonnenburg-Corpus in Spalte 72va anschließen; zu diesem Zweck ist 72va, Z. 14ff. für die Aufnahme von 7 Textzeilen mit Melodie vorbereitet und am Fuß des Schriftspiegels eine Zusatzlinie für die letzte Textzeile gezogen worden. Das Pergament im Grundstock weist zahlreiche Löcher, Risse, Fehlstellen auf; doch betreffen die wenigsten den Schriftraum. Ein Blatt wie fol. 77 in Lage 11 mit dem sehr störenden Defekt mitten in der Außenspalte wäre im Grundstock wohl nicht geduldet worden. Dies hat auch K. K. Müller (1896), Vorbericht, [II]ra, konstatiert. Die untere begrenzende Doppellinie umfasst nur die letzte Schriftzeile (im Grundstock die letzten beiden Zeilen). Die Spalten sind für sich liniiert (im Grundstock laufen die Linien durch das Interkolumnium). Nach Pickerodt-Uthleb (1975), S. 237, stimmen die Initialen im Grundstock und im WizlavCorpus »in den Buchstabenformen […] genau überein«. Doch vgl. beispielsweise die M, die S, die T; auch überwiegt W bei weitem, während im Grundstock Uv bzw. Vv die Regel ist. Nach dem zehnstrophigen Sangspruchton I sind am Fuß der Spalte 74rb die letzten elf Zeilen freigelassen – zu wenig für eine Strophe. Offenbar lag dem Schreiber daran, Ton II wie die Töne Ia und I auf neuer Spalte zu beginnen, s. Bleck (2000), S. 5. Bei den dreistrophigen Tönen verbot es sich aus praktischen Gründen, eine solche Regel anzuwenden. Ton XV setzt sogar mitten in der Zeile ein (79vb). Eine Rubrikatorvorschrift ist möglicherweise übersehen und mit dem oberen Blattrand weggeschnitten worden. Docen (1807), Bd. 1, S. 108.
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Der Grundstock der ›Jenaer Liederhandschrift‹ basiert kaum auf einer einzigen, nur weniger anspruchsvoll gestalteten Sammlung, die in größerem Format reproduziert wurde. Eher hat ein Redaktor oder Redaktoren-Team43 vor Beginn der Schreibarbeit eine Mehrzahl von verschieden eingerichteten Vorlagen verschiedener Provenienz gesichtet, die sich im Bestand ergänzten, und festgelegt, was aufgenommen werden sollte. Die Reihenfolge der Tonautoren musste bestimmt, die Töne eines Autors und Strophen ein und desselben Tons mussten zusammengeführt,44 geordnet, nach ein und demselben Muster untergliedert werden (s. unten); nur bei maßgeblichen Hauptquellen erübrigten sich redaktionelle Modifikationen wohl weitgehend. Graphien, die im Grundstock punktuell geballt oder ganz vereinzelt auftreten und vom Usus des Schreibers abweichen, spiegeln die Vielfalt der Vorlagen, mit denen er zu tun hatte.45 Dass J und die direkt vergleichbaren Basler und Wolfenbüttler Fragmente in Corpusreihung und Strophenbestand divergieren,46 während sie in Tönefolge, Wortlaut, Melodien verblüffend eng übereinstimmen, wird man als Indiz der Tätigkeit von Redaktoren (nicht immer der von J) werten dürfen, die das schriftlich überkommene Repertoire veränderten Vorstellungen und Kenntnissen anpassten. Ein paar Bemerkungen seien der Einrichtung der Töne und Strophen in J gewidmet. Denn sie ist offensichtlich nicht erst für diese Sammlung erfunden worden und kann – trotz aller Unterschiede in Format und Ausstattungsniveau und vieler Besonderheiten im Detail – als eine Art Bindeglied zwischen J und etlichen bereits erwähnten Fragmenten innerhalb der mitteldeutsch-niederdeutschen Liedüberlieferung gelten. Leider ist die von Plenio 1917 geforderte »untersuchung über die in den mhd. l i e d e r handschriften
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Ob ein Einzelner das Unternehmen leitete (der Grundstockschreiber scheint mir nicht in Frage zu kommen) oder mehrere Personen verantwortlich an der Planung beteiligt waren, wäre vielleicht zu entscheiden, wenn feststünde, in wessen Auftrag und wo der Grundstock von J erstellt wurde. Zwei Töne galten vielleicht als Schöpfungen von Namensvettern (Nr. 14a, 38rb–39ra: Der gĤtere; Nr. 14b, 44va–45ra: Der ghĤter) und wurden deshalb nicht zusammengeführt; getrennt sind beide durch die Töne des Unverzagten, des Litschauer, des Tannhäuser und Meister Singaufs (Nr. 15–18). – Die augenfälligsten Beispiele für die Vereinigung von Strophen verschiedener Autoren im gleichen Ton unter dem Namen des Tonerfinders sind zwei Entgegnungen Rumelants im Singauf- und im Frauenlob-Corpus, zu denen am Rand in Texttinte – wohl vom Grundstockschreiber – rvmelant vermerkt ist: 44rb (zu Nr. 18, Singauf J 5–6), 104va (zu Nr. 27, Frauenlob J 11[ff.]); die Disposition des Stropheneingangs 44rb, Z. 32, und die Position der Beischrift 104va legen nahe, dass eigentlich beabsichtigt war, den Textdichternamen rot in die Spalte zu integrieren. Die Verfasser vergleichbarer Repliken, etwa der auf die Verteidigung der Welt Friedrichs von Sonnenburg (64rb–vb, J 6–9), und die Dichter, die aus unterschiedlichen Gründen Töne anderer (vor allem Stolles Alment) verwendeten, bleiben ungenannt, sei es, dass die Redaktoren ihre Namen nicht kannten oder dass kein Interesse daran bestand. Bartsch (1923), u. a. S. 8, 17, 18, 20, 95f. – Vgl. auch Wachinger (1987), S. 195. Die Lage, aus der Ba fol. 1/4 und 2/3 stammen, enthielt einerseits Kelin (J Nr. 4), andererseits – nach oder (bei umgekehrter Faltung der Doppelblätter) vor der Mittellücke – Boppe sowie Fegfeuer (J Nr. 28, Nr. 11a). Die allein bewahrte Schlusspartie des Boppe-Corpus in Ba teilt mit J lediglich eine von N4 nachgetragene Strophe, s. unten in Abschnitt II zu JN 18. – Zum Rumelant-Bruchstück Wo vgl. Wachinger (1983), Sp. 513. Es bricht 2ra im Spruch IV,18 (= J 49) ab und setzt 2vb nach der Lücke in der Melodiestrophe des Tons V (= J 62, dort die zweite Strophe des Tons, s. unten Anm. 69) wieder ein; von den elf übrigen Sprüchen des Tons IV (J 50–60) hatten dazwischen nicht mehr als vier oder drei Platz.
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angewandte abgrenzung der strophen und strophenteile, der perioden und reihen durch initialen und interpunktion« immer noch Desiderat.47 Plenio selbst hat eingehend die Einrichtung des Walther-Fragments in Münster (Z) beschrieben.48 Für die ›J-Gruppe‹ kann man feststellen: Den Beginn eines Toncorpus mit Melodiestrophe bezeugen neben J und dem Walther-Fragment Z (1rb, 1vb, 2vb) nur noch die Basler Blätter (Ba 1vb, 3vb) und das Blatt mit dem ›Magdeburger Frühlingslied‹ (Mb 1r); die Toninitiale ist gegenüber den Initialen der Folgestrophen zumindest in J und Ba deutlich anspruchsvoller gestaltet.49 Belege für den Autor- oder Tonautornamen in Rot über der ersten Strophe eines Tonautorcorpus bzw. eines Toncorpus sind außer in J nur in Ba (3vb: vegeviĤr) und Walther Z (1rb, 1vb, 2vb) erhalten; den Autornamen als Seitentitel bietet Walther Z (dem Reinmar- und dem Rumelant-Bruchstück fehlt der obere Rand). Im RumelantBruchstück ist der eigentliche Anfang des Tons V weggeschnitten, immerhin sind die letzten Verse der Melodiestrophe noch vorhanden (ohne Noteneintrag, Wo 2vb).50 Das Bruchstück mit Sprüchen im Frau-Ehren-Ton Reinmars von Zweter (Bo) und das Blatt mit Strophen Frauenlobs im Langen Ton (A) könnten Bestandteil von Melodiehandschriften gewesen sein, überliefern aber Partien mitten aus einem einzigen Toncorpus. Nur die Minnelieder des sehr bescheiden gestalteten Walther-Corpus, aus dem die Blätter O (um/nach 1300) stammen, waren eindeutig nicht von Melodien begleitet, und es ist sogar – wie z. B. in der ›Weingartner Liederhandschrift‹ – auf jegliche Kennzeichnung eines neuen Liedtons verzichtet. Aussagen über die Darbietung der Textstrophen sind für die gesamte ›J-Gruppe‹ möglich: Vor jeder Strophe eines Tons kann in Rot der Autorname (Reinmar Bo) bzw. Jdem (Walther Z) oder ein Hinweis auf die Melodie wiederholt werden (Rumelant Wo: Noch in d‹er wyse›, Jn eadem melodia, Jn der wyse, Jtem, Da nach in der selben wyse dise liet). Die Strophen beginnen auf neuer Zeile mit zweizeiliger Initiale in Rot (Reinmar Bo, Walther Z) bzw. wechselnd in Rot und Blau (J, Frauenlob A, ›Magdeburger Frühlingslied‹ Mb,51 Rumelant Wo, Fragmente Ba; in J und Wo mit Fleuronnée in der Gegenfarbe).52 Die Teile der Strophen beginnen mit einer farbigen
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Kurt Plenio: Kolometrie. In: PBB 42 (1917), S. 285–287, hier S. 287. Vgl. Franz-Josef Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik. Tübingen/Basel 1995 (Bibliotheca Germanica 32), S. 35–38. Kurt Plenio: Bausteine zur altdeutschen Strophik. 5. Ein neuer Waltherton. In: PBB 42 (1917), S. 455–502, hier S. 499–502; vgl. auch S. 463–466 zu den Seiten- und Tonüberschriften. In J sind die Toninitialen größer und häufig gespalten blau-rot. In Ba sind sie ebenfalls größer; Fleuronnée bleibt ihnen vorbehalten. Vgl. oben Anm. 46. Ich führe Mb hier auf, obschon Str. 2 – die einzige Textstrophe, deren Anfang bewahrt ist (1v) – mit einer dreizeiligen Lombarde beginnt; das könnte jedoch ihrer Position geschuldet sein. Vgl. oben Anm. 30. Der Wechsel von Rot und Blau hat – anders als im ›Codex Manesse‹ und im Naglerschen Bruchstück, wo auf diese Weise Töne geschieden werden – nur, wie üblich, schmückende Funktion. In J alternieren die Farben im Vergleich mit den Bruchstücken überraschend unregelmäßig. Gelegentlich hat der Illuminator offenbar gezielt beide Farben unabhängig von der Strophenfolge so auf die Initialen einer Seite oder Doppelseite verteilt, dass sich ein abwechslungsreiches Gesamtbild ergibt. Vgl. etwa 84v/85r (Meißner J 25–32, Farbfolge Blau, Rot, Rot, Blau, Blau, Rot, Rot, Blau): Im oberen Bereich lösen sich Initialen in Blau, Rot, Blau, Rot ab, unten dann Initialen in Rot, Blau, Rot, Blau; ähnlich 55v/56r, 60v/61r, 124v/125r.
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Lombarde.53 Die Verse beginnen mit Majuskel (Ausnahme: Mb), die zusätzlich rubriziert sein kann (Frauenlob A, Reinmar Bo, Rumelant Wo, Walther Z); es werden Reimpunkte gesetzt. Im Walther-Fragment O heben statt farbiger Initialen Caputzeichen in Texttinte auf dem Rand die Strophenanfänge hervor, anstelle von farbigen Lombarden und von Reimpunkten sind Doppelvirgeln und Virgeln verwendet. Die Gliederung von Strophen ist in Liedaufzeichnungen außerhalb der berühmtesten Minnesangcodices weit verbreitet und wird mit sehr verschiedenen graphischen Mitteln realisiert; die Verwendung farbiger Lombarden ist mir außerhalb der ›J-Gruppe‹ im 14. Jahrhundert bislang nicht begegnet. Markiert wird in aller Regel nur der Beginn des zweiten Stollens und des Abgesangs. In J hingegen sind oft längere Abgesänge von Kanzonen (und Repetitionsformen) unterteilt, dasselbe gilt für Ba und Wo mit direkt vergleichbarem Tönebestand. Analog verfahren das Reinmar-Fragment Bo im Abgesang des Frau-Ehren-Tons54 sowie Mb in der speziellen Form des ›Magdeburger Frühlingsliedes‹ (s. Anm. 57). Und es ist – abgesehen von der schreibsprachlichen Verwandtschaft mit J – dieses Merkmal, das das melodielose Walther-Fragment O mit der Gruppe verbindet.55 Das Frauenlob-Blatt A in Soest überliefert den Abgesang des Langen Tons (Reimschema ffffffc) ebenso wie J ungeteilt; auch das Walther-Fragment Z (d. h. immer: Z2, 1rb–vb. 2ra–vb) bewahrt zufällig keinen Ton mit unterteiltem Abgesang.56 Da J selbst und mehrere Fragmente der Gruppe mit Melodien versehen sind oder aus Melodiehandschriften stammen könnten, liegt es nahe, zu vermuten, die Untergliederung der Abgesänge bilde gewissermaßen den Bau der Melodie im Text ab. Pickerodt-Uthleb hat jedoch im Rahmen ihrer Untersuchung aller Strophenformen mit Melodien in J klar-
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In Mb ist auch die Melodiestrophe mit farbigen Lombarden untergliedert. Dagegen verwenden J sowie Ba und Walther Z hier größere Zierbuchstaben in Texttinte (in Ba und Walther Z rot gestrichelt). Vgl. die bei Tervooren (1983), S. 380f., als 7. 2. 3 gezählten Strophen (Roethe Nr. 219. 25. 39). Nur sie blieben so weit erhalten, dass die Unterteilung des Abgesangs (dde, ffe) durch eine ausgeführte bzw. vorgesehene rote Lombarde zu Beginn von v. 10 erkennbar ist (s. Digitalisat: Berlin, Hdschr. 401, 1r, Z. 5; 1v, Z. 11; 2r, Z. 6). Vgl. Kornrumpf (2008), S. 190f. und dazu vor allem Abb. 1–3 (bzw. Digitalisat: Krakau, Berol. Ms. germ. oct. 682, 1r–2r) mit drei Liedern (O 1–3, 4–7, 8–12), deren Strophen im Abgesang so unterteilt sind: cddc, exxe; cxc, dxd; cc, dxd. Holznagel (Anm. 47), S. 36, hat im Zusammenhang mit der ›J-Gruppe‹ auch das Marburger Frauenlob-Fragment Z erwähnt; auf seine Zuordnung bezieht sich Schubert (Anm. 20), S. 282. Zum Fragment und zur noch nicht genauer untersuchten Schreibsprache vgl. Stackmann/Bertau (1981), Teil 1, S. 150f.; Klein (1987), S. 94; vgl. das Digitalisat (http://www.manuscripta-mediaevalia.de/HS/HS_MR_StA_Best147_Hr1_Nr2/HS_MR_StA_Best147_Hr1_Nr2.htm). – Für die ›J-Gruppe‹ untypisch, setzen die Strophen mit einzeiliger Lombarde (zweimal mitten in der Zeile) ein, Majuskeln (nicht immer rot gestrichelt) zeigen die stollige Gliederung an, die Verse beginnen mit Kleinbuchstabe und enden unregelmäßig mit einem Reimpunkt. Das Fragment überliefert nur Strophen im Flugton und im Zarten Ton, deren Abgesänge ebensowenig unterteilt sind wie in J. Dass die Abgesangsuntergliederung in anderen Tönen durchgeführt war, halte ich für unwahrscheinlich; aber unmöglich ist es natürlich nicht. Im Text der drei Flugton-Strophen Z 1–3 (GA VI,9–11) stellt das Fragment sich gegen J zum Weimarer Frauenlob-Corpus (F), s. meinen Beitrag von 1988, S. 42–44, wieder in: Kornrumpf (2008), hier S. 188–190; das Gleiche gilt für den einzigen J, Z, F gemeinsamen Spruch im Zarten Ton (GA VIII,1). Die Flugton-Melodie stimmt zu der in J; vgl. den Beitrag von Oliver Huck in diesem Band.
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gestellt, dass dies nur für einige Töne zutrifft – nämlich solche, deren Reimschema und Melodiebau korrespondieren.57 Primär am Reimschema haben sich diejenigen, die die Gliederung in der ›J-Gruppe‹ einführten, offenbar orientiert.58 (Es könnte sich um eine Art mnemotechnische Hilfestellung beim Kopieren und – in Melodiehandschriften – beim Verbinden einer Textstrophe mit der nur einmal notierten Melodie handeln.) Eine systematische Untersuchung, die die Usancen der Gliederung transparenter machte und auch Inkonsequenzen aufzeigte, wäre wünschenswert (durch Fehler würde auch offenkundig, welche Schwierigkeiten im Einzelnen auftraten). Einige Beispiele mögen Pickerodt-Uthlebs Beobachtung illustrieren. Angegeben ist die Spalte, in der das Toncorpus in J beginnt; die Seitenzahl verweist auf Pickerodt-Uthlebs Anhang;59 das Reimschema ist jeweils auf den Abgesang bezogen (wobei Kommata die in J markierten Teile trennen und Schrägstriche den Melodiebau signalisieren). In eklatantem Widerspruch zur Melodiegliederung steht die graphische Gliederung nach Kreuzreimgruppen im ersten ›Wartburgkrieg‹-Ton (Ofterdingen 123vb; S. 507; Melodiestrophe eeee, fgfg, Textstrophen efef, ghgh). Bei Kanzonen mit einfachem Steg und drittem Stollen (AABA) erscheint der Abgesang ungegliedert, weil das Reimschema die Grenze verschleiert: Konrads von Würzburg Hofton (101rb; S. 497; dde / eeeb), oder es wird mit Rücksicht auf das Reimschema ein zusätzlicher Einschnitt innerhalb des dritten Stollens markiert: Kelin I (16va; S. 428; ef, / ef, ef). Bei gleichem Reimschema wird der dritte Stollen einmal markiert: ›Wartburgkrieg‹-Ton II (Wolfram 127vb; S. 508; d, / eed), das andere Mal nicht: Kelin II (17va; S. 429; d / eed). Abgesänge von Kanzonen und Rundkanzonen aus einem Kreuzreim und einem Reimpaar wie Stolles Alment, die sechs Töne Bruder Wernhers, Rumelants Ton VII, der Ton Rumelants von Schwaben werden dreigeteilt, z. B. Rumelants Ton VII (58va; S. 457; fg, fg, hh). Eine Repetitionsform (AABBCC), deren Abgesang dieses Reimschema verwendet, zeigt dieselbe Unterteilung, d. h. die Wiederholung der Melodie C bleibt ohne Kennzeichnung: Rumelants Ton IV (51vb; S. 454; cd, / cd, / e / e; genauso im Wolfenbüttler Fragment). Die drei in J mit Melodie überlieferten Töne Frauenlobs sind durchweg Rundkanzonen; zweimal wird der Abgesang nicht untergliedert (Flugton, GA VI, 106va; S. 498; eeeeff – Zarter Ton, GA VIII, 110va; S. 500; fffgggc), einmal wegen des Schweifreims aber doch (Grüner Ton, GA VII, 108ra; S. 499; ffg, hhg). Fünfgeteilt ist in J – partiell der Melodie widersprechend – der Abgesang von Boppes Hofton; anders als beim ›Wartburgkrieg‹-Ton I sind hier die beiden Kreuzreimgruppen unterteilt (111va; S. 501; de, de, fg, fg, hiih). Die in den Basler Fragmenten überlieferten sechs Schlussstrophen des BoppeCorpus (3ra–vb, ohne Entsprechung im Grundstock von J) werden uneinheitlich präsentiert: Ba 1 weist keinerlei Unterteilung des Abgesangs auf, in Ba 2–3 erscheinen die Kreuzreimgruppen ungeteilt, erst die Strophen Ba 4–6 sind so wie in J gegliedert. In den übrigen Tönen stimmt die Gliederung in Ba und in J überein.
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Pickerodt-Uthleb (1975), S. 145f. mit S. 350–353 Anm. 337–342. – Beim ›Magdeburger Frühlingslied‹ entspricht die Vierteilung der Strophe durch Lombarden in Mb der vierteiligen (unstolligen) Melodie: Diese ist, wie Christoph März entdeckt hat, »nach einem Tonartenplan gebaut, der die vier Modi der Kirchentonarten nacheinander durchschreitet« (Anm. 24, S. 24f.). Die Anregung dazu kann aber durchaus von Beispielen einer Untergliederung des Abgesangs ausgegangen sein, die sich tatsächlich am Melodiebau orientierte. Das lassen verstreute Belege vermuten. Pickerodt-Uthleb (1975), Anhang S. 421–508: Schemata sämtlicher mit Melodie versehener Töne in J, wozu auch die handschriftliche Untergliederung vermerkt ist. (Untergliedert sind auch die Strophen in Tönen ohne Noteneintrag.) Detaillierte Hinweise zur graphischen Gliederung der Töne des Meißner gibt Objartel (1977) im Kommentar. – Zu den Bauformen in J s. den Beitrag von Johannes Rettelbach in diesem Band.
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Der Schreiber des J-Grundstocks reiht – sieht man von der Zäsur vor dem MeißnerCorpus Nr. 25 ab – nahtlos Tonautor an Tonautor, Ton an Ton, Strophe an Strophe.60 Darin gleicht J der ›Kleinen Heidelberger Liederhandschrift‹. Im Gegensatz zu dieser sind die Töne augenfällig durch die Melodiestrophen geschieden. Doch der Beginn eines Autorcorpus ist keineswegs sonderlich hervorgehoben: Während in der Heidelberger Handschrift die Namen in roten und blauen Majuskeln nicht zu übersehen sind, hat der Schreiber in J rote – verglichen mit dem Text, recht klein gehaltene – Minuskeln für die Namen verwendet und sie mitunter zwischen zwei Notenlinien geradezu versteckt (vgl. 31rb Meister gervelyn, 38rb Der gĤtere);61 die Initiale des ersten oder einzigen Tons ist weder durch Größe noch durch kunstvollere Gestaltung oder reicheren Schmuck von corpusinternen Toninitialen unterschieden.62 Weder Seitentitel – wie in Holz’ Transkription und z. B. im Münsterschen Walther-Fragment Z – noch eine Nummerierung der Corpora – wie ebenfalls bei Holz und im ›Codex Manesse‹ (C) – noch wenigstens die Wiederholung des Tonautornamens vor einem neuen Ton erleichtern die Orientierung.63 Ganz anders verfährt in dieser Hinsicht die Kolmarer Meisterliedersammlung (k). Schwerlich hat je ein Verzeichnis der Tonautoren (und der Töne und Strophen) existiert – vergleichbar der Namenliste in C und den detaillierten Registern in k und in vielen romanischen Liederhandschriften –; denn worauf hätte es sich beziehen sollen, da weder eine Foliierung noch eine Ton- oder Corpuszählung angebracht ist? Eventuell war dergleichen geplant und ist nicht zur Ausführung gekommen. Nicht eingetragen worden sind z. B. die Rollenangaben in beiden ›Wartburgkrieg‹-Corpora, für die der Schreiber eigens Raum ausgespart hatte.64
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Nur ausnahmsweise bleiben einmal am Fuß einer Spalte vor Beginn eines neuen Tons mehr als zwei Zeilen frei (46va, 90rb). – Ebenso wie J verfuhren wohl die nächstverwandten Liedersammlungen. Allerdings bewahren nur die Basler Blätter und das Walther-Fragment Z Tonautorund Ton-Eingänge. In Ba schließt das Fegfeuer-Corpus direkt an das Boppe-Corpus (3vb) und Kelins Ton II an Ton I (1vb) an. Für die ersten zwei Zeilen von Kelins Ton III (unter Noten) hätte der am Fuß der Spalte 2rb verbleibende Raum ausgereicht; offenbar zog es der Schreiber hier vor, den Ton erst auf der verso-Seite beginnen zu lassen. Für Gervelins Namen war anscheinend überhaupt kein Platz vorgesehen. Dagegen ist 38rb und ebenso 20va (Zilies von Sayn), 36va (Henneberger), 42vb (Tannhäuser), 113vb (Hermann Damen) in der ersten Melodiezeile beim Texteintrag Raum frei gehalten worden, durch den dann aber – bis auf 20va – noch vor dem Eintrag des Namens die roten Notenlinien gezogen wurden. Unabhängig von der Position des Tons an der Spitze oder im Innern eines Autorcorpus sind die Toninitialen drei Zeilen hoch oder, wenn er auf einer neuen Spalte beginnt oder eine oder zwei Leerzeilen vorangehen, auch höher (z. B. 17va: Kelin II, 51rb: Rumelant III) und gespalten blau-rot bzw. rot-blau oder einfarbig (z. B. 21vb: Alexander I). – Im Basler Fragment verhält es sich ähnlich: Die Initiale zu Kelins Ton II (1vb) ist dank zwei Leerzeilen größer und reicher verziert als die Initiale zum Fegfeuer-Corpus (3vb). Ein einziges Mal wird der Tonautorname wiederholt, vor Bruder Wernhers zweitem Ton (9rb). Das Rumelant-Corpus Wo war, nach den Beischriften zu den Textstrophen zu schließen, eventuell auch in diesem Punkt mitteilsamer; der Anfang von Ton V ist allerdings verloren. Er ließ neben dem Incipit einer Strophe die halbe Zeile frei, wenn in der vorhergehenden Zeile nach dem Strophenschluss zu wenig Platz für die Rollenangabe übrig ist (vgl. 124rb, 124vb, 125ra, 125rb usw., 135va). Ob Rollenangaben für den Rubrikator auf dem Rand vorgemerkt waren und weggeschnitten sind, steht dahin. – Das Basler Fragment weist rote Rollenangaben im ›Fürstenlob‹ (5ra–6vb) auf; allerdings hatte der Textschreiber nicht Platz für sie reserviert, sodass sie 6rb und 6va den Strophen Ba 11 (= J 16) und Ba 13 (= J 18) auf dem Rand beigefügt
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II. Als der Schreiber des Grundstocks seine Arbeit aufnahm, war entschieden, welche Autoren, Töne, Texte in welcher Reihenfolge in die Sammlung aufgenommen werden sollten. In e i n e r Hinsicht jedoch war die Vorbereitung noch nicht abgeschlossen: Die Redaktoren verfügten nicht über sämtliche Melodien. Wieweit ihre Vorlagen Melodien in Liniennotation boten (in einer für deutschsprachige Texte gängigen Notenschrift, die es in Quadratnotation umzusetzen galt), wissen wir nicht; der Kodifizierungsprozess hat aber sicherlich vor J eingesetzt. Bei manchen Tönen mögen unausgefüllte oder halbausgefüllte Notensysteme Ansporn gewesen sein, die Melodien bzw. vollständige Melodien in Erfahrung zu bringen. Vorlagen mit linienlosen Neumen machten es ebenfalls erforderlich, sich nach anderen Aufzeichnungen oder Kennern der Melodie umzusehen und umzuhören. Neben deutschsprachigen schriftlichen Zusatzquellen und Fahrenden mit einem größeren Repertoire kommen als Vermittler von Melodien auch Kleriker und Vaganten in Betracht, die mit Tönen volkssprachiger Lieddichtung vertraut waren; manche dichteten selber darin. Mehrere Sangspruchtöne der Jenaer Handschrift sind in lateinischer Verwendung nachgewiesen: Stolles Alment, der Hofton Konrads von Würzburg, Boppes Hofton, Frauenlobs Langer und Grüner Ton, Rumelants Ton I und sogar Ton XVII des Meißner, der mit deutschen Strophen außerhalb von J nicht bezeugt ist65. Verbunden mit lateinischen Texten, sind Melodien in Liniennotation zu Frauenlobs Langem und Grünem Ton überliefert.66 Nachdem die Niederschrift der Texte des Grundstocks vollendet war, hat ein und derselbe Notator die verfügbaren Melodien wohl in einem Zuge eingetragen. Eine Schichtung, die Rückschlüsse darauf zuließe, welche Melodien eventuell erst während der Arbeit des Textschreibers bekannt geworden waren, zeichnet sich nicht ab.67 Ein anderer
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werden mussten. Der Ausnahme 5ra (Z. 33 Aussparung zu Beginn von Ba 3) entspricht eine Ausnahme bei der korrespondierenden Strophe J 8: Nur hier hat der Schreiber die ersten zwei Zeilen zur Hälfte frei gelassen (125ra, Z. 17 und 18). Damit verliert eins von Bartschs Argumenten gegen eine direkte Abhängigkeit der Basler von der Jenaer Handschrift (1923, S. 50) etwas an Gewicht. Ton XVII ist einer der strophenreichsten Töne des Meißner (J 108–122). Drei lateinische Sangsprüche von Estas und von Mersburch, die den Ton auf verschiedene Weise leicht variieren – darunter Mersburchs Klage über den Tod Herzog Heinrichs (IV.) von Breslau († 1290) –, überliefert eine von Hägele entdeckte Sammlung; vgl. Günter Hägele: [Art.] ›Augsburger Cantionessammlung‹. In: 2VL 11 (2004), Sp. 173–180. In RSM 5 (1991), S. 647 und 649, sind die Strophen mit der Tonangabe »Marner, Ton XVIII« verzeichnet, weil die Handschrift irrtümlich den Marner statt den Meißner als Tonerfinder nennt, obgleich in der Überschrift der Sammlung dictamina in Tönen u. a. des Meychsner angekündigt werden. Die richtige Zuweisung stammt von Johannes Rettelbach: Variation – Derivation – Imitation. Untersuchungen zu den Tönen der Sangspruchdichter und Meistersinger. Tübingen 1993 (Frühe Neuzeit 14), S. 163f. Zur Melodie von Frauenlobs Grünem Ton in J, in der ›Wiener Leichhandschrift‹ aus der Mitte des 14. Jahrhunderts (s. Christoph März, in: 2VL 10 [1999], Sp. 1024–1026) und in jüngeren lateinischen Handschriften vgl. den Beitrag von Oliver Huck in diesem Band. Öfter hat der Textschreiber versäumt, in Melodiestrophen genügend Platz für Melismen frei zu halten – ob aus Unachtsamkeit oder in Unkenntnis der Melodie oder weil der Melodie in der Quelle eine andere Strophe unterlegt war, lässt sich nicht entscheiden. Vgl. etwa die Melodiestrophe von Frauenlobs Grünem Ton, 108ra–rb, ferner die Beispiele bei Pickerodt-Uthleb
Der Grundstock von J und die Randnachträge
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Notator hat im Nachhinein die Melodie zu Rumelants Ton V (55rb–va) zu ergänzen vermocht,68 bei dem die Wolfenbüttler Parallelüberlieferung leere Notensysteme aufweist.69 Nicht gelungen ist es in J hingegen, die Melodie zu Alexanders zweistrophigem ›Sîôn, trûre‹ (2KLD 1 IV) zu komplettieren (vgl. 24rb–vb). Und ohne Melodien blieben von den insgesamt 84 Sangspruch- und Liedtönen im Grundstock zehn gleichfalls schmal vertretene Töne:70 7 von 51 in der hypothetischen Erweiterungspartie,71 3 von 33 in der Corpusfolge Nr. 25ff.72 Zu Goldeners Ton fanden sich spät noch zwei Strophen, vielleicht sogar mit der Melodie, für deren Eintrag gegebenenfalls ein Notator nicht verfügbar gewesen oder nicht mehr engagiert worden wäre. Erst durch Blattverluste in jüngerer Zeit sind die Melodien zu sechs Tönen des Grundstocks verstümmelt worden oder abhanden gekommen.73 Bei der Suche nach ausstehenden Melodien kamen den J-Redaktoren neue Strophen in den bereits berücksichtigten Tönen zu Gesicht – wohl auch in notenlosen Aufzeichnungen – oder zu Gehör. Da sie mit solchem Zuwachs nicht gerechnet und nachträgliche Erweiterungen der Toncorpora nicht einkalkuliert hatten, musste zu einer Notlösung Zuflucht genommen werden, sofern die neuen Strophen der Aufnahme für wert befunden wurden. Es bot sich an, den großzügig bemessenen unteren Rand der Seiten zu nutzen, wo sich problemlos ein bis zwei Strophen unterbringen ließen. Solche Zusätze störten
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(1975), S. 235 mit S. 400 Anm. 531. – Gegenbeispiele sind Alexanders ›Sîôn, trûre‹ (24rb–va) und der ›Wartburgkrieg‹-Ton II, 127vb–128ra. Offensichtlich war es auch hier nicht ganz leicht, die Melismen unterzubringen. – PickerodtUthleb (1975), S. 403 Anm. 543, hat auf die Ähnlichkeit dieses Nachtrags mit der Notation im Wizlav-Corpus hingewiesen. Doch vgl. Lug (2000), S. 29–32, zum Nachtragsnotator; dass er nicht mit dem Wizlav-Notator identisch ist, »zeigen bereits die differenten C-Schlüssel und Alterationszeichen« (S. 29 Anm. 75). Ton V wird im Wolfenbüttler Fragment (2vb) nicht mit einer J 61 entsprechenden Strophe, dem Maria gewidmeten erste[n] lob in diser nuwen wise, eröffnet, sondern mit der EinhornjagdStrophe (= J 62). Leere Notensysteme begegnen in größeren Sammlungen nicht selten; man denke an den Schluss der ›Wiener Leichhandschrift‹, im 15. Jahrhundert an die ›Sterzinger MiszellaneenHandschrift‹, Liebhard Eghenvelders Liederbuch, die ›Mondsee-Wiener Liederhandschrift‹, die ›Kolmarer Liederhandschrift‹, das Göttinger Heinrich-von-Mügeln-Corpus und vor allem an das Neidhart-Corpus c (Berlin, Ms. germ. fol. 779): Nur 46mal wurden die Notensysteme vor den Liedern ausgefüllt, die vorbereitete Mitteilung von 85 Melodien ist unterblieben. Es sind lauter dreistrophige Töne: Alexander (Nr. 6) I, Rudinger (Nr. 8), Urenheimer (Nr. 12), Guter (Nr. 14b), Reinolt von der Lippe (Nr. 19) II, Goldener (Nr. 20), Rumelant (Nr. 21) IX. Zu vier Tönen mit zwei bis drei Strophen ist die Melodie vorhanden: Bruder Wernher (Nr. 3) IV 1–3, Zilies von Sayn (Nr. 5) I 1–2, Robin (Nr. 7) 1–2, Reinolt von der Lippe (Nr. 19) I 1–3. Hier vermisst man die Melodien zu den letzten, durchweg zweistrophigen Tönen des Meißner (Nr. 25): XVIII–XX. Zu Meißner IX 1–2 und Hermann Damen (Nr. 29) VI 1–3 sind die Melodien mitgeteilt. Verstümmelt sind die Melodiestrophen zu: Meißner (Nr. 25) III, IV, XI. Verloren sind die Melodiestrophen zu: Fegfeuer (Nr. 11a) I (erhalten im Basler Fragment 3vb–4rb), Meißner (Nr. 25) XII, Frauenlob (Nr. 27) I. Darüber hinaus können mit fol. 32, 85a, 85b und nach fol. 102 unbekannte Töne mit ihren Melodien verloren sein. – Im nachgetragenen Wizlav-Corpus (Nr. 24) sind die Melodiestrophen zu drei von 18 Tönen verstümmelt: Ia, VII, XVII. Mit fol. 76a gingen ein oder zwei Töne, mit fol. 72a eventuell ein Ton gänzlich verloren; vgl. PickerodtUthleb (1975), S. 392f. Anm. 509 und 510.
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das repräsentative Bild weniger als Schaltblättchen, und anders als bei Nachträgen am Ende der Sammlung blieb die Verbindung zum jeweiligen Toncorpus samt der Melodie gewahrt. Außerdem fiel der Entschluss, Randnachträge anzubringen, zu einem Zeitpunkt, als im wesentlichen nur die Töne eines Autors betroffen waren: Bruder Wernher. Insgesamt sind dem Grundstock der ›Jenaer Liederhandschrift‹ – 820 Strophen in 84 Tönen unter 31 Tonerfindernamen74 und drei Leichs – 63 Sangsprüche auf dem Rand zugefügt. Darüber hinaus können selbstverständlich die verlorenen Blätter und der erste Band Ergänzungen enthalten haben. Die 63 Strophen verteilen sich ganz ungleichmäßig auf elf Töne von lediglich sechs Autoren (s. Tabelle 2). Mit Nachträgen bedacht werden keineswegs vorzugsweise Töne von Sängern aus dem mittleren und nördlichen Deutschland, keineswegs nur die jüngsten in J vertretenen Autoren, aber auch nicht allein die viel und seit langem oder später noch gebrauchten Töne. Verglichen mit dem Gesamtrepertoire des Grundstocks, ist der Anteil der im ›Codex Manesse‹ oder in der Meisterlieddichtung bezeugten Töne sowie der längeren Töne allerdings entschieden größer.75 Etwas größer ist auch der Anteil der anderwärts nachgewiesenen Strophen.76 Hinzugekommen sind 17 Strophen zu fünf Tönen Bruder Wernhers (mit 47 Strophen), andererseits 30 Strophen oder mehr zu Frauenlobs Langem Ton (noch 23 Strophen), ferner insgesamt 16 Strophen zu Stolles Alment (36 + 4), Friedrichs von Sonnenburg erstem Ton (46 + 1), Boppes Hofton (12 + 6), Goldeners Ton (3 + 2) und zum Zarten Ton Frauenlobs (5 + 3). Die zeitliche Abfolge der Randzusätze stringent zu rekonstruieren, scheint mir nicht möglich. Annähernd festlegen kann man sie jedoch – sei’s, weil eine Hand auf derselben Seite eine andere ablöst, sei’s, dass ein Schreiber erkennbar vor oder nach dem Illuminator tätig war; auch abnehmende Sorgfalt liefert einen Anhalt. Holz hat sieben Nachtragshände unterschieden;77 ich nenne sie N1 bis N7.78 Mich überzeugt Wilhelm Meyers Gleichsetzung der Nachtragshände N1 und N2 untereinander und mit der Grundstockhand (G);79 die Einträge, die Holz N2 zuordnet, gehören aber sichtlich einer späteren
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Einbezogen in die Zählung sind die vier Lieder Alexanders (2KLD 1 I. IV–VI) und das Dillinger Blatt (mit 11 Strophen), verstümmelte Töne und Strophen, die verlorenen Tonautornamen Fegfeuer (Nr. 11a) und Frauenlob (Nr. 27), nicht jedoch Walther (Nr. 1), da J nur die Leichkontrafaktur bezeugt. Von den 84 Tönen des Grundstocks sind 26 in C anzutreffen, 11 kehren in Meisterliedersammlungen wieder. Bei den 11 ergänzten Tönen gilt dies für 9 bzw. 4. – In Johannes Rettelbachs »Liste der Tonumfänge nach der Zahl der Silben« (RSM 2,2 [2009], S. 457–489) sind die Töne des Grundstocks bis auf zwei Fragmente (Meißner III und XI) und Alexanders Lieder erfasst. Zu den 32 Tönen mit 142 bis 176 Silben zählen 10 der 11 ergänzten Töne. Länger sind nur der ebenfalls ergänzte Hofton Boppes (188 Silben) sowie Tannhäuser XVII, Meißner XVII, Damen VI. Alle übrigen Töne sind kürzer. Parallelüberlieferung ist zu einem knappen Drittel der Grundstockstrophen bekannt, hingegen zu annähernd der Hälfte (28) der Nachtragsstrophen. Zehn stehen schon im ›Codex Manesse‹, acht in der Kolmarer und/oder Wiltener Meisterliedersammlung (München, Cgm 5198). Holz (1901), S. IVf. Die Benennung bei Holz orientiert sich an der ungefähren zeitlichen Abfolge. Für die Zählung von Pickerodt-Uthleb (1975), S. 238f., und dementsprechend von Pensel (1986), S. 308, ist das (erste) Auftreten einer Hand im Codex maßgeblich. W. Meyer (1897), S. 93–97, 101; vgl. auch Pickerodt-Uthleb (1975), S. 238 mit S. 404 Anm. 545.
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Der Grundstock von J und die Randnachträge N1 Tonautoren / Töne / Strophen 2. Meister Stolle I (2ra–7vb), Alment: 36; dazu 4:
/ N2 (= G)
N3
N4
N51,2
N6
N7
4r 1 6r 1
7ra 1 7va 1 ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 3. Bruder Wernher I (7vb–9rb): 10; dazu 6: 8r 2 8v 2 9r 2 II (9rb–12va): 20; dazu 6: 9v 1 10r 1 10v 1 11r 1 11v 1 12r 1 III (12va–14ra): 8; dazu 3: 12v 1 13r 1 13v 1 IV (14ra–vb): 3 V (14vb–15va): 5; dazu 1: 15r 1 VI (15vb–16va): 4; dazu 1: 16r 1 ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 20. Der Goldener I (46vb–47rb): 3; dazu 2: 46vb 1 47ra 1 ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 23. Meister Friedrich von Sonnenburg I (63va–70ra): 46; dazu 1: 69r 1 II (70rb–71rb): 8 III (71rb–72va): 8 ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 27. Frauenlob … 103rab 4 I (…103ra–106va), GA V, Langer Ton: noch 23; dazu noch 30: 103vab 4 + 104rabc + 4 104vabc 5 105rabc 5 + 105vabc + 4 + 106ra + 1 II (106va–108ra), GA VI, Flugton: 12 III (108ra–110rb), GA VII, Grüner Ton: 15 IV (110va–111va), GA VIII, Zarter 110va 2 Ton: 5; dazu 3: 110vb 1 ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 28. Meister Boppe I (111va–113vb), Hofton: 12; dazu 6: 111v–112r 3 113r 1 113v 1 113v 1 ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– Nachtragsstrophen (zusammen noch 63): 19 / 3 30 4 2 2 3
Tabelle 2. Randnachtragsstrophen in der ›Jenaer Liederhandschrift‹ (Benennung der Hände nach Holz)
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Phase an als die von N1. In der Bestimmung der Hände N3 bis N7 herrscht Einigkeit. Wie schon von der Hagen bemerkte, erinnert der Duktus von N3 (Ergänzung zu Frauenlobs Langem Ton) auf den ersten Blick an die Grundstockhand und der Duktus von N4 (jüngerer Nachtrag zu Boppe) an die Hand des Wizlav-Corpus;80 sieht man näher zu, erscheinen beidemal die Unterschiede im Detail zu beachtlich, als dass Identität in Betracht käme.81 Einhellig werden die Zusätze von N6 zu Goldeners Ton (46vb. 47ra) und von N7 zu Frauenlobs Zartem Ton (110va. 110vb) als jüngste angesehen. Dass sie erst aus dem 15. Jahrhundert stammen, haben von der Hagen und Holz erwogen.82 Die jüngere Forschung beruft sich, sofern sie eine Datierung bietet, auf Holz.83 Beide Zusätze dürften indes kaum lange nach der Mitte des 14. Jahrhunderts, also nicht wesentlich später geschrieben sein als das Wizlav-Corpus.84 Im dritten Viertel des 14. Jahrhunderts, rund eine Generation nach der Niederschrift des Grundstocks, ist demnach die Phase ergänzender und erweiternder, auch korrigierender Arbeit an der Liedersammlung definitiv zu Ende gegangen. Offen bleibt, wie lange sich die Sammlung am Ort ihrer Entstehung befand,85 wer Zugang zu ihr hatte und für die letzten Zusätze verantwortlich war. Die zwei von N6 nachgetragenen Sprüche des Goldener – die einzigen unter den von N3 bis N7 dem Grundstock beigefügten Strophen, die Namen nennen – preisen norddeutsche Fürsten: Wizlav »den Jungen« von Rügen († 1325), d. h. Wizlav III. zu Lebzeiten seines Vaters († 1302), und Markgraf Otto V. den Langen von Brandenburg († 1298).86 Und die Sangsprüche und Minnelieder des norddeutschen Dichters Wizlav sowie ihre Abschrift in J zeigen eine stärkere niederdeutsche Färbung der Sprache als die übrigen Texte der Sammlung.87 Vielleicht ist dies ein Fingerzeig.
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HMS IV, S. 900. Vgl. K. K. Müller (1896), Vorbericht, [II]ra–rb; Holz (1901), S. IVf. und V. Zu Unterschieden zwischen G und N3 vgl. W. Meyer (1897), S. 93–97 und 101f.; Bartsch (1923), S. 46f. Ferner schreibt N3 y im Gegensatz zu G/N1/N2 konsequent ohne Punkt und beginnt die Verse mit Minuskel. Die Einrichtung des Nachtrags von N3 (einschließlich des häufigeren Abbreviaturen-Gebrauchs) ist hingegen als Unterscheidungskriterium untauglich, weil sie durch Platznot bedingt ist. – Zu Unterschieden zwischen dem Wizlav-Schreiber und N4 vgl. Meyer, S. 100f. und 102f.; Bartsch, S. 42–44 mit der Tabelle S. 48f.; Pickerodt-Uthleb (1975), S. 239. HMS IV, S. 900: »später, es scheint, Anf. des 15. Jahrh.«; Holz (1901), S. V: »Wesentlich jünger, wohl erst dem 15. jh. angehörig«. Vgl. Thomas (1939), S. 4, 24 (zu Frauenlob JN 86–88); Pickerodt-Uthleb (1975), S. 238, und mit ihr Pensel (1986), S. 308; Helmut Tervooren: [Art.] Goldener. In: 2VL 3 (1981), Sp. 92f., hier Sp. 92; Stackmann/Bertau (1981), Teil 1, S. 62 (zu Frauenlob JN 86–88). Vgl. den Hinweis zu N7 in meinem Beitrag von 1988, S. 48; wieder in: Kornrumpf (2008), S. 195. Karin Schneider hat die Datierung während der Tagung in Jena im Oktober 2007 bestätigt und präzisiert, wofür ich ihr herzlich danke. Pickerodt-Uthleb (1975), S. 237f. und 258, nimmt an, dass das Wizlav-Corpus im selben Skriptorium geschrieben und rubriziert wurde wie der Grundstock; denn ihr zufolge stimmen die Initialen im Wizlav-Corpus »in den Buchstabenformen« mit den Initialen des Grundstocks genau überein. Dies trifft jedoch nicht zu; s. oben Anm. 39. Wizlav war auch von Frauenlob besungen worden (J 21, GA V,10), Otto V. der Lange vom Meißner (J 115, Objartel XVII,8). Vgl. zuletzt die Untersuchungen von Bleck (2000), S. 111–162.
Der Grundstock von J und die Randnachträge
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Entschieden jünger und anderer Art sind dann verstreute lateinische und deutsche Marginalien und Glossen,88 auch Kritzeleien. Beispielsweise findet sich zu Gregorius babes, an den Bruder Wernhers Spruch J 34 gerichtet ist, die Erläuterung huius nominis decimus qui sanctan [!] canonizauit elizabeth anno domini 1227 (12rb, Z. 4) aus dem 15. oder frühen 16. Jahrhundert.89 Über der Spalte, die den Schluss von Hermann Damens Sängerkatalog mit den Versen Vvolueram. vnde klynsor. genant von vngerlant. / Diser tzwier tichte ist meisterlich ir kant enthält (J 10; 118vb, Z. 2–4),90 steht Klingßor; und Klinsor bzw. Klinshor ist neben der ersten Nennung in den beiden ›Wartburgkrieg‹Corpora notiert (J 23, 127rb; J 34, 128vb).91 Durch die Beischrift Encomium domus Saxoniæ wird das Sachsenlob des Litschauer (J 4, 42va) konkret auf das sächsische Fürstenhaus bezogen.92 Zurück zu den marginalen Erweiterungen des Grundstocks der Liedersammlung: Die Grundstockhand hat acht Töne ergänzt: in der Phase N1 Stolles Alment (Nr. 2, 6r), von den sechs Tönen Bruder Wernhers alle bis auf den vierten (Nr. 3, 8r–v. 9v–12r. 12v–13v. 15r. 16r), den ersten Ton Friedrichs von Sonnenburg (Nr. 23, 69r), Boppes Hofton (Nr. 28, 113r. 113v) und in der Phase N2 nochmals die Alment Stolles (4r) sowie Bruder Wernhers ersten Ton (9r). Für eine oder ausnahmsweise zwei Strophen93 sind auf dem unteren Rand schriftspiegelbreite Linien gezogen, die ohne Abstand zum Grundstocktext (N1) bzw. nach einer Leerzeile (N1, 9v; N2) beschrieben sind. Als der Illuminator sich ans Ausschmücken der Sammlung machte, fand er die meisten Zusätze der Phase N1 schon vor. Diese Randstrophen bezog er in seine Arbeit ein und reduzierte zu ihren Gunsten sichtlich das Dekor der Strophen- oder Toninitialen im unteren Bereich der Spalten (vgl. besonders 8vb, Z. 32/33: U; 12va, Z. 31/33: I; 15ra, Z. 30/33: I), während er sonst Zierschlaufen weit nach unten ausschwingen ließ. Sollten die Zusätze der Phase N1 ein und derselben Sammlung von Autorcorpora entnommen sein, hat der Schreiber diese anscheinend nicht in einem Zuge exzerpiert. Denn 15r sind alle, 16r eine, 69r. 113r. 113v wieder alle Gliederungslombarden schwarz eingesetzt statt, wie vorgesehen, rot oder blau ausgeführt.94 Die zwei Boppe-Sprüche haben sogar schwarze Initialen ohne Dekor; hier brauchte der Illuminator offenbar noch keine Rücksicht auf
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Holz (1901) hat sie in seiner Transkription nicht wiedergegeben. K. K. Müller (1896) führt einige Stellen an (Vorbericht, [II]rb). Das stark gekürzte huius nominis las von der Hagen als Gregorius (HMS III, S. 699). Ebenso Anton E. Schönbach: Die Sprüche des Bruder Wernher. I und II. Wien 1904 und 1905 (Sitzungsberichte der Phil.-hist. Klasse der Kaiserl. Akad. der Wiss. 148,7 und 150,1), hier I, S. 9 zu Nr. 2; RSM 5 (1991), S. 549: 1Wern/1/2b. – Elisabeth wurde bekanntlich 1235 durch Gregor IX. heiliggesprochen, dessen Pontifikat 1227 begann. Dadurch oder durch den Einschnitt, den der Tod von Elisabeths Gemahl Ludwig IV. 1227 für ihr Leben bedeutete, mag sich die falsche Jahreszahl erklären. HMS III 163, III,4; s. RSM 3 (1986), S. 251f.: 1Damen/2/4. Ausgabe: Rompelman (1939), S. 147–170: ›Fürstenlob‹, Str. 23; Simrock (1858), S. 144–161: ›Aurons Pfennig‹, Str. 119. Siehe RSM 4 (1988), S. 258: 1Lit/2/4; Ausgabe: Collmann-Weiß (2005), S. 124f. (II,4). Wegen Platzmangel stehen je zwei Strophen zu Bruder Wernhers erstem Ton auf 8r (unabgesetzt), 8v und 9r. (9rb fängt bereits die Melodiestrophe des zweiten Tons an.) Vgl. Pickerodt-Uthleb (1975), S. 404 Anm. 1.
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Randnachträge zu nehmen und hat den Schmuck der Stropheninitialen am Fuß der Spalten (113ra, Z. 32/33: U; 113va, Z. 30/31: H) so tief herabgezogen, dass er die Initialen von JN 16 und 17 gar nicht mehr hätte verzieren können.95 Bei den drei Strophen, die der Grundstockschreiber in der Phase N2 in wesentlich kleinerem Duktus eingetragen hat, rechnete er nicht mehr mit einem Illuminator: Den Strophenanfang signalisiert eine Lombarde in Texttinte, senkrechte Striche markieren die Gliederung. Die sechs Töne B r u d e r We r n h e r s96 sind alle aus dem ›Codex Manesse‹ bekannt, in der Meisterlieddichtung waren sie nicht mehr in Gebrauch. Das ohnehin vergleichsweise umfängliche Wernher-Corpus in J (7vb–16va; 50 Strophen, davon 27 in C) wird in der Phase N1 um 15 Strophen (davon 3 in C) erweitert; keinen Zuwachs erhielt der vierte Ton mit der geringsten Strophenzahl (J 54–56). Die Nachträge beginnen jeweils unterhalb der Melodie und beanspruchen sämtliche Textseiten.97 In den Zusätzen zum strophenreichsten zweiten Ton (JN 37–42, 9v–12r) sind die Siebenheber am Stollenschluss mit mehr Konsequenz als im Grundstock (J 17–36, 9rb–12va) durch Achtheber ersetzt, wie es der Melodiestrophe entspricht; und so mögen auch die vielen kleinen Einfügungen speziell in den Versen 3 und 6 von Grundstockstrophen auf der Zusatzquelle fußen,98 was voraussetzt, dass deren Bestand sich mit J überlappte. In der Phase N2 hat der Grundstockschreiber dem ersten Ton noch zwei Strophen beigefügt (davon 1 in C). Einer relativ schmalen und zudem völlig ungeordneten Sammlung von Sangsprüchen des alten, angesehenen süddeutschen Autors im ›Codex Manesse‹ (Nr. 117, 345r–347v, 38 Strophen)99 steht also mit dem Grundstockcorpus und den durch die Randnachträge repräsentierten Quellen eine reichere Tradierung im Norden gegenüber. Die übrigen drei Toncorpora sind gegen Mitte oder Ende durch einzelne Strophen ergänzt: Stolles Alment (2ra–7vb) 6r und später 4r, Sonnenburgs erster Ton (63va–70ra)
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Fol. 81ff. war eventuell zuerst, die heutige vordere Partie danach illuminiert worden. – Dass aber die Boppe-Strophen JN 16 und JN 17 dem Illuminator vorgelegt werden sollten, zeigen die Vorgabebuchstaben 113r innen zu JN 16, die im Digitalisat zu erkennen sind (j für v. 1, d für v. 4). Zu den Tönen und Strophen in J vgl. RSM 5 (1991), S. 548–564. Die sechs Töne sind gemäß der Reihung in HMS II 227–235, an die sich Schönbach in seiner Ausgabe (Anm. 89) hält, als Ton IV. I–III. V–VI gezählt. Eine »Strophentabelle nach J« mit Kennzeichnung der Nachträge bei Franz Viktor Spechtler: Bruder Wernher. Abbildung und Transkription der gesamten Überlieferung. II. Göppingen 1984 (Litterae 27,2), S. X–XII. Das lange verschollene Tetschener Bruchstück, das nicht viel jünger sein dürfte als J und u. a. die Strophe J 3 überliefert, befindet sich in Prag (NB, Cod. XXIV.C.55); vgl. Klaus Klein: Wieder zu ›Verbleib unbekannt‹. I. In: ZfdA 135 (2006), S. 340f. Um der Eindeutigkeit der Tonzuordnung willen wurden in der Phase N1 Seiten gemieden, auf denen ein Ton endet und die Melodiestrophe des nächsten Tons in der rechten Spalte einsetzt (7vb. 9rb. 14vb. 15vb); die zwei Strophen auf 9r, die noch zum ersten Ton gehören, kamen in der Phase N2 hinzu. Vgl. u. a. Ferdinand Lamey: Bruder Wernher. Sein Leben und sein Dichten. Diss. Würzburg, Karlsruhe 1880, S. 18–20; Bartsch (1923), S. 98. Üblicherweise sind in C Strophen desselben Tons in einem Corpus ebenso wie in J zusammengeführt. Im Wernher-Corpus wird nicht einmal der Tonwechsel markiert (der Illuminator geht 347r aus freien Stücken von Rot zu Blau über). Vielleicht kapitulierte der Zürcher Redaktor angesichts der Ähnlichkeit von Wernhers Strophenformen.
Der Grundstock von J und die Randnachträge
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69r, der Hofton Boppes (111va–113vb) 113r und 113v. Die jeweilige Position beruht kaum auf Willkür. Sofern eine neu aufzunehmende Strophe sich in der Nachbarschaft von Sprüchen gefunden hatte, die bereits im Grundstock von J vorhanden waren, wird ein Platz in deren Nähe bevorzugt worden sein. Daneben kann – zumal bei separat bekanntgewordenen Strophen – ein verwandter Typ, ein ähnliches Thema oder die Wiederkehr eines prägnanten Stichworts den Ausschlag gegeben haben. Einweisungszeichen fehlen freilich, sodass es bei Vermutungen bleiben muss. Am besten nachvollziehen lässt sich die Entscheidung für den Standort der Sonnenburg- und der ersten Boppe-Strophe. Der erste Ton des F r i e d r i c h v o n S o n n e n b u r g100 ist im Grundstock mit mehr Strophen (J 1–46) präsent als alle anderen Töne, ausgenommen den ›Wartburgkrieg‹-Ton II. Über die Entgegnung (J 6–9) auf Sonnenburgs fünfstrophige Verteidigung der Welt hinaus dürften etliche der 36 noch nicht im ›Codex Manesse‹ überlieferten Strophen Zeugnisse eines breiteren Gebrauchs des Tons sein; ins meisterliche Tönerepertoire ist er jedoch ebensowenig übernommen worden wie die Töne Bruder Wernhers. Der eine den J-Redaktoren im Nachhinein bekannt gewordene Spruch (JN 47): Eyn wort ob allen worten was e. icht der werlde were, ist 69r unten platziert; schräg gegenüber, am Fuß der Spalte 68vb, fängt J 38 an: Uz eynem worte wĤs eyn got der ie gewesen was.101 In beiden Strophen geht es um Inkarnation und Erlösung;102 und beiden gemeinsam ist die geistlicher Thematik vorbehaltene Reimschema-Variante aabc, ddbc (statt aaab, cccb) im Aufgesang des Tons, die sonst auf den Kopfteil des Toncorpus beschränkt bleibt.103 Unter den umgebenden weltlichen Strophen sticht J 38 außerdem durch singulären Reimschmuck hervor;104 vielleicht wechselte der Grundstockschreiber hier die Vorlage, und J 38 war Bestandteil einer geistlichen Einleitungspartie seiner neuen Quelle. Die Zusatzquelle, der er dann in der Phase N1 JN 47 entnahm, könnte ebenfalls geistlich eingeleitet und von J 38, eventuell in einfacherer Gestalt, flankiert gewesen sein.
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Ausgabe: Masser (1979) Nr. 1–50. Zur Überlieferung des Tons (nach Zingerles Zählung Ton IV) vgl. die Tabelle S. XXIXf. sowie RSM 3 (1986), S. 524–533, und 1 (1994), S. 24. In Frage gekommen wäre für den Nachtrag auch 68v; doch weist fol. 68 unten einen längeren genähten Riss auf. Von der Hagen hat JN 47 (Jesus Christus als neuer Adam) vor J 38 (Maria als neue Eva) eingereiht: HMS III 75f., I,38. 39. Bei Oswald Zingerle (Hg.): Friedrich von Sonnenburg. Innsbruck 1878 (Ältere tirolische Dichter 2) ist die Einreihung von JN 47 vor J 38 in der Zählung beibehalten (IV 34a. 35), JN 47 jedoch als unecht in den Anhang versetzt (S. 85, vgl. S. 46). Nicht mehr erkennbar ist der Zusammenhang in der Ausgabe von Masser (1979), weil er Holz (1901) folgt und die Nachtragsstrophe als letzte des Tons bringt (Nr. 50; vgl. S. XXX Anm. 48), J 38 hingegen als Nr. 39. J 1–11. 13–15, Masser Nr. 1–9. 11–12. 14–16. – Drei geistliche Strophen weisen die Reimbindung aaab, cccb auf: das Mariengebet J 12, der Weihnachtsspruch J 31 sowie H 6 (Masser Nr. 13. 32. 40). – In C sind die Varianten wie zwei Töne separiert: C 1–2 (aaab, cccb), C 18–25 (aabc, ddbc), ohne Verweisung; dazwischen drei Töne. Das Reimschema aabc, ddbc, eeff ist um Zäsurreime in allen vier Langzeilenpaaren bereichert: mamabc, ndndbc, oeoepfpf. Eine etwa gleich alte, ab v. 3 stark abweichende Version des Spruchs (H 5, bei Masser im Apparat), die weder aus der J-Version abgeleitet werden noch deren Grundlage gebildet haben kann, wandelt die einfache Form anders ab: mamaxc, ndndxc, xeoexfof (wobei c = o; die Zusammenfassung der Verse 3/4 und 7/8 mit dem Reim bc zu einer Langzeile ohne Zäsurreim braucht nicht unbedingt auf den Bearbeiter zurückzugehen).
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B o p p e s Hofton105 war bis in den Meistergesang in kontinuierlichem, auch lateinischem Gebrauch, doch wurde im 16./17. Jahrhundert der formgleiche Lange Ton Heinrichs von Mügeln vorgezogen. Bemerkenswert hoch ist die Anzahl altbezeugter und mutmaßlich alter, immer wieder neu zu Baren kombinierter Einzelstrophen in der Kolmarer Handschrift.106 Das im Vergleich zum ›Codex Manesse‹ (20 Strophen) relativ bescheidene Toncorpus in J wurde zunächst um zwei Strophen erweitert. Für JN 16: IN ydamea wont eyn tier tabbart genant, wird mit Bedacht die Seite 113r gewählt worden sein, auf der man u. a. den Spruch: IN galadite in dem lande eyn vogel sus. / Genennet. vnd ir kennet ist kaladrivs (J 8), findet; in C sind beide Strophen benachbart. Der Schöpferpreis JN 17: Des hohen starken grozen wundereres kraft, wurde wohl schlicht im Gefolge von JN 16 auf der nächsten und letzten Seite des Toncorpus nachgetragen; denn mit dem Spruch vom Stein kamahv (J 11) und dem Rätsel von der Laus (J 12) auf 113v verbindet ihn nichts. (Eher wäre er in der Nähe der Fürbitte für Konrad von Würzburg, J 1, 111va–112ra, oder des Mariengebets J 6, 112vb, zu erwarten gewesen.) Auch diese zweite Nachtragsstrophe ist in C überliefert, und sie steht schon nahezu vollständig im Grundstock. Durch ein Versehen – des Grundstockschreibers oder eher eines Vorgängers – springt nämlich J 7 (112vb–113ra) im dritten Vers von dem wîp-Lob: Du hoch geborner ivngelinc vĤr komender man, in den Schöpferpreis über.107 JN 17, v. 4ff. und J 7, v. 4ff. stehen einander näher als dem Text in C, der Nachtrag unterscheidet sich jedoch – zu seinem Vorteil – vom Text im Grundstock;108 der Schreiber rekurrierte demnach in der Phase N1 nicht etwa auf eine im Grundstock benutzte Vorlage, vielmehr dürfte er JN 17 aus derselben Zusatzquelle wie JN 16 abgeschrieben haben. Möglicherweise bot sie andere Boppe-Strophen ebenfalls in einer J überlegenen Fassung. (Sollte das vollständige wîp-Lob darin enthalten gewesen sein, wäre es übergangen worden, weil bei kursorischer Prüfung des Grundstockbestands das Initium von J 7 suggerierte, die Strophe sei schon zur Gänze aufgenommen.109) Die Teildublette JN 17 ist ein Glücksfall: Sie gibt ausnahmsweise den Blick frei auf Textvarianten in dem einer Zusatzquelle und dem Grundstock gemeinsamen Strophenbestand; sonst treten Zusatzquellen ja nur
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Ausgabe: Alex (1998). Die im Folgenden angeführten Strophen J 1. 6. 7. 8. 11. 12. 16. 17 bei Alex unter I,21. 14. 2/10. 5. 24. 16. 6. 10. – Zur Sangspruchdichtung im Hofton vgl. RSM 3 (1986), S. 209–217, und 1 (1994), S. 21. Verwendung in lateinischer Dichtung: RSM 4 (1988), S. 93, 454; 5 (1991), S. 648, 649. Nachweis des nachreformatorischen Gebrauchs: RSM 2,1 (2009), S. 21; vgl. S. 85. Vgl. Michael Baldzuhn: Vom Sangspruch zum Meisterlied. Untersuchungen zu einem literarischen Traditionszusammenhang auf der Grundlage der Kolmarer Liederhandschrift. Tübingen 2002 (MTU 120), S. 42, 344–370. Vielleicht wurden beim Abschreiben Spalten oder Seiten überschlagen, oder Blattverlust in einer Vorstufe war die Ursache des Malheurs. Pickerodt-Uthleb (1975), S. 404 Anm. 545, denkt an einen Augensprung in v. 3, weil sie glaubt, der erste Stollen ende im wîp-Lob genauso wie im Schöpferpreis. In Wirklichkeit endet er anders. Und J 7, v. 3 (werltliche wunne || v] werdes menschen bilde) ist offenbar – wohl sekundär, um der Form Genüge zu tun – zusammengezogen aus zwei kompletten Stollenschlussversen: (… diu dir vüegen [geben J] kan) / w e r l t l î c h e r vröuden hort. in werender w u n n e (Alex I,2,2f. nach C); V n d e der an sich nam w e r d e s m e n s c h e n b i l d e (Alex I,10,3, hier nach JN 17). Beispielsweise sind in J 7 die Verse 9 und 10 ausgelassen. Vgl. Pickerodt-Uthleb (1975), S. 404 Anm. 545, zu den Überlegungen von Holz (1901), S. IV.
Der Grundstock von J und die Randnachträge
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durch die ihnen entlehnten Plusstrophen (und vermutungsweise durch Änderungen im Grundstock) in Erscheinung. S t o l l e s Alment110 ist unter den ergänzten Tönen wohl der älteste und wurde noch von den Meistersängern häufig benutzt. Bereits im 13. Jahrhundert verwendeten dem ›Codex Manesse‹ zufolge Bligger von Steinach, der Tugendhafte Schreiber, der Hardegger, der von Wengen, der Marner und Boppe die Alment. Ein Corpus unter dem Namen des Tonautors bietet erst J. Hier begegnen ein paar Strophen aus C ohne Nennung des Textdichters wieder (Hardegger wird jedoch in der Gegenstrophe J 6 namentlich angesprochen111). Für die übrigen Sprüche einschließlich der Nachträge ist J das einzige oder früheste Zeugnis; aufgrund des frühen regen Gebrauchs der Alment durch andere gilt als unentscheidbar, ob darunter Strophen sind, die Stolle selbst gedichtet hat. – Der vom Grundstockschreiber in der Phase N1 eingetragene Frauenpreis (JN 38): Gienc vz gienc in. gienc hyn. gienc her. gienc wider vnde vĤr,112 hat kein Pendant im Corpus; vielleicht fand das überschwängliche Lob der vorbildlichen Ehefrau auf 6r Platz als Kontrast zu der Scheltstrophe J 25 (5vb–6ra), in der der Dichter ankündigt, argen herren, die seinen sanc nicht belohnen, sein lob zu ersparen; Gelogen vnde vnvĤrdienetiz lob ist Gegenstand von J 27 auf derselben Seite (6rb). Das in der Phase N2 auf 4r zugefügte bispil von der undankbaren Schlange (JN 37): Hie vĤr in eyme wynter do gevallen was eyn sne, warnt davor, dem vngetruwen zu dienen. Es konnte als Komplement zu der Herrenlehre J 12 (4ra) aufgefasst werden, die empfiehlt, sich edelen ritteren gegenüber wie Löwe und Strauß (beim Physiologus) zu verhalten: Sie dienentz wol of eynen tac swen sie da vmme wagent ritters leben. Die Papst- und Kleruskritik J 13 auf derselben Seite (4rb) bringt eingangs ein knappes byspil.113 Die Hände N3 bis N7 ergänzen jeweils einen einzigen Ton. In all diesen jüngeren Nachträgen beginnen die Verse im Gegensatz zum Grundstock (sowie N1 und N2) mit Minuskel; von dessen sonstigen Gepflogenheiten entfernen sich die Schreiber in individueller Weise. Einen sicheren Anhalt, in welcher Reihenfolge N3, N4 und N5 nach der Illuminierung der Sammlung tätig waren, gibt es nicht.
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Ausgabe der erwähnten Strophen: HMS III 3–10; Volker Zapf bereitet seine Ausgabe der Sangsprüche und Meisterlieder in Stolles Alment für den Druck (in der Reihe »Nova Mediaevalia«, Göttingen) vor. [Korrekturnachtrag: Zapf (2010).] – Zur Sangspruchdichtung in der Alment vgl. RSM 5 (1991), S. 393–400, und 1 (1994), S. 28, sowie die Einträge unter den in C genannten Textdichtern. Verwendung in lateinischer Dichtung: RSM 4 (1988), S. 116. Nachweis des nachreformatorischen Gebrauchs: RSM 2,1 (2009), S. 269f. Ausgabe: Collmann-Weiß (2005), S. 48–51 (I,6 und Erwiderung). Diese Strophe ist auch in der Kolmarer Handschrift (ausdrücklich als Einzelstrophe!) und in der Wiltener Meisterliedersammlung (als Beschluss eines aus fünf Einzelstrophen zusammengestellten Bars) überliefert, und zwar nach bzw. vor derselben jüngeren, dreistrophigen Minneallegorie. Vgl. RSM 5 (1991), S. 399: 1Stol/34a–b, S. 410f.: 1Stol/528a–e sowie S. 406: 1Stol/514a–b; ferner Volker Zapf: »Diß liet stet alleyn oder mangelt noch eins«. Beobachtungen zur Alment-Überlieferung und editorische Konsequenzen. In: Schrift – Text – Edition. Hans Walter Gabler zum 65. Geb., hg. von Christiane Henkes u. a. Tübingen 2003 (Beihefte zu editio 19), S. 127–136 (mit Abdrucken). Von der Hagen hat die Nachträge zu Stolles Alment zu Recht nicht in die Strophenfolge des Grundstocks eingereiht. Die oben skizzierten vagen Beziehungen legen keine Rückschlüsse auf Überlieferungskontexte in den Quellen nahe.
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N 3 hat den stattlichen Strophenbestand eines prominenten Tons mehr als verdoppelt. Den Langen Ton F r a u e n l o b s114 teilt J mit C; unter den Tönen alter Meister ist er einer der beliebtesten. Frauenlob selbst hat ihn am häufigsten verwendet, in ihm wird der wîp-vrowe-Streit ausgetragen, in ihm sind die sogenannte Selbstrühmung und das Eucharistiegebet gedichtet, das Frauenlob in der Sterbestunde gesprochen haben soll.115 Einem Anonymus gilt der Lange Ton, den er für seine Totenklage wählte, geradezu als Inbegriff von Frauenlobs Kunst: Ach, daz dirr dôn sîns meisters gar verweiset ist! / wie mangen list / er dar inn hât gezimmert! / … / mich riuwet Heinrîch Frouwenlop, ein ûzerwelter meister.116 Die Fülle mutmaßlich alter Einzelstrophen, die sich – wie diese – aus den Baren in der Kolmarer Handschrift herausschälen lassen,117 spricht für einen lebhaften Gebrauch des Tons, schon bevor das Dichten in mehrstrophigen Baren sich definitiv durchsetzte. Mersburch und Tilo dürften ihre lateinischen Sangsprüche um 1300 verfasst haben;118 eine Cantio von Christi Passion nach den sieben Tagzeiten wird jüngeren Datums sein.119 – Auf den Nachtrag von N3 (JN 24–53) gehe ich in Abschnitt III ein. N4 erweiterte das Corpus in B o p p e s Hofton nach N1 nochmals durch vier neue Strophen:120 drei auf der Doppelseite 111v/112r unterhalb des Corpusanfangs121 und eine auf 113v im Anschluss an JN 17 (N1). An den Schmuckausläufern einer Stropheninitiale (112rb, Z. 27/28: D) nahm N4 keinen Anstoß und beschrieb den unteren Rand nach dem Vorbild von N1 in voller Schriftspiegelbreite, ohne eine Leerzeile vorzuschalten; Linien sind indes nur auf 111v gezogen. Auf die Mitwirkung eines Illuminators verzichtete N4 von vornherein, wobei er sich eventuell an der Melodiestrophe und an JN 16 und 17 orientierte: Statt farbiger Fleuronnée-Initialen und Lombarden dienen große Zierbuchstaben in Texttinte der Gliederung; vor jeder neuen Strophe ist am Rand ein Caputzeichen angebracht (wie im Walther-Bruchstück O). Der Vermerk Meyster poppe neben der ersten Strophe soll wohl einer irrigen Zuordnung der Nachträge zu Frauenlobs Zartem Ton vorbeugen, der 111va oben endet. – Bei den drei Strophen JN 13–15 (111v/112r) legte N4 anscheinend mehr Wert auf die Nähe zur Melodie als auf eine inhaltliche Anbindung an Grundstockstrophen. Zwar war der für die Ritterlehre JN 15 (auch C) am besten geeignete Ort, die Seite 113r – unterhalb von J 9: Uvere eyn ritter turney strite tziost so wol gelart –, schon durch JN 16 belegt. Aber JN 13: Antylapus eyn tier genennet ist mit namen, hätte N4 leicht auf 112v unterhalb von J 5: Pardus eyn
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Ausgabe: GA V,1–*122; ergänzend: GA-S V,201–233. – Zur Überlieferung des Langen Tons bis ca. 1400 und im Weimarer Frauenlob-Corpus (F) vgl. RSM 3 (1986), S. 324–349, und 1 (1994), S. 22. Nachweis des nachreformatorischen Gebrauchs: RSM 2,1 (2009), S. 59. Zur Selbstrühmung (GA V,115) s. unten Anm. 183; zum Eucharistiegebet (GA V,1) s. unten Anm. 190. Karl Bartsch (Hg.): Meisterlieder der Kolmarer Handschrift. Stuttgart 1862 (StLV 68), Nr. 29 I, S. 289f. mit S. 648f. Vgl. RSM 3 (1986), S. 368: 1Frau/2/552a, Str. 1. Vgl. Schanze (Anm. 29), Bd. I, S. 78–82; Baldzuhn (Anm. 106), S. 38, 149–169. Vgl. RSM 5 (1991), S. 648: 1ZYMersb/1, S. 649f.: 1ZYTilo/1–6. Zur Schaffenszeit beider Dichter s. Hägele (Anm. 65), Sp. 175–177. Vgl. RSM 3 (1986), S. 376f.: 1Frau/2/572a–d. Die im Folgenden erwähnten J-Strophen 5. 9. 13. 14. 15. 17. 18 finden sich bei Alex (1998) unter I,7. 22. 25. 26. 15. 10. 11. Abbildung von J 111v und 112r in Farbe: Welker (1988), S. 505 und 506.
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tier genennet ist. kNne vnde balt, platzieren können.122 Dann hätte er zudem die mittlere Nachtragsstrophe, JN 14 (nur hier), die dem Cometa einen schönen Mann voller Falschheit vergleicht, nicht zu brechen brauchen; ihre Fortsetzung auf der Gegenseite ist eigens durch ein Kreuz mit vier Punkten angezeigt. – Statt dann für JN 18: UĤr allen wunder merket wol eyn wunder groz, den freien Rand der nächsten Seite (112v) zu nutzen, zog N4 es vor, die Strophe dem Schöpferpreis JN 17: Des hohen starken grozen wundereres kraft, auf 113v beizugesellen, obgleich der Raum hier knapp war. Es ist gut möglich, dass N4 sich nach der Zusatzquelle richtete und dort die beiden Sprüche wie im ›Codex Manesse‹ nebeneinander standen. In den Basler Fragmenten findet sich eine Entsprechung zu JN 18 inmitten von fünf Sprüchen abweichender Thematik ohne Parallele in J; der Bestand von sechs lückenhaft erhaltenen Hoftonstrophen in Ba (Alex P, 3ra–vb) war vermutlich einem – mit den Blättern vor fol. 3 verlorenen – Boppe-Corpus angehängt, das im wesentlichen dem Grundstockcorpus in J entsprach. Gegenüber den Versionen des Spruchs in C, im zweiten Florileg der ›Niederrheinischen Liederhandschrift‹ (n III, Alex N) und in der ›Kolmarer Liederhandschrift‹ (k, Alex K) gehören Boppe JN 18 und Ba 4 textgeschichtlich eindeutig zusammen; die Verwandtschaft ist jedoch weniger eng als die zwischen Ba und dem Grundstock von J im Kelin-Corpus und in den ›Wartburgkrieg‹Corpora. So lässt die eine Strophe die Existenz einer verzweigten Tradition im Umkreis der Liedersammlungen der ›J-Gruppe‹ ahnen. N5 fügte dem Corpus in S t o l l e s Alment nach N1 und N2 nochmals zwei Sprüche bei. JN 39: So we dir armer ritterscaft. vil arm bistu tzwaren, und JN 40: Div warheit sprach: vnwarheit wie machtu so vrĤ (lies vro) ghesin,123 verdanken ihren Ort auf den Schlussseiten 7r und 7v sicherlich Gemeinsamkeiten mit dem Disput von Gawyn und Keye über das Hofleben (J 32–36, 7ra–vb), den der ›Codex Manesse‹ unter dem Namen des Tugendhaften Schreibers überliefert.124 Den unteren Rand in voller Breite zu beschriften war nicht tunlich: Auf 7r störte der Schmuck der Initiale von J 35 (7rb, Z. 32/33: S), der auch die Verzierung einer Stropheninitiale unterhalb von 7rb behindert hätte; und auf 7v nimmt die Melodie zu Bruder Wernhers erstem Ton fast die ganze rechte Spalte ein. So entschied N5 sich für spaltenbreite Schriftfelder (7ra, 7va); sie sind liniiert, die oberste Zeile ist jeweils freigelassen. Wegen leichter Unterschiede im Schriftduktus ist anzunehmen, dass die Nachträge in einigem zeitlichen Abstand erfolgten. Die Gliederung und farbige Ausstattung beider Strophen entspricht genau der im Grundstock; nur weichen die Buchstabenformen ein wenig von denen des Grundstockilluminators ab, es wird ein anderer Illuminator oder der Schreiber selbst am Werk gewesen sein.
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JN 13 ist als Beschluss eines Dreierbars aus altbezeugten Strophen noch in der Wiltener Meisterliedersammlung (Alex W) überliefert. Ausgabe: HMS III 10. Danach: HMS II 152f., XII,1–5. Bartsch (1923), S. 96: In J »weichen die Strophen […] mundartlich beträchtlich von den vorhergehenden ab« (mit Aufzählung niederdeutscher Spezifika). Vgl. RSM 5 (1991), S. 438: 1Tugdh/1/1; Andreas Kraß: Die Ordnung des Hofes. Zu den Spruchstrophen des Tugendhaften Schreibers. In: Literatur und Macht im mittelalterlichen Thüringen, hg. von Ernst Hellgardt, Stephan Müller und Peter Strohschneider. Köln u. a. 2002, S. 127–141, bes. S. 129.
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N6 und N7 erweiterten schließlich zwei schmale Toncorpora; die Töne zählen zu den jüngsten in J und sind im ›Codex Manesse‹ noch nicht vertreten. Die neuen Sprüche wurden unterhalb der Spalten ohne Liniensystem in gut lesbarer Gebrauchsschrift mit wenigen Abkürzungen (N6) bzw. mit ungewöhnlich vielen er-Abbreviaturen (N7) eingetragen.125 Um eine graphische Gliederung der Strophen nach dem Vorbild des Grundstocks bemühten sich N6 und N7 nicht mehr. N6 hat zum G o l d e n e r-Corpus126 (J 1–3, 46vb–47rb) die Fürstenpreisstrophen JN 4 und JN 5 nachgetragen und damit für einen der 51 Töne des Grundstocks, die bislang außerhalb der Jenaer Handschrift nicht nachgewiesen sind,127 ein Indiz breiterer Bekanntheit und zugleich ein Datierungskriterium geliefert.128 Die Position unterhalb der Spalten 46vb bzw. 47ra lässt vermuten, dass es N6 auf die Nähe zur Melodiestrophe (zu der die Noten freilich fehlen) oder zur Corpusspitze ankam. Denn das Exempel J 1, das mit der Herrenlehre J 2 zusammengehört, bietet keinen Anknüpfungspunkt, und einer Abschrift in durchlaufenden Zeilen auf 47r hätte nichts im Wege gestanden. – Einen Rubrikator beizuziehen, hat N6 nicht geplant. In seiner Vorlage waren beide Strophen vielleicht konsequent fünfgeteilt wie J 1–3 (aab, ccb, de, de, xfggf): N6 setzt am Versende ziemlich regelmäßig Reimpunkte, viermal aber Virgeln an Stellen, wo im Grundstock Lombarden folgen würden (in JN 4 vor v. 4. 7. 11, in JN 5 vor v. 9); und fünf von sechs Majuskeln zu Versbeginn scheinen gleichfalls dem Gliederungsprinzip geschuldet zu sein (JN 4, v. 7. 9. 11 und JN 5, v. 9. 11; schemawidrig JN 4, v. 13). F r a u e n l o b s Zarter Ton129 ist Bestandteil nicht nur des Autorcorpus in J (J 81–85, 110va–111va), sondern wohl wenig später auch der fragmentarischen Frauenlob-Corpora Z und b sowie des ersten Florilegs der ›Niederrheinischen Liederhandschrift‹ (n I)130. Drei Einzelstrophen in einer kleinen, überlegt konzipierten bairischen Sammlung aus dem zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts, die Maria und den Gottessohn preisen, werden bereits der Frauenlob-Rezeption zugerechnet.131 Der Ton wurde von Meisterlieddichtern und Meistersängern weiterverwendet, freilich längst nicht so häufig wie Frauenlobs Langer Ton. N7 ergänzte in J drei lehrhafte Sprüche, JN 86. 87 (110va) und JN 88 (110vb),132 unterhalb der Melodiestrophe; ihr stehen sie auch vom Texttyp her am nächsten. Die linke Begrenzungslinie des Schriftspiegels respektierte N7 nicht, bezog den Außenrand ein und konnte auf diese Weise alle drei Strophen auf 110v unterbringen. Durch die
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Zu den speziellen Gepflogenheiten von N6 und N7 vgl. Bartsch (1923), S. 46 und 45f. Ausgabe: HMS III 51f. Vgl. RSM 4 (1988), S. 7. Zu zwei Dritteln dieser unikalen Töne sind in J nur zwei bis sechs Strophen aufgezeichnet; das Maximum erreichen Ton II des Meißner (20) und Rumelants Ton VI (ehemals 18). Zum Ton des Goldener (und zu Regenbogens Goldenem Ton, vielleicht einem zweiten Ton desselben Autors) vgl. Rettelbach (Anm. 65), S. 250 Anm. 51. Ausgabe: GA VIII,1–26; ergänzend: GA-S VIII,201–220. – Zur Überlieferung bis ca. 1400 und im Weimarer Frauenlob-Corpus (F) vgl. RSM 3 (1986), S. 404–409. Nachweis des nachreformatorischen Gebrauchs: RSM 2,1 (2009), S. 65. Zur revidierten Datierung der Florilegien n I und n III s. 2VL 6 (1987), Sp. 996 (»noch um die Mitte des 14. Jh.s«). Ausgabe mit Kommentar: GA-S VIII,201, A 1–3 (S. 181–183); vgl. auch Baldzuhn (Anm. 106), S. 192f. Zur Handschrift s. Burghart Wachinger: [Art.] ›Heidelberger Liederhandschrift cpg 350‹. In: 2VL 3 (1981), Sp. 597–606, bes. Sp. 605f. zu Teil R; RSM 1 (1994), S. 173f. Ausgabe: GA VIII,3–5.
Der Grundstock von J und die Randnachträge
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spaltenweise Verteilung des Textes wurden die aus dem Interkolumnium herabhängenden Zierschlaufen der Initiale von J 82 (110vb, Z. 28/29: G) umgangen. – Die Anfangsbuchstaben der Strophen JN 87 und 88 hat N7 nicht eingesetzt, also an ihre Ausführung in Farbe gedacht. Im Stropheninnern ist jedoch kein Raum für Gliederungslombarden (v. 8 und 15) ausgespart. Ebensowenig beabsichtigte N7 eine Gliederung durch Majuskeln; denn von Majuskeln zu Versanfang machte er im Gegensatz zu N4 ganz unsystematisch Gebrauch (in JN 86. 87 treffen sie eher zufällig mit dem Beginn des Abgesangs zusammen). In mehr als der Hälfte der Fälle sind nicht einmal Verseinheiten als solche durch Reimpunkte bezeichnet.133 Die Strophen JN 86. 87 überliefert das Weimarer Frauenlob-Corpus F, das über Zwischenglieder auf eine Vorstufe noch aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zurückgehen dürfte,134 in umgekehrter Folge (F 77. 76) am Ende einer Reihe von sechs lehrhaften Strophen,135 die das Toncorpus (F 72–89) eröffnet; an dessen Spitze steht wie in der Jenaer Handschrift GA VIII,1.136 Eventuell leitete dieser Spruch auch in der Quelle von N7 das Toncorpus ein. Eine engere Verwandtschaft zwischen JN 86. 87 und F lässt der Blick in die Varianten nicht erkennen. Die Beschaffenheit der Quelle von N7 bleibt für uns im Dunkeln. Ähnelte das (hypothetische!) Toncorpus zumindest im Themenspektrum F, wo man Minne- und Minnereflexionsstrophen im Zarten Ton vermisst, wie sie vor und um 1350 die Corpora Z und b und das Florileg n I (s. oben) versammeln137? Oder wurden solche Strophen, die sich auf 111r zu J 85 (GA VIII,15)138 hätten stellen lassen, von N7 bewusst ausgeklammert? Welche Gesichtspunkte bei der Entscheidung, ein Toncorpus durch Randnachträge zu ergänzen, eine Rolle spielten, ob die Komplettierung des Bestandes generell Priorität hatte oder im Einzelfall eine gezielte Auswahl getroffen wurde, entzieht sich unserem Urteil – schon allein deshalb, weil wir die Basis der jeweiligen Entscheidung, d. h. die konkrete Zusatzquelle, nicht kennen. Deutlich wird gerade beim Zarten Ton Frauenlobs nur, dass auch mit der nachträglichen Erweiterung jüngerer Toncorpora das Strophenrepertoire keineswegs vollständig erfasst ist, das im Einzugsbereich der J-Redaktoren präsent gewesen sein muss und von dem sie bei systematischer ›Nachlese‹ hätten Kenntnis erlangen können. Wahrscheinlich ist die Mehrzahl der Nachträge zu Tönen des Grundstocks ein Nebenprodukt der abschließenden Arbeit an der Sammlung, während die letzten Nachträge sich nur noch dem Zufall verdanken.
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Da die Zahl der Majuskeln und der Reimpunkte von Strophe zu Strophe zunimmt, folgte N7 eventuell immer getreuer einer sorgfältiger eingerichteten Vorlage. Vgl. Wachinger (1987). In der Handschrift erscheint F 77 als Kopfstrophe des zweiten Bars im Zarten Ton, F 76 als Schlussstrophe des ersten Bars; s. Stackmann/Bertau (1981), Teil 1, S. 43. Jedoch ist die Bareinteilung, die man in F antrifft, sekundär und öfter willkürlich erfolgt. Das als fol. 2 gezählte Einzelblatt des Frauenlob-Fragments Z bewahrt acht Strophen im Zarten Ton, als erste GA VIII,1 (Z 4); das Toncorpus wird aber auf einem verlorenen Blatt begonnen haben. Vgl. GA VIII,16–*21. Zu GA VIII,15 (auch Frauenlob Z 7, n I,6) vgl. Wachinger (2006), S. 406–409, Kommentar S. 882f.
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III. Frauenlob (Nr. 27) ist der jüngste Autor in der mit fol. 81 einsetzenden, möglicherweise ältesten Partie der ›Jenaer Liederhandschrift‹ (Nr. 25–30b) und doch direkt nach dem Meißner und Konrad von Würzburg platziert, vor Boppe und Hermann Damen sowie dem ›Wartburgkrieg‹-Komplex. Im Grundstock des ›Codex Manesse‹ fehlte Frauenlob noch; er hat erst in der zwanziger Jahren mit einem Nachtragscorpus Eingang gefunden (Nr. 132, Hand FS), immerhin dem umfangreichsten, und nur durch vier Kleincorpora (Nr. 128–131, Hand ES) von Konrad von Würzburg getrennt;139 um 1460 wird meinster Heinrich frauwenlob dann die Reihe der Tonautoren anführen, die die ›Kolmarer Liederhandschrift‹ versammelt. Die Position, die Frauenlob von den J-Redaktoren – oder bereits von ihren Vorgängern – zugestanden wurde,140 ist zweifellos als Anerkennung seines Rangs zu werten. Den Meißner und Konrad hatte Hermann Damen vor 1287 im Anschluss an die ›Wartburgkrieg‹-Protagonisten Heinrich von Ofterdingen, Wolfram und Klingsor als die besten lebenden Sänger gerühmt (J 10);141 des verstorbenen Konrad gedenkt Boppe in der Fürbitte, die in J sein Corpus eröffnet (J 1).142 Frauenlob ist in das Netz der Bezugnahmen wohl sekundär integriert. Seine ungleich kunstvollere Totenklage auf Konrad im Zarten Ton erscheint an später Stelle des Corpus (J 82).143 Dem jungen Frauenlob gelten mutmaßlich vier Mahnstrophen Damens (J 31–34, zumindest in J 32 spricht Damen ihn namentlich an);144 und Frauenlob seinerseits erwähnt Damen ehrerbietig im Lob Ottos III. von Ravensberg (J 19), desselben Grafen von Ravensberg vermutlich, den Damen gepriesen hat (J 38).145 Das Frauenlob-Corpus (103ra–111va) umfasst nach seiner Verstümmelung heute – einschließlich der Gegnerstrophen und der Ergänzungen von N3 und N7 – 88 Strophen in vier Tönen: im Langen, Flug-, Grünen und Zarten Ton (GA V–VIII). Durch die Nachträge rückte es zum drittgrößten (Ton-)Autorcorpus in der erhaltenen Sammlung auf und wird nur vom Meißner-Corpus (etwa 144, jetzt noch 128 Strophen) und vom Rumelant-Corpus (Nr. 21; 111, jetzt noch 105 Strophen) übertroffen, wenn man vom
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Zur Datierung der Nachträge von ES und FS im ›Codex Manesse‹ vgl. Karin Schneider: Akzentuierung in mittelalterlichen deutschsprachigen Handschriften. In: Edition und Sprachgeschichte. Baseler Fachtagung 2.–4. März 2005, hg. von Michael Stolz in Verbindung mit Robert Schöller und Gabriel Viehhauser. Tübingen 2007 (Beihefte zu editio 26), S. 17–24, hier S. 22. Dass Frauenlob in J oder einer Vorstufe in eine ältere Reihe Meißner – Konrad – Boppe – Damen (– ›Wartburgkrieg‹) eingefügt wurde, habe ich 1988, S. 47f., erwogen; wieder in: Kornrumpf (2008), S. 193f. Siehe Anm. 90. – Wachinger (1981), S. 302, verweist zusätzlich auf Rumelants Strophe J 88, in der er dem hochmütigen Singauf eine Vierergruppe überlegener Meister, an der Spitze den Meißner und Konrad, entgegenhält (HMS III 65, VIII,3). Alex (1998) I,21. – Sollte die polemische Strophe in Ton I des Meißner, die das Boppe-Corpus des ›Codex Manesse‹ im Anschluss an einen Scheltspruch des Meißner (Objartel I,12, auch J 12) überliefert, von Boppe stammen, so bestünde zumindest eine indirekte Verbindung zwischen beiden J-Autoren; s. zuletzt Alex, S. 7, 8, 147ff. zu III,1–2 (C 22–23). – In J wäre Boppe C 23 freilich ihres Tons wegen dem Meißner-Corpus zugeschlagen worden, so, wie Boppe C 24 (Alex IV,1) ihres Tons wegen in das Stolle-Corpus aufgenommen ist (Nr. 2, J 31). GA VIII,26. Vgl. zuletzt Wachinger (2006), S. 410f., Kommentar S. 885–888. HMS III 167f., V,4–7. Vgl. RSM 3 (1986), S. 255f. zu 1Damen/4/4, 5, 6–7. GA V,8; Damen, HMS III 169, VI,2.
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›Wartburgkrieg‹-Corpus unter Wolframs Namen absieht (Nr. 30b; mindestens 113, jetzt noch 104 Strophen). Allerdings ist J weit davon entfernt, Frauenlobs Œuvre in seiner ganzen Breite oder zumindest sein Sangspruchschaffen annähernd komplett zu bieten.146 Dass J überhaupt ein – durch Blattverlust zu Beginn seines Namens beraubtes – Frauenlob-Corpus enthält, hat der junge Docen entdeckt und den Autornamen aus dem Stil und der parallelen Überlieferung einiger Strophen im ›Codex Manesse‹ erschlossen.147 Der Umfang des Verlusts hingegen ist schwer präzise zu bestimmen. Anders verhält es sich bei den übrigen fünf Lücken im Innern des Grundstocks, auf die zunächst eingegangen sei. Zwei Lücken fallen mitten in ein Toncorpus. Im Rumelant-Corpus (Nr. 21) fehlt fol. 57a (das Gegenblatt von fol. 57). Verloren sind sechs von ursprünglich 18 Strophen des nur in J bezeugten Tons VI zwischen VI,7 (J 75‹…›) und VI,8 (J ‹…›76), u. a. vielleicht jener vermisste Spruch Rumelants, auf den sich in der letzten Strophe des Toncorpus ein Anonymus bezieht (VI,12).148 Wäre für einen Vergleich das Rumelant-Corpus noch greifbar, dessen Existenz der kleine Ausschnitt in Wolfenbüttel sichert, so ließe sich wohl mit Hilfe der Vormerkungen für den Illuminator auf dem Falz von fol. 57a teilweise feststellen, was in der Lücke stand.149 Dem ›Wartburgkrieg‹-Ton II (Wolfram, Nr. 30b) ist – mindestens – ein Doppelblatt in der Lagenmitte abhanden gekommen. Die unerwartete Auffindung eines Blattes in Dillingen (Jd) mit Jd ‹…›77k–77u und dem Anfang von J 78 hat den Verlust wahrscheinlich auf ein Blatt, 132a, mit neun bis zehn vollständigen Strophen zwischen J 77‹…› und Jd ‹…›77k reduziert;150 plausibel wird vermutet, dass auf den – auch seinem Umfang nach unbekannten – Schluss des Jägerrätsels151 das Rätsel vom schlafenden Kind und Klingsors Ankündigung von Nasions Kommen (vor der Nasionszene Jd 77k–77m) folgten.152 Bestätigung zu erwarten ist freilich nur von fol. 132a selbst oder weiteren Blättern der eng verwandten Basler Handschrift, die es noch wiederzufinden gilt (Ba 8vb reicht bis in eine J 60 entsprechende Strophe); in J erlaubt kein noch so kümmerlicher Rest mehr eine Verifizierung.
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Wachinger (1987) hat herausgearbeitet, dass der Bestand in J im Unterschied zum Weimarer Frauenlob-Corpus (F) »eher den Blick auf frühere Schaffensperioden Frauenlobs« freigibt (S. 201). Vgl. Docen (1807), Bd. 2, S. 269–272. Wiedeburg (1754) hatte die äußerlich unauffällige Lücke vor fol. 103 nicht bemerkt und über die Frauenlobschen Strophen unter ihrem vermeintlichen Dichter Konrad berichtet (mit Abdruck von GA VII,16 und VIII,26); er wunderte sich freilich, wie der Nachruf auf Konrad (GA VIII,26) »unter seine eigne Lieder gekommen ist« (S. 48–51, Zitat S. 50). Vgl. Pickerodt-Uthleb (1975), S. 391 Anm. 508; Wachinger (1973), S. 179–181. Zu den Vorgabebuchstaben für die Strophen auf den Innenspalten der verlorenen Blätter s. unten. Im Digitalisat sind jeweils die Aufnahmen des Gegenblatts zu konsultieren, hier also fol. 57v/57ar und fol. 57av/57r. Einen größeren Verlust in der Lage fol. 129–136 sollte man vorsichtshalber so lange in Betracht ziehen, wie ungeklärt bleibt, ob das Dillinger Bruchstück direkt an das verlorene Blatt 132a anschloss. Zumal als letzte Lage käme wohl statt eines Quinio auch ein Senio in Frage. Vgl. Rompelman (1939), S. 338f. zu Str. 73–84 des ›Rätselspiels‹; Tomasek (Anm. 25), S. 237f., 256. Klein/Lomnitzer (1995); ihre Überlegungen zur Lücke bezeichnen die Verfasser vorsichtig als »Spekulationen« (S. 400).
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Zwei Lücken sind im Meißner-Corpus (Nr. 25) zu beklagen: An den Nahtstellen der Töne III/IV und XI/XII fehlen fol. 85a und 85b (die Gegenblätter von fol. 83 und 82) sowie fol. 92a (das Gegenblatt von fol. 88). Dass die Töne IV und XII jeweils ein neues Autorcorpus einleiteten, lässt sich nicht strikt widerlegen; doch bestehen an der Verfassereinheit der Töne I–XX keine ernsthaften Zweifel.153 Ähnlich wie bei Rumelants Ton VI herrscht weitgehend Klarheit darüber, wieviel verloren ist, aber nicht, was. Denn auch beim Meißner entfällt die Möglichkeit, wenigstens die Strophen auf den Innenspalten der Blätter anhand der Vorgabebuchstaben auf den Falzen zu identifizieren. Immerhin gestatten sie Präzisierungen im Detail:154 fol. 85a und 85b enthielten den Schluss der Melodiestrophe des Tons III – eher einen anfangsverkürzten als einen vollständigen dritten Stollen (vgl. z. B. Ton VIII) – und etwa 13 Textstrophen, falls nicht auf 85arb oder 85brb ein neuer Ton einsetzte, sowie die ersten zwei Zeilen der Melodiestrophe des Tons IV (der Anfang der Melodie lässt sich dank der Wiederholung im zweiten Stollen restituieren). Auf 92ara–rb standen die Fortsetzung der Melodiestrophe von Ton XI, von der fol. 92 gerade noch die ersten zwei Zeilen bringt, und eine oder zwei Textstrophen – je nachdem, ob Ton XI im Umfang den Tönen IX, XIX (mit je zwei Strophen) u. a. oder X, einem der kürzesten Töne des Meißner, glich. Es folgten die Melodiestrophe des Tons XII (92arb–vb) und eine erste Textstrophe (92avb, Z. 16–33); die Melodiestrophe ging also nicht, wie bislang angenommen, unmittelbar J 82 auf fol. 93 voraus. Die fünfte Lücke ist nach fol. 31 entstanden. Entfernt sind fol. 32 und 33 (die Gegenblätter von fol. 25 und 40) und damit Ende bzw. Anfang zweier Autorcorpora: Gervelin (Nr. 11), Fegfeuer (Nr. 11a).155 Die im Basler Fragment glücklicherweise unversehrt bewahrte Eingangspartie des Fegfeuer-Corpus (3vb–4vb) verhilft den zwei Tönen auf fol. 34–35 zum Namen ihres wahren Erfinders und dem ersten Ton zu seiner Melodie; die sechseinhalb Strophen in Ba decken sogar bis auf wenige Verse im Ninive-Spruch I,7 den in J verlorenen Bereich des Fegfeuer-Corpus ab, wie die zu 33ra (I,2) und zu 33vb (I,6. 7) notierten Buchstaben zu erkennen geben: Ba 3vb–4vb entspricht J 32vb, etwa Z. 10/12, bis 33vb, etwa Z. 27.156 Vor dem Fegfeuer-Corpus könnte fol. 32 außer dem Schluss von Gervelins unikalem Ton I noch einen weiteren Ton – Gervelins oder eines anderen – geboten haben.157 Das Frauenlob-Corpus beginnt in der 15. Lage, von der nur noch das äußerste Doppelblatt, fol. 102/104, und das Einzelblatt 103 übrig sind. Die Lücke ist eindeutig zwischen fol. 102 und 103 zu situieren: 102vb bricht das Konrad-Corpus (101rb–102vb) in
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Vgl. Objartel (1977), S. 26–28. Ferner ist Ton XVII indirekt, durch die Nennung des Meychsner in der Überschrift der ›Augsburger Cantionessammlung‹, als Schöpfung des Meißner gesichert; s. oben Anm. 65. Vgl. Pickerodt-Uthleb (1975), S. 393f. Anm. 511 und 512; Objartel (1977), S. 25f. Vgl. Bartsch (1923), S. 110f.; Wangenheim (1972), S. 27, 183, 184; Pickerodt-Uthleb (1975), S. 388–391 Anm. 507. Zu Recht präsentiert Wangenheim also Ba 7‹…› und den Strophenschluss J 34ra, Z. 1–4 als Reste ein und desselben Spruchs. Erwogen wurde auch, dass sie zu einem zweistrophigen Ninive-Gedicht (wie Kelin III,3–4) gehörten; dann müssten in J zwei Strophen versehentlich zu einer verschmolzen sein. Vgl. Pickerodt-Uthleb (1975), S. 390 Anm. 1.
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der zehnten Strophe des Hoftons (Schröder158 Ton 32) ab; und von der ersten Strophe in Frauenlobs Langem Ton, dem Tarsilla-Spruch (GA V,18), auf 103ra fehlt der Anfang, während 104ra nahtlos an 103vb anschließt (J 7, GA V,24). Im allgemeinen hat man seit Holz (1901) vermutet, am ehesten seien fünf Blätter verloren, das Gegenblatt von fol. 103 (im Folgenden fol. 102a) und vier Blätter bzw. zwei Doppelblätter in der Lagenmitte (im Folgenden fol. 102b bis 102e); denn die Lagen in J sind überwiegend Quaternionen. Allerdings haben in den Lagen 8, 9, 10 vier Blätter kein Gegenblatt, ohne dass Lücken im Text zu bemerken sind;159 und Lage 6 (fol. 41–46) ist ein Ternio,160 die heutige letzte Lage (fol. 129–136) war wahrscheinlich ein Quinio.161 Angesichts dieser Unregelmäßigkeiten trat Pickerodt-Uthleb dafür ein, »auf nicht zu rechtfertigende Hypothesen zu verzichten« und Lage 15 als Binio aufzufassen; auf dem einzigen »sicher fehlenden« Blatt 102a vermutete sie den Schluss von Konrads Strophe J 10, drei weitere Strophen im Hofton sowie die Melodiestrophe zu Frauenlobs Langem Ton und den Anfang von J 1.162 Dass Pickerodt-Uthlebs Binio-These nicht zutreffen kann, hat Stackmann 1981 dargelegt: Die sechs Buchstaben, die der Schreiber für den Illuminator auf der Versoseite des von fol. 102a stehengebliebenen Falzes notiert hat, schließen aus, dass 102avb Strophen in Frauenlobs Langem Ton, geschweige denn das Ende der Melodiestrophe und den Anfang von GA V,18 bot.163 Der Grundstockschreiber pflegte, wie K. K. Müller festgestellt hat, die Vorgaben für den Illuminator weit innen bzw. weit außen auf dem Blatt – wo sie durch Beschnitt meistens weggefallen sind (doch s. beispielsweise 19v, 69r, 69v, 136v) – anzubringen. Auf dem Falz der mit Textverlust fehlenden Blätter sind die zu den Innenspalten vermerkten Buchstaben teilweise bewahrt; da sie in günstigen Fällen Rückschlüsse auf den Inhalt ermöglichen, hat Müller sie mitgeteilt.164 Seine Buchstabenreihe zu fol. 102a gebe ich leicht modifiziert wieder und ergänze die Zeile, auf die der Buchstabe mutmaßlich zu
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Kleinere Dichtungen Konrads von Würzburg. III. Die Klage der Kunst. Leiche, Lieder und Sprüche, hg. von Edward Schröder. Mit einem Nachwort von Ludwig Wolff. Berlin 21959. Wenn man von sekundären Verstümmelungen absieht, ist Lage 8 aus drei Doppelblättern (fol. 55/61, 56/59, 57/57a) und zwei Einzelblättern (fol. x/58, x/60) zusammengesetzt, Lage 9 (fol. 62–68) und Lage 10 (fol. 69–74) aus drei Doppelblättern und einem Einzelblatt (fol. x/66 bzw. 69/x). Vielleicht hat der Schreiber tatsächlich einmal ein Blatt wegen gravierender Versehen verworfen und den Text bereinigt auf dem nächsten Blatt wiederholt. Eher wurden aber wohl vor oder während der Arbeit Gegenblätter mit zu groben Mängeln im Bereich des Schriftspiegels ausgeschieden oder sogar hin und wieder von vornherein ein Einzelblatt verwendet. Es fällt übrigens auf, dass die Unregelmäßigkeiten sich gegen Ende der vorderen Partie des Grundstocks häufen. Vielleicht war eins der zwei Einzelblätter in Lage 8 zunächst für Lage 6 bestimmt. Doch vgl. zu dieser Lage oben Anm. 150. Pickerodt-Uthleb (1975), S. 230 mit S. 394f. Anm. 513 zu Lage 15. Stackmann/Bertau (1981), Teil 1, S. 62. – Vorgabebuchstaben für den Illuminator wären neben einer Melodiestrophe ganz fehl am Platz gewesen. Denn als Gliederungsmittel dienen überhöhte Majuskeln in Texttinte, die der Schreiber vielleicht erst nach Abschluss der jeweiligen Strophe, aber im selben Arbeitsgang eintrug, und zwar entgegen Pickerodt-Uthleb (1975), S. 234, bevor die roten Linien für die Noten gezogen wurden. K. K. Müller (1896), Vorbericht, [I]vb–[II]ra. Vgl. jetzt auch jeweils das Digitalisat der Gegenseite des ursprünglichen Doppelblatts.
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beziehen ist.165 Denn für Identifizierungsversuche ist auch die Verteilung der Buchstaben von Belang; sie stehen freilich – wie eine Überprüfung vollständiger Blätter zeigt – bei den mehrzeiligen Ton- und Stropheninitialen in unterschiedlicher Höhe und bei Lombarden nicht durchweg exakt auf der Höhe derjenigen Zeile, in der der Illuminator sie ausführen sollte.166 102ara: (Z. 1) h, (Z. 6) v || (Z. 15) d, (Z. 20) j167, (Z. 25) d || (Z. 32) v 102avb: (Z. 2) d, (Z. 7) d, (Z. 12) b || (Z. 20) s, (Z. 25) e168, (Z. 30) a169 Die Strophen in Konrads Hofton (101rb–102vb) sind dreigeteilt, der Abgesang ist nicht weiter untergliedert; bei jeder Textstrophe waren dem Illuminator also drei Buchstaben für den Strophenanfang, den zweiten Stollen und den Abgesang vorzugeben. Die Abstände der auf dem Falz von fol. 102a erkennbaren Buchstaben stimmen zu 101vb– 102vb (für eine Strophe werden 19 oder 18 Zeilen benötigt, der zweite Stollen setzt in der 5. oder 6. Zeile, der Abgesang in der 10. oder 11. Zeile ein). Demnach standen auf fol. 102a höchstwahrscheinlich lauter Strophen in Konrads Hofton, zunächst der Schluss von J 10 (32,196). Da irritieren allerdings h und v; im ›Codex Manesse‹ (C 105, 390rb) beginnt der zweite Stollen mit er, der Abgesang mit es. Das h wird sich durch das J geläufige her für er erklären. Der Abgesang setzt in C so ein: es enwart nie rittrlicher wat als edel noh so gGt. so trúwe v] manlich mNt.
Den schemagemäßen auftaktlosen Achtheber hat Edward Schröder versehentlich zu einem auftaktigen Siebenheber verkürzt, indem er en- tilgte.170 Die Negationspartikel ist hier in der Tat entbehrlich; wenn der Vers in J ohne sie auskam und mit der Konjunktion ›denn‹ (in J wan oder wen) an den zweiten Stollen anschloss, wäre das v erklärt, ohne dass man einen tiefergreifenden Unterschied zwischen C und J anzunehmen braucht:171 Vvan ez wart nye ritterlicher wat …
Als Vorgabe genügte nämlich v auch bei Strophen und Strophengliedern, die mit w anfangen, da w in dieser Position im Grundstock stets durch Uv bzw. Vv wiedergegeben wird und allein der erste Bestandteil (hier fett) vom Illuminator auszuführen war.172
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Ich stütze mich auf Notizen anhand einer Prüfung des Codex vor der Restaurierung in gebundenem Zustand. Vgl. das Digitalisat (103v/102ar; 102av/103r). Vgl. etwa 11r–12r, 17r, 18r, 19r, 136v. Diesen Buchstaben führt Müller nicht auf. Die Lesung ist nicht ganz sicher, doch vgl. die anderwärts zu I vorgemerkten j (z. B. 17ra, Z. 6. 16. 19; 18ra, Z. 22; 136va, Z. 17). Lesung unsicher. Müller las d. Lesung sehr unsicher, vielleicht auch d. Vgl. Schröder (Anm. 158), S. 71 zu 32,204: Er wollte mit der Streichung von en- einen zweisilbigen Auftakt vermeiden. Vgl. den Spruch 32,271, der in J 8 mit O(we) beginnt statt mit S(o we) in C. Natürlich können die abweichenden Anfangsbuchstaben auch auf einen stärker abweichenden Wortlaut zurückzuführen sein, wie beim zweiten Stollen des Spruchs 32,256: In C beginnt er mit d-, in J 7 wegen einer anderen Wendung mit I- (In dem gelich tzGr get myn leben …; die J-Lesart ist in Schröders Apparat zu 32,260 zu ergänzen). Zwei Ausnahmen: 30vb Uwe statt Uve für We = ›Wie‹ (Höllefeuer J 4, HMS III 34, 4,1; Collmann-Weiß [2005], S. 92, irrig ›Owê‹); 88ra Wes statt Vves (Meißner J 50, Objartel V,3,11).
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Bei der nächsten Strophe handelte es sich anscheinend um Konrads ironisch übertriebenes Lob des Meißner, seines Nachbarn in J (32,286; C 111):173 Nur zu diesem Spruch passt die Buchstabenreihe d, j (?), d.174 Dass er einmal in J stand, überrascht kaum; er gehört zu den vielen Texten, die – polemisch, mahnend, rühmend, trauernd – Autoren der Sammlung zueinander in Beziehung setzen. Auf den Meißner-Spruch könnte, nach dem v 102ara unten zu schließen, ebenso wie in C das Lob der allen anderen Künsten überlegenen Sangeskunst gefolgt sein (32,301; C 112, 390vb: Vúr alle fGge …175); in Frage käme noch der Spruch über den rîchen edeln schalc (32,226; C 107, 390va: Wie sol ich …).176 Für eine Identifizierung der drei Strophen auf den zwei Außenspalten von fol. 102a fehlt jeglicher Anhalt; statt 18 oder 19 Zeilen (wie J 5–7 bzw. J 2–4. 8–9) hat jede Strophe nur 17, allenfalls eine umfasst 18 Zeilen,177 oder eine Strophe beanspruchte wegen übersprungener Verse weniger Raum.178 Auf Z. 1 oder 2 der Spalte 102avb begann eine neue Strophe; die Buchstabengruppe d, d, b lässt sich dem Spruch über den argen und den kargen (32,241; C 108) zuordnen. Die nächste Strophe (Z. 19 oder 20ff.) mit der Initiale S hatte anscheinend ebensowenig wie J 2 (32,361) und J 9 (32,346, auch in der Kolmarer Handschrift) ein Pendant in C, zumindest keines mit gleichlautendem Eingang;179 mit dem Abgesang griff sie bereits auf fol. 102b über. Obgleich es von dem Blatt kein Überbleibsel gibt, kann seine einstige Existenz als erwiesen gelten. Vielleicht enthielt fol. 102b noch weitere Hofton-Strophen aus dem Konrad-Corpus des ›Codex Manesse‹
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Vgl. zur Strophe Wachinger (1973), S. 162f.; Objartel (1977), S. 48f. Es gibt auch keine andere Strophe in C, deren erster Stollen und deren Abgesang mit d- beginnt. In der Kolmarer und der Donaueschinger Meisterliederhandschrift beginnt die Strophe anders. Die Strophe über wîbes herze (32,106; C 99, 390ra: Vf erde nie kein man …) würde in J mit Of beginnen. Der Berechnung ist die übliche Zahl von 33 Zeilen pro Spalte zugrunde gelegt (die Seiten 46v, 57r, 57v, 102v, 136r sind für 32 Zeilen, 56v sogar für nur 31 Zeilen eingerichtet; 15va steht die Schlusszeile einer Strophe unter der Spalte, weil 15vb ein neuer Ton anfängt). Schwankungen von bis zu drei Zeilen sind bei längeren Strophen in J nicht ungewöhnlich. Die Strophen in Frauenlobs Langem Ton (J 2–23) nehmen zwischen 19 und 22 Zeilen in Anspruch, und die 19zeiligen Strophen treten in ›Nestern‹ auf (J 15–17. 22–23). Vgl. eine analoge Beobachtung zum ›Wartburgkrieg‹-Ton II in J bei Klein/Lomnitzer (1995), S. 391. – Theoretisch könnte 102arb/va auf die zwölfte Hofton-Strophe die Melodiestrophe eines neuen Tons (Text unter 6 plus 11 Notensystemen) gefolgt sein, in dem dann auch die Textstrophen auf 102avb gedichtet wären. Konrads Aspis (Ton 25) und seine Morgenweise (Ton 31) stimmen im Umfang der drei Stollen zum Hofton, der Steg ist jedoch kürzer; die Vorgabebuchstaben für 102avb passen zu keiner der sechs bzw. sieben Strophen in C. Beispielsweise genügten 11 Zeilen für Meißner J 79 (Objartel X,7), deren sechster Vers ausgelassen, aber auf dem Rand nachgeholt wurde (92vb), während die anderen sieben Strophen des Tons 13 Zeilen benötigen. Mit Swelch vrouwe statt Ein frowe (C 98) könnte in J – ähnlich wie in der Kolmarer und der Wiltener Meisterliedersammlung – das Lob der Frau 32,91 begonnen haben; allerdings müssten auch die Verse 5 und 9 anders formuliert gewesen sein. – Erwägenswert, jedoch notgedrungen ganz spekulativ bleibt eine Gleichsetzung mit der Melodiestrophe der Kolmarer Handschrift (auf die 32,91 folgt) oder mit der Kopfstrophe des vierten Hofton-Bars (dessen Strophen II–IV J 8. 9. 7 entsprechen), die im 14. Jahrhundert noch durch das verallgemeinernde Swaz bzw. Swie eingeleitet worden wären. Vgl. Bartsch (Anm. 116), Nr. 114 I, S. 467f. mit S. 687, Nr. 116 I, S. 472 mit S. 689; RSM 4 (1988), S. 210: 1Konr/7/500a, S. 212: 1Konr/7/503a; Baldzuhn (Anm. 106), S. 240–244.
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oder den in C unter dem Namen des Alten Meißner nachgetragenen Marienspruch180 und das kunstvoll gereimte Minnestrophenpaar, das im ersten Florileg der ›Niederrheinischen Liederhandschrift‹ (n I) aus der Mitte des 14. Jahrhunderts überliefert ist.181 Gegenüber Pickerodt-Uthleb ist also zu betonen, dass Lage 15 kein Binio gewesen sein kann und in der Lücke zwischen fol. 102 und 103 mit Hilfe der Vorgabebuchstaben auf dem Falz von fol. 102a der Verlust von mindestens zwei Blättern gesichert ist. Ein Binio mit eingefügtem Einzelblatt (fol. 102b) wäre ohne Parallele in J. Bedenkt man die Unregelmäßigkeiten im Lagenumfang, auf die Pickerodt-Uthleb hingewiesen hat, wird man vorsichtshalber mit mehreren Möglichkeiten rechnen: Am wahrscheinlichsten fehlen fünf Blätter, eventuell nur vier oder drei – das Gegenblatt von fol. 103 und ein Doppelblatt in der Mitte –; dann wäre Lage 15 ein Ternio gewesen wie Lage 6. Konrad von Würzburg und Frauenlob waren wohl nicht durch einen Dritten getrennt. Eher hatten zwischen dem Hofton Konrads und Frauenlobs Langem Ton ein oder zwei weitere Töne – sei es Konrads, sei es Frauenlobs – Platz gefunden.182 Für Konrads geistlichen Leich oder einen Leich Frauenlobs reichten die maximal sieben Seiten (102br– 102er) keinesfalls aus. Gern wüsste man, mit welcher Strophe der Lange Ton Frauenlobs in J begonnen hat und ob die sogenannte Selbstrühmung (GA V,115),183 auf die J 14 (GA V,119 G) antwortet, im Grundstocktext stand; zum Profil des Corpus würde sie hervorragend passen.184 Ohne Neufund ist freilich über die Feststellung, dass mehr als die Melodiestrophe und der Anfang von GA V,18 verloren sein kann, jedoch nicht mehr verloren sein muss, nicht hinauszukommen.185 Ausschließen lässt sich mit einiger Gewissheit nur, dass heute
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HMS II 224, II. Vgl. RSM 3 (1986), S. 7: 1AltMei/2/1. HMS III 453f., XXXIV,1–2. Vgl. RSM 4 (1988), S. 210: 1KonrW/7/26 (statt III,24 und III,25 lies I,24 und I,25). Für den Langen Ton im Frauenlob-Corpus J eine Spitzenstellung anzunehmen, zumal es sich um den – auch in J – strophenreichsten und wirkungsmächtigsten Ton Frauenlobs handelt, liegt angesichts des ›Codex Manesse‹ und der ›Kolmarer Liederhandschrift‹ nahe. Das Weimarer Frauenlob-Corpus (F) räumt dem Langen Ton indes keine bevorzugte Position ein. Und die strophenreichsten Töne erscheinen in J durchaus nicht regelmäßig an erster Stelle (vgl. unten Anm. 187). Wachinger (1987), S. 194, erwägt, dass J in der Lücke »einige Strophen im Würgendrüssel« (GA IX) geboten haben könnte. Vgl. Wachinger (1973), S. 190, 247–261; Johannes Rettelbach: Abgefeimte Kunst: Frauenlobs ›Selbstrühmung‹. In: Lied im deutschen Mittelalter. Überlieferung, Typen, Gebrauch. ChiemseeKolloquium 1991, hg. von Cyril Edwards, Ernst Hellgardt und Norbert H. Ott. Tübingen 1996, S. 177–193; Beate Kellner: Vindelse. Konturen von Autorschaft in Frauenlobs ›Selbstrühmung‹ und im ›wip-vrowe-Streit‹. In: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, hg. von Elizabeth Andersen, Jens Haustein, Anne Simon, Peter Strohschneider. Tübingen 1998, S. 255–276, bes. S. 258f., 267f.; Barbara Newman: Frauenlob’s Song of Songs. A Medieval German Poet and His Masterpiece. University Park, Pa. 2006, S. 57–61 (»Frauenlob’s self-praise: literary boast or malicious parody?«); Wachinger (2006), S. 400f., Kommentar S. 876–879; Franziska Wenzel: Meisterschaft und Transgression. Studie zur Spruchdichtung am Beispiel des Langen Tons der Frauenlob-Überlieferung. In: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, hg. von Manuel Braun und Christopher Young. Berlin/ New York 2007 (Trends in Medieval Philology 12), S. 309–334, hier S. 309–312. Vgl. Wachinger (1987), S. 202f. Wäre dem Tarsilla-Spruch J 1 die Melodiestrophe des Langen Tons vorangegangen, hätte diese in Z. 28/30 der vb-Spalte enden müssen; dann wäre aber Z. 31 ohne Grund leer geblieben, da
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fehlende Strophen im Nachtrag von N3 nochmals abgeschrieben sind, weil Dubletten grundsätzlich vermieden wurden.186 Die Unsicherheit über den ursprünglichen Umfang des Strophencorpus in Frauenlobs Langem Ton tangiert auch den Beitrag des Schreibers N3 (103r–106r, JN 24–53). Die Anzahl der Strophen übertrifft die meisten Toncorpora in J,187 und sie übertrifft vor allem den Grundstockeintrag. Mutmaßlich sind die neuen Strophen einer einzigen Quelle entnommen. Über sie verfügten die J-Redaktoren erst, als die Handschrift bereits illuminiert worden war (s. unten). N3 konnte aber offenbar noch mit einem Illuminator oder Rubrikator rechnen: Anders als N4 in den Zusätzen zum Boppe-Corpus sparte er Platz für Initialen und Lombarden aus und notierte die einzusetzenden Buchstaben vor der Spalte oder im Freiraum; ihrer Ausführung hat sich dann niemand mehr angenommen. Da die neue Quelle zunächst von einem Redaktor oder N3 selbst gesichtet wurde, muss dieser vor Beginn der Arbeit ungefähr überblickt haben, welch große Textmenge es beim Toncorpus zu ergänzen galt (für die dreißig Strophen wären im Grundstock mehr als neun Seiten benötigt worden!). Der Lesbarkeit zuliebe ist die Schrift seines Nachtrags nicht extrem klein, und gängige Abbreviaturen (v], r, Nasalstrich) sind relativ moderat gebraucht, wenngleich häufiger als im Grundstock und in den frühesten Nachträgen. Die Strophen beginnen wie üblich mit Alinea (Ausnahme: JN 26, 103rb, Z. 2); sie von der Vorder- auf die Rückseite überlaufen zu lassen, wird tunlichst vermieden (vgl. 104rc; Ausnahme: JN 47, 105rc/va). Andererseits müht N3 sich in steigendem Maß, für die neuen Strophen – auf Kosten des schönen Erscheinungsbildes der Seiten – Raum zu gewinnen: Das üppige Fleuronnée der Stropheninitialen am Fuß der Spalten, das sich weit in den freien Raum zu erstrecken pflegt, wird nach Bedarf durch Rasur gekappt (s. 103rb, Z. 30/31: D; 103vb, Z. 29/30: D; 105ra, Z. 31/32: S). Die seitlichen Begrenzungslinien des Schriftspiegels ignoriert N3 und nutzt den unteren Rand in nahezu voller Breite und Höhe,188 unterteilt ihn in zwei Spalten zu 15, später maximal 19 Zeilen und hält das Interkolumnium schmal; von 103v an wagt er sich auf den Rand neben der Außenspalte des Grundstocktextes, richtet von 104r an eine dritte Spalte ein und dehnt sie 104v bis fast zur halben Höhe des Schriftspiegels aus. So gelingt es ihm, auf 103r vier, auf 105r und 105v schließlich etwas mehr als fünf Strophen unterzubringen, und am Ende (106r) blieb sogar Platz für drei Strophen frei. Nach alledem zweifle ich nicht, dass N3 mit seiner Arbeit sogleich unterhalb der Melodiestrophe des Langen Tons – d. h. spätestens auf der Seite vor 103r – begonnen
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der Anfang von J 1 nicht mehr als zwei Zeilen, d. h. Z. 32/33, benötigte. Theoretisch könnte die Melodiestrophe allerdings auch in Z. 31/33 neben dem Anfang von J 1 zu Ende geführt worden sein; vgl. in der vorderen Partie von J die Disposition 18vb. 20vb. 25ra. 43rb. 46rb (nie am Fuß der Spalte!). Zu der Teildublette Boppe J 7 / JN 17 s. oben Abschnitt II (zu N1). Mit zwanzig und mehr Strophen sind in J außer Frauenlobs Langem Ton nur acht Töne vertreten: Stolles Alment (36 + 4), Bruder Wernher II (20 + 6), Alexander II (24), Rumelant IV (29), Sonnenburg I (46 + 1), Meißner II (20), ›Wartburgkrieg‹ I (Ofterdingen, 26), ›Wartburgkrieg‹ II (Wolfram, mehr als 104). Zugute kam N3, dass die Blätter 103–106 in einen Bereich fallen, wo der Schriftspiegel etwa 385 mm hoch ist (vgl. Lage 1–4, fol. 2–31; Lage 12–17, fol. 81–120) und der untere Rand mehr Platz bietet als bei einer durchschnittlichen Schriftspiegelhöhe von 400 mm (Lage 5–10, fol. 34–74; Lage 18–19, fol. 121–136).
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hat. Möglicherweise hat er zunächst noch, wie die anderen Nachtragsschreiber (außer N7, 110va), die Breite des Schriftspiegels eingehalten, bemerkte jedoch bald, dass er auf diese Weise keinesfalls alle neuen Strophen beim Toncorpus würde platzieren können. Ich vermute also, dass dem heute auf 103r einsetzenden Nachtrag ursprünglich etliche Sprüche vorangingen und das Eucharistiegebet JN 24 (GA V,1) weder die Eingangsstrophe des Nachtrags noch der Quelle bildete,189 so ansprechend eine solche Eröffnung erscheint.190 Das von N3 nachgetragene Strophenensemble »stellt […] eine sichtlich geordnete Sammlung dar«,191 und die Göttinger Ausgabe behält deren Reihung weitestgehend bei.192 Auf das Eucharistiegebet folgen zehn Strophen, die um Sprüche Frauenlobs aus dem wîp-vrowe-Streit gruppiert sind (JN 25–34; GA V,100–105. 111–114),193 danach vorwiegend »Sprüche an den Ritterstand und […] Kritik am Hofe« (JN 35–53; GA V,27–45). Inwieweit der Nachtrag den Bestand der Quelle wiedergibt bzw. reduziert hat, lässt sich nicht ermessen. Mit Rücksicht auf das Grundstockcorpus kann N3 sehr wohl Strophen übersprungen haben, etwa in der Partie JN 25–34 die fehdeauslösende Strophe und Gegnerstrophen;194 doch wäre auch denkbar, dass die Vorlage als reine FrauenlobSammlung ohne Gegnerstrophen konzipiert war.195 Der Nachtrag von N3 ist bislang der einzige in J, dem eine umfänglichere Parallelüberlieferung niederdeutscher Provenienz zur Seite tritt: das Thomas (und Wachinger 1973) noch unbekannte Bruchstück A mit zehn Textstrophen in Soest, das als Einband
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Als erste Strophe des Nachtrags bezeichnen sie ausdrücklich Thomas (1939), S. 4, 19, 23, und Fasbender (Anm. 190), S. 138. Thomas’ Vermutung, die Blätter vor fol. 103 seien bereits in Verlust geraten, bevor N3 – vielleicht, um Ersatz zu schaffen – tätig wurde (vgl. S. 4 Anm. 8), trifft sicherlich nicht zu; s. Wachinger (1987), S. 194f. Die Eucharistiestrophe leitet sowohl in Ettmüllers wie in der Göttinger Frauenlob-Ausgabe die Abteilung der Sangsprüche ein; mit Übersetzung und Kommentar bei Wachinger (2006), S. 394–397, 873f. Eine nicht näher mit J (und H und t) verwandte Fassung ist viermal inmitten von Prosagebeten (B, GS, k, oS) überliefert, ferner trümmerhaft in einer Handschrift in Eger/ Cheb (y), vgl. Johannes Rothes Elisabethleben, hg. von Martin J. Schubert und Annegret Haase. Berlin 2005 (DTM 85), S. XVIII (ohne Identifizierung; für eine ausführlichere Textprobe danke ich dem Herausgeber). Einer Subskription zweier Handschriften zufolge (GS, oS) hat Frauenlob die Strophe bei der letzten Kommunion gedichtet und gesprochen; jedem, der sie mit Andacht betet, sollen der Erzbischof von Mainz und 26 Bischöfe je 40 Tage Ablass verheißen haben. Ausführlich dazu aufgrund eines neuen Zeugen der Beischrift Christoph Fasbender: ›Frauenlobs Sterbegebet‹ in Johanns von Neumarkt Privatgebetssammlung. In: Studien zu Frauenlob und Heinrich von Mügeln. Fs. für Karl Stackmann zum 80. Geb., hg. von Jens Haustein und RalfHenning Steinmetz. Freiburg/Schweiz 2002 (Scrinium Friburgense 15), S. 125–144. Anders als Fasbender sehe ich mit Wachinger »keinen hinreichenden Grund, Frauenlob als Verfasser der Strophe zu bezweifeln« (S. 873). Vgl. ferner Wenzel (Anm. 183), S. 318–334. Vgl. Thomas (1939), S. 23f.; Zitate S. 23. Vgl. auch Fasbender (Anm. 190), S. 138. Vgl. zu dieser Gruppe Wachinger (1973), S. 190f.; zu J 27–33 Kellner (Anm. 183), S. 263f., 268–275. Das sind J 10 und J 11–13 (GA V,106 und 107 G bis 109 G). Außerdem können natürlich Strophen ausgelassen sein, die in der verlorenen Partie des Corpus standen. Vgl. Wachinger (1973), S. 191.
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zweier vermutlich in Lübeck Mitte des 16. Jahrhunderts gebundener Drucke diente.196 Das stattliche Folioblatt ist in der Einrichtung dem Grundstock von J vergleichbar und übertrifft ihn an Sorgfalt.197 Nach dem Urteil des Entdeckers Eickermann ist A wohl kaum später als im zweiten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts geschrieben.198 Die Schreibsprache weist Eigenheiten auf, wie sie für das »Schriftmitteldeutsche auf nddt. Grundlage« charakteristisch sind.199 Sämtliche zehn Strophen des Fragments kehren in J im Nachtrag von N3 wieder, davon dreimal drei in identischer oder fast identischer Reihung (s. Tabelle 3200). Wenn der Zufall nicht täuscht, war auch das Toncorpus A thematisch geordnet, und das Blatt stammt aus dem Grenzbereich zweier Gruppen, die in Umrissen der dritten und der zweiten Gruppe des Nachtrags in J entsprachen. Die Sammlung mag geistlich eröffnet worden sein. Die Sprüche A ‹…›1. 2–4. 5–7 (GA V,37; 30–32; 44. 45. 43) richten sich an den König, an Ritter und Fürsten; vorangegangen sein könnten weitere Entsprechungen zu der Gruppe JN 35–53 (GA V,27–45). Strophen Frauenlobs aus dem wîp-vrowe-Komplex, beginnend mit der ›Definitionsstrophe‹, sind A 8–10‹…› (GA V,102–104); ob das nächste Blatt u. a. Gegnerstrophen enthielt, muss offenbleiben. Eine Art Scharnier zwischen beiden Gruppen bildet in A der lob-Spruch GA V,43, der nach den Fürstensprüchen GA V,44 und 45 folgt (A 7) und nicht unpassend die ›Definitionsstrophe‹ (A 8) präludiert. Im Nachtrag von N3 hat der lob-Spruch innerhalb der dritten Gruppe vor den beiden Fürstensprüchen seinen Platz (JN 51); der ›Definitionsstrophe‹ (JN 27) sind hier zwei Minnesprüche vorgeschaltet (JN 25. 26, GA V,100. 101), von denen der zweite dem wîpvrowe-Streit »in manchen Motiven und Formulierungen sehr nahe« steht.201 In etlichen Schreibgepflogenheiten, die den Nachtrag in J kennzeichnen, dürfte N3 sich von seiner Vorlage haben beeinflussen lassen, und diese scheint A recht ähnlich gewesen zu sein. Abweichungen vom Usus des Grundstocks, die Bartsch zu N3 registriert, finden sich großenteils in A wieder, nur konsequenter durchgeführt.202 Das gilt für die ›metrischen Schreibungen‹:203 Wie A bevorzugt N3 (neben v]) die fast immer versgemäße einsilbige Form vnd (dreimal vnt), und vier von acht vnde füllen einen Takt; hinzu kommen einige in J »ganz ungewöhnliche« Apokopen und Synkopen (u. a. den
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Vgl. Norbert Eickermann: Heinrich von Meißen gnt. Frauenlob († 1318), 10 Sprüche. In: Westfälische Quellen im Bild 5. Beilage zu »Archivpflege in Westfalen und Lippe« 4 (1973), S. [2]–[6]. Die Abbildungen bei Eickermann, S. [3] und [5], vermitteln von der Stattlichkeit einen unvollkommenen Eindruck, weil zugunsten der Wiedergabe des Schriftspiegels in Originalgröße der breite Rand nicht reproduziert ist. Vgl. jetzt das Digitalisat (Soest, Fragment 157). Eickermann 1973 (Anm. 196), S. [6]. Stackmann/Bertau (1981), Teil 1, S. 136; Klein (1987), S. 94. Eine systematische Untersuchung anhand der Transkription Eickermanns (der sie vermutlich vor der Restaurierung des Blattes angefertigt hat) und der Reproduktionen steht aus. Zu GS, oS, y vgl. Anm. 190. Wachinger (1973), S. 190. Vgl. zum Folgenden Bartsch (1923), S. 46f. (mit der Tabelle S. 48f.) sowie S. 17–19, 109, ferner die Abbildungen und Transkriptionen. Metrische Schreibungen treten schon im Frauenlob-Corpus des Grundstocks signifikant häufiger auf als in den übrigen Corpora (vgl. Bartsch, S. 17–19), sind aber anderer Art.
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Gisela Kornrumpf
nam, schat, milt, vollobn),204 von denen A gleichfalls Gebrauch macht, öfter in genau derselben Position, insgesamt freilich in viel dichterer Folge. Darüber hinaus haben andere Besonderheiten, die Bartsch zum Nachtrag von N3 aufführt, Parallelen in A: Die Vorsilbe vGr- tritt hinter ver- zurück, of wechselt mit vf, hie mit hi, für quam steht kam, für wa auch wo; das Adverb ie wird durch .e. oder .i. oder .y. und das Pronomen iu durch .v. wiedergegeben.205 Ein prinzipieller Unterschied besteht bei der Affrikata im Anlaut: A schreibt z- (Ausnahme: Tzilt in A 9); im Frauenlob-Nachtrag von N3 gilt tz-, wie im Grundstock der ›Jenaer Liederhandschrift‹206, in den übrigen Nachträgen (bis auf die zwei Goldener-Strophen von N6) und in den sonst mit J in Verbindung gebrachten Bruchstücken von Lieddichtung (bis auf das Rumelant-Fragment in Wolfenbüttel). Graphien, die einen niederdeutschen Schreiber verraten, trifft man bei N3 häufiger an als im Fragment A.207 Prüft man die Lesarten der JN 24–53 und A gemeinsamen Strophen und vergleicht insbesondere die Sprüche GA V,31. 37. 43. 102, die in einer dritten Handschrift – dem ›Codex Manesse‹, dem Weimarer Frauenlob-Corpus (F) bzw. der ›Kolmarer Liederhandschrift‹ (t) – überliefert sind,208 so zeigt sich rasch, dass die beiden Textzeugen mutmaßlich niederdeutscher Herkunft einem besonderen Traditionsstrang angehören.209 Konstellationen wie JN:AC oder JN:At ergeben sich öfter, wenn A einen Fehler von JN nicht teilt.210 Das ist auch mehrmals in Strophen ohne weitere Parallelüberlieferung der Fall.211 Einen gemeinsamen Fehler weisen J N und A in dem Spruch GA V,43
204 205
206
207
208 209 210 211
Bartsch (1923), S. 46. In A kommt neben .e., .i., .P. auch .v., v mit übergesetztem Doppelstrich vor. Der Hauptschreiber von J hingegen markiert die Wörter e – das Substantiv und die Präposition ê sowie gegebenenfalls e für ie – und v als solche durch einen nachgestellten Punkt; das e. ist sporadisch (teils sekundär?), das v. regelmäßig mit einem Doppelstrich versehen. (In den ›Segremors‹-Fragmenten AB begnügt der Schreiber sich bei v meist mit dem Doppelstrich; im ›Parzival‹-Fragment 9 (h) scheint v ohne und mit Doppelstrich, der einem Zirkumflex ähneln kann, vorzukommen.) In den Epenfragmenten verwendet der J-Schreiber jedoch das einfache z-, sei es vorlagebedingt, sei es in einer anderen Phase seiner Tätigkeit. Zu ›Segremors‹ AB (sowie C) und J vgl. Thiele (1940), S. 62f., der diese Divergenz erwähnt. Zum ›Parzival‹-Fragment 9 (h) und J vgl. Hartmut Beckers: Sprachliche Beobachtungen zu einigen ›Parzival‹-Bruchstücken niederdeutscher Schreiber. In: Probleme der Parzival-Philologie. Marburger Kolloquium 1990, hg. von Joachim Heinzle, L. Peter Johnson und Gisela Vollmann-Profe. Berlin 1992 (Wolfram-Studien 12), S. 67–92, hier S. 75–79; auf die abweichende Schreibung der Affrikata im Anlaut geht Beckers (S. 76f.) nicht ein. Beispiele bei Bartsch (1923), Tabelle S. 48f. Aus den in A überlieferten Sprüchen sei notiert: GA V,30,18 sele A – siele JN; 32,7 grozer A – grGzer JN; 32,12 trefsen A – trepsen JN; 32,18 vle A – vlie JN; 37,15 gert A – ghert JN; 43,6 after rGwe A – achterruwe JN; 102,3. 7 blNmen A – blomen JN; 102,19 ge[ie]gede A – geieghede JN; 103,5 ein A – en JN; 103,7 gebe A – ghebe JN; 104,2 rNnic A – ronic JN; 104,3 meidel A – 4 meydhel JN. Vgl. Thomas (1939), S. 19–23, und den Apparat der GA. Verwiesen sei zu JNA:C auf GA V,31,6. 12. 16. 17/18; 37,12. 13. 14. 15–19; zu JNA:F auf GA V,43,7. 10. 18/19; zu JNA:t auf GA V,102,14. 17. 18. Beispielsweise in GA V,31,6:12:19; 31,19; 102,4. 9. Beispiele: GA V,30,6 eren A] fehlt JN; 32,11 A] fehlt JN ohne Lücke; 44,12 ist A] fehlt JN; 45,6 vluch A] volg JN. – Dass im Frauenlob-Nachtrag von N3 Entstellungen in größerer Zahl vorkommen als im Grundstock, betonen Bartsch (1923), S. 46f., und Thomas (1939), S. 20. Zu ausgelassenen Versen vgl. noch GA V,42,17; 101,4; 105,3f.; für die Ergänzung der Lücke in GA
77
Der Grundstock von J und die Randnachträge
Göttinger FrauenlobAusgabe (GA)
… J 1–23
… JN 24–53
…
V,1
24
Fragment A [Gruppe *I?] ??
C
Parallelüberlieferung zu JN und A C, H F t andere
H 118
t 69,1
B GS k oS y ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– V,100 25 V,101 26 ································································································································ [Gruppe *III] V,102 27 A8 t 107,3 V,103 28 A9 V,104 29 A 10 … V,105 30 V,106 10 C 38 V,107 G 11 rvmelant V,108 G 12 (~?) V,109 G 13 (~?) V,110 G –– –– C 39 Regenbog V,111 31 F 112 t 107,1 V,112 32 F 113 t 107,2 V,113 33 F 114 –– ························· ·············································································································· V,114 34 ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– [Gruppe *II] V,27 [A] 35 V,28 [B] 36 V,29 [C] 37 V,30 [a] 38 A2 V,31 [b] 39 A3 C 44 V,32 [c] 40 A4 V,33 41 V,34 42 V,35 43 V,36 44 F 138 C 45 V,37 45 A …1 V,38 [A] 46 V,39 [B] 47 V,40 [C] 48 V,41 [D] 49 V,42 50 F 121 V,43 51 A7 F 120 V,44 52 A5 V,45 53 A6
Tabelle 3. Randnachtrag zu Frauenlobs Langem Ton in der ›Jenaer Liederhandschrift‹ und das Frauenlob-Fragment A in Soest
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Gisela Kornrumpf
auf.212 Mit F lautet v. 8f.: daz lob bestat / von tage zu tage ie liuter (: kriuter : triuter); statt liuter bieten JN und A in v. 9 truter, also dasselbe Reimwort wie in v. 11.213 Dadurch gewinnen geringfügige Versehen oder stark mundartliche bzw. hyperkorrekte Schreibungen, in denen JN und A übereinstimmen, an Gewicht.214 Es wäre aber falsch, den Nachtrag von N3 bzw. seine Vorlage – über Zwischenstufen – auf die Sammlung A zurückzuführen. Kleine Fehler in A215 und einzelne Lesarten in JN, die denen in A vorzuziehen sind,216 machen vielmehr wahrscheinlich, dass mit einer älteren Vorstufe *JNA zu rechnen ist. Wenn die Vorlage von N3 und das Soester Fragment A Repräsentanten eines Strangs mitteldeutsch-niederdeutscher Frauenlob-Überlieferung in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts waren, kann man sich schwer vorstellen, sie seien auf Strophen im Langen Ton beschränkt gewesen. Das Blatt A stammt angesichts des Folioformats wohl aus einem Frauenlob-Corpus oder eher noch aus einer Sammlung von Autorcorpora. Etwas Ähnliches ließe sich für die Zusatzquelle von N3 vermuten: Sollte diese nicht mehr Töne – sei es Frauenlobs oder anderer – geboten haben? Die Frage stellt sich analog für alle Quellen, denen nachträgliche Erweiterungen von Toncorpora des Grundstocks entnommen sind. Teilweise werden sich die Quellen der Zusätze – sofern es überhaupt Handschriften waren, durchaus auch solche ohne Melodien – im Strophen- und Tönebestand mit dem Grundstock von J überschnitten haben, und der gemeinsame Bestand wurde verglichen. So könnten auch die Korrekturen in Strophen nicht ergänzter Töne auf Kollation der für Randnachträge benutzten Quellen (sowie anderer, gar nicht durch Zusätze in Erscheinung tretender Quellen) beruhen und keineswegs immer auf einer Kontrolle anhand der primären Vorlage oder auf redaktioneller Besserung. Für unwahrscheinlich halte ich, dass die J-Redaktoren niemals im Nachhinein mit Tönen und Tonautoren konfrontiert wurden, die noch nicht im Grundstock vertreten waren. Wie gingen sie gegebenenfalls mit solch neuem Gut um? Es lag nahe, prinzipiell auf Töne zu verzichten, zu denen nicht auch die Melodie in Liniennotation überliefert war,
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216
V,42, die die Editoren dank F füllen können, war die von N3 zwar nicht vor, aber nach v. 18 freigehaltene vordere Zeilenhälfte bestimmt (JN 50, 105v unten, dritte Spalte, Z. 3). Ein weiterer gemeinsamer Fehler (*gebeterin für gebererin) liegt wohl in dem Vers GA V,103,12 vor, wo A gebieterin schreibt und in JN (103va, Z. 10) m. E. gebeterin, nicht gebererin zu lesen ist. In den Versen 10–12 könnten JN und A zusammen mit F auf einen Wortlaut führen, der das lob explizit in die sprichwörtliche Trias verba (hier lob), gemmae et herbae (s. die Erläuterung zur Stelle) einbindet: lob, steiń, edele kriuter, / die muz man schone halten …, / so mac erzeigen sich ir kraft: sie sint wol einer triuwe. JN und A steuern in v. 10 die Edelsteine bei, F das Lob. Vgl. GA V,31,7 din (C)] dine JNA; 31,9 der (C)] die JNA; 37,13 esel (C)] ysel JN, isel A; 43,17 hete (F)] hat JNA; 102,14 gebirt (t)] gebir JNA. – Ferner GA V,30,19 durch ritterlichen orden] d. ritterlicher o. JNA; 44,2 rich] richez JNA; 44,19 lancseim] lanc sym JNA; 104,3 der kindel varen] die k. (meidel A) v. JNA. Beispielsweise GA V,31,13 (M)ilt JN, milt C] Vilt A; 37,19 tzern JN] zert A; 43,13 (M)yn JN, Mein F] Dyn A; 102,18 der t, drie JN (vermutlich wurde nd. die zu der korrigiert, wobei die Tilgung von -ie unterblieb)] Din A. GA V,30,1 [K]eyn JN] Kyn A; 30,2 haft JN] kraft A; 32,12 dyn brehender glast verlischet JN] d. berender g. v. A; 103,12 sint nant ich ez gebererin (doch s. Anm. 212) JN] Sint … gebieterin A; 103,13 (M)ennor JN] Sennor A.
Der Grundstock von J und die Randnachträge
79
und so die mühsame, oft genug erfolglose Melodiensuche zu begrenzen. Neue Töne mit Melodie konnten in einem Anhang untergebracht werden; dass sich bei keinem Autorcorpus des Grundstocks eine Verweisung findet, muss nicht heißen, ein solcher Anhang habe nie existiert. Vielleicht zügelte jedoch die Schwierigkeit, übergroße Pergamentbögen zu beschaffen, den Drang, das Töne- und Autorenrepertoire zu vervollständigen, von vornherein – zumal wenn, wie ich erwogen habe, der ursprüngliche Plan in einem frühen Stadium schon einmal entscheidend erweitert worden war. Dann hätten die J-Redaktoren sich nolens volens mit Randnachträgen in der bestehenden Sammlung begnügt (und allenfalls ein separates Supplement in gängigerem Format angelegt, das sich besser für kontinuierliche Ergänzungen eignete, sofern das Interesse daran überhaupt anhielt). Die relativ späte Aufnahme des in seinem Themen- und Typenspektrum so andersgearteten, melodienreichen Wizlav-Corpus dürfte besonderen Umständen geschuldet sein. Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ erscheint also – während im ›Codex Manesse‹ und in der Kolmarer Meisterliedersammlung allenthalben Spuren von Einschüben und Umstellungen zu sehen sind – als Umsetzung eines festgefügten Plans. Die Randnachträge zum Grundstock, augenfälligster Niederschlag fortgesetzter ›Arbeit am Codex‹, erweitern den Strophen-, aber weder den Töne- noch den Autorenbestand. Doch sie weisen über sich hinaus auf Zusatzquellen – welch konkreter Gestalt auch immer – in größerer Zahl. Zusammen mit den erhaltenen Bruchstücken aus dem ›Umfeld‹ von J und den im Wittenberger ordo librorum von 1437 verzeichneten libri cum notis sind die erschließbaren Zusatzquellen Indizien einer dichten Lied- bzw. Sangspruch-Tradierung, deren Kronzeuge für uns der Codex in Jena bleibt, ohne die aber die in Umfang und Format einzigartige Sammlung gar nicht in Angriff hätte genommen werden können.
81
JOHANNES RETTELBACH
Die Bauformen der Töne in der ›Jenaer‹ und in der ›Kolmarer Liederhandschrift‹ im Vergleich
Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ (J) liefert das bedeutendste musikalische Zeugnis weltlicher Liedkunst aus dem 14. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum. Die ›Kolmarer Liederhandschrift‹ (t)1 kann denselben Anspruch im 15. Jahrhundert erheben. Während J im Wesentlichen Melodien der Sangspruchdichtung von der Mitte des 13. bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts vertritt, denen wenige Minnelieder und ein Leich zur Seite stehen, zeigt t, gemeinhin als Meisterliederhandschrift bezeichnet, eine größere Varianz: durch breitere zeitliche Streuung der Strophenformen einerseits, andererseits durch eine höhere Rate leichartiger Formen und solcher, die nicht spezifisch spruchdichterischmeisterlich geprägt sind wie z. B. die Texte, Strophenformen und Melodien des Mönchs von Salzburg. Ein Gesamtvergleich des metrisch-musikalischen Formenschatzes liegt angesichts der grundsätzlichen Verwandtschaft und der paradigmatischen Bedeutung für ihr jeweiliges Jahrhundert nahe, ist bislang aber niemals unternommen worden. Ich versuche mich diesem Vergleich anzunähern, indem ich die musikalischen-metrischen Bauformen der Töne in beiden Handschriften untersuche und gegenüberstelle. Dazu bediene ich mich des Instrumentariums, das im vergangenen Jahrhundert zur Melodiebildung und Melodiestruktur in Minnesang, Sangspruchdichtung und Meistergesang (zum nachreformatorischen Meistergesang freilich nur in mäßigem Umfang) entwickelt wurde. An Friedrich Gennrichs2 Versuch, den musikalischen Formenschatz des Mittelalters in überschaubare Systeme zu zwingen, konnten Untersuchungen zum deutschen Minnesang nur bedingt anknüpfen, weil abgesehen von Neidharts teilweise bezeugten Sommer- und Winterliedern nur wenige Melodien überliefert sind. Zahlreiche Sangspruchmelodien dagegen liegen außer in den genannten Handschriften J und t auch in einer durchaus beachtlichen Streuüberlieferung und zum Teil noch in Meistergesangshandschriften des 16. und 17. Jahrhunderts vor. Die Untersuchungen, auf die man sich stützen kann, sind für das Korpus von t die Arbeiten von Eberth3 und Zitz-
1
2 3
München, BSB, cgm 4997. Faksimile: Die Kolmarer Liederhandschrift der Bayerischen Staatsbibliothek München (cgm 4997). In Abbildung hg. von Ulrich Müller u. a. Göppingen 1976 (Litterae 35). Melodieedition: Die Sangesweisen der Colmarer Handschrift und die Liederhandschrift Donaueschingen, hg. von Paul Runge. Leipzig 1896. Friedrich Gennrich: Grundriß einer Formenlehre des mittelalterlichen Liedes als Grundlage einer musikalischen Formenlehre des Liedes. Halle 1932. Friedrich Eberth: Die Liedweisen der Kolmarer Handschrift und ihre Einordnung und Stellung in der Entwicklungsgeschichte der deutschen Liedweise im 14.–16. Jahrhundert. Diss. Göttingen 1933.
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Johannes Rettelbach
mann4, für das von J die grundlegende Analyse der Melodien durch Pickerodt-Uthleb, für den Meistergesang des 16. und 17. Jahrhunderts durch Eva Schumann. Neben diesen handschriftengebundenen Untersuchungen sind die Längsschnitte zu nennen, die unter vorwiegend musikalischem Aspekt und auf breiter Basis vor allem durch Horst Brunner5 und ebenfalls Eva Schumann6 durchgeführt wurden. Das im Folgenden verwendete Strukturierungssystem geht auf das empirisch gewonnene System zurück, das ich in meiner Arbeit und in dem Artikel Barform in MGG in Übernahme und Ausbau vorhandener Struktursysteme entwickelt habe.7 Bei einer ersten kursorischen Überschau ergeben sich zwei grundlegende Aufbautypen von Kanzonen: solche, die – abgesehen von der Stollenwiederholung – keine blockhafte Wiederholung größerer Melodieteile kennen, sondern eine Melodie frei in motivischer Fortführung und Kontrastierung weiterentwickeln oder in ungeregelter Variation verarbeiten; als Kompositionen der letzteren Art wären beispielhaft die Töne Frauenlobs zu nennen. Die zweite grundsätzliche Möglichkeit ist eben die Wiederholung bestimmter Blöcke. Und hier lassen sich dann einige Haupttypen unterscheiden. Die Stollenwiederholung des Aufgesangs vorausgesetzt, bleiben die wichtigsten Varianten die Wiederholung oder Teilwiederholung des Stollens im Abgesang nach einem Zwischenstück und die Wiederholung von Teilen des Abgesangs. Die einfachsten dieser Formen sind die Wiederholung des Stollens am Ende nach einem Zwischenstück, das die Meistersinger Steg nannten (Strukturschema AABA, dazu unten, S. 84 das Beispiel Konrad, Hofton) und die Wiederholung des gesamten neu konzipierten Abgesangs (AABB, beispielhaft unten Kelins Hundweise, S. 85). Vor allem diese letztgenannte Form wird oft nicht der Kanzonenform zugerechnet, und das mag in bestimmten Bereichen durchaus seine Berechtigung haben, in unserem Material begründen mannigfache Übergangsformen die Integration in die Großstruktur Kanzone.8 Pickerodt-Uthleb stellt auch die Form mit 3. Stollen als Da-Capo-Form ausdrücklich der Kanzonenform gegenüber, doch hier sind unterschiedlichste Übergänge noch weit deutlicher. Wiederholungen von Bauteilen sind überhaupt die entscheidenden Elemente einer Untergliederung. Neben der abschließenden Wiederholung der Stollenmelodie steht häufig die unmittelbare Wiederholung des vorhergehenden Melodieteils. Meist ist er kürzer als der Stollen. Leitet er zu einem 3. Stollen über, spricht man von einem repetierten Steg (AABBA), doch gibt es dieses repetierte Element auch, wenn etwas anderes als die Stollenwiederholung folgt. Selten kommt es zu einer Wiederholung von mehreren Melodiegliedern im Abgesang, also zu einer wirklich leichartigen Reihung von Doppelversikeln, die ich Repetitionskanzonen nenne.9 Solche Repetitionsformen können auch
4 5 6
7 8 9
Rudolf Zitzmann: Die Melodien der Kolmarer Handschrift. Würzburg 1944 (LiterarhistorischMusikwissenschaftliche Abh. 9). Brunner (1975). Eva Schumann: Stilwandel und Gestaltveränderung im Meistersang. Vergleichende Untersuchungen zur Musik der Meistersinger. Kassel 1972 (Göttinger musikwissenschaftliche Arbeiten 3). Rettelbach (1993); Johannes Rettelbach: Barform. In: ²MGG, Sachteil Bd. 1. (1994), Sp. 1219– 1227. Vgl. dazu unten S. 94 die Erklärung zu Harder, Goldener Ton. Beispiele für beide Handschriften jeweils gegen Ende meiner Gesamtübersichten S. 88 und 92.
Die Bauformen der Töne in der ›Jenaer‹ / ›Kolmarer Liederhandschrift‹ im Vergleich
83
einen eingliedrigen Abschluss erhalten, wie er als Kanzone mit mehrfacher Repetition und Coda in t einige Male belegt ist. In J vertritt einzig Boppes Hofton diese Gestalt, Wizlaws Ton IV, der allerdings mit 3. Stollen endet, nähert sich ihr. Überhaupt wiederholen sich nicht immer Bauteile exakt gleich: Insbesondere der 3. Stollen kann auch variiert, vor allem verkürzt nochmals auftauchen. Schrumpft das Stollenzitat auf die Wiederaufnahme der Stollenschlusszeile oder -zeilen, so spricht man von einer Rundkanzone. (Die Abgrenzung zwischen Rundkanzone und Kanzone mit verkürztem 3. Stollen habe ich so gesetzt, dass für letztere mindestens die Hälfte des Stollens repetiert werden muss.)10 Es ergeben sich folgende Grundformen, die sich mittels eines Buchstabenschemas anschaulich machen lassen: Grundformen: Kanzone, Rundkanzone Kanzone, Rundkanzone mit repetiertem Steg Kanzone mit 3. Stollen Kanzone mit 3. Stollen und Coda Kanzone mit repetiertem Steg und 3. Stollen Repetitionskanzone Kanzone mit Mehrfachrepetition und Coda
AAB AABBC11 AABA12 AABAC, AABAB usw. AABBA AABB, AABBCC … AABBCC … N
J überliefert uns neben den Leichs 90 Melodien vollständig oder fragmentarisch, bei t stütze ich mich entsprechend auf 102 Melodien. Die Töne in t sind zeitlich viel weiter gestreut, da auch diese Handschrift etliche Töne des 13. Jahrhunderts enthält, jedoch bis in ihre Gegenwart kurz vor der Mitte des 15. Jahrhunderts reicht. Schon deshalb ist eine deutlichere Varianz der Formen zu erwarten. Der folgende Vergleich der metrisch-musikalischen Bauformen in J und t, der vor allem der Beurteilung von J dienen soll, wird folgende Teilantworten geben. 1. In welchem Verhältnis stehen die Melodieüberlieferungen derselben Töne zu einander? 2. Wie weit sind die Bauformen überhaupt vergleichbar, welche Typen von Bauformen lassen sich erkennen und wie verteilen sie sich in den Korpora der beiden Handschriften? 3. Schließlich: Welche übergreifenden Antworten lassen sich für Einheit und Entwicklung der mittelalterlichen Strophik in Deutschland aus diesen besonderen Beobachtungen folgern? Ausgeklammert bleiben also alle grundsätzlichen Fragen der Melodiebildung, Fragen der Vergleichbarkeit von Tonalität, Melismatik, Motivschatz usw.
10 11 12
Nach Gennrichs Definition gilt auch die Aufnahme der ersten Melodiezeile als Rundkanzone. Im untersuchten Material kommt der Sachverhalt nicht vor. Geringerer Schriftgrad bei der alphabetischen Bezeichnung der Bauteile wie in diesem Beispiel zeigt geringe Größe eines Bauteils im Vergleich zu anderen an. Weitere Bezeichnungen für diese häufigste Variante der Kanzonenform sind Da-Capo-Form (Pickerodt-Uthleb), Reprisenbar (Kurt Gudewill: Barform, Bar. In: ¹MGG 1 [1951], Sp. 1259– 1267, hier 1263), reduzierter Strophenlai (Gennrich).
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Johannes Rettelbach
Leicht und daher knapp ist Antwort auf die erste Frage zu geben, da schon vor langer Zeit Eva Schumann und vor allem Horst Brunner in ihren Längsschnittuntersuchungen die entsprechenden Töne berücksichtigten. Unabhängig von der Frage, wie sich die einzelnen Melodiezeilen zu einander verhalten, ob also eine Melodie korrekt weiter transportiert wurde, ob sie deutlichen Veränderungen unterlag oder neu aufgebaut wurde, lässt sich die Frage beantworten, wie sich die Bauformen zu einander verhalten. Erstaunlich ist zunächst, wie gering die Schnittmenge zwischen J und t überhaupt ist, trotz des großzügigen Weitertransports alter Töne in t, es sind nämlich nur acht. Es geht um Stolles Alment, Boppes Hofton oder Langen Ton, Konrads von Würzburg Hofton, zwei Melodien Frauenlobs, den Grünen und den Zarten Ton, und schließlich um die beiden Töne des ›Wartburgkrieges‹, die in der jüngeren Tradition als Heinrichs von Ofterdingen Fürstenton und Klingsors Schwarzer Ton gebucht sind. Mit Wechsel des Tonautornamens kommt noch Kelins Ton III hinzu, der in t als Frauenlobs Hundweise weiterlebt. Nicht hierher rechne ich die Umarbeitung der Spervogelstrophe in J in die Form des Jungen Stolle in t.13 Einzig die Bauform eines der acht Töne hat sich grundlegend verändert. Stolles Alment bleibt eine Rundkanzone, das verwendete Melodiematerial nähert sich über eine allgemeine Angleichung melodisch verwandter Distinktionen zu Beginn des Abgesangs einer Stegrepetition, ohne sie eindeutig werden zu lassen. Deutlicher sind Formalisierungstendenzen bei Boppes Hofton.14 Boppe, Hofton/Langer Ton J: Į ȕ Ȗ :|| į į1 į İ Į1 ȕ1 Į2 ȗ+Į3 ȗ+ȕ2 Į4 Ș į1+İ1+Ȗ1 AA B C D t: Į ȕ Ȗ :|| į İ į İ Į1 İ1 Į1 İ1 ȕ1+ȕ Į2 ȗ ȕ1+Ȗ1 AA B B C C D Der Ton wird trotz seines Umfangs in J aus zahlreichen unterschiedlichen Melodiezeilen aufgebaut. Manches, insbesondere die erste Stollenzeile, kehrt variiert wieder, der Ton verzichtet indes dabei auf eine zu enge Korrespondenz von Teilgliedern, die Binnengliederung des Abgesangs enthält keine deutlichen Teilwiederholungen. Dies wird in t anders, wo der Abgesang zwei korrespondierende Doppelversikel BBCC vor einem Schlußteil D reiht. Verändert ist auch Konrads Hofton. Konrad von Würzburg, Hofton J: Į+ȕ Ȗ+Į1+į į1 İ :|| Į2+ȕ1 Į3 ȕ2 Į+ȕ Ȗ+Į1+į į1 İ AA B A t: Į+ȕ Ȗ+į+Ȗ1 Ȗ2 į1+İ :|| ȗ Į+ȕ Ȗ+į+Ȗ1 Ȗ+į+Ȗ1 Ȗ2 į1+İ AA B A’ Die Entwicklung dieses Tons ist besonders auffällig. Konrad verwendet in seinen Spruchtönen überwiegend nur Formen mit 3. Stollen. Beim Hofton ist in t die Stollenwiederholung – wohl versehentlich – bereits in der zweiten Abgesangszeile begonnen worden. Zum Ausgleich wurde die Melodie der zweiten Stollenzeile, also der dritten Ab-
13 14
Vgl. auch Anm. 19. Die Melodiedistinktionen von Boppe, Konrad und Ofterdingen nach Brunner (1975), S. 242, 254 und 259.
Die Bauformen der Töne in der ›Jenaer‹ / ›Kolmarer Liederhandschrift‹ im Vergleich
85
gesangzeile, verdoppelt, was so eine wohl einmalige Variation des Stollens im Abgesang ergibt.15 Die Töne Frauenlobs sind beide wie in J Rundkanzonen geblieben, hier ist das bei Frauenlob stets stark auf einander bezogene, indes unabhängige melodische Material jedoch im Grünen Ton in der Weise vereinheitlicht, dass im Stollen zwei Melodiezeilen Ton für Ton wiederholt werden.16 Bleiben noch die Töne des ›Wartburgkrieges‹ zu erwähnen. Der Schwarze Ton Klingsors läuft als Form mit 3. Stollen unverändert durch die Tradition, auch bei Heinrichs von Ofterdingen Fürstenton aber sind die typischen formalisierenden Vereinheitlichungen festzustellen, die bereits bisher konstatiert wurden. Heinrich von Ofterdingen, Fürstenton (›Wartburgkrieg‹ I) J: Į ȕ+Ȗ Į1 į :|| İ+Ȗ İ+Ȗ Į ȕ+Ȗ Į1 ȗ İ1 İ2+Ȗ AA B B A’ B’ t: Į ȕ+Ȗ Į1 Ȗ1 :|| į+Ȗ1 į+Ȗ1 Į ȕ+Ȗ Į1 Ȗ1 Į2 į Ȗ1 AA B B A C Schon die Melodie von J inseriert in den Abgesang nach einem wiederholten Steg einen beinahe vollständigen 3. Stollen. Diese Tendenz baut t aus, indem sie den 3. Stollen vervollständigt (soweit dies im Rahmen einer kleinen metrischen Variante möglich ist), so dass eine Form AA/BBAC entsteht.17 Bei Kelins Ton III hat zwar in t der Autorname gewechselt, statt des unbekannten Sangspruchdichters schreibt man die Hundweise nun Frauenlob zu; Hundweise, weil die der Melodie unterlegte Kopfstrophe, eine echte KelinStrophe, eine bekannte Hundefabel erzählt. Kelin III/Frauenlob, Hundweise J: Į ȕ Į’ Ȗ :|| Ȗ1 İ į1 į Ȗ1 İ į1 į t: Į ȕ Ȗ į İ+Ȗ’:|| ȗ Ș ș İ+Ȗ’ ȗ Ș ș İ+Ȗ’ AA B B Der Vergleich zeigt deutlich die unverletzte Struktur in der Fortschreibung durch t: in diesem Fall die seltene, manchmal auch quadratisch genannte Form AABB. Ich konnte hier nur noch einmal bestätigen, was bereits Brunner für die Entwicklung von J zu t feststellte: Die formale Gleichschaltung von einzelnen Zeilen nimmt zu, und in der Tendenz erscheinen so Bauformen verfestigt bzw. es entstehen aus variantenreichen Gebilden einfache, in der Zeilenmelodik exakt wiederholte Blöcke. Die Gesamtstruktur bleibt aber insgesamt meist erhalten; der komplizierende Sonderfall Hofton Konrads entstand offensichtlich unter Ausnahmebedingungen. Vergleichen wir nun J und t als Gesamtblöcke. In meinem Material tauchen mehrmals nicht-stollige Formen auf, die zu sporadisch vorhanden sind, um sie in der Systematik weiter zu differenzieren. Die Großform Leich klammere ich – wie erwähnt – von vorneherein aus. Alle strophischen Formen, die zu Beginn eine exakte Wiederholung mehrerer Melodiezeilen aufweisen, die von einer beliebigen anderen melodischen Struktur ab-
15
16 17
Zu Einzelheiten vgl. Brunner (1975), S. 255 und Eberth (Anm. 3), S. 41. Leider ist die Melodie im jüngeren Meistergesang nicht belegt, da Münzers Edition die Aufzeichnung bei Puschman übergangen hat. Das Singebuch des Adam Puschman nebst den Originalmelodien des M. Behaim und Hans Sachs, hg. von Georg Münzer. Leipzig 1906. Es entsteht dadurch ein kanzonenförmiger Stollen – das, was Gennrich potenzierte Form nannte. Vgl. Brunner (1975), S. 259.
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gelöst werden, bezeichne ich als Kanzonenform, zum Teil gegen andere Systematiken, jedoch im Einklang mit einer meisterlichen Praxis, die für strophische Formen all das zulässt, was im Folgenden an stolligen Formen erfasst wird. Im Material wird diese Entscheidung aus den fließenden Übergängen zwischen allen Subformen deutlich gerechtfertigt. In J sind regelmäßig der Beginn des 2. Stollens und der des Abgesangs durch farbige Majuskeln hervorgehoben, freilich wird auch häufig eine Untergliederung des Abgesangs auf diese Art angezeigt. Offensichtlich ist jedoch diese Untergliederung einzig an metrische Elemente gekoppelt; über melodische Gliederung sagen sie nichts aus.18 ›Jenaer Liederhandschrift‹ Fragmente 5 (5,6%) Meißner, Ton III Meißner, Ton XI Wizlav von Rügen, Ton Ia Wizlav von Rügen, Lied VII Wizlav von Rügen, Lied XVII Unstollige Töne 2 (2,2%) Spervogel, Ton Alexander, Ton V Kanzonen ohne längere wiederholte Teile 15 (16,7%) Alexander, Ton VI Boppe, Hofton Fegfeuer, Ton I Henneberger, Ton AABA’C Rumelant von Schwaben, Ton Singuf, Ton AABCC’ Unverzagter, Ton III AAAA/BB’AC Wernher, Ton II Wernher, Ton III Wernher, Ton IV Wernher, Ton VI Wizlav von Rügen, Ton VIII Wizlav von Rügen, Lied XIII Wizlav von Rügen, Lied XIV Zilies von Sayn, Ton I AABB’C Rundkanzonen 8 (8,9%) Frauenlob, Flugton Frauenlob, Grüner Ton Frauenlob, Zarter Ton Rumelant, Ton V
18
Stollen kanzonenförmig
Vgl. Pickerodt-Uthleb (1975), S. 145f.
Die Bauformen der Töne in der ›Jenaer‹ / ›Kolmarer Liederhandschrift‹ im Vergleich
Rumelant, Ton VII Stolle, Alment Wernher, Ton I Zilies von Sayn, Ton II Kanzonen mit verkürztem 3. Stollen 5 (5,6%) Höllefeuer, Ton Meißner, Ton IX Meißner, Ton XIV Wernher, Ton V Wizlav von Rügen, Lied X Stollenschlusszeile nicht wiederholt Kanzonen mit repetiertem Steg und verkürztem 3. Stollen 6 (6,7%) Friedrich von Sonnenburg, Ton IV Meißner, Ton IV AAA’A’A’’ Meißner, Ton VIII Meißner, Ton XIII Meißner, Ton XVII Wizlav von Rügen, Lied V Kanzonen mit 3. Stollen 21 (23,3%) Damen, Hermann, Ton II Damen, Hermann, Ton V Steg kanzonenförmig Gervelin, Ton Kelin, Ton I Kelin, Ton II Konrad von Würzburg, Hofton Litschauer, Ton II Meißner, Ton V AABA’A Meißner, Ton VII ABAB/AAB Reinold von der Lippe, Ton I Robin, Ton Rumelant, Ton II AAA’A Rumelant, Ton III Rumelant, Ton X Steg kanzonenförmig Unverzagter, Ton I Wizlav von Rügen, Lied III Wizlav von Rügen, Lied IX Wizlav von Rügen, Lied XI Wizlav von Rügen, Lied XII Wizlav von Rügen, Lied XV Wizlav von Rügen, Lied XVI Kanzonen mit repetiertem Steg und 3. Stollen 16 (17,8%) Damen, Hermann, Ton III Damen, Hermann, Ton VI
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Klingsor, Schwarzer Ton Meißner, Ton I Meißner, Ton II Meißner, Ton VI Meißner, Ton X Meißner, Ton XV Meißner, Ton XVI Reinold von der Lippe, Ton II Rumelant, Ton I Rumelant, Ton VI Wizlav von Rügen, Ton I Wizlav von Rügen, Ton II Wizlav von Rügen, Ton IV Wizlav von Rügen, Ton VI
AABBCCA
Kanzonen mit 3. Stollen und Coda 6 (6,7%) Friedrich von Sonnenburg, Ton I AABAC Friedrich von Sonnenburg, Ton III AABAC Guter, Ton I AABAC Heinrich von Ofterdingen, Fürstenton (›Wartburgkrieg‹ I) AABBA’B’ Unverzagter, Ton II AABAB’ Rumelant, Ton VIII AABBA’C Repetitionskanzonen 6 (6,7%) Alexander, Ton II Alexander, Ton IV Fragment Damen, Hermann, Ton IV Kelin, Ton III Rumelant, Ton IV Tannhäuser, Bußlied
AABB AABB[CCDD]? AABBCC AABB AABBCC AABB’CDCE
Nach Ausschluss von melodielosen Notierungen und Leichs bleiben 90 Töne. Fünf sind melodisch so weit fragmentiert, dass sich die Bauform nicht ausreichend bestimmen lässt, zwei weisen keine Kanzonenstruktur auf: Die Spervogelstrophe stammt aus der Zeit vor 1200, als im donauländischen Minnesang stollige Strukturen noch nicht üblich waren.19 Unter den restlichen dominieren die Formen mit einem 3. Stollen am Ende – nämlich 37 (41,1%). Aber noch mehr Töne sind von dieser Struktur maßgeblich geprägt: Denn weitere zehn Töne schließen mit einem verkürzten 3. Stollen, und ich habe die
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Der Ton wurde im 13. Jahrhundert in ein kanzonenförmiges Schema umgearbeitet. In t steht er als Ton des Jungen Spervogel. Diese Bearbeitung ist so grundlegend, dass ich sie unter die »normalen« Tonentwicklungen nicht aufnehmen konnte. Der Vorgang beleuchtet den grundsätzlichen Umbau der deutschen Strophik unter romanischem Einfluss im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts, der hier nicht Gegenstand ist. Vgl. Burghart Wachinger: Spervogel. In: ²VL 2 (1980), Sp. 911–913 und Rettelbach (1993), S. 149f.
Die Bauformen der Töne in der ›Jenaer‹ / ›Kolmarer Liederhandschrift‹ im Vergleich
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Bedingung für diese Struktur ja so eng gefasst, dass mindestens die Hälfte des Stollens wiederholt werden muss, um dieses Prädikat zu verdienen. Nur in einem Fall ist übrigens auf Kosten des Stollenschlusses verkürzt, bei Wizlavs Lied X. Zählt man diese Töne hinzu, ist man bei mehr als der Hälfte der Töne angekommen (insgesamt 48; 53,3%). Doch auch damit ist es noch nicht genug. Sechs Lieder setzen einen Stollen mitten in den Abgesang in wörtlicher oder fast wörtlicher Wiederholung; anders ausgedrückt: Nach einem 3. Stollen fügen sie noch eine Coda an; die unterschiedlichen Möglichkeiten, die sich dabei ergeben, lassen sich durch die Strukturschemata von Friedrichs von Sonnenburg Ton I (AABAC) und den Fürstenton des ›Wartburgkrieges‹ (AABBA’B’) illustrieren. Letzterem Ton strukturell sehr nahe ist der Ton des Hennebergers; doch ist hier die Variation des 3. Stollens noch ausgeprägter, so dass ich ihn in die Gruppe der nicht typisch gegliederten Töne stellen musste.20 Als eine weitere typische Möglichkeit, einen Ton zu strukturieren, findet man die Wiederholung des Abgesangbeginns. J kennt sie nur in Verbindung mit dem teils oder völlig wiederholten Stollen. Daher teilen sich die Kanzonen mit 3. Stollen in solche mit oder ohne Stegrepetition. Der unter Kanzonen ohne besondere Spezifizierung inserierte Ton von Zilies von Sayn zeigt nur angenähert die Form einer Stegrepetition ohne folgenden Stollen. Alle anderen Formen nehmen einen vergleichsweise geringen Raum ein. Es handelt sich um Kanzonen mit nicht weiter aufschließbaren Formen (15 Stücke, also 16,7%), darunter einige, die nicht nur einzelne Melodiezeilen mehrfach verwenden. Aus dieser Gruppe lohnt es, den Ton III des Hennebergers hervorzuheben, zeigt er doch, dass in manchen Fällen die spröde Zuweisung zu Bauformen das wahre Gesicht der Stophenform kaum erschließen kann. Ton III gehört zwar formell in die Kategorie der Kanzonen, so gliedert auch die Handschrift, doch in Wirklichkeit hat er vier gleiche Stollen, und dieser zwei Melodiezeilen umfassende Teil A kehrt sogar als fünfter Stollen vor der Coda im Abgesang wieder. Interpretatorisch verständlich wird die Form sogar nur bei Einbezug des Kopfstrophentextes, wo jede solche Einheit mit der künig rudolf beginnt. Ich bin mir des Formalismus und der begrenzten Aussagekraft meiner Einteilung also durchaus bewusst; sie kann die Einzelinterpretation nicht ersetzen. Weitere 8 (8,9%) sind Rundkanzonen, immerhin 6 (6,7%) bauen sequenzartig ihren Abgesang ausschließlich aus Doppelversikeln. Insgesamt ist trotz der letztgenannten Gegenbeispiele die Dominanz der Formen mit 3. Stollen in J erdrückend. Das ist natürlich längst und am nachhaltigsten durch Pickerodt-Uthleb festgehalten worden. Die Bewertung muss ich mir noch aufsparen, denn zunächst gilt es, im Vergleich t zu untersuchen. Auch dort habe ich sämtliche strophische Melodien einbezogen. Nicht berücksichtigt sind also auch hier wieder Leichs, jedoch einzeln gezählt die beiden konkurrierenden
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In der Metrik ist der 3. Stollen überhaupt nicht sichtbar. Die Strophenform ist, zumindest in der überlieferten Form, überhaupt nicht streng stollig, da die jeweils ersten Stollenzeilen längendifferenziert sind. Zur Frage der bewussten Gestaltung oder Folge eines Rezeptionsprozesses vgl. Helmut Lomnitzer: Zur wechselseitigen Erhellung von Text- und Melodiekritik mittelalterlicher Lyrik. In: Mittelhochdeutsche Spruchdichtung, hg. von Hugo Moser. Darmstadt 1972 (WdF 154), S. 325–360, hier 337–340, ferner Helmut Tervooren: Der Henneberger. In: ²VL 3 (1981), Sp. 1006–1008; Rettelbach (1993), S. 340, Anm. 53.
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Melodien zum gleichen Tonnamen und Tonschema, Kanzlers Goldenem Ton,21 und die alternierenden Schemata zu Peters von Reichenbach Tagweise22, damit komme ich auf 102 Einheiten. ›Kolmarer Liederhandschrift‹ Fragmente 4 (3,9%) Lesch, Feuerweise Muskatblut, Alter Ton Peter von Arberg, Andere Tagweise Peter von Arberg, Große Tagweise nicht stollige Melodien 5 (4,9%) Kanzler, Süßer Ton Mönch von Salzburg, Jahrweise (Titurelton23) Mönch von Salzburg, Taghorn Mönch von Salzburg, Nachthorn Konrad von Würzburg, Goldener Reihen (Lesch, Kurzer Reihen) Kanzonen ohne längere wiederholte Teile 19 (18,6%) Frauenlob, Goldener Ton Frauenlob, Neuer Ton Tendenz zur Rundkanzone Frauenlob, Würgendrüssel Frauenlob, Überzarter Ton Heinrich von Mügeln, Traumweise Junger Stolle, Ton Kanzler, Goldener Ton [Melodie I] Konrad von Würzburg, Aspiston Tendenz zur Rundkanzone Lesch, Hofweise Mönch von Salzburg, Zarter Ton Muskatblut, Neuer Ton Neidhart, Fraß Peter von Reichenbach, Tagweise I Peter von Reichenbach, Tagweise II Regenbogen, Grauer Ton Reinmar von Zweter, Frau-Ehren-Ton Tannhäuser, Ludeleich Walther, Hofweise Wolfram (Gast), Goldener Ton
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Der Redaktor von t teilt beide Melodien mit und weist ausdrücklich auf konkurrierende Gestaltungsmöglichkeiten für die überlieferten Bare hin. Vgl. Rettelbach (1993), S. 45. Die Strophen 1, 3, 5 und 2, 4, 6 haben jeweils einen eigenen Ton, sowohl die Strophenform als auch die Melodien differieren. Die vermutlich richtigen Zuschreibungen der unterschobenen, übernommenen oder umbenannten Töne in Klammern. Zu näheren Erläuterungen vgl. Rettelbach (1993), Register.
Die Bauformen der Töne in der ›Jenaer‹ / ›Kolmarer Liederhandschrift‹ im Vergleich
Kanzonen mit mit repetiertem Steg 4 (3,9%) Liebe von Giengen (Nachtigall), Sanfter Ton Mönch von Salzburg, Langer Ton Mönch von Salzburg, Süßer Ton Reinmar von Brennenberg, Ton Rundkanzonen 13 (12,7%) Frauenlob, Gekrönter Ton Frauenlob, Grüner Ton Frauenlob, Langer Ton Frauenlob, Süßer Ton Frauenlob, Vergessener Ton Frauenlob, Zarter Ton Junger Meißner, Ton Kanzler, Goldener Ton [Melodie II] Konrad von Würzburg, Kurzer Ton Marner, Kurzer Ton Marner, Langer Ton Regenbogen, Leidton Stolle, Alment
Tendenz zu Repetition
Rundkanzonen mit repetiertem Steg 8 (7,8%) Frauenlob, Gekrönter Reihen Frauenlob, Verhohlener Ton (Kettner, Osterweise) Frauenlob, Zugweise Heinrich von Mügeln, Kurzer Ton Lesch, Goldener Reihen Mönch von Salzburg (Neifen), Hofton Regenbogen (Goldener?), Goldener Ton Zwinger, Roter Ton Kanzonen mit verkürztem 3. Stollen 6 (5,9%) Frauenlob, Ankelweise Harder, Chorweise Lesch, Zirkelweise Mülich von Prag, Langer Ton Mülich von Prag, Reihen Regenbogen, Torenweise Kanzonen mit mit repetiertem Steg und verkürztem 3. Stollen 4 (3,9%) Frauenlob, Leidton Mönch von Salzburg, Chorweise Mönch von Salzburg (Wernher von Hohenberg), Kurzer Ton Regenbogen, Tagweise
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Kanzonen mit 3. Stollen 18 (17,6%) Anker (Schonsbekel), Ton Ehrenbote, Spiegelweise Frauenlob, Grundweise Frauenlob (Konrad von Würzburg), Spiegelweise Harder, Hofweise Kanzler, Hofton (Sighart, Pflugton) Klingsor, Schwarzer Ton Konrad von Würzburg, Hofton Konrad von Würzburg, Morgenweise Konrad von Würzburg, Nachtweise Lesch, Gesangweise Liebe von Giengen, Jahrweise [Nestler], Unerkannter Ton Peter von Sachs, Barantton Regenbogen, Briefweise Regenbogen, Grundweise Suchensinn, Ton Walther, Goldene Weise Kanzonen mit mit repetiertem Steg und 3. Stollen 8 (7,8%) Frauenlob (Alblin), Froschweise Frauenlob, Tannton Kanzler, Langer Ton Konrad von Würzburg, Blauer Ton Marner, Goldener Ton Meffrid, Ton Tannhäuser, Hauptton Ungelehrter, Schwarzer Ton Kanzonen mit 3. Stollen und Coda 3 (3,1%) Frauenlob (Guter?24), Ritterweise außerdem Rundkanzone Heinrich von Ofterdingen, Fürstenton AABBA’C Rumelant, Geschwinder Ton Repetitionskanzonen 4 (4,1%) Ehrenbote, Schallweise Frauenlob, Hundweise (Kelin, Ton III) Harder, Goldener Reihen Tugendhafter Schreiber, Grußweise
24
AABBCC AABB AABB’ AABB
Der Ton II Guters entspricht nicht genau, wichtiges Indiz ist die Bauform, die sonst nur bei Tönen aus dem 3. Viertel des 13. Jahrhunderts nachgewiesen ist; s. u., S. 96.
Die Bauformen der Töne in der ›Jenaer‹ / ›Kolmarer Liederhandschrift‹ im Vergleich
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Kanzonen mit mehrfacher Repetition und Coda 6 (5,8%) Boppe, Hofton AABBCCD Heinrich von Mügeln, Grüner Ton AABBCCD Heinrich von Mügeln, Langer Ton AABBCCD Lesch, Tagweise Schluss fehlt AABCCDEE’F? Marner, Prophetentanz AABBCBBDEEF Regenbogen, Langer Ton AABBCCD Die Übersicht zeigt eine deutlich andere Verteilung, schon deswegen, weil t ein Phänomen erkennen lässt, das J nicht kennt. Mehrfach werden dort Melodieteile zu Beginn des Abgesangs verdoppelt, denen dann nicht, wie zu erwarten, eine Stollenrepetition folgt. Auch t kennt übrigens dieses Phänomen kaum im älteren Bestand. Ausnahme ist Reinmars von Brennenberg Hofton (AABBC), bei dem der Teil B ebenso lang ist wie A, so dass man von einem ›Doppelstollen‹ gesprochen hat.25 Diese Erscheinung hat sonst auch gar keinen musik- oder literaturwissenschaftlich eingeführten Namen: Ich nenne es in Ausweitung des Begriffs und genetisch nicht ganz korrekt ebenfalls ›Steg‹.26 Die Stegrepetition ohne folgenden 3. Stollen konzentriert sich im jüngeren Bestand. Gliedert man die Töne von t nach der Bedeutung wiederholter Teile, so ergeben sich die dargestellten Gruppen. Von den 102 erfassten Melodien entfällt nur knapp ein Viertel auf Kanzonen mit 3. Stollen, und weit weniger davon als in J auf solche mit repetiertem Steg. Auch die Kanzonen mit verkürztem 3. Stollen sind ganz deutlich in der Minderzahl, und selbst der höhere Anteil von Rundkanzonen kann das nicht wettmachen. Es ist der auffälligste Befund im Vergleich, dass es die weit jüngere Handschrift ist, die den geringeren Bestand an Formen mit 3. Stollen dokumentiert. Ein weiterer Unterschied im Formbestand ist die bereits erwähnte Häufung von Wiederholungen am Beginn des Abgesangs in t. J kennt diesen Typ von Wiederholung – wie wir sahen – nur im Zusammenhang mit dem 3. Stollen. In t ist er auch bei Kanzonen und Rundkanzonen aktiv. Trotz der unterschiedlichen Ausgangslage erreicht der Anteil dieser Zwischenglieder insgesamt mit 23,5% beinahe denselben Wert wie in J (24,4%). Um naheliegenden Überlegungen vorzubeugen: Die meisten Kanzonen und Rundkanzonen in t, die das Phänomen des repetierten Stegs zeigen, könnten metrisch gar keinen 3. Stollen bilden. Es kann sich also nicht um Rückbildungen oder gar um fehlerhafte Notation handeln. Bleiben noch die Sonderformen: J kennt mehrere Repetitionsformen, meist vom einfachen Typ AABB, drei Töne auch mit Wiederholung dreier Glieder, einzig Alexander führte seinen unvollständig aufgezeichneter Ton IV vielleicht entsprechend dem
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Volker Mertens: Peter von Arberg, Minnesänger. In: ZfdA 101 (1972), S. 344–357, hier 350f.; Horst Brunner: Die Melodieüberlieferung von Reinmars von Brennenberg Ton IV (Hofton). Zum Neufund in Engelberg Cod. 314. In: Litterae Ignotae. Beiträge zur Textgeschichte des deutschen Mittelalters: Neufunde und Neuinterpretationen, hg. von Ulrich Müller. Göppingen 1977 (Litterae 50), S. 33–38. Dieses Wort bezeichnete im 15. Jahrhundert als steige oder absteig den Abgesang, wird aber im 16. Jahrhunderts von eben diesem Wort, also absang oder abgsang, verdrängt und umgedeutet zu Steg (wie Brücke), quasi als Übergang zum 3. Stollen. Die englische Bezeichnung bridge benennt in klassischer Musik, Jazz und Popmusik auch Zwischenteile, die nicht unbedingt zum ersten Teil zurückführen; an diese Terminologie lehne ich mich damit an.
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metrischen Befund mit weiteren paarigen Gliedern fort (AABB[CCDD]). Dasselbe gibt es gelegentlich auch in t, wobei man die Grußweise des Tugendhaften Schreibers, den typisch einförmigen Epenton der Windsbeckischen Gedichte, wohl gänzlich ausklammern muss; und der Harder setzt am Ende der letzten Zeile des Wiederholungsteils an Stelle eines Vierhebers einen Siebenheber und fügt musikalisch vor dem Finalton ein Zwischenstück (ș) ein. Harder, Goldener Reihen Į1+Į2 ȕ Ȗ į İ ȗ :|| Ȗ’ į Ș Ȗ’ į Ș+ș AA B B’ Damit bildet dieser Ton den Übergang zu einer weiteren Besonderheit, die in J nur mit einem Beispiel vertreten ist, die Mehrfachrepetition mit abschließender Coda. Es zeigt sich so ein weiterer Unterschied der Formen: t bietet mehr Abwechslung. Das ist vielleicht nicht verwunderlich, weil trotz des meist gebrauchten Epitethons ›Meistergesang‹ für diese Handschrift eine große regionale, gattungsmäßige und vor allem zeitliche Streuung konstatiert werden muss. Wirklich bemerkenswert wird dieser Befund erst, wenn man die zeitliche Schichtung beachtet. Unter den mutmaßlich echten Tönen aus der Zeit bis zum beginnenden 14. Jahrhundert, und ich zähle in aller Vorsicht bis zu Frauenlob, Regenbogen und Kanzler 30 solcher Töne in t, unter diesen Tönen also enden 10 mit 3. Stollen, die alle der Wende zum 14. Jahrhundert angehören. Das Repertoire der älteren Töne hat mit genau einem Drittel einen erhöhten Wert von Drittstollen im Vergleich zum restlichen Bestand mit weiteren 16 Tönen, das sind 22% dieses Rests. In welcher Hinsicht sind die Befunde aussagekräftig? Pickerodt-Uthleb ging von der Annahme aus, dass im 12. und frühen 13. Jahrhundert die Formen mit 3. Stollen wenig verbreitet gewesen seien. Das ist – obgleich aus dem Bisherigen nicht verifiziert – richtig (s. u.). Die starke Vertretung von Formen mit 3. Stollen in J war für sie der Beginn einer konsequenten Entwicklung zu mehr Formalismus, so dass sie konstatieren konnte, J stelle den Übergang vom »Minnesang« zum »Meistersang« dar.27 t bestätigt diesen Trend nicht – jedenfalls nicht in der vermuteten Weise. Wo t allerdings stärker formalisiert, das ist in der Einzelzeile. Melodiezeilen, die in dieser Handschrift mehrfach erscheinen, entsprechen sich dann meist notengetreu, wenn nicht überhaupt die notierten Zeilen durch doppelte Textunterlegung oder Rückverweis zur Wiederholung auffordern. Dieses Verfahren kennt J nicht. Blickt man zeitlich über t hinaus, dann lässt sich feststellen, dass auch danach, im organisierten Meistergesang am Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts immer noch keine entsprechende Entwicklung festzustellen ist. Adam Puschman, der sich in seinem ›Gründlichen Bericht des Deutschen Meistergesangs‹28 auch mit dem Komponieren von Tönen auseinandersetzt, erwähnt Bauformen überhaupt nicht. Nicht einmal bei den Ulmer und Memminger Meistern des 17. Jahrhunderts, die den 3. Stollen in der Tat liebten, konnte er sich als ausschließliche Regelform durchsetzen.29
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Pickerodt-Uthleb (1975), S. 226. Adam Puschman, ›Gründlicher Bericht des deutschen Meistergesangs‹ (Die drei Fassungen von 1571, 1584, 1596), hg. von Brian Taylor. 2 Bde. Göppingen 1984 (Litterae 84/I und II). Gleichwohl ist die Form AABA bis in die Gegenwart eine der entscheidenden musikalischen Grundformen geblieben. Regelform ist sie z. B. im klassischen Blues, ganz häufig auch in Jazz und Popmusik.
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Wir haben zeitlich weit nach vorne ausgegriffen; sehen wir nun weiter zurück, sehen wir ins 12. und frühere 13. Jahrhundert. Da freilich wird die Bestimmung von Bauformen problematisch, weil Melodieüberlieferung im deutschsprachigen Bereich rar ist. Aber die Verhältnisse sind doch so klar zu beurteilen, dass wir konstatieren können: in der Tradition bis ca. 1250 sind Formen mit 3. Stollen offenbar noch weit weniger verbreitet als später. In der Sangspruchdichtung, wo wir über Melodien verfügen und bei längeren Strophenformen oft ohne Melodie die Möglichkeit eines 3. Stollens ausschließen können, ist das deutlich. Bei Bruder Wernher oder dem Jungen Spervogel gibt es keinen 3. Stollen, bei Walther von der Vogelweide nicht einmal durchgehend Kanzonenform und bei Spervogel überhaupt keine stollige Form. Im Minnesang ist Neidhart einigermaßen gut melodisch belegt. Von den 22 Melodien zu alt bezeugten Texten hat nach der Edition Brunners allein das Lied Beyschlag Nr. 61 einen 3. Stollen. Der Text steht in C (also in der ›Manessischen Liederhandschrift‹) und nicht im Neidhart-Faszikel von R; die Melodie ist in diesem Fall in Liebhart Eghenfelders Liederhandschrift, also in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, nachzusehen.30 Der traditionellen Neidhartphilologie gilt das Lied als unecht. Bei Walthers Minnesangtönen lässt sich 3. Stollen häufig allein aufgrund der Metrik ausschließen. Brunner vermutet einzig für das Reimkunststück 47,16 (Ich minne / sinne / lange zît) die Form mit 3. Stollen mit einiger Wahrscheinlichkeit. Sie könnte dann auch für die Strophenform von Reinmars Lied MF 160,6 gelten, aus der Walthers Strophenform höchstwahrscheinlich abgeleitet ist.31 Aber sonst können auch bei Reinmar, der bekanntlich oft große, deutlich kanzonenförmige Töne komponiert hat, Formen mit 3. Stollen nur in wenigen Fällen überhaupt von der metrischen Gestalt her als denkbar erscheinen.32 Für einige Strophenformen von Heinrich von Morungen erwog Helmuth Thomas mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit diese Variante der Kanzonenform.33 Aber einen melodischen Beleg gibt es nicht vor J, und der älteste musikalisch dort belegte Ton mit 3. Stollen ist wahrscheinlich Klingsors Schwarzer Ton. Außerhalb von J und melodisch jünger überliefert, doch von den Texten her älter ist allerdings der Kurze oder Hofton Marners, der mit der Da-Capo-Form so spielt, dass ein nur um eine Distinktion gekürzter 3. Stollen erscheint.34 Für die Zeit vor J bzw. vor dem Schwerpunkt der in J vertretenen Autoren kann und muss man trotz der in Bezug auf Melodien
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Die Lieder Neidharts, hg. von Siegfried Beyschlag. Melodieanhang von Horst Brunner. Darmstadt 1975. Vgl. zuletzt Johannes Rettelbach: Minnelied und Sangspruch: Formale Differenzen und Interferenzen beider Tonkonstitution im 13. Jahrhundert. In: Sangspruchdichtung. Gattungskonstitution und Gattungsinterferenzen im europäischen Kontext, hg. von Dorothea Klein. Tübingen 2007, S. 153–168, hier 157f. Nach Brunner lassen sich 3. Stollen erst »im zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts« belegen. Er meint freilich umgekehrt den positiven (melodischen) Beleg. Brunner in Horst Brunner/ Gerhard Hahn/Ulrich Müller/ Franz Viktor Spechtler: Walther von der Vogelweide: Epoche – Werk – Wirkung. München 1996 (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte), S. 56. Ulrich Pretzel: Deutsche Verskunst. Mit einem Beitrag über altdeutsche Strophik von Helmut Thomas. In: Deutsche Philologie im Aufriß, hg. von Wolfgang Stammler. Bd. 1. Berlin u. a. 1957, Sp. 2327–2466, hier 2473. Gisela Kornrumpf: Eine Melodie zu Marners Ton XIV im Clm 5539. In: ZfdA 107 (1978), S. 218–230. Abdruck der Melodie S. 222f., Angabe des Schemas S. 225. – In t ist der Schluss zum 3. Stollen eingeebnet.
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unzureichenden Überlieferung von einer schwachen Bezeugung des 3. Stollens ausgehen. Andere Wiederholungsphänomene, etwa bloße Stegrepetition, lassen sich aus der Strophenmetrik allein so gut wie gar nicht beurteilen, sie entziehen sich für die frühe Zeit damit unserer Kenntnis. Kehren wir unter diesen Voraussetzungen zur Überlieferung von J zurück und konstatieren zunächst, dass die Verteilung der Formen hier eine Ausnahme ist. Weder zuvor noch später begegnet man einer solchen Dominanz der Form mit 3. Stollen. Sucht man nach einer Begründung für diesen Befund, so sticht beim Blick auf die Übersicht sogleich eine Besonderheit ins Auge. Die Kanzonen mit 3. Stollen werden dominiert von den Namen Wizlaw und Meißner, die die Hälfte der einschlägigen Töne beitragen, zum Rest freilich auch noch einmal acht Töne.35 Das ist aber nur ein erster Hinweis, denn auch alle anderen beisteuernden Autoren stammen aus der Zeit kurz vor oder um 1300. Die wenigen älteren Autoren: Spervogel, Stolle, Tannhäuser, Bruder Wernher, tragen zu Bauformen mit 3. Stollen nichts bei. Bemerkenswert sind die drei melodisch belegten Töne Friedrichs von Sonnenburg36, der zeitlich zwischen den bisher erwähnten Gruppen anzusiedeln ist, nämlich im dritten Viertel des 13. Jahrhunderts. Sein Ton IV mündet in einen nur wenig verkürzten 3. Stollen, was dem Befund bei Marners Hofton ähnelt. Die Töne I und III37 verteilen ihr jeweiliges Tonmaterial in der Struktur noch anders: Es entsteht ein wörtlich (in Ton III) bzw. beinahe wörtlich (in Ton I) wiederholter Stollen, dem eine Coda folgt. Friedrich von Sonnenburg, Ton III Į ȕ Ȗ :|| ȕ’ Ȗ’ Į ȕ Ȗ Į’ Ȗ’’ AA B A C Der Übersicht ist zu entnehmen, dass es weitere Töne dieser Bauart gibt, darunter bezeichnenderweise den Ton I des ›Wartburgkrieges‹, der ebenfalls kurz nach der Jahrhundertmitte anzusiedeln ist. Alle genannten Töne zeigen früh eine besondere Variation des Schemas mit 3. Stollen, das später so gut wie nie mehr wiederkehrt. Speziell diese Beobachtung gibt der Vermutung Raum, es könne sich bei der in t unter dem Namen Frauenlob geführten Ritterweise um eine umbenannte und weiterentwickelte Variante von Guters Ton II handeln, dessen Ton I ebenfalls diesem Formtyp entspricht.38 Unser Durchgang zeigt: Die Variation des 3. Stollens taucht auf, noch bevor die ›Normalform‹ überhaupt in die Sangspruchdichtung eingeführt ist oder allenfalls gleichzeitig mit dem frühesten Vertreter (Klingsor, Schwarzer Ton), und das weckt den Verdacht, die Form sei anderswo bereits lebendig gewesen, ohne dass man einen konkreten Ort benennen könnte, und dieses ›anderswo‹ habe lange Zeit eine gewisse Scheu bei der exak-
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Wohin die fünf Fragmente weisen, die von diesen Vieltönern in der Handschrift stehen, lässt sich nicht sagen. Vgl. Horst Brunner: Die Töne Bruder Wernhers. Bemerkungen zur Form und zur formgeschichtlichen Stellung. In: Liedstudien. Fs. Wolfgang Osthoff, hg. von Martin Just und Reinhard Wiesent. Tutzing 1989, S. 47–60. Die Melodie zu Ton II ist nicht bekannt. Melodiedistinktionen nach Horst Brunner: Die Töne Friedrichs von Sonnenburg. Bemerkungen zur Form und zur formgeschichtlichen Stellung. In: Artes liberales. Fs. Karlheinz Schlager, hg. von Marcel Dobberstein. Tutzing 1998, S. 59–67. Guters Ton II ist im Gegensatz zu Ton I in J melodielos überliefert.
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ten Verwendung in der Sangspruchdichtung bewirkt. Silvia Ranawake benennt übrigens im Blick auf romanische Strophentypen dieses ›anderswo‹ einmal als »außerhöfische Formen«.39 Wie auch immer: Im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts ist die Scheu vor der Verwendung verschwunden. Sie ist verschwunden, leitet jedoch keinen Siegeszug ein, wie der Vergleich mit t gelehrt hat, wie auch der Vergleich mit noch späteren Meistern zeigen könnte. Schon Frauenlob, der in J vertreten ist, hält sich von ihr fern, obgleich er seine stärksten dichterischen Anregungen sonst wohl von Rumelant von Sachsen und von Konrad von Würzburg empfing, die Formen mit 3. Stollen gerne verwendeten. Ich komme zum Schluss: Pickerodt-Uthleb hatte der ›Jenaer Liederhandschrift‹ eine formgeschichtliche Wende bescheinigt. »Kann die Kanzone als typische Strophenform des Minnesangs gelten, so die Da-Capo-Form [Kanzone mit 3. Stollen, J. R.] als die des Meistersangs.«40 Auch wenn man unter »Minnesang« die ältere deutschsprachige Lyrik versteht und sich in erster Linie auf die Sangspruchdichtung bezieht und das Wort »Meistersang« neutraler als Wendung zur spätmittelalterlichen meisterlichen Liedkunst versteht, lässt sich diese Einschätzung nicht halten. Die Zusammensetzung der Handschrift J spiegelt vielmehr in ihrem melodischen Bestand ebenso wie in den Texten zum größten Teil eine temporale Sondergruppe: Sie zeichnet sich im musikalischen Formenbestand durch eine Hinwendung zu einer extremen Beschränkung des verwendeten melodischen Materials aus, das vor allem durch Variationskunst besticht. Sie gipfelt in der Bevorzugung der Total- oder Teilwiederholung des Stollens im Abgesang. Dass dies keine dauerhafte Wendung in der Geschichte der deutschen Liedkunst bedeutet, belegt t eindrucksvoll, und es ließe sich auch durch weitere Belege erhärten. Unbestreitbar ist dagegen die Verfestigung der Einzelzeile, wenn sie denn wiederholt werden, wie es sich in der Notation von t und in späterer Notationspraxis niederschlägt, wenn einzelne Melodiezeilen bei Wiederkehr gar nicht mehr ausgeschrieben werden. Die Zeit vor J ist weit schwerer zu bewerten, doch gibt es keinen einzigen sicheren positiven Nachweis für Melodien mit 3. Stollen in der deutschsprachigen Lyrikproduktion vor dem 3. Viertel des 13. Jahrhunderts. Für ältere Sangspruchdichtung kann man die Form AABA ausschließen, im Minnesang mag sie hin und wieder Verwendung gefunden haben. Es existieren Strophenstrukturen, die auf 3. Stollen deuten, und romanische Vorbilder gab es, darauf hat nicht nur Gennrich hingewiesen. Aber auch im Minnesang bildeten DaCapo-Strukturen bis weit ins 13. Jahrhundert die Ausnahme. Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ zeigt mit ihrer Dominanz der Strophentypen mit 3. Stollen – wohl hauptsächlich dank der Dominanz der in ihr hervortretenden Dichtergeneration – in den Formtypen des metrisch-melodischen Baus eine eigene, unverwechselbare Individualität in der Geschichte der Strophik.
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Silvia Ranawake: Höfische Strophenkunst. Vergleichende Untersuchungen zur Formtypologie von Minnesang und Trouvèrelied. München 1976 (MTU 51), S. 137–141, erwähnt mehrfach die unhöfische oder volkstümliche Besonderheit dieses Strophentyps. Doch scheint das außerhöfische Vergleichsmaterial aus dem 15./16. Jahrhundert bezogen. Pickerodt-Uthleb (1975), S. 209. Das Fehlurteil ist durch Bert Nagel: Meistersang. Stuttgart 1962 (Sammlung Metzler 59), S. 90, vielleicht nicht erfunden, so doch in sekundären Urteilen bis in jüngste Zeit zementiert. Vgl. etwa die Artikel von Manfred Günther Scholz: Meistersang. Meistersangstrophe. In: Metzler Literatur Lexikon, hg. von Dieter Burdorf u. a. Stuttgart/Weimar ³2007, S. 486f.
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OLIVER HUCK
Die Notation der mehrfach überlieferten Melodien in der ›Jenaer Liederhandschrift‹1
Johann Gottfried Herder formuliert 1793 im Hinblick auf die Melodien in der ›Jenaer Liederhandschrift‹, die er als »schätzbares Hülfsmittel« bezeichnet, jedoch nicht um ihrer selbst willen schätzt (»so dünkt uns oft doch […] die Minnesinger-Weise langweilig«), ein »Aufschluß, den uns hierüber ein Tonkünstler gäbe, wäre niemanden unwillkommen«.2 Dass Herder Auskunft darüber nicht bei der Musikwissenschaft, sondern bei der Tonkunst sucht, ist zu einem Zeitpunkt, wo mit dem ersten Band von Johann Nicolaus Forkels ›Allgemeiner Geschichte der Musik‹ in Deutschland gerade einmal fünf Jahre zuvor ein erster Ansatz zu einer Musikwissenschaft als Historischer Wissenschaft zu erkennen ist3, nachvollziehbar. Die gegenwärtige Situation weist zur damaligen jedoch insofern Parallelen auf, als zwar inzwischen einschlägige musikwissenschaftliche Überblicksdarstellungen zu Paläographie und Notation vorliegen, diese jedoch die Aufzeichnungen einstimmiger weltlicher Musik des Mittelalters im Vergleich mit der liturgischen Musik und der Mehrstimmigkeit stiefmütterlich behandeln. Zuletzt hat Ewald Jammers in der von Wulf Arlt nach Plänen von Leo Schrade herausgegebenen ›Paläographie der Musik‹ eine zusammenfassende Darstellung versucht.4 Aufgrund ihrer Verwurzelung in der Hypothese einer rhythmischen Lesung der Notation ist diese jedoch einem ›Meistergesang‹, wie ich die Paradigmen der Interpretationen des mittelalterlichen volkssprachlichen Liedes in Analogie zu den historischen Meistererzählungen nenne5, verpflichtet, der heute lediglich noch wissenschaftsgeschichtlich von Interesse ist. Die Diskussion um die Interpretation der Notation des mittelalterlichen volkssprachlichen Liedes gehört zwar zu den ältesten Forschungskontroversen der Musikwissenschaft, ein fachinterner Konsens ist jedoch nicht in Sicht. Denn während in der Anfangszeit der
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3
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Ich danke Gisela Kornrumpf für Hinweise auf Quellen zu Frauenlob. Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, 5. Slg. IV Andenken an einige ältere Deutsche Dichter, 3: Dichter des Schwäbischen Zeitalters. Gotha 1793. In: Sämtliche Werke 16, Berlin 1887, S. 212–218, hier S. 216. Zum Verhältnis von Tonkunst und Wissenschaft vgl. Oliver Huck: Tonkunst und Tonwissenschaft. Die Musikwissenschaft zwischen Konservatorium und Universität. In: Konzert und Konkurrenz. Die Künste und ihre Wissenschaften im 19. Jahrhundert, hg. von Christian Scholl, Sandra Richter und Oliver Huck. Göttingen 2010, im Druck. Ewald Jammers: Aufzeichnungsweisen der einstimmigen außerliturgischen Musik des Mittelalters. In: Paläographie der Musik, hg. von Wulf Arlt. Köln 1975, S. 4.1–4.146. Vgl. Oliver Huck: Meistererzählungen und Meistergesänge. Geschichte und Aufführungen der Musik des Mittelalters. In: Meistererzählungen vom Mittelalter, hg. von Frank Rexroth. München 2007 (Historische Zeitschrift, Beiheft 46), S. 69–85.
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Oliver Huck
Musikwissenschaft die Diskussion um die Lesung der Notation des mittelalterlichen Liedes durch Beiträge von Gründervätern und Pionieren wie Gustav Jacobstahl, Hugo Riemann und Friedrich Ludwig bestimmt worden ist – John Haines und Peter Sühring haben diesen Diskurs über den Rhythmus des mittelalterlichen Liedes unlängst analysiert6 –, ist die Paläographie des mittelalterlichen Liedes in der Folgezeit zu einem Gebiet geworden, das die akademische Musikwissenschaft anderen überlassen hat.7 In Bezug auf die Lesung und Interpretation der Notation hat sich an dem von Herder formulierten Desiderat damit bis heute nichts Grundsätzliches geändert. Worin ist der Grund für diese Entwicklung zu suchen? Nach 1945 setzte sich gegen Friedrich Gennrich als Sachwalter der »Straßburger Schule«8 im Anschluss an seine Kontroverse mit Heinrich Husmann9 in den frühen 50er Jahren zunehmend die von Carl Appel bereits 1934 verwendete tondauerneutrale Transkription durch.10 Damit schien kein Spielraum mehr für weitere Hypothesen einer rhythmischen Lesung vorhanden zu sein und das Forschungsgebiet verlor an Attraktivität. Robert Lug moniert jedoch, dass es sich bei dieser Editionspraxis um nicht weniger als die Kapitulation vor dem Problem der Interpretation der Notation zu handeln scheint. Er hebt hervor, dass eine Neutraltranskription stets nur weniger, niemals jedoch mehr Informationen liefere als die originale Notation und der musikalischen Praxis eine »amorphe Beliebigkeit« suggeriere.11 Lug selbst vertritt eine aus dem Studium des Chansonnier Saint-Germain-des-Prés gewonnene Interpretation, die ihre Legitimation zudem aus der Hypothese herleitet, dass Beobachtungen, die in rezenten musikalischen Traditionen gemacht werden können, auf die Musik des Mittelalters übertragbar seien, deren Darstellung er als Strukturtranskription bezeichnet.12
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7 8
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10 11 12
Vgl. John Haines: The »Modal Theory«, Fencing, and the Death of Pierre Aubry. In: Plainsong and Medieval Music 6 (1997), S. 143–150; ders.: The Footnote Quarrels of the Modal Theory: A Remarkable Episode in the Reception of Medieval Music. In: Early Music History 20 (2001), S. 87–120; ders.: Eight Centuries of Troubadours and Trouvères. The Changing Identity of Medieval Music. Cambridge 2004, S. 155–260; Peter Sühring: Der Rhythmus der Trobadors: zur Archäologie einer Interpretationsgeschichte. Berlin 2003, vgl. zu den beiden letztgenannten auch die Rezension des Autors in: Die Musikforschung 59 (2006), S. 73–74. Vgl. neben Jammers zuletzt Lug (2000); Gröbler (2005); Achim Diehr: Literatur und Musik im Mittelalter. Eine Einführung. Berlin 2004. Zu Gennrich vgl. Peter Sühring: Mitmachen und widerstehen. Zur misslungenen Doppelstrategie des Friedrich Gennrich im Jahre 1940. In: Musikforschung, Faschismus, Nationalsozialismus, hg. von Isolde Foerster u. a. Mainz 2001, S. 405–414. Gennrich und Husmann hatten zwar eine Kontroverse über die Frage, wie das Verhältnis von Musica cum littera und Musica sine littera aufzufassen sei; über die grundsätzliche Anwendung der Modi auch auf die Monodie waren sie sich jedoch einig, vgl. Heinrich Husmann: Zur Rhythmik des Trouvèregesangs. In: Die Musikforschung 5 (1952), S. 110–131 und Friedrich Gennrich: Grundsätzliches zur Rhythmik mittelalterlicher Musik. In: Die Musikforschung 7 (1954), S. 150–176. Vgl. Carl Appel: Die Singweisen Bernarts von Ventadorn. Halle 1934. Zum Forschungsstand der 60er Jahre vgl. Kippenberg (1962). Lug (2000), S. 5. Vgl. ebd., S. 6–14 sowie ders.: Das »vormodale« Zeichensystem des Chansonnier de SaintGermain-des-Prés. In: Archiv für Musikwissenschaft 52 (1995), S. 19–65.
Die Notation der mehrfach überlieferten Melodien in der ›Jenaer Liederhandschrift‹
101
Während die Neutraltranskription die Konsequenz aus den Grenzen unseres Wissens über die Aufführung mittelalterlicher Musik zieht, geht in die Strukturtranskription wiederum eine Hypothese über die Aufführung von Musik ein. Beiden Methoden ist jedoch ein tiefes Misstrauen gegen die schriftliche Überlieferung von Musik eigen. Dieser, weil sie einen grundsätzlichen Gegensatz von Schriftlichkeit und Mündlichkeit postuliert, der seine Attraktivität vor allem durch die Anschlussfähigkeit an eine germanistische Mediävistik gewinnt, die Mouvance und Performativität als Narrative für sich entdeckt hat. Jener, weil sie die Methoden der Textkritik nicht konsequent anwendet. Denn mit der rhythmischen Notation wird in den Editionen, die die Neutraltranskription verwenden – ich denke hier aufgrund der Überlieferungssituation weniger an Minnesang und Sangspruchdichtung, als vielmehr an Trobadors und Trouvères –, vielfach zugleich jeglicher über das einzelne Notat hinausgehende Anspruch aufgegeben. Für die deutschsprachigen Lieder sieht es noch schlechter aus. Keine der ohnehin wenigen mehrfach überlieferten Melodien zu Sangspruch, Minnesang und Leich ist mit Text in einer Edition zugänglich, die eine Synopse der Textzeugen in einer nicht interpretierenden Darstellung bietet. Für beides ist hier nicht der Ort. Ich möchte im Folgenden lediglich der Frage nachgehen, inwieweit sich im Falle der ›Jenaer Liederhandschrift‹ durch die Konkordanzen in anderen Textzeugen Hypothesen zur Interpretation ihrer Notation verifizieren bzw. falsifizieren lassen. Von primärem Interesse sind dabei mit dem Basler Fragment (Basel, UB, Cod. NI3 Nr. 14513), der ›Wiener Leichhandschrift‹ (Wien, ÖNB, Cod. 270114) und dem Marburger Frauenlob-Fragment (Z, Marburg, SA, Best. 147 Hr 1 Nr. 215) jene Textzeugen, die noch dem 14. Jahrhundert zuzurechnen, jedoch im Gegensatz zur ›Jenaer Liederhandschrift‹ nicht in Quadratnotation aufgezeichnet sind. Mit Frauenlobs Grünem Ton werde ich abschließend auch ein Beispiel heranziehen, das zudem in späteren Handschriften überliefert ist. Wolfgang von Wangenheim datiert jene Sangsprüche Kelins, deren drei Töne sowohl in J als auch im Basler Fragment überliefert sind, auf 1254–1287.16 Von Kelins Ton I (KI, Eyn kuninc in syme troume sach, J fol. 16v, Ba fol. 1r) ist in Ba nur der Schluss erhalten, der bis hinein in den Zeilenumbruch J entspricht und damit eine gemeinsame Vorlage wahrscheinlich erscheinen lässt, die einzige Variante ist der Schlusston (in Ba zweimal d, in J zweimal c). Von Kelins Ton III (KIII, Ez ist vil maniger herre, J fol. 18r-v, Ba fol. 2v) ist im Basler Fragment der Schluss erhalten (ab der zweiten Hälfte von Vers 14) sowie von einigen vorausgehenden Notenzeilen jeweils das Ende.17 Die Melodie ist zudem – wenn auch mit einigen Abweichungen – auch unter der Bezeichnung Huntwyse und mit
13 14
15 16 17
Vgl. Faksimile und Melodietranskriptionen in Wangenheim (1972). Vgl. das Faksimile und die Edition in Gesänge von Frauenlob, Reinmar von Zweter und Alexander nebst einem anonymen Bruchstück nach der Handschrift 2071 der Wiener Hofbibliothek, hg. von Heinrich Rietsch. Wien 1913 (Denkmäler der Tonkunst in Österreich 41). Zur Handschrift zuletzt Helmut Birkhan: Wer byn ich – daz byst du: Eyn narre. Bemerkungen zur sogenannten Wiener Leich-Handschrift. In: Wiener Quellen der älteren Musikgeschichte zum Sprechen gebracht, hg. von Birgit Lodes. Tutzing 2007 (Wiener Forum für ältere Musikgeschichte 1), S. 161–183. Vgl. das Digitalisat auf http://www.manuscripta-mediaevalia.de/hs/HS_MR_StA_Best147_ Hr1_Nr2/HS_ MR_StA_Best147_Hr1_Nr2.htm [Zugriff am 1.11.2007] Wangenheim (1972), S. 45. V. 5 abn ir- […] sie vellet, V. 6 vurtri-, V. 7 tugenden gar, V. 9 Da wirt, V. 10 Der […] ym
102
Oliver Huck
Zuschreibung an Frauenlob in der ›Kolmarer Liederhandschrift‹ (fol. 161r) enthalten und zeigt teilweise eine abwechselnde Verwendung von Virga und Punctum.18 In der ›Kolmarer Liederhandschrift‹ steht das Punctum bis auf zwei Schreibfehler19 konsequent bei auftaktigem, jambischem Versanfang und für unbetonte Silben im Vers. In Ba, wo die Verteilung der beiden Notenzeichen anders ist, scheint mir eine rhythmische Deutung von Virga und Punctum als Longa und Brevis im Sinne einer ›mensuralen‹ Notation jedoch nicht intendiert zu sein. Zwar lässt sich das Punctum auf der ersten Silbe der Verse 10 und 16 als ›kurzer‹ Auftakt verstehen, nicht jedoch auf der letzten Silbe von Vers 15 als Schluss. Am Ende der Verse 15 und 17 werden wisen bzw. rechte gemäß dem Vers- und dem Wortakzent mit der Notengruppe Virga–Punctum versehen, die sich als lang–kurz lesen lässt. Umgekehrt ist varnden (Vers 16) entgegen dem Vers- und dem Wortakzent mit Punctum–Virga versehen, entsprechend mynnet und werlde (Verse 15 und 17) mit Punctum–Clivis sowie ym ge-(sellet) (Vers 10) mit Punctum–Climacus. Da den übrigen Gruppenneumen kein Punctum, sondern eine Virga vorausgeht, ist bei den drei letztgenannten Beispielen auch nicht mit einer planmäßigen Anpassung des musikalischen Rhythmus bei Melismen zu rechnen. Als Erklärung für die unterschiedliche Graphie der Einzelnote bietet sich vielmehr ein rein pragmatisches Argument an: Das Punctum wird in Ba ausschließlich bei Tönen, die im untersten Zwischenraum des Notensystems stehen, verwendet – hier jedoch grundsätzlich (bis auf Vers 5) – und damit offenbar ausschließlich und stets dort, wo die Cauda der Virga in den Gesangstext hineinragen würde. In J, wo eine Unterscheidung von Virga und Punctum aufgrund der ausgesprochen kurzen Caudae vielfach ohnehin rein spekulativ ist, zeigt sich das gleiche Bild wie in Ba: Dort, wo Töne unter der untersten Linie des Notensystems notiert sind, entfällt die Cauda. Die letzten beiden Töne von Vers 9 und den ersten Ton von Vers 10 notiert J dabei sogar als ›Semibrevis‹.20 Keine der beiden frühen Handschriften bietet damit Indizien für eine rhythmische Lesung der Notation. In Kelins Ton II (KII, Vil riche selde, mich nympt ymmer wunder, J fol. 17v–18r, Ba fol. 1v) finden sich auch Varianten, die als Grundlage für eine Diskussion der von Lug proklamierten ›Feinrhythmik‹ dienen können. Lug verzeichnet für die Clivis in Ba im Gegensatz zu J vier verschiedene Formen.21 Typ d mit nur einem Vorkommen scheint mir nicht signifikant zu sein22, Typ b (am Ende von KI scan-den, KII/2 e-ren, KIII/16 man-gehen) und c (KII/2 besun-der, KIII/17 werl-de) zeichnen sich gegenüber Typ a durch einen zusätzlichen Anstrich aus.
18
19 20 21 22
ghe-, V. 11 myt kun-, V. 12. Zur unterschiedlichen Behandlung der Versfüllungen in beiden Handschriften vgl. Brunner (1975), S. 201–202. Vgl. Jammers (1963), S. 138–139; Die Kolmarer Liederhandschrift der Bayerischen Staatsbibliothek München (cgm 4997), hg. von Ulrich Müller. Göppingen 1976 (Litterae 35); Paul Runge: Die Sangweisen der Colmarer Handschrift. Leipzig 1896 (ND Hildesheim 1965), S. 80, daneben den Vergleich in Friedrich Eberth: Die Liedweisen der Kolmarer Hs. und ihre Einordnung und Stellung in der Entwicklungsgeschichte der deutschen Liedweise im 14.–16. Jahrhundert. Diss. Göttingen 1933, S. 41f. sowie Brunner (1975), S. 236. Vgl. hochgeburt und sine mit Punctum jeweils zu Beginn. Vgl. bereits Jammers (1924/25), S. 265. Vgl. Lug (2000), S. 34. Vgl. KIII/5 am Ende vel-let.
Die Notation der mehrfach überlieferten Melodien in der ›Jenaer Liederhandschrift‹
103
In KII scheint mir ein Bedeutungsunterschied zwischen den verschiedenen Formen der Clivis insofern unwahrscheinlich, als der Schreiber von Ba in den korrespondierenden Versen 2 und 5 in Vers 2 Typ b und c, in Vers 5 jedoch zweimal Typ a verwendet. Zum einen ist bei einer Notation, die offensichtlich darauf angelegt ist, den Rhythmus zumindest im ›Groben‹ nicht als eine Kategorie der Schrift, sondern als eine solche des Vortrags zu verstehen, grundsätzlich fraglich, ob umgekehrt die Schriftlichkeit einer Nuancierung im ›Feinen‹ unterstellt werden kann. Zum anderen ist selbst dann, wenn man dies annimmt, nicht zu erkennen, in welcher Weise der unterschiedliche Text der melodisch gleichen Verse eine Nuancierung des Vortrags nahe legt. In KIII notiert auch J bei werl-de (Vers 17) eine abweichende Form der Clivis, die durch Rasur der letzten Note eines Climacus in Currentes-Form entstanden ist, dem Schreiber aber offenbar in dieser Gestalt weiterhin verständlich schien. Neben einer Verschreibung, bei der der Schreiber in J in Vers 18 verrutscht ist, dessen Melodie zu Beginn mit Vers 17 identisch ist, wäre auch ein Climacus als Fehler in der Vorlage denkbar, der in Ba und J jeweils zu einer Korrektur geführt hätte. In KII ist der Climacus in J in Vers 2 und dem melodisch verwandten Vers 10 in der Form einer Ligatura ternaria (›Treppe‹), in den zu Vers 2 korrespondierenden Versen 5 und 9 und in den zu Vers 10 korrespondierenden Versen 3 und 6 (ebenso im melodisch verwandten Vers 7) in der Form von Currentes (›Rauten‹) notiert. Hier ist jedoch wie bei den unterschiedlichen Formen der Clivis in Ba nicht von einer unterschiedlichen Bedeutung auszugehen, vielmehr ist eine inkonsequente Redaktion der Vorlage zu vermuten. Bernhard Gröbler betrachtet die Plicen in J als phonetische Plicen. Er weist darauf hin, dass in der Mehrzahl der Fälle, in denen in solchen Abschnitten Plicen stehen, die wiederholt werden, in der Melodiewiederholung keine Plica, sondern eine Virga steht und geht m. E. zurecht davon aus, dass Virga und Plica hier die gleiche Tondauer haben, die Plicen also diminutiv sind. Da vielfach dort, wo die Virga steht, ebenfalls eine Liqueszenz möglich wäre, vermutet Gröbler, dass »der Notator die Pliken beim Schreiben extemporiert hat«.23 Die Plica zu Beginn des siebten Verses von KII ist eine von zweien in J, zu der es eine zeitnahe Parallelüberlieferung gibt. Ba schreibt hier jedoch eine Virga, was den Befund von Gröbler bestätigt.24 Hervorzuheben ist jedoch, dass Ba überhaupt keine Plicen notiert. Wenn der Schreiber von J die Plicen selbst eingefügt hat, so möglicherweise deshalb, weil er eine Vorlage in einer zu Ba analogen Notation vorliegen hatte. Denkbar ist jedoch auch eine Tilgung der Plica in Ba. Neben dem Basler Fragment ist die so genannte ›Wiener Leichhandschrift‹ die zweite zeitnahe Handschrift mit Konkordanzen zu J. Christoph März zufolge ist sie in die Mitte des 14. Jahrhunderts zu datieren (mit Nachträgen bis 1400) und weist eine ostmitteldeutsche Sprache auf.25 Über die Angabe von Lorenz Welker zu den Konkordanzen zu J hinaus, wonach sich neben den Melodien im Basler Fragment lediglich »ein Ton Frauenlobs […] mit Melodie auch in der Wiener Leichhandschrift«26 finde, sind dort
23 24 25 26
Gröbler (2005), S. 65. Auch die Plica in Vers 7 von Frauenlobs ›Flugton‹ in J wurde vermutlich vom Schreiber hinzugefügt, sie steht weder in dem korrespondierenden Vers 2, noch in Z. Christoph März: Wiener Leichhandschrift. In: 2VL 10 (1999), Sp. 1024–1026. Welker (1996), Sp. 1459.
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Oliver Huck
zudem Konkordanzen zu einem Lied sowie zum Leich des Wilden Alexander und damit insgesamt drei Stücke aus J enthalten. Im Lied des Wilden Alexander, Owe daz nach liebe gat (J fol. 25r-v, W fol. 49r), ist in den Versen 1, 3 und 5 eine jeweils unterschiedliche Notation der gleichen Tonfolge mit unterschiedlicher Zuordnung des Textes auf einer Folge von Hebung und Senkung in beiden Handschriften zu verzeichnen: J 8
1.
O-
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daz
nach
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be
gat.
o-
we
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noch
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wil
mynne
vnde
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wil
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Sie
sprach
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6. scrib
se
sprach sel -
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shrip
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leit
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do -
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al -
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lich.
vn -
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2.
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daz
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5.
8
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7.
8
e
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e
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gat
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dir
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4.
e
be
schey -
de.
be
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de
8.
Tru -
tru -
rich vnde
rik
vnd
e
bin
ley -
de
lich
Geht man davon aus, dass beiden Fassungen die gleichen Gerüsttöne zugrunde liegen, so wären in Vers 1 und 3 f’ und d’ als Gerüsttöne zu betrachten, in Vers 5 hingegen d’ und d’. In beiden Fällen wäre, wie Lug dies im Anschluss an Jammers grundsätzlich annimmt27, zwar jeweils in einer Fassung der zweite Ton der Clivis Gerüstton, in der jeweils anderen Fassung hingegen der erste Ton. Bei einer konsequenten Unterscheidung zwischen einer ›Grobrhythmik‹, die – in welcher Weise auch immer – die Zeitdauer ganzer Silben unabhängig von der Zahl der Melodietöne reguliert, und der von Lug propagierten ›Feinrhythmik‹28, die die Zeitdauer mehrerer Melodietöne innerhalb einer Silbe reguliert, wäre der Rhythmus beider Fassungen in jedem Fall im Ergebnis unterschiedlich. Zu dem gleichen Ergebnis führt auch eine Übertragung wie jene von Jammers, die einen geraden Takt und damit eine prinzipiell gleiche Dauer von Hebungen und Senkungen annimmt.29 Legt man hingegen auf der Basis einer modalen Rhythmik
27
28 29
Vgl. Lug (2000), S. 7 und Jammers, Aufzeichnungsweisen (Anm. 4), S. 4.96. Das von Jammers herangezogene Beispiel von Gennrich wird von jenem jedoch keineswegs mit finalen »Strukturtönen« gedeutet, vgl. Gennrich, Grundsätzliches (Anm. 9), S. 161–162. Vgl. ebd. Vgl. Ewald Jammers: Die sangbaren Melodien zu Dichtungen der Manessischen Liederhandschrift. Wiesbaden 1979, S. 109–110, zu einer früheren Übertragung von Jammers vgl. die folgende Anm.
Die Notation der mehrfach überlieferten Melodien in der ›Jenaer Liederhandschrift‹
105
einen ungeraden Takt zugrunde wie Heinrich Rietsch30, so ist der Rhythmus der Melodie in beiden Fassungen identisch: J 8
O-
we
daz
nach
lie -
be
gat.
o-
we
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noch
lyb
Nv
wil
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vnde
ist
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dy
mynn
vnd
ist
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sprach
sel -
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W 8
Ach
8
8
8
8
daz
e
e
yr
gat
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mich
Der Unterschied zwischen beiden Fassungen läge dann in einer unterschiedlichen Verwendung von Einzelnoten und Gruppenneumen, die zu einer unterschiedlichen Deklamationsrhythmik des Textes (verstanden als der zeitliche Abstand von Silbenbeginn zu Silbenbeginn) führen würde: Während im ersten und dritten Vers J sowie im fünften Vers W durchgehend im ersten Modus (Longa–Brevis) und damit in einem einheitlichen Rhythmus deklamieren würde, wäre in der jeweils anderen Fassung der Deklamationsrhythmus vor der Verskadenz durch den zweiten Modus (Brevis–Longa) variiert. Für eine solche Praxis lassen sich Beispiele aus mensuralen Aufzeichnungen einstimmiger weltlicher Musik in der Mitte des 14. Jahrhunderts finden. In J fiele diese Variation des Deklamationsrhythmus mit der Einleitung des nachfolgenden Zitats von Frau Minne zusammen. Eine modale Lesung der Notation lässt sich damit m.E. dennoch nicht begründen. Eine generelle Auffassung des letzten Tons der Gruppenneumen als Gerüstton scheint mir damit jedoch mehr als fraglich zu sein. Gegen die Annahme Jammers’ und Lugs, wonach es sich stets bei dem letzten Ton einer Gruppenneume um den Gerüstton handle31, sprechen auch die Varianten in den Versen 2 und 4, wo in W jeweils eine Clivis
30
31
Vgl. Gesänge von Frauenlob (Anm. 14), S. 86. Jammers (1963), S. 206–207, überträgt nach den gleichen Prinzipien, allerdings im ersten und dritten Vers in J die fragliche Stelle als zwei Achtelnoten – Viertelnote. Vgl. Lug (2000), S. 7.
106
Oliver Huck
und ein Pes notiert sind, deren erster Ton mit der Tonhöhe des in J notierten Punctum übereinstimmt, so dass dieser als Gerüstton anzunehmen ist.32 Man kann gegen meine Überlegungen selbstverständlich einwenden, dass keineswegs gesichert ist, dass beiden Fassungen tatsächlich intentional die gleichen Gerüsttöne zugrunde liegen. Aufgrund des hohen Grades an Kohärenz der beiden Fassungen sowie der Struktur der Melodie erscheint mir dies jedoch plausibel zu sein. Die Melodien zum Leich des Wilden Alexander weichen in J (fol. 25v–28v) und W (fol. 44v–49r) deutlich voneinander ab, über weite Strecken steht W einen Ganzton höher als J (vgl. Anhang). Geht man davon aus, dass a als Finalis fungiert, so sind in beiden Fassungen als Doppelversikel angelegte Abschnitte zu verzeichnen, die nicht auf der Finalis schließen. Im Falle von W sind dies die Abschnitte 5–7, im Falle von J die Abschnitte 1, 2, 8 und 9. Der Grund für die Abweichungen könnte etwa in einer Vorlage zu suchen sein, die zwar eine diastematische Notation, jedoch in Campo aperto, also ohne Notenlinien, verwendet. Die Struktur von J ist bereits zu Beginn aufgrund der fehlenden Geschlossenheit des Modus innerhalb der Abschnitte weniger plausibel. Im Gegensatz zu den bisherigen Editionen33 halte ich J für korrupt. In W ist zu erwägen, ob in Abschnitt 5–7 ein Abschnitt mit Schlüssen auf anderen Tonstufen intendiert ist, oder ob es sich in diesen Versen ebenfalls um eine korrupte Überlieferung handelt, wie Ronald J. Taylor vermutet, der entsprechend konjiziert.34 Für diese Annahme spricht vor allem Abschnitt 7, dessen Beginn in J mit Abschnitt 21 identisch ist. Dass es sich bei J um Verschreibungen handelt, wird vor allem durch die Korrektur zu Beginn von Vers 71 (67/63)35, wo die ersten vier Neumen zunächst jeweils – wie vorher in Abschnitt 9 – einen Ton tiefer als in W notiert waren, wahrscheinlich. Auch die Verse 137–138 (133–134/129–130), die mit den Versen 143–144 (139–140/136–137) des gleichen Doppelversikels identisch sind, waren in J zunächst durchgehend einen Ton tiefer notiert. Noch deutlicher liegt der Fall jedoch im zweiten und dritten Abschnitt, der in den Ausgaben der Musik – abweichend von der regelmäßigen Struktur des Textes – vielfach nicht konsequent als Doppelversikel aufgefasst wurde.36 M.E. handelt es sich jedoch bei den Versen 7–22 (7–20/7–18) auch musikalisch um zwei Doppelversikel (Verse 7–14 [7–12] bzw. 15–22 [13–20/13–18]).37 In J ist diese Struktur insofern kaum zu erkennen, als Vers 18 (16/15) einen Ton tiefer als
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33
34 35 36
37
Umgekehrt notiert W in V. 5 und 6 Plicen, bei denen der zweite Ton dem melodischen Gerüstton, der in J als Punctum erscheint, entspricht. Grund dafür könnte nach Gröblers (2005), S. 65, Beobachtung sein, dass es sich nicht um einen Terzfall handelt. Zu Beginn von V. 8 notiert W eine zusätzliche Note g, die jedoch aufgrund des Textmetrums wohl nicht auftaktig zu verstehen ist und dazu führt, dass die beiden folgenden, in J als Virgen notierten Noten a und b in einen Pes zusammengezogen sind. An den Schlüssen der V. 1 und 3 stehen sich Clivis (J) und Climacus (W), an jenem von V. 8 Clivis (J) und Punctum (W) gegenüber. Vgl. Günther Hase: Der Minneleich Meister Alexanders und seine Stellung in der mittelalterlichen Musik. Halle 1921, S. 75–89; Taylor (1968), Bd. 1, S. 7–11 und Jammers (1963), S. 281–289. Vgl. Taylor (1968), Bd. 1, S. 12 und Bd. 2, S. 12. Die Verszählung folgt dem Anhang, in ( ) ist die Verszählung von Taylor/Hase angegeben. Vgl. Jammers (1963); Jammers, Die sangbaren Melodien (Anm. 29), S. 191–202 und Hase (Anm. 33). Die Majuskeln in W (zu Beginn von V. 7, 13 und 19) und J (zu Beginn von V. 7, 9, 12, 14 und 19) sind nicht dazu angetan, die Situation transparenter zu machen. So auch Taylor (1968), Bd. 1, S. 7–15.
Die Notation der mehrfach überlieferten Melodien in der ›Jenaer Liederhandschrift‹
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Vers 22 (20/18) notiert ist. In W ist die Struktur ebenfalls korrumpiert, da in den Versen 19–20 (17–18/ 16) eine Dittographie aus den Versen 10–11 vorliegt. Ich gehe davon aus, dass Vers 18 und 22 melodisch mit den Versen 25, 26, 29 und 30 (23–24, 27–28/21–22, 25–26) weitgehend identisch sind. Die Verse 16–17 und 19–21 (13–15, 17–19) scheinen bei Binnenreim auf einer dreimaligen Sequenz eines Melodiegliedes zu basieren. Fraglich ist auch, ob die Abschnitte 10 und 14 musikalisch intentional mit Abschnitt 1838 identisch sind. Während es sich in den ersten beiden um die sechsmalige Wiederholung des gleichen Modells für drei Reimpaare mit jeweils zwei vierhebigen Versen handelt, besteht Abschnitt 18 aus sechs Reimpaaren mit jeweils zwei dreihebigen Versen. In J und in W ist das Modell im ersten (W) bzw. in den ersten beiden (J) Reimpaaren in beiden Versen identisch und mit Abschnitt 10 und 14 bis auf die metrische Anpassung vergleichbar. In den folgenden vier (J) bzw. fünf (W) Reimpaaren unterscheiden sich die beiden Verse dadurch, dass im jeweils ersten Vers die ersten beiden Töne eine Terz höher stehen. Es liegt nahe, eine Terzverschreibung anzunehmen. Denn während in J zwar eine Einteilung in drei Doppelversikel mit jeweils zweimal zwei Versen denkbar ist, stehen in W die ersten beiden Verse für sich. Unklar ist jedoch, wo: waren alle sechs Reimpaare ursprünglich im Sinne einer maximalen Ökonomie der Mittel wie das erste/ die ersten beiden und damit wie Abschnitt 10 und 14 konzipiert? Oder waren sechs Reimpaare kontrastierend zu Abschnitt 10 und 14 und damit wie die letzen vier/fünf konzipiert? Oder aber: folgte auf drei Reimpaare analog zu Abschnitt 10 und 14 ein neuer Abschnitt mit drei kontrastierenden Reimpaaren? Im ersten Fall wäre eine vier- (J) bzw. fünfmalige (W), im zweiten eine ein- (W) bzw. zweimalige (J) und im dritten Fall eine ein- (J) bzw. zweimalige (W) Terzverschreibung anzunehmen. Berücksichtigt man, dass in J die Reihenfolge der Verse abweicht – die Verse 109–110 (105–106/101–102) folgen nach Vers 114 (110/106) –, wäre auch eine Anlage von drei gleich gebauten Abschnitten aus je zwei Reimpaaren denkbar (in diesem Fall wäre in W eine zweimalige Terzverschreibung in den Versen 111 [107/103] und 115 [111/107] anzunehmen, in J lediglich letztere sowie die Umstellung der Verse). In jedem Fall ist ein Bindefehler von J und W nicht unwahrscheinlich. Im Gegensatz zu J verwendet W verschiedene Formen für den Climacus. Lug, der die im Folgenden verwendeten Bezeichnungen eingeführt hat, sieht den Unterschied darin, dass beim Climacus die ersten beiden Töne kurz, der letzte Ton hingegen lang ist, bei der kontrahierten Biclivis jedoch der zweite Ton relativ länger als der erste und bei der ausgeschriebenen Biclivis der vorletzte Ton so lang ist wie der letzte.39 Der Unterschied dürfte jedoch weniger auf eine intendierte Feinrhythmik, als vielmehr auf die Tonfolge zurückzuführen sein. Diese könnte erneut als ein Indiz für eine Vorlage mit einer Notation in Campo aperto bzw. in einer anderen Notation40 gewertet werden. Im Falle der
38 39 40
Nummerierung der Abschnitte nach dem Anhang und Taylor (1968), Hase (Anm. 33) teilt Abschnitt 18. Vgl. Lug (2000), S. 26. Ein Beispiel für die Variabilität der Notation ist ein Fragment von Frauenlobs Marienleich (Q, Melk, Stiftsbibliothek, Fragm. germ. 3), das zu Beginn Quadratnotation, in der Folge eine Metzer Notation auf Linien und schließlich adiastematische Neumen aufweist. Denkbar ist hier etwa eine Vorlage in Metzer Notation, deren Beginn der Schreiber von Q adaptiert hat, um dann im Folgenden nur noch abzuschreiben und schließlich platzsparend zu notieren, vgl. das Faksimile
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Oliver Huck
ausgeschriebenen Bicliven in den Abschnitten 1, 7 und 19 ist hervorzuheben, dass die Tonfolge von jener in J insofern abweicht, als die ersten beiden Töne der Gruppe jeweils einen Ton höher notiert sind (die gleiche Tonfolge weist auch die ausgeschriebene Biclivis in Abschnitt 3 auf sowie eine Fünftonverbindung in Abschnitt 20). Weitaus häufiger ist der aus drei Puncti zusammengesetzte Climacus notiert, der stets eine skalare Tonfolge aufweist. Nur am Ende von Abschnitt 3 und 4 ist ein Climacus als Abschluss notiert, und in allen diesen Versen weist er eine Graphie auf, bei der der erste Ton länger als sonst ist. Rietsch, Jammers und Taylor übertragen hier eine Plica ascendens (in der Übertragung im Anhang habe ich hingegen keine zusätzlichen Töne gesetzt), die ihre Rechtfertigung aus der Variante in W beziehen kann.41 Nach Lugs System würde es sich hingegen um eine Bipunktierung zu Beginn handeln. Vergleichbar ist die Notation und die unterschiedliche Interpretation jener im ersten Vers von Abschnitt 12/16 notierten Clivis, bei der ebenfalls der erste Ton länger ist, die Lug hingegen als Pressus versteht.42 Diese Form kommt in W auch als Einzelnote vor, die Taylor als Epiphonus deutet.43 In den Versen 1 und 4 sowie 34, 37, 94 und 100 (32/30, 35/33, 90/86 und 96/92) steht die Form auf einer betonten Silbe, in Vers 8 hingegen auf einer unbetonten. Nur in den Versen 1 und 4 ist in beiden Versen eines Doppelversikels die gleiche Zeichenform notiert. Denkbar wäre, dass hier zu Beginn in einem Abschnitt, der daneben nur männliche Kadenzen enthält, die Betonung in der weiblichen Verskadenz markiert wird. Sollte es sich bei den genannten Formen hingegen tatsächlich um eine Plica ascendens handeln, so ist hervorzuheben, das etwa bereits die Schreiber von J, wo keine Plica ascendens notiert ist, eine solche Zeichenform nicht mehr erkannten. Hinsichtlich der Plica in J legt der Befund im Leich noch andere Schlüsse nahe als diejenigen, die Gröbler gezogen hat: Die Plica in Vers 23 (21/19), die in den parallel gebauten Versen 24 (22/20) und 27–28 (25–26/23–24) nicht steht, entspricht der Schreibung aller dieser Verse in W mit Plica. Sie wurde damit wohl nicht extemporiert, auch handelt es sich melodisch nicht um einen Terzfall. Vielmehr ist zu vermuten, dass sie aus der Vorlage übernommen wurde und der Schreiber in den Versen 24 und 27–28 eine Anpassung durch Tilgung vorgenommen hat. Das Frauenlob-Fragment Z, das Karl Stackmann und Karl Bertau auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts datieren44 und dessen Sprache Thomas Klein als Schriftmitteldeutsch auf niederdeutschem Boden klassifiziert45, enthält eine Konkordanz zu Frauenlobs Flugton46 (J, fol. 106v, Z fol. 1v):
41 42 43 44 45 46
in Joachim Angerer: Lateinische und deutsche Gesänge aus der Zeit der Melker Reform. Wien 1979 (Forschungen zur älteren Musikgeschichte 2), nach S. 20 sowie unter http://www.ksbm. oeaw.ac.at/melk/images/fragm/frg03_2_3.jpg [Zugriff am 10.11.2007]. Vgl. Rietsch (Anm. 14), Jammers (1963) und Taylor (1968), der exakt die Tonfolge von J wählt. Vgl. Lug (Anm. 12), S. 39–40. Vgl. Taylor (1968). Bertau weist auf die Doppel- und Trippelwellen bei dem Schreiber W II (fol. 22v–35v) hin, vgl. Stackmann/Bertau (1981), Bd. 1, S. 220. Stackmann/Bertau (1981), S. 150. Klein (1987), S. 94. Vgl. auch den Anhang in diesem Band. Vgl. auch die Edition der Melodie, allerdings nicht mit dem in J unterlegten Text, sondern mit dem Text der fünften Strophe aus J in Geistliche Gesänge (2003ff.), Bd. 1: Gesänge A-D (Nr. 1–172), 2003, Nr. 96 (S. 118f.) und den Kritischen Bericht in Bd. 6, 2004, S. 63.
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Die Notation der mehrfach überlieferten Melodien in der ›Jenaer Liederhandschrift‹ J 8
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klar.
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Statt des in J in den Versen 1–11 und 16–17 notierten Climacus steht in Z (abgesehen von den Virgen in Vers 4, 9, und 16) stets eine Clivis, für die der Schreiber zwei unterschiedliche Formen (mit und ohne Anstrich) verwendet47, die – wie auch der Befund im Ganzen – jenen in Kelins Ton II in Ba entsprechen. Zwar unterscheiden sich die Cliven dadurch, dass die Tonhöhen teilweise den letzten beiden Tönen des Climacus entsprechen – entsprechend auch als Plica (Vers 3 und 8) –, teilweise jedoch auch dem ersten und letzten Ton des Climacus; eine Korrelation mit den Zeichenformen besteht jedoch nicht und korrespondierende Verse weisen durchgehend eine unterschiedliche Zeichenform auf (Clivis Typ a in Vers 1, 4, 7 und 16; Typ b/c [die Form der Clivis entspricht keiner der beiden Formen in Ba exakt] in Vers 2, 6, 9 und 11). J verwendet in Vers 11 für den Climacus eine Zeichenform, die sich so verstehen lässt, dass einer Clivis e-d ein vorausgehendes f nachträglich hinzugefügt wurde, das gewissermaßen wiederum als erster Teil einer Clivis (Cauda abwärts auf der linken Seite) notiert ist.
47
Innerhalb der Frauenlob-Überlieferung sind beide Formen zudem in K und N zu finden, vgl. die Tabelle im Anhang von Stackmann/Bertau (1981), Bd. 1.
110
Oliver Huck
Eine Reihe von Varianten ist offenbar auf die unterschiedliche Tonlage zurückzuführen48. Mehrfach ist dort, wo in Z ein h notiert ist, in J eine Variante zu finden, die möglicherweise darauf zurückzuführen ist, dass das fis vermieden wird (Beginn Vers 1 und 6, Schluss Vers 2 und 7, sechster Ton in Vers 4, 9 und 16). Entsprechend vermeidet J im Gegensatz zu Z auch die Doppelstufe in den Versen 4, 9 und 16. In Vers 16 beginnen zwar beide Textzeugen mit dem Schlusston des vorausgehenden Verses (analog zu den Versen 2, 4, 7, 9, 12, 13, 14 sowie 11 in J und 15 in Z), nur in Z entspricht dieser Beginn jedoch den analogen Versen 4 und 9 (vgl. auch die zusätzlichen Töne im Vers in J). Damit ist Vers 15 in Z überzeugender als in J, bei einer Entsprechung zu Z hätte hier G als tiefster Ton erreicht werden müssen. Auch in Frauenlobs Grünem Ton gibt es in W (fol. 17r) drei verschiedene Graphien für den Climacus: ausgeschriebene Biclivis: kontrahierte Biclivis: Climacus:
V. 4 began-gin, 10 al-lis, 13 genni-te, 18 dyr V. 10 ist, 15 al-lir, 15 gu-te, 16 sy-myn, 18 gesel-lin, 19 hy-myn V. 14 mut
Hervorzuheben ist jedoch, dass lediglich die in W als ein aus drei Puncti zusammengesetzter Climacus aufgezeichnete Tonfolge in Vers 14 der Tonfolge in J (fol. 108r) entspricht, mit der sie auch die Zeichenform teilt. Keine der kontrahierten Bicliven (man könnte auch eine Kombination aus Clivis und folgender Plica annehmen) ist in den übrigen Textzeugen als Climacus überliefert. Im Falle der ausgeschriebenen Bicliven ist in den Versen 4, 10 und 13 hervorzuheben, dass die Tonfolge in W von jener in J insofern abweicht, als die ersten beiden Töne der Gruppe jeweils einen Ton höher notiert sind (in Vers 18 notiert J eine Folge von fünf Tönen anstatt der Clivis). Zeichenform und Tonfolge entsprechen dabei in Vers 13 der Aufzeichnung der Melodie in München, BSB, Cgm 716, fol. 14r–15r, die Tonfolge zudem jener in den drei weiteren bisher bekannten Textzeugen der Kontrafaktur Mater bonitatis.49 Es gibt damit keinen Grund, in J von einer Reduktion einer ursprünglichen analog zu W differenzierten Notation auszugehen. Die unterschiedlichen Formen des Climacus in W sind vielmehr jeweils an einen von J abweichenden Tonhöhenverlauf gebunden. Zu vermuten ist auch, dass W gelegentlich aus einer Biclivis auch eine Clivis gemacht hat (vgl. den Schluss der Verse 1 und 7). Aufgrund der breiten Überlieferung, die neben J und W eine Reihe von späteren Textzeugen einschließt, lassen sich für den Grünen Ton ansatzweise Aussagen in Be-
48
49
Neben den im Folgenden genannten sind die Tonwiederholung im Paenultimamelisma von V. 5 und 10 in Z, die möglicherweise, aber nicht notwendigerweise abweichende Tonhöhe der Plica in Z gegenüber der Clivis in J in V. 12 sowie die beiden eine Tonwiederholung wie in Z vermeidenden Pedes in J in V. 13 und 14 zu verzeichnen. Vgl. RSM, Bd. 3, S. 403–404 und Gisela Kornrumpf: Deutschsprachige Liedkunst und die Rezeption ihrer Formen und Melodien in der lateinischen Lieddichtung des Spätmittelalters. In: Gattungen und Formen des europäischen Liedes vom 14. bis zum 16. Jahrhundert, hg. von Michael Zywietz u. a. Münster u. a. 2005, S. 111–118, hier S. 116–117. Es handelt sich daneben um die in Hufnagelnotation aufgezeichneten Handschriften Prag, NB, Cod. III D 10, fol. 221v– 223r und Michaelbeuern, Stiftsbibliothek, Man. cart. 1, 77v–78r sowie um München, BSB, Clm 5023, fol. 155r–156v.
Die Notation der mehrfach überlieferten Melodien in der ›Jenaer Liederhandschrift‹
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zug auf die Abhängigkeit der Handschriften innerhalb der Überlieferung machen.50 Alle übrigen Textzeugen mit deutschem Text sind durch den parallelen Bau der Melodie in Vers 1/7 und 3/9 von J und W unterschieden. Von den übrigen erhaltenen Textzeugen stehen lediglich das Liederbuch des Liebhard Eghenvelder (Wien, ÖNB, Cod. Ser. nova 3344)51 und vor allem die mehrfach überlieferte lateinische Kontrafaktur Mater bonitatis J und W unmittelbar nahe52. Eine zuverlässige Rekonstruktion einer hypothetischen Originalfassung ist jedoch insofern nicht möglich, als sich bei Varianten zwischen J und W zwar teilweise Übereinstimmungen zwischen einer der beiden Fassungen und weiteren Textzeugen feststellen lassen, diese jedoch weder eindeutig als archetypische Lesarten, noch als Fehler zu klassifizieren sind. Bemerkenswert ist jedoch, dass sich die Varianten auf zwei Stellen im Vers konzentrieren: den Verseingang, der bereits sowohl in J als auch in W zwischen den ähnlichen Versen 1 und 3 abweicht, und das Versende, insbesondere das Melisma auf der vorletzten Silbe, das bereits sowohl in J als auch in W zwischen den ähnlichen Versen 2 und 5 abweicht. Der Vergleich von J mit den zeitnahen Konkordanzen erlaubt eine Reihe von Schlüssen über die bisherigen Studien einzelner Handschriften hinaus: 1. Die Vorlagen von J und Ba dürften, wie Kelins Ton I zeigt, ein hohes Maß an Ähnlichkeit sowohl der musikalischen Substanz als auch der Graphie aufgewiesen haben. Die Vorlagen von J und W hingegen waren entweder bereits in der musikalischen Substanz (und vermutlich auch in der Graphie) stärker von einander verschieden oder aber es handelte sich um eine Notation in Campo aperto, die von den Schreibern der beiden Handschriften (bzw. der Schreiber ihrer jeweiligen Vorlagen) unterschiedlich in eine Liniennotation adaptiert wurde. Hierfür sprechen sowohl die unterschiedliche Tonhöhe ganzer Abschnitte in Alexanders Leich als auch die Terzsprünge in den Climaci in W. Ein gleiches gilt für das Verhältnis von J und Z aufgrund der Transposition. 2. Gegen eine grundsätzliche Unterscheidung von ›Grobrhythmik‹ und ›Feinrhythmik‹ spricht die unterschiedliche Verwendung von Einzelnoten und Gruppenneumen in J und W bei gleicher Tonfolge etwa in Owe daz nach liebe gat des Wilden Alexander. 3. Weder aus dem Zeichengebrauch von J, noch aus dem der zeitnahen Konkordanzen lassen sich Indizien für eine ›Grobrhythmik‹ gewinnen. Die Verwendung des Punctum im Unterschied zur Virga basiert etwa in Kelins Ton II in Ba ausschließlich darauf, dass im untersten Zwischenraum des Notensystems auf eine Cauda verzichtet wird, damit der Text unter dem Notensystem nicht in seiner Lesbarkeit beeinträchtigt wird. 4. Es gibt keine Indizien für eine konsequent differenzierte ›Feinrhythmik‹. Unterschiedliche Formen der Clivis werden in Ba etwa in Kelins Ton II und in Z in Frau-
50 51 52
Vgl. Eberth (Anm. 18), S. 29–31 und Brunner (1975), S. 233–234. Zu weiteren, späteren Quellen vgl. die Edition bei Brunner (1975) im Anhang. Vgl. die textlose Synopse der genannten Frauenlob-Quellen mit München, BSB, Cgm 716 und Prag, NB, Cod. III D 10 bei Roman Hankeln: Eine Tegernseer (?) Handschrift des 15. Jahrhunderts im europäischen Kontext. Zu Zusammensetzung und Stil des Repertoires von D-Mbs cgm 716. In: Miscellanea musicologica 37 (2003), S. 111–131, hier S. 128–129.
112
Oliver Huck
enlobs Flugton ebensowenig systematisch nach ihrer Entsprechung musikalischer Abschnitte verwendet wie unterschiedliche Formen des Climacus in J. 5. Die Quadratnotation in J lässt sich etwa in Bezug auf den Climacus im Vergleich mit den Konkordanzen nicht als eine Reduktion einer ursprünglich differenzierteren Notation etwa in Metzer Neumen verstehen. Wie etwa Frauenlobs Grüner Ton zeigt, sind in W unterschiedliche Formen des Climacus an unterschiedliche Tonhöhenverläufe gebunden, die von J mehrheitlich abweichen. 6. Die Plicen in J lassen sich bei einer Filiation der Überlieferung nur teilweise, etwa in Kelins Ton II und in Frauenlobs Flugton, als Zusätze in J verstehen. Im Leich des Wilden Alexander hingegen ist davon auszugehen, dass J Plicen der Vorlage getilgt hat – wenn auch nicht konsequent. Damit lässt sich keine von Lugs Thesen zur ›Jenaer Liederhandschrift‹ belegen. Die interpretierende Strukturtranskription, bei der eine aus der Notation einer Handschrift abgeleitete Hypothese verallgemeinert und auf andere Handschriften übertragen wird, scheint mir damit keine Alternative zur Neutraltranskription zu sein. Ich bevorzuge eine Synopse mit einem Kommentar zu jenen Informationen der Notation, die über Tonhöhe und Ligatur hinausgehen. Da es sich bei jedweder Aufführung mittelalterlicher Musik letztlich um eine »modern invention of Medieval music«53 handelt, scheint es mir mehr denn je sinnlos zu sein, Editionen als Aufführungspartituren anzulegen in der Hoffnung, dass die Musiker gewissermaßen als Vollzugsbeamte den Willen des Editors vollstrecken.54 Den hermeneutischen Akt des Lesens der Notation kann die Musikwissenschaft weder den Musikern noch den Germanisten abnehmen. Zu trennen ist aus meiner Sicht dabei zwischen einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Überlieferung, die in einer Edition, und einer Aufführung, die nur auf einem Tonträger dokumentiert werden kann. Denn die akademische und klassische Aufführungspraxis mittelalterlicher Musik ist bereits seit der musikalischen Jugendbewegung und verstärkt seit den 1970er Jahren nur noch eine unter vielen. Die Mehrzahl der Hörer nimmt heute die Musik des Mittelalters in Aufführungen und Aufnahmen wahr, die anderen Subsystemen des Musikbetriebs zuzuordnen sind. Das Interesse am Mittelalter geht dabei von Narrativen aus, die dezidiert nicht musikalisch sind, und diese Mittelalterbilder werden dann zielgruppenorientiert nach den Gesetzen des Marktes musikalisch eingekleidet. Mit Lug eine »neumündliche Ära der elektroakustischen Medien«55 im ausgehenden 20. Jahrhundert zu beschwören, die die Rockmusiker als legitime Erben der Minnesänger erscheinen lässt, ist in keinem geringeren Grad der Versuch einer historischen Meistererzählung als etwa Richard Wagners ›Meistersinger von Nürnberg‹. Ebenso wenig wie sich eine musikalische Interpretation durch Rekurs auf das Narrativ der historischen Aufführungspraxis,
53 54
55
Daniel Leech-Wilkinson: The Modern Invention of Medieval Music. Cambridge 2002. Vgl. Oliver Huck: Der Editor als Leser und der Leser als Editor. Offene und geschlossene Texte in Editionen polyphoner Musik des Mittelalters. In: Musikedition. Mittler zwischen Wissenschaft und musikalischer Praxis, hg. von Helga Lühning. Tübingen 2002 (Beihefte zu editio 17), S. 33–47. Vgl. dazu Robert Lug: Nichtschriftliche Musik. In: Schrift und Gedächtnis, hg. von Aleida Assmann u. a. München 1983 (Archäologie der literarischen Kommunikation 1), S. 245–263 und ders.: Rock – der wiedergeborene Minnesang? In: Mittelalter-Rezeption III, hg. von Jürgen Kühnel. Göppingen 1988 (GAG 479), S. 461–486.
Die Notation der mehrfach überlieferten Melodien in der ›Jenaer Liederhandschrift‹
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dem ein den historischen Meistererzählungen vergleichbarer universeller Anspruch auf Historizität zugrunde liegt, wissenschaftlich legitimieren kann, vermag sie dies, wenn das Narrativ einer »objektiven Historizität« durch jenes einer »mündlichen Authentizität«56 ersetzt wird. Die hier zugrunde liegende These, »dass weltweit gemeinsame Grundstrukturen mündlicher Ornamentik existieren« und es möglich sei, »diese Ornamente in den Ligaturen der nicht-messenden mittelalterlichen Notationen wiederzuerkennen«57, ist in Bezug auf die ›Jenaer Liederhandschrift‹ aus meiner Sicht nicht zutreffend. Es scheint mir geboten, das »Andenken an einige ältere deutsche Dichter« endlich von den »Stimmen der Völker« zu trennen und nicht länger das von John Haines bereits in Zusammenhang mit der Theorie der Vierhebigkeit benannte, zutiefst deutsche Narrativ von den Minnesängern als »folk singers«58 fortzuschreiben.
56
57
58
Vgl. Robert Lug: Zwischen objektiver Historizität, oraler Authentizität und postmoderner Komposition. Zwölf Bemerkungen zur Seinsweise des mittelalterlichen Liedes im 20. Jahrhundert. In: Studia musicologica academiae scientiarum hungaricae 31 (1989), S. 45–55. Robert Lug: Minnesang: zwischen Markt und Museum. In: Übersetzte Zeit. Das Mittelalter und die Musik der Gegenwart, hg. von Wolfgang Gratzer und Hartmut Möller. Hildesheim 2001, S. 117–190, hier S. 185. Vgl. Haines, Eight Centuries (Anm. 6), S. 185.
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Oliver Huck
Anhang: Der Leich des Wilden Alexander 1 J: klagen auf das vorletzte Notenzeichen textiert, letztes Notenzeichen fehlt 4 W: 5. Notenzeichen e’, möglicherweise handelt es sich um eine Vorwegnahme aus V. 5 (in V. 4 geht im Gegensatz zu 1 c’ – c’ – c’ voraus, V. 4 schließt und V. 5 beginnt mit c’ – c’ – c’) 1, 4 W: 6. Notenzeichen verlängert (Plica ascendens?) 8 W: 1. Notenzeichen verlängert (Plica ascendens?) 10 J: 1. Notenzeichen a 11 W: e’ – g’ – g’ (wol – von – desim) 15 J: 1.–2. Notenzeichen c’ – b 16 J: 3. Notenzeichen b 18 J: wie V. 25, jedoch einen Ton tiefer 18 W: c’ – d’ – c’ – e’ – e’ (myn – leyt – als – vn- – en-), 1. Notenzeichen fehlt, 5. Notenzeichen verdoppelt 18, 22, 25, 26, 29, 20 W: erster Ton des letzten Notenzeichens verlängert (Plica ascendens?) 19–20 W: e’ – g’ – g’ – f’– e’ – Plica e’ – d’ – e’ – f’ – e’– d’ – c’ (Dittographie aus V. 12–13) 21 W: 1. Notenzeichen c’ (Dittographie aus V. 20) 23 J: Plica statt Clivis 27 J: Wiederholung des letzten Notenzeichens ohne Textierung 32 W: 5.–6. Notenzeichen Plica e’ – d’ – c’ (Dittographie aus V. 31?) 34 W: 3. Notenzeichen verlängert (Plica ascendens?); Plica statt Clivis 35 J: 1. Notenzeichen f – e’ (Dittographie aus V. 34) 35 W: 3. Notenzeichen Plica e’ – d’ (Dittographie aus 34) 37 W: letztes Notenzeichen verlängert (Plica ascendens?) 39 J: f – f – g – f – g – g – g 45 W: 2. Notenzeichen f’ 51–53 J: b – a-g – f – b – a – g – f, f (Terzverschreibung) Aufgrund der Septime zu Beginn von V. 59 könnte man auch eine Terzverschreibung in V. 57–59 annehmen (in W wären dann beide Versikel korrupt), in diesem Fall wären jedoch Anfangs- und Schlusston des Abschnitts verschieden, ein Terzabstand von Anfangs- und Schlusston kommt daneben lediglich in Abschnitt 12/16 vor. 53 W: Plica statt Clivis 56 W: Plica statt Clivis 61 J: 5. Notenzeichen e (Vorwegnahme von V. 63?) 66 W: b – a – a – a – f 72 W: Plica statt Clivis 73 J: am Ende a – a (nacket – kynt) 73 W: 4. Notenzeichen g 78 und 96 W: letzte Notenzeichen g 81, 83, 99, 101 W: erster Ton der Clivis verlängert (Plica ascendens?) 82 J: 3. Notenzeichen e’ (Dittographie aus V. 81?) 85 J: 5. und 6. Notenzeichen als Clivis (spehe) 85 und 105 W: 4. Notenzeichen g’ – f’– e’
Die Notation der mehrfach überlieferten Melodien in der ›Jenaer Liederhandschrift‹
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89 W: a – a – g – a 90 W: a – Plica a – g – a 94 W: 6. Notenzeichen verlängert (Plica ascendens?) 99 J: 3. Notenzeichen d’– e’ (Dittographie aus V. 99?) 100 W: 2. Notenzeichen verlängert (Plica ascendens?) 123 W: statt 5. Notenzeichen d’ – c’ (Verzierung oder Vorwegnahme des folgenden) 136 W: e’ – d’– c’ – b-a – a – g – c’ – a (der – an- – dir – ly- – dit – snel -) 139 W: statt 6. Notenzeichen e’ – d’ (Verzierung?) 140 W: statt 2. Notenzeichen d’ – c’ (Verzierung oder Dittographie vom Ende von V. 139)
W
J
am von
7. Daz 11. wol
8
Ach 24. nymt 27. Zcwar 28. yn
8 23.
Ach 24. nympt 27. Ach 28. eynen
8 23.
ym ymyn li -
my ie myn lie -
mir mant ne bym
ner man ne ben
ia swan
myr der
15. vo 19. Recht alz
8
4
iage swan
mir eyn
15. Von 19. Recht als
myr de -
mir di -
rec abir
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8
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tru a-
7. Daz 11. wol
2
1. Eyn 4. Und
1. Myn 4. Sol
8
8
8
1
wu w[u]n du wan
wune wun du wan
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[l]i ich
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beren wes mir stren -
bern wez myr stren -
nyn dir host eyn
daz wis -
daz wiz -
gat scha -
gat schaden
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ich zen
cla tra -
kla tra -
ein der has ein
16. e 20. der
16. e 20. der
be sim
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rebe lebe gebn lebn
ge
8. der 12. vil
8. der 12. vil
2. ist 5. daz
de ich ge g[e]z
cla kan
klage kan
din
gyn gin
gen gen
myn balde
myn balde
b[e] be bin bin
17. al 21. wen
17. al 21. daz
2. ist 5. daz
daz gro -
25. ya 26. tro 29. sal 30. doch
25. Ia 26. die 29. Sol 30. doch
le yn
le ym
daz groz
daz ze
ta an
tage an
tro -
nyn ynt -
nen vnt -
mich her -
mich hert -
myn stit ich dyn
myn stet ich din
ge
rat la -
rat la -
vor cze -
o
vur ze
ste mich an schilt -
a
ste mich an schilt -
18. myn 22. kumt
18. min 22. kvmpt
sneyt leyt
sneit leit
te vnd der ge -
te vnd die ge -
leyt sin
leit sin
dyn
den
als tot
also tot
o
czu an vro ver -
tzv an vrou ver -
vn dem
vn dem
9. neyn 13. Dy
9. Neyn 13. Die
3. myn 6. ym -
vor dirs wyn te
o
vur ders we te
en singe
en sing
ich not
ich not
3. mynne 6. ym -
sicht nicht myn sin
sicht nicht myn syn
dek ich
de ich
lich glich
lich glich
10. sal 14. der
10. soll 14. den
omyr
omer
mich tot
mich tot
we me
we me
116 Oliver Huck
ir die e myn -
sulch di y myn -
ist ir et der
ist yr ot dir
zy zo
sie so
ge nen ge nyn
ge nen ge nen
czu tut
o
tzv tut
von no kegn ym
von no kegen ym
sel wol spil zchil -
sel wel spil schil -
le le te te
le le te te
samy yn
sam in
tyn der
ten der
Uns zcal - tin 52. di der sen al - tin 53. von 57. Nu le - re 58. mich he - re 59. myn - ne wi
8 51.
Uns tzal - ten 52. die al - ten 53. Von der sen 57. Nv le - re 58. mich he - re 59. Myn - ne wie
8 51.
8
Myn 44. wer 47. Wer 48. vn -
8 43.
8 43.
lost we
la we
mac wol ge - tra - gin
mac wol ge - tragen
Myn - ne 44. swer 47. Swer 48. vn -
7
Nu 40. o -
8 37.
Nv 40. O -
8 37.
6
Her 34. wirt
8 31.
Ir 34. Wirt
8 31.
5
din daz
not ich
o-
zu -
v-
su -
54. wi 60. dy -
wirt eyn
vil ein
bil
se
bel
ze
der sy
sal din
vn -
mor -
vn -
mor -
licht lan -
o
mvz den
de
ne
de
ne
lich - te lan -
zchilt schey -
den schilt sie sich schei -
sich man nen schilt
chir bot vnd dich
sich mani ger bot nen schilt vn- de dich
38. do bir
wirt 41. aber
54. wie 60. di -
leit
den daz
te
49. der
leit
45. hu -
te
41. a -
49. der
not ich
komn noch
38. da
32. wer 35. ab
gen 32. swer 35. ob
45. Hv -
ne do -
ne komen dar - nach
sagin zchilt
kla schilt
no scach
50. als
gut
svwir
50. alz
46. leyt
46. leit
o
gut
vor - nomn ryn schoch
ge ren
tragin spilit
tra spilt
svr
spil tru -
spil tru -
ne ge -
ne ge -
men
55. in 61. wol
den grym - myn tot vnd my neck - lich
56. alz 62. dy -
daz ist
daz ist
myn -
gern -
no -
ger -
nach -
bir ge -
vber ge -
olebn -
vleben -
vo tv
de
ke -
ne
ge -
wroy no -
vreu no -
byr dir
ber der
myn - ne o tu din
die myn - ne nen vrivn - den
nyn
libiz
ne
bes
yn di nen vrun -
myn -
io
not eyn
not eyn
vrow o or - lovp
vreu - de vr - lob
lie -
ist daz
ist daz
56. als in 62. di -
noch
ist
noch
ist
39. daz 42. wen
39. daz 42. swen
33. so 36. ach
gen 33. so 36. ach
55. in den grym - men tot 61. wol vn - de myn - nich - lich
eyn gis
ein gez
ey vn -
ey vn -
tut
wir
birt wirt
birt wirt
bir - want be - kant
ber - want be - kant
der
bu -
o
tut
bur
de myn
de men
not tot
not tot
Die Notation der mehrfach überlieferten Melodien in der ›Jenaer Liederhandschrift‹
117
daz 79. Der 95. waz 97. Durch
8 77.
Daz 79. Der 95. Waz 97. Durch
8 77.
11 / 15
.nv 72. dor 73. of 74. daz 75. Von 76. vnd 89. Vor 90. her 91. syn 92. dor 93. Zo 94. bald
8 71
Nv 72. dar 73. Of 74. daz 75. Von 76. vnd o 89. Vur 90. der 91. Sin 92. dar 93. So 94. bald
8 71.
10 / 14
Nv 67. Daz
8 63.
9
Nv 67. Dem
8 63.
9
kint schilt her daz
kynt schilt er daz
wo laz
wol laz
lat ich
ot ich
hat ist be man
hat ist be man
her hy
her hie
ne vn ro ist golde in war bren stral noch komt in
of vz geyt ym
of in gat in
ne vn ro ist golde in war bryn srta nach kvmpt in
64. wer 68. wis -
64. swer 68. wiz -
den vnd vnd so
den vnd oder so
mit dir tym ge eyn der hy git dy zo eyn der
met der tem ge ein der hie get le so eyn der
daz sin
des zen
ger wy
ger wie
rant vz waz kint -
rant vz waz kynt -
65. daz 69. wen
65. daz 69. er
ge ge her lich
ge be er lich
spren spen try scri -
git git bit bit
daz chir eyn nyt yn drin alin durch f[i]t vnd nyn
dy ge -
die ge -
war man veld cro stral an kumt vack vert wir fuwyr myn -
bet bet
eyn vnd
eyn de
daz ger ein net in dern alen durch fet vnd nen
spreit reit tri scri -
wird gab
werd vn -
war mani velde kro strale an kvmpt vach vert wer vivr myn -
her y
er gab
78. zcwe 80. an 96. daz 98. her
78. tzwe 80. an 96. daz 98. er
nist byn
mor vnd
mor
man kan
nest - man ben kan
myn czcey -
mynne tzei -
vlugel tzeychen al kindi -
vlogil zchey al kyndy -
ne dem ist hat
chin
ist hat na vnd ey ist ge dem gan her eyn g[e]r[en] -
ist hat na vnd ey ist ge vnd gan er eyn geren -
yr yr
er ne
ne dem ist kan
66. ho 70. myn
66. ho 70. myn -
mit vnd lis schir
nach vnd lez scher
der ge ckit ist nyr eyn vlo bo cze dem ge de
der ge cket ist ner ein vlo bo tze den ge de
er vnd
wer vnd
snel an kint tu -
snel an kint o tzu -
of chin
of chen
lim dem lich cke
lem dem lich cke
din yr
den ir
vloge zcoge spil vil
vluge tzvge spil vil
schilt spilt kint blint hant brant gin gin want brant lust [brust]
schilt spilt kynt blint hant brant gen gen want brant lust brust
lon done
lon don
118 Oliver Huck
yr vn cro wy -
8 81.
8 107.
Scho -
Scho 109. Dv
8 107.
18
ne
ne has
of yr durch do
8 85.
Wer 87. dich 103. gyt 105. Kvmt
of ir durch er
8 85. Weck 87. Dich 103. Get 105. Kvmpt
13 / 17
hot 83. schilt 99. dy 101. Ey
ir vn kronen wi -
Habent 83. Schilt 99. Die 101. Ia
8 81.
12 / 16
myn -
myn nv
ne
ne
neo tzv
myn ken scho stil -
myn ken scou stillet
vor de her cha
o
vur de er che
scho - ne
scho - ne ma - le
ne ne win le
ne ne wen der
nomyn kint treyt wich
nomen kynt treit wich
108. to -
108. tobe 110. tzwey
be
spe schuys lip zcwyn
spe schuz lieb tzwi -
wy daz durch wy
wie ist mit wie
nicht myt
nicht mit mit ey -
e vnd lich eyn
he vnde lich er
dar ist wer stolcz
o
vua gar wer starch
der
der ner
syn bren wro wil -
111. Ge 113. Dv 115. Swa 117. Din
82. der 84. yr 100. di 102. her
82. ir 84. nv 100. der 102. er
cru - nyn 109. du 111. do 113. vor 115. wo 117. daz
kro - ne stra le
ne ne wyn le
ne ne wen le
komyn wint keyt rich
sy eyn de wy
syn bren vrou wil -
komen wynt cheit rich
sint ein di wye
in in kumpt an
din sich lat zo
din la lat so
in bist hast nu w[u]nt in brust kumpt fuwyr an
wunt bist brust vivr
86. tu 88. vnd 104. vnd 106. ach
86. tu 88. vnd 104. vnd 106. ach
schilt ne man o-
wort ne mani v-
yr czu dyn czu der
dyme ir o tzv der
vnd mit chin bir -
vnd met gen ber -
110. to - be 112. czwey 114. mit 116. do zcunt 118. ys bryn de le ke ste se
lan ma strik bru stra -
durch sich da eyn
of wer da eyn
te glo swun her
ter glo tw[u]n er
112. von cke 114. tobe de schy ste 116. da ze 118. dv brin -
recht wer vch ist
recht sen vch ist
ma der be waz
ma der be swaz
stri lan bru stra -
dy ouch konic kumt
ir ouch kvninc kvmpt
nyt
nicht mit der
ir nicht net nest
ri -
mit ey ov von a-
ou mit von a-
daz dyn vn schoz
daz dir wi scuz
e zin gin be -
ie sen gen be -
den nir gin ge ne
gen den ge ne
din yr der ge -
din daz der ge -
gar war hat stat
gar war hat stat
bran stra bli lu ma -
bli bran lust ma -
de le cke ste ze
cke de te ze
her weyr sen schen
her wer sen schen
Die Notation der mehrfach überlieferten Melodien in der ›Jenaer Liederhandschrift‹
119
den sol te die
dir lyt
dir lit
ge la
ge la
din waz
ne waz
ent vor -
wil be den ne -
v - byn trub - bin 139. ab cri - chen si - chin 145. do
daz
wan ho -
kint
ckin wyn
zit ke
vede rot
vider rot
re
nyn do
nen daz
gist dir
ges der
123. daz 129. wo
127. daz 133. swa
swa mer -
swa mer -
o
kint
chin ge - wun - nyn tro - ye 146. wer
yn daz
[da] [tr]vk
der cro - nyn 140. twin - gyt daz
146. swer da truc
dy cri -
myt
vlu an -
vlu an -
ey wer
sicht ey ke swer
der kro - ne 140. twin - ge daz
130. du 136. der
130. du 136. der
ge ist
ge ist
man mer -
man mer -
wun - nen tro - ie
mit
din velt
ein welt
ken wen
die krie - chen
in
126. ist 132. sin
wen hou -
kin wyn
120. swa 123. daz
gin 120. wo 123. daz
126. ist 132. sin
cla spil
klagen spil
ken wen
heit din
heit din
vnt o vur -
den scho -
den scou -
blint y
blint e
wil v - ben be - trub - ben 139. ob den krie - chen nen - sie - chen 145. Do
nyr
ner
vnd schilt
vnd schilt
schilt nicht von myn -
kan ey -
mac ey -
schin nen
schen nen
Wer dy - nen schilt 138. den kan nicht 143. Brach - te von 144. do ten myn -
8137.
Swer 138. der 143. Brach 144. an
8137.
21
wer 135. daz
8 129.
wer 135. daz
8 129.
Wun 131. Dy -
8 125.
Wun 131. Di -
20
muz ich vnde blint
119. Duch 122. Bloz
8 125.
8
ouch dy de bloz
o
Ich mvz 122. Blynt vn -
8 119.
19
vol -
ge
vlu snel -
vlu snel -
len vro -
len vrou -
yr ich
er ich
ye 147. des cro -
sold wer
solt ist
ye 148. was
ne 139. den
vn in
ris v -
we tot
nicht wen
vns pa -
ach vnd
ris o -
owe
bir
ber
ny not
nider not
gyn vil
ia vil
wider tot
de dy
de die
beia czu
beo tzv
nicht wen ach vnd o -
vns pa -
gist lin
ges len
124. hoch 130. kumt
128. ho vn 134. kvmpt in
ne daz
nen des
ne 142. den
kin wen
ken wen
myn mer
myn me
ye 147. des kro - ye 148. was
git sho - ne 141. dem do der myn - nin bo -
her vol -
du dit
du det
wol dy
ge die
121. ho 124. sprech
121. ho 124. sprech
scho - ne 141. dem do -
du durch
der myn - nen bo -
er
hyn ly -
hyn li -
kanst man
stu durch
zcagin wil
tzagen wil
kan man
chin kin
chen ken
se
dir
se
dyn
gen
we
120 Oliver Huck
121
FRANZ KÖRNDLE
Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und das Basler Fragment. Aspekte notenschriftlicher Traditionen
Nachdem im 19. Jahrhundert in Basel ein Fragment entdeckt worden war, das Konkordanzen zur ›Jenaer Liederhandschrift‹ enthält, bot es wiederholt Anlass zu Vergleichen, die vor allem bei Wolfgang von Wangenheim ausgiebig diskutiert wurden.1 Es ist in der Tat frappierend, in welch genauer Übereinstimmung das Basler Fragment die gemeinsamen Stücke präsentiert. Daher ist es nicht verwunderlich, dass nach eingehender Gegenüberstellung sowohl von Bartsch als auch durch von Wangenheim angenommen wird, das Basler Fragment und die ›Jenaer Liederhandschrift‹ könnten auf eine gemeinsame Vorlage zurückgehen.2 Zuletzt befasste sich im Jahr 2000 Robert Lug3 erneut mit dieser Frage und bezog dabei sehr scharfsinnig die musikalische Notation mit ein, die in Wangenheims Dissertation von 1972 ein wenig zu kurz gekommen war. Lug kam zu dem Schluss, die von ihm erstellte Filiation von der angenommenen Vorlage zu den Abschriften Jena und Basel könnte noch weitere Zwischenglieder enthalten haben, meinte aber, dies sei »von untergeordneter Bedeutung«.4 Da beinahe alle bekannten Liederhandschriften – eben mit Ausnahme der Jenaer Handschrift – in deutscher Hufnagelnotation aufgezeichnet sind, sollte dies nach Lug auch für die mutmaßliche Vorlage gelten. Demnach müsste man sich grundsätzlich sowohl für das Basler Fragment als auch für die ›Jenaer Liederhandschrift‹ eine Vorlage in gotischer Hufnagelschrift vorstellen.5 Demnach würde die Filiation in etwa so aussehen: Vorlage (Hufnagelnotation)
Zwischenglieder?
Basler Fragment
1 2 3 4 5
Zw.-Gl.: Hufnagel- oder Quadratnotation?
›Jenaer Liederhandschrift‹
Wangenheim (1972). Bartsch (1923), S. 47–49 und S. 95f.; Wangenheim (1972), S. 18–29. Lug (2000), S. 4–40. Lug (2000), S. 33. Lug (2000), S. 33.
122
Franz Körndle
Oben angezeigt ist die Vorlage in Hufnagelnotation, unten links das Basler Fragment, das direkt oder indirekt auf diese angenommene Vorlage zurückginge. Auf der rechten Seite erscheint die ›Jenaer Liederhandschrift‹, wobei sie entweder direkt aus der Hufnagelvorlage kopiert wäre oder aus einer Handschrift, die den Vorgang des Übersetzens in Quadratnotation bereits vorweggenommen hätte. Allerdings kann keineswegs als sicher gelten, dass wir damit tatsächlich ein zuverlässiges Bild von der Modell-Handschrift und dem Vorgang der Filiation gewonnen haben. Vor allem in Bezug auf die Ähnlichkeit der Melodien bleiben hier Fragen offen. Es soll daher zunächst anhand von einzelnen Zeichenformen in der ›Jenaer Liederhandschrift‹ und im Basler Fragment die Möglichkeiten des Abschreibens von Zeichen in unterschiedlichen Systemen gezeigt werden. Dabei kann ein Ausblick auf vergleichbare Fälle hilfreich sein, in denen gleiche Musik in verschiedenen Notationsformen wiedergegeben ist. Daneben sollen weitere Beobachtungen das Verhältnis von J und Ba neu beleuchten.
Abb. 1: Die Formen des Climacus in Hufnagel- und Quadratnotation (nach Lug, S. 35)
Nach Lugs Auffassung hat der »Ba-Notator […] die Vorlage kopiert, der J-Notator hat sie übersetzt.«6 Entsprechend dieser Prämisse ergaben sich für Lug weitere Fragestellungen bezüglich der musikalischen Notation, etwa wie es dazu kam, dass die dreitönige absteigende Figur, der Climacus der Choralnotation in der Hufnagelschrift immer in einer einzigen Gestalt erscheint, in der Quadratnotation aber in zwei unterschiedlichen Graphien festgehalten wird. Abb. 1 zeigt aus Lugs Artikel die Gegenüberstellung des dreitönigen Climacus in Basel auf der linken Seite und den beiden Erscheinungsformen des Climacus in der ›Jenaer Liederhandschrift‹. Als Erklärung für dieses Phänomen dienen nun drei Möglichkeiten, die ich verkürzt andeute: a) Der Quadratnotator wählte unbewusst zwei Varianten für eine Form in der Hufnagelschrift, b) Der Quadratnotator hatte Kenntnis von subtilen Unterschieden der beiden Varianten und sie bewusst eingesetzt, c) Die Vorlage enthielt zwei unterschiedliche Zeichen.7 Zu den Erklärungsmodellen a) und b) liegen bisher keine Belegstücke vor, aufgrund des daher fehlenden Einblicks in ein bewusstes oder auch unbewusstes Vorgehen des Schreibers von J können sie nicht weiter diskutiert werden. Daher bleibt nur Lugs Argument c), das von zwei unterschiedlichen Zeichen der Vorlage ausgeht. Diese hätte der Schreiber von J sorgfältig in Quadratnotation übersetzt, der Basler Schreiber die differenzierte Notation der Vorlage aber vereinheitlicht.
6 7
Lug (2000), S. 33. Lug (2000), S. 35f.
Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und das Basler Fragment
123
Abb. 2: Climacus in Ba und J
Es muss nun zu c) gefragt werden, wie die beiden anzunehmenden Zeichen aussehen könnten, wenn die Vorlage in Hufnagelschrift ausgeführt gewesen war. Beim Durchgehen von zahlreichen Choralcodices werden wir immer das Gleiche feststellen: Der Climacus ist ausschließlich in einer Form notiert. Soweit ich sehe, geht es gar nicht anders. Während die Schreiber von Quadratnotation stets auch rhombische Zeichen zur Verfügung haben, vor allem eben beim Climacus, aber auch bei Gruppen mit mehreren absteigenden Tönen, kennt die Hufnagelschrift aufgrund ihrer typischen Grundstruktur nur rhombische Zeichen. Der Climacus kann daher überhaupt nur in einer Version notiert werden. Wenn also der Schreiber von J den Climacus nicht willkürlich oder wenigstens selbstständig verändert hat, um eine zweite Graphie einsetzen zu können, sondern einfach nur abgeschrieben hat, dann hätte er aus der Hufnagelschrift nur die eine mögliche Zeichenform kopieren bzw. übertragen können. Für die Abschreibefolge von der postulierten Hufnagel-Vorlage zu einer Quadratnotation-Kopie bleiben damit nur die unergiebigen Modelle a) und b). Die Vorlage für J ist nach diesem Einwand also nicht zwingend oder sogar eher unwahrscheinlich in Hufnagelschrift abgefasst gewesen. Eine andere Möglichkeit wurde von Lug nicht weiter diskutiert, muss hier aber erwähnt werden. Als Vorlage könnte auch eine Aufzeichnung in so genannter Fliegenfußnotation oder in linienlosen Neumen angenommen werden. Die Vertrautheit der Schreiber mit den unterschiedlichsten Formen geht aus der teilweise erhaltenen Niederschrift von Frauenlobs Marienleich hervor, die sich in der Stiftsbibliothek Melk befindet.8 Obwohl dieses Fragment überwiegend auf die mit Einzelzeichen operierende Fliegenfußnotation zugreift, bieten sich für unsere Fragestellung doch einige wenige Anhaltspunkte. Der Schreiber verfällt nämlich ausgerechnet dort vom Fliegenfuß in die Quadratnotation, wo er einen Climacus benötigt, der nun mit drei absteigenden Quadraten wiedergegeben wird (Zeile 6). Darüber hinaus lässt die erste Zeile erahnen, dass sogar eine Schreibweise mit zwei Rhomben möglich war.
8
Stiftsbibliothek Melk, Stiftsbibliothek, Fragm. germ. 3 (= Fragment Q), fol. 2r (2. Hälfte 14. Jahrhundert); Abbildung bei Achim Diehr: Literatur und Musik im Mittelalter. Eine Einführung. Berlin 2004, S. 67; Stackmann/Bertau (1981), S. 146–148; Joachim Fridolin Angerer: Lateinische und deutsche Gesänge aus der Zeit der Melker Reform. Probleme der Notation und des Rhythmus, bezogen auf den historischen Hintergrund und verbunden mit einer Edition der wichtigsten, durch die Reform eingeführten Melodien. Wien 1979 (Forschungen zur älteren Musikgeschichte 2), S. 7–23.
124
Franz Körndle
Auch der Einsatz von adiastematischen (linienlosen) Neumen wäre denkbar, denn ein aus einem Schrägstrich und zwei nachfolgend abwärts gehenden Punkten geschriebener Climacus legt bei einer Übertragung in Quadratnotation die Graphie nicht fest. Er kann also sowohl komplett quadratisch als auch mit einem Quadrat und zwei Rhomben ausgedrückt werden. Für die angenommene Vorlage zu J und Ba können die zuletzt angestellten Überlegungen nur bedeuten, dass sie zwar wohl nicht in Hufnagelschrift, aber durchaus wie in Melk in einer gemischten Schreibweise oder sogar in Neumen notiert gewesen sein könnte. Man muss jedoch bedenken, inwieweit der Weg bei einer Transkription von Neumen zu einer doch teilweise mit Plicen weiter ausdifferenzierten Quadratschrift bei dieser Hypothese ungeklärt bleibt und diese wieder in Frage stellt. Fein nuancierende Neumenschriften kommen bekanntlich bei den Aufzeichnungen im Bereich des Minnesangs nicht vor. Dagegen sollte die Option einer Vorlage mit gemischtem Zeichenvorrat jederzeit offen gehalten werden. Von der Annahme einer Vorlage aus Fliegenfußnotation und Quadratschrift ist es nur ein kleiner Schritt zur Überlegung, ob nicht die Vorlage für J und Ba komplett in Nota quadrata gehalten war. Diese Möglichkeit wurde von Lug nicht diskutiert, vermutlich weil dadurch seine Theorien in der Umkehrung nicht funktionieren. Der Versuch soll hier wenigstens unternommen werden. Damit wäre zu postulieren, die Vorlage für J und Ba wäre in Quadratnotation gewesen, woraus sich ein eindeutiger Befund ergibt. Der Notenschreiber der ›Jenaer Liederhandschrift‹ kopiert einfach sein Modell und übernimmt die beiden unterschiedlichen Möglichkeiten für den Climacus. Der Notator des Basler Fragments dagegen kann den Climacus nur in einer Schreibweise wiedergeben. Damit erscheinen bei ihm die ursprünglich verschiedenen Graphien immer einheitlich. Der Gedankengang, sich die Vorlage in Quadratnotation vorzustellen, kann zwar erklären, warum im Basler Fragment nur eine Erscheinungsform des Climacus auftritt, wo in J zwei verschiedene Formen gebraucht werden. Er löst aber nicht das Problem, weshalb der Schreiber von J neben der gängigen Schreibweise des Climacus mit einer einzelnen Virga und zwei folgenden rhombischen Zeichen alternativ eine absteigende Dreiergruppe einsetzt, in der alle Zeichen quadratisch sind. Merkwürdig muss daher weniger das Auftreten dieser zwei Schreibweisen an sich erscheinen, sondern die Verwendung des Climacus mit drei Quadraten. Fast zwangsläufig gelangt man an dieser Stelle zur Frage nach dem Skriptorium, in dem Handschriften wie Ba oder J hergestellt worden sein könnten. Von Christoph März und Lorenz Welker wurde die offensichtliche Affinität von J zu liturgischen Büchern bereits diskutiert.9 Die auf diesen Erkenntnissen aufbauende eigene Suche nach Vergleichscodices erbrachte nach Durchsicht einer größeren Anzahl von Choralhandschriften den Zwischen-Befund, dass bei Quadratnotation tatsächlich nur die eine Form des Climacus auftritt. Sogar in französischen Quellen des späten 13. und 14. Jahrhunderts, die ja ausschließlich die Nota quadrata verwenden, ließ sich keine zweite Form des Climacus nachweisen. Auf die rein quadratisch geschriebene Version stoßen wir dagegen in den Aufzeichnungen mit Musik der Epoche von Notre Dame in Paris und der darauf folgenden Zeit
9
März/Welker (2007), S. 134f. sowie S. 137–139.
Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und das Basler Fragment
125
der Mensuralnotation. Allerdings scheint es mir nötig, hier Vorsicht walten zu lassen, schon um nicht auf die Suggestion zu verfallen, der Schreiber von J wäre mit Mensuralnotation vertraut gewesen. Ebenso wenig bin ich von einem Einfluss der Schreibweisen in französischen Chansonniers überzeugt, auch wenn darin die quadratische Form des Climacus ebenfalls vorkommt.10 Bevor ich auf die Frage zurückkomme, wie die Vorlage für die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und für das Basler Fragment ausgesehen haben könnte, will ich das Augenmerk auf eine andere Besonderheit lenken. Auch wenn es zunächst wie eine Binsenweisheit klingt, ist es nämlich tatsächlich etwas Besonderes, dass die Melodien, die im Basler Fragment gemeinsam mit Jena überliefert sind, beinahe Note für Note übereinstimmen. Der Grad an Übereinstimmung ist sogar ungewöhnlich hoch. Der Schreiber von J gab sich offenbar jede Mühe, Fehler zu vermeiden, und nahm gelegentlich sogar Rasuren vor, um die »korrekte« Wendung auf das Pergament zu bringen.
Abb. 3: Vil riche (Meister Kelin) in Ba und J 10
Vgl. dagegen Lug (2000), S. 8–14.
126
Franz Körndle
Denkt man sich den Spaltenumbruch von Vil riche (Meister Kelyn) in J weg (mit Hilfe moderner Bildbearbeitungsprogramme lässt sich das auch optisch realisieren), dann wird die Verwandtschaft der beiden Aufzeichnungen noch besser sichtbar. Die Kongruenz reicht bis zu weitgehend synchronen Zeilenwechseln. Signifikant ist die erste Zeile, in der die Melodie sofort mit wenigen Schritten vom Ausgangston g die darüber liegende Oktave erreicht. Da der am Zeilenbeginn gesetzte c-Schlüssel auf der dritten Linie von unten bei Verwendung von vier Noten-Linien dieses obere g nur mit einer Hilfslinie notierbar macht, wird hier eine zusätzliche Linie genutzt. Eigentlich dienen ansonsten vier Linien für die Noten, diese fünfte Linie ist üblicherweise für den Text da oder um den Schriftspiegel zu begrenzen. Im Original (oder auch in der digitalen Reproduktion) kann man gut vier rote und darüber eine schwarze Linie erkennen. Das Basler Fragment kennt keine Unterscheidung verschiedener Farben und verwendet nur schwarze Linien. Dennoch ist der Sachverhalt gleich. In der Regel werden vier Linien für die Noten herangezogen. Hier aber setzen beide Schreiber wie selbstverständlich die darüber stehende Linie als Notenlinie ein. Das ist insofern eigenartig, als die hohe Lage mit einem c-Schlüssel auf der zweiten Linie genauso gut erreichbar gewesen wäre. Auch für die zweite Zeile hätte sich dieser Schlüssel angeboten. In der dritten Zeile erfasst der Schreiber von Ba das Lagenproblem und setzt folgerichtig einen c-Schlüssel auf der zweiten Linie von unten. Aber ausgerechnet in dieser Zeile wechselt die Melodie ihren Ambitus nach unten und verursacht dadurch am Ende der Zeile beim Climacus eine Kollision mit dem Textwort »nicht«. Der erste Ton des Stückes hätte sich übrigens ebenso unter dem System, aber noch ohne Hilfslinie darstellen lassen, doch wäre der Ton auch hier mit dem Text zusammengetroffen. Da dies gerade zu Beginn eines Stückes das optische Erscheinungsbild beeinträchtigt hätte, wurde die alternative Schreibmöglichkeit gewählt und die obere Linie einbezogen. In Zeile vier gerieten dem Schreiber in J bei den Worten argen nicht zunächst die Töne ohne ersichtlichen Grund um einen Ton zu tief, ebenso in Zeile acht bei dyne helfe. Daher radierte er die Töne und setzte sie anschließend auf die korrekte Höhe. Ich vermerke diese zweimalige Sekund-Verschreibung als eigenartig, jedenfalls für eine Kopie eigenartig, da man beim Abschreiben leichter um eine Terz irrt, wenn man sich um eine Linie versieht. Gerade wegen der möglichen bzw. nötigen Schlüsselwechsel bestand wohl für jeden Schreiber die Gefahr, einen solchen Terz-Fehler zu machen. Das ist aber hier nicht der Fall. Denkt man sich freilich eine Vorlage in Fliegenfußnotation, deren Zeichen wesentlich unschärfer im Liniensystem platziert sein können, dann kommen wir dem Phänomen näher. Möglicherweise las der J-Schreiber eine nicht ganz sorgfältig notierte Passage der Vorlage zunächst nicht korrekt. Später – vielleicht bei der strophischen Wiederholung – wurde ihm der Irrtum bewusst, und er führte eine Korrektur durch. Während wir also zweimal eine Schwäche des J-Schreibers feststellen können, scheint der Schreiber des Basler Fragments mit rascher Feder geschrieben zu haben. Auch musste er offenbar nirgendwo korrigierend eingreifen. Er war in der Lage, sehr ordentlich und sicher zu lesen und das Gelesene zügig auf das Pergament zu bringen. Darüber hinaus schrieb er sogar dort ähnlich wie J, wo es gar nicht nötig gewesen wäre. Beim Wort zerten bzw. zereten fehlen sowohl in J als auch in Basel Töne. Da der Bau der Melodie von Strophe zu Strophe identisch ist, stellt eine solche kleine Lücke ggf.
Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und das Basler Fragment
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beim Vortrag kein Problem dar. Die Töne sind eben bekannt. Dennoch fällt auf, dass der Ausfall in beiden Manuskripten an exakt der gleichen Stelle auftritt.
Abb. 4: Kyrie fons bonitatis in LoD und Engelberg 314
In der Überlieferung von Handschriften mit musikalischer Notation gibt es mehrfach Aufzeichnungen, die gleiche Musikstücke enthalten. Im Folgenden sollen daher einige Beispiele herangezogen werden. Teilweise können direkte Zusammenhänge tatsächlich festgestellt werden, teilweise lassen sie sich aber auch nur erahnen. Zu dieser letzten Gruppe gehören die Codices London, British Library, Ms. Add. 27630 (LoD)11 und der Codex Engelberg 31412. Während wir bei Engelberg in etwa die Entstehungszeit kennen,
11
12
Die Handschrift London, British Museum, Add. 27630 (LoD), hg. von Wolfgang Dömling, Bd. 1: Faksimile; Bd. 2: Übertragung der Organa und Motetten. Kassel [u. a.] 1972 (Das Erbe deutscher Musik 52 und 53). Engelberg Stiftsbibliothek Codex 314, kommentiert und im Faksimile herausgegeben von Wulf Arlt und Matthias Stauffacher unter Mitarbeit von Ulrike Hascher. Winterthur 1986 (Schweizerische Musikdenkmäler 11).
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nämlich um 1370,13 bleibt sie für LoD bisher im Dunkeln,14 dürfte aber um 1400 oder sogar später anzusetzen sein. Engelberg ist eine Handschrift mit fast ausschließlich einstimmiger Musik. Die wenigen mehrstimmigen Stücke sind überwiegend auch in LoD enthalten, so dass an einen Überlieferungszusammenhang gedacht werden kann. Immerhin pflegten die Klöster St. Blasien, wo sich der Londoner Codex noch im 18. Jahrhundert befand,15 und Engelberg enge Beziehungen. Ein zweistimmiger Satz zum Kyrie fons bonitatis ist im Engelberger Codex in Hufnagelschrift, in LoD aber in Quadratnotation enthalten. Doch die beiden Versionen weichen ganz charakteristisch von einander ab. Bereits das einleitende Wort Kyrie stimmt nur im Anfangs- und Endton überein. Aber die Londoner Handschrift bringt den Anfangston dreimal notiert, Engelberg nur einmal. In der Fortsetzung scheint sich die Kongruenz allmählich einzufinden, indem sich die melodischen Linien einander angleichen. Doch im Detail sind auch hier wieder Varianten auszumachen, besonders deutlich sichtbar ist, dass auch die Textunterlegung abweicht.
Abb. 5: Kyrie Magne Deus potencie (Transkription nach Gotha I 65 und Karlsruhe St. Peter perg. 29a)
Zwei weitere Beispiele sind Handschriften aus Gotha (Forschungs- und Landesbibliothek, Cod. Memb. I 65, fol. 254v) und Karlsruhe (Badische Landesbibliothek, St. Peter perg. 29a, fol. 37v) entnommen. Zum besseren Vergleich sind die Noten in diplomatischer Transkription direkt untereinander gestellt. Die Melodiestimmen (bei Gotha: un-
13 14 15
Arlt/Stauffacher (Anm. 12), S. 11–13. Wolfgang Dömling (Anm. 11), S. VIIf. Vgl. Anm. 14.
Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und das Basler Fragment
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teres System, bei Karlsruhe: oberes System) sind identisch, obwohl auch hier die Quelle aus Gotha in Hufnägeln, die Quelle aus Karlsruhe in der Nota quadrata aufgezeichnet ist. Und dennoch gibt es sogar in diesen Fällen keine vollkommene Übereinstimmung. Die eingetragenen Kreise markieren im einen Fall zwei, im anderen Fall drei Töne. Man könnte hier von maximaler Annäherung sprechen, wobei den Schreibern sicher zugute kam, dass es sich bei dem Kyrie Magne Deus potencie um ein sehr bekanntes und weit verbreitetes Stück handelt. Es lassen sich davon bisher genau 30 Aufzeichnungen nachweisen.16 Bei den hier gezeigten, sehr einfachen zweistimmigen Sätzen ist kaum zu entscheiden, ob sie aus dem Gedächtnis, nach Gehör oder tatsächlich als Kopie niedergeschrieben wurden. Wir können in diesen Fällen auch überhaupt keine Aussage darüber treffen, ob nun der eine Schreiber seine Quadratnotation aus Hufnägeln oder ein anderer Schreiber seine Hufnagelschrift aus der Nota quadrata übertrug. Vielleicht sind manche Schreiber auch nur in ihrem eigenen System bewandert gewesen. Vor einigen Jahren konnte ich auf einen Fall aufmerksam machen, bei dem wir das Skriptorium kennen, in dem wenigstens zwei Aufzeichnungen ein und desselben Stückes am Ende des 14. Jahrhunderts hergestellt wurden. Davon verwendet die eine Quadratnotation, die andere Hufnagelschrift. Dieses Skriptorium gehörte den Augustiner-Chorfrauen im Neuwerkskloster zu Erfurt. Von den einstigen Gebäuden ist heute noch die Crucis-Kirche erhalten. Wir haben es hier also einmal nicht mit Schreibern, sondern mit Nonnen zu tun, die die genannten Manuskripte anfertigten. Aus dem Erfurter Neuwerksskriptorium existieren noch etliche Codices, die Mehrzahl davon befindet sich heute in der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe.17 Soweit die Codices musikalische Notation enthalten, ist diese ganz einheitlich mit Hufnagelnotation geschrieben. Das gilt auch für ein Antiphonarium, das in Erfurt selbst verblieb. Es wurde vermutlich als Auftragsarbeit bei den Neuwerksnonnen hergestellt und ist später an der Erfurter Marienkirche in Gebrauch gewesen. Obwohl dieses Antiphonarium ganz der Tradition des Skriptoriums folgt, enthält es ein Doppelblatt, das auf seiner Innenseite mit einer Komposition in Quadratnotation beschrieben ist. Die ornamentale Ausstattung und die Bindung verraten, dass das Doppelblatt nicht eine spätere Zutat ist, sondern mit der Fertigstellung in das Buch eingefügt worden ist.18 Bei dem Musikstück handelt es sich um ein zweistimmiges Organum, das um 1200 an der Kathedrale von Notre Dame in Paris geschaffen worden ist. Es ist in dem hier zu untersuchenden Zusammenhang von untergeordnetem Interesse, wie dieses Organum nach Erfurt gelangt ist, es lässt sich aber mit Sicherheit annehmen, dass es der Erfurter Nonne in der für die Notre-Dame-Musik üblichen Modalnotation vorgelegen hat, die eine Weiterentwicklung der Quadratnotation des Chorals darstellt. Unsere Schreiberin
16
17 18
Franz Körndle und Bernhold Schmid: Neue Quellen zur Musikgeschichte des 14. und 16. Jahrhunderts aus Gotha. In: Augsburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 1991, hg. von Franz Krautwurst. Tutzing 1991, S. 71–113, hier: S. 86–91. Felix Heinzer und Gerhard Stamm: Die Handschriften von St. Peter im Schwarzwald: Teil 2. Die Pergamenthandschriften. Wiesbaden 1984, S. 38f. Franz Körndle: Das zweistimmige Notre-Dame-Organum »Crucifixum in carne« und sein Weiterleben in Erfurt. Tutzing 1993 (Münchner Veröffentlichungen zur Musikgeschichte 49), S. 200–204.
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Franz Körndle
kopierte offenbar ihre Vorlage einmal genau, man könnte fast sagen, sie malte sie ab. Dabei wurde das vermutlich kleinformatige Modell (etwa octav oder quart) auf die enormen Dimensionen (317 × 205 mm) des Antiphonale vergrößert.19 Dieser Codex war für den Gebrauch im Chor der Erfurter Marienkirche bestimmt und befindet sich heute im Bistumsarchiv (olim Domarchiv) Erfurt unter der Signatur Lit. 6a.20 Vermutlich noch vor der Übergabe des fertigen Antiphonales an die Marienkanoniker transkribierte die Nonne das Organum auf ein Blatt eines gerade ebenfalls in Arbeit befindlichen Graduale, das für das eigene Haus bestimmt war. Selbstverständlich wurde dieses Buch wieder in Hufnagelschrift ausgefertigt. Während die Kopie für den Codex der Marienkirche noch die Schrift der Vorlage – gleichwohl überdimensioniert – emuliert, wagte sich die Schreiberin für den Eigenbedarf an eine Übertragung der ursprünglichen Quadratnotation in die vertraute Hufnagelschrift. Heraus kam eine Aufzeichnung, die heute noch zweifelsfrei erkennen lässt, dass trotz großer Sorgfalt nicht eine vollständige Übereinstimmung erreicht werden konnte.21
Abb. 6: Plica in Karlsruhe (St. Peter perg. 16) und Erfurt (Lit. 6a)
Für das Zeichen der abwärts gehenden Plica, das der Schreiberin nicht vertraut war und in ihrem Zeichenvorrat nicht vorkam, setzte sie an die rhombische Note eine kleine Cauda. Die aufwärts führenden Plicen dagegen sind vermutlich mangels äquivalenter Möglichkeiten einfach entfallen. Im unteren Beispiel rechts können wir erkennen, dass der Schreiberin bei aller Genauigkeit Fehler unterlaufen sind. So hat sie an dieser Stelle die Töne d-e-d anstatt c-d-c notiert. Anders als der sorgfältige Schreiber von J hat die Erfurter Nonne keine Anstalten gemacht, eine Korrektur anzubringen. Bei einer einstimmigen Melodie wäre das gesungene Resultat vielleicht etwas schwieriger auszuführen, ins Gewicht fallen würde es nicht. Da es sich hier aber um ein Organum mit zwei Stimmen handelt, würde die Tonfolge d-e-d in der Oberstimme zu einem ausgehaltenen C in der Unterstimme erklingen, das zweimalige Intervall der großen None ergibt keine Konsonanz und damit im Falle einer Aufführung ein nicht erwünschtes dissonantes Ergebnis. Korrekterweise müsste es sich zweimal um eine Oktave handeln.
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20 21
Friedhelm Brusniak: Zur Überlieferung des zweistimmigen Organums Crucifixum in carne im Antiphonale Hs. Domarchiv Erfurt Lit. 6a. In: Augsburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 1988, hg. von Franz Krautwurst. Tutzing 1988, S. 7–19; hier S. 10. Brusniak (Anm. 19), S. 7–10; Körndle (Anm. 18), S. 139–147. Vgl. Körndle (Anm. 18), S. 149–153.
Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und das Basler Fragment
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Abb. 7: Oberstimme in Karlsruhe (St. Peter perg. 16) und Erfurt (Lit. 6a)
Die angesprochene Schreibweise der Plicen soll nun zurücklenken zur ›Jenaer Liederhandschrift‹.22 Aus dem Vergleich mit dem Basler Fragment lässt sich zu dieser Frage nicht allzu viel gewinnen, da innerhalb der konkordanten Stücke nur eine einzige Plica in J zu finden ist. Sie steht auf dem Ton a zum Text Ich weiß (fol. 17d) in Meister Kelins Vil riche. Auf dieses a folgt ein f, so dass wir eine Überbrückung des Terzintervalls a-f annehmen können. Aus anderem Kontext innerhalb der Liederhandschrift wissen wir von der Neigung des Schreibers, gelegentlich anstelle einer zweitönigen Clivis einfach nur die erste Note, aber eben mit Plica zu setzen.23 Demnach ließe sich vermuten, in der Vorlage könnte hier eine Clivis a-g mit folgendem f gestanden haben. Dann hätte Ba entweder diese Clivis übernehmen oder aber wie in J als Plica transkribieren müssen. Da weder die eine noch die andere Lösung gewählt wurde, stand in der Vorlage aller Wahrscheinlichkeit nach auch nur ein Einzelton. Nun könnte freilich die Vorlage bereits mit der Plica ausgestattet gewesen sein, was in J übernommen wurde. Dann kannte der Schreiber des Basler Fragments dieses Zeichen nicht und musste den Sachverhalt ignorieren und hielt lediglich eine Virga a und dann ein Punctum f fest. Hätte der Schreiber von J die Plica aus einer Vorlage in Hufnagelnotation übernommen oder hätte er hier eine Clivis der Vorlage als Plica transkribiert, dann würde wohl auch Basel an dieser Stelle eine Plica gesetzt haben. Da aber Ba keine Plica und noch nicht einmal eine Clivis notiert, wird die Vorlage an dieser Stelle wohl genauso ausgesehen haben. Mir scheint hier ein weiteres Indiz für eine Vorlage in Quadratnotation vorzuliegen.
22 23
Gröbler (2005), S. 59–66. Gröbler (2005), S. 64.
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Franz Körndle
Abb. 8: Plica in J (Kelins Ton 2) im Vergleich mit Ba
Lange habe ich nach Spuren gesucht, die in der Frage des eingangs diskutierten merkwürdigen Climacus weiterführen würden. In den Choralhandschriften kommt er eigentlich nicht vor, aber wie schon erwähnt in der Mensuralnotation. Und doch gibt es auch im deutschen Bereich einige Klöster, die sich mit dieser Schreibweise auseinandergesetzt haben. Felix Heinzer machte auf ein Beispiel aus Salem am Bodensee aufmerksam, das eine Erklärung der sechs rhythmischen Modi enthält24, wie sie in der Musik von Notre Dame in Paris, aber auch noch in der Motettenkunst des 13. und 14. Jahrhunderts in Gebrauch waren.25 Zweifelsfrei ist hier der Quadrat-Climacus vertreten. Wir müssen aber noch nicht einmal unbedingt in die Mensuralmusik hineinsehen, um diesen Quadrat-Climacus zu finden. Ein ebenfalls von Heinzer herangezogenes Antiphonar aus dem Kloster Maulbronn (Baden-Baden, Kloster Lichtenthal, Klosterbibliothek, Kl. L. 29, fol. 21v) enthält diese Form.26 Sowohl Salem als auch Maulbronn waren Klöster der Zisterzienser, was zu der Überlegung führt, ob nicht die Arbeit des Schreibers von J im Umkreis oder unter dem Einfluss eines Zisterzienserklosters zu suchen wäre. Belege aus anderen Zisterzienser-Handschriften können diese Beobachtungen bestätigen, etwa Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. St. Georgen 5 (darin fol. 16r und fol. 18r). Im Hinblick auf die Schreibtechnik bietet diese Handschrift besonders schöne Einblicke. Offenbar wurden die Notenzeichen zunächst als Rahmen aufgezeichnet und anschließend
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Felix Heinzer: Maulbronn und die Buchkultur Südwestdeutschlands im 12. und 13. Jahrhundert. In: Anfänge der Zisterzienser in Südwestdeutschland. Politik, Kunst und Liturgie im Umfeld des Klosters Maulbronn, hg. von Peter Rückert und Dieter Planck. Stuttgart 1999 (Oberrheinische Studien 16), S. 147–166, hier S. 152. Hans Müller: Eine Abhandlung über Mensuralmusik in der Karlsruher Handschrift St. Peter pergamen. 29a. Mit einer Tafel. Karlsruhe 1886 (Mittheilungen aus der Grossherzoglich Badischen Hof- und Landesbibliothek und Münzsammlung 6), S. 5–7. Heinzer (Anm. 24), S. 153; Felix Heinzer und Gerhard Stamm: Die Handschriften von Lichtenthal. Mit einem Anhang. Wiesbaden 1987, S. 320f.
Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und das Basler Fragment
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ausgefüllt. Dass die Zisterzienser auch mit französischer Liedkunst vertraut waren, legt der Fund eines Chansonfragments der Zeit um 1400 aus dem Kloster Heiligenkreuz nahe. Bei ihrem Versuch, die ›Jenaer Liederhandschrift‹ im Kontext eines klerikalen oder sogar monastischen Skriptoriums zu verorten, benannten Christoph März und Lorenz Welker wie zuvor schon Thomas Klein (1987) brandenburgische Klöster als Verbreitungsbereich für die mittelhochdeutsche Lyrik.27 Da die Liederhandschrift – wie oben bereits formuliert – tatsächlich vom Erscheinungsbild aussieht wie ein liturgisches Manuskript, sind die abschließenden Bemerkungen von diesen Überlegungen geleitet. Dennoch müssen noch weitere Differenzierungen vorgenommen werden, in die sich auch die hier vorgestellten Befunde einbeziehen lassen. Zunächst soll eingeräumt werden, dass die als Modell in Erwägung gezogenen Gradualien mit Quadratnotation in der Regel einspaltig ausgeführt sind. Liturgische Handschriften, die von ihrem Layout her in etwa dem entsprechen, was wir in der Liederhandschrift vor uns haben, finden sich in größerem räumlichen Abstand, in Frankreich. Als Beispiel soll hier ein französisches Manuskript aus dem späten 13. Jahrhundert dienen, heute in der Pariser Nationalbibliothek (f. lat. 10486). Wir haben es aber nicht mit einem Graduale oder Antiphonar zu tun, sondern mit einem Brevier, das die Gesänge mit ihren Noten enthält. Der Vergleich darf aber nicht überbewertet werden. Die Formate des Pariser Breviers und der ›Jenaer Liederhandschrift‹ liegen weit auseinander. In Wirklichkeit ist diese Art von Brevier eher von bescheidener Größe, etwa der eines Gebetbuches. Solche kleinen Bücher sollten höher gestellten Personen beim Besuch der Gottesdienste in Notre Dame zum Mitlesen von Texten und Gesängen dienen; da wäre ein Codex von einem halben Meter Höhe vermutlich recht unpraktisch gewesen. Doch die Indizien deuten vermutlich auch hier in eine ähnliche Richtung. Während eben Breviere dieser Art aufgrund ihres Verwendungszweckes dieses kleine Format bevorzugen, können Liturgica mit der Intention einer Aufstellung im Chorraum einer Kirche auch vergrößert erscheinen. Noch mehr hat das für Missalien zu gelten. Bei solchen Messbüchern, die nicht nur die Präfationen mit Noten enthalten, sondern alle Gesänge, würde man korrekterweise von Plenar-Missalien sprechen. In Gotha und zuletzt auch in der Berliner Staatsbibliothek konnte ich eine ganze Reihe solcher Plenar-Missalien einsehen, alle aus dem nord- und westdeutschen Bereich. Sie sind oft tatsächlich zweispaltig angelegt, dann aber durchweg in Hufnagelnotation geschrieben. Für die ›Jenaer Liederhandschrift‹ will das bekanntlich nicht so recht passen, aber es passt sehr gut zu dem Fragment aus Basel. Wenn die ›Jenaer Liederhandschrift‹ auf das Format und Layout eines liturgischen Buches zurückgehen soll, dann trifft das genauso für Basel zu. Auch wenn die Fragmente einst zu einem Codex kleineren Formats gehörten als J, in dieser Größe gibt es genügend Modelle, die zum Vergleich herangezogen werden dürfen, etwa Berlin, SBB-PK, Ms. theol. lat. fol. 487.28 Der Codex stammt – je
27 28
März/Welker (2007), S. 137–139; Klein (1987). Valentin Rose: Verzeichniss der Lateinischen Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Berlin, Zweiter Band: Die Handschriften der Kurfürstlichen Bibliothek und der Kurfürstlichen Lande, Zweite Abteilung, Berlin, 1903 (Die Handschriften-Verzeichnisse der Königlichen Bibliothek zu Berlin 13), S. 707; Paula Väth: Die illuminierten lateinischen Handschriften deutscher Provenienz der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz 1200–1350. Teil 1:
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Franz Körndle
nach wissenschaftlicher Einschätzung – aus Mittel- oder Westdeutschland29, vielleicht vom Niederrhein. Andere Bücher dieser Art hätten etwa mit Provenienz Havelberg mehr nach Brandenburg geführt (etwa Berlin, SBB-PK, Ms. theol. lat. fol. 319).30 Als ein letztes Beispiel kann auch die bereits genannte Handschrift Gotha, FB, Cod. Memb. I 65 dienen. Dieses Plenarmissale im Folio-Format stammt ebenfalls aus dem 14. Jahrhundert und ist in zwei Spalten mit Hufnagelschrift notiert. Hier sei fol. 188r ausgewählt, um die Ähnlichkeit mit dem Basler Fragment aufzuzeigen (siehe Abb. 9). Abschließend kann gefragt werden, was aus den Beobachtungen zu folgern wäre. Die abschließenden, aber vorläufigen Einschätzungen bedürfen aller Vorsicht und weiterer Diskussion: 1. Sowohl die ›Jenaer Liederhandschrift‹ als auch das Basler Fragment können nach Modellen von Plenar-Missalien hergestellt worden sein. Dabei steht das Basler Fragment näher an solchen Modellen. 2. Es ist denkbar, dass das Skriptorium im Kontext der Zisterzienser zu suchen sein könnte. Dort war man – wie aus manchen Beispielen ersichtlich wird – mit beiden Notationsarten, der Nota quadrata ebenso wie mit Hufnagelschrift, vertraut. 3. Das Basler Fragment steht in engster Beziehung zu J. Wenn das Modell für J in Quadratnotation geschrieben war, dann können die Noten des Fragments sowohl von diesem Modell direkt, wahrscheinlicher aber noch aus J selbst übertragen worden sein.
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30
Text, Wiesbaden 2001 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. Kataloge der Handschriftenabteilung: Reihe 3, Illuminierte Handschriften Bd. 3), S.171–174. Rose (Anm. 28), S. 707: »aus dem Münster’schen Provinzial-Archiv«; Väth (Anm. 28), S. 171: »Mitteldeutschland oder Westdeutschland?« S. 174: »Die Heiligenauswahl im Proprium de sanctis verweist sowohl auf das Rheinland [...] als auch in den belgisch-nordfranzösischen Grenzbereich der Diözese Lüttich. [...] Die Ausstattung [... wurde von Swarzenski 1936] nach Würzburg lokalisiert«. Rose (Anm. 28), S. 714; Väth (Anm. 28), S. 42f.
Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und das Basler Fragment
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Abb. 9: Plenarmissale Gotha, Forschungs- und Universitätsbibliothek Erfurt/Gotha, Cod. Memb. I 65, fol. 188r
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LORENZ WELKER
Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ im Kontext großformatiger liturgischer Bücher des 14. Jahrhunderts aus dem deutschen Sprachraum
Der vorliegende Beitrag knüpft an Überlegungen an, die ich im Februar 2006 noch gemeinsam mit Christoph März anstellen konnte und die jetzt auch im Druck vorliegen.1 Dabei stellte sich uns unter anderem die Frage, welchem Zweck das überdimensionale Format der ›Jenaer Liederhandschrift‹ hätte dienen können, ob angesichts der Gebrauchsspuren und der wenig kaschierten Nachbesserungen eine praktische Verwendung auszuschließen sei und ob im Blick auf den Eindruck, hier sei eine kleinformatige Handschrift stark vergrößert worden, tatsächlich angenommen werden muss, J habe nur repräsentativen Zwecken gedient. Die Überlegungen führten damals zu einem Bündel von Hypothesen, die die Handschrift als mögliche Basis für den Vortrag der darin enthaltenen Sprüche durch eine Gruppe von Sängern oder auch als Grundlage der Unterweisung im frühen Meistergesang vermuteten.
Großformatige liturgische Bücher des späten Mittelalters Die dort gemachten Aussagen zur Entwicklung großformatiger liturgischer Bücher im späten Mittelalter und die daran anknüpfenden Gedanken zur Zweckbestimmung großer Formate führen erste Beobachtungen und Überlegungen fort, die bereits von Peter Wagner zu Beginn des 20. Jahrhunderts formuliert worden waren: »[...] so erfaßte schon im 13. Jahrhundert die Notenschreiber das Bestreben, das Format der Bücher und die Form der Noten so zu vergrößern, daß möglichst viele Sänger aus einem einzigen Buche ablesen konnten. Wir treffen seither große Bücher an, die allmählich bis zum Folioformat auswachsen, ja darüber noch hinausgehen [...] Die großen Chorbücher sind uns in zahlreichen Exemplaren seit dem Ende des Mittelalters erhalten«.2 Später stellten Margareta Melnicki und Bruno Stäblein für die Gradualien und zumal für das 15. Jahrhundert fest: »Im 15. Jh. überwiegen bei den Gradualien die nicht selten reich illuminierten Riesenformate, deren prächtige Slgn. in manchen Museen (Florenz San Marco, Bologna Museo Civico, Siena Capella Piccolomini im Dom, Prag Landesmuseum u. a.) zu bewundern sind. Sie waren dazu bestimmt, auf ein erhöhtes Pult gestellt, von einer Mehrzahl von Sängern eingesehen zu werden (analog den Codices mit mehrst. Musik) [...]«.3 Als Beispiele für großformatige liturgische Bücher des 14. Jahrhunderts aus dem deutschen Sprachbereich
1 2 3
März/Welker (2007). Peter Wagner: Neumenkunde. Paläographie des liturgischen Gesanges. Leipzig 1912 (Einführung in die gregorianischen Melodien. Zweiter Teil: Neumenkunde), S. 341. Margareta Melnicki, Bruno Stäblein: Graduale (Buch). In: Die MGG 5 (1956), Sp. 622–632, hier Sp. 628.
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Lorenz Welker
zogen wir damals (1) das Graduale aus dem Dominikanerinnenstift Katharinenthal im schweizerischen Thurgau (Frauenfeld, Museum des Kantons Thurgau, LM 26117; entstanden um 1312; Format 47 × 34,5 cm) und (2) das aus dem Zisterzienserinnenkloster Wonnental im Breisgau (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. U.H.1; entstanden 1318–1325; Format 46,5 × 36 cm) heran.4 Die Liste kann um weitere Beispiele ergänzt werden: (3) ein reich mit Bildinitialen geschmücktes Graduale wohl aus einem oberrheinischen Dominikanerinnenkloster (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 21897; entstanden um 1300; Format 47 × 34,5 cm; einspaltig; Quadratnotation);5 (4) ein Antiphonar aus dem Prämonstratenserkloster Schäftlarn (München, BSB, Clm 17004; gemäß Schreibereintrag auf Seite 808 im Jahr 1331 unter Propst Konrad Sachsenhauser geschrieben; Format 46 × 32,5 cm; einspaltig, Quadratnotation; außer dem Fleuronnée der Initialen und zahlreichen Cadellen keinerlei Buchschmuck);6 (5) ein weiteres Antiphonar aus dem Prämonstratenserkloster Schäftlarn (München, BSB, Clm 17003; entstanden wohl um 1340 im Skriptorium und in der Hofwerkstatt Kaiser Ludwigs des Bayern; Format 46,5 × 35 cm; einspaltig, Quadratnotation; einst prachtvolle, nun stark mitgenommene Bildinitialen auf dem ersten Blatt recto und verso – Blatt 1r zeigt das Kaiserpaar, sonst schmucklos).7 Ein etwas größeres Format bieten (6) Fragmente eines Antiphonars aus dem Dominikanerinnenkloster Heilig Kreuz (u. a. New York, Pierpont Morgan Library, M 870/1–3; entstanden um 1310; Format ca. 49 × 37 cm; einspaltig, Quadratnotation)8 sowie das etwas ältere Graduale aus dem Zisterzienserinnenkloster Seligenthal bei Landshut (London, British Library, Add. ms. 16950; entstanden um 1270/1277; 51 × 36 cm; einspaltig, deutsche gotische Choralnotation)9. Alle bislang herangezogenen Beispiele für großformatige liturgische Handschriften stammen aus dem Süden. Aus der Mark Brandenburg, also jener Landschaft, in der nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand auch J entstand, sind nur wenige liturgische Handschriften des 14. Jahrhunderts erhalten; dazu gehört (7) ein Codex aus dem Prämonstratenserkloster Havelberg, der ein Psalterium, ein Graduale und ein Antiphonar enthält (Berlin, SBB-PK, Ms. theol. lat. fol. 319; entstanden wohl 14. Jahrhundert, zweite Hälfte; Format 36 × 25 cm; zweispaltig; deutsche gotische Choralschrift auf Linien no-
4
5 6
7 8
9
Die beiden Gradualien sind beschrieben in Liselotte E. Saurma-Jeltsch: Das stilistische Umfeld der Miniaturen. In: Codex Manesse. Katalog zur Ausstellung, hg. von Elmar Mittler und Wilfried Werner. Heidelberg 1988, S. 302–349, hier S. 343–344 (J 16) und S. 346–347 (J 18). Saurma-Jeltsch (Anm. 4), S. 335f. (J 10). Béatrice Hernad: Die gotischen Handschriften deutscher Herkunft in der Bayerischen Staatsbibliothek: Teil 1. Vom späten 13. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts. Wiesbaden 2000, S. 63–64 (Nr. 100). Hernad (Anm. 6), S. 60–62, sowie Robert Suckale: Die Hofkunst Kaiser Ludwigs des Bayern. München 1993, S. 41–45. Florentine Mütherich: Regensburger Buchmalerei. München 1987 (Bayerische Staatsbibliothek, Austellungskataloge 39), S. 88–89 (Nr. 71) sowie Tafel 142. Hier auch die Kurzbeschreibung weiterer Blätter der Handschrift, die sich in folgenden Bibliotheken befinden: Haversham/Rhode Island, Slg. Philippe Verdier; Cambridge (Mass.), Houghton Library der Harvard University; Boston, Privatsammlung; Baltimore, Walters Art Gallery; Stockholm, Nationalmuseum. Mütherich (Anm. 8), S. 85, Nr. 62 und Tafel 134–135; entgegen den Angaben des Katalogs handelt es sich hier nicht um Quadratnotation.
Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ im Kontext großformatiger liturgischer Bücher
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tiert; Ausführung der Initialen nicht völlig kunstlos, aber deutlich schlichter als die der Liederhandschrift).10 Der Havelberger Codex bietet freilich ein deutlich kleineres Format als die zuvor genannten Handschriften. Mithin zeigt sich, dass auch liturgische Großformate im 14. Jahrhundert die durchschnittlichen Ausmaße von ca. 46–47 × 32 cm nur ausnahmsweise, und wenn, dann unwesentlich überschritten. Liturgische Bücher mit deutlich größeren Formaten können wir erst für das 15. Jahrhundert – und zumal für das späte 15. Jahrhundert – nachweisen: Ins Jahr 1491 ist etwa (8) das Antiphonar des Dominikanerinnenklosters Heilig Kreuz zu Regensburg datiert, das mit einem Format von 57 × 39 cm dem der ›Jenaer Liederhandschrift‹ in etwa gleichkommt;11 schon ins 16. Jahrhundert (1511/1512) gehört (9) das Graduale für Kloster Lorch mit einem Format von 61 × 41,5 cm, das im Augsburger Benediktinerkloster St. Ulrich und Afra von Lorenz Authenrieth geschrieben und von Leonhard Wagner notiert wurde; der prachtvolle Buchschmuck wurde von Nikolaus Bertschi geschaffen (Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. mus. fol. I 65).12 Im 15. Jahrhundert finden sich zunehmend auch großformatige Codices mit mehrstimmiger Musik, die schließlich, zu Beginn des 16. Jahrhunderts, auch Ausmaße annahmen, die die der ›Jenaer Liederhandschrift‹ weit überschritten, und die zudem reich verziert wurden (so die beiden Bände aus der Werkstatt des Pierre Alamire: Brüssel, Bibliothèque Royale, Cod. 6428, mit einem Format von 73,5 × 50 cm, und Jena, ThULB, Cod. 4, mit einem Format von 78,5 × 55 cm).13 Für das erste Auftreten großformatiger Chorbücher mit mehrstimmiger Musik in Cambrai im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts hat Heinrich Besseler eine generelle Erneuerung der Kultmusik im Norden Frankreichs unter Führung Guillaume Dufays angenommen und eine Parallele zu den nunmehr in größerer Zahl anzutreffenden großformatigen liturgischen Handschriften hergestellt: »Wir besitzen seit der ersten Hälfte des 15. Jh. Choralbücher im selben Großfolioformat, oft prachtvoll ausgestattet, sowohl aus Italien wie aus dem Norden«. Für die Sammlungen mit mehrstimmiger Musik stellte er fest: »Zunächst erscheinen diese neuen Züge mit fast übertriebener Deutlichkeit, denn die Hss. Cambrai 6 und 11 weisen das bisher nirgends anzutreffende Riesenformat von rund 50 × 35 cm auf«.14 Die vorausgegangenen Beobachtungen und Überlegungen zu großformatigen liturgischen Büchern des 14. Jahrhunderts zeigen, dass J auch vor diesem Hintergrund eben nicht nur ein »großes« Buch war – das waren die Gradualien und Antiphonare mit einem Format von 46–47 × 32 cm auch –, sondern ein überdimensionales. Wenn Heinrich Besseler schon für die Chorbücher von Cambrai die Charakterisierung eines »Riesenfor-
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Valentin Rose: Verzeichnis der lateinischen Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Zweiter Band: Die Handschriften der Kurfürstlichen Bibliothek und der Kurfürstlichen Lande. Zweite Abteilung. Berlin 1903, S. 714–715. Ratisbona sacra. Das Bistum Regensburg im Mittelalter, hg. von Paul Mai. München/Zürich 1989, S. 150–151. Hans Pörnbacher: Literatur in Bayerisch Schwaben. Weißenhorn 1979 (Beiträge zur Landeskunde in Schwaben), S. 51 (Nr. 88b). Vgl. generell zu den Chorbüchern und ihren Formaten Martin Just: Chorbuch. In: 2MGG 2 (1995), Sp. 863–882. Siehe dort auch die Bemerkung zur Entwicklung der Formate liturgischer Handschriften: »Seit dem 12. Jahrhundert waren deren Format stetig angewachsen, von ca. 26 × 16 cm auf 45 × 32 cm« (Sp. 868). Heinrich Besseler: Chorbuch I. In: MGG 2 (1952), Sp. 1332–1349, hier Sp. 1341.
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mats« gewählt hatte, so trifft dies für J umso mehr zu. Und es besteht kein Grund, Bernhard Bischoffs Bemerkungen zu J einzuschränken: »Eines der stattlichsten deutschen Bücher des Mittelalters ist die 56 × 41 cm messende ›Jenaer Liederhandschrift‹ aus der Mitte des XIV. Jahrhunderts«.15 Der von Christoph März und mir unternommene Versuch, die beeindruckende Größe der Jenaer Handschrift in einen Kontext vergleichbarer Bücher zu stellen, sie damit gewissermaßen zu relativieren und sie unter diesem Aspekt in einer Reihe mit anderen »Gebrauchshandschriften« zu sehen, schlägt also fehl. Ist das oben dargestellte liturgische Großformat des 14. Jahrhunderts schon etwa 10 cm größer als ein weitaus häufiger anzutreffendes »Normalformat«, unter das auch die Havelberger Handschrift fällt, so sprengt die ›Jenaer Liederhandschrift‹ mit einer Buchhöhe von 56 cm auch diesen Rahmen – sie ist nochmal 9–10 cm höher und breiter als die großen liturgischen Bücher ihrer Zeit und steht darin für sich. Und dies gilt natürlich erst recht, wenn man J den nur geringfügig älteren Sammlungen zum französischen und provenzalischen Minnesang sowie den wenigen aus dem 14. Jahrhundert erhaltenen notierten Zeugen zum deutschen Lied gegenüberstellt, die allesamt ein Format von etwa 31 × 23 cm nicht oder nur unwesentlich überschreiten.16 Der unter einer vorläufigen Arbeitshypothese unternommene Versuch, das beeindruckende Format einer spezifischen Vortragsoder Ausbildungssituation zuzuweisen, kann mithin die besondere Präsentationsform von Wort und Weise in J nicht hinreichend erklären, vielmehr fordert der Vergleich mit den zeitgenössischen liturgischen Handschriften zum Weiterdenken, zur Formulierung weiterer und neuer Hypothesen auf. Bevor ich aber erneut nach der Funktion des Codex frage, möchte ich auf weitere Aspekte der Aufzeichnung eingehen. Eine erste Durchsicht liturgischer Bücher des 14. Jahrhunderts aus dem deutschen Sprachraum zeigt, dass für die kleineren Formate in der Regel gotische Choralschrift, für die Großformate hingegen Quadratnotation verwendet wurde. Natürlich können diese Beobachtungen nicht in jeder Hinsicht repräsentativ sein – die Erfassung sämtlicher im deutschen Sprachraum entstandenen liturgischen Handschriften unter dem Aspekt von Format und Notation bleibt ein Desiderat.17 Dennoch zeigt sich schon jetzt, dass erstens mit dem Normalfall gotischer Choralnotation für die kleineren Formate und dem der Quadratnotation für die Großformate zu rechnen ist. Die Auswahl zeigt zudem und zweitens, dass diese Beobachtungen auf eine skriptorienübergreifende, generelle Konvention der Wahl der Notenschrift schließen lassen – die ältere Auffassung, die auch von mir selbst in der Beschreibung der ›Jenaer Liederhandschrift‹ im Anschluss an Bruno Stäblein vertreten wurde,18 dass nämlich bereits aufgrund der Notation Rückschlüsse auf
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Bernhard Bischoff: Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters. Berlin 1979 (Grundlagen der Germanistik 24), S. 40. Vgl. hierzu die Tabellen zum oben genannten Aufsatz, S. 149–152. Sogar die durch ihr Format beeindruckende, mit zahlreichen, ein- und mehrstimmigen Musikstücken interpolierte Version des ›Roman de Fauvel‹, Paris, Bibliothèque nationale, fr. 146, aus dem Jahr 1316, bietet »nur« die Maße 46 × 33 cm. Eine weitere Übersicht mit Darstellung der Formatentwicklung bis zum 14. Jahrhundert, aber ebenfalls nur anhand ausgewählter Beispiele, bietet Michel Huglo: Les livres de chant liturgique. Turnhout 1988, v. a. S. 77 und S. 99. Welker (1996).
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die Ordenszugehörigkeit des jeweiligen Skriptoriums möglich seien, möchte ich vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen relativieren. Das auch im Kontext weiterer »großer« Handschriften des 14. Jahrhunderts singuläre Format von J gibt Anlass zu neuen Überlegungen zum Librorum ordo, dem Verzeichnis der Wittenberger Schlossbibliothek von 1437, und zu der in der Vergangenheit mehrfach geäußerten Hypothese, dass sich unter den Bänden, die dort mit dem Verweis »liber mangnus [...] cum notis« aufgeführt sind, auch die ›Jenaer Liederhandschrift‹ befunden habe. Burghart Wachinger vermutet nach sorgfältigen Überlegungen zum verlorenen Anfang der ›Jenaer Liederhandschrift‹ und zu den im Librorum ordo wiedergegebenen Incipits und Explicits der ersten beiden Bände, »daß hier tatsächlich die erhaltene Handschrift und ein verlorener erster Band gemeint sind«.19 Er führt dazu weiter aus: »Das Incipit der zweiten Handschrift könnte sehr wohl zu dem Leich in Walthers Ton gehören, von dem uns auf Blatt 2r der Schluß erhalten ist; das Explicit wäre als Schluß einer Strophe in Klingsors Schwarzem Ton denkbar, mit dem unsere Handschrift abbricht (für einen vollständigen Vers fehlt allerdings eine Hebung). Wenn ich recht sehe, ist das einzige Gegenargument die Graphie, die in den Zitaten des Bücherverzeichnisses stark von der in J üblichen abweicht [...]«. Die Graphie des Librorum ordo weicht tatsächlich deutlich von der der Liederhandschrift ab, ist jedoch, wie ein Blick auf das Verzeichnis zeigt, in sich so weit konsistent, dass man mit guten Gründen vermuten kann, der Schreiber des Librorum ordo habe die ihm vorliegenden Incipits und Explicits in seinen Schreibdialekt übersetzt – ein Phänomen, das ja im Spätmittelalter häufiger anzutreffen ist (man denke an die »Übersetzung« der Dichtungen Hugos von Montfort vom Vorarlberger Alemannischen ins Südbairische der Steiermark). Und falls Sigrid Krämer recht hat mit der Identifikation der Sächsischen Weltchronik im Gothaer Codex membranaceus I 90 mit der Eintragung Nr. 6 des Verzeichnisses,20 liegen hier ganz ähnliche Verhältnisse vor: Der Gothaer Codex bietet in elbostfälischer Schreibsprache: »Incipit liber Saxonum. We willet nu scriben von/van den sassen ... Explicit: von/van goddes bord over M.CC. vnde XXIX iare«.21 Im Verzeichnis ist hingegen zu lesen: »Wir wollen nu schriben von den Sachsen etc. Et finitur, von gotz burt, ubir MCC vnd XXIX yare«. Die dialektale Einordnung dieses Vermerks möchte ich freilich den Germanisten überlassen. Obwohl der Gothaer Codex mit einem Format von 31 × 22,5 cm zwar durchaus respektable, aber zweifellos keine exorbitanten Dimensionen aufweist, erscheint der Band im Librorum ordo als »liber mangnus«. Ein weiterer Blick auf das Verzeichnis lehrt zudem, dass von den insgesamt 31 Bänden der Wittenberger Schlossbibliothek nicht weniger als acht explizit unter der Kategorie liber mangnus aufgeführt werden (nämlich die Nummern 1, 2, 4, 5 und 6 der ersten cista, sowie die Nummern 14, 15 und 17 der secunda cista),22
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Wachinger (1981), hier S. 302f. Sigrid Krämer: Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. Ergänzungsband I: Handschriftenerbe des deutschen Mittelalters. Teil 2. Köln-Zyfflich. München 1989, S. 841. Das Buch der Welt. Kommentar und Edition zur »Sächsischen Weltchronik«, Ms. Memb. I 90 Forschungs- und Landesbibliothek Gotha, hg. von Hubert Herkommer. Luzern 2000. Die beiden Teile des Verzeichnisses beginnen jeweils mit der Nennung der »großen Bücher«, dann folgen die »Normalformate« und nur in der secunda cista daran anschließend die libelli; da in den beiden Reihen unter den »großen Büchern« jeweils ein Band – Nr. 3 und Nr. 16 – ohne
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fünf werden als libellus bezeichnet (die Nummern 27, 28, 29, 30 und 31 der secunda cista) und die restlichen schlicht als liber. Der Verfasser des Verzeichnisses hat für die Beschreibung des Bestands offensichtlich drei verschiedene Formatkategorien verwendet; ein Hinweis auf außergewöhnliche Größe lässt sich unter dieser Voraussetzung aus der Bezeichnung »mangnus« zunächst nicht ohne weiteres ableiten. Da der Verfasser des Librorum ordo aber keine weiteren expliziten Differenzierungen innerhalb der möglicherweise sehr weitgefassten Kategorie liber mangnus vorsah und da er offensichtlich innerhalb der beiden Teile des Bücherverzeichnisses durchaus die Buchformate in der jeweiligen Anordnung berücksichtigte, erscheint es plausibel, wenn er unter diesen Voraussetzungen die ›Jenaer Liederhandschrift‹ mit ihren auch für die Verhältnisse des frühen 15. Jahrhunderts noch sehr großen Ausmaßen an den Anfang der Liste gesetzt hätte. In jedem Fall und unabhängig von der Frage nach der Präsenz von J in der Wittenberger Schlossbibliothek des Jahres 1437 gibt das Verzeichnis Zeugnis von Umfang und Zusammensetzung einer mitteldeutschen herzöglichen Bibliothek zu Beginn des 15. Jahrhunderts, von der ausschließlichen Präsenz deutscher Texte und vor allem von der erstaunlichen Zahl von fünf notierten Bänden, von denen eben drei zudem als »libri magni« gekennzeichnet wurden.23 Das lässt auf eine bis ins Spätmittelalter fortdauernde Relevanz des gesungenen Vortrags deutscher Lieder an einem fürstlichen Hof schließen; insofern stellt das Bücherverzeichnis ein wichtiges und notwendiges Korrektiv zum weitgehenden Fehlen notierter Quellen in der Überlieferung dar. Und die im Librorum ordo wiedergegebenen Incipits und Explicits bestätigen die Vorherrschaft lehrhafter und geistlicher Inhalte dieser Lieder.
Entstehung und Zweckbestimmung von J im politischen Kontext Mitteldeutschlands im 14. Jahrhundert Doch selbst für den Fall, dass sich J zum Zeitpunkt der Anlage des Bücherverzeichnisses in Wittenberg befunden haben sollte, ist ihre Entstehung im näheren Umkreis von Stadt und Schloss, ja überhaupt im Territorium der askanischen Herzöge von Sachsen-Wittenberg, die hier bis 1422 residierten, nach den Untersuchungen von Thomas Klein aufgrund des Schreibdialekts unwahrscheinlich.24 Er nimmt vielmehr an, dass ein »westelbisches Skriptorium« für die Anfertigung des Codex verantwortlich gewesen sei und sieht die »mutmaßlichen brandenburgischen Vorstufen« in der Altmark, oder spezifischer, »in den Residenzen Stendal oder Salzwedel oder in den askanischen Hausklöstern Lehnin oder Chorin«. Dass J freilich von Herzog Rudolf von Sachsen-Wittenberg (um 1284–1356), der während der mutmaßlichen Entstehungszeit von J, dem zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts, in Wittenberg residierte, in einem westelbischen brandenburgischen Skriptorium »bestellt« worden wäre, halte ich angesichts der damaligen politischen Verhältnisse zumindest für problematisch. Denn die Mark Brandenburg gehörte damals nicht mehr
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den Vermerk »mangnus« erscheint, halte ich es für denkbar, dass auch diese beiden Bände zur Kategorie der »großen Bücher« gehörten; die Gesamtzahl der libri mangni würde sich dann auf zehn erhöhen. Aber möglicherweise waren vier gemeint, denn auch die Nummer 3 trägt den Zusatz »cum notis«. Klein (1987), hier insbesondere S. 108–110.
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den Askaniern – die brandenburgischen Askanier waren 1320 ausgestorben –, sondern seit der Belehnung seines ältesten Sohns Ludwig durch Ludwig den Bayern auf dem Reichstag in Nürnberg im April des Jahres 1323 waren dort die Wittelsbacher an der Macht.25 Das Verhältnis von Herzog Rudolf zum König und zum jungen Markgrafen war zwiespältig. Nach dem Tod des letzten brandenburgischen Markgrafen aus dem Geschlecht der Askanier hatte Rudolf noch selbst die Mark Brandenburg beansprucht, doch stellte er sich nach seinem Misserfolg nicht dauerhaft gegen den Kaiser und dessen Sohn. Vielmehr erwies er sich gerade im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts als treuer Untertan und als Vermittler bei Streitigkeiten.26 In den Jahren 1330 bis 1333 war der noch nicht volljährige Markgraf nicht vor Ort in der Mark Brandenburg, sondern hielt sich am nunmehr kaiserlichen Hof auf. Die Geschäfte vor Ort wurden durch Hauptleute verrichtet, die von den beiden Vormündern Berthold von Henneberg und Friedrich von Meißen eingesetzt wurden; überdies hatte 1332 der Kaiser selbst Graf Günther XXI. von Schwarzburg zum Pfleger des Markgrafen und zum Hauptmann und Verweser der Mark eingesetzt. Aber auch Herzog Rudolf, der in diesen Jahren ganz auf der Seite der Wittelsbacher stand, übernahm vereinzelt die Regelung von Angelegenheiten in der Mark Brandenburg.27 Im Sommer 1333 kehrte der nunmehr mündige Markgraf in die Mark Brandenburg zurück, wo er sich mit der entschiedenen Gegnerschaft Erzbischof Ottos von Magdeburg konfrontiert sah. Das ist für die Entstehungsgeschichte von J insofern von Belang, als die westelbischen Gebiete der Altmark sowohl vom Erzbischof als auch vom Markgrafen beansprucht wurden. Da Herzog Rudolf von Sachsen-Wittenberg aber nunmehr ganz auf Seiten der Wittelsbacher stand, konnte der Erzbischof nicht auf dessen Unterstützung hoffen. Schließlich kam es – wieder durch Vermittlung Rudolfs – zur Einigung; am 28. Juni 1336 wurde in Wittenberg eine Vereinbarung getroffen, in der der Erzbischof dem Markgrafen von Brandenburg die westelbischen Gebiete gegen die Zahlung von 6000 Mark abtrat.28 Die komplexen politischen Verhältnisse im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts zeigen, dass sich für die Entstehung und Frühgeschichte der ›Jenaer Liederhandschrift‹, wenn man mit Thomas Klein an der Provenienz aus einem westelbischen brandenburgischen Skriptorium festhalten will, nahezu von Jahr zu Jahr andere Voraussetzungen ergeben. Die ohnehin schon komplizierte Situation wird durch die Berücksichtigung der mit J verwandten Fragmente in Gotha, Weimar und Sondershausen,29 die wohl zu einer Epenhandschrift gehörten, nicht einfacher.
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Vgl. hierzu und zum folgenden Johannes Schultze: Die Mark Brandenburg. Zweiter Band: Die Mark unter der Herrschaft der Wittelsbacher und Luxenburger (1319–1415). Berlin 1961. Zur Verbesserung des Verhältnisses zwischen Rudolf von Sachsen-Wittenberg und dem Markgrafen von Brandenburg trug etwa, wie Schultze darlegt, der 1324 in Berlin geschlossene Friedensvertrag bei; vgl. Schultze (Anm. 25), S. 39. Schultze (Anm. 25), S. 49. Schultze (Anm. 25), S. 54–55. Vgl. hierzu Schiewer (1988) sowie Gesa Bonath und Helmut Lomnitzer: Verzeichnis der Fragment-Überlieferung von Wolframs ›Parzival‹. In: Studien zu Wolfram von Eschenbach. Festschrift für Werner Schröder, hg. von Kurt Gärtner und Joachim Heinzle. Tübingen 1989, S. 87–149, hier S. 98–100; ferner den Anhang zu diesem Band.
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Die Fragmente weisen nach dem Urteil von Karin Schneider und Hans-Jochen Schiewer in jedem Fall Werkstattgemeinschaft mit der ›Jenaer Liederhandschrift‹ auf.30 Den Fragmenten ist weiterhin die Herkunft aus Archivalien gemeinsam, für die sie als Einband benutzt wurden. Die Archivalien stammen allesamt aus dem Amt Wassenburg/ Wachsenburg oder dem benachbarten Arnstadt; gebunden wurden sie zwischen 1540 und 1543. Schiewer führt zu diesem Befund aus: »Arnstadt und Burg und Amt Wachsenburg gehörten seit der Mitte des 13. Jahrhunderts zum Herrschaftsbereich der Wettiner« und weiter »damit rückt die eng verwandte ›Jenaer Liederhandschrift‹ wieder in die Nähe der Wettiner«.31 Nur beiläufig erwähnt er in einer Fußnote, dass Arnstadt und die Wachsenburg bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts an die Grafen von Schwarzburg verkauft worden waren und erst 1366 wieder zurückgekauft werden konnten.32 In der Zwischenzeit, und das ist ja die Periode, die uns im Blick auf den Entstehungskontext der ›Jenaer Liederhandschrift‹ am meisten interessiert, waren Arnstadt und die Wachsenburg aber im Besitz der Grafen von Schwarzburg, von denen insbesondere Graf Günther XXI. von Schwarzburg interessiert, der am 30. Januar 1349 vom Erzbischof von Mainz, den Pfalzgrafen Rudolf und Ruprecht, dem Markgrafen Ludwig von Brandenburg und Herzog Erich von Sachsen-Lauenburg zum deutschen König gewählt wurde, nachdem Edward III. von England und Friedrich II. von Meißen der wittelsbachischen Partei eine Absage erteilt hatten. Allerdings konnte sich Günther von Schwarzburg nicht lange auf dem Thron halten; bereits am 26. Mai 1349 verzichtete er gegen angemessene finanzielle Entschädigung zugunsten Karls IV. auf die Königswürde. Nach schwerer Krankheit starb er bereits am 14. Juni 1349 in Frankfurt am Main.33 Aber schon vor der letztlich erfolglosen Wahl zum deutschen König war er den Wittelsbachern eng verbunden. So hielt sich König Ludwig, der nachmalige Kaiser, unmittelbar nach der Belehnung seines ältesten Sohns mit der Mark Brandenburg im Jahr 1323 mehrfach und zum Teil für längere Zeit in Arnstadt auf.34 Der neue Markgraf war zum Zeitpunkt der Belehnung erst acht Jahre alt, war deshalb noch unter Vormundschaft – als Vormund wurde damals Graf Berthold von Henneberg bestellt. Im Alter von neun Jahren heiratete Markgraf Ludwig Margarete von Dänemark, bereiste in Begleitung seines Vormunds die ganze Mark Brandenburg und schloss Verträge. Im Jahr 1329 oder 1330, also mit 14 oder 15 Jahren, war es Markgraf Ludwig leid, weiter unter Vormundschaft zu stehen, deshalb erklärte er sich selbst und gegen den Willen seines Vaters für volljährig. Kaiser Ludwig der Bayer konnte und wollte das nicht zulassen und beorderte den Sohn nach Donauwörth; wie bereits oben vermerkt, blieb der junge Markgraf bis zum Mai 1333, dem Eintritt seiner Volljährigkeit, am kaiserlichen Hof. Bereits 1332 hatte der Kaiser aber Graf Günther von Schwarzburg zum Pfleger seines Sohnes und zum Hauptmann und Verweser der Mark Brandenburg bestellt.
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Schiewer (1988), S. 229. Schiewer (1988), S. 229–230. Schiewer (1988), S. 230 Anm. 30. Zur Wahl Günthers von Schwarzburg zum König vgl. Hans Patze und Walter Schlesinger: Geschichte Thüringens. Zweiter Band, 1. Teil: Hohes und spätes Mittelalter. Köln/Wien 1974, S. 88–94. Vgl. Schultze (Anm. 25), S. 27–31.
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Wenn wir annehmen, dass sich die nunmehr nur noch fragmentarisch erhaltene Epenhandschrift bereits in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Arnstadt oder auf der Wachsenburg befand, dann muss Günther von Schwarzburg als ihr Vorbesitzer in Betracht kommen.35 Wenn wir weiterhin mit Karin Schneider und Hans-Jochen Schiewer annehmen, dass die Epenhandschrift demselben Skriptorium entstammt wie J, und wenn wir mit Thomas Klein dieses Skriptorium in der Altmark vermuten, dann liegt es meines Erachtens auf der Hand, dass Günther von Schwarzburg die Epenhandschrift entweder in der Zeit seiner Tätigkeit für den Markgrafen und den Kaiser in der Mark Brandenburg bestellt oder sie für seine Leistungen als Geschenk erhalten hat.36 Von den Überlegungen zu den recht komplizierten politischen Verhältnissen in Mitteldeutschland im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts und den Perspektiven, die sich aus den mutmaßlichen Aufbewahrungsorten und den möglichen Vorbesitzern von J und der Epenhandschrift einerseits – nämlich Wittenberg, Arnstadt, Wachsenburg – und dem für die Herstellung der Handschriften verantwortlichen Skriptorium andererseits ergeben, das sich entweder in der Altmark befand oder zumindest niederdeutsche Schreiber beschäftigte,37 komme ich zurück zum Verwendungszweck der ›Jenaer Liederhandschrift‹. Wie bereits eingangs dargelegt, lässt sich das ungewöhnliche Format aufgrund aufführungspraktischer Erwägungen nicht hinreichend erklären; selbst für den Fall, dass ein Vortrag der in der Handschrift enthaltenen Sprüche durch eine Gruppe von Sängern vorgesehen war, hätte, wie der Blick auf zeitgenössische liturgische Handschriften zeigt, ein deutlich kleineres Format genügt, ganz abgesehen davon, dass es sonst keinerlei Hinweise auf eine solche Praxis im 14. Jahrhundert gibt. Weiterhin ist in Rechnung zu stellen, dass J ja, abgesehen von seiner Größe, keine heraus stechenden Merkmale aufweist, die ihr den Charakter einer repräsentativen Prachthandschrift geben würden – so fehlen etwa Bildinitialen oder sonstige künstlerische Zusätze, wie sie in den großformatigen liturgischen Handschriften häufig anzutreffen sind. Freilich ist es nicht ausgeschlossen, dass solche Verzierungen auf den heute fehlenden Blättern einmal vorhanden waren – das Beispiel des Andechser Codex München, BSB, Clm 17003 zeigt, dass sich der bildliche Schmuck auf das erste Blatt einer ansonsten eher schlicht ausgeführten Handschrift beschränken konnte. Und wie Christoph März bereits festgestellt hat, erweckt J den Anschein, als sei »eine kleinformatigere Handschrift stark vergrößert worden«38. Der Aufwand, eine solche Handschrift herzustellen, hat sich also auf die Bereitstellung des teuren Pergaments und die sorgfältige Kopie einer wohl kleinformatigen Vorlage in großer Schrift und in großen Notenzeichen beschränkt. Eine inhaltliche Neuorientierung, eine der Herstellung der Handschrift vorausgehende und womöglich weit reichende Sammeltätigkeit und Redaktion der aufzunehmenden Texte und Melodien erscheint entbehrlich gewesen zu sein – das lässt zumindest das Vorhan-
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Zum Schicksal der Epenhandschrift und ihren Beziehungen zu den Grafen von Schwarzburg vgl. jetzt insbesondere den Beitrag von Christoph Fasbender in diesem Band. Wobei hier natürlich eine weitere Präzisierung der Datierung wünschenswert wäre; Bonath und Lomnitzer (Anm. 29) nennen den Anfang des 14. Jahrhunderts als Entstehungszeitraum. Vgl. zum Schreibdialekt der Epenhandschrift Hartmut Beckers: Sprachliche Beobachtungen zu einigen ›Parzival‹-Bruchstücken niederdeutscher Schreiber. In: Wolfram-Studien 12 (1992), S. 67–92, hier S. 75–79. März/Welker (2007), S. 131.
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densein ähnlicher Sammlungen vermuten. Immerhin führte dieser begrenzte Aufwand zu einem damals und heute weithin sichtbaren Ergebnis, und das führt zur Frage, warum eine notierte Sammlung von Sprüchen derart zur Schau gestellt werden sollte, wenn schon nicht zum Zweck einer Aufführung. Abermals erweist sich der Blick auf die liturgischen Handschriften in großem und größtem Format als lohnend. Bereits für das nun mehrfach herangezogene Andechser Antiphonar hat Robert Suckale vermutet, dass es in einem kaiserlichen Skriptorium geschrieben und in der kaiserlichen Hofwerkstatt ausgestattet wurde, um dann dem Andechser Stiftspropst Konrad Sachsenhauser als Geschenk überreicht werden zu können.39 Auch die prachtvoll ausgestatteten liturgischen Handschriften im Riesenformat, die um die Wende zum 16. Jahrhundert in beträchtlicher Zahl hergestellt wurden, wurden oft als Geschenke etwa bei fürstlichen Hochzeiten verwendet.40 Vor diesem Hintergrund konnte die prachtvolle Ausstattung in jedem Fall den Reichtum, die Stellung und die Macht des Schenkenden demonstrieren.41 Auch für die ›Jenaer Liederhandschrift‹, die ja in jedem Fall einen Transfer über die Dialektgrenze vom niederdeutschen zum mitteldeutschen Sprachraum dokumentiert, halte ich die Herstellung zum Zweck einer repräsentativen Schenkung für denkbar. Immerhin zeigt die Handschrift weithin sichtbar literarische und musikalische Interessen, mithin Bildung, und überdies in der Wahl der Texte auch einen moralischen Anspruch.42 Als Schenkende kämen nach den vorausgegangenen Überlegungen sowohl der Markgraf von Brandenburg als auch der König bzw. der Kaiser selbst in Frage, als Empfänger sind Rudolf von Sachsen-Wittenberg, aber auch Günther von Schwarzburg denkbar. Dass Markgraf Ludwig unmittelbar nach seinem Regierungsantritt im Jahr 1333 als eine der ersten Amtshandlungen eine neue Kanzlei bildete,43 belegt sein Interesse an schriftlichen Zeugnissen – und seit 1333 stand ihm der in Bologna ausgebildete und als Verfasser der ›Glosse zum Sachsenspiegel Landrecht‹ und des ›Richtsteig Landrechts‹ bekannt gewordene Johannes von Buch als secretarius zur Seite.44 Die hier vorgelegten Beobachtungen zur ›Jenaer Liederhandschrift‹ im Vergleich mit und im Kontext von großformatigen liturgischen Handschriften ihrer Zeit zeigen, dass das Format von J das anderer großer, notierter Bücher aus dieser Zeit weit übertrifft. Die Beobachtungen führen zum Schluss, dass ein Liederbuch von diesen Ausmaßen nicht oder
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Suckale (Anm. 7), S. 41. Vgl. aber dagegen Hernad (Anm. 6), S. 61f. Besseler (Anm. 14), Sp. 1342f. Vgl. zum höfischen Geschenk jetzt Jan Hirschbiegel: Étrennes. Untersuchungen zum höfischen Geschenkverkehr im spätmittelalterlichen Frankreich zur Zeit König Karls VI. (1380–1422). München 2003 (Pariser Historische Studien Bd. 60), insbesondere S. 9–21 (Einleitung: Allgemeines zur Praxis des Schenkens) und S. 100–110 (zum Buchgeschenk). Kritisch und differenziert zum Bildungsanspruch des Adels Karl-Heinz Spiess: Zum Gebrauch von Literatur im spätmittelalterlichen Adel. In: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter, hg. von Ingrid Kasten, Werner Paravicini und René Pérennec. Sigmaringen 1998, S. 85–101. Vgl. Schultze (Anm. 25), S. 57f.; Schultze bemerkt zudem, dass die neue Kanzlei »aus oberund mitteldeutschen Kräften gebildet« wurde. Schultze (Anm. 25) sowie Ingeborg Buchholz-Johanek: Johannes von Buch, in: 2VL 4 (1983), Sp. 551–559.
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zumindest nicht nur im Rahmen der höfischen »Musikpflege« gesehen werden kann.45 Der Ausdruck des Besonderen, zu dem ja schon die Integration der notierten Melodien gehört hatte, erfuhr noch eine Steigerung durch die Wahl eines überdimensionalen Formats. Deshalb sehe ich die Zweckbestimmung von J nicht primär in Überlieferung und Vortrag der enthaltenen Texte und Melodien, sondern vielmehr in der Präsentation eines besonderen Buchs und womöglich im Rahmen einer Schenkung.46
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Noch im späten Mittelalter wurde anstelle eines einheitlichen Musikbegriffs mit jeweils anderen Termini auf das Singen einerseits und das Spielen von Instrumenten andererseits verwiesen, das zeigt im Kontext von J der Meißner, wenn er einerseits den »sanc« preist, andererseits das »gedone ane wort« als toten »galm« verwirft (X, 1; vgl. Objartel [1977]). In diesem Zusammenhang sollte zudem nicht vergessen werden, dass auch den Aufführungen von Sängern und Spielleuten, am Hof, abgesehen vom akustischen Erlebnis, ein sorgfältig inszenierter visueller Aspekt ihres Auftritts zukam. Vgl. dazu Lorenz Welker: Die Musik des Mittelalters als Gegenstand einer Kulturwissenschaft. In: Das Mittelalter 5 (2000), S. 101–121.
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J und der Norden. Anmerkungen zu einigen kodikologischen und paläographischen Indizien
Vorbemerkung Um die ›Jenaer Liederhandschrift‹ ranken sich seit Generationen die verschiedensten Forschungsthesen. Vor allem die Fragen nach den Vorlagen, der lokalen Verortung, dem Auftraggeber, der Funktion und dem Skriptorium standen immer wieder im Mittelpunkt des Interesses. Was eine Verortung im Norden betrifft, kam vor allem der mittlerweile über 80 Jahre alten Sprachuntersuchung von Karl Bartsch grundlegende Bedeutung zu. Er spricht dezidiert von einer Entstehung auf niederdeutschem Boden: »So dürfte es sicher sein, dass wir es in J weder mit einem ostmd., noch mit einem westmd. Werke, sondern in ihm und seinen Verwandten mit Vertretern des auf ndd. Boden erwachsenen Schriftmitteldeutschen zu tun haben«1. Die Vermutungen werden durch die neueren Forschungsergebnisse von Luise Czajkowski (s. den Beitrag im vorliegenden Band) bestätigt. Für meine Überlegungen war neben dieser sprachhistorischen und sprachgeographischen Feststellung eine Beobachtung von Renate Kroos von Bedeutung: Ihr waren bei der Suche nach den Auftraggebern und den frühen Besitzern der um 1270/80 entstandenen Gothaer Bilderhandschrift der ›Sächsischen Weltchronik‹ verschiedene Dinge aufgefallen, die an J erinnern: So das in der Reimvorrede mehr oder weniger konsequent vermitteldeutschte Niederdeutsch und vor allem der älteste Nachweisort dieser Prachthandschrift: Die Schlossbibliothek in Wittenberg.2 Kroos versuchte von Wittenberg aus für diesen Kodex der ›Sächsischen
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Bartsch (1923), S. 92. Vgl. mit detailliertem Nachweis der Entstehungs- und Besitzgeschichte den Faksimilekommentarband: Das Buch der Welt. Kommentar und Edition zur Sächsischen Weltchronik. Ms. Memb. I 90, Forschungs- und Landesbibliothek Gotha, hg. von Hubert Herkommer. Luzern 2000 und darin für unseren Zusammenhang besonders wichtig Renate Kroos: Die Miniaturen, ebd., S. 47–117 sowie Jürgen Wolf: Die sächsische Weltchronik im Spiegel ihrer Handschriften. Überlieferung, Textentwicklung, Rezeption. München 1997 (MMS 75), S. 115–118 und 298–300. Im Bibliothekskatalog der kurfürstlichen Bibliothek zu Wittenberg aus dem Jahr 1437 ist folgendes Buch verzeichnet: 6. Item alius liber mangnus, qui incipit, ›Wir wollen nu schriben von den Sachsen‹ etc., et finitur ›Von gots burt ubir MCC und XXIX yare‹ (zitiert nach Lippert [1895], S. 137). Ein Incipit und Explicit in vergleichbarer Form kennt nur die Gothaer ›Sächsische Weltchronik‹. Auch das Format, im Katalog von 1437 mit liber mangnus angegeben, passt zum Gothaer Foliant. Im Wittenberger Katalog von 1536 (Jena, ThULB, Ms. App. 22 B [9]) findet sich auf fol. 10r Z. 19–20 ein Eintrag, der ebenfalls auf die Gothaer ›Sächsische Weltchronik‹ hindeutet: Liber chronicorum ab initio mundi cum figuris. Nach der Wittenberger Kapitulation 1547 wurde die Bibliothek aufgelöst und der größte Teil des Bestandes nach Jena gebracht. Herzog Ernst der Fromme kam im Jahr 1640 durch Erbteilung in den Besitz der Gothaischen Lande und damit auch in den Besitz zahlreicher Handschriften aus altem ernesti-
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Weltchronik‹ die Besitz- und Entstehungsgeschichte rückwärts zu rekonstruieren. Und erneut schien vieles von der Gothaer ›Sächsischen Weltchronik‹ auch auf J zu passen. So vermutete Kroos die Auftraggeber des prachtvollen Gothaer Kodex im engen Geflecht von Welfen und Askaniern sowie von Kloster und Hof. Wegen einiger dezidiert weiblicher Passagen dachte sie vor allem an die Töchter Ottos von Braunschweig und Mathildes von Brandenburg, d. h. an die Schwestern Mathilde/Mechthild oder Helena von Sachsen,3 als Adressatinnen, wobei sie die mit Albrecht I. von Sachsen-Anhalt vermählte Helena favorisierte. Falls die Überlegungen stimmen, dürfte das kostbare Buch dann bei den Anhaltinern Generation für Generation weitervererbt worden sein. Und da stößt man bald auf Helenas Enkel, den Sachsen-Wittenberger Kurfürsten Rudolf I. (vgl. Abb. 3). Dieser Rudolf war von Erdmute Pickerodt-Uthleb mit guten Gründen als Auftraggeber der ›Jenaer Liederhandschrift‹ ins Spiel gebracht worden.4 Falls ein bzw. zwei Jahrhunderte später tatsächlich alle Fäden in der Wittenberger Schlossbibliothek zusammenlaufen, lägen die Gothaer ›Sächsische Weltchronik‹ und die ›Jenaer Liederhandschrift‹ dort einträchtig nebeneinander. Nach der ergebnislosen Durchsicht von zahlreichen parallelen Handschriften und Urkunden aus dem relevanten Umfeld sowie vergeblichen Versuchen, die Wege der Handschrift im 15. und 16. Jahrhundert schlüssig zu rekonstruieren, lassen sich für eine solche These Indizien von unterschiedlicher Plausibilität beibringen. Es scheint deshalb geboten, sich auf solche hilfswissenschaftlichen Details zu konzentrieren, die es erlauben, das Terrain für eine chronologische, geographische und soziologische Zuordnung einzugrenzen. Abschließend soll versucht werden, aus den Indizien ein Entstehungs- und Tradierungsszenario zu konstruieren.
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nischem Familienbesitz. Seine 1647 auf Schloss Friedenstein in Gotha eingerichtete Bibliothek wurde mit diesen Beständen aus der Bibliothek Friedrichs des Weisen und seiner Nachfolger gegründet. Unter den Codices befand sich vermutlich die ehemals Wittenberger Gothaer ›Sächsische Weltchronik‹. Von den Wittenberger Büchern des 15. Jahrhunderts ist allerdings kaum etwas in ernestinischem Besitz nachzuweisen. Zur Klärung dieses Rätsels könnte eventuell eine zweite, ehemals in Wittenberg aufbewahrte ›Sächsische Weltchronik‹ beitragen. Der Wittenberger Bibliothekskatalog verzeichnet unter Nr. 16. Item alius liber, qui incipit ›Nu vernemit alle gemeyne‹ etc. et finitur ›Disser hern orloug und ere‹ etc., et est Cronica. Eine andere Hand setzt zu diesem Eintrag Mitte des 15. Jahrhunderts hinzu Kristanus Kune dixit hunc librum quondam domine ducisse obtulisse, dumodo fuit schosserus in Wittinberg (Lippert, S. 138, Anm. 4). Der Codex wurde also an eine Herzogin übergeben oder ausgeliehen (›obtulisse‹). Diese Handschrift ist heute wie die meisten anderen Wittenberger Bücher verschollen, erhalten ist aber eine um 1550/1560 (Wasserzeichen) angefertigte Abschrift (Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 44.19 Aug. 2°). Die Existenz dieser Abschrift beweist, dass zumindest einige der Wittenberger Bände Mitte des 16. Jahrhunderts noch in diesem Besitzumfeld – vielleicht im privaten fürstlichen Besitz – vorhanden bzw. zugänglich waren. Zu diesen Bänden könnte neben dieser ›Sächsischen Weltchronik‹ auch die Gothaer ›Sächsische Weltchronik‹ und die ›Jenaer Liederhandschrift‹ gehört haben. Kroos (Anm. 2), S. 95–97. Pickerodt-Uthleb (1975), S. 250–252.
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I. J und der Norden Zunächst seien die bekannten Nord-Indizien rund um J kursorisch aufgelistet: – Schreibdialekt: Md. mit nd. Elementen – Wizlav-Ergänzung: Nachtrag nach einer Vorlage aus dem Norden; verstärkt nd. Dialektmerkmale – Autor-/Werkauswahl: Lieder mit md. und nd. Schwerpunkten – Namen/Personen: Schwerpunkte im Norden – Schriftmerkmale: scheinbar kantige Textualis, wie sie für den Norden typisch ist – Einrichtung/Ausstattung: Großformat, wie es für volkssprachige Handschriften im Norden signifikant häufig(er) vorkommt – Provenienzen von J (Wittenberg?) und verwandten Handschriften. Karl Bartsch und Luise Czajkowski (in diesem Band) haben wichtige Indizien zu den Dialektmerkmalen zusammengetragen. Zur Autor- und Werkauswahl bzw. speziell zur Erweiterung des Grundstocks liegen die Erträge Gisela Kornrumpfs vor (in diesem Band). Bei der folgenden Analyse kann ich mich deshalb auf paläographische und kodikologische Merkmale konzentrieren.5 Um die Relevanz der hier zu erörternden Einzelphänomene beurteilen zu können, ist es jedoch parallel unerlässlich, überhaupt erst einmal eine Typologie paläographischer und kodikologischer Merkmale für den in Frage kommenden nord- bzw. nordmitteldeutschen Raum zu konturieren, d. h. es muss gefragt werden nach übereinstimmenden Schriftmerkmalen, nach ähnlich großen Handschriften, nach Textsorten, die eine vergleichbare mediale Sonderbehandlung erfahren haben, nach spezifischen Interessen und Interessenten. I.1 Paläographische Anmerkungen: Die J-Schriften und der Norden Von erheblicher Beweiskraft für eine Verortung im Norden scheint die kantige Schrift. Während der Arbeiten an den Marburger Repertorien hat sich herauskristallisiert, dass sich seit der Mitte des 13. Jahrhunderts bei nord- und nordmitteldeutschen Handschriften bestimmte Schrift- und Ausstattungsmerkmale ausbilden, die wir aus dem Süden nicht oder nicht in dieser Deutlichkeit kennen. Dazu gehört eine relativ gerade, kantige, manchmal geradezu steif wirkende, in ihrer Sichtwirkung an die Textura erinnernde kalligraphische Textualis. Solch eine kalligraphische Textualis glaubt man auch in der ›Jenaer Liederhandschrift‹ vor sich zu haben. Tatsächlich wird der Charakter der J-Schrift aber durch deren exorbitante Buchstabengröße erheblich verschleiert. So erweist sich die scheinbar für den Norden so typische Kantigkeit der J-Haupthand bei genauerem Hinsehen eher als ein Phänomen der Buchstabengröße. Ein genauerer Blick relativiert auch das – vermeintlich – sehr hohe, beinahe an die Textura heranreichende Schriftniveau. Tatsächlich handelt es sich allenfalls um eine Textualis gehobenen Niveaus (Abb. 1). Die paläographische Analyse bringt also für die Nordthese keine beweiskräftigen Argumente.
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Zu den kodikologischen Grunddaten vgl. die Beschreibung der Handschrift von Pensel (1986), S. 307–324.
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Die Schriftanalyse ergibt jedoch einige interessante Nebenbefunde. So ist anzumerken, dass die einzelnen Schriftmerkmale in ihren Entwicklungsgraden keinesfalls zu jung eingeschätzt werden dürfen. Alle für den J-Hauptschreiber typischen Buchstabenformen wie das durchstrichene z, das auf die Zeile hochgerückte g, wenige Buchstabenverbindungen, das noch mit beiden Füßen auf der Linie stehende k, das doppelstöckige, aber nicht wesentlich überhöhte a, das nur leicht brezelförmige, nicht überhöhte Schluss-s, das t mit einem allenfalls kurzen Abstrich am Querbalken und das vergleichsweise einfache Fleuronnée sind schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts u. a. in zahlreichen ost- und nordmitteldeutschen ›Passional‹-Handschriften6 nachweisbar, ja sogar verbreitet. Berücksichtigt man dazu noch inhaltliche Momente, wird man für die Entstehung an einen Zeitraum um 1320, aber sicher nicht später als 1330 zu denken haben. Eine Entstehung um die Jahrhundertmitte, wie in der Forschungsliteratur gelegentlich zu lesen7, ist wohl auszuschließen. Und noch etwas lässt die Schriftanalyse vermuten: Da Kanzleimerkmale wie ausgezogene Ober- und Unterlängen und kursive Elemente ebenso wie Zierstriche fehlen, scheint der Kodex, d. h. der Grundstock, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht im – unmittelbaren – Kanzleibetrieb entstanden zu sein. Die Schriftzüge und der sichere Umgang mit den deutschen Sonderbuchstaben lassen einen professionellen, auch mit der Anfertigung volkssprachiger Handschriften vertrauten Schreiber eines Klosterskriptoriums erkennen. Dazu passt der Nachweis mindestens einer oder zwei weiterer volkssprachiger Handschriften mit Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹ und dem ›Segremors‹ aus dem selben Skriptorium.8 Besonders interessant sind in diesem Kontext die von der Haupthand abweichenden Charakteristika des Wizlav-Nachtragschreibers: Seine Schrift ist um einiges entwickelter, d. h. jünger. Auffallend ähnliche Grundmerkmale bei einzelnen Graphien zeigen jedoch durchaus eine Verwandtschaft zur Haupthand. Zu denken wäre an eine gemeinsame Skriptoriumsheimat. Die bei ihm deutlich häufigeren Zierstriche und Buchstabenverbindungen lassen aber eine größere Nähe zum Kanzleibetrieb vermuten.
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Vgl. zukünftig die detaillierten Nachweise im Überlieferungsband der neuen ›Passional‹Ausgabe von Annegret Haase, Martin Schubert und Jürgen Wolf (DTM). Vgl. etwa Wachinger (1983), Sp. 512–516, hier Sp. 512. Auch Pensel (1986), S. 307 gibt »Mitte des 14. Jh.« an, erläutert aber in Klammern dazu »(um 1330)«. Discissus: Gotha, Forschungsbibl., Cod. Memb. I 130 + Gotha, Forschungsbibl., Cod. Memb. I 133 + Sondershausen, Schlossmuseum, Germ. lit. 2 (olim Hs. Br. 3) + Weimar, Hauptstaatsarchiv, Ernest. Gesamtarchiv, Reg. V, 1: Anfang 14. Jh.; vorwiegend ostmd. geprägte Schreibsprache eines nd. Schreibers; vgl. mit Nachweis der Forschungsliteratur http://cgi-host.uni-marburg. de/~mrep/ beschreibung.php?id=760 und den Anhang dieses Bandes.
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Abb. 1: Hauptschreiber (paläographische Merkmale)
Abb. 2: Wizlav-Schreiber (paläographische Merkmale)
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Und noch eine weitere Nebenbeibeobachtung könnte von Interesse sein: Wenn die ›Jenaer Liederhandschrift‹ gerade nicht in Textura geschrieben ist, lässt dies Rückschlüsse auf ihre Funktionalität und ihren Status zu. Exkurs: Textura Die Textura ist heiligen und ausgewählten normativen, in der Regel in Latein abgefassten Texten vorbehalten. Im Norden bzw. in einem niederdeutsch-mitteldeutschen Interferenzgebiet tauchen aber schon früh auch volkssprachige Textura-Handschriften in größerer Stückzahl auf, so z. B. um 1255 die ›Niederdeutsche Apokalypse‹,9 um 1300 das Dedikationsexemplar der ›Braunschweigischen Reimchronik‹10 und gegen Ende des 13. und zu Beginn des 14. Jahrhunderts eine größere Zahl offiziöser Rechtshandschriften etwa aus der Lübecker Stadtkanzlei.11 Da die Textura im lateinischen Schreibbetrieb für Werke mit fundamentaler religiöser, juristischer oder politischer Bedeutung reserviert war, darf man mit Recht vermuten, dass den genannten volkssprachigen Texten eben eine solche heilige, repräsentative oder normative Funktion zugedacht war. Da J dieses Schriftniveau gerade nicht zeigt, lässt sich daraus mit der gebotenen Zurückhaltung schließen, dass J wohl weniger als Repräsentationshandschrift denn als Gebrauchshandschrift konzipiert war. Zumindest dürfte die Repräsentation nicht der erste Zweck dieses Kodex gewesen sein, wofür auch die vielen, beinahe hemmungslos über den Kodex verteilten Ergänzungen und Nachträge sprechen würden. I.2 Kodikologische Anmerkungen: Format und Ausstattung Diesem Nebenbeibefund scheint die gewaltige Größe des Buchblocks von 56 × 41 cm vehement zu widersprechen. Und tatsächlich ist bei der Buchgröße seit dem späten 13. Jahrhundert mehr im Norden als im Süden eine Tendenz zu ausgesprochen großen, oft mit aufwendigem Fleuronnée auch prachtvoll ausgestatteten Riesenhandschriften zu erkennen. Die bedeutenden städtischen Kanzleien und mehr noch die Skriptorien im Umfeld des Deutschen Ordens, aber wohl auch der großen Adelshäuser wie der Welfen und Askanier, sind bekannt für solcherart großformatige Bücher, wobei dieser Buchtyp primär für heilige Texte wie Psalterien, das ›Passional‹ und die ›Catena aurea‹Übersetzungen sowie das Recht und die Geschichtsschreibung reserviert ist. Bei den höfischen Stoffen ist es neben Wolfram und den Wolfram-Derivaten die Lyrik, die man im Norden in solchen großformatigen Bänden sammelt.
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Berlin, SBB-PK, Ms. germ. oct. 345 (4. Viertel 13. Jh.); vgl. Karin Schneider: Gotische Schriften in deutscher Sprache. I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300. Text- und Tafelband. Wiesbaden 1987, Textband S. 264f. und Tafelband Abb. 162. Hamburg, SUB, Cod. 18 in scrin. (um 1300); vgl. Schneider (Anm. 9), Textband S. 265f. und Tafelband Abb. 163. Vgl. Gustav Korlén: Norddeutsche Stadtrechte II. Das mittelniederdeutsche Stadtrecht von Lübeck nach seinen ältesten Formen. Lund/Kopenhagen 1951 (Lunder germanistische Forschungen 23) sowie zum besonderen Schriftniveau einiger dieser Kodizes Schneider (Anm. 9), Textband S. 266f. und Tafelband Abb. 164.
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Überlieferungsstatistik für Großformate (über 38 × 30 cm Blattgröße) im ostmitteldeutschen und niederdeutschen Sprachraum (Datenbasis: Handschriftencensus) • • • • • • • • • • • • • • • •
6× 6× 5× 4× 2× 2× 2× 1× 1× 1× 1× 1× 1× 1× 1× 1×
Geistlich Recht Chronik Geistlich Recht Chronik Geistlich Geistlich Geistlich Lyrik Lyrik höf. Epik höf. Epik höf. Epik höf. Epik höf. Epik
›Passional‹ Eike von Repgow: ›Sachsenspiegel‹ ›Christherre-Chronik‹ Thomas von Aquin: ›Catena aurea‹, dt. Übersetzung ›Schwabenspiegel‹ Vinzenz von Beauvais: ›Speculum historiale‹, dt. Übersetzung Psalter Bibel Heinrich von Hesler: ›Apokalypse‹ Frauenlob: Sprüche im Langen Ton ›Jenaer Liederhandschrift‹ Albrecht: ›Jüngerer Titurel‹ ›Willehalm-Trilogie‹ Gottfried von Straßburg: ›Tristan‹ ›Segremors‹ Wolfram von Eschenbach: ›Parzival‹
Überlieferungsstatistik Großformate (über 38 × 30 cm Blattgröße) im oberdeutschen Sprachraum (Datenbasis: Handschriftencensus) • • • • • • • • • • • • • • • • •
7× 5× 4× 2× 2× 2× 2× 2× 2× 1× 1× 1× 1× 1× 1× 1× 1×
höf. Epik höf. Epik Chronik Chronik Enzyklopädie höf. Epik höf. Epik Geistlich Geistlich höf. Epik höf. Epik höf. Epik höf. Epik höf. Epik Geistlich Chronik Geistlich
Albrecht: ›Jüngerer Titurel‹ ›Willehalm-Trilogie‹ ›Christherre-Chronik‹ Heinrich von München: ›Weltchronik‹ Hugo von Trimberg: ›Der Renner‹ ›Nibelungenlied‹ Wolfram von Eschenbach: ›Parzival‹ ›Passional‹ ›Väterbuch‹ ›Lohengrin‹ Heinrich von dem Türlin: ›Diu Crône‹ Konrad von Würzburg: ›Trojanerkrieg› Rudolf von Ems: ›Willehalm von Orlens‹ Pleier: ›Garel von dem blühenden Tal‹ Predigt Rudolf von Ems: ›Weltchronik‹ ›Der Tugenden Buch‹
Signifikant ist im Süden das Übergewicht weltlich-höfischer Texte. Dort dominieren bei den Riesenformaten höfische Epik und Chronistik. Dagegen steht im Norden das vielleicht noch deutlichere Übergewicht geistlicher Texte. Offensichtlich gibt es im Süden andere Interessenkonstellationen, andere Nutzungshintergründe und auch andere Entstehungszusammenhänge. Für unseren Zusammenhang von Bedeutung ist dabei die völlig
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andere Typik der volkssprachigen Lyriküberlieferung. Im Süden gibt es in diesem Bereich weder Riesenformate noch Notation – außer die Liederhandschriften gehören direkt in ein klösterliches Umfeld.12 Vermutlich ist der skizzierte Befund so zu deuten, dass im Norden die Durchdringung geistlicher und weltlicher Sphären wirkmächtiger, unmittelbarer ist als im Süden. Stellt man weiter in Rechnung, dass aus dem J-Skriptorium mit ›Parzival‹ und ›Segremors‹ ein oder zwei ähnlich großformatige Epenhandschriften und vielleicht noch eine weitere Liederhandschrift hervorgegangen sind, weist bei J und seinem Umfeld alles auf einen weltlichen Hof als Zielpunkt, der – wohl typisch für diesen Raum – eng mit dem geistlichen Milieu verwoben scheint. Zumindest legt dies die Notenausstattung nahe, denn Noten verlangten sowohl bei der Niederschrift wie der Rezeption Kompetenzen, die nur im geistlichen Milieu vorhanden waren. Sieht man auch noch die Schriftcharakteristika des J-Hauptschreibers, wo das Fehlen von Kanzleimomenten herausgestellt wurde, und die Notenausstattung zusammen, ist die Entstehung von J wohl nur in einer solchen geistlich-weltlichen Interferenzzone denkbar, d. h. was die Herstellung der Handschrift betrifft dezidiert in einem Klosterskriptorium und was die Nutzung betrifft an einen mit eben diesem Kloster vernetzten weltlichen Hof. In diesem Zusammenhang könnte von Bedeutung sein, dass der ›Passional‹-Discissus Od auffallend ähnliche Einrichtungs-, Ausstattungs- und Schriftmerkmale zeigt wie J: Diese wenig jüngere ›Passional‹-Handschrift reicht mit einer Blattgröße von 50 × 33 cm übrigens fast an das J-Format heran. Auch die nicht zu aufwendige Textualis und das ebenfalls nicht zu aufwendige Fleuronnée entsprechen dem J-Typ.13 Überhaupt könnte sich das ›Passional‹ als Schlüsselwerk für das Verständnis einer solchen, offensichtlich gerade für den mittel- und norddeutschen Raum typischen Interferenz zwischen geistlichen und weltlichen Sphären erweisen, denn kaum ein Werk des 14. Jahrhunderts lässt deutlicher die unmittelbare Verschränkung beider Sphären transparent werden. Fasst man alle Indizien zusammen, könnte man sich nun durchaus vorstellen, dass ein eng mit einem weltlichen Hof verbundenes klösterliches Skriptorium geistliche Basisliteratur wie das ›Passional‹ ebenso wie ausgesuchte höfische Epen – etwa ›Parzival‹ und ›Segremors‹ – und auch die höfische Lyrik für einen oder mehrere weltliche Interessenten anfertigte. Dass es primär weltliche Interessenten waren, lassen neben den Inhalten auch die skizzierten Schrift- und Ausstattungsmerkmale mit ziemlicher Sicherheit vermuten. So ist für ein weltliches Milieu die Diskrepanz zwischen äußerem Glanz – hier der gewaltigen Buchgröße – und dem vergleichsweise niedrigen Schrift- und Ausstattungsniveau sowie der nicht überragenden Pergamentqualität (häufig Löcher und Schadstellen) ein durchaus signifikantes Zuordnungscharakteristikum. Ähnliche Befunde sind bei vielen volkssprachigen Prachthandschriften des 13. und 14. Jahrhunderts ein Indiz für die inten-
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Vgl. z. B. die teilweise mit Noten ausgestattete ›Basler Liederhandschrift‹ (Basel, UB, Cod. B XI 8: Die Handschrift wurde von der gesamten älteren Forschung aufgrund eines Schreibfehlers im alten Basler Katalog ins ausgehende 14. Jahrhundert datiert und deshalb von der Lyrik-Forschung nicht in ihrer realen Bedeutung wahrgenommen), die aus einem Nonnenkloster stammt. Detaillierte Nachweise im Handschriftencensus unter http://www.mr1314.de/2860.
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dierte Nutzung im weltlich-höfischen Kontext.14 Lateinische, aber auch volkssprachige Handschriften für Klöster und Bischofshöfe zeigen diesen merkwürdigen Gegensatz von scheinbarer Prachtentfaltung – oft auch mit Bildern – und vergleichsweise einfacher Ausführung und Schrift in der Regel nicht.15 Mit einem verarmten oder gesellschaftlich niederrangigen Auftraggeber hat dies aber gerade nichts zu tun, sondern die suggestive Scheinpracht ist eher ein Merkmal für den nicht heiligen Textstatus, die pragmatischen Gesichtspunkten verpflichtete Textsorte und vor allem für ein weltliches Auftraggeberbzw. Nutzermilieu, von dem man auf Seiten der Produzenten offensichtlich annahm, dass es die Details von Buchpracht und Materialqualität nicht würdigen bzw. eher: nicht erkennen konnte. Sieht man die Überlegungen zu Format und Ausstattung zusammen, bleibt von einer zunächst in den Norden weisenden Arbeitshypothese also kaum etwas Zählbares. Setzt man die skizzierten Vermutungen zum Schriftniveau, zur Ausstattung und zur Textsorte zu einem spezifisch weltlichen Interessenten- bzw. Adressatenkreis in Beziehung, ergeben sich aber einmal mehr wichtige Nebenbeibefunde: Hier wäre der Befund zum Wizlav-Schreiber anzuführen, dessen Schrift einerseits Bezüge zur Haupthand aufweist, andererseits aber entwickelter, jünger ist, und vielleicht schon auf ein Kanzleiumfeld hindeutet. Zusätzlich geben die im Wizlav-Teil deutlich ausgeprägteren niederdeutschen Dialektmerkmale zu denken. Geradezu verwirrend scheint, dass man bei einem angenommenen weltlichen Adressatenkreis, in dessen Umfeld ja der Nachtrag entstanden sein muss, auch im Wizlav-Teil auf Noten stößt. Dies setzt entsprechende Kenntnisse nicht nur im vermeintlichen Klosterskriptorium des Hauptschreibers, sondern eben auch am ersten Nutzungsort der Handschrift – wohl einem weltlichen Hof – voraus. Und diese Kenntnis am Hof müsste sogar ein aktives Wissen um Notenschriften beinhalten, denn man war dort nicht nur in der Lage Notenschriften zu lesen, sondern sie auch zu schreiben.16 I.3 Thesen zur Entstehungsgeschichte Für die Entstehung von Haupt- und Nachtragsteil zeichnen sich demnach zwei unterschiedliche Phasen mit unterschiedlichem, aber doch eng verwobenem Skriptoriumshintergrund ab: Haupt- und Wizlav-Schreiber wird man in einem mitteldeutsch-niederdeutschen Interferenzgebiet zu suchen haben. Angesichts der paläographischen und
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Vgl. mit zahlreichen Beispielen aus dem 13. und 14. Jahrhundert Jürgen Wolf: Buch und Text. Literatur- und kulturhistorische Untersuchungen zur volkssprachigen Schriftlichkeit im 12. und 13. Jahrhundert. Tübingen 2008 (Hermaea NF 115). Wolf (Anm. 14). Die Notation des Wizlav-Teils zeigt – durchaus in Analogie zur Schrift – eine merkwürdige Vermischung traditioneller und moderner Merkmale: »Der Wizlav-Notator verwendet äußerlich klassische Notenformen, arbeitet jedoch bereits auf der Matrix einer simplifizierten Quadratreihen-Notation, die keine Rauten mehr kennt« (Robert Lug: Drei Quadratnotationen in der Jenaer Liederhandschrift. In: Musik aus Mecklenburg. Beiträge eines Kolloquiums zur Mecklenburgischen Musikgeschichte, hg. von Karl Heller, Hartmut Möller und Andreas Waczkat. Hildesheim/Zürich/New York 2000 [Studien und Materialien zur Musikwissenschaft 21], S. 149–155, hier S. 153; vgl. auch Lug [2000] sowie den Beitrag von Lorenz Welker im vorliegenden Band).
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kodikologischen Indizien ist für den Hauptschreiber dabei unbedingt ein geistliches Skriptorium zu favorisieren. Mehr oder weniger deutlich aus diesem Milieu weist der Wizlav-Teil hinaus. Stellt man in Rechnung, dass die etwas entwickeltere Hand des Wizlav-Schreibers der des Hauptschreibers in gewissen Grundzügen durchaus ähnelt, könnte man für beide an eine gemeinsame Skriptoriumsheimat bzw. zumindest an eine gemeinsame Ausbildungsstätte denken. Schlüssig zu erklären wäre dieser Befund wohl nur so, dass der Wizlav-Schreiber nach einer Ausbildung in dem Klosterskriptorium, das J wohl einige Jahre zuvor für einen Hof angefertigt hatte, seine Ausbildung erhielt, und dann in der Kanzlei eben jenes Fürsten arbeitete, für den J hergestellt worden war und wo sich die Handschrift zum Zeitpunkt seiner Ergänzungen um 1340/50 auch befand. Stellt man weiter in Rechnung, dass er noch deutlicher als die Haupthand im mitteldeutschen Grunddialekt – Bartsch bezeichnet es als ›Schriftmitteldeutsch‹ eines niederdeutschen Schreibers17 – niederdeutsche Dialektmerkmale verwendet und eben auch einen niederdeutschen Liederdichter ergänzt18, wird man einen Hof zu suchen haben, der im Interferenzgebiet Mitteldeutsch-Niederdeutsch, wenn nicht sogar im niederdeutschen Dialektraum zu verorten ist, der Zugang zur norddeutschen Liedüberlieferung hat und der enge Verbindungen eines Klosters bzw. eines Klosterskriptoriums in Kanzleizusammenhänge aufweist. Einen Ansatz zur Lösung des Rätsels um das Klosterskriptorium im Konnex eines Hofs einerseits und die Fortsetzung im schrift- und notationsgewandten Kanzleiumfeld andererseits scheint Lorenz Friedrich Beck in seiner im Jahr 2000 erschienenen Dissertation bereitzuhalten. Er skizziert die Entwicklung der Sachsen-Wittenbergischen Kanzlei im fraglichen Zeitraum und kommt zu dem Schluss, dass sich das Personal dieser Kanzlei seit den Zeiten Albrechts II. vornehmlich aus den Klöstern Aken und Kemberg rekrutiert. Die beiden Klöster und die Kanzlei bzw. der Hof insgesamt blieben bis weit ins 14. Jahrhundert aufs engste miteinander verbunden. In Urkunden Albrechts und später Rudolfs werden seit den 1290er Jahren regelmäßig Dekane und Kanoniker des Klosters Aken als Kapläne und Notare bezeichnet.19 Der Kemberger Propst Johannes erscheint zwischen 1306 und 1349 sogar vielfach als herzoglicher Notar und Protonotar. Mehrfach heißt es tunc temporis curie nostre prothonotarius.20 In diesem Geflecht von Kloster und Kanzlei könnte man sich sehr gut die Herstellung aufwendiger, großformatiger, selbst mit Noten versehener Handschriften im Klosterskriptorium und deren fachgerechte Nutzung an dem mit eben diesem Klosterpersonal durchsetzten Hof vorstellen. I.4 Thesen zum Entstehungs- und frühen Nutzungsumfeld Alle gezeichneten Linien scheinen am anhaltinischen Hof Rudolfs I. zusammenzulaufen: Bei den Anhaltinern war Buchbesitz seit Generationen selbstverständlich, und Graf
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Vgl. bes. Bartsch (1923), S. 92. Vgl. bes. Bartsch (1923), S. 88f. Lorenz Friedrich Beck: Herrschaft und Territorium der Herzöge von Sachsen-Wittenberg (1212–1422). Potsdam 2000 (Bibl. der Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 6), S. 244–247. Beck (Anm. 19), S. 246.
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Heinrich I. von Anhalt gehörte ausweislich der ›Großen Heidelberger Liederhandschrift‹ sogar selbst zu den fürstlichen Sängern. Er könnte in den 1220er Jahren auch Eike von Repgow mit dem ›Sachsenspiegel‹ beauftragt haben. In jedem Fall besaßen die Anhaltiner schon im 13. Jahrhundert mehrere Psalterien, wohl mindestens einen ›Sachsenspiegel‹ und eine ›Sächsische Weltchronik‹. Diese literarische Tradition ist, wie Joachim Bumke herausstellt, bei den »Askaniern auch später lebendig geblieben«.21 So werden sie – beispielsweise von Hermann Damen – ein knappes Jahrhundert später noch hoch gelobt.22 Von Rudolf könnten die Linien dann über genealogische Verbindungen weiter bis zur Wizlav-Fortsetzung und bis zum Wittenberger Aufbewahrungsort geführt werden.
Abb. 3: Dynastische Verflechtungen23
Für die J-Fortschreibung am Rudolfinischen Hof wären dann Veränderungen in dem oben (I.3) skizzierten direkt vernetzten System von Kloster und Hof verantwortlich zu machen. Und tatsächlich bildet sich ab den 1340er/1350er Jahren wohl in Folge der
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Joachim Bumke: Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150–1300. München 1979, S. 224. Bumke (Anm. 21), S. 226f. Vgl. Beck (Anm. 19); Die frühen Askanier. Protokoll der wissenschaftlichen Konferenzen zur politischen und territorialen Herrschaftsgeschichte sowie den sozialen und kulturhistorischen Aspekten der frühen Askanier-Zeit am 19./20. Mai 2000 in Aschersleben/Ballenstedt und am 25.05.2002 in Bernburg, hg. von Cornelia Kessler. Halle 2003 (Beiträge zur Regional- und Landeskultur Sachsen-Anhalts 28).
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Abb. 4: Das Anhaltinische Umfeld von J (Detailausschnitt)
festen Niederlassung von Hof und Kanzlei in Wittenberg dort ein zunehmend eigenständiger Kanzleibetrieb heraus. Die professionelle Fortführung der Liedersammlung auch außerhalb des klösterlichen Entstehungsraums, sogar inklusive Melodieaufzeichnung, wäre in einem solchen nach wie vor geistlich geprägten, nun aber deutlich selbständigeren Hofmilieu nicht mehr außergewöhnlich: Das geistlich gebildete Personal verfügte nach wie vor über die entsprechenden Fähigkeiten. Stellt man hier die Verwandtschaft der Hände des Hauptschreibers und des Wizlav-Schreiber in Rechnung, könnte der jetzt wohl am Hof selbst ergänzend tätig werdende Fortsetzer dem selben Skriptoriums- bzw. Klosterzusammenhang entstammen wie der J-Hauptschreiber. Nur scheint dieser neue Schreiber nun nicht mehr primär im Kloster situiert, sondern vollends oder wenigstens hauptsächlich am Hof, vermutlich in der Kanzlei. In genau solche Interferenzen zwischen Kloster und Kanzlei weisen schließlich auch die vielen marginalen Ergänzungen in J. Sie scheinen teilweise noch von der Haupthand zu stammen, die damit ebenfalls direkt in das Hofumfeld hineinrückt, d. h. sie scheint zwischen Kloster und Hof zu changieren. Insgesamt zählen Holz, Meyer, Pickerodt-Uthleb sowie Tervooren/Müller mindestens sechs, vielleicht sogar sieben Nachtragshände, die in den folgenden Jahrzehnten die Sammlung immer wieder erweitern. Was einmal mehr unbedingt in Kanzlei- und Hofzusammenhänge verweist, denn wo sonst wären außerhalb eines Klosters versierte Schreiber in dieser Zahl und Liedmaterial in dieser Dichte greifbar.24
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Vgl. Pickerodt-Uthleb (1975), S. 231–239 (mit umfassender Diskussion der älteren Forschungsergebnisse von Holz und Meyer), Tervooren/Müller (1972), S. *3 und den Beitrag von Gisela Kornrumpf in diesem Band.
J und der Norden
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In ein solches Szenario würden sich die niederdeutsch-mitteldeutschen Interferenzen in der Schreibsprache von J hervorragend einfügen; denn Kemberg, Aken und Wittenberg liegen genau in einem solchen Interferenzraum. Ebenfalls gut in ein solches Wittenberger Szenario würde sich der Wizlav-Nachtrag einfügen, denn Rudolf I. heiratete 1333 in dritter Ehe Agnes von Lindow, die Witwe des 1329 verstorbenen Fürsten Heinrich II. von Mecklenburg (vgl. Abb. 3 und 4).25 Über sie könnten im Geflecht verwandtschaftlicher Beziehungen die Wizlav-Lieder nach 1333 aus dem Norden an den Hof Rudolfs gelangt sein. Man könnte sich demnach J als am Rudolfinischen Hof über mehrere Jahrzehnte von etwa 1320/30 bis in die 1350er/60er Jahre sowohl intensiv genutztes wie beständig fortgeführtes bzw. ergänztes Liederbuch vorstellen. Bei der exorbitanten Größe von Schrift und Noten wäre hier an ein den Mess- und Choralbüchern vergleichbares Nutzungsszenario zu denken.26 Es könnte also passen, doch – um Renate Kroos zu zitieren – »es sind einstweilen nicht mehr als Hypothesen, aber sie haben Argumente für sich, gegen die Gründe vorgebracht werden müssten, nicht nur vage Vorbehalte.«27
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Mit diesem Mecklenburger war zuvor in erster Ehe Rudolfs Schwester Anna verheiratet. Mit ähnlichen Vermutungen auch Lorenz Welker (im vorliegenden Band), der auf Analogien zur Choralschola verweist und eventuell an eine Ausbildungshandschrift für eine Sangschule denkt. Kroos (Anm. 2), S. 97. Ähnliche Szenarien ließen sich allerdings auch im Umfeld der Wettiner (hier: Friedrich II., der Ernsthafte, 1310–1349) und der Schwarzburger (hier: Günther XXI., 1304–1349) konstruieren, wobei die Dialektfärbung wohl eher gegen die Wettiner und die Besitzgeschichte wohl eher gegen die Schwarzburger spräche: Ein entscheidendes Problem bei der Schwarzburg-These (vgl. dazu detailliert die Ausführungen von Christoph Fasbender in diesem Band) ist der Nachweis von J im alten Wittenberger Buchverzeichnis von 1437. Sollte sich J unter einem der beiden im Wittenberger Buchverzeichnis von 1437 aufgeführten libri mangni cum notis verbergen (Lippert [1895], S. 137 Nr. 1 und 2), wäre eine Verbindung zu den Schwarzburgern wohl ausgeschlossen, denn die Schwarzburger waren mit den Anhaltinern verfeindet. Ein Buch aus anhaltinischem Besitz wäre kaum jemals in schwarzburgische Besitzzusammenhänge gelangt. Die Gleichsetzung der Einträge im Wittenberger Katalog mit J verlangt allerdings einiges Kombinationsgeschick. Weder Incipit noch Explicit der dort genannten Bände stimmen mit J überein. Wachinger (1981) und Kornrumpf (detailliert in diesem Band) rekonstruieren allerdings plausibel Texte, die zu Beginn und am Ende der heute defekten ›Jenaer Liederhandschrift‹ gestanden und mit den Einträgen übereingestimmt haben könnten. Bestreitet man diese Rekonstruktionszusammenhänge (vgl. Brandis [1929], der eine Identität ausschließt), liefern die aus dem selben Skriptorium stammenden ›Parzival‹- und ›Segremors‹-Fragmente auf die Schwarzburger weisende Provenienzindizien: Alle Fragmente dieses Discissus stammen aus schwarzburgischen Besitzzusammenhängen (vgl. Klein/Lomnitzer [1995], hier S. 387–389 und Fasbender in diesem Band). Zu denken sollte dabei aber geben, dass ein J-Fragment (Dillingen, Studienbibl., XV Fragm. 19) eben gerade nicht aus diesen Provenienzzusammenhängen stammt (dazu grundlegend Klein/Lomnitzer und Elisabeth Wunderle: Die mittelalterlichen Handschriften der Studienbibliothek Dillingen. Wiesbaden 2006, S. 440f.) und dass die aus sequestiertem schwarzburgischen Klostergut stammenden, seit 1541 im Amt Wachsenburg wiederverwendeten Makulaturstücke einen klösterlichen Aufbewahrungsort von J erfordern würden.
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CHRISTOPH FASBENDER
Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und ihr Umfeld im 16. Jahrhundert – Mit einem Rückblick auf das 15. Jahrhundert
»Muthmaslich ist dieser Schatz von ongefehr, erst lange nach dessen Verfertigung ein Eigenthum seiner nachmaligen durchlauchtigsten Besitzer geworden, und ihre Liebe zu den Wissenschaften, hat ihn von dem ihm drohenden Untergange gerettet.« (Wiedeburg [1754], S. 5)
Die folgenden Überlegungen gelten der Geschichte von Lieder- und Epenhandschrift im 16. und, rückblickend, im 15. Jahrhundert. Von Geschichte im Wortsinne kann in diesem Zeitraum freilich keine Rede sein. Ins Licht der Geschichte treten die Objekte für uns erst im Moment ihrer Zerstörung bzw. Bergung in den 1540er Jahren. Das ist, großzügig, zweihundert Jahre nach ihrer Entstehung. Für die Forschung waren das zwei dunkle Jahrhunderte. Von den meisten Kollegen wurde die Kluft nur markiert, mitunter auch durch Vermutungen überbrückt.1 Wo befanden sich die Handschriften vor ihrer Bindung bzw. Makulierung? Ist angesichts ihres späten Auftauchens eine Aufbewahrung in Wittenberg überhaupt wahrscheinlich? Und welche Alternativen zu dieser Annahme ergeben sich? Ich fasse für das Folgende, das ich ausdrücklich zur Diskussion stellen möchte, noch einmal die bekannten Institutionen, Personen und Ereigniszusammenhänge an: die Wittenberger Fürsten- und Universitätsbibliothek, ihren Bibliothekar Spalatin, ihre Vorgängerbibliothek in der Schlosskapelle, den Buchbinder Wolfgang Schreiber, die Klosteraufhebungen unter Kurfürst Johann Friedrich und die auf den Territorien der Schwarzburger. Obwohl ich ihn in dieser Aufzählung beinahe zwischen den Regalen versteckt habe (was ihm gewiss gefallen hätte!), hebe ich mit Georg Spalatin zunächst jenen Mann heraus, der nicht nur der prominenteste ist, sondern auch der erste Prominente, von dem man nachweisen zu können glaubte, dass er J nicht bloß in Händen gehalten, sondern auch für die Erhaltung der Handschrift gesorgt habe. Dieses implikationsreiche Postulat baut auf mehreren Annahmen bzw. Indizien auf: Spalatin sei 1. zum fraglichen Zeitpunkt kurfürstlicher Bibliothekar gewesen; er habe 2. in dieser Funktion Anfang und Ende der Handschrift markiert, bevor er 3. ihre Bindung veranlasste.
1
An Neuerem sei hervorgehoben: Pickerodt-Uthleb (1975); Stackmann/Bertau (1981), bes. S. 59 mit Anm.; Wachinger (1981), bes. S. 302f.; Wachinger (1983), bes. Sp. 512f.; Kornrumpf (1990). – Für einige Hinweise darf ich Joachim Ott von der Handschriftenabteilung der ThULB und Jens Haustein meinen herzlichen Dank aussprechen.
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Christoph Fasbender
1. Georg Spalatin als kurfürstlicher Bibliothekar Georg Burkhardt aus Spalt wurde 1508 als Prinzenerzieher an den Hof Friedrichs des Weisen vermittelt. Hier scheiterte er zunächst am Widerstand der Kollegen, woraufhin ihn der Kurfürst als Chronist beschäftigte, wo er am Widerstand des Materials scheiterte, woraufhin ihn der Kurfürst 1512 mit der Sorge für die fürstliche Bibliothek betraute.2 Endlich war der schwierige Mann am richtigen Platz, und er zahlte das Vertrauen zurück, indem er sich mit größtem Einsatz in den Bibliotheksaufbau stürzte. Phantastisch anmutende Bestelllisten gingen nach Venedig zu Aldus Manutius ab.3 Bald schon konnte er dem verehrten Erasmus berichten, Wittenberg besitze dank seines persönlichen Einsatzes alle – aber auch wirklich alle – gedruckten Erasmiana.4 Irmgard Höss, der wir die maßgebliche Spalatin-Biographie verdanken, sah jedoch beileibe keinen engstirnigen Humanisten am Werk: »Im Einvernehmen mit dem Kurfürsten, dessen Interessen sich mit denen Spalatins trafen, hat dieser von vornherein sein Augenmerk nicht nur auf die Anschaffung von Druckwerken gelegt, sondern hat sich ständig darum bemüht, seltene Handschriften für das neue Institut zu erwerben.«5 Zwölf Jahre lang vermehrte Spalatin die Bibliothek, sofern es seine Dienstgeschäfte zuließen (ihm war bekanntlich die Sache des nicht ganz pflegeleichten Doktor Luther übertragen worden). Anschaffungswünsche der Professoren nahm er gerne entgegen.6 1525 starb Friedrich der Weise. Ausgelaugt quittierte Spalatin den Wittenberger Dienst und siedelte nach Altenburg über, wo er als Pfarrer erwartungsgemäß nicht glücklich wurde und über die Vernachlässigung, mit der ihn der Hof nun angeblich strafte, bittere Episteln verfasste.7 Die politischen Ereignisse der Jahre 1525–1532 banden alle Kräfte Johanns des Beständigen, so dass die Bibliothek fast ein Jahrzehnt brach lag und ihr Bibliothekar nicht mehr gebraucht wurde.8 Das änderte sich mit dem Dienstantritt Johann Friedrichs, der Spalatin aus dem Exil holte und vertraglich auf eine zweimalige jährliche Präsenz in Bibliotheksangelegenheiten nach Wittenberg verpflichtete. 1534 stellte er einen nennenswerten Etat für die Bibliothek bereit, 1536 erhielt sie in der Person des Magisters Lucas Edenberger den ersten
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Noch immer maßgeblich ist die Monographie von Irmgard Höss: Georg Spalatin 1484–1545. Ein Leben in der Zeit des Humanismus und der Reformation. Weimar 21989. Zum Aldinen-Problem vgl. Höss (Anm. 2), S. 65f. Brief vom 11.12.1516; vgl. Höss (Anm. 2), S. 67f. Höss (Anm. 2), S. 69. Noch später soll Spalatin darauf bedacht gewesen sein, für die Bibliothek auch Werke der Gegner Luthers zu erwerben (ebd., S. 378). Vgl. Carl Georg Brandis: Luther und Melanchthon als Benutzer der Wittenberger Bibliothek. In: Theologische Studien und Kritiken (1917), S. 206–221, zu Melanchthons Wunsch nach dem newen kriechischen Galenum (S. 209). Vgl. Höss (Anm. 2), S. 403, 416–419. Vgl. Georg Karpe: Nachreformatorische Gründungsperiode. In: Geschichte der Universitätsbibliothek Jena 1549–1945, hg. von Karl Bulling. Weimar 1958, S. 1–139, hier S. 9. Allerdings wies Kurfürst Johann seine Sequestratoren 1531 an, zumal die Bücher der Klosterbibliotheken zu sichern bis zu einem geeigneten Zeitpunkt, an dem sie in die Schlossbibliothek überführt werden könnten; vgl. Erika Schulz: Bücher aus den beiden Wittenberger Klosterbibliotheken in der Bibliothek des Evangelischen Predigerseminars. In: Stefan Oehmig (Hg.): 700 Jahre Lutherstadt Wittenberg. Stadt – Universität – Reformation. Weimar 1995, S. 519–534, bes. S. 519f.
Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und ihr Umfeld im 16. Jahrhundert
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hauptamtlichen Bibliothekar.9 Anlässlich des universitären Festaktes 1536 war Spalatin als Zuhörer anwesend. Im selben Jahr gab es Ärger, weil der Rentmeister Spalatins Leipziger Bücherkäufe nicht sofort begleichen wollte, woraufhin der leicht reizbare Spalatin beim Kurfürsten anfragte, ob er seinen Bibliotheksschlüssel wieder abgeben solle. Er sollte es natürlich nicht.10 Spalatin widmete sich künftig perspektivischen Problemen: der drängenden Raumfrage, der Neuaufstellung, der Katalogisierung, der Öffnungszeiten und der Errichtung eines kurfürstlichen Zentralarchivs.11 Der biographische Abriss führt mich zu meiner ersten Anmerkung. Während Spalatins erster Dienstzeit von 1512 bis 1525, in der eifrig angekauft wurde, findet sich kein Hinweis auf J. Nach neunjähriger Abwesenheit wurde er 1534 zurückgeholt und mit planerischen Fragen betraut, während die im engeren Sinne bibliothekarischen Probleme der Magister Edenberger löste.12 Ich betrachte damit das Indiz Nr. 1, Spalatin als kurfürstlichen Bibliothekar, insofern als relativiert, als er nach 1534 mit dem Tagesgeschäft nichts mehr zu tun hatte. Ich akzentuiere dies, weil das Gegenteil implicite in vielen Argumentationsgängen eine wichtige Rolle spielt, nicht zuletzt im Zusammenhang mit Indiz Nr. 2, dem »Signum« Spalatins.
2. Spalatins »Signum« Zum Indiz Nr. 2: Spalatin habe in J Anfang und Ende mit eigener Hand markiert. Zu diesem Zweck habe er auf fol. 1r über dem Spiegel (a-Spalte) principium und unter dem Spiegel von fol. 136v (b-Spalte) finis eingetragen. Was über dem »principium« steht, erregte zusätzlich Interesse, sah es doch aus wie ein großes, von zwei Pünktchen flankiertes »S«. Wenn Irmgard Höss schreibt, J trage Spalatins »Signum«, ist das wohl nur so zu verstehen, als deutete sie das »S« als Spalatin-Kürzel.13 Zunächst zum »principium«-»finis«-Komplex. Carl Georg Brandis, Jenaer Bibliothekar, erklärte vorsichtig, die Einträge stammten von einer Hand, die auch in anderen Bänden der Electoralis zu finden sei, es sei ihm nur entfallen, in welchen.14 Erdmute Pickerodt-Uthleb versuchte als erste, die »principium«-Hand näher zu bestimmen. Ihr Urteil: »Spalatin scheint sie nicht zu gehören, wie ein Vergleich mit einem Briefentwurf zeigt«.15 Deutlicher, doch nunmehr ganz ohne Anhaltspunkte, ihre Erklärung, der Vermerk stammte von Edenberger.16 Das ging, im Konjunktiv, in den Katalog der Jenaer
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Zu Spalatins diesbezüglichen Plänen Höss (Anm. 2), S. 376; zu Edenberger, »mit dessen Arbeitseifer Spalatin sehr zufrieden war«, ebd. S. 377. Vgl. Höss (Anm. 2), S. 377. Vgl. Höss (Anm. 2), S. 377–378 (Briefgewölbe). Ergänzend Pickerodt-Uthleb (1975): »Planung und technische Vorbereitungen für die Neuaufstellung der Bibliothek blieben in Spalatins Hand. Er erteilte die Aufträge an die Handwerker, also wohl auch an die Buchbinder« (S. 386). Edenberger war bereits um 1532 verschiedentlich mit Bibliotheksangelegenheiten vertraut; vgl. Karpe (Anm. 8), S. 10f. Im Zusammenhang schreibt Höss (Anm. 2), S. 69: »So hat Spalatin z. B. die kostbare Handschrift mittelhochdeutscher Lieder, die heute unter dem Namen Jenaer Liederhandschrift bekannt ist, der Wittenberger Bibliothek einverleibt; diese Handschrift trägt sein Signum.« Vgl. Brandis (1929), S. 109. Pickerodt-Uthleb (1975), S. 387. Vgl. Pickerodt-Uthleb (1975), S. 228.
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Handschriften von Franzjosef Pensel ein, wo es freilich – im Jenaer Exemplar – bleistiftlich mit »wieso?« glossiert wurde.17 In Vorbereitung des Spalatin-Artikels für das VLHumanismus habe ich so viele Autographen gesehen, dass ich das Urteil weder als falsch, noch als Glückstreffer bezeichnen könnte. Tendenz: Es ist eher nicht Spalatins Hand. Damit zum »Signum«. Wir sehen ein nach rechts sich neigendes Schwänzchen unter einem Schrägdach von zwei Punkten. Folgende Interpretationen sind möglich: 1. Es handelt sich um einen Buchstaben des Alphabets mit was drauf; 2. es handelt sich um ein konventionelles Zeichen. Wenn 1., dann wäre »S« zu lesen und – zum Beispiel – »Spalatin« (oder Schreiber?) zu verstehen; wenn 2., handelte es sich entweder um ein Zeichen des Bibliothekars für den Benutzer, einen Wink des Bibliothekars an den Buchbinder oder eine Markierung des Binders. Ad 1.: In seinen Briefentwürfen hat Spalatin wiederholt mit vorgestelltem, von zwei Punkten flankiertem »S« gezeichnet. Das spräche für die von Irmgard Höss formulierte »Signum«-Theorie, die der Jenaer Bibliothekar Georg Karpe (1952–1975) noch akzentuierter bot: »Er [Spalatin] legte [...] Anfang und Ende des geschriebenen Textes mit seinem Namenszeichen fest«.18 Dagegen ließe sich aber der graphische Befund anführen: das »S«-Signum Spalatins ist immer ordentlich flankiert, nie sind ihm die Punkte darüber- oder daruntergerutscht. Ad 2.: Sollte es sich um eine Sigle handeln, wäre das zumindest am Textanfang nichts Ungewöhnliches. Ich habe nichts Identisches gefunden, aber »Jncipit«-Siglen wie hier in einer Berliner Handschrift waren natürlich verbreitet.19 Freilich wäre »Incipit principium« ein ungewöhnlicher Pleonasmus. So bliebe noch die ansprechende Überlegung von Joachim Ott, der im Cappelli unter den »Segni convenzionali« ein von zwei Punkten flankiertes, nach rechts sich neigendes j-Schwänzchen in der Bedeutung »jungatur« fand: »Es werde zusammengefügt« oder einfach »Binden!«. Neigungswinkel und Cappelli-Datierung (15. Jahrhundert) machen diese Annahme recht verführerisch.20 – Der graphische Befund spricht also weniger für die »Signum-Spalatin-Theorie« als für ein konventionalisiertes Zeichen für den Buchbinder. Damit komme ich zu Indiz Nr. 3, dem von Spalatin veranlassten Einband.
3. Spalatins Einband-Auftrag und das Wirken des Buchbinders Wolfgang Schreiber Auch hier ist die Beleglage ungünstig. Wir besitzen eine von Carl Georg Brandis entdeckte Notiz in der Jenaer Handschrift Ms. App. 22 B (10), fol. 1r, aus der hervorgehen soll, dass Spalatin tief im November 1536 einen Bindeauftrag an den Wittenberger
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Vgl. Pensel (1986), S. 307. Handschriften und alte Drucke aus den Sammlungen der Universitätsbibliothek der FriedrichSchiller-Universität Jena, bearbeitet von Georg Karpe. Jena 1976, S. 30. Vgl. Aderlaß und Seelentrost. Die Überlieferung deutscher Texte im Spiegel Berliner Handschriften und Inkunabeln, hg. von Peter Jörg Becker und Eef Overgaauw. Berlin 2003, S. 192 (Ms. germ. fol. 1705, fol. 4v). Vgl. Adriano Cappelli: Dizionario di Abbreviature latine ed italiane. Sesta edizione. Mailand 1990, S. 409b.
Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und ihr Umfeld im 16. Jahrhundert
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Buchbinder Wolfgang Schreiber veranlasst habe.21 Schreiber sollte Bücher einbinden, die tags zuvor22 als von kurfürstlichen Bücheragenten, darunter Nikolaus Krüger, Christoph Schramm, Hans Lufft und eben Spalatin, angekauft verzeichnet worden waren. Leider fehlt das finite Verb (»gekauft«)23, von Spalatins Hand stammt die Notiz auch nicht, und dass Spalatin sie veranlasst habe, ergab sich allein aus dessen mutmaßlichem Aufgabenbereich. Interessant ist sie trotzdem, weil sie belegt, dass der Buchbinder Schreiber hier erstmals in Erscheinung tritt, und zwar exklusiv in Verbindung mit nominierbaren Ankäufen. Die aufgeführten Bände befinden sich noch heute sämtlich in Jena. Brandis hat sie zusammengestellt: die Basler Augustinusausgabe in acht Teilen; eine OrigenesAusgabe in zwei Teilen; Cornelius Celsus (1528) und Quirinius Serenus sowie Valla Placentinus, bei dem man Schreiber anwies: wider auszubinden in zwey teyl.24 Außer den genannten hat Brandis noch zwei weitere Bände mit einem Schreiber-Einband aufgespürt: den Aristoteles-Kommentar des Alexander Aphrodisias von 1537 (Phil. IV, fol. 62), und schließlich J, die, wenn sie nicht zu den Ankäufen gehörte, somit ganz aus der Reihe fiele. Bei Valla Placentinus kann ich im Hinweis wider auszubinden in zwey teyl nicht erkennen, dass es sich – im Gegensatz zu den Neuanschaffungen – »um eine Reparatur handelt«, wie Brandis meint25, sondern eher doch um einen Erwerb, der aus benutzerpraktischen Gründen in zwei Bände aufgeteilt wurde. Im November 1536 bindet Wolfgang Schreiber also erstmals nachweisbar für den Hof. Spätestens 1538 stempelt er seinen Einband des 1537 in Rom erschienenen Aristoteles-Kommentars. Da Schreiber 1541 als evangelischer Pfarrer in Jessen belegt ist26, ergibt sich daraus das bekannte Zeitfenster von etwa fünf Jahren. Auffällig ist, dass J von einem Binder, der uns allein im Zusammenhang mit Neuerwerbungen seit Ende 1536 entgegen tritt, gebunden wurde.27 Einen weiteren Hinweis auf den Zeitpunkt der Bindung (und des Zugangs) liefert uns womöglich das im Vorderdeckel befindliche Exlibris.28
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Carl Georg Brandis: Zwei Wittenberger Buchbinder. Wolfgang Schreiber und Heinrich Blume. In: Zeitschrift für Bücherfreunde NF 20 (1928), S. 61–63; vgl. Karpe (Anm. 8), S. 11. Brandis (Anm. 21), S. 61. Brandis (Anm. 21), S. 61. Ähnlich bereits Brandis (Anm. 21), S. 206–221. Vgl. Brandis (Anm. 21), S. 61. Brandis (Anm. 21), S. 61. Vgl. Max Senf: Die Buchbinder-Innung zu Wittenberg im 16. Jahrhundert. Wittenberg 1909 (Sonderausgabe der Wittenberger Allgemeinen Zeitung Nov. 1909); Klein/Lomnitzer (1995), S. 387. Weitere Wittenberger Binder bei Hermann Herbst: Der Wittenberger Buchbinder Thomas Krüger. Stempel und Einband. In: Zeitschrift für Bücherfreunde NF 19 (1927), S. 45–60; Konrad von Rabenau: Wittenberger Einbandkunst im 16. Jahrhundert. Vier Beobachtungen. In: Oehmig (Anm. 8), S. 365–384, bes. S. 366–368; außerdem benennt Brandis (Anm. 21) einen »Franz Eichorn«, der vielleicht bei Schreiber arbeitete (S. 61). Vgl. Gustav Adolf Erich Bogeng: Die großen Bibliophilen, Bd. 1 Leipzig 1922, S. 249; Bd. 2, Abb. 150; Irmgard Kratzsch: Zum Umschlagbild. In: Mitteilungen Universitätsbibliothek Jena 1 (1991), S. 24f.
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4. Das ›Exlibris‹ Unter der Flutwelle des Gedruckten verdienen acht handschriftliche Bände, die der Bibliothek in der Regierungszeit Johann Friedrichs (1532–1554) zugeführt wurden, besondere Beachtung. Diese Handschriften weisen im Vorderdeckel ein Papierschild von 22 × 12,7 Zentimetern auf. Es zeigt den Kurfürsten im Brustbild, Hermelin und Schwert als Zeichen seiner Kurwürde tragend, gerahmt vom dreizehnfeldrigen ernestinischen Gesamtwappen, wie es seit 1538 verwendet wurde.29 Darunter befindet sich ein Subskript aus drei lateinischen Distichen. Das Brustbild, das in mehreren Zuständen und Formaten erhalten ist, stammt aus der Werkstatt des älteren Cranach. Die Distichen gehen auf den Melanchthon-Schüler und von Karl V. gekrönten Poeten Johann Stigel zurück.30 Das Objekt wird meistens als »kurfürstliches Exlibris« bezeichnet. Das ist juristisch korrekt, legt aber eine falsche Fährte. Es handelt sich, wenn man die Distichen und die Funktion des Schildchens richtig deutet, eher um ein Exlibris der Universitätsbibliothek, das den Kurfürsten als »Buchpaten« ausweist. Die Subskription richtet sich an den Lector, der das aufgeschlagene Buch vor sich sieht. Im letzten Distichon heißt es (Übersetzung von Irmgard Kratzsch): »So hat er zu bequemem Gebrauch für die Studien / dieses Werk hier beschafft, das du, lieber Leser, gerade einsiehst.«31 Dieses Distichon, insbesondere das »beschafft« (contulit), ist auf zweifache Weise lesbar. Allgemeiner verstanden signalisierte es, dass der Kurfürst die entsprechend gezierten Bände auf die eine oder andere Weise »bibliothekstauglich« hat machen lassen, etwa durch Reparatur oder Bindung. Wörtlich verstanden bedeutete es, dass Johann Friedrich diese Bände für die neue Bibliothek hat ankaufen oder sonstwie »beschaffen« lassen. Das lässt sich nun an den Bänden, zu denen auch J gehört, überprüfen. Es sind insgesamt acht Handschriften: El. f. 55; El. f. 64; El. f. 71; El. f. 72; El. f. 73; El. f. 74; El. f. 101 [= J]; Sag. f. 9.32 Wenigstens eine neunte, El.f. 70, gehört m. E. als »virtuelle« Schildchenträgerin noch hierher, doch hat man bei ihr wohl auf das Einkleben des Schildes verzichtet, weil im Vorderdeckel ein Horoskopschema für Karl V. eingetragen worden war. Auf den ersten Blick bilden die Bände weder über ihre Inhalte, noch über ihre Provenienz, noch über ihre äußeren Merkmale eine einheitliche Gruppe. Allerdings stehen die Codices 64 und (70 bzw.) 71–74 durch ihren überwiegend oder ausschließlich mathematisch-astronomischen Inhalt enger zusammen. 70–74 gehörten dem 1536 verstorbenen Wittenberger Mathematikprofessor Johannes Volmar aus Villingen.33 Die Art und Weise ihrer Übernahme durch die Bibliothek sollte uns interessieren: Es handelt sich keineswegs um ein Legat Volmars. Spalatin, der viel mit Volmar korrespondiert hatte,
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So Kratzsch (Anm. 28), S. 24. Vgl. Johann Stigel: Poematum .... Editio tertia. Jena 1600, lib. IX, S. 400; vgl. Joachim Bauer: Kurfürst Johann Friedrich I. von Sachsen und die Bücher. In: Johann Friedrich I. – der lutherische Kurfürst, hg. v. Volker Leppin, Georg Schmidt und Sabine Wefers. Gütersloh 2006 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 204), S. 169–189, hier S. 177. Kratzsch (Anm. 28), S. 24. Abweichende Übersetzung bei Bauer (Anm. 30), S. 177: »Hierher befahl er die Sammlung zum leichten Gebrauch der Studenten.« Zusammenstellung nach Tönnies (2002), S. 10 Anm. 6. Die Lebensdaten bei Tönnies (2002), S. 177.
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hat die Bände dessen Erben abgekauft.34 Einige, aber keineswegs alle Volmar-Bände erhielten nun einen Einband, dies jedoch nicht in der Werkstatt Wolfgang Schreibers. Damit entfällt der Exlibris-Schreibereinband-Konnex. Für wenigstens fünf der acht Codices lässt sich also nachweisen, dass der Kurfürst sie mit Geldmitteln »beschafft« hat. Das »beschafft« ist wegen der Uneinheitlichkeit der Einbände auf den Erwerb zu beziehen. Drei Handschriften bleiben übrig: El. f. 55, Ms. Sag. f. 9 und J. El. f. 55 ist eine kanonistische Pergamenthandschrift aus Italien. Der Codex wurde in einem gesonderten Wittenberger Katalog (Katalog »Wittenberg 8«) verzeichnet, der in der Hauptsache wertvolle Handschriften aus sequestriertem Klostergut erfasst. Herkunft aus dem 1538 aufgehobenen Augustiner-Chorherrenstift Petersberg bei Halle ist möglich.35 Es bleiben Ms. Sag. f. 9 und J.
5. Die Rothe-Handschrift Ms. Sag. f. 9 Ms. Sagittarius f. 9 ist Germanisten bestens vertraut, da sie Johannes Rothes ›Thüringische Weltchronik‹ enthält. Sylvia Weigelt schlägt sie, wie vor ihr Franzjosef Pensel, der Bibliothek des Historikers Caspar Sagittarius (1634–1694) zu.36 Das verrät die Signatur, aber das ist nicht zwingend, insofern die Provenienzen bei ihrer Aufstellung in Jena zum Teil vermischt wurden. Ein prominenterer Fall ist das ›Jenaer Martyrologium‹, das seit 1543 in Wittenberg nachweisbar ist und eine Electoralis-Signatur tragen sollte, versehentlich aber der Sammlung Bose zugeordnet wurde.37 Rothes ›Weltchronik‹ nun trägt, wie J und die Volmar-Bände, das Exlibris des Kurfürsten. Als Germanisten begrüßen wir eine deutsche Chronik in Fürstenhand natürlich. Doch macht uns Michael Tönnies’ Electoralis-Katalog einen Strich durch die Rechnung: die Rothe-Handschrift ist weder in Wittenberg gebunden worden, noch stammt sie aus kurfürstlichem Besitz. Der Einband wurde wohl in Leipzig gefertigt, einer der Stempel findet sich auch auf Ms. El. f. 41.38 Beide Bände stammen, wie Tönnies nachweisen kann, aus der Bibliothek des Prämonstratenserklosters Mildenfurth bei Weida.39 Sechs Anmerkungen dazu. 1. Die Exlibris-Handschriften entstammen unterschiedlichen Provenienzen. 2. Sie wurden vom Kurfürsten für die Bibliothek »beschafft«, also entweder gekauft (Volmar-Bände) oder aus Klostergut ausgewählt und bereitgestellt. 3. Das »beschafft« ist wörtlich zu nehmen: Neubindung oder Reparatur ist kein Alleinstellungsmerkmal der »beschafften« Bände. 4. Nehmen wir den kurfürstlichen Wappenge-
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Vgl. Pensel (1986), S. 25; Tönnies (2002), S. 177. Vgl. Tönnies (2002), S. 153. Vgl. Sylvia Weigelt. In: ›bescheidenheit‹. Deutsche Literatur des Mittelalters in Eisenach und Erfurt. Katalog zur Ausstellung der UB und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha, hg. von Christoph Fasbender. Gotha 2006, S. 94f.; Pensel (1986), S. 511f. Vgl. Tönnies (2002), S. 18. Die Datierung 1543 ergibt sich aus dem Katalog »Wittenberg 4 D«, einem Konzept zum systematischen Katalog, entstanden 1543–1546: Tönnies (2002), S. 30. Das späte Auftauchen spricht nicht unbedingt dafür, dass es sich beim Martyrologium um alten Fürstenbesitz handelte. Vgl. Tönnies (2002), S. 20 und 111f. Zur Leipziger Werkstatt Gerhard Loh: Die Leipziger Buchbinder im 15. Jahrhundert. (Diss.) Berlin 1990, S. 82–86. Vgl. Tönnies (2002), S. 19f.
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brauch als Datierungshilfe, ist 1538 der frühest mögliche Termin für den Zugang der Codices. 5. Das Exlibris kennzeichnet durchaus keine Bücher, die dem Fürsten privat zugehörten, aus seinem Besitz an die Bibliothek übergingen oder nach Erhalt einer Bindung wieder an ihn zurückfielen. 6. Durch den Wegfall der Mildenfurther Rothe-Handschrift erhält die Annahme, J gehörte einmal zu einem Block kurfürstlicher Privatbücher, keine weitere Stütze. – Damit wieder zurück zu Spalatin und seiner Rolle in der kurfürstlichen Sequestrationspolitik.
6. Die kurfürstliche Sequestrationspolitik Bereits 1514 hatte Spalatin damit begonnen, Klosterbibliotheken auf ernestinischem Territorium zu sichten und Kataloge anfertigen zu lassen. Als er zwanzig Jahre später wieder in kurfürstlichen Dienst trat, prädisponierte ihn das für deren Sequestration. Spalatin ging dieser Aufgabe bis zu seinem Tod 1545 gewissenhaft nach. Er wurde damit Teil einer Mannschaft, die die seit 1536 über Wittenberg zusammenschlagende Bücherflut einzudämmen berufen war. Mit der Aufhebung der örtlichen Klosterbibliotheken, etwa jener der Franziskaner40, hatte er nichts zu tun. Und, um ein weiteres, für unseren Zusammenhang wichtiges Feld zu benennen: Auch bei der Aufhebung der Bibliotheken auf schwarzburgischem Territorium mischte er nicht mit. Als 1538 die Arnstädter Minoriten entlassen wurden, gestattete man ihnen, was sie an farender habe im closter bei inen hetten, ausgeschlossen die bucher in der liberei, zu verkaufen oder mit inen zu nehmen.41 Von der liberei der Franziskaner ist in Wittenberg ebenso wenig angekommen wie vom bereits 1533 verzeichneten Buchbesitz der Arnstädter Benediktinerinnen.42 Spalatin hatte auch so genug zu tun. 1538 überführte er die Bestände der Zisterze Grünhain43 und des Augustinerklosters Grimma nach Wittenberg44, und noch 1544 sichtete er die Bibliothek von Kloster Buch und ordnete ihre Überführung an.45 Eines seiner ersten Projekte wurde das Prämonstratenserkloster Mildenfurth. Die südlich von Gera gelegene Niederlassung war bereits 1529 aufgehoben worden; 1531 hatte jemand die Bücherbestände verzeichnet, die aber, wie Tönnies vermutet, noch längere Zeit am Ort verblieben, denn 1537 lässt sich Spalatin Bücher aus Mildenfurth zur Begutachtung
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Über die Bibliothek der Franziskaner gelangten wenigstens zwei Mischbände aus dem Besitz des Meißner Domherren Thammo Loesser (ob. 1503) an die Electoralis (2 Op. th. IV, 35 Inc.; 2 Op. th. IV, 41 Inc.); vgl. Tönnies (2002), S. 19. Durch Zufall scheinen sich zudem zwei Handschriften dieser Provenienz vor Ort erhalten zu haben; vgl. Die Handschriften des Evangelischen Predigerseminars Wittenberg, bearbeitet von Jutta Fliege. Berlin 1984 (DSBHI 7), S. 4f. (A IV 3) und S. 16f. (B I 2). Gerlinde Huber-Rebenich und Christa Hirschler (Hg.): Bestandskatalog zur Sammlung Handschriften- und Inkunabelfragmente des Schlossmuseums Sondershausen, bearbeitet von Matthias Eifler u. a. Sondershausen 2004, S. 17. Vgl. Eifler u. a. (Anm. 41), S. 17 (Abdruck des Verzeichnisses von Liturgica, die sich in der Liebfrauenkirche befanden). Für Grünhain hatte er bereits 1514 einen Katalog erstellen lassen; vgl. ThULB Jena, Ms. App. 22 A (2); zum kurfürstlichen Überführungsbefehl Georg Mentz: Johann Friedrich der Großmütige. 1503–1554. Jena 1908 (Beiträge zur neueren Geschichte Thüringens 1), Bd. 3, S. 255. Vgl. Höss (Anm. 2), S. 368; LHA Weimar, Reg. O 368, Bl. 26; SA Coburg 2444, Bl. 13–14. Vgl. Höss (Anm. 2), S. 368: LHA Weimar Reg. O 67, Bl. 1–2.
Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und ihr Umfeld im 16. Jahrhundert
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schicken.46 – Bücher also, wohin man schaute. Karrenweise erreichten sie die Kleinstadt an der Elbe. Was, wenn sich J auf irgend einem der ins Schloss rumpelnden Wagen befunden hätte?
7. Die Wittenberger Kataloge Mit der Neuorganisation der Wittenberger Bibliothek 1536 wurden die Bücher in der oberen großen Hofstube des Schlosses aufgestellt. Nachdem sie angekettet worden waren, konnte man sie der universitären Öffentlichkeit zugänglich machen. In diesem Zusammenhang entstanden mehrere Kataloge, die sich durchweg noch in Jena befinden.47 Sie sind das wichtigste Hilfsmittel für die Geschichte der fürstlichen Universitätsbibliothek. Es ist daher erstaunlich, dass man in ihnen m. W. bisher nicht nach der Liederhandschrift gesucht hat. Allein der erste Katalog, der 1536 begonnen und bis ca. 1540 von insgesamt 7 Händen fortgeführt wurde, ist im Abdruck zugänglich.48 In ihm wird schon mancher Kollege erfolglos nach J gefahndet haben. Der erste Wittenberger Katalog, in dem J verzeichnet wurde, ist daher der 1543 begonnene, bis 1546 geführte und bisher unveröffentlichte systematische Katalog der Kurfürstlichen Bibliothek.49 Er liegt in zwei Zuständen vor, Konzept (4 D) und Reinschrift (3 A). Zunächst 4 D (Ms. App. 22 B [4 D]), Bl. 3v: Ein alt meister gesang. Dasselbe in 3 A (Ms. App. 22 B [3 A]): Ein gros gesanck buch. In einem dritten Zeugen, dem systematischen Katalog 5 C (auch er ca. 1543–1546), ist die Information noch vollständiger [Abb.]: Ein alt meistergesangbuch pergamenin (Ms. App. 22 B [5 C], Bl. 10v), was nahezu wörtlich dem 1954 entfernten Titelschild entspricht. J ist also 1543 erstmals in Wittenberg nachweisbar, und das in derart erfreulicher Ausführlichkeit, dass man nicht glauben mag, die Handschrift sei zuvor einfach übersehen worden. – Das führt mich zu meinen letzten Punkten: dem Verzeichnis der Schlosskapelle von 1437, dem privaten Buchbesitz des Kurfürsten und der makulierten Epenhandschrift.
8. Der »Ordo librorum« der Allerheiligenkapelle (1437) Die 1340 auf den Wittenberger Burghof umgesetzte, 1489 von Friedrich dem Weisen abgerissene Allerheiligenkapelle beherbergte eine Büchersammlung, die am 30. Oktober 1437 inventarisiert wurde. Dass es sich um eine Kapelle als Aufbewahrungsort handeln sollte, ist mitunter moniert worden.50 Aber da steht »intratur cappellae«, und Kapellen sind als Aufbewahrungsorte mittelalterlicher Buchbestände ein verbreiteter Ort. Die Sammlung beherbergte 1437 einunddreißig gezählte Handschriften, die ganz überwiegend deutschsprachige Literatur des Hoch- und Spätmittelalters enthielten. Bartsch, dem ich folge, hat unter anderem Mandevilles ›Reisen‹ in Ottos von Diemeringen Übersetzung (Nr. 7), den ›Tristrant‹ Eilharts von Oberge (Nr. 11), das ›Passional‹ (Nr. 14),
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Vgl. Tönnies (2002), S. 20. Präzise Übersicht bei Tönnies (2002), S. 29f. Vgl. Sachiko Kusukawa: A Wittenberg University Library catalogue of 1536. Cambridge 1995 (Libri pertinentes 3), Edition S. 169–208. Vgl. Tönnies (2002), S. 30. Vgl. Brandis (1929), S. 109f.; Pickeroth-Uthleb (1975), S. 414.
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die ›Weltchronik‹ Rudolfs von Ems (Nr. 18), den ›Rosengarten‹ (Nr. 26) und Wirnts ›Wigalois‹ (Nr. 27) ausgehoben.51 Schwieriger wird es bei den kürzeren Texten. Vor allem die vier libri magni, die im Verzeichnis an erster Stelle geführt werden (Nr. 1–4), wurden von der Forschung auf Herz und Nieren geprüft. Es sind Handschriften, die J aufgrund ihres Formats und ihrer Inhalte so ähnlich scheinen, dass Burghart Wachinger und, ihm folgend, Gisela Kornrumpf, mit Gründen, doch vorsichtig, für Identität mit dem liber Nr. 2 plädiert haben.52 Das Problem ist bekannt: der Zustand von J lässt keine genaue Abgleichung zu. Hielte man an der Identität mit einem der libri magni fest, müsste man annehmen, J sei in den 100 Jahren bis 1437 weitgehend integer geblieben und hätte erst in den folgenden 100 Jahren Blätter gelassen. Das ist gut vorstellbar. Trotzdem sind verschiedentlich Einwände gegen die Identifizierung erhoben worden. Karl Bartsch hat die knappen Textzitate des »Ordo librorum« auf sprachlicher Ebene in Beziehung zu J gesetzt und dabei signifikante Unterschiede hervorgehoben.53 Demnach wären sämtliche Wittenberger Handschriften im Ostmitteldeutschen entstanden, was die Annahme gleicher Herkunft mit J verbiete. Pickerodt-Uthleb hat sich dieser Argumentation angeschlossen.54 Freilich wäre es eine überraschende Ausnahme in der mittelalterlichen Verzeichnungspraxis, hätte der Katalogisator nicht nur den Wortlaut, sondern auch den Lautstand der Incipits diplomatisch wiedergegeben. Das hat schon Wachinger mit guten Argumenten angefochten.55 Zudem müsste sich die Sprache sämtlicher Handschriften mit seinem eigenen Idiom decken. Das ist zwar möglich, jedoch nicht besonders wahrscheinlich. Mehr aber als eine unbeweisbare Anwesenheit von J im »Ordo librorum« beunruhigt mich die eindeutige Abwesenheit der »Epenhandschrift«.
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Vgl. Bartsch (1879), S. 16–21; Lippert (1895), S. 135–139. – Jürgen Wolf möchte die Gothaer Handschrift Ms. Memb. I 90 der ›Sächsischen Weltchronik‹ mit einem der im Katalog von 1437 genannten Bände identifizieren. Herzog Ernst der Fromme hätte den Codex demnach »vermutlich« seiner 1647 auf Schloss Friedenstein eingerichteten, auf alten Wittenberger Beständen gründenden Bibliothek einverleibt. Vgl. Jürgen Wolf: Die Sächsische Weltchronik im Spiegel ihrer Handschriften. Überlieferung, Textentwicklung, Rezeption. München 1997 (MMS 75), S. 116f., 298f. Wolf müsste allerdings erklären, wo die Handschrift sich vor 1647 befand, da sie ja, sofern sie zur Bibliothek der Wittenberger gehört haben sollte, 1547 nach Weimar und 1549 nach Jena hätte gelangen müssen. Er müsste weiterhin erklären, wohin es die anderen 30 Handschriften von 1437 verschlagen hat, die ihrerseits weder nach Gotha, noch nach Jena gelangten. Schließlich wäre zu klären, warum die Wettiner in der kostbar illuminierten Handschrift Notizen zur Genealogie der Welfen (fol. 163r–164r) hätten eintragen oder auch nur dulden sollen. Noch Spalatin wurde von Johann Friedrich eine polemische Abhandlung (1541) über die PrioritätenFrage im Herkommen abzufassen aufgenötigt; vgl. Höss (Anm. 2), S. 408–411. Vgl. Wachinger (1981), S. 303; Kornrumpf (1990), S. 92. Vgl. Bartsch (1923), S. 55f. Vgl. Pickerodt-Uthleb (1975), S. 254. Vgl. Wachinger (1981), S. 303: »Es scheint aber, dass der Verfasser des Verzeichnisses mindestens teilweise seine eigene Graphie eingesetzt hat«.
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9. Der private Buchbesitz Johann Friedrichs In der bisherigen Diskussion um die Herkunft von Lieder- und Epenhandschrift hat der private Buchbesitz des Kurfürsten Johann Friedrich keine Rolle gespielt. Das verwundert, insofern wir zumindest über zwei »Inventare« dieses Buchbesitzes von 1519 und 1554 verfügen. Keines der hier verzeichneten Bücher hat sich freilich in der Wittenberger Bibliothek nachweisen lassen. Das legt eine Trennung zwischen öffentlicher und privater Sammlung nahe, wie sie bereits Joachim Bauer als bester Kenner der Inventare annahm.56 – Das erste Inventar von 1519 stammt von der Hand des Prinzenerziehers Alexus Colditz (Weimar, Arch. Reg. D 148).57 Es verzeichnet 19 lateinische und 18 deutsche Bücher. Unter ihnen sei »Der fursten regel« und »Parcifall, der helden buoch« (2 Titel?) hervorgehoben. Bereits 1515 hatte man einen »Tristan« für den Zwölfjährigen erworben. Sehr wahrscheinlich handelte es sich um Drucke. Die Jenaer Bibliothek besitzt noch heute »der helden buoch« in der Hagenauer Edition von 1509.58 Inhaltlich ist, verglichen mit dem fast hundert Jahre älteren Verzeichnis von 1437, eine erstaunliche Persistenz zu beobachten. Bis zum Tode des Hanfried 1554 wuchs der Bestand dann auf 426 Bücher an (Weimar, Arch. Reg. D 169), darunter befanden sich immerhin 94 »Hystorische bucher«. Die um 1540/43 der öffentlichen Bibliothek einverleibte Liederhandschrift kann sich darunter, entgegen Brandis’ Erwartungen, nicht mehr befunden haben.59
10. Zum Schicksal der Epenhandschrift Seit der Erschließung der Gothaer, Weimarer und Sondershäuser Fragmente des ›Parzival‹ und ›Segremors‹ gilt die Epenhandschrift, der sie entnommen worden waren, als enge Verwandte von J. Hans-Jochen Schiewer vermutete »Werkstatt- oder Schulgemeinschaft«60 und sprach dezidiert von »Schwesterhandschriften«. Man hat daher angenommen, Lieder- und Epenhandschrift seien auch für denselben Auftraggeber gefertigt worden und entstammten derselben Bibliothek. Das ist immerhin denkbar. Nach dem bisher Ausgeführten ist es aber unwahrscheinlich, dass dies eine Wittenberger Bibliothek war. Die Epenhandschrift ist nun seit 1540 als Einbandmakulatur auf Akten des Amtes Arnstadt und des Amtes Wachsenburg bei Arnstadt nachweisbar. Durch entsprechende Aufschriften lokalisiert und datiert sind das ›Parzival‹-Bruchstück aus Sondershausen (1540/41, A[m]pte Arnstadt) und das Gothaer ›Segremors‹-Fragment (1543, ampt wassenburgh). Auch der Weimarer ›Segremors‹ trägt die Aufschrift Wassennburgk (fol. 1r). Das Ins-Licht-Treten der Epenhandschrift fällt also in genau den Zeitraum, in dem wir auch J erstmals zu greifen vermögen. Arnstadt, Wachsenburg und Sondershausen befinden sich auf dem Territorium der Schwarzburger, des ältesten edelfreien Geschlechts Thüringens, das seit dem 8. Jahrhundert nachweisbar ist und sich über eine geschickte Arrondierungspolitik ein vergleichs-
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Vgl. Bauer (Anm. 31), S. 184. Vgl. Mentz (Anm. 43) 1, S. 95f.; außerdem Bauer (Anm. 31), S. 175f., S. 183–189. Vgl. Joachim Heinzle: Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik. Berlin/New York 1999, S. 149f. Vgl. Brandis (1929), S. 111; Pickerodt-Uthleb (1975), S. 413. Schiewer (1988), bes. S. 229.
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weise umfangreicheres Territorium im Viereck Gotha-Ohrdruf-Ilmenau-Kranichfeld zu sichern vermochte.61 Schwarzburgische Gründungen waren u. a. die bedeutenden Klöster Georgenthal, wo der junge Spalatin als Lehrer und Bibliothekar arbeitete, und Paulinzella.62 Bis zu Philipps von Schwaben Tod hielten es die Schwarzburger vorzugsweise mit den Staufern. Sie stellten Erzbischöfe von Magdeburg und Würzburg und verfügten seit der Mitte des 13. Jahrhunderts über eine tüchtige Kanzlei.63 Die permanente Konkurrenz mit den Landgrafen von Thüringen eskalierte in den Jahren 1342 bis 1346, als die Schwarzburger unter Günther XXI. die Front thüringischer Adliger gegen den wettinischen Friedrich »den Ernsthaften« und dessen harte Landfriedenspolitik anführten.64 Günther XXI. von Schwarzburg, von dem Johannes Rothe ätzte, er würde sich nicht einmal umdrehen, wenn der Landgraf vorbeikäme, ging unbeschadet aus der Fehde hervor und wurde 1349 ordnungsgemäß zum deutschen Gegenkönig gewählt.65 Obwohl es in der Folgezeit immer wieder zu Erbteilungen und damit zu Schwächungen kam, konnte Günther XL. (gest. 1552) im Jahre 1538 noch einmal fast alle schwarzburgischen Besitztümer – auch die in Nordthüringen, am Kyffhäuser und in der Goldenen Aue – unter seiner Herrschaft vereinen.66 In diesen Jahren hoben Heinrich XXXII. und Günther XL. die schwarzburgischen Klöster auf. In schwarzburgischen Klöstern wurden bereits vor der Reformation libri inutiles ausgesondert und als Einbandmakulatur teils vor Ort, teils in den weltlichen Ämtern verwendet. Ein prominenter Fall ist der niederdeutsche ›Pfaffe Amis‹, der 1513/1514 im Amt Clingen verarbeitet wurde.67 1538 verbot man den Arnstädter Franziskanern, ihre Bibliothek mitzunehmen, und das wird nicht daran gelegen haben, dass Günther sie als Grundstock seiner 1540 eröffneten Lateinschule gebraucht hätte.68 1543 griff man nach dem ›Renner‹ Hugos von Trimberg.69 Unter den Akteneinbänden aus Sondershausen
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Vgl. Immo Eberl: Die frühe Geschichte des Hauses Schwarzburg und die Ausbildung seiner Territorialherrschaft. In: Thüringen im Mittelalter. Die Schwarzburger. Heidecksburg 1995 (Beiträge zur schwarzburgischen Kunst- und Kulturgeschichte 3), S. 79–130, bes. S. 88 (Karte). Vgl. Eberl (Anm. 61), S. 92. Vgl. Hans Herz: Kanzlei und Urkundenwesen der Grafen von Schwarzburg. In: Thüringen im Mittelalter (Anm. 61), S. 147–159. Vgl. Peter Langhof: Die Thüringer Grafenfehde und die Schwarzburger. In: Thüringen im Mittelalter (Anm. 61), S. 131–145. Vgl. Rochus von Liliencron (Hg.): Johannes Rothe, Düringische Chronik. Jena 1859 (Thüringische Geschichtsquellen 3), S. 575; Langhof (Anm. 61), S. 134. Vgl. Eifler u. a. (Anm. 41), S. 14. Vgl. Emil Einert: Pfaffe Amis 1–72. In: Germania 33 (1888), S. 46; Gustav Ehrismann: Eine Handschrift des Pfaffen Amis. In: Germania 34 (1889), S. 251f.; Hansjürgen Linke: Die mittelniederdeutsche Fassung des strickerschen ›Pfaffen Amis‹. In: Interpretation und Edition deutscher Texte des Mittelalters. Fs. John Asher, hg. von Kathryn Smith u. a. Berlin 1981, S. 119–163. Dass der ›Amis‹ in niederdeutscher Schreibsprache abgefasst ist, sei hier noch einmal ausdrücklich erwähnt. Sollten die Schwarzburger auch hier Makulatur-Pergament importiert haben? Ich gebe die Frage nach der Geltung des Niederdeutschen auch im südlichen Thüringen, insgesamt eher skeptisch, an die Sprachgeographen und -historiker weiter. Vgl. Gustav Einicke: Zwanzig Jahre Schwarzburgische Reformationsgeschichte 1524–1541. Bd. 2. Nordhausen 1909, S. 151f. Die Lateinschule bestand nur bis 1561. Vgl. Emil Einert und Gustav Ehrismann: Paulinzellaer Rennerbruchstücke. In: Germania 32 (1887), S. 97f.
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findet sich auch ein deutsches Urkundenkonzept Günthers, das 1542 in Arnstadt, das sich seit 1332 ganz in schwarzburgischer Hand befand, zweitverwertet wurde.70 1540–1543 sind wiederum in Arnstadt und im Amt Wachsenburg die ›Parzival‹- und ›Segremors‹Fragmente an der Reihe. Fast hundert Jahre später kam Rothes ›Thüringische Weltchronik‹ unter die Schere. Erhalten hat sich, was freilich Zufall ist, ausgerechnet jener Passus, der von der Königswahl Günthers XXI. berichtet.71 Die Epenhandschrift befand sich also um 1540 wenigstens vorübergehend im Besitz der Schwarzburger oder eines ihrer Klöster. Die gepflegte Abneigung gegenüber den Wettinern macht eine Übernahme der Handschrift aus dieser Richtung ebenso unwahrscheinlich wie die notwendig getrennte, dabei auch grundverschiedene Säkularisationspolitik, die dazu geführt hat, dass wir von den Schwarzburgern beinahe nur Schnipsel, von den ernestinischen Wettinern hingegen eine stattliche Bibliothek besitzen. J eigneten sich die Wettiner um 1540 (wohl durch Ankauf) an, gerade zu der Zeit, als die Schwarzburger die Epenhandschrift makulieren. Beide Häuser hätten ein Interesse an den darin versammelten Texten haben können. Für den jungen Johann Friedrich ist das gesichert. Für die Schwarzburger, insbesondere den Gegenkönig Günther XXI., wäre ein solches Interesse immerhin plausibel. Hier aber lauert spätestens die von Joachim Heinzle installierte »Luftschlossfalle«72, und daher breche ich meinen Durchgang ab. Dreizehn bilanzierende Anmerkungen: 1. Georg Spalatin hat J wohl nicht abgezeichnet. – 2. Das »Signum« ist Buchbinderzeichen. – 3. Aus Einband und Exlibris lässt sich folgern, dass die Handschrift frühestens Ende 1536 (Buchbinder), eher zwischen 1538 (Exlibris) und 1541 (Buchbinder) in den Blick der Bibliotheksverantwortlichen geriet. – 4. Johann Friedrich ließ einige der von ihm erworbenen, bezahlten (Volmar-Hss.) oder sequestrierten Handschriften mit dem Vermerk seines Sponsorings versehen. – 5. Hierher gehört auch die Rothe-Handschrift aus Klosterbesitz (Mildenfurth). – 6. Zwischen 1536 und 1544 verbringen Spalatin und seine Mitstreiter zahlreiche Klosterbestände nach Wittenberg. – 7. J wird noch nicht im ersten Wittenberger Katalog von 1536–1540, sondern erstmals im Katalog der Jahre 1543–1546 erwähnt. – 8. Keiner der Bände des »Ordo librorum« von 1437 ist in der Bibliothek ab 1536 nachweisbar. – 9. Keiner der Bände aus dem Besitz Johann Friedrichs ist dort bzw. in Jena vor 1554 nachweisbar. – 10. Auch die Epenhandschrift fehlt im ›Ordo‹ und beim Hanfried. Sie wurde 1541 im Amt Wachsenburg bei Arnstadt als Makulatur verarbeitet. 1543 erscheint dort eine Hs. des ›Renners‹ Hugos von Trimberg ebenfalls als Rechnungsumschlag. – 11. Epenhandschrift und ›Renner‹ dürften nicht aus Wittenberg dorthin verbracht worden sein. – 12. Vielmehr werden die lokalen Autoritäten nach (Arnstädter) Klostergut gegriffen haben. Spalatin war mit den Arnstädter bzw. schwarzburgischen Sequestrationen nicht betraut. – 13. Lagen Lieder- und Epenhandschrift bis ca. 1540 noch Block an Block, könnte J auch aus schwarzburgischem (Kloster-?) Besitz nach Wittenberg gelangt sein.
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Vgl. Eifler u. a. (Anm. 41), S. 135; Matthias Klein: Arnstadt im Spannungsfeld zwischen dem Kloster Hersfeld und den Grafen von Schwarzburg. In: Thüringen im Mittelalter (Anm. 61), S. 199–215, bes. S. 210f. Vgl. Eifler u. a. (Anm. 41), S. 21f. und S. 43 (Abb.). Vgl. Joachim Heinzle: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. Kleiner Kommentar zu einer Forschungsperspektive. In: Mittelalterliche Literatur im Lebenszusammenhang, hg. von Eckart Conrad Lutz. Freiburg/Schweiz 1997 (Scrinium Friburgense 8), S. 79–93, hier S. 84.
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Abb. 1: Vermerk »principium« mit Beizeichen links oben auf der ersten Seite der ›Jenaer Liederhandschrift‹. ThULB Jena, Ms. El. f. 101, 2r
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Abb. 2: Berlin, SBB-PK, Ms. germ. fol. 1705, 5r: Teil »I« von Cristines de Pizan ›Das buoch von dem vechten vnd der ritterschafft‹ (3. Drittel des 15. Jh.s).
Abb. 3: »jungatur«-Abbreviatur (15. Jh.). Aus: Adriano Cappelli, Lexicon Abbreviaturarum. Dizionario di abbreviature latine et italiane, 6. Aufl. Mailand 1990, S. 409.
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Abb. 4: Holzschnittporträt Kurfürst Johann Friedrichs I. von Sachsen auf dem vorderen Spiegel der ›Jenaer Liederhandschrift‹. ThULB Jena, Ms. El. f. 101
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Abb. 5: Eintrag der ›Jenaer Liederhandschrift‹ (»Ein alt meistergesangbuch pergamenis«) in dem um 1540 angelegten Wittenberger Bibliothekskatalog ThULB Jena, Ms. App. 22 B (5 C), 10v
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KARL STACKMANN
Das Interesse an den deutschen Handschriften des Mittelalters
»Daß der Mensch zuletzt Epitomator von sich selbst wird! und dahin zu gelangen, ist schon Glücks genug.« So sagt es Goethe in den ›Maximen und Reflexionen‹.1 Er meint wohl: Wer das Glück hat, sehr alt zu werden, muss sich darein finden, dass für ihn irgendwann das Neue seinen Reiz verliert und dass er sich mehr und mehr auf das Wieder- und Weiterdenken von früher Bedachtem zurückzieht. In diesem Stadium des Lebens befinde ich mich. Was ich Ihnen als Epitomator meiner selbst vortragen möchte, führt nicht in aktuelle Problemstellungen des Faches. Ich versuche vielmehr, eine Facette der Frühgeschichte der Germanistik, die gewöhnlich wenig Aufmerksamkeit findet2, in ein etwas helleres Licht zu rücken. Die Geschichte des Faches wird heute, namentlich was die Anfänge betrifft, sehr verschieden gesehen und beurteilt.3 Die einen gehen davon aus, dass das Universitätsfach seine Prägung durch Benecke, die Grimms und Lachmann erhielt. Bei dieser Sicht-
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Hg. von Max Hecker, überarbeitet für die ›Bibliothek des 18. Jahrhunderts‹. München 1989, Nr. 995. Es geht mir um die Modalitäten des Umgangs mit mittelalterlichen Handschriften und deren Einfluss auf die methodische Orientierung in der Frühphase des Faches. Wer heute mit der Überlieferung mittelalterlicher Texte befasst ist, wird mit den Fakten vertraut sein, auf die ich mich beziehe. Im Laufe der Jahre wird er dies oder jenes oder noch etwas anderes selbst wahrgenommen haben, ohne ihm sonderliche Beachtung zu schenken. Vielleicht erinnert er sich sogar an das, was er bei Ulrich Hunger (wie Anm. 3, S. 244–246) über »Kalamitäten der Quellenbeschaffung« gelesen hat, wie denn die Fachgeschichtsschreibung gar nicht umhin kann, gelegentlich einen Blick auf die praktischen Bedingungen zu werfen, unter denen anfänglich gearbeitet wurde. Auf eine Befragung der gesamten fachgeschichtlichen Literatur habe ich verzichtet, da mich das in viel zu weite Zusammenhänge geführt hätte. Für eine allgemeine Orientierung habe ich vor allem herangezogen Lothar Bluhm: Die Brüder Grimm und der Beginn der Deutschen Philologie. Eine Studie zu Kommunikation und Wissenschaftsbildung im frühen 19. Jh. Hildesheim 1997; Eckhard Grunewald: Friedrich Heinrich von der Hagen, 1780– 1856. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Germanistik. Berlin 1988; Magdalene Lutz-Hensel: Prinzipien der ersten textkritischen Editionen mittelhochdeutscher Dichtung. Brüder Grimm, Benecke, Lachmann. Eine methodenkritische Analyse. Berlin 1975; Uwe Meves: Ausgewählte Beiträge zur Geschichte der Germanistik und des Deutschunterrichts im 19. und 20. Jahrhundert. Hildesheim 2004 und Stefan Sonderegger: Schatzkammer deutscher Sprachdenkmäler. Die Stiftsbibliothek Sankt Gallen als Quelle germanistischer Handschriftenerschließung vom Humanismus bis zur Gegenwart. St. Gallen/Sigmaringen 1982, ferner den in Anm. 3 genannten Sammelband von Fohrmann und Voßkamp. Vgl. z. B.: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, hg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. Stuttgart 1994; darin besonders die Beiträge von Rainer Kolk (S. 48–114), Uwe Meves (S. 115–203) und Ulrich Hunger (S. 236–263). – Klaus Weimar: Artikel ›Germanistik‹ in: 2RL 1 (1997), S. 706–710.
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Karl Stackmann
weise sind sie die Begründer der wissenschaftlichen Germanistik. Hinter ihnen treten alle übrigen, die man auch noch nennen könnte, als unbedeutend, schlimmstenfalls als Wichtigtuer oder gar als Dilettanten zurück. Andere sehen die Herausbildung der Universitätsgermanistik als einen langen, von verschiedenen Ansätzen und Personen ausgehenden, für unterschiedliche Deutungen offenen Selektionsprozess. In dieser Lage wird es gut sein, wenn ich meine Position gleich zu Anfang offenlege. Ich halte zwar an der besonderen Bedeutung der ›Gründungsväter‹ fest, denn die Germanistik entwickelt sich an den Universitäten mindestens bis zum Auftreten der Junggrammatiker unter ihrem Primat. Aber man kann auch nicht leugnen, dass Männer wie von der Hagen, Maßmann, Hoffmann von Fallersleben, dass Mone und Schmeller, um nur einige Namen zu nennen, Einfluss auf die Entwicklung an den Universitäten genommen und dass auch Liebhaber wie die Freiherren von Laßberg oder von Meusebach das Ihre zur Etablierung des neuen Faches beigetragen haben. Ich halte mich mit meinen Beispielen an diese größere Gruppe, die ich der Einfachheit halber als ›Frühgermanisten‹ bezeichne.4 Sie umfasst diejenigen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an der Erforschung von Sprache und Literatur des deutschen Mittelalters beteiligt waren. Wenn es mir für meine Zwecke nützlich scheint, werfe ich auch einen Blick zurück auf ihre Vorgänger.5
I. »Theilt denn der faule Docen nichts mit?« Mit diesen Worten macht Jacob Grimm in einem Brief vom 17. Juni 1823 seinem Ärger darüber Luft, dass Docen, Kustos der Königlichen Hofbibliothek München, eine von ihm erbetene Auskunft nicht wie erwartet geliefert hat. Da er nicht selbst »zum werk schreiten« wolle, ereifert sich Grimm, »so sollte er wenigstens hergeben, was andern dazu dient«.6 Hinter diesem Ausbruch verbirgt sich ein Dilemma, vor das sich die Germanisten in der Gründungsphase des Faches gestellt sahen. Sie wollten Ernst machen mit einer wissenschaftlichen – und das hieß für sie: mit einer streng philologisch verfahrenden, auf unmittelbarer Erkenntnis der Quellen beruhender – Erforschung der aus dem Mittelalter überlieferten Texte. Dafür benötigten sie oft Informationen von auswärts, die nicht immer leicht zu erreichen waren. Ich möchte, angeregt durch die verärgerte Bemerkung Jacob Grimms über Docen, ganz allgemein der Frage nachgehen, wie denn die Germanisten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihr Interesse an den deutschen Mittelalterhandschriften befriedigen konnten und ob sich daraus etwas für die Methodengeschichte des Faches ergibt. Für die Planung ihrer Arbeiten waren sie auf eine Übersicht über die vorhandenen Quellen angewiesen. Die erforderlichen bibliographischen Angaben konnten sie in den Publikationen älterer, am Mittelalter interessierter Gelehrter finden, am bequemsten
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Ich übernehme die Begriffe ›Frühgermanist‹ und ›Frühgermanistik‹ von Ulrich Hunger (Anm. 3). Vgl. dazu Johannes Janota: Zur Rezeption mal. Literatur zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert. In: Das Weiterleben des Mittelalters in der dt. Literatur, hg. von James F. Poag und Gerhild Scholz-Williams. Königstein i. T. 1983, S. 37–46. Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Karl Lachmann, hg. von Albert Leitzmann, 2 Bde. Jena 1927; Bd. 1, S. 407. – Im folgenden als ›Bfw. Gr. – La.‹ zitiert.
Das Interesse an den deutschen Handschriften des Mittelalters
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freilich in dem ›Literarischen Grundriß‹ ihrer beiden Zeitgenossen von der Hagen und Büsching (1812). Darin ist die mittelalterliche Literatur bis zum Anbruch des Druckzeitalters erfasst.7 Man kann diesen Grundriss getrost als ein Jahrhundertwerk bezeichnen. Noch 1891, also längst nach Erscheinen des ›Goedeke‹, wünschte sich Burdach seine Erneuerung8, und gut 20 Jahre später, 1920, setzte Erich Petzet im Vorwort zum Eröffnungsband des Katalogs der deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek seine Kenntnis immer noch voraus.9 Die Frühgermanisten konnten sich also ohne große Mühe darüber unterrichten, wo sich die sie interessierenden Handschriften befanden, aber sobald sie an den Wortlaut der darin überlieferten Texte herankommen wollten, begannen die Schwierigkeiten. Dafür habe ich Beispiele gesammelt, die ich unter vier Gesichtspunkten vorstellen möchte.10 1. Heranziehung älterer Literatur Konfessionalismus, Polyhistorismus, Litterärgeschichte hatten seit dem 16. Jahrhundert alles mögliche aus deutschen Handschriften des Mittelalters im Druck bekannt gemacht. Auf diese älteren Veröffentlichungen konnten die Frühgermanisten zurückgreifen, und sie haben auch reichlich davon Gebrauch gemacht. Ein sehr eindrucksvolles Bild davon gibt die Liste der Quellen zum ersten Band der Deutschen Grammatik Jacob Grimms vom Jahre 1819. So gut wie alles, was dort auf 14 Seiten aufgeführt ist, stammt aus älteren Handschriftenabdrucken.11 Ich gehe nicht weiter auf diesen Einzelfall ein, sondern greife nur einige für die Frühgermanistik insgesamt besonders wichtige Quellenwerke heraus. Das sind einmal die beiden Glossarien von Haltaus (1758)12 und Scherz-Oberlin (1781 und 1784).13 Sodann gab es zwei viel benutzte Textsammlungen zur mittelhoch-
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Friedrich Heinrich von der Hagen und Johann Gustav Büsching: Literarischer Grundriß zur Geschichte der Deutschen Poesie. Von der ältesten Zeit bis in das sechzehnte Jahrhundert. Berlin 1812. – S. auch S. 200, Anhang I. Burdach beginnt 1891 seine Abhandlung über ›Wandlungen der deutschen Bildung im Spiegel der Handschriftenkunde‹ (in: Zentralblatt f. Bibliothekswesen 8, S. 1–21; wieder abgedruckt: Vorspiel 1, 2, S. 100–126) mit einem Abschnitt über das ein Jahr zuvor erschienene ›Verzeichnis altdeutscher Handschriften‹ von H. A. von Keller. Er leitet ihn folgendermaßen ein: »Solange die sehnlichst erwünschte und dringend gebotene Neubearbeitung von v. der Hagens und Büschings Literarischem Grundriß […], dem bisher immer noch einzigen Repertorium über den Vorrat altdeutscher Handschriften, auf sich warten lässt, werden Bücher wie das vorliegende […] mit Dank aufzunehmen sein.« Die Deutschen Pergament-Handschriften Nr. 1–200 der Staatsbibliothek in München. Beschrieben von Erich Petzet. München 1920, S. XV. Ich habe mich darauf beschränkt, so viel Material aus ein paar bequem erreichbaren Quellen zu sammeln, wie für meinen begrenzten Zweck nötig. Jacob Grimm: Deutsche Grammatik. Erster Theil. Göttingen 1819, S. LII–LXIV (Althochdeutsche Quellen), S. LXIX–LXXI (Mittelhochdeutsche Quellen). Christian Gottlob Haltaus: Glossarium Germanicum Medii &vi Maximam Partem e Diplomatibus Mvltis Praeterea Aliis Monimentis Tam Editis quam Ineditis Adornatum Indicibus Necessariis Instructum […]. Lipsiae MDCCLVIII. Johannis Georgii Scherzii […] Glossarium Germanicum Medii Aevi […] Edidit Illustravit Supplevit Jeremias Jacobus Oberlinus. […] Tomus Prior. Argentorati […] MDCCLXXXI. – Tomus Posterior MDCCLXXXIV.
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deutschen Literatur. Bodmer und Breitinger hatten 1758/59 den überwiegenden Teil der in der ›Manessischen Handschrift‹ überlieferten Strophen publiziert14, dazu auf Grund einer Mitteilung des Bibliothekars Wiedeburg auch Lesarten zum ›Wartburgkrieg‹ aus der ›Jenaer Liederhandschrift‹. Ein paar Jahrzehnte später gab Christoph Heinrich Myller eine umfangreiche ›Samlung deutscher Texte aus dem 12., 13. und 14. Jahrhundert‹ heraus (1784–1785), darunter auch eine Auswahl aus der ›Jenaer Liederhandschrift‹.15 Alle vier Werke waren bis weit ins 19. Jahrhundert im Gebrauch. Drei davon – Haltaus, Scherz-Oberlin, Bodmer-Breitinger – werden noch im Mittelhochdeutschen Wörterbuch (1854–1866) und in Lexers Handwörterbuch (1869–1878) ausgiebig zitiert. Dazu einige wenige Zahlen. Die jeweils erste meint die Gesamtzahl der Belege, die zweite die Zahl der Artikel, in denen sie vorkommen: Mittelhochdeutsches Wörterbuch (BMZ): Haltaus 675/556; Scherz-Oberlin 1597/ 1402; Bodmer-Breitinger 9299/4041. Lexer: Haltaus 852/815; Scherz-Oberlin 958/942; Bodmer-Breitinger 2155/1936.16 Über diesen Sonderfällen darf man nicht vergessen, dass es, wie gesagt, ganz allgemein Publikationen älterer Gelehrter waren, aus denen die Frühgermanisten ihre Grundkenntnisse der mittelalterlichen Sprache und Literatur bezogen. Deren Handschriftendrucke dienten ihnen im übrigen auch ganz konkret als Hilfsmittel für eigene editorische Unternehmungen. Ich erinnere nur an Lachmanns Vorgehen bei seiner Nibelungen- oder Wolfram-Ausgabe. Er trug die dafür notwendigen Kollationen im Verlaufe der Wolframreise von 1824 in ein Exemplar von Myllers ›Samlung‹ ein.17 2. Verwendung fremder Kopien oder Kollationen Bei der Vermittlung von Handschriftenkenntnissen spielten Kopien und Kollationen, die von Dritten gefertigt wurden, eine erhebliche Rolle. Davon kann man sich durch einen Blick in die Quellenverzeichnisse der frühgermanistischen Textausgaben schnell überzeugen. Sehr aufwendig und daher wenig beliebt war es, einen unbekannten Kopisten gegen Honorarzahlung zu engagieren. Das wird am Fall des Pfarrers Johann Christian Zahn sehr deutlich. Nachdem er sich schon bei der Drucklegung der ›Ulfilas‹-Edition von 1805 finanziell übernommen hatte, brachte ihn der anschließende Versuch, den althochdeut-
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Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger: Sammlung von Minnesingern aus dem schwæbischen Zeitpuncte CXL Dichter enthaltend […]. Aus der Handschrift der kœniglich französischen Bibliotheck herausgegeben, 1. Theil Zyrich 1758; 2. Theil ebd. 1759. Myller (1784/1785) – Die Auszüge aus der ›Jenaer Liederhandschrift‹ stammen aus der Abschrift, die Wiedeburg für Breitinger/Bodmer angefertigt hat; Näheres dazu im Beitrag von Jens Haustein, u. S. 209f. Ich habe Kurt Gärtner sehr zu danken, dass er diese Zahlen für mich ermittelt hat. Dafür verwendete er: Mittelhochdeutsche Wörterbücher in Verbund, hg. von Thomas Bruch, Johannes Fournier und Kurt Gärtner. CD-ROM mit Begleitbuch. Stuttgart 2002. Friedrich Neumann: Karl Lachmanns ›Wolframreise‹, In: Wolfram von Eschenbach, hg. von Heinz Rupp. Darmstadt 1966 (Wege der Forschung 57), S. 6–37. – Über die Verwendung älterer Drucke in der ›Auswahl aus den hochdeutschen Dichtern‹ vgl. Anhang II.
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schen ›Tatian‹ zu veröffentlichen, abermals an den Rand des Ruins. Er hatte über viele Jahre hinweg gegen Misstrauen und Unwillen in St. Gallen zu kämpfen, erhielt endlich aber doch im Jahre 1811 die gewünschten Kopien. Dafür musste er rund 73 Reichstaler aufbringen. Das entspricht etwa dem, was man als durchschnittliches Jahreseinkommen der evangelischen Pfarrer im frühen 19. Jahrhundert errechnet hat, stellt also für einen Mann wie Zahn ein wahres Vermögen dar.18 – Auf St. Galler Quellen war auch Jacob Grimm bei der Ausarbeitung seiner »Deutschen Grammatik« angewiesen. In einem Brief an Savigny beschwert er sich über die hohen Kosten für den »dortigen berühmten Copisten«, und setzt hinzu, obendrein sollten »die Vorsteher der Bib[liothek] wunderliche Leute sein.«19 Er wird wohl von Zahns Debakel gewusst haben.20 Unter solchen Umständen ist es verständlich, dass man sich zur Verringerung oder Vermeidung von Kosten an Mittelsmänner hielt, mit denen man in persönlichem Austausch stand. Jacob Grimm etwa versorgte sich mit dem Quellenmaterial aus St. Gallen durch Auskünfte von Ildefons von Arx, Leonz Füglistaller21, von Mone22 und Laßberg23. Lachmann kopierte für ihn auf seiner Wolframreise die St. Galler Notker-Handschriften. Auch von der Hagen unterhielt zahlreiche Verbindungen, die ihm Auskünfte über Handschriften eintrugen. Aus Rom versorgte ihn beispielsweise Ferdinand Glöckle24, aus Paris G. W. Raszmann25, aus Wien Alois Primisser26, Franz Goldhann27 und andere.
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Vgl. dazu Karl Stackmann: Die Göttinger Abschriften des St. Galler ›Tatian‹, in: Althochdeutsch, hg. von Rolf Bergmann u. a., Bd. 2. Heidelberg 1987, S. 1504–1520; spez. S. 1507–1509 und 1513–1517. – Zur Besoldung der Pfarrer s. S. 1516, Anm. 52. Sonderegger (Anm. 2), S. 90f. Über die Imponderabilien, mit denen bei der Bestellung von Handschriftenkopien zu rechnen war, erfährt man beispielsweise auch einiges aus einem Brief Lachmanns vom 31.10.1825 und der Antwort Jacob Grimms. Lachmann bemüht sich um eine Abschrift der Straßburger ›Gregorius‹-Handschrift (B, 1870 verbrannt). Er erhofft Hilfe von Görres, der sich gerade in Straßburg aufhält, und er meint, der werde »wohl auch einen Abschreiber« auftreiben, »der wenigstens besser ist als Engelhardt. Wegen des Preises braucht man nicht eben schwierig zu sein: denn für 3800 Verse kann einer wenn noch so viel doch nicht alle Welt fordern« (Bfw. Gr. – La. 2, S. 472; Nr. 98 vom 31.10.1825). Grimm hält es für »gerathner an den jungen Schweighäuser« (ADB 33 [1891], S. 351–357) zu schreiben »als an Engelhard (ADB 6 [1877], S. 138f.), der polizeipräfect (auch Schweighäusers schwager) ist, aber wie ich aus erfahrung weiß nicht sehr gefällig und immer das geld für die copien vorausbezahlt haben will« (Bfw. Gr. – La. 2, S.475; Nr. 99 vom 27.11.1825). Über die beiden Schweizer (von Arx, Füglistaller) und ihre Funktionen in St. Gallen vgl. Sonderegger (Anm. 2). [Art.] Mone, Franz Joseph. In: Internationales Germanistenlexikon 2 (2003), S. 1255f. (im Folgenden: IGL). [Art.] Laßberg, Joseph Maria Christoph. In: IGL 2 (2003), S. 1063–1066. Vgl. S. XXX, Anhang III. Nicht ermittelt; vgl. auch Anm. 60. Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich. Enthaltend die Lebensskizzen der denkwürdigen Personen, welche 1750 bis 1850 im Kaiserstaate und in seinen Kronländern gelebt haben. Von Constantin von Wurzbach. Bd. 23, 1872, S. 298–302. Gerhard Diehl hat mir einen biographischen Nachweis vermittelt. Nach Oskar Hannink (Vorstudien zu einer Neuausgabe des Lanzelet des Ulrich von Zazikhoven, Diss. Göttingen 1914, S. 29, Anm. 1) war Goldhann Bürger der Stadt Wien und ist vor 1857 gestorben.
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Tieck überließ ihm seine Abschrift des ›Rother‹.28 Der Braunschweiger Professor und Literat Eschenburg29 fertigte ihm für die ›Deutschen Gedichte‹ (1808) eine Abschrift des Wolfenbütteler ›Wigamur‹ an und stellte ihm für den gleichen Band seine Handschrift des ›Salomon und Morolf‹ zur Verfügung.30 Zu den ›Minnesingern‹ erhielt von der Hagen, wie seinem ›Vorbericht‹ zu entnehmen, Beiträge von allen möglichen Seiten. Selbst Lachmann steuerte dazu bei.31 In Preußen wurde die Beschaffung von Kopien aus mittelalterlichen deutschen Handschriften gelegentlich sogar durch den Staat unterstützt. Büsching und von der Hagen erreichten während ihrer Breslauer Zeit, dass Schottky 1816 mit einem Stipendium des Kultusministers nach Wien entsandt wurde, um Kopien für die Berliner und Breslauer Bibliothek anzufertigen.32 Sie wurden ihrerseits kopiert. So besaß Lachmann das ›Frauenbuch‹ Ulrichs von Lichtenstein in einer Abschrift, die Wackernagel von Schottkys Kopie genommen hatte.33 Natürlich hatten die Abschriften Dritter, mit denen die Frühgermanisten arbeiteten, sehr verschiedene Qualität. Zahns ›Tatian‹-Kopie etwa war, wie Stichproben ergaben, von außerordentlicher Zuverlässigkeit. An Gegenbeispielen fehlt es aber auch nicht. Ein sehr instruktives bilden drei frühgermanistische Ausgaben des ›Ludwigsliedes‹. Die Herausgeber Docen (1813), Lachmann (1823) und Hoffmann von Fallersleben (1830) waren auf die Benutzung der Abschrift angewiesen, die Mabillon 1689 angefertigt und Schilter überlassen hatte. Der druckte sie 1696 in seinem ›Thesaurus Antiquitatum
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Von der Hagen äußert sich dazu recht umständlich in der Einleitung zu seinem ›Rother‹-Druck von 1808. Zunächst beklagt er, dass die Handschrift lange in der vatikanischen Bibliothek verborgen war und von Friedrich Adelung, der sie »neuerdings« wieder entdeckte, ganz falsch beurteilt wurde. Dann weiter: »Endlich durch Tiecks Eifer […] erfreuen wir uns […] einer eigenhändig an Ort und Stelle genommenen, vollständigen und genauen Abschrift […], welche uns […] zum Abdruck […] vergönnt wurde. Und ich kann es hier nicht unerwähnt lassen, daß Tieck sogar der mühsamen Arbeit sich unterzogen hat, meine für den Druck genommene Abschrift genau mit der seinigen zu vergleichen, darnach zu verbessern und sie mit Randglossen auszustatten […].« (Deutsche Gedichte des Mittelalters. Berlin 1808, ›Rother‹, S. XII). Vgl. dazu: Letters of Ludwig Tieck, hg. von Edwin Zeydel u. a. New York 1937, Nr. 38, S. 110–113. IGL (Anm. 22) 1, S. 453–455. Von der Hagen zum ›Wigamur‹: »Der so schwierigen Arbeit der Abschrift, hatte der Hofrath Eschenburg zu Braunschweig, sich zu unterziehen die Güte gehabt, durch dessen freundschaftliche Theilnahme wir […] schon viele treffliche Beiträge erhalten haben […].« (Deutsche Gedichte des Mittelalters 1, Berlin 1808, ›Wigamur‹, S. VIII). – Zu ›Salomon und Morolf‹: »Die einzige noch übrige Handschrift […] ist in Besitz des Hofr. Eschenburg, welcher […] sie uns jetzt zum vollständigen Abdruck gütigst mitgetheilt hat.« (ebda. ›Salomon und Morolf‹, S. XXIII). »Den Herrn von Kolmar verdanke ich Professor Lachmann, der mir Finslers Abschrift […] und seine Herstellung derselben gefällig mittheilte.« (HMS 1, S. XIX). Vgl. S. 202f., Anhang IV. Im Nachwort zur Ausgabe (Ulrich von Lichtenstein. Mit Anmerkungen von Theodor von Karajan, hg. von Karl Lachmann. Berlin 1841, S. 682) sagt Lachmann: »Das Frauenbuch habe ich […] in einer abschrift von Wackernagel, die er im jahre 1828 von einer abschrift von Schottky genommen hat.« In einem Brief an Jacob Grimm vom 20.3.1829 über die Vorbereitungen zu der Ausgabe hieß es genauer: »Ich werde Hagen um Erlaubniß bitten, Ulrichs schlechtes frouwen-buoch […] hinzuzufügen […] nach einer Abschrift die Wackernagel ohne sein Wissen genommen hat« (Bfw. Gr. – La. 2, S. 533, Nr. 121).
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Teutonicarum‹.34 Die Handschrift war schon damals nicht mehr auffindbar und musste als verloren gelten. Docen erklärte den Text Mabillons für »verwahrloset« und lieferte eine »viele verderbte Stellen berichtigende Recension« in Strophen aus Kurzzeilen35. Auf seine Ausgabe griff Lachmann zurück, als er 1825 eine Auswahl altfränkischer Texte für seine Hörer drucken ließ, gab dem Gedicht aber mit Langzeilenstrophen die einzig angemessene Form.36 Den Lachmannschen Text übernahm dann Hoffmann mit kleinen Änderungen, druckte ihn aber parallel zur Schilterschen Fassung.37 Wie steht es nun mit den Textbesserungen? Das lässt sich recht genau angeben, seit Hoffmann in der Bibliothèque Municipale von Valenciennes die Handschrift 1837 wiederfand und mit Jan Frans Willems zusammen publizierte.38 Willems zählte 125 Fehler in Mabillons Kopie. Dabei handelt es sich zur Hauptsache um Abweichungen der Graphie. Solche Fälle sind bei einem Denkmal dieses Alters ebenso fatal wie sie unzugänglich sind für divinatorische Besserungen. Eine Konjektur konnte mit Aussicht auf Erfolg nur versucht werden, soweit offenkundige Fehler vorlagen. Docen hat ein halbes Dutzend solcher Stellen richtig, d. h. in Übereinstimmung mit der Handschrift hergestellt, und Lachmann hat einige weitere hinzugefügt. Aber an andern Stellen gingen sie mit ihren Besserungen in die Irre oder erkannten einen Fehler gar nicht. So muss man nüchtern feststellen: Die drei Ausgaben schleppen im Schnitt zwei Fehler pro Langvers mit sich. Ein solches Risiko musste eingehen, wer immer auf die Verwendung von unkontrollierbaren Abschriften angewiesen war.39
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Joannis Schilteri […] Thesaurus Antiquitatum Tevtonicarum […] Tomus Secundus […] post Schilterum […] recensuit […] Joh. Georgius Scherzius […]. Ulmae MDCCXXVII. – Darin (mit eigener Seitenzählung): Rhythmus Antiquus Ludovico Regi Francorum Victori Nortmannorum Acclamatus. – Ein zweites Titelblatt besagt über die Herkunft des Textes: Ex Codice Manuscripto Monasterii Elnonensis sive S. Amandi […] per Domnum Johannem Mabillon […] Descriptum. Lied eines fränkischen Dichters auf König Ludwig III., Ludwig des Stammlers Sohn, der selber die Normannen im Jahr 881 besiegt hatte. Nach 7 früheren Abdrücken zum erstenmal strophisch eingetheilt, und an mehrern Stellen berichtigt, hg. von Bernhard Joseph Docen. München 1813. Specimina Linguae Francicae in Usum Auditorum Edita a Carolo Lachmanno. Berolinae 1825. – In der Vorbemerkung: »Scipturam [...] carminis [...] aliquot locis (nam Docenius non multa reliqua fecerat) emendavi; alia fortasse audacius tentavi [...].« Fundgruben für Geschichte deutscher Sprache und Litteratur, hg. von Heinrich Hoffmann, I. Theil. Breslau 1830; darin: S. 4–9: Ludwigslied aus dem IX. Jahrhundert. Elnonensia. Monuments des Langues Romane et Tudesque […] Publiés par Hoffmann de Fallersleben avec […] des Remarques par J. F. Willems. Gent 1837. – Hoffmann schildert die Wiederauffindung in: August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Mein Leben. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Hannover 1868, Bd. 3, S. 18–22. Auch eigene Abschriften waren nicht immer fehlerfrei. Maßmann hatte beim Abschreiben des ›Moriz von Craun‹ aus der Ambraser Handschrift den Vers 1716 vergessen. Im Lesartenapparat bezeichnet er ihn als fehlend und ergänzt ihn durch eine Konjektur, die zwar in den Zusammenhang passt, aber die sehr dezente Formulierung des überlieferten Textes ins Volkstümlich-Derbe transponiert. – Über die Abschreibetechnik Maßmanns weiß Scherer Ergötzliches zu berichten: »[…] die äußere Genauigkeit ließ er vielfach vermissen, weil er sich allzusehr auf die, wie er glaubte, sicher erworbene Geschicklichkeit verließ. Man konnte ihn in hohem Alter auf der Berliner Bibliothek Handschriften abschreiben sehen mit unverwandt auf die Vorlage gerichteten Augen und ohne nur Einmal auf seine eigene Schrift hinzusehen; er sagte: ›Ich hab’s im Ductus‹« (ADB 20, 1884, S. 569–571).
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3. Entleihung von Handschriften auswärtiger Bibliotheken Die Handschriften mussten in der Regel vor Ort, d. h. in der besitzenden Bibliothek, benutzt werden. Selbst das konnte durch entgegenstehende Bestimmungen erschwert werden oder ganz daran scheitern. Lachmann versuchte 1820 über das preußische Kultusministerium, eine Karlsruher Handschrift zu entleihen. Das wurde ihm verweigert, weil es die »bestehenden Statuten dieser Bibliothek« verboten, Handschriften »auch am Orte selbst in Privatwohnungen abzugeben.« Er »möge selbst oder durch einen Beauftragten (!) Abschrift unter Aufsicht eines Bibliothekars nehmen«.40 Jacob Grimm, dem er das mitteilte, fand das »Carlsruher Benehmen […] unbegreiflich.« Er hatte auch gleich eine Parallele zur Hand: »Ich besinne mich, dass man mir aus Stuttgart, als ich um eine Handschrift gebeten, förmlich und von Staatswegen […] antwortete, es gehe nicht weil eine einmahl benutzte oder abgeschriebene Handschrift dadurch von ihrem Werth verliere.«41 Solche Unvernunft blieb die Ausnahme. Der junge Jacob Grimm hielt eine Entleihung nach außerhalb für ganz unproblematisch, jedenfalls fragte er 1809 den auf Reisen befindlichen Wilhelm: »Könntest du nicht die weimarer Codexe borgen«42, das heißt, er hoffte, der Bruder werde ihm die Handschriften, die er bei den Vorarbeiten zu seinem ersten Buch, der Abhandlung ›Über den altdeutschen Meistergesang‹, brauchte, im Reisegepäck mitbringen. Daraus wurde nichts. Goethe, der zuständige Minister, bei dem Wilhelm vorstellig wurde, bestand darauf, dass Jacob ein förmliches Gesuch einreichte.43 Es gab also sehr wohl Verleihungen nach außerhalb, nur bedurfte man dafür u. U. höchster und allerhöchster Protektion. So erhielt Bodmer die ›Manessische Handschrift‹ mit Einwilligung des französischen Königs von Paris nach Zürich übersandt. Von der Hagen konnte mit Erlaubnis Goethes bei der Zusammenstellung der ›Minnesinger‹ die Jenaer und die ›Weimarer Liederhandschrift‹ in Berlin benutzen,44 außerdem, vermittelt durch das preußische Kultusministerium, aus Bayern die ›Würzburger Liederhandschrift‹45 und aus Baden eine ganze Reihe von Heidelberger Handschriften.46 In diesen Fällen handelt es sich um hochoffizielle Vorgänge, bei denen jeweils die preußische Regierung als Kontrahentin der entleihenden Staaten auftrat. – Die Jenaer Handschrift wurde von der Hagen über den preußischen Kultusminister persönlich zugestellt. In dessen Dienstzimmer blieb sie monatelang unausgepackt liegen, weil nie-
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Bfw. Gr. – La. (Anm. 2) 1, S. 219 (Nr. 28 vom 30.10.1820). Bfw. Gr. – La. (Anm. 2) 1, S. 231f. (Nr. 30 vom 12.11.1820). Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm, hg. von Heinz Rölleke. Stuttgart 2001, S. 191 (Nr. 83 vom 24.11.1809). Hier ist darauf hinzuweisen, dass formlose Entleihungen an Durchreisende durchaus vorkamen. Tieck erwähnt in dem bereits zitierten Brief (s. Anm. 28), er habe auf einer Reise den Gothaer ›Reinfried von Braunschweig‹ nach Hause mitbekommen. Briefwechsel (Anm. 42) S. 200 (Nr. 87 vom 27.12.1809): »Ich ging zu Göthe der mir endlich wegen der Weimarischen MSS. eine bestimmte Antwort gab. Sie ist […] auf ein formelles förmliches Verfahren eingerichtet. Du mögest nämlich in deinem Charakter und als Bibliothekar an ihn schreiben und förmlich […] um Mittheilung der zwei MSS. bitten, auch der andern Herrn, welche darüber mitzudisponiren, erwähnen, […] dann wolle er davon reden, und sie sollten mit der Post an dich abgesendet werden.« HMS 1, S. XVII und S. XX. HMS 1, S. XVII. HMS 1, S. XVI und S. XX.
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mand wusste, was die Kiste enthielt.47 – Fürstliches Wohlwollen ermöglichte es von der Hagen auch, den Gothaer ›Herzog Ernst‹ in Breslau zu benutzen.48 In einem andern Fall half ihm nicht einmal die Unterstützung durch das preußische Außenministerium. Bayern war nicht bereit, den ›Frauendienst‹ Ulrichs von Lichtenstein herauszugeben. Denn es handle sich um den Codex unicus.49 Wenn das gegenseitige Vertrauen von Leihgeber und Entleiher gegeben war, reichte auch ein weniger umständliches Verfahren. So durfte Laßberg, in der Nähe von Konstanz ansässig, mit Genehmigung des Ildefons von Arx St. Galler Handschriften nach Hause mitnehmen.50 – Maßmann erhielt auf einer seiner Reisen ›Kaiserchronik‹-Fragmente von Pertz aus Hannover nach Wolfenbüttel geschickt.51 – Eberhard von Groote bekam den Heidelberger ›Tristan‹ nach Köln ausgeliehen. Später ging er auch an Benecke,52 wie denn Benecke in diesem Zusammenhang mit Vorrang zu nennen ist. Er genoss als Bibliothekar großes Ansehen. Die Maatschappiy der Nederlandsche Letterkunde in Leiden lieh ihm die dortige ›Wigalois‹-Handschrift nach Göttingen aus, obwohl das die Satzung eigentlich gar nicht zuließ.53 Aus St. Florian bekam er die Riedegger Neidhart-Handschrift, aus Bremen schickte man ihm Goldasts Abschrift der Manessischen Handschrift.54 Auf Grund seiner Freundschaft mit Laßberg konnte er dessen ›Barlaam‹-Handschrift in Göttingen einsehen. Laßberg hielt sie für ein Autograph Rudolfs von Ems und schätzte sie deswegen ganz besonders. So reagierte er denn auch zunächst recht zurückhaltend auf Beneckes Wunsch und machte zur Bedingung, dass der ihm »einen sichereren Weg« für den Transport nachwiese; denn »die Unregelmäßigkeit unserer teutschen Posten« verursache ihm »nicht unbegründetes Bedenken.« Er ließ sich am Ende aber doch auf die Verleihung ein.55
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S. Hecker (1929), spez. S. 174f. S. ›Herzog Ernst‹, in: Deutsche Gedichte des Mittelalters, Bd. 1. Berlin 1808: Die »durch die gnädige Erlaubniß Sr. Durchlaucht des Herzogs von Gotha aus Dero Bibliothek uns zum Abdruck verstattete Handschrift« (S. XX). HMS 1, S. XIX »die Bemühung darum [um die Münchner Handschrift], auch durch das auswärtige hohe Ministerium« war »vergeblich, weil es die einzige Handschrift wäre.« – Vergeblich waren auch die von beiden »hohen Ministerien« unterstützten Bemühungen um die Entleihung der Weingartener Handschrift aus der kgl. Bibliothek in Stuttgart. Hier handelte es sich aber nur darum, dass von der Hagen seine an Ort und Stelle vorgenommene Kollation überprüfen wollte (HMS 1, S. XVIf.). Sonderegger (Anm. 2), S. 128f. Der Keiser und der Kunige Buoch oder Die sogenannte Kaiserchronik. Gedicht des zwölften Jahrhunderts von 18,578 Reimzeilen, hg. von Hans Ferdinand Maßmann, 3 Bde. Quedlinburg/ Leipzig 1849–1854, Bd. 1. S. VII. Briefe aus der Frühzeit der deutschen Philologie an Georg Friedrich Benecke, hg. von Rudolf Baier. Leipzig 1901, S. 23–25. Wigalois der Ritter mit dem Rade. Getihtet von Wirnt von Gravenberch, hg. von George Friederich Benecke. Berlin 1819, S. XXXVIIf. Zur Riedegger Hs. vgl. Benecke: Beyträge zur Kenntniss der deutschen Sprache und Litteratur 2. Göttingen 1832, S. 297–299 und S. 495. – Zu Goldasts (und Schobingers) Abschrift vgl. ebd. 1, 1810, S. III: »Ich erbat mir […] diese Handschrift zur Einsicht, und Hr. […] Oelrichs […] hatte die Güte, meine Bitte auf die gefälligste Weise zu gewähren.« Briefe (Anm. 52), S. 49 (Nr. 29); S. 50 (Nr. 30); S. 52 (Nr. 32).
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Noch einen letzten Fall will ich erwähnen, weil er zeigt, unter welchen Umständen die Handschriften-Suche ablaufen konnte. Bodmer hatte 1755 vom Oberamtmann Wocher die Erlaubnis erhalten, aus der Bibliothek der Grafen von Hohenems eine Handschrift des ›Nibelungenliedes‹, die eigentlich nicht ausgeliehen werden durfte, in Zürich zu benutzen. Es war unsere heutige Handschrift C. Gut 20 Jahre später, 1779, wollte er sie nochmals einsehen und wandte sich wiederum an Wocher. Der stand vor einer gänzlich veränderten Situation. Das Grafengeschlecht war im Mannesstamm ausgestorben, seine Herrschaft befand sich in Auflösung. Wocher musste sich selbst auf die Suche machen. Was er vorfand, beschreibt er so: »Ich traf den ganzen beträchtlichen, nun beynahe vermoderten Büchervorrath in verschiedenen Haufen auf ein ander liegend, und nach langem Gewühle glückte es mir endlich das alte Gedicht […] zu finden.« Es war wirklich das ›Nibelungenlied‹, was Bodmer bekam, diesmal aber die Handschrift A.56 4. Bereisung auswärtiger Bibliotheken Der sicherste Weg, an verlässliche Kenntnis der Handschriften zu kommen, war es, eine Handschriftenreise zu unternehmen. Wohl jeder Frühgermanist hat sich auf solche Reisen begeben.57 Ich beginne mit zwei Fällen, an denen deutlich wird, welch hohe Bedeutung die preußische Regierung den germanistischen Mittelalter-Studien beimaß. Von der Hagen konnte gleich zweimal mit staatlicher Unterstützung auf Reisen gehen. 1816 unternahm er als Breslauer Professor zusammen mit Friedrich von Raumer und Karl von Lattorf eine »15monatige Reise durch Deutschland, die Schweiz und Italien«. Sie diente der Erkundung von Zeugnissen für die Kultur des Mittelalters im allgemeinem, aber natürlich auch dem Besuch von Bibliotheken. Von der Hagen hat über diese Reise in den vier Bänden seiner ›Briefe in die Heimat‹ berichtet.58 Eine zweite Reise führte ihn, gefördert durch Friedrich Wilhelm III., 1823 nach Paris, wo er sich eingehend mit der Manessischen Handschrift befasste.59 Bei Jacob Grimm stieß die staatliche Unterstützung dieser Reise auf Unverständnis. An Lachmann, der gerade seine Wolframreise vorbereitete, schrieb er: »Was Hagen eigentlich zu Paris will, begreife ich nicht recht; die übergenaue raßmannische Vergleichung hat er ja und die Handschrift ist an sich nicht bedeutend correct. In der Zeitung steht, dass ihm die Regierung 350 Thaler zur Reise gibt, und so schnell nach der ersten italienischen Reise, von der er im Grunde wenig mitzurückgebracht hat.«60 –
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Theodor Abeling: Das Nibelungenlied und seine Literatur, Eine Bibliographie und 4 Abhandlungen. Leipzig 1907, S. 134–138, S. 148–150, spez. S. 149. Einen guten Eindruck davon bekommt man durch das, was Sonderegger (Anm. 2) über auswärtige Besucher der St. Galler Bibliothek berichtet. Grunewald (Anm. 2), S. 22. – Friedrich Heinrich von der Hagen: Briefe in die Heimat aus Deutschland, der Schweiz und Italien, 4 Bde. in 3. Breslau 1818–1821. HMS 1, S. XV; vgl. auch die erste Seite der unpaginierten Widmung an König Friedrich Wilhelm III. Bfw. Gr. – La. 1, S. 390 (Nr. 67 vom 12.5.1823): – Die ›raßmannische vergleichung‹: G. W. Raßmann: Berichtigungen und Nachträge zu Bodmers Ausgabe der Manessischen Sammlung von Minnesingern. In: Museum für Altdeutsche Literatur und Kunst, hg. von Friedrich Heinrich von der Hagen u. a., Bd. 1. Berlin 1809, S. 313–444.
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Der andere Begünstigte der preußischen Bildungspolitik, den ich hier erwähne, war Eberhard Gottlieb Graff. Er erarbeitete sein Althochdeutsches Wörterbuch zum ganz überwiegenden Teil direkt aus den Handschriften. Zu diesem Zweck unternahm er viele Reisen. Für die Publikation der Neufunde, die er dabei machte, gründete er eine eigene Zeitschrift, die ›Diutiska‹.61 Lachmann, mit dem er aus Königsberger Tagen gut bekannt war, äußerte sich in einem Brief von 1825 an Jacob Grimm sehr skeptisch. Er sei über Graff verärgert, heißt es da, und weiter: »Er hat sich nun aufgemacht, ohne Bücher ohne Hülfsmittel, und ist in einer puren Reisewut. Wie er hier ankam, war sein Geld schon verzehrt, hat er dem Ministerio gesagt. Humboldt hat bald nach seiner Abreise gefragt, ob er verrückt sei: er habe von ihm eine Anweisung auf 2000 Thaler verlangt, die ihm die Academie für seine Reise ausgesetzt habe. Davon weiß natürlich niemand; […]. Wo er eigentlich hin wollte und was er holen wollte, außer alles, wuste er gar nicht.«62 Graffs Zähigkeit bewährte sich aber. Die sechs Bände seines Wörterbuchs erschienen zwischen 1834 und 1842.63 Von den vielen andern, die Handschriftenreisen unternahmen, seien noch Hoffmann von Fallersleben und Maßmann genannt. Hoffmann war von leidenschaftlichem Interesse an deutschen und niederländischen Handschriften des Mittelalters beseelt. Hermann Paul sagt zusammenfassend über ihn: Hoffmann »war besonders glücklich in der Aufspürung von Handschriften und seltenen Drucken, wozu ihm seine vielen Reisen Gelegenheit gaben.«64 Auch Maßmann hat Außergewöhnliches geleistet. Ich erinnere nur daran, dass er einen Großteil der ihm bekannten Überlieferung der ›Kaiserchronik‹ auf seinen Reisen und vor Ort aufgenommen hat, in seinen eigenen Worten: »Fast sämmtlichen Handschriften bin ich […] nachgereist.« Er setzt hinzu: »Andere Handschriften erhielt ich auf herzerhebende Weise geliehen und zugesendet; nicht nur durch das K. Preußische Ministerium die Schottkysche Abschrift der Wiener Handschrift […] von Berlin nach Heidelberg und durch das Großherzoglich Badische Ministerium die Handschriften H und K nach München, sondern auch durch den Fürsten von Waldburg-Zeil auf das Vertrauendste die ihm eigene Handschrift Z nach München […].« Es folgt ein umständlicher Dank an den
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IGL (Anm. 22) 1, S. 594f. – Diutiska. Denkmäler deutscher Sprache und Literatur, aus alten Handschriften […] theils herausgegeben, theils nachgewiesen […] von Eberhard Gottlieb Graff, 3 Bde. Stuttgart/Tübingen 1826–1829. Bfw. Gr. – La. 1, S. 461 (Nr. 93 vom 9.9.1825). Eberhard Gottlieb Graff: Althochdeutscher Sprachschatz oder Wörterbuch der althochdeutschen Sprache, in welchem […] alle aus den Zeiten vor dem 12ten Jahrhundert uns aufbewahrten hochdeutschen Wörter unmittelbar aus den handschriftlichen Quellen vollständig gesammelt […] sind, 6 Bde. Berlin 1834–1842. (Ein Teil von Bd. 5 und Bd. 6 von Maßmann redigiert). Hermann Paul: Geschichte der Germanischen Philologie. In: Grundriss der Germanischen Philologie, hg. von Hermann Paul, Bd. 1, 2. Aufl. Straßburg 1901, S. 9–158; spez. S. 99. – Von der Wiederauffindung des ›Ludwigsliedes‹ durch Hoffmann war schon die Rede. Weiteres: Bonner Otfried-Fragmente; ›Merigato‹; ›Wiener Physiologus‹; Frau Ava (Hs. G); Heinrichs Litanei (Hs. G); Priester Wernhers ›Maria‹ (Hs. D); Linzer ›Entechrist‹; Wiener ›Osterspiel‹; Trierer ›Theophilusspiel‹. Zu erinnern ist auch an die Horae Belgicae (12 Bde., 1830–1862), eine Quellensammlung zur niederländischen Literaturgeschichte des Mittelalters.
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Fürsten Lobkowitz, der ihm 1839 die Prager Handschrift (P) »durch einen eigenen Eiloder Hastboten nach Wien kommen ließ«.65 Alle vier bis jetzt Erwähnten waren auf Neufunde aus und taten sich auf ihre Entdekkungen nicht wenig zugute. Ganz anders verhält es sich mit dem Fünften in meiner Reihe, mit Karl Lachmann, der selbstironisch von sich sagt, »im Gegensatz zu Hoffmann« (von Fallersleben) sei er »der Nichts-Entdeckende«.66 Die einzige größere Handschriftenreise, die er während eines vom Ministerium gewährten Urlaubs unternahm, legte er denn auch so an, dass sie ihn zu im voraus bekannten Handschriften führte. Sie diente ihm vor allen Dingen dazu, die Ausgaben des ›Nibelungenliedes‹, des ›Parzival‹ und des ›Willehalm‹ auf gesicherter Grundlage zu errichten.67 Aber er hat daneben auch erstaunlich viel anderes kopiert oder kollationiert. Alle seine Aufzeichnungen gab er in einem Koffer auf die Post, der zunächst nach Kassel gehen sollte, damit die Brüder Grimm (und Benecke) für sich abschreiben könnten, was ihnen wichtig war. Die Ankunft verzögerte sich, das Warten wurde Lachmann zur Qual. Er war längst wieder in Berlin, als ihm Jacob Grimm endlich mitteilte, der Koffer sei wohlbehalten angekommen. Erleichtert schrieb er zurück: »Die erste Zeit hatte ich meine Angst übertäuben können, aber am Ende ging es nicht mehr, so daß ich zuletzt einmahl an ganz ungehörigem Orte gesagt habe, ich hoffe nicht daß mich Gott so hart strafen werde in meinen sauren Schweiß den Blitz einschlagen zu lassen.«68
II. Damit beende ich meine Übersicht. Sie sollte einen Eindruck von den realen Bedingungen geben, unter denen sich die Frühgermanisten Handschriftenkenntnisse verschaffen konnten. Es wird einleuchten, dass die Versorgung mit zuverlässigen Daten ein mühseliges Geschäft darstellte. Die Schwierigkeiten mussten sich häufen, je mehr Handschriften bei einer Edition zu berücksichtigen waren. Auf einen speziellen Fall, die Edition mehrfach überlieferter umfangreicher Texte, will ich etwas näher eingehen. Die einfachste Lösung bot der Abdruck einer einzelnen, für gut befundenen und auf diese oder jene Weise für die Bedürfnisse eines zeitgenössischen Lesers aufbereiteten Handschrift. Diesen Weg wählte von der Hagen bei seinen Textausgaben in verschiedenen Varianten, gern mit Hinzufügung von Lesarten aus andern Handschriften.69
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Kaiserchronik (Anm. 51), Bd. 1, S. XVII. Bfw. Gr. – La. 2, S. 637 (Nr. 168 vom 18.11. 1834). Auf Jacob Grimm geht der Name ›Wolframreise‹ zurück, den Friedrich Neumann (Anm. 17) dann aufnahm und zum Titel seines Aufsatzes machte (Bfw. Gr. – La. 1, S. 439; Nr. 81 vom 8.4.1824). Bfw. Gr. – La. 1, S. 447 (Nr. 86 vom 20.11.1824). Dort ein Hinweis auf Lachmanns eigenhändiges Verzeichnis, das im Briefwechsel als Beilage 3 mitgeteilt ist (Bd. 2, S. 960f.). In der Vorrede zu Bd. 2 der Deutschen Grammatik gedenkt Jacob Grimm der Großzügigkeit Lachmanns (S. X). – Ähnliche Ängste wie Lachmann hatte Graff auszustehen. In der Vorrede zu Bd. 1 der Diutiska (s. Anm. 61) berichtet er über einen Zwischenfall auf der Reise von Nancy nach Straßburg. Seine Aufzeichnungen gingen »beim nächtlichen Umpacken der Diligence verloren.« Zum Glück erhielt er sie mit Hilfe des zuständigen Präfekten nach drei Tagen zurück (S. VII). Vgl. Grunewald (Anm. 2), S. 344.
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Sehr viel ehrgeiziger und auch viel aufwendiger war das von Lachmann praktizierte Verfahren. Es setzte sich als das eigentlich wissenschaftliche durch und beherrschte, mehr und mehr verfeinert, mannigfach angegriffen und ebenso oft in Schutz genommen, das germanistische Editionswesen bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ich fasse das für meinen Zusammenhang Wesentliche in der nötigen Kürze (und mit den unerlässlichen Vereinfachungen) zusammen. Lachmann hielt es, wie überhaupt die Philologen seiner Zeit, für selbstverständlich, dass die Handschriften eines bestimmten Werks nur als Zeugen für etwas ihnen Voraufliegendes, den vom Editor herzustellenden Originaltext, nicht etwa um ihrer selbst willen zu befragen waren.70 Er war voller Misstrauen gegenüber den mittelalterlichen Schreibern. Während der Arbeit an der ›Nibelungen‹-Ausgabe seufzte er: »Die knechtische Abhängigkeit von ein Paar Schreibern ist überhaupt bei kritischen Arbeiten ein schreckliches Gefühl.«71 Er verwandte viel Mühe darauf, den Zeugniswert der einzelnen Handschrift zu ermitteln. Das geschah zunächst aufgrund sprachlicher Beobachtungen. Dabei ging er von der Annahme aus, die Sprache, deren sich die guten Dichter des späten 12. und 13. Jahrhunderts bedienten, sei »ein bestimmtes, unwandelbares Hochdeutsch« gewesen.72 Dies durchgeregelte Mittelhochdeutsch rekonstruierte er zusammen mit Benecke und Jacob Grimm. Etwaige Besonderheiten der Sprache einzelner Autoren ließen sich durch zusätzliche Detailuntersuchungen an ihren Texten bestimmen. Sodann setzte Lachmann auch für die Metrik des Originals eine erkennbare Regelhaftigkeit voraus. Die Usancen des Autors, so seine Annahme, ließen sich durch vergleichende Beobachtungen zu Versfüllung und Versrhythmus sowie zur Kadenz- und Reimbildung in den Handschriften ermitteln. Die Untersuchung von Sprachstand und Metrik in Verbindung mit Beobachtungen zu eindeutigen Fehlern des Textes erlaubte eine Rangierung der Handschriften nach ihrer Bedeutung für die kritische Herstellung des Originals. Das setzte den Editor instand, seinen Arbeitsaufwand auf das Machbare zu begrenzen. Er vermochte sich zu entlasten, indem er sich auf die genaue Auswertung einer begrenzten Zahl ›guter‹ Handschriften konzentrierte. Bei den übrigen konnte er sich mit dem behelfen, was sich an Brauchbarem aus der Literatur oder durch Auskünfte von dritter Seite zusammenbringen ließ. Dass die Reduzierung der Handschriftenauswertung auf das von einem Einzelnen zu Leistende Vorbedingung für die Anfertigung einer großen Edition war, hat Franz Pfeiffer in der Einleitung zu seiner Ausgabe von Megenbergs ›Buch der Natur‹ mit aller Deutlichkeit gesagt: »Ich habe mich […] auf nur wenige Quellen und die allernothwendigsten beschränkt […]. Die Herbeiziehung weiterer Handschriften hätte einen Aufwand von Zeit, Kraft und Geld verursacht, die ich nicht daran zu setzen in der Lage war. Und
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Sehr bezeichnend ist, was er im Vorwort zur 2. Auflage des ›Iwein‹ (Anm. 78) sagt. Er weist die Gervinus’sche Kritik an Hartmann als ungerecht zurück, meint aber, sie sei »durch die unvollkommenheit meiner ersten ausgabe verschuldet«. Weiter sagt er: »Wie viel mehr verdient […] würde der vorwurf sein, wenn ich, dem immer wieder auftauchenden aberglauben nachgebend, statt der mühsam erforschten echten überlieferung die willkür und die unart eines einzelnen schreibers gegeben hätte« (S. VI). Bfw. Gr. – La. 1, S. 463 (Nr. 95 vom 11.10.1825). Auswahl aus den hochdeutschen Dichtern des dreizehnten Jahrhunderts. Berlin 1820, S. VIII, s. Anhang II.
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wozu würde es gedient haben? höchstens um den Wust unnützer Lesarten zu vermehren […].«73 Lachmann, zu dem wir nun zurückkehren, verfuhr beim ›Nibelungenlied‹ wie folgt74: A, B und D hat er aufs sorgfältigste mit dem Myllerschen Druck kollationiert. Bei C begnügte er sich mit Laßbergs Abdruck von 1821. Ebenso hat er von den übrigen Handschriften und Fragmenten nur insoweit Kenntnis genommen, als sie ihm in fremder Abschrift oder in gedruckter Form vorlagen. Aufschlussreich für seinen wertenden Umgang mit der Überlieferung ist, was er zu der Hundeshagenschen Handschrift (b) bemerkt. Er kannte nur die in Büschings ›Wöchentlichen Nachrichten‹ 1817 gedruckten 200 Strophen, das genügte ihm, um festzustellen: »diese probe erregt keine begier nach mehrerem.« Die Ambraser Handschrift (d), seit 1816 bekannt, hat er nicht benutzt, notiert aber dazu, sie »wäre wohl einer sorgfältigen vergleichung werth«. Am Schluss seiner Einleitung nimmt er grundsätzlich Stellung zur Frage der Variantenmitteilung: »alle lesarten aus allen handschriften zu sammeln, wird nur einen sinn haben wo in jeder lesart die echte stecken kann; nicht hier: denn hier hat jedes wort, das nicht in A steht, keine größere beglaubigung als eine conjectur.« Daher hat er im Lesartenapparat nur die Stellen angeführt, »an denen keine der übrigen handschriften mit A übereinstimmte.«75 Später ist er von dieser rigorosen Haltung ein Stück abgerückt und hat in die ›Anmerkungen‹ von 1836 »sämtliche abweichungen vom gemeinen text« aus 15 Handschriften aufgenommen und bemerkt dazu »soweit ich sie gekannt oder nichts versehen habe.«76 Beim ›Parzival‹ und ›Willehalm‹ verhielt sich Lachmann grundsätzlich ebenso wie beim ›Nibelungenlied‹, aber natürlich mit Anpassung an die je besonderen Bedingungen. Das heißt, er konzentrierte Aufmerksamkeit und Arbeitskraft auf wenige ›gute‹ Handschriften und erlaubte sich im Vertrauen darauf eine Zurückdrängung, wo nicht Vernachlässigung der sonstigen Überlieferung Er war überzeugt, dass seine Editionen, weil nach strengen Regeln gefertigt, nicht mit den Schwächen der Editionen seiner Zeitgenossen behaftet seien. Das ist stets und nicht ohne Grund anerkannt worden. Dennoch sollte man nicht übersehen, dass er, was die Sicherung der handschriftlichen Grundlagen anging, vor denselben Schwierigkeiten stand wie alle andern auch und dass sich das auf seine Editionen ausgewirkt hat. Beim ›Iwein‹ hat Emil Henrici ein rundes halbes Jahrhundert nach der Erstveröffentlichung auf Grund des Benecke-Nachlasses das Verhältnis der von Lachmann benutzten Quel-
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Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache, hg. von Franz Pfeiffer. Stuttgart 1861, S. IL. Der Nibelunge Noth und die Klage. Nach der ältesten Überlieferung mit Bezeichnung des Unechten und mit den Abweichungen der gemeinen Lesart, hg. von Karl Lachmann. Berlin 1826, Vorrede vom 5.2.1826 zitiert nach der Aufl. 1878 S. V–XI. S. X. – Auf Lachmanns Geringschätzung der Varianten fällt helles Licht durch eine briefliche Äußerung aus der Zeit seiner Arbeit an der Edition des Neuen Testaments: »Ich trage in mein Exemplar alle Varianten ein ohne die codices dabei zu bezeichnen: es sollen auch beim Abdruck alle nur in Parenthese stehn: mehr wäre unnütze Weitläufigkeit, da an sich kein codex mehr gilt als der andere (Bfw. Gr. – La. 2, S. 533; Nr. 121 vom 20.3.1829). S. XI, Zusatz von 1840. – ›Anmerkungen‹: Zu den Nibelungen und zur Klage. Anmerkungen von Karl Lachmann. Berlin 1836.
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lenkopien zu den Originalen überprüft77 – und das mit einem geradezu erschreckenden Ergebnis. Lachmann selbst sagt, er habe die Handschriften »theils in den bekannten abdrücken theils in abschriften benutzt, die wichtigsten in abschriften von Benecke, welche die originale nicht vermissen ließen.« Als editorische Regel gilt zwar, dass die Handschrift A (Cod. Pal. germ. 397) für die Herstellung des kritischen Textes maßgeblich ist, »wo sie nicht allein steht.« Von dieser Grundregel macht Lachmann aber viele Ausnahmen. Ich will sie nicht einzeln aufzählen, genug, dass die gesamte ihm bekannte Überlieferung Einfluss auf die Gestaltung des Textes hatte.78 Sie lag ihm jedoch, wie von Henrici festgestellt, nur in mehr oder weniger fehlerhaften Kopien vor. Beneckes Abschrift von A, von der Benecke selbst meinte, sie könne »gewisser maßen als facsimile gelten« und von der Lachmann sagte, sie sei »schöner als das original, und weit brauchbarer als ein facsimile«, weicht in mehr als 100 Fällen von der Vorlage ab; es gibt »nicht wenig stellen, an denen Benecke ganz zweifellos völlig falsches hat.« 79 Ähnliches gilt für B und die übrigen Abschriften Beneckes. Zu den Kopien von b und c bemerkt Henrici, sie trügen »schon äußerlich den stempel der mangelnden sorgfalt.«80 Die Fehler gehen ausschließlich zu Lasten Beneckes. Henrici erklärt ausdrücklich, er habe »im Iweinapparat […] keine stelle gefunden, in der Lachmann eine lesung Beneckes falsch widergegeben hätte.«81 Noch schlimmer steht es um die von Lachmann benutzte Abschrift der Dresdner Handschrift a. Sie stammte von Adelung und wimmelte geradezu von Fehlern.82 Auch die für D und d verwendeten Drucke von Myller und Michaeler strotzen von Ungenauigkeiten. Das Urteil Henricis über die Myllerschen Drucke fällt vernichtend aus: Es handelt sich nicht um Handschriftendrucke, sondern um »ausgaben mit dem zwecke, den lesern des 18. jhs. die alten gedichte genießbar zu machen.«83 Nicht genug damit, Lachmann hat in der Einleitung eine Nachricht über eine Handschrift in die Welt gesetzt,
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Die Dresdner Iweinhandschrift (ZfdA 25 [1881], S. 123–127). – Die Heidelberger Handschriften des Iwein (ZfdA 28 [1884], S. 250–257). – Die Handschriften von Hartmanns Iwein (ZfdPh 17 [1885], S. 385–389 und S. 438). – Die Iweinhandschriften I (ZfdA 29 [1885]. S. 112–115). – Die Iweinhandschriften II (ZfdA 29 [1885], S. 360–365). – Die Iweinhandschriften III (ZfdA 30 [1886], S. 192–195). – Zur ›Iwein‹-Ausgabe vgl. besonders Lutz-Hensel (Anm. 2), S. 295–432. ›Iwein‹. Eine Erzählung von Hartmann von Aue. Mit Anmerkungen von Georg Friedrich Benecke, hg. von Karl Lachmann, 2. Aufl. Berlin 1843 (zitiert nach der 5. Aufl. 1964), S. 360 und 362. ZfdA 28 (1884), S. 250f. – Lachmanns Lob für Beneckes Abschrift von A ›Iwein‹ S. 360. Zu B: ZfdA 29 (1885) S. 362–364; zu b, c: ZfdA 28 (1884), S. 253. ZfdA 29 (1885), S. 365. – Ein Jahrhundert später hatte Alfred Hübner bei der Vorbereitung seiner ›Rennewart‹-Ausgabe Gelegenheit, Lachmanns Abschrift des Cod. Pal. germ. 404 und die darin eingetragenen Kollationen weiterer Handschriften zu überprüfen. Er stellt fest: »Trotz des Tagespensums von 4–5000 Versen sind die Kollationen, abgesehen von ganz geringen Fehlern, zuverlässig und eindeutig neben und zwischen den Versen der Abschrift eingetragen« (Ulrich von Türheim: Rennewart. Aus der Berliner und Heidelberger Handschrift, hg. von Alfred Hübner. Berlin 1938 [DTM 39], S. IX). Für seine Abschrift hatte sich Lachmann die Handschrift nach Königsberg kommen lassen (Bfw. Gr. – La. 1, S. 248; Nr. 32, Anfang Dezember 1820). ZfdA 25 (1881), S. 123f. Die Identifizierung der von Lachmann benutzten Abschrift wird durch eine falsche Angabe erschwert, die Henrici unter Mühen aufgeklärt hat. Myller: ZfdA 30 (1886), S. 192f. – Michaeler: ZfdA 29 (1885), S. 112. Text »Die Iweinhandschriften I.« von Emil Henrici, S. 112–115.
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die es gar nicht gab. Nach seinen Angaben hätte sie sich in der fürstlich Wallersteinschen Bibliothek in Maihingen befunden. Henrici erfuhr auf seine Anfrage beim dortigen Bibliothekar, dem Freiherrn von Löffelholz, dass eine solche Handschrift niemals im Besitz der Bibliothek war.84 Man mag sich nicht ausmalen, wie Lachmann reagiert hätte, wenn er bei andern auf solche Fehler gestoßen wäre, pflegte er doch philologische Arbeiten mit moralischen Maßstäben zu messen. Ich führe den Fall nicht an, um seine Verdienste um den ›Iwein‹-Text zu schmälern. Im Gegenteil, sie werden nur umso größer, wenn man bedenkt, auf welch unsicherem Boden er arbeiten musste. Eben um diese Einsicht geht es mir bei meiner Rückschau. Es war für die Frühgermanisten kaum möglich, sich eine handschriftliche Grundlage von genügender Breite und Sicherheit für ihre Editionen zu beschaffen. Zu dieser Erkenntnis ist schon Henrici gekommen. Er fasst zusammen, was ihn seine Untersuchungen der ›Iwein‹-Überlieferung gelehrt haben. Er hat »die erfahrung gemacht«, dass es noch in seiner Gegenwart schwierig war, »das handschriftliche material für ein gedicht herbeizuschaffen, welches in einer so weit verstreuten überlieferung auf uns gekommen ist.« Dabei hat er die Gründe verstanden, »welche die meister unserer wissenschaft nötigten vor 50 und mehr jahren ausgaben mit einem viel geringeren material herzustellen: die beschaffung des ganzen lag ausser den grenzen des ihnen damals möglichen.«85 Diese Bedingung galt für alle, auch für Lachmann. Es scheint mir im übrigen bemerkenswert, dass er sich beim ›Nibelungenlied‹, beim ›Parzival‹ und beim ›Willehalm‹ anders als beim ›Iwein‹, der aufgrund fremder Abschriften entstand, in erster Linie auf Handschriften stützte, die er selbst gesehen und für seine Zwecke akribisch kollationiert hatte. Er wird versucht haben, die Gefahren eines Arbeitens mit nicht-eigenem Material möglichst klein zu halten.
III. Zum Schluss möchte ich noch einen vergleichenden Blick auf unsere heutigen Verhältnisse werfen. Bevor ich dazu komme, fasse ich in ein paar thesenartigen Sätzen zusammen, was mir am Umgang der Frühgermanisten mit den Mittelalterhandschriften als charakteristisch erscheint: – Sie verfügen über bibliographische Hilfsmittel, die ihnen einen recht guten Überblick über die erhaltenen Bestände gewähren. – Sie interessieren sich für die Handschriften vor allem, weil sich aus ihren Texten auf ältere Stadien der deutschen Sprache oder auf auch einen verlorenen Originaltext schließen lässt. – Sie können sich die Kenntnis der überlieferten Texte in der Regel nur unter Mühen verschaffen und müssen sich nicht selten mit unzuverlässigen Handschriftendrucken, Kopien oder Kollationen behelfen. Schauen wir nun auf die heutigen Verhältnisse. Da kann ich mich kurz fassen, denn es sind die Verhältnisse unseres Arbeitsalltags. Um mit der Heuristik zu beginnen: Sie ist
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ZfdA 29 (1885), S. 115. ZfdPh 17 (1885), S. 388.
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so perfekt, wie sie nur sein kann. In dem auf Betreiben von Burdach und Roethe gegründeten Handschriftenarchiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften lagern an die 20.000 Beschreibungen mittelalterlicher deutscher Handschriften – gewiss von unterschiedlicher Brauchbarkeit, insgesamt aber doch ein unvergleichliches Auskunftsmittel.86 Daneben steht uns eine Fülle vorzüglicher Handschriftenkataloge zur Verfügung. Eine wichtige Ergänzung bildet auch das Marburger Repertorium deutschsprachiger Handschriften des 13. Jahrhunderts. Es wird seit einigen Jahren schrittweise über das Internet zugänglich gemacht, wie denn überhaupt in steigender Zahl Recherchemöglichkeiten im Internet angeboten werden.87 Alles im allem wird man nicht übertreiben, wenn man sagt, dass wir auf dem besten Weg zur vollständigen Nachweisung der deutschen Mittelalterhandschriften sind.88 Bestens ist es auch um die Zugänglichkeit der Handschriften bestellt. Man kann sich Kopien aus so gut wie jeder Handschrift ohne große Umstände beschaffen, sei es in Form von Xerokopien oder von Microfiches. In den letzten Jahren gewinnen auch die digitalen, über das Internet erreichbaren Faksimiles steigende Bedeutung. Kurz und gut, wer immer als Grammatiker oder Editor mit mittelalterlichen Handschriften arbeiten will, kann das am heimischen Schreibtisch oder im heimischen Institut tun. Er hat das Material beständig zur Verfügung, kann die Übereinstimmung seiner Angaben mit dem Original in jeder Phase seiner Arbeit überprüfen. Und wenn dann noch Fragen offen bleiben, die nur am Original zu klären sind, ermöglichen ihm unsere Verkehrsmittel die Aufsuchung auch der entferntesten Bibliothek. Die Veränderung der Arbeitsbedingungen kann nicht radikal genug gedacht werden. Wie wirkt sie sich auf Planung und Zielsetzung der Arbeiten aus? Ich beschränke mich auf das Mittelhochdeutsche und schaue zunächst auf die Sprachwissenschaft. In Bonn, Halle und Bochum wird unter Leitung von Thomas Klein, Hans-Joachim Solms und Klaus-Peter Wegera an einer »neuen großen wissenschaftlichen Grammatik auf der Basis mhd. Handschriften« gearbeitet.89 Soweit dem, was bisher darüber bekannt, zu
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Vgl. Tilo Brandis: Das Handschriftenarchiv der Deutschen Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Berlin. In: ZfdA 123 (1994), S. 119–129. – Anne-Beate Riecke: Das Handschriftenarchiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. In: Sources for the History of Medieval Books and Libraries, hg. von Rita Schlusemann u. a. Groningen 2000, S. 365–383. Vgl. dazu die neu eingerichtete Rubrik ›Mittelalter-Philologie im Internet‹ der Zeitschrift für deutsches Altertum, insbesondere den Eröffnungsbeitrag von Joachim Heinzle und Klaus Klein (Bd. 130 [2001], S. 245f.). Damit sind die Voraussetzungen für Studien geschaffen, wie sie Burdach vor mehr als 100 Jahren im Zentralblatt für Bibliothekswesen 5 (1888) forderte: »der Versuch müsste […] gemacht werden […] ausschließlich die Geschichte der Sammlungen deutscher Handschriften für sich zu erforschen. Das wäre für die Erkenntnis der Entwicklung unserer Literatur von höchster Wichtigkeit,« und weiter: »Nicht genug […] kann man sich gegenwärtig halten, dass für die Geschichte der Literatur und des geistigen Lebens in einem Lande nicht bloß die intime Kenntnis der literarischen Schöpfungen wichtig ist, sondern ebenso eine deutliche Anschauung von den Stätten und den Bedingungen ihrer schriftlichen Fixierung und Anhäufung zu größeren Mengen« (wieder abgedruckt: Vorspiel 1, 2 [1925], S. 97f.). Hermann Paul: Mittelhochdeutsche Grammatik. 25. Aufl. Neu bearb. von Thomas Klein, HansJoachim Solms und Klaus-Peter Wegera. Mit einer Syntax von Ingeborg Schröbler. Neu bearb. und erw. von Heinz-Peter Prell. Tübingen 2007, S. V. – In diesem Zusammenhang ist auch
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entnehmen ist, vollzieht sich damit eine grundsätzliche Abkehr vom Typus der Mittelhochdeutschen Grammatik, wie er sich uns namentlich durch die Paulsche Grammatik eingeprägt hat. Die neue Grammatik wird ihr Material nicht den philologisch aufbereiteten Textausgaben oder der Forschungsliteratur, sondern unmittelbar den Handschriften entnehmen, und sie wird die tatsächlich auftretenden Varietäten nicht hinter einer wie immer definierten Norm zurücktreten lassen. Auf dem Gebiet des Editionswesens hat sich durch die leichte Zugänglichkeit der Handschriften bereits ein signifikanter Wandel vollzogen. Es sind Editionen entstanden und werden weiter entstehen, in denen das gesamte handschriftliche Material verarbeitet ist. Vorbei ist es namentlich auf dem Gebiet der Prosaeditionen mit der Selbstbescheidung Pfeiffers. Voraussetzung für diesen Wandel ist die gute Ausstattung mit Forschungsmitteln. Sie macht die Verlagerung der Editionsarbeiten in Forschergruppen möglich. So entstanden textgeschichtliche Ausgaben, an denen die Abwandlungen der Texte durch die ganze Zeit ihrer Verbreitung und bis in alle Verästelungen hinein abgelesen werden können.90 Das bedeutet unzweifelhaft einen Fortschritt. Zu warnen ist allerdings vor der Meinung, allein diesem Ausgabentypus gehöre die Zukunft. Der Aufwand, den er verlangt, ist nur da zu rechtfertigen, wo innerhalb der Überlieferung eines Textes von Bedeutung klar unterscheidbare Fassungen auftreten. Bisher hat die Digitalisierung bei germanistischen Editionen noch keine Rolle gespielt. Ihre Möglichkeiten sollen bei künftigen Großunternehmungen genutzt werden. Ein erstes Beispiel bieten die von Michael Stolz in Angriff genommenen Arbeiten an einer neuen ›Parzival‹-Ausgabe mit digitalen Handschriften-Faksimiles und digitalisierten Transkriptionen. Er sieht »die elektronische Darstellung« der gesamten Überlieferung als eine »Editionsform eigener Prägung« und meint, sie könne »die Konsequenzen aus der […] Diskussion um die ›New Philology‹ ziehen.« Denn sie biete für die »Gleichwertigkeit der Varianten und Textfassungen, die Beweglichkeit der Texte und die Materialität der Überlieferungsträger« eine »editionspragmatische Lösung« an. Dem Benutzer stünden »Freiräume« offen, er bekomme »Zugriff auf unterschiedliche Textversionen und deren handschriftliches Erscheinungsbild.«91
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darauf hinzuweisen, dass Kurt Gärtner »Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte des dt. Mittelalters« gezogen hat (In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, hg. von Werner Besch u. a. 4. Teilband, 2. Aufl. Berlin 2004, S. 3018–3042). Sie gehen »von den Handschriften und ihren Gebrauchszusammenhängen« aus. Über die Bedeutung einer solchen Neuorientierung sagt Gärtner: »Die für die literarischen dt. Texte des Mittelalters charakteristische Variabilität […] und ihre prinzipielle Anpassungsfähigkeit an aktuelle Nutzungsbedürfnisse und an regionale […] Bedingungen dürften die Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte in stärkerem Maße bestimmen als der kritisch fixierte Text« (S. 3019). Vgl. dazu: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung, Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung, hg. von Kurt Ruh. Tübingen 1985. – Eine Äußerung aus jüngster Zeit: Freimut Löser, Postmodernes Mittelalter? ›New Phiology‹ und ›Überlieferungsgeschichte‹. In: Kulturen des Manuskriptzeitalters. Ergebnisse der amerikanisch-deutschen Arbeitstagung an der Georg-August-Universität Göttingen vom 17. bis 20. Oktober 2002, hg. von Arthur Groos und Hans-Jochen Schiewer. Göttingen 2004, S. 215–236. Michael Stolz: Wolframs ›Parzival‹ als unfester Text. Möglichkeiten einer überlieferungs-
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Genug der Einzelheiten. Sie zeigen eine grundsätzliche Veränderung in der Einstellung zu den Handschriften an. Mit dem Wegfall des Zwangs zu reduktionistischer Einengung des Blickfeldes hat die Unterscheidung von ›guten‹ und ›schlechten‹ Handschriften an Bedeutung verloren. Nicht, dass man bei der Untersuchung einer bestimmten Überlieferung keine Qualitätsurteile mehr abgeben könnte. Aber die ›schlechten‹ Handschriften interessieren als solche wegen der Auskünfte über ein bestimmtes Rezeptionsverhalten, das darin zum Ausdruck kommt. Und alle Handschriften, soweit sie mehr als einen Text überliefern, interessieren im Blick auf die Mitüberlieferung und ein etwaiges die Zusammensetzung bestimmendes Programm. Kurz und gut: Im Zeitalter der ›Manuskriptkultur‹ steht die einzelne Handschrift mit ihren Eigenarten im Zentrum der Aufmerksamkeit, sie ist mehr und anderes als nur Platzhalterin für etwas Wichtigeres, das eigentlich gesucht wird. Vor mehr als vierzig Jahren habe ich mich über Grundsätzliches in unserm Verhältnis zu unsern Quellen unter der Überschrift ›Mittelalterliche Texte als Aufgabe‹ geäußert.92 Heute müsste ich über ›Mittelalterliche Handschriften als Aufgabe‹ sprechen. Wir sollten den damit angedeuteten Wandel begrüßen, aber ihn nicht zum Anlass nehmen, uns über die Frühgermanisten zu erheben. Wir stehen auf ihren Schultern und tun gut daran, zu erhalten, was an ihren Leistungen erhaltenswert ist. Der bloße Kult der Varianz und ihrer Voraussetzungen genügt nicht, wenn das Fach seinem Auftrag, der Bewahrung von mittelalterlicher Sprache und Literatur im kulturellen Gedächtnis der Gegenwart, gerecht werden will. Varianz braucht zu ihrem Verständnis den festen Punkt, von dem aus sie beschrieben und beurteilt werden kann. Das ist auf dem Gebiet der Sprache die reduktionistisch erzeugte normative Grammatik93, auf dem Gebiet der Literatur der ebenso reduktionistisch erzeugte autornahe Text. Ins Prinzipielle gewandt heißt das: Die neue Einstellung zu den Handschriften ist komplementär zu der alten. Sie bildet ihre notwendige Ergänzung, ersetzt sie aber nicht. Davon bin ich überzeugt.94
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geschichtlichen Ausgabe im Spannungsfeld traditioneller Textkritik und elektronischer Darstellung, in: Wolfram-Studien 17 (2002), S. 294–321, spez. S. 319. Karl Stackmann: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. In: Festschrift für Jost Trier, hg. von William Foerste und Karl Heinz Borck. Köln/Graz 1964, S. 240–267. (Wieder abgedruckt in: Karl Stackmann: Kleine Schriften I. Mittelalterliche Texte als Aufgabe, hg. von Jens Haustein. Göttingen 1997, S. 1–25). Thomas Klein teilt mir brieflich mit, dass es darauf hinauslaufen werde, »durch ein in der Tat reduktionistisches Verfahren aus der Variantenflut das statistisch Vorherrschende und grammatisch Regelhafte herauszuarbeiten und zu einer Grammatik des mhd. Diasystems als eines Systems von vor allem regionalen Subsystemen zusammenzuführen.« Einen herzlichen Dank für freundlich erteilte Auskünfte schulde ich den Herren Gerhard Diehl, Kurt Gärtner, Jens Haustein und Thomas Klein.
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Anhang I Friedrich Heinrich von der Hagen und Johann Gustav Büsching: Literarischer Grundriß zur Geschichte der Deutschen Poesie von der ältesten Zeit bis in das sechzehnte Jahrhundert. Berlin 1812. Jacob Grimm schrieb noch im Jahr des Erscheinens eine mit staunenswerter Gelehrsamkeit verfasste Rezension für die Heidelbergischen Jahrbücher (Kl. Schr. 6, S. 74–84). Merkwürdig berührt daran freilich, wenn man als heutiger Leser darauf schaut, das Bekenntnis zu der »meinung von der werthlosigkeit umständlicher handschriftenbeschreibung.« Ihn interessiert nicht die Handschrift als solche, sondern nur der darin überlieferte Text: »wenn auch eine schlecht geschriebene handschrift keinen guten text verräth, so ist umgekehrt die äuszerliche schönheit und sorgfalt keineswegs ein zeichen der inneren correctheit, worauf am ende doch alles ankommt. wie es darum stehe, wünschte man bei den einzelnen mss. am liebsten zu wissen […]« (S. 75). In ihrem Vorwort beziehen sich von der Hagen und Büsching ausdrücklich auf »die ähnlichen literarischen Arbeiten von den beiden Adelungen, Koch, Docen.« Unter diesen Vorgängern ist Erduin Julius Koch mit seinem ›Compendium der Deutschen Literaturgeschichte‹ (2. Aufl., 2 Bde. Berlin 1795 und 1798) der wichtigste. Jacob Grimm meint, es sei mit dem ›Grundriß‹ von der Hagens und Büschings »durchaus überflüssig« geworden, soweit sie sich inhaltlich überschneiden (S. 75). Dem möchte man als Mediävist gern beistimmen und das ›Compendium‹ in die Vorgeschichte der Germanistik verweisen. Neuerdings erfährt es aber eine Aufwertung. Man neigt dazu, es an den Anfang der Fachgeschichte zu setzen. Paul Raabe, der lebhaft dafür eintritt, erinnert an ein Dictum Robert F. Arnolds, wonach Koch »die wissenschaftliche Grundlage für die Germanistik der Romantik« geschaffen hat (Erduin Julius Kochs Pläne zur Erforschung der deutschen Sprache und Literatur, in: Festschrift Adolf Beck, hg. von U. Fülleborn und J. Kogoll. Heidelberg 1979, S. 142–157, spez. S. 145). Uwe Meves fragt denn auch ein paar Jahre später, ob »man nicht die Geschichte der Germanistik […] mit Koch beginnen lassen könnte« (in: Ausgewählte Beiträge [wie Anm. 3], S. 152–165). – Grunewald (wie Anm. 3) gibt einen knappen Überblick über die Wirkungsgeschichte des ›Grundrisses‹ (S. 320–322); vgl. dazu auch Anm. 8.
Anhang II Die Anfänge Lachmanns als Editor mittelhochdeutscher Texte Die 1820 in Berlin gedruckte ›Auswahl aus den hochdeutschen Dichtern des dreizehnten Jahrhunderts‹ zeigt Lachmann bei seinen ersten Versuchen, sich als germanistischer Autor vorzustellen, in völliger Abhängigkeit von vorhandenen älteren Ausgaben. Die folgende Übersicht über die für seine Textproben herangezogenen Quellen macht die Angewiesenheit frühgermanistischer Editoren auf ihre Vorgänger schlagend deutlich. Benutzt wurden: C. H. Myller (s. Anm. 15) S. 1–52 Hartmann von Aue, ›Armer Heinrich‹. S. 54–83 Hartmann von Aue, ›Iwein‹. S. 87–173 Wolfram von Eschenbach, ›Pazival‹.
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S. 213–229 Gottfried von Straßburg, ›Tristan‹. S. 230–235 Freidank, ›Bescheidenheit‹. S. 257–266 Konrad von Würzburg, ›Trojanerkrieg‹. Bodmer und Breitinger (s. Anm. 14) S. 52–54 Hartmann von Aue: MF 22,13. S. 83–85 Wolfram von Eschenbach: MF 24,5. S. 178–203 Walther von der Vogelweide: Cormeau 23, 23a; 9; 41; 16; 17; 53; 7; 32; 25; 30; 51; 27; 54. S. 208–213 Reinmar der Alte: MF 21,10; 34a; 46; 53. S. 241–244 Ulrich von Lichtenstein: KLD 58, 4; 9; 12. S. 248–251 Ulrich von Lichtenstein: KLD 58, 28; 33; 38. S. 251–253 Otto von Botenlauben: KLD 41, 5; 12; 13. B. J. Docen S. 85–87 (Miscellaneen 1, S. 101) Wolfram von Eschenbach: MF 24,2. S. 235–237 (Altdeutsche Wälder 2, S. 4), Der Stricker. S. 245–248 (Miscellaneen 1, S. 102) Ulrich von Lichtenstein: KLD 58, 25. W. J. C. G. Casparson S. 174–178 Wolfram von Eschenbach, ›Willehalm‹. G. F. Benecke S. 203–208 Wirnt von Grafenberg, ›Wigalois‹. S. 254 (Beyträge 1, S. 76) Gotfried von Neifen: KLD 15, [50]. Jacob Grimm S. 237–241 (Altdeutsche Wälder 2, S. 4; 3, S. 219) Der Stricker. Wilhelm Grimm S. 254–257 Konrad von Würzburg, ›Die goldene Schmiede‹.
Anhang III Ferdinand Glöckle (1779 – 21.1.1826) Glöckles Name taucht nicht selten in Briefen und Schriften der Frühgermanisten auf. Über seine Person weiß man nur wenig. Den Hinweis auf die im folgenden genutzten Quellen verdanke ich Gerhard Diehl. Den Anfang mache ich mit Karin Zimmermanns Einleitung zu ihrem Handschriftenkatalog (Die Codices Palatini germanici in der Universitätsbibliothek Heidelberg. Cod. Pal. germ. 1–181. Wiesbaden 2003). Sie hat in einzelnen Bänden der nach Rom verschleppten und 1815 zurückgegebenen Bibliothek »Einträge des aus Niederingelheim stammenden Ferdinand Glöckle« entdeckt, »der zeitweise als ›Secretaire des langues du Nord‹ an der Bibliotheca Apostolica Vaticana tätig war und die deutschsprachigen Handschriften sichtete.« Für Görres, »der die Herausgabe einer ›Bibliotheca Vaticana‹ altdeutscher Dichtungen« plante, fertigte er Kopien an. Eine Frucht der Zusammenarbeit ist die Ausgabe des ›Lohengrin‹, die Ja-
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cob Grimm noch im Jahre des Erscheinens (1813) ausführlich rezensierte (Kl. Schr. 6, S. 134–144). Einem ›Anhang‹ in dem von Leo Just bearbeiteten Band 4 der Gesammelten Schriften von Görres (Köln 1955, S. 313–317) ist zu entnehmen, dass Glöckles Tätigkeit an der Vaticana in die Zeit der Franzosenherrschaft (1808–1814) fällt. Nach der Wiederherstellung des Kirchenstaates musste er von Rom, wo er auch unter dem Spitznamen ›porco tedesco‹ bekannt war, nach Deutschland zurückkehren. Er starb 1826 in Ingelheim. – Just druckt einen Brief ab, den Glöckle 1808 an einen deutschen Mittelsmann richtete. Darin preist er die Schätze an, über die er verfügt. Er hat einen Katalog deutscher und provenzalischer Handschriften mit insgesamt 900 Nummern beieinander, und er kann eine stattliche Anzahl von Abschriften anbieten: Gottfrieds ›Tristan‹, Veldekes ›Eneit‹, Herborts ›Trojanerkrieg‹, Otfrieds ›Evangelienbuch‹, Willirams ›Hohelied‹, Hadamars ›Jagd‹, Hartmanns ›Gregorius‹ usw. usw. Zugleich verrät der Brief auch, dass Glöckle von Geldnöten geplagt wird und dringend Abnehmer für seine Kopien braucht. – Ein ähnlicher Brief geht zwei Jahre später an August Wilhelm Schlegel, auch er ein Versuch, Geldquellen zu erschließen. Glöckle erwähnt in diesem Brief Verhandlungen mit von der Hagen, die zwar schon eine Weile andauern, aber wegen der großen Entfernung und des Fehlens einer persönlichen Bekanntschaft noch zu keinem Ergebnis geführt haben (in: Krisenjahre der Frühromantik, hg. von Josef Körner, Bd. 2. Brünn 1937, S. 138f., Nr. 387). In unserm Zusammenhang passt schließlich auch ein Brief, in dem Savigny unter 28.11.1812 Glöckle mitteilt, dass er ihm drei statt der ursprünglich vorgesehenen zwei Louisdor für eine Handschriftenkopie zahlen will (in: Adolf Stoll: Friedrich Karl v. Savigny, Bd.2, Berlin 1929, S. 86f., Nr. 247). Eine Sammlung aller Nachrichten über Glöckles römische Zeit (mit Einschluss der Erwähnungen bei den deutschen Frühgermanisten) wäre im Interesse der Wissenschaftsgeschichte sehr zu wünschen. Es könnte daraus sinnfällig werden, welche Schwierigkeiten in den Anfängen der romantischen Begeisterung für das deutsche Mittelalter daraus resultierten, dass einer der wichtigsten Handschriftenbestände im Vatikan verwahrt wurde und von Deutschland aus kaum erreichbar war.
Anhang IV Julius Maximilian Schottky (13.4.1797– 9.4.1849) Die biographischen Nachschlagewerke orientieren nur lückenhaft über das Leben dieses wegen seiner Kopien aus Wiener Handschriften für die Frühgeschichte der Germanistik nicht unwichtigen Mannes. Er studierte in Breslau und war dort Hörer Büschings und von der Hagens. 1816 (oder 1817?) wurde er mit einem Stipendium der preußischen Regierung nach Wien entsandt, um dort Handschriften zu kopieren. Er machte sich dort auch durch die Sammlung und Publikation österreichischer Volkslieder (gemeinsam mit F. Ziska) verdient, erhielt 1822 einen Ruf als Professor für deutsche Sprache und Literatur an das damals preußische Gymnasium in Posen, schied 1824 wieder aus dieser Stellung aus und führte von da an ein unstetes Wanderleben. 1848 ging er als Redakteur der ›Rheinischen Volkshalle‹ nach Köln und wechselte Anfang 1849 zur ›Trierer Zeitung‹. Kurz nach seinem Amtsantritt starb er. – Vgl. dazu: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Österreich 31 (1876), S. 251–253; ADB 32 (1891), S. 418f.; Deutsche Biographische Enzyklopädie 9 (1998), S. 123; Österreichisches Biographisches Lexikon 11 (1999), S. 153f.
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Nähere Angaben zur Tätigkeit Schottkys in Posen vermittelt ein an entlegener Stelle gedruckter Aufsatz von Armin Tille, den mir Gerhard Diehl nachgewiesen hat: Julius Maximilian Schottky, ein Kämpfer für das Deutschtum in der Ostmark, in: Deutsche Geschichtsblätter 20 (1919), 1. Vierteljahrsheft, S. 32–42. Tille behandelt v. a. die von Schottky begründete Monatsschrift ›Vorzeit und Gegenwart. Ein periodisches Werk für Geschichte, Kunst und Dichtung‹. Sie brachte Schottky, der ohnehin als Deutscher angefeindet wurde, in scharfen Gegensatz zu dem Redakteur einer polnischen Zeitung und verwickelte ihn in dessen Streit mit Heinrich Heine. Jost Hermand hat im Kommentar zu Heines ›Ueber Polen‹ Materialien zusammengetragen, die diesen Streit und Schottkys Anteil daran erhellen: Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 6. Hamburg 1973, S. 484–486; S. 514–516. Weiteres lässt sich über das Personenregister erschließen. Über Schottkys Auftrag für Wien liest man bei von der Hagen in der Einleitung zum ›Gesammtabenteuer‹ (Bd. 1, S. XXXVII): Im Jahre 1816 »ward der uns [Büsching und von der Hagen] schon vielfach behülfliche M. Schottky, auf unsere Empfehlung, von Breslau nach Wien gesandt, um für die Berliner und Breslauer Bibliothek Altdeutsche Abschriften zu nehmen, deren so manche beide Bibliotheken bewahren.« Eine einzelne von diesen Kopien spielt eine Rolle im Brief Jacob Grimms an Lachmann vom 30.8.1824. Er gibt eine Mitteilung Hoffmanns von Fallerleben, damals Bibliothekar in Breslau, an Lachmann weiter: »Schottky muste auf kosten unserer bibliothek den wiener Titurel abschreiben und mit der dietrichsteinischen handschrift vergleichen. Die abschrift […] wurde schon 1822 ein eigenthum unsrer bibliothek, ist jedoch bis dato noch keine nacht oben gewesen, auch im handschriftencataloge nicht verzeichnet. Erst hatte sie von der Hagen geliehen, gab sie […] an Büsching, dieser wieder an von der Hagen und bei dessen abgange nach Berlin behielt sie Büsching bei sich im hause. Jetzt schreibt von der Hagen an den oberbibliothekar Wachler […] und ersucht ihn um übersendung der besagten schottkyschen abschrift. Ich wuste schon wie es sich damit verhielt. von der Hagen hatte an jemanden geschrieben: es käme nur darauf an, die handschrift in verwahrung zu bringen, damit sie Lachmann nicht kriegte etc. Dies meldete ich dem oberbibliothekar. Wachler […] antwortete an von der Hagen, sich an die competente behörde zu wenden. übrigens fassten wir den entschluss, sie nicht herauszugeben. Büsching muss sie in diesen tagen abliefern […]« (Bfw. Gr. – La. 1, S. 442, Nr. 82; diese Stelle auch von Hunger [wie Anm. 3, S. 245f.] zitiert). – Hermann Degering bringt in der Abteilung ›Schreiber‹ des Hauptregisters zu seinem ›Kurzen Verzeichnis der germanischen Handschriften der Preußischen Staatsbibliothek‹ (3 Bde. Leipzig 1925–1932) eine Liste von Abschriften Schottkys: F 252; Q 9–12; Q 269; Q 274; Q 275; Q 282; Q 775; Q 818a. (Bd. 3, S. 377). Korrekturnachtrag: Eine wichtige Veröffentlichung über Schottky ist mir leider erst nach der Abgabe meines Beitrags für den Druck bekannt geworden: Doris Wagner: Zeugnisse der Briefbekanntschaft zwischen dem Altertumsforscher Julius Maximilian Schottky und Jacob Grimm. In: Brüder Grimm Gedenken 12 (1993), S. 147–159. Dort findet sich zusätzliches Material über das wechselvolle Leben Schottkys.
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J und seine frühen Editionen. Mit einem Editionsanhang (B. Chr. B. Wiedeburg an J. J. Bodmer und J. J. Breitinger)
Die erste gedruckte Erwähnung der ›Jenaer Liederhandschrif‹ stammt aus dem Jahr 17051 und damit aus einer Zeit, in der der Bestand der Universitätsbibliothek mit mehr als 10.000 Büchern und Handschriften der umfangreichste in ganz Deutschland war.2 Burkhard Gotthelf Struve (1671–1738), Direktor der Bibliothek von 1697 bis 1704, mit dem, so hat man gesagt, »die Bibliothek [...] in die wissenschaftliche Öffentlichkeit ein[trat]«3, erkannte die Notwendigkeit einer Katalogisierung, um diesen umfänglichen und durch zahlreiche Legate mehrfach erweiterten Bestand für die Wissenschaft aufzuschließen. In einem Sammelband des Helmstedter Kirchenhistorikers und Bibliothekars Johann Andreas Schmidt (1652–1728)4, der in Jena Theologie studiert hatte, veröffentlichte er als erster einen Abriss der Bibliotheksgeschichte seit ihren Wittenberger Anfängen und wies zudem auf ausgewählte Handschriften der Electoralis hin. Die knappe Erwähnung von J zielt vor allem auf das auffällige Äußere und das Format der Handschrift: »elegantissimus Codex der Meistersänger, forma augusta scriptus«. Auch die zweite gedruckte, nun schon ausführlichere Erwähnung der Jenaer Liederhandschrift‹, gut vierzig Jahre später, steht im Zusammenhang mit der systematischen Erschließung der Jenaer Buchbestände in der Form ihrer Katalogisierung. Sie stammt vom »umstrittenen Märtyrer der Jenaer Bibliotheksdirektoren«5, von Johann Christoph Mylius (1710–17566), und diente ausdrücklich dazu, die Studenten, für die er spezielle Kurse abhielt, an die Buchbestände heranzuführen. Dass er damit, wohl auch aus per-
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Burcard Gotthelf Struve: Historia et memorabilia bibliothecæ Jenensis. In: J.[ohann] A.[ndreas] Schmidt: De bibliothecis. Accessio altera collectioni Maderianæ adiuncta. Helmstedt 1705, S. 287. Die gelegentlich begegnende Angabe 1703 beruht auf einem Irrtum. Dem ersten Teil von Schmidts Sammelschrift aus dem Jahr 1703 ist im Jenaer Exemplar der Katalog Struves ebenfalls beigebunden. Das Inhaltsverzeichnis nennt aber für die entsprechenden Seiten einen ganz anderen Titel. – Bereits im handschriftlichen Standortkatalog von 1597 (Jena, ThULB, AC I 2) wird J als »Ein alt Meistergesangbuch auff pergamen« erwähnt; vgl. Feyl (Anm. 2), S. 48. Vgl. Othmar Feyl: Die neuzeitlichen Anfänge der Universitätsbibliothek Jena. 1650–1750. In: Bulling (1958), S. 191f. Feyl (Anm. 2), S. 161. Zu Struves bibliothekarischer Bedeutung vgl. auch Tönnies (2002), S. 12f. Vgl. ADB 31 (1890), S. 734–736. Feyl (Anm. 2), S. 212. Die Jahresangabe 1757 bei Feyl (S. 166) ist falsch. Vgl. dazu den Eintrag aus dem Totenbuch der Kirche zu Wenigenjena zum Jahr 1756, der Mylius’ Selbstmord in der Saale zwar nicht explizit, aber doch implizit belegt, wenn gesagt wird, dass man ihn dort begraben habe, wo die »Verunglückten hinkommen« (Theodor Lockemann: Ein Jenaer Universitäts-Bibliothekar des achtzehnten Jahrhunderts im Kampf um Besoldung und Amt. In: Beiträge zur thüringischen
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sönlichen Gründen, gescheitert ist, mindert nicht sein Verdienst. In seinen ›Memorabilia bibliothecae academicae Jenensis‹ (Jena und Weißenfels 1746) nennt er ausgehend von der alten, heute entfernten Zettelaufschrift unter der Rubrik ›Libri musici‹ die ›Jenaer Liederhandschrift‹: »Ein alt Meister=Gesang=Buch auf Pergament geschrieben in forma maxima, et ut ita dicam, maxime regia« (S. 376). Anschließend verweist er auf das Verhältnis von Noten und Text, auf die Tatsache, dass es Nachträge gibt und darauf, dass manche Buchstaben rot, manche blau rubriziert sind. Am Anfang der Handschrift, so beschließt er seinen Eintrag, lesen wir den Namen desjenigen Gesangslehrers (Phonasci), der womöglich das ganze Werk vollendet habe, »nimirum Meyster Stolle«.7 Dieser Irrtum sollte Folgen haben! Als im Jahre 1748 in Zürich Johann Jacob Bodmers ›Proben der alten schwäbischen Poesie des Dreyzehnten Jahrhunderts. Aus der Maneßischen Sammlung‹ erschienen, nahm ein junger Jenaer Mathematiker und Astronom, dies übrigens mehr aus Familienraison als Bruder eines bekannten und Sohn eines berühmten Mathematikers und Astronomen denn aus Leidenschaft, sogleich Kontakt mit Breitinger und dann v. a. Bodmer auf und berichtete ihnen über die in Jena verwahrte, von der Anlage, dem Inhalt und dem Alter her vergleichbare Handschrift wie die Manessische.8 Bodmer forderte diesen jungen Jenaer Gelehrten, Basilius Christian Bernhard Wiedeburg (1722–1758)9, in dessen Eigenschaft als Mitglied und Sekretär der Jenaer Deutschen Gesellschaft10 auf, diese Handschrift und ihre Texte in Auswahl dem Publikum bekannt zu machen. Bodmers Sammlung muss der unmittelbare Anlass für Wiedeburg gewesen sein, die Handschrift, die er schon »zwanzig und mehrmahl […] in den Händen gehabt« (Nachricht, S. 1) hatte, einer erneuten Prüfung zu unterziehen;
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und sächsischen Geschichte. Fs. Otto Dobenecker zum 70. Geb. am 2. April 1929, hg. von Alexander Cartellieri u. a. Jena 1929, S. 385–408, spez. S. 408. »Litterae textus sunt grandiores, sed singulis paginis etiam subiiciuntur uersus germanici, minoribus litteris exarati. Inspersae etiam sunt notae musicae. Litterae initales periodorum modo rubrae sunt, modo caeruleae passim. Ab initio legitur nomen Phonasci, qui forsitan hoc opus cantionum confecit, nimirum Meyster Stolle.« Im Anhang zu diesem Beitrag habe ich diejenigen Briefe ediert, die für meinen Zusammenhang von Bedeutung sind. – Wiedeburg schickte dann auch 1754 ein Exemplar der ›Nachricht‹ an Bodmer, ein zweites an Breitinger; vgl. Brief Nr. 3 und 4; vgl. auch Anm. 42 zu J. W. Blaufus. Zu Wiedeburg vgl. Zedlers Vollständiges Universallexikon 55 (1748), S. 1756f. (mit Hinweis auf ein Studium auch bei Mylius); Johann Christian Jacob Spangenberg: Handbuch der in Jena seit beinahe fünfhundert Jahren dahingeschiedenen Gelehrten, Künstler, Studenten und andern bemerkenswerthen Personen […]. Jena 1819, S. 122; ADB 42 (1897), S. 375. Wiedeburg war seit dem 14.9.1743 und bis zu seinem Tod Sekretär der Deutschen Gesellschaft; vgl. dazu Felicitas Marwinski: Johann Andreas Fabricius und die Jenaer gelehrten Gesellschaften des 18. Jahrhunderts. Jena 1989 (Jenaer Reden und Schriften o. Nr.), S. 76 und 111 (1747 Adjunkt an der Philosophischen Fakultät, 1751 a. o. Professor; 1754 o. Professor); dies.: Der Deutschen Gesellschaft zu Jena ansehnlicher Bücherschatz. Bestandsverzeichnis mit Chronologie zur Gesellschaftsgeschichte und Mitgliederübersicht. Jena 1999 (Beiträge zur Geschichte der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena 3), S. 12. – Eine weitere Beschäftigung Wiedeburgs mit J oder mittelalterlicher Literatur scheint es nicht gegeben zu haben. Keine seiner Reden in der Deutschen Gesellschaft geht in diese Richtung und auch seine Abhandlung ›Grammatikalische Anmerkungen‹ (Schriften der Teutschen Gesellschaft zu Jena aus den schönen Wissenschaften auf das Jahr 1753, hg. von Carl Gotthelf Müller. Jena 1754, S. 360–384) hat keinerlei historische Anknüpfungspunkte, die sich ja aus einer Beschäftigung mit der Sprache von J hätten ergeben können.
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denn der »ekelhafte Titel«, der ja auf Meister- und nicht Minnesang hinweist, so wie Mylius’ Irrtum, dass von einem Stolle »sich die ganze Sammlung herschreibe« (S. 2), den Wiedeburg mit dem ihm aus Wagenseils Buch über den Meistergesang her bekannten »Steffan Stoll, seines Handwerks ein Seiler« (S. 2) in eins gesetzt hatte, hatten ihn von einer näheren Prüfung abgehalten. In Bodmers Edition war ihm nun wiederum der Name Stolle begegnet – in einer Strophe Walthers von der Vogelweide (La 32,11), in der »Walthern der Beyfall der Stollischen Lieder empfindlich fiel« (S. 2). Also, so der ja womöglich nicht falsche Schluss, waren beide Zeitgenossen!11 Mehr noch: »mir kam es nicht glaublich vor, daß man in einer so weitläuftigen Sammlung« – gemeint ist J – »nicht auch die Arbeiten anderer Dichter die um diese Zeit gelebet haben, sollte aufbehalten haben. Der Erfolg hat meine Hoffnung noch übertroffen. Ich werde in dem Nachfolgenden«, also im ersten, umfänglichsten Teil seiner 1754 erschienenen ›Ausführliche[n] Nachricht von einigen alten teutschen poetischen Manuscripten aus dem dreyzehenden und vierzehenden Jahrhunderte welche in der Jenaischen akademischen Bibliothek aufbehalten werden‹, »klärlich zu Tage legen, daß in diesem Bande Stücke der besten Poeten auf unsere Zeiten gebracht worden sind; daß diese Sammlung ein Original sey; daß sie für den bisher bekannten zum Theil große Vorzüge habe; daß die hier befindlichen Lieder, sowohl ihres Innhalts als auch ihrer DichtungsArt wegen, besonders beträchtlich sind. Vortheile genug, welche uns die genauere Betrachtung dieses Meister Gesangbuchs nachdrücklich empfehlen« (S. 2f.). Was dann folgt, ist verglichen mit zeitgenössischen Ausführungen über mittelalterliche Manuskripte eine erstaunliche wissenschaftliche Leistung. Wiedeburg informiert seine Leser ausführlich und präzise über Anlage, Format und Umfang, den er mit 266 Seiten und »nicht viel über 900« Strophen korrekt angibt. Exkurs Zur Frage der Datierung von Foliierung bzw. Paginierung von J gibt es unterschiedliche Auffassungen. Die Hs. hat bekanntlich oben rechts eine alte Foliierung, die nur bis fol. 49 reicht und offenbar aus der Zeit vor 1541 stammt, da sie die heute fehlenden Blätter 1, 32 und 33 berücksichtigt hat. Ferner weist sie eine Fortsetzung dieser Foliierung oben rechts und eine Paginierung, die nur die ungeraden Seitenzahlen nennt, unten rechts auf. Pickerodt-Uthleb (S. 228) und ihr folgend Pensel (S. 307) datieren die untere Paginierung in die Zeit vor 1536 (von Magister Lucas Edenberger stammend?) und die obere fortsetzende Foliierung ins mittlere 18. Jahrhundert. Dem haben Klein/Lomnitzer (S. 385f.) ausdrücklich widersprochen: Sie nehmen an, dass die Paginierung unten von Wiedeburg stamme (also keineswegs aus dem 16. Jahrhundert!), die obere Paginierung ab fol. 50 aber angefertigt wurde, als die Handschrift 1826 nach Berlin an von der Hagen ausgeliehen wurde (vgl. u. Anm. 29). Auch wenn hier keine letzte Sicherheit zu gewinnen ist, scheinen mir Klein/Lomnitzer im Recht zu sein. Ein Vergleich von Wiedeburgs
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Vom Erscheinen von Wiedeburgs Schrift an gilt Stolle dann als Autor des frühen oder mittleren 13. Jahrhunderts und nicht mehr ausschließlich als später Meistersänger; vgl. nur Erduin Julius Koch: Compendium der Deutschen Literatur-Geschichte von den ältesten Zeiten bis auf Lessings Tod. Berlin 1795, z. B. S. 145.
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Schriftzügen in den Akten der Deutschen Gesellschaft sowie in seinen Briefen (v. a. der Zahlen bei der Briefdatierung) zeigt, dass die Paginierung von ihm stammt – und aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Strophenzählung (s. dazu auch Anhang, Brief Nr. 1). Bereits Müller (s. u.) verwendet die Wiedeburgsche Paginierung. Über die »Beschaffenheit« der Handschrift gibt er beispielsweise folgendermaßen Auskunft: Die Strophen »sind in ordentlich gespaltenen Colummen, auf genau gezogene schwarze Linien mit RohrFedern und ziemlich großen Buchstaben geschrieben: aber die Schrift ist nicht allenthalben gleich leserlich. Ueberhaupt sind in dem Hauptwerke zweyerley Hände gebraucht. Vorn herein und hinten gegen das Ende, sind die Buchstaben mit vielem Fleiße gemacht: nur in der Mitten sind sie sehr nachlässig und blasser gebildet. Doch füllet diese undeutliche Schrift nur wenige Blätter [gemeint ist der Wizlav-Abschnitt, JH] […]. Die Zeilen laufen, wie in dem Maneßischen, in eins vort, ohne daß nach einem Reime eine neue Zeile angefangen wird. Das Ende einer Zeile ist durch ein Punct, und der Anfang durch einen nur ein wenig größern Buchstaben angedeutet: allein die Puncte sind auch oft genug unrecht gesetzet. Andre UnterscheidungsZeichen, als Puncte, trifft man hier eben so wenig als in der Maneßischen Sammlung an. Die Reimbände […] sind meistentheils wechselweise mit rothen und mit blauen AnfangsBuchstaben unterschieden. Weil das Manuscript einen sehr breiten Rand hat; so ist derselbe, doch mehrentheils nur unten, hin und wieder mit andern Gedichten ausgefüllet« (S. 6). Über die Herkunft und Verwahrgeschichte der Handschrift stellt Wiedeburg ausgehend von dem Exlibris Johann Friedrichs folgende Vermutung an: »So geneigt man seyn möchte zu glauben, daß vielleicht auch eben von dessen durchlauchtigsten Vorfahren diese Sammlung veranstaltet sey; so wenig kommt es mir wahrscheinlich vor. Ich berede mich, daß man in dem Fall, einestheils mehrere Sorgfalt bey Verfertigung dieses Werkes selbst würde gebraucht haben, als wirklich geschehen ist: anderntheils würde dieser Codex außer allen Zweifel weit besser seyn bewahret worden, wenn er beständig ein Eigenthum solcher Musageten gewesen wär« (S. 5). Ausführlich äußert sich Wiedeburg zum Inhalt des Codex, und dies gelegentlich im Bemühen, den historischen Abstand durch Vergleiche zu überbrücken, so wenn er einige geistliche Strophen »ziemlich Zinzendorfisch« (S. 7) findet. An den Versuch, die Texte inhaltlich zu gliedern, schließt sich eine Übersicht aller historischen Namen sowie sämtlicher in den Texten genannter Autoren an (S. 8f.). Den größten Raum seines Werks nimmt ein Überblick über die einzelnen Œuvres ein. Hier wird jeweils der Umfang des Strophenbestandes angegeben und für jeden Sänger mitgeteilt, ob seine Strophen auch in C überliefert sind und mit welchen Unterschieden, und Wiedeburg zitiert ausführlich ihm auffällig oder typisch erscheinende Strophen. Selbstverständlich unterlaufen ihm Versehen und Irrtümer, von denen nur zwei genannt seien, weil sie für die weitere Editions- und Forschungsgeschichte nicht unerheblich sind: Auf Grund des Blattverlustes nach fol. 102 summiert er sämtliche Frauenlob-Strophen unter Konrads Namen, und er verliest zwei Namen: Zilies von Seyne (Sayn) heißt bei ihm (und in der Folge eben nicht nur bei ihm) Elies von Leyne (S. 19) und der Hinnenberger (Henneberger) begegnet als der Shynnenberger (S. 27). Mit Wiedeburgs Werk, dem Werk eines gelehrten und literarisch sensiblen Enthusiasten, beginnt die Forschungsgeschichte der Jenaer Handschrift und sie beginnt auf einem nicht gewöhnlichen Niveau. Das kommt auch immer wieder in lobenden Worten Bod-
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mers zum Ausdruck. Schon 1754, also zeitgleich mit dem Erscheinen der ›Nachricht‹, nimmt er bereits Bezug auf die Korrespondenz mit Wiedeburg, wenn er im Zusammenhang eines seinen Gedichten angehängten Briefes über den ›Wartburgkrieg‹ schreibt: »Von diesem Wettstreite stehet auch ein starkes Fragment in dem pergamenen Codice der jenaischen Academie, der von keinem geringern Alter ist, als der Manessische, und eben so aufhebenswürdige Stüke in sich begreift. Die Verfasser sind meistentheils Sachsen und Franken; Stolle, Rumlant, Herman Damen, Conrad von Würzburg, Robin, Rüdinger, Spervogil, der Misener, der Tanhuser, der Litschower, Singof, Poppe. Das Manuscript ist mir durch Hrn. Prof. Wiedeburg bekannt worden, und ich weiß niemand, der einen zuverlässigern getreuern Abdruk davon lifern könnte, wenn die deutschen Sprachgesellschaften mehr Sorge für die geistreichen Reste in der alten Sprache hätten, und dergleichen Unternehmen zu schätzen wüßten«.12 Zu all dem kommt es aber nicht. Im 1759, also im nur fünf Jahre später erschienenen zweiten Band der ›Sammlung von Minnesingern aus dem schwäbischen Zeitpuncte‹ heißt es bereits: »die Jenaische Sammlung […] hat durch den fryhzeitigen Tod des sel. Herrn Prof. Wiedeburgs ihren vornehmsten Schyzer verlohren«.13 Wiedeburg war am 1. Juli 1758 im Alter von 35 Jahren gestorben. Vor seinem Tod freilich muss er eine Abschrift seiner eigenen Kopie für Breitinger (s. Anhang, Brief Nr. 1) angefertigt haben, der sie offenbar an Bodmer weitergegeben hat. Denn dieser teilt in seiner ›Sammlung von Minnesingern‹ im zweiten Band von 1759 Lesarten aus J zu den ›Wartburgkrieg‹-Strophen mit, die erkennbar über das hinausführen, was er aus der ›Nachricht‹ Wiedeburgs gekannt haben kann.14 Als Bodmers Schüler Christoph Heinrich Müller (1740–1807)15 1785 in Berlin den zweiten Band seiner ›Samlung deutscher Gedichte‹16 herausgab, muss ihm Bodmer dafür diese Abschrift zur Verfügung gestellt haben. Müller fügt an die Edition epischer Werke jeweils ans Lagenende der einzelnen 1784 und 1785 erschienenen Lieferungen seiner Edition Strophen aus J nach Autoren geordnet an. Anschließend an den ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg etwa Meister Alexander, Stolle, Höllefeuer und Singauf; im Anschluss an die ›Tristan‹-Fortsetzung Heinrichs von Freiberg Meister Kelin, Gervelin, Urenheimer, Elies von der Leyne und den Shynnenberger, die beiden letzten Autornamen also in der Lesung
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J. J. Bodmers Gedichte in gereimten Versen, Mit J. G. Schuldheissen Anmerkungen; Dazu kommen etliche Briefe. Zürich ²1754, S. 147 (1. Aufl. 1746 ohne diesen Text). Wiedeburg hat diesen Hinweis auf J, der auf einen seiner Briefe an Breitinger zurückgeht (s. Anhang, Brief Nr. 1), erst während der Drucklegung seiner ›Nachricht‹ kennenlernen können (Vorrede, )( 4). Das Jenaer Exemplar der Gedichte ist ein Geschenk des Autors. [Johann Jakob Bodmer (Hg):] Sammlung von Minnesingern aus dem schwæbischen Zeitpuncte CXL Dichter enthaltend; durch Ruedger Manessen, weiland des Rathes der uralten Zyrich. Aus der Handschrift der kœniglich-franzœsischen Bibliothek herausgegeben. Erster Theil. Zyrich 1758. Zweiter Theil. Zyrich 1759, S. VI. Vgl. dazu auch HMS, Bd. 1, S. XVII und Bd. 4, S. 471b und schon Docen (1807), S. 113f. ADB 22 (1885), S. 521 und Internationales Germanistenlexikon 1800–1950, hg. von Christoph König. 3 Bde. Berlin 2003, S. 1278–1280; immer noch einschlägig Johannes Crueger: Die erste Gesammtausgabe der Nibelungen. Frankfurt 1884, der Müllers hypochondrische Art mit seiner Weise des Edierens in Verbindung bringt und dessen geistige Abhängigkeit von Bodmer hervorhebt, die so weit ging, dass er in seiner eigenen Namensgebung (Myller statt Müller) »auf eine von Bodmers orthographischen Schrullen, die bekannt genug ist, eingeht« (S. 64, Anm. 1). Myller (1784/1785).
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Wiedeburgs. Da offenbar jeweils am Lagenende nur ein begrenzter Raum zur Verfügung stand, fehlen die großen Strophenkomplexe aus dem ›Wartburgkrieg‹ und das Œuvre Konrads, das ja weitgehend eines Frauenlobs ist. Es gibt freilich auch eine Lieferung, die ganz den Autoren aus J gewidmet ist. Deren Titel lautet: ›Ein aldt Meister / Gesangbuch auf Pergamen / Enthaltet gedichte von verschiedenen Dichtern / Zum ersten Mal aus der Handschrift abgedrukt.‹ Dieser Teil bietet dann immerhin die mittelgroßen Œuvres von Bruder Wernher, Rumelant oder dem Meißner, teils allerdings nur in Auswahl. Am Ende der Gleim gewidmeten ›Freidank‹-Ausgabe, die schon 1784 gedruckt wurde (in der Buchhandelsausgabe aber den letzten Teil bildet), finden sich dann noch die Strophen des Unverzagten sowie des Goldener und abschließend die ausführlichsten Informationen über die Wiedeburgsche Abschrift: »die Gedichte des Unvurtzagheten und des Goldeners sind abgedrukt worden aus der Abschrift des verstorbenen Professor Wiedeburg in Iena, welche er eigenhändig genommen hat von einer Handschrift der Ienaischen Universitet auf Pergamen, betitelt ein aldt MeisterGesangbuch«. Christoph Heinrich Müller kehrte 1788 nach Zürich zurück, wo er 1807 starb. Hatte er Wiedeburgs Abschrift im Gepäck oder blieb sie in Berlin?17 Der erste, der nach Wiedeburg für die Herausgabe von Texten aus der ›Jenaer Liederhandschrift‹ diese eingesehen hat, war Bernhard Josef Docen (1782–1828)18 – und dies mit beträchtlichem wissenschaftlichen Ertrag. In zwei Beiträgen der ›Miscellaneen zur Geschichte der teutschen Literatur‹19 von 1807 veröffentlicht er in ausgesprochen zuverlässiger Weise20 mehrere Strophen aus J, die bislang unbekannt waren: Strophen Konrads, des Goldener, Stolles und Bruder Wernhers und – wichtiger noch – diejenigen Strophen des ›Wartburgkrieges‹, die nur in J, aber nicht in C stehen, sowie 15 ebenfalls bislang unbekannte Strophen Frauenlobs. Dass diese Strophen von Frauenlob und nicht von Konrad stammen, ist – jedenfalls in der Erinnerung Docens – eine stilkritische, nicht eigentlich eine überlieferungshistorische Entdeckung, die er so beschreibt: »Bisher trug man nun freylich kein Bedenken, die lange Reihe der hier folgenden Gedichte [gemeint sind die Frauenlob-Strophen ab fol. 103, also nach dem Blattverlust, JH] ebenfalls für das Eigenthum des Konrad von Würzburg auszugeben; wer aber die schöne Sprache, den fliessenden Vers und den glänzenden Ausdruck dieses trefflichen Sängers erkannt
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Vgl. dazu Anm. 28. Die Abschrift Wiedeburgs hat heute die Signatur Ms. Bodmer 27.22 (innerhalb der Signatur Ms. Bodmer 27–29: »Mittelhochdeutsche Materialien. – 3 Schachteln«). Sie ist bei Ernst Gagliardi und Ludwig Forrer: Neuere Handschriften seit 1500. Einleitung und Register von Jean-Pierre Bodmer. Zürich 1982 (Katalog der Handschriften der Zentralbibliothek Zürich 2) nicht speziell ausgewiesen. Crueger (Anm. 42) beschreibt sie folgendermaßen: »Die abschrift des jenischen codex, die Wiedeburg zugleich mit diesem brief [Anhang, Brief Nr. 1, JH] übersante, ist noch erhalten. Es sind nahezu 300 seiten, sauber und deutlich, so viel ich sehe, von wiedeburg selbst geschrieben, das ganze in zierlichen, goldgeschmückten band des vorigen jahrhunderts gebunden, das format grossquart. Auf der dritten seite steht der titel, der nach der »Nachricht« auswendig auf den deckel der handschrift auf ein kleines aufgeklebtes zettelchen geschrieben ist: ›Ein Aldt MeisterGesangbuch auff Pergamen‹« (S. 212). Vgl. Internationales Germanistenlexikon 1 (Anm. 15), S. 395f. Docen (1807). Die ›Miscellaneen‹ sind 1809 noch einmal in vermehrter Auflage in einem Band erschienen. Vgl. zu Docen auch Jens Haustein: Der Helden Buch. Zur Erforschung deutscher Dietrichepik im 18. und 19. Jahrhundert. Tübingen 1989 (Hermaea 58), bes. S. 68–70.
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hat, wird keinen Anstand nehmen, ihm die ganze nachstehende Sammlung geradezu abzusprechen. – Mir wurde die Sache schon beym ersten Durchlesen sehr verdächtig; ich stellte daher das Manuscript [J, JH] zur Seite, und richtete mein Auge auf die übrigen Meistersänger der Manessischen Sammlung, in der Hoffnung, unter diesen vielleicht den wahren Verfasser zu erspähen; und es bedurfte nur eines aufmerksamen Blicks auf die Gedichte von Meister Heinrich Vrowenlop, um denselben Vater in den getrennten Geisteskindern wiedergefunden zu haben« (S. 270). Der Name sei, so die ja wohl richtige Vermutung Docens, »mit jenem ausgeschnittenen Blatte verloren« gegangen (ebd.).21 Docen hat auch eine andere Lücke in J entdeckt, die nach fol. 132, und bestimmte den Verlust auf zwei Blätter mit rund 20 Strophen (eines dieser Blätter ist das Dillinger Fragment; s. den Anhang dieses Bandes). Seinen Abdruck einleitend stellt Docen auch noch einmal die Namen derjenigen Autoren zusammen, die wir nur aus J kennen und räumt dabei gleich etwas ungnädig mit einem Lesefehler Wiedeburgs auf: »Der Hynnenberger. So steht dieser Name deutlich genug in der Handschrift, bisher wurde er immer fälschlich ›Schynnenberger‹ geschrieben« (S. 108). Allerdings lebt ein anderer Lesefehler Wiedeburgs munter weiter: Zilies von Seyne (Sayn) heißt auch bei Docen noch Elias von der Leyne. Docen macht sich aber auch Gedanken über die Herkunft von J, mit denen er eine Überlegung Wiedeburgs aufnimmt. Auf Grund der Größe der Handschrift wie der Melodieüberlieferung hält er J für einen Meistersingercodex, der für den Schulgebrauch angefertigt wurde. Wenn die Handschrift »das Eigenthum eines grossen Herrn hätte werden sollen, wie Wiedeburg glaublich findet, so würde man wohl ein schöneres und weniger beschädigtes Pergament dazu genommen haben« (S. 276). Blicken wir kurz zurück. Die Situation für die beiden großen Lyrikhandschriften war zu Beginn des 19. Jahrhunderts ganz unterschiedlich. Mit Bodmers ›Sammlung deutscher Minnesinger‹ stand für die Handschrift C – bei allen Versehen – so etwas wie eine Gesamtausgabe zur Verfügung. Hingegen sah die Lage für J noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts desaströs aus: Über die Handschrift selbst musste man sich bei Wiedeburg informieren, dessen Beschreibung allerdings für das mittlere 18. Jahrhundert ausgesprochen professionell wirkt, jedenfalls ausführlich ausgefallen war. Eine größere Zahl von Strophen aus J musste man sich aus Müllers Edition zusammensuchen. Weiteres von Frauenlob und aus dem ›Wartburgkrieg‹ hatte dann Docen ediert. Diesen misslichen Umstand beklagt auch Jacob Grimm in einer Anmerkung seiner Abhandlung ›Ueber den altdeutschen Meistergesang‹ (Göttingen 1811), die ja aus einer Kontroverse mit Docen hervorgegangen war: »Es ist Bedürfniß, dass dieser zerstreut, unvollständig und durch einander gedruckten Handschrift eine bessere Ausgabe widerfahre, wobei die Musiknoten nicht zu vergessen wären. Dem Vernehmen nach hat Herr von Finkenstein neulich eine complete Abschrift genommen« (S. 125 Anm. 110).22 Diese Information geht auf
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Von der Hagen stimmt Docen darin zu, dass die J-Strophen, die bislang als Konrads Dichtungen galten, von Frauenlob stammen (Die Kolmarische Sammlung von Minne= und Meisterliedern. In: Museum für Altdeutsche Literatur und Kunst 2 [1811], S. 146–225; spez. S. 157). Docen ist auch die Identifikation Wizlavs zu verdanken (Docen [1807], S. 108), dessen Strophen bis dahin als solche Friedrichs von Sonnenburg galten. Gemeint ist Friedrich Ludwig Karl Graf Fink von Finkenstein (1745–1818), ein Freund Ludwig Tiecks (vgl. ADB 7 [1878], S. 21f.). Über eine Abschrift von J war nichts zu ermitteln.
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einen Brief Wilhelm Grimms schon vom 27. Dezember 1809 zurück, der in dieser Zeit außer Weimar ja auch Jena besucht hatte, um hier vor allem die Liederhandschrift abzuschreiben, aber mit dieser Absicht offenbar wenig Erfolg hatte: » […] wie verdrießlich ward ich, das Ms. [J, JH] lag an einer Kette ward abgeschnallt und mir aufgeschlagen. Es ist auf Pergament schön geschrieben und von ungeheuerm Format, wie ein Tisch so groß«. Anschließend wurde die Handschrift wieder angeschlossen, der Bibliothekar Walch zeigte Grimm noch kurz eine andere Handschrift, führte ihn an den »aufgestellten Büchern« vorbei und dann rasch wieder hinaus; denn auf die Bibliothek, die er immerhin extra für Wilhelm Grimm aufgeschlossen hatte, »konnte man nur 2mal in der Woche eine Stunde lang hingehn«. Abgesehen davon also, dass keine Zeit blieb, dämpfte auch eine andere Information Grimms Absicht, sich ausführlicher mit J zu beschäftigen: »Der Bibliothekar Walch sagte mir, daß ein Graf Finkenstein lang in Jena gewesen und fast den ganzen Codex copirt, und damit ietzt nach Berlin sey. Ich hoffe das geräth in das Hagensche Journal und das bestimmte mich noch mehr einen Versuch aufzugeben«.23 Mit von der Hagen ist nun derjenige genannt, dem für die Editionsgeschichte von J ein besonderes Verdienst zukommt.24 Eigentlich, und auch hier steht J hinter C zurück, ging es von der Hagen von Anfang an um eine Edition des Manesse-Codex, 1823 ist er deshalb sogar nach Paris gereist.25 Aber schon früh auch war ihm klar, dass J und insbesondere die Melodien einzubeziehen seien. Bereits 1807 möchte er, so schreibt er an Goethe, die ›Jenaer Liederhandschrift‹ durch dessen Vermittlung ausleihen, sieht aber sogleich ein, dass selbst eine Bürgschaft seines Freundes Johannes von Müller dafür nicht hinreichend ist.26 Im Frühjahr 1827, zu einem Zeitpunkt, zu dem der Druck der
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Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm, hg. von Heinz Rölleke. Teil 1: Text. Stuttgart 2001 (Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm 1.1), S. 200f. Im Brief Jacob Grimms vom 24. November 1809 an Wilhelm findet sich bereits eine vergleichbare Klage wie dann 1811: »Könntest du nicht die weimarer Codexe borgen und mitbringen und dann deine Zeit auf der dortigen in modernen Büchern besonders reichen Bibl. auf andere Sachen verwenden. Der Jenaische Cod. ist zwar großentheils gedruckt, aber wie du weißt, auf eine ganz miserable Art, nämlich an zehn oder zwanzig andern Orten, als Lückenbüßer, so daß alle Ordnung verloren ist. Unter dem ungedruckten ist gewiß viel merkwürdiges für die Geschichte des mittlern Meistersangs, u. wo ich nicht irre, ein Wettstreit zwischen Frauenlob u. andern. Wenn nur die Lieder selber intereßanter wären, so hätte man einen recht gescheidten Einfall, wenn man geradezu das Ganze abdrucken ließ« (ebd., S. 191). – Den bibliotheksgeschichtlich aufschlussreichen Umstand, dass mindestens die ›Jenaer Liederhandschrift‹ noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts angekettet war (und dass es eines Senatsbeschlusses bedurft hätte, sie auszuleihen), berichtet Wilhelm Grimm auch an Savigny; vgl. Briefe der Brüder Grimm an Savigny. Aus dem Savignyschen Nachlaß hg. in. Verb. mit Ingeborg Schnack von Wilhelm Schoof. Berlin 1953, Nr. 43, S. 83–85 (Januar 1810), spez. S. 85. Eine Entwurfsfassung hat Ludwig Denecke veröffentlicht (Bibliographie der Briefe von und an Jacob und Wilhelm Grimm. Mit einer Einführung. In: Aurora 43 [1983], S. 169–227, spez. S. 182). Vgl. dazu auch den Beitrag von Karl Stackmann in diesem Band. Hecker (1929), S. 166. Hecker (1929), S. 109. Im gemeinsam mit Büsching verfassten ›Literarischen Grundriß zur Geschichte der Deutschen Poesie von der ältesten Zeit bis in das sechzehnte Jahrhundert‹ (Berlin 1812, S. 482–486) listete von der Hagen sämtliche in der ›Jenaer Liederhandschrift‹ vertretenen Autoren auf – mit den Korrekturen Docens (Wizlav, Frauenlob etc.). Frdl. Hinweis von Gisela Kornrumpf.
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›Minnesinger‹ bereits begonnen hat27, kann von der Hagen J in Berlin endlich einsehen,28 im Juni 1827 geht der Codex dann wieder nach Jena zurück. Diese ja gewissermaßen auf ministeriellen Druck zurückgehende Ausleihe der berühmten Handschrift muss in Jena für einige Unruhe gesorgt haben. Unmittelbar vor der Übersendung nach Weimar, von wo aus sie dann nach Berlin versandt wurde, wird auf die Innenseite des Vorderdeckels ein Zettel eingeklebt, der implizit auch einer gewissen Besorgnis Ausdruck verleiht: »Dieser Codex enthält Ein Hundert und Sechs und dreißig Pergament-Blätter, welche sämmtlich beschrieben sind; so wie auf keinem Blatte eine Verletzung zu bemerken ist welche die Schrift entstellte oder den Inhalt unterbräche. Jena, d. 18n Juny 1826. Die Blatt-Nummern richten sich nach der ehemals vollständigen Lagen-Zahl; es fehlen aber die Blätter: 1. 32 und 33.«29 Wie gesagt, bereits Klein/Lomnitzer haben sicher zurecht vermutet, dass die obere rechte Foliierung, die von der alten bis fol. 50 reichenden Foliierung ausgeht,
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Eckhard Grunewald: Friedrich Heinrich von der Hagen. 1780–1856. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Germanistik. Berlin/New York 1988 (Studia Linguistica Germanica 23), S. 197. »Dr. K. H. Hermes« (Bd. 1, S. XVII) hat ihm schon vorher Teile von J kopiert. Karl Heinrich Hermes (1800–1856) studierte in Berlin und Breslau Theologie und Philologie, mit besonderer Neigung zur Literatur des Mittelalters. Er wollte die akademische Laufbahn einschlagen, geriet aber in Breslau in die sogenannte Demagogenverfolgung und wurde dann Journalist; vgl. ADB 12 (1880), S. 199–201; NDB 8 (1969), S. 672f. – Außerdem stand von der Hagen offenkundig auch eine der beiden Wiedeburgschen Abschriften zur Verfügung (vgl. HMS, Bd. 4, S. 741b, frdl. Hinweis von Gisela Kornrumpf). Die Sachlage ist nicht ganz deutlich. Entweder besaß von der Hagen, wofür die Formulierung in HMS 4 spricht, die zunächst für Breitinger angefertigte, dann von diesem offenbar Bodmer übergebene Kopie, die Wiedeburg von seiner eigenen Abschrift gemacht hatte. Diese wäre dann, möglicherweise auf Grund der Widmung an Breitinger (s. Anm. 43), entweder nach Abschluss der Arbeiten an den ›Minnesingern‹ oder aber nach von der Hagens Tod nach Zürich zurückgesandt worden (vgl. Anm. 17). Andernfalls muss er in den Besitz von Wiedeburgs eigener Abschrift gelangt sein. Den Verbleib dieser Kopie konnte ich allerdings nicht ermitteln. Weder ist im Nachlass von der Hagens in der SBB-PK eine Kopie nachweisbar, noch stand sie 1857 mit von der Hagens Bibliothek zum Verkauf (F. H. v. d. Hagen’s Bücherschatz […]. Berlin 1857). Das alles spricht für die erste Variante der Besitzgeschichte und also dafür, dass Wiedeburgs eigene Abschrift verloren gegangen ist. Zitiert nach Pensel (1986), S. 309; vgl. auch Klein/Lomnitzer (1995), S. 386. – Kennzeichnend sind in diesem Zusammenhang auch die Eintragungen, die der Jenaer Bibliotheksassistent Christian Ernst Friedrich Weller in sein Bibliothekstagebuch machte: 21. Juni 1826: »NB. Ich untersuche mit dem Bibl.=Schreiber Compter unsern Minne=Sänger=Codex sehr genau, wir zählen die Blätter und merken alles an« (ThULB, AB III 7, fol. 43v). Ich vermute, dass Weller in diesem Zusammenhang die Foliierung ab fol. 50 angebracht hat; die Zahlen in J sind mit denen aus Wellers Tagebuch identisch. Am Folgetag, dem 22. Juni, trägt er abends ein: »Morgens 6 Uhr fuhr ich mit einer guten, wohlverwahrten Chaise vor die Universitäts=Bibliothek, nahm im Beysein des Bibliothek=Schreibers Compter den großen Minnesänger=Codex an mich (laut Verordnung der Großh. Oberaufsicht vid. Die Acten der Universitäts=Bibl.) u. fuhr selbigen sogleich nach Weimar. Um 9 Uhr morgens überlieferte ich diesen Codex der Oberaufsicht, Sr Exzellenz dem wirklich Herrn geh. Rath und Staatsminister von Goethe […] im Beysein des Herrn […] Walther v. Goethe ganz unbeschadet. Von Seiten Großh. Oberaufs. wird dieser Codex nach vorheriger abermaliger genauer Durchsicht und Anmerkung an das Königl. Preussische Staatsministerium (Minister Herrn Baron v. Altenstein Excellenz) nach Berlin gleich abgesendet« (ebd., fol. 44r). Die Rückkehr des Codex ist AB III 8, fol. 33r vermerkt. Vgl. dazu auch den Beitrag von Joachim Ott, bes. Anm. 27.
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und deshalb bis fol. 136 und nicht 133 gelangt, in diesem Zusammenhang der Ausleihe nach Berlin angebracht worden ist. Von der Hagens dann erst 1839 mit der Jahreszahl 1838 vorliegende ›Minnesinger‹, von den zeitgenössischen Fachkollegen viel gescholten, wurde außerhalb dieses Kreises begeistert aufgenommen. Ludwig Bechstein schrieb 1840 an den Herausgeber: »Mit innigster Lust vertiefe ich mich in den Wunderhort des Minnesanges, den Ihr Riesenfleiß für das Vaterland zu Tage förderte […].«30 Riesenfleiß hier, unkritischer Übereifer dort! Laßberg an Jacob Grimm: »hat denn der arme mann in den langen iaren, die er auf der zunft schustert, die sprache noch nie gelernt?«31 Aber die Forderung nach kritischer Behandlung aller Dichter geht nicht nur an der Realität, sondern auch an von der Hagens Intention völlig vorbei. Er wollte, andernfalls hätte er ja Lesarten geben können, einen Eindruck von der Reihenfolge der Strophen und ihrer speziellen Sprachgestalt vermitteln. Im dritten Band druckt er deshalb den gesamten Strophenbestand von J wortgetreu ab, Korrekturen bleiben die Ausnahme. Damit war es zum ersten Mal möglich, sich von der Strophenfolge, den einzelnen Œuvres wie dem Lautstand der ›Jenaer Liederhandschrift‹ ein einigermaßen verlässliches Bild zu machen. Mit einem – bedauerlichen, aber verständlichen – Kompromiss freilich: Alle Strophen, die auch in C stehen, werden nur mit dem jeweils ersten Vers zitiert und mit einem Hinweis auf die Wiedergabe nach C im ersten oder zweiten Band versehen. Komplett nach J sind also nur diejenigen Autoren abgedruckt, die auch nur in J überliefert sind. Was aber von der Hagens ›Minnesinger‹ über den Editionsteil hinaus im Grunde bis zum Erscheinen des RSM unentbehrlich machte, sind das Verzeichnis der »Anfangszeilen der Strophen, Kehrreime und Leichsätze nach den Reimen« (III, S. 472–582) und das Personen- und Ortsregister (IV, 913–920). Mindestens beeindruckend sind die mehr als 750 Seiten über das »Leben der Dichter«, mit denen er auf frühere Zusammenstellungen zurückgriff32 und über die Jacob Grimm an Lachmann so boshaft wie hellsichtig und fern jeder Selbstkritik schrieb: »[...] in den lebensbeschreibungen zwar fleiß, aber doch nicht der rechte und eine menge unnöthiges oder ungehöriges. Er hat ein großes talent nothgedrungne citate zu verstecken und unnütze beizubringen.«33 Und gänzlich unerlässlich blieb bis zum Erscheinen des Faksimiles im Jahr 1896 und des Text- und Melodienabdrucks durch Georg Holz die Wiedergabe der »Sangweisen der Jenaer Handschrift« im vierten Band, die auf eine Abschrift Kuglers zurückgeht.34 Bekanntlich tut sich die germanistische Wissenschaftsgeschichte mit einer
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Nach Grunewald (Anm. 27), S. 206. Nach Grunewald (Anm. 27), S. 204. Versuche einer vollständigen Literatur der älteren Deutschen Poesie, von den frühesten Zeiten bis zu Anfange des XVI. Jahrh. In: Museum für Altdeutsche Literatur und Kunst 1 (1809), S. 126–237. Brief vom 13. Mai 1840; vgl. Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Karl Lachmann, hg. von Albert Leitzmann [...]. 2 Bde. Jena 1927, S. 711f. HMS, Bd. 1, S. XVII. Franz Kugler (1808–1858), Kunsthistoriker. »An der Hand Friedrich Heinrich von der Hagens vertiefte er sich in die Poesie des deutschen Mittelalters und eignete sich hierbei nicht blos den Text der Dichtungen, zum Teil unmittelbar aus den Handschriften, an, sondern forschte ebenso eifrig nach den Melodien von Minneliedern und den zierlichen Miniaturen, die so viele Manuscripte schmücken« (ADB 17 [1883], S. 307–315; spez. S. 308). Zudem komponierte Kugler auch Lieder nach eigenen Texten, u. a. auch ›An der Saale hellem Strande‹ (vgl. NDB 13 [1982], S. 245–247).
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Beurteilung von der Hagens schwer und geht selten über eine – gelinde gesagt – gedämpft positive Beurteilung seiner Leistung hinaus. Eckhard Grunewald schreibt in seiner Monographie über von der Hagen das Kapitel zur ›Minnesinger‹-Ausgabe abschließend: »Trotz aller Mängel gehören die Minnesinger in ihrer ›bislang unwiederholte[n] Stoffülle‹ auch heute noch zu den bedeutendsten Quellenwerken der germanistischen Wissenschaft«.35 Immerhin: Nicht wenige Autoren der ›Jenaer Liederhandschrift‹ wurden bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nach von der Hagens ›Minnesinger‹ zitiert, für einige wenige gilt das noch heute. Auch wenn in den folgenden Jahren und Jahrzehnten noch manches auf der Grundlage von J erschien, etwa Ettmüllers Wizlav-Ausgabe von 1852 oder seine FrauenlobEdition aus dem Jahr 1843, schon 1830 hatte er, der sich in Jena habilitiert hat36, den ›Wartburgkrieg‹ nach J ediert, oder 1854 eine Auswahl von Liedern aus J durch Rochus von Liliencron »für gemischten und Männerchor vierstimmig bearbeitet« und als Nachzügler Seydels Stolle-Edition von 1892, trotzdem blieb ein Unbehagen. Nur so kann man sich erklären, dass unmittelbar nacheinander 1896 das Faksimile und 1901 der Holzsche Textabdruck – offenbar ohne konzeptionellen Bezug aufeinander – erschienen. Karl Konrad Müller, 1854 in Würzburg geboren, studierte dort klassische und deutsche Philologie sowie Geschichte.37 1888 wurde er in Jena Oberbibliothekar und erhielt 1896 den Titel ›Direktor‹. Seine wichtigste Aufgabe sollte die »Schaffung eines Realkatalogs« (S. 579) sein, aber die Akten sagen auch, dass sich »nicht die mindeste Spur befinde, dass die Anfertigung eines Realkatalogs dem Oberbibliothekar Müller als seine wichtigste Amtspflicht eingeschärft worden sei«. Zum Glück! Denn so hatte er Zeit, sich um das Faksimile der ›Jenaer Liederhandschrift‹ zu kümmern. Dies erschien 1896 in 140 Exemplaren38, von denen dreißig einseitig bedruckt und nicht gebunden wurden. Die Subskribentenliste ist beeindruckend – sie reicht von ihrer Majestät dem Kaiser und König bis zum Oberlehrer Dr. Eickhoff in Wandsbek –, und Müllers Vorbericht, seine Beschreibung des Äußeren der Handschrift und ihres Aufbaus, die Auskünfte über die Lagen und ihre Fehlstellen zeigen die Hand des erfahrenen Philologen. Mit diesem durch Müller initiierten Photodruck im Originalformat stand die Handschrift der Fachwelt nun endlich für alle weiteren editorisch-kritischen Anstrengungen zur Verfügung.
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Grunewald (Anm. 27), S. 208. Das Zitat im Zitat stammt von Lutz Mackensen (Breslaus erster Germanist. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 3 [1958/59], S. 24–38; spez. S. 38) Jens Haustein: Ludwig Ettmüllers Jenaer Habilitation vom Jahr 1831. In: ›Vir ingenio mirandus‹. Studies presented to John L. Flood, hg. von William J. Jones, William A. Kelly und Frank Shaw. 2 Bde. Göppingen 2003 (GAG 710), S. 1025–1038. Das Folgende nach Wilhelm Schmitz: Karl Konrad Müller. 1888–1903. In: Geschichte der Universitätsbibliothek Jena (Anm. 2), S. 579–587. Vgl. auch den Nachruf Theodor Pregers: Karl Konrad Müller. Geb. 7. Juli 1854, gest. 15. Juni 1903. In: Jahresbericht über die Fortschritte der klassischen Altertumswissenschaft (= Biographisches Jahrbuch für die Altertumswissenschaft 33) 38 (1910), S. 1–5. Schmitz (Anm. 37) schreibt, dass die beiden Jenaer Exemplare »dem Bombenangriff am 9. Februar 1945 zum Opfer gefallen sind« (S. 583). Das entspricht nicht den Tatsachen. Sie sind benutzbar unter den Siglen ThULB, 2 Art. lib. XIVa 12/1 und 2 Art. lib. XIV, 12a.
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Offenbar hat Georg Holz39 von diesem Jenaer Vorhaben nichts erfahren, sonst hätte er kaum Max Freund gebeten, für ihn eine »geschickte und saubere abschrift der hs.« anzufertigen, die dann »als grundlage für das druckmanuscript gedient hat« (S. VIII). Ob Holz das Original je gesehen hat oder seine Einleitung auf der Grundlage des Müllerschen ›Vorberichts‹ und des Photodrucks verfasst hat, ist schwer zu entscheiden. Ich vermute Letzteres. Ohnehin betont er, dass der Wert seines Abdrucks nur darin bestehe, auf bequemere Weise den Text von J zur Kenntnis nehmen zu können als durch von der Hagens ja nicht vollständige Edition und Müllers unhandliches und teures Faksimile (S. I). Und jeder, der sich je eingehender mit den Liedern der ›Jenaer Liederhandschrift‹ beschäftigt hat, weiß, dass Holz Recht hatte. Darüber hinaus hebt er hervor, dass dem Abdruck nur eine dienende Funktion für die beiden Abhandlungen des zweiten Bandes zukommt. Gemeint sind die Abhandlung über die »Rhythmik« von Franz Saran40 (Bd. II, S. 91–151) und die über die »Melodik« von Eduard Bernoulli41 (Bd. II, S. 152–200). Am Ende des 19. Jahrhunderts stellt sich also die Editionsgeschichte von J ganz anders dar als noch 1838. Neben der von der Hagenschen Edition aller J-Texte und seinen wichtigen Registern steht ein bequem nutzbarer (und 1966 nachgedruckter) Textabdruck und ein (ebenfalls später nachgedrucktes) Photofaksimile zur Verfügung. Dies sollte eigentlich eine glänzende Voraussetzung für die schon von Grimm und Lachmann eingeforderte kritische Ausgabe der Dichter aus J darstellen. Dass es dazu zunächst nicht kam, hat mit allgemeineren Entwicklungen der Wissenschaftsgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu tun. Erst nach dem 2. Weltkrieg erschienen dann die größeren und kleineren Meister in kritischen Editionen: Carl von Kraus’ ›Liederdichter‹ oder die Editionen Stackmanns, Wangenheims und Objartels u. a. Über sie zu berichten, hieße freilich, einen neuen Beitrag zu beginnen.
Anhang Die im folgenden edierten Briefe Wiedeburgs an Johann Jakob Bodmer und Johann Jacob Breitinger werden im Bodmer-Nachlass der Zentralbibliothek Zürich verwahrt (Ms. Bodmer 6.14, Nr. 2–6; Ms. Bodmer 22.58, Nr. 5, 7–9, 11). Für Kopien, freundliche Hinweise und eine Abdruckgenehmigung danke ich sehr herzlich Christoph Eggenberger (Zürich). Von den insgesamt 17 Briefen wurden hier diejenigen zehn ausgewählt, in denen Wiedeburg auf mittelalterliche Literatur und seine oder anderer Editionsprojekte zu sprechen kommt. Die Gegenbriefe sind offenbar nicht erhalten. Abgesehen von Nr. 4 wurden die Briefe bereits 1884 von Johannes Crueger (Anm. 42) veröffentlicht, allerdings
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Ein Artikel zu Georg Holz (1863–1921) fehlt in den biographischen Nachschlagewerken (ADB, NDB, Germanistenlexikon). Vgl. aber ZfdPh 49 (1921/23), S. 143. Holz hatte sich 1890 in Leipzig für Germanische Philologie und Vergleichende Sprachwissenschaft habilitiert und wirkte dort ab 1896 als apl., ab 1902 als planmäßiger Extraordinarius für Ältere deutsche Sprache und Literatur (frdl. Auskunft von Günther Öhlschläger, Leipzig). Franz Saran (1866–1931), Germanist, seit 1901 Privatdozent für Deutsche Sprache und Literatur in Halle, ab 1913 Professor in Erlangen; vgl. Internationales Germanistenlexikon (Anm. 15), Bd. 3, S. 1566f. Eduard Bernoulli (1867–1927), Musikwissenschaftler, 1896 in Leipzig promoviert, habilitierte sich 1908 in Zürich; vgl. ²MGG, Personenteil, Bd. 2, S. 1412f.
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gekürzt, leicht normalisiert und weitgehend unkommentiert (für Nr. 1 ist zudem Bodmer als Empfänger angegeben), so dass eine kommentierende Neuausgabe gerechtfertigt erscheint. – Eine erste Transkription hat dankenswerterweise Christoph Pflaumbaum (Jena) angefertigt. Ulrich Joost (Darmstadt) und besonders Frau Magistra Dörthe Führer sowie Ruth Häusler (Zürich) danke ich sehr für eine Kontrolle und hilfreiche Hinweise. Nr. 1
Wiedeburg an Johann Jacob Breitinger, 6. Mai 1751.
Hochehrwürdiger und Hochgelahrter Hochgeneigter Gönner! Ich habe allzulange gesäumet, Ew. Hochehrwrd. meiner immerfortdauernden Ergebenheit zu versichern, und würde dieser meiner Pflicht gewiß eher nachgekommen seyn, wenn ich nicht bishero durch allerhand zufälle daran verhindert worden wär. Hauptsächlich hielt mich dieses auf, daß ich mir vorgenommen hatte, von dem in unsrer Universitaets Bibliothek befindlichen Codice, darinnen gedichte aus dem 13ten Jahrhunderte auf behalten werden, umständlichere Nachricht zu ertheilen, nachdem ich sahe daß Herr Adjunct Blaufus42 von zeit zu zeit damit verzog: und diß hat mir mehr zeit weggenommen als ich anfangs glaubte. Ich habe die ganze Sammlung, mit aller mir möglichen Genauigkeit abgeschrieben. Meine Absicht war freilich, dieselbe durch den druck bekannter zu machen: allein es ist mir an unserm Orte bishero ohnmöglich gewesen, einen Verleger auszumachen. Unsre hiesigen Buchhändler begnügen sich mit dem Verlag der CollegenBücher darüber gelesen wird, und kleinerer piecen: oder wenn sie je ein größeres Werk übernehmen, so muß es gewiß von dem Innhalte seyn, daß sie sich in ein paar Jahren den Vertrieb davon versprechen können. Unter den Umständen entschloß ich mich wenigstens Ew. Hochehrwrd. diesen Schatz nicht länger vorzuenthalten. Ich erkühne mich dannenhero zu bitten beyliegende Abschrift43 geneigt von mir anzunehmen, und als ein geringes Angedenken von mir aufzubehalten. Vielleicht bin ich im Stande, einen Auszug davon bekannt zu machen; und wenn dieses erfolget, so werde ich die Wahl der Stücke welche eine Bekanntmachung für andere verdienen, dem Urtheil Ew. Hochehrwd. überlassen: als zu welchem Ende, ich die in meinem und dem beyliegenden Exemplar befindlichen Strophen, auf einerley Art numerirt habe. Sonst halte ich diesen Codicem für ein Original; und glaube nicht, daß er
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Jacob Wilhelm Blaufus (1723–1758), führendes Mitglied der Deutschen Gesellschaft; s. Marwinski 1989 (Anm. 10), Reg. Blaufus gebührt das Verdienst, als erster Breitinger (und damit auch Bodmer) auf die Existenz von J aufmerksam gemacht zu haben. Die beiden Schreiben von 1748 und 1749 an Breitinger sind veröffentlicht von Johannes Crueger: Bodmer, Stadtvogt Renner in Bremen, Wiedeburg in Jena. In: ZfdPh 16 (1884), S. 197–221, spez. S. 207–209. Wiedeburg hat also eine Abschrift seiner eigenen Kopie angefertigt (s. auch Anm. 17). Diese ist dann Breitinger mit folgenden Worten gewidmet: »Dem Hochwürdigen und Hochgelahrten Herrn Herrn Johann Jacob Breitinger öffentlichem ordentlichen Lehrer der griechischen Sprache und Canonicus des Stiftes zu Zürich übergiebt gegenwärtige Abschrift eines in der jenaischen Academischen Bibliothek befindlichen Manuscripts und empfiehlet sich zu fernerem geneigten Wohlwollen Basilius Christian Bernhard Wiedeburg der Weltweisheit auserordentlicher öffentlicher Lehrer zu Jena, und der dasigen teutschen Gesellschaft Secretar. Jena im Monath May 1751« (zitiert nach Crueger [Anm. 42], S. 212). Vgl. auch Anm. 28.
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wie der bremige44, deßen in dem gelehrten Vorbericht zu den Proben der alten schwäbischen Poesie Meldung geschiehet, eine Abschrift aus der Manessischen Sammlung ist. Eines theils bestätigt mich in dieser Meinung, die unterschiedene Rechtschreibung und der ganz verschiedene Dialect; andern theils aber auch diß, daß hier manche Strophen bald ganz andre, bald mehr oder weniger zeilen haben, als dort. Von den historischen Umständen dieses Manuscripts, habe ich weiter nichts erfahren können, als daß es gleich bey grundlegung unsrer Akademie, nebst andern Büchern in der Bibliothek des Stifters Churfürst Johann Friedrichs, von Wittenberg hierher gebracht worden ist: allein übel conservirt; indem nicht nur Anfang u Ende, sondern auch im Buche selbst einige Blätter fehlen. Nächst dem aber ergibt der Augenschein, daß es sehr alt ist. Es ist mit Mönchsschrift auf altes Pergamen geschrieben. Doch glaube ich nicht daß es auf einmal zu Stande gebracht worden ist; Indem verschiedene Hände daran gearbeitet haben. Im hauptwerke selbst sind zwar nur zweyerley Hände gebraucht; allein hin und wieder sind einige Strophen an den Rand geschrieben, die ich hinten besonders gegenwärtiger Abschrift [habe] beyfügen lassen: und in denen findet man eine ganz andre Hand. Sonst hat der Abschreiber, der bey diesem Codice gebraucht worden, nicht alle gehörige genauigkeit beobachtet. Die Orthographie ist sehr unbeständig, u es fehlen auch hin u wieder einzele wörter, auch wohl zeilen: wie wohl einige bereits am Rande suppliret sind. Eine weitlauftigere Nachricht überschreitet die grenzen meines briefes. Ich war willens dieselbe auf ein paar Bogen besonders, als ein Sendschreiben an Ew. Hochehrwd. drucken zu lassen: weil aber wegen allzu häufiger Messarbeit die Pressen besetzt waren, so ist es bisher unterblieben; doch behalte ich es mir, mit dero Erlaubniß vor, dieses Vorhaben, so bald unsre Buchführer von der Messe kommen auszuführen. Ich habe übrigens die Ehre, von unsrer hiesigen teutschen Gesellschaft45 zu melden, wie sie Ew. Hochehrwd. u Herrn Prof. Bodmer ihre beständige Hochachtung widme.
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Gemeint ist eine Kopie eines Teils der ›Manessischen Liederhandschrift‹ aus dem Nachlass Goldasts. Bodmer waren mehrere Lieder durch Herrn »Stadtvogt Renner in Bremen« mitgeteilt worden (Proben der alten schwäbischen Poesie des Dreyzehnten Jahrhunderts. Aus der Manessischen Sammlung. Zürich 1748, S. Xf.); vgl. ausführlich Crueger (Anm. 42), v.a. S. 197–206. Die Matrikel der Deutschen Gesellschaft (ThULB, Ms. Prov. f. 130) verzeichnen Bodmer als Nr. 28 und Breitinger als Nr. 29 in der Liste der Ehrenmitglieder. Im Bodmer-Nachlass liegt die Ernennungsurkunde für Breitinger: [gedr.] »Die teutsche Gesellschaft in Jena erkläret durch diese öffentliche und feyerliche Ernennung Den [handschr.] Hochwürdigen und Hochgelahrten / Herrn / Herrn Johann Jacob Breitinger / Canonikus, Pastor, und Profeßor zu Zürich [gedr.] Dessen Liebe zu den schönen Wissenschaften, Dessen Eifer für die Ehre unseres Vaterlandes, den würdigsten Beyfall der Kenner, und den Ruhm eines edelmüthigen und geschickten Beförderers der teutschen Literatur Ihm schon längstens erworben hat; nach Verdienst, und einer ihren Gesetzen gemäßen Wahl, zu ihrem vornehmen Mitgliede. Sie ertheilet Ihm hiermit alle Vorrechte und Ehren desselben: und, wie alle ihre Bemühungen auf die Erweiterung desjenigen Ruhms abzielen, zu welchem vorzüglich Redner und Dichter die Schönheit der teutschen Sprache, und überhaupt der Wissenschaften, erhöhen können; so verspricht sie so wohl diesen, als auch sich selbsten, durch diese erwünschte Aufnahme, ein neues Wachsthum an Glück und Ehre. Ausgefertigt zu Jena, den [handschr.] 3ten May Monaths, im Jahr 1749.« Unterschrieben ist die Urkunde von Reusch (»Aufseher«), Müller (»Aeltester«) und Wiedeburg (»Secretar«).
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Insbesondre empfehlen sich Hr. Prof. Reusch46, Hr. Prof. Müller47 u Herr Adj. Blaufus nebst mir, zu fernerem Wohlwollen, u ich verharre Ew. Hochehrwrd. gehorsamster diener BCB Wiedeburg Jena, d. 6. May. 1751. [auf der Rückseite:] N.S. Ich habe vergessen zu melden, daß in beyliegender Abschrift vor einigen Strophen ein NB. befindlich ist, dadurch ich diejenigen habe anzeigen wollen, über welche im Original musicalische Noten geschrieben sind. [von anderer, wohl Bodmers Hand:] Bruder Wirner Meister Stolle Meister Elias von Meister Kelin Leine Meister Alexander Robin Spervogil Meister Rüdinger der Hellevür Meister Gervelin der Urenheimer Shynenberger der Gutere der Unverzagte der Lietschouwere der Tanhuser Meister Singof Der Ghuter Reinolt von der Lippe der Goldener Meister Rumelant von Swaben Meister Friderich von Sunneburc Meister Boppe der Misnere Cuonrat von Würceburg Herman Damen Der von Ofterdingen Her Wolferam
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Johann Peter Reusch (1691–1758), seit 1738 Prof. der Logik und Metaphysik in Jena, ab 1755 dies in der theologischen Fakultät, Mitglied und seit 1744 »Aufseher« der Deutschen Gesellschaft. Carl Gotthelf Müller (1717–1760), seit 1752 o. Prof. der Beredsamkeit, seit 1739 Sekretar und ab 1743 Senior der Deutschen Gesellschaft. Müller kommt im Vorbericht zu seiner Ausgabe der »JubelSchriften« (Der Jenaischen teutschen Gesellschaft der schönen Künste und Wissenschaften JubelSchriften zur Verherrlichung des zweyten JubelFestes der Akademie Jena gesammelt von Carl Gotthelf Müller der Beredsamkeit und Dichtkunst ordentl. öffentl. Lehrer und der Gesellschaft Senior. Jena 1758) auf den frühen Tod Wiedeburgs zu sprechen.
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Dieser Codex soll in der schwarzen Kiste48 bei meinen manuscripten verwahrt liegen. Nr. 2
Wiedeburg an Johann Jacob Breitinger, 14. Mai 1753.
Hochwürdiger und Hochgelehrter Hochzuehrender Gönner! Ich bin doppelt straffällig, da ich nicht nur so lange zeit angestanden habe, Ew. Hochw. meiner unveränderlichen Hochachtung zu versichern, sonder auch so viele Monathe den gehorsamsten dank schuldig blieben bin, welchen ich denenselben für das angenehme geschenk entrichten muß, das mir Ew. Hochw. leztere Michael. Messe mit den Wernickischen gedichten49 gemacht haben. Leztern einigermaßen thätig zu entrichten, lege ich hier einige Kleinigkeiten bey, das Manuscript ist ein Ergänzungs Stück eines alten Gedichtes50, das ich im Ausgang des 13ten oder zu Anfang des 14.ten Jahrhunderts verfertigt zu seyn schätze. Es findet sich zum Theil in Eccards Scriptoribus medii aevi51, und ist nach einem Exemplar in der wolfenbüttelischen Bibliothek, welches aber defect ist, abgedruckt. In unsrer akademischen Bibliothek findet sich dieses Alterthum auch; aber ganz. Es ist ein pappirner Codex mit Mönchs Schrift, allein in besondern format. Er hat die länge von gemeinem folio, u die breite ist etwas kleiner als octav. Was ich unterstrichen habe ist mit rothen Buchstaben geschrieben. Ubrigens ist die Schrift ziemlich leserlich, und darhinter ist ein andres teutsches gedicht welchem ich eben dieses Alter beylege, und das den Titel hat: Spiegel der menschen Selikeit.52 Der Verf. fängt von der Erschaffung der Menschen an. darauf kommt er auf Sünden Fall, den göttlichen Rathschluß die menschen zu erlösen dann auf Mariae geburth, u die mehresten geschichte unsers [Herrn] aus den Evangelisten. Den meisten theil nimt die legende von der Jfrau Maria ein. Das gedicht ist nach Absätzen geschrieben. Diese fangen sich fast alle überein an: Wir habin gehort wie, Nu Sule wir horen wie, darauf folgt eine kurze Beschreibung
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Frau Führer und Frau Häusler schreiben mir dazu, dass die schwarze Kiste, die bislang nicht aufgefunden werden konnte, auf S. 4 des Testaments (vom 12.5.1782; Sign. Ms Bodmer 38.34) in folgendem Zusammenhang erwähnt wird: »Weiter belieben diese beyden Herren [die Testamentsvollstrecker, JH] in dem größern oder in dem Kleinern Hause ein Zimmer auszuwählen, welches sie das anständigste u. bequemste dünkt, daß darinne mein Manuscripte, und kleine meistens literarische bibliothek aufgestellt und beisammen behalten werde: namlich die Mskpte von meinen Correspondenzen u. aufsätzen die in der schwarzen Kiste liegen. die Mskpte, u. gedrukte Werke in dem Coffer, welche sämtlich die altschwäbische Litteratur betreffen. diese handschriften liegen mir vornehmlich am herzen daß Sie vom Untergang verwahrt werden.« N. Wernikens, ehemaligen Königl. Dänischen Staatsraths, und Residenten in Paris, Poetische Versuche in Ueberschriften; Wie auch in Helden- und Schäfergedichten. Neue und verbesserte Auflage [hrsg. von Johann Jacob Bodmer]. Zürich 1749. Gemeint ist ›Der Fall Accons‹, also der zweite Teil der ›Steirischen Reimchronik‹ Ottokars von Steiermark (vgl. Pensel [1986], S. 498–500 zu Jena, ThULB, Ms. Rec. Adl. F. 3). Im zweiten Teil der ›Nachricht‹ druckt Wiedeburg den bei Eccard fehlenden Teil ab (S. 95–116). Crueger (Anm. 42) berichtet (S. 213f.) von einer dem Brief beiliegenden Kopie. Johann Georg Eccard (1674–1730), (Literar-)Historiker. Gemeint ist: Corpus historicum medii aevi. Leipzig 1723, Bd. 2, Sp. 1455–1576. ›Spiegel der menschlichen Seligkeit‹ aus der selben Handschrift, dazu Pensel (1986), S. 500; in der ›Nachricht‹, S. 119–139.
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u einige Gedanken darüber, welche insgemein mit einer angestellten Vergleichung beschlossen werden. Das folgende ist eine kleine Sammlung von Schulprogrammatibus eines gelehrten und verdienten Schulmannes, des Herrn Rector Stuß53 zu Gotha. Ich muthmase, daß sie nicht bis in die Schweiz gekommen ist; obgleich die Nachricht von seinem Streite mit Hn Gottsched vermuthlich Ew. Hochwd. bekannt geworden ist. H. Stuß ist sehr unschuldig zu dem Streite gekommen. Er hatte sich nichts weniger als eine controvers vermuthet, da sein ganzes Vergehen darinnen bestehet, daß er H. G. Worte so ausgeleget, wie Leute sich ausgelegt zu sehen wünschen, die ihn vor vernünftig halten. Die dritte Beylage ist eine Rede54, so von mir am lezten Geburts Tage unsers Durchl. Erbprinzen im Namen unsrer Gesellschaft gehalten. Für diese bitte ich um eine gütige Nachsicht. Das lezte ist die Fortsetzung von unsern hiesigen gel. zeitungen, an denen ich noch immer Antheil nehmen muß. Schreibart und Urtheile sind freilich nicht durchgängig überein, da nicht alle Mitarbeiter einerley Gedenkungsart haben. Schließlich muß ich bitten Herrn Prof. Bodmer meiner Hochachtung zu versichern, und nächst dem die Herrn Proff. Reusch u Müller dero gewogenheit empfehlen. H. Adj. Blaufus wird selbst schreiben, und seine vermischten Beyträge, zur Erweiterung der Känntniß merkwürdiger u seltner Bücher, die er diese Messe heraus gegeben übersenden; ich aber verharre mit grösester Hochachtung Ew. Hochwd. gehorsamster diener BCB Wiedeburg Jena, d. 14. May 1753. Nr. 3
Wiedeburg an Johann Jakob Bodmer, 7. Mai 1754.
Wohlgebohrener Hochgeschätzter Gönner! Ew. Wohlgeb. werden mich für sehr unhöflich halten, da ich bishero noch keines von den beiden Schreiben beantwortet, mit welchen dieselben mich beehret haben, obschon das erste d. 22. Aug. vorigen Jahres datiret ist. Allein soviel diesen Brief anlanget, so weiß ich nicht wo er in der welt herum gereiset seyn muß, da ich, wie die Hartungische Handlung55 bezeugen muß, selbigen erst im November erhalten habe. Nach der zeit hat
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Johann Heinrich Stuß (1686–1775), bekannt wegen seines Interesses an Ulfilas Bibelübersetzung, hat sich als einer der ersten für Klopstocks ›Messias‹ eingesetzt und sich gegen die darauf erfolgten Angriffe Gottscheds in den drei ›Commentationes de epopoeia christiana‹ (1752) verteidigt; zu seinen zahlreichen Publikationen vgl. ADB 37 (1894), S. 68–70. Basilius Christian Bernhard Wiedeburg: Der Flor der Wissenschaften aus der Gerechtigkeit und Gnade der Fürsten / an dem Höchsterfreulichen Geburths-Feste [...] Herrn Ernst August Constantin zu Sachsen [...] der Jenaischen Akademie Rectoris Magnificentissimi; welches zu Bezeugung ihrer unterthänigsten Ehrfurcht gegen ihr Durchlauchtigstes Oberhaupt die teutsche Gesellschaft zu Jena den 2. des Brachmonaths 1752 glückwünschend feyerte / in einer Rede gepriesen von B. Chr. B. W., der Weltweisheit öffentlicher Lehrer, und der Gesellschaft Secretar. Jena 1752. Gemeint ist die Buchhandlung des Jenaer Händlers Johann Wilhelm Hartung. Hartung starb am 23. April 1773; danach erlosch die Firma. Vgl. Friedrich Lütge: Geschichte des Jenaer Buchhandels einschließlich der Druckereien. Jena 1929, bes. S. 121.
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es mir immer an gelegenheit gemangelt, da unsre hiesigen Buchhändler die Neujahrs Messe nicht besuchen. Endlich kommt die glückliche Stunde da ich hoffen darf, unsrer so weiten Entfernung ohnerachtet, denenselben die theuersten u redlichsten Versicherungen meiner unverbrüchlichen Verehrung, geben zu können. Ich verbinde damit den gehorsamsten dank, für die vortrefflichen übersandten arbeiten, die ich sammt und sonders sehr hoch schätze; und wünschte im Stande zu seyn, mit etwas auf zu warten, daß diesen an Werthe einigermaßen gleich käm. In Ermangelung dessen habe ich die Ehre die Sammlungen56 unsrer Gesellschaft, und meine Nachricht von den Manuscripten bey zu legen. Erstere sind wohl freilich nicht von der Art, wie man sie in unsern Tagen von einer ganzen Gesellschaft fordern möchte. Uns hat aber die Zukunft aufgemuntert dennoch mit diesen Arbeiten hervor zu treten, um dadurch einen Anfang zu machen, indem wir gewiß hoffen, in der Fortsetzung wenigstens, der Erwartung der Welt nicht ganz zu entstehen. Meine Nachricht Betreffend, so ist meine hauptsächliche Absicht bey derselben gewesen, diese Manuscripte und zum Theil schönen Ueberbleibsel der alten wahren Dichtkunst bekannter zu machen. Man achtet sie zu unsern zeiten fast gar nicht, und ich habe daher auch wenig Beförderer des Orellischen Vorhabens57 ausfindig machen können. Man denket diese Sachen gehören Eigenthums weise für den Poeten, und wer davon nicht Profession macht, siehet ein solches Unternehmen fast gar verächtlich an. Unter denen, die die Poesie verstehen wollen, ist nur ein sehr geringes Hauflein welches glaubet daß ihm die Sache etwas angehet: und so finden sich freilich wenige Liebhaber. Ich habe daher geglaubt man müsse die Sache auf einen andern Fuß setzen. Wir leben in einem Sæculo in welchem, wenigstens bey uns die Historia litteraria das Mode studium ist. Ich glaubte daher daß ich unter dem Scheine, zu dieser Beyträge zu liefern am ersten Gelegenheit hätte, der welt unsre Manuscripte bekannter zu machen. Daraus ist gegenwärtige Nachricht erwachsen, deren Aufnahme ich nun erwarten muß. Ubrigens bin ich zwar so ganz unglücklich in dem Versuche dero Vorschlag zur Ausführung zu bringen, nicht gewesen: aber ganz bin ich doch nicht zu stande. Ohngefehr zehen sind derer, welche sich entschlossen, durch ihren beytrag die herausgabe der alten dichter zu befördern: sie sind aber mehrentheils auswärtige: u unter diesen ist der berühmte Herr Graf von Bünau58, der voritzt statthalter unsers fürstenthums ist. Vor ohngefehr 14 Tagen, habe ich von selbigem briefe erhalten, darinnen er sich dazu anheischig macht: aber er schlägt dabey folgende Bedingungen vor: namlich daß allemal von jedem eine gute teutsche Uebersetzung, in unsrer Sprache wie sie itzt üblich ist, darneben gedruckt werden soll. Unter den übrigen die Ihnen bekannt seyn möchten ist Herr Rector Stuß in Gotha, ein besonders eifriger Verehrer von denenselben, ein Herzensfreund des Hn Suppius59.
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Schriften der Teutschen Gesellschaft zu Jena aus den höheren Wissenschaften, auf das Jahr 1753. Jena 1754. S. dazu unten Anm. 70. Heinrich Graf von Bünau (1697–1762), nach dem Studium der Rechte in Leipzig ab 1751 Statthalter der Herzogtümer Weimar und Eisenach und zugleich fürstlich sächsischer Premierminister. Mitglied und ab 1751 auch Präsident der Deutschen Gesellschaft, bekannter Büchersammler, in Oßmannstedt gestorben; vgl. Marwinski 1989 (Anm. 10), S. 108f. Christoph Eusebius Suppius (1709–nach 1761), Lied- und Odendichter, zeitweilig in Gotha, Anhänger Bodmers.
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Ich will zusehen wie ich es etwa diesen Sommer noch einrichte daß ich denenselben künftigen Herbst Messe mit mehrerer Gewißheit vortheilhafte Nachrichten melden kann. An meinem Fleiße werde ich nichts ermangeln lassen. In Wolfenbüttel kann ich mir auch durch einen guten Freund der Theil nehmen wird, beystand versprechen. Für Herrn Canonicus Breitinger, dem ich mich gehormsamt empfehle, habe ich die Fortsetzung unsrer Zeitungen, und ein Exemplar von meiner Nachricht bey gelegt. Ich würde diesem um mich verdienten Gönner gleichfalls schriftlich aufgewartet haben, wenn mir nicht die Zeit dermalen außerordentlich zu kurz fiel. Herrn Wieland60 bitte ich mich gleichfalls zu empfen [!]. Ich übersende auch ihm ein Exemplar von meiner Nachricht. Ew. Wohlgeb. aber sage ich für alle mir so besonders erwiesene Gewogenheit verbindlichsten Dank, bitte mir dero ferneres hochgeneigtes wohlwollen aus, und verharre mit unausgesetzeter Hochachtung Ew. Wohlgeb. gehorsamster Diener BCB Wiedeburg Jena d. 7. May. 1754. Nr. 4
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Hochwurdiger Höchst zu verehrender Gönner! Eben da ich im Begriffe bin, meinen Brief61 an Herrn Rath Bodmers Wohlgeb. zu zumachen, habe ich das Glück das Schreiben zu erbrechen, mit welchem Ew Hochwd. aufs neue mich beehren, und welches mir mein Freund Herr Adj. Blaufuß von Leipzig mitgebracht hat. Mein Vergnügen in welches ich dadurch versetzt wurde war außerordentlich, indem ich hier auf das gewisseste der Freundschaft eines Mannes vergewissert wurde, dessen Herz und dessen Wissenschaft mir ewig verehrungs werth seyn werden. Die gütige Aufnahme meiner Briefe und beygelegten Kleinigkeiten; das Geschenk durch die mir schätzbarsten Arbeiten, und endlich die schriftliche Erklärung eines Herzens voll Freundschaft und Gewogenheit gegen mich: diese vergewissern mich sattsam des Besitzes eines Glückes, das ich zwar noch bisher nicht verdienen können, aber schon lange mir wünschte. Die Gegenversicherung meiner unverbrüchlichen Ergebenheit, ist das geringste wozu ich mich verbunden erachte. Ich sehe sie als eine Schuldigkeit an, die ich mit desto freyerem Muthe entrichte, da ich mich versichert halten darf, daß ihrer Größe nichts abgehet, wenn gleich die Feder dieselbe nicht völlig ausdrücket. Sie messen die Freundschaft nicht nach wörtlichen Erklärungen derselben. Für die Ubersandten vortrefflichen Gedichte62 bin ich zum Höchsten verbunden. Ich wollte wünschen daß ich im Stande wär etwas von gleicher Würde übersenden zu konnen. In Ermangelung dessen, warte ich mit meiner Nachricht von Manuscripten auf,
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Wieland lebte in dieser Zeit im Hause Bodmers. Nr. 3. Unklar. Vielleicht ist die Ausgabe der Opitz-Gedichte (1745) gemeint.
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welche ich geneigt aufzunehmen gehorsamst bitte. Ich bin völlig zufrieden, wenn mich dieselben nach meiner Absicht beurtheilen die Ihnen ohnmöglich mißfallen. Eine geneigte Anzeige meiner Fehler, werde ich mit besonderm danke erkennen. Ich bedaure daß ich von den Schriften unsrer hiesigen Gesellschaft nur ein einiges Exemplar bey der Hand habe, welches ich schon Herrn Rath Bodmer zugetheilt habe. Vielleicht kann ich künftige Messe damit aufwarten. Herr Rector Stuß in Gotha hat mir etliche Einladungs Schriften De Epopoeia Iobae, u de exegesi poeseos christianae63 zugesandt. Er hat durch mich erfahren, daß ich die vorigen Ew. Hochwd. zugesandt, u mich daher gebethen, unter Vermeldung seines schuldigen Respects, auch diese denenselben zur beurtheilung vorzulegen. Es hatte aber dieses Packet wunderbare fata. Es wurde bey einem Mann abgegeben, in dessen Hauße bald darauf Feuer auskam, das aber weiter keinen Schaden that, als daß einige vorräthige Racketen loßgingen, u das Packet an mich, und ein andres an Herrn Prof. Walch64 zur Helfte verbrannten. Ich muß also erst andre Exemplare erwarten. Wegen des druckes der Manessischen Sammlung habe ich Herrn Rath Bodmer geschrieben, u mache mir noch gute Hoffnung. Von dem Codice Apologorum65, den dieselben zu erhalten das Glück gehabt haben, hat mich Herr Rath Bodmer benachrichtiget. Ich statte dazu meinen freudigsten Glückwunsch ab. Der mir gütigst daraus mit getheilte Auszug ist mir überaus angenehm. Wegen der Fab. von den Bieggerren66, so wünschte ich sie zu sehen. Nicht zwar als wenn ich meiner Geschicklichkeit es zutraute, etwas heraus zu bringen, das Ihnen Schwierigkeit zu machen fähig ist. Ich kenne mein Unvermögen allzu wohl: allein vielleicht sind wir in unserer Bibliothek mit einigen Hülfsmitteln versehen, welche der Sache ein Licht geben könnten. Ob in der Bibliothek ein Codex Apologorum sey, kann ich nicht sagen. Mir ist noch bisher keiner aufgestoßen, ohnerachtet ich vieles durchblättert. Ich verstehe nämlich solche aus den 13ten Jahrhunderte. Vielleicht habe ich bald Gelegenheit mit der Bibliothek in nähere Verbindung zu kommen, da ich mir mehr Mühe geben werde. Die Herrn Proff. Reusch u Müller empfehlen sich verbindlichst[.] Ich aber versichere, daß ich mit unaufhorlicher Hochachtung verharre Ew. Hochwd. gehorsamster diener BCB Wiedeburg Jena d. 11. May. 1754.
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Johann Heinrich Stuß: Commentatio de epopoeia iobaea [...]. Gotha 1753; vgl. ferner Anm. 53. Gemeint wohl der Jenaer Theologe Johann Ernst Immanuel Walch (1725–1778). Gemeint ist die Handschrift mit Fabeln (von apologus, ›allegorische Erzählung, bes. äsopische Fabeln‹) Ulrich Boners, die Breitinger drei Jahre später herausgeben wird (Johann Jacob Breitinger [Hg.]: Fabeln aus den Zeiten der Minnesinger. Zürich 1757). Fabel Nr. 43 Von den bieggerren (S. 86–91). Gemeint ist die Fabel ›Maus und ihr Kind‹ (Dicke/ Grubmüller, S. 503; Pfeiffer Nr. 43). Der Titel geht auf mhd. biegger, ›Gleißner‹, zurück. Von daher ist Wiedeburgs Vermutung in Brief Nr. 5 korrekt.
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Nr. 5
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Wiedeburg an Johann Jacob Breitinger, 10. Oktober 1754.
Hochwürdiger, Hochzuehrender Herr Professor, Höchstgeschätzter Gönner! Ew. Hochwd. verbinden denenselben mein Herz immer auf eine stärkere weise. Die Ehre dero zuschrift; die allzugütigen und unverdienten Urtheile von meinen geringen Bemühungen; und die Mittheilung so schöner Arbeiten die ich als ein mir so werthes geschenk erhalte verpflichten mich zu unendlichem danke. Indessen erfahre ich in der that, daß bei einem aufgebrachten Herzen, Worte den Empfindungen nicht leicht ein genüge thun, und ich die Abbildungen derselben zu entwerfen zu ohnkräftig bin. Sollte ich in der That so glücklich seyn, durch meine lezthin heraus gegebene Nachricht meine Landesleute auf die ehrwürdigen Reste der teutschen Alterthümer aufmerksamer, und mit demselben bekannter zu machen so wäre meine ganze Absicht erreichet, und meine geringe aufgewandte Mühe nur allzu reichlich vergolten. Ich freue mich, daß wir Hoffnung haben, die glücklichen Bemühungen des seelg. D. Scherz67 noch nach seinem Tode bekannt gemacht zu sehen. Gebe nur der Himmel daß sie bald in Erfüllung gehet! Mit dergleichen Unternehmungen ist es nur allzu oft so beschaffen, daß sie völlig rückgängig werden, wenn sie einigen Aufschub leiden. Indessen ist es gleich wohl schon ein guter Anfang daß man die Kosten nicht gescheuet, diese schöne Sammlung wenigstens ihrem zu befurchtendem Untergange großmuthig zu entreissen. Für die übersandte Fabel sage ich gehorsamsten dank. Ich bin noch nicht mit mir einig was ich aus den bieggerren machen soll: doch glaube ich grund zu haben zu muthmaßen, daß dieses wort eher einen moralischen Character als die Mäuse selbst bedeute.68 Anfangs fiel mir ein, ob etwa das wort soviel bedeuten sollte als heut zu Tage: geberden; weil doch von dem betrüglichen in den Geberden die Rede ist: allein es kommt mir diese Auslegung noch zur zeit zu gezwungen heraus, wegen der gar zu geringen ähnlichkeit. Ich werde auf was besseres sinnen, und was ich etwa heraus bringen möchte Ew. Hochwd. Urtheile unterwerfen. Hr. Rector Stuß hatte mir vor einiger Zeit neue programmata de Epopoeeia Iobaea und de exegesi sacra poetica zu gesandt, auch eine vor vielen Jahren herausgegebene Einladungs Schrift de consilio novum Thesaurum Antiquitatum teutonicarum edendi bey gelegt. Sie waren für Ew. Hochwd. bestimmt: aber es geschahe das sie in einem Hause abgegeben wurden wo Feuer auskam, welches auch das Packet an mich ergriff, und ich erhielt anstatt der Innlagen, halb verbrannte Stücke derselben. Ich habe um andre Exemplare geschrieben; aber noch nichts erhalten: doch werde ich sie künftig gewiß bey legen.
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Johann Georg Scherz (1678–1754), (Literar-)Historiker, bekannt durch seine ›Philosophiae moralis germanorum medii aevi specimina I–XI‹ (Straßburg 1704–1710), in denen er bereits 51 Fabeln Boners veröffentlicht hatte, was Breitinger dann auch in seiner Vorrede hervorhebt (*4v), und durch seine Nachträge zu Schilters ›Thesaurus antiquitatum teutonicarum‹ (Ulm 1726–1728). Crueger (Anm. 42) nimmt an, dass auf die Herausgabe der ›Minnesinger‹ Bezug genommen sei (S. 216, Anm. 1). S. dazu Anm. 66.
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Herr Hudemann69 hat sich längst als einen Phantasten bewiesen. Indessen hat seine Arbeit hin und wieder Beyfall erhalten. Eines Theils kann man die Ursache so schon errathen. Andertheils glaube ich daß er eher durch einen Arzt als durch widerlegungen auf andre gedanken gebracht werden muß. Er muß sehr dickes geblüt haben, und verdienet daher Mitleiden. Von Altona aus bin ich benachrichtiget worden, daß Hr. Klopstock im begriff stehet, sich die lust zu machen ihn zu besuchen. An Hrn Adj. Blaufuß habe ich meinen Auftrag bestellet. Er ist Ew. Hochwd. gehorsamst verbunden[,] ich aber verharre in großester Verehrung Ew. Hochwd. gehorsamster diener BCB Wiedeburg Jena d. 10. Oct. 1754.
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Wiedeburg an Johann Jakob Bodmer, 10. Oktober 1754.
Wohlgebohrner Hochzuverehrender Gönner! Ich bin abermalen so glücklich gewesen, von Ew Wohlgeb. mit einem Briefe beehret zu werden, und erkenne solches mit dem allerverbindlichsten danke. Ich habe nicht nöthig solches durch weitlauftige Versicherungen zu betheuern da zum Ueberfluß die Materie von unsrer alten teutschen Sprache, den Sitten und Geschmack unsrer Vorfahren, als der Innhalt des Schreibens, mir die vergnügendesten Materien sind. Hat mich gleich die Vorsicht von diesen bemühungen einigermaßen abgezogen, da unsre durchlauchtigsten Fürsten mir die Mathematik zu meiner Hauptbeschäftigung gegeben, so werde ich mich doch niemals der bemühungen ganz entschlagen, auch öffentlich zu mehrerer Verehrung dieser Studien, das meinige, so wenig es auch ist, bey zu tragen. Aber freilich gehöret noch sehr viel dazu, ehe wir die gebührende Achtung gegen witz und Poesie, unter uns Teutschen allgemein nennen können. Ein neuer Beweis ist die von mir unerwartete Aufnahme der orellischen Aufforderungsschrift70: und es ist mir nahe gegangen, daß ich selbst dabey nicht mehr ausrichten können. So weit habe ich es zwar gebracht, daß ich 10 bis 12 unter meinen Freunden dahin vermocht, daß sie an der Ausgabe Theil zu nehmen sich entschlossen: es ist mir aber gleichfalls bey mehreren so gegangen, daß sie erst durch zehnerley Bedingungen wegen eingebildeter Unkosten, sich verwehret; und was ist überhaupt eine so geringe Anzahl? Ich bin daher ungemein vergnügt zu vernehmen, daß noch andre Hoffnung übrig ist, diese Schätze uns in die Hände zu liefern. Soviel in meinem und einiger meiner Freunde Vermögen ist, werden wir alles anwenden dieses zu befördern.
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Ludwig Friedrich Hudemann (1703–1770), anfangs Gegner, dann Anhänger Gottscheds (vgl. ADB 13 [1881], S. 279). Vermutlich handelt es sich um eine Aufforderung zur Subskription der Boner-Ausgabe durch den Züricher Verlag. Auf diese jedenfalls geht Breitinger in seiner Einleitung ein. Crueger (Anm. 42, S. 215) nimmt hingegen eine Subskriptionsaufforderung für die ›Minnesinger‹Ausgabe an, gesteht aber, dass eine solche bisher nicht nachweisbar sei.
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An Herrn Rector Stuß in Gotha, habe ich bereits wegen einer neuen Abschrift des Veldecks71 geschrieben und zweiÀe ich nicht, er wird es willig übernehmen, daß ich vielleicht künftige Messe damit aufwarten kann. In unserm hiesigen Manuscript sind die u alle so geschrieben wie ich sie abdrucken lassen. Ich habe weder ú noch G darinnen gefunden, außer, wie ich mich eben erinnere, in einigen sehr wenigen Stellen die mit fremder Hand hinzu geschrieben sind. Von diesem leztern Umstande kann ich nicht einmal was gewisses melden, da man, wegen einiger Differenzien und übeler Aufführung, unserm dermaligen Bibliothekar72 die Schlüssel abgefordert, daß sie von ihm versiegelt bey dem Prorector liegen. Das aber weiß ich gewiß, daß in dem Hauptwerke dergleichen nicht vorkommt, daher ich schon lange auf die Gedanken gekommen, daß dieser Unterschied von einem verschiedenen Dialect herrühre. Bey dem was ich auch in meiner Nachricht von dem verschiedenen Dialecte beigebracht, habe ich mich auch vornämlich auf diesen Umstand bezogen, daher ich desto gewisser bin. Auf Ew. Wohlgeb. Befehl setze ich aus den Vater Unser des codic. argentei ul¿lae folgende Stelle her: ȌEIN QIMȜI ȌIȆįINȜSSȆS ȌEINS thein quimai thiudinassus theins ȊAIKȌAI YIȜGA ȌEINS SYE IN hIMINȜ vairthai vilja theins sve in himina Joh 12, 47. heist es Jah jabai hvas meinaim hausjai vaurdam &c. et si quis audierit verba mea v. 48. Sa ei frakann mis. jah ni andnimith vaurda meina qui spernit me et non accipit verba mea73 Der Auftrag an Herrn Adj. Blaufuß ist besorget. Er erkennt sich Ew. Wohlgeb. unendlich verbunden, und ich verharre mit unausgesezter Verehrung Ew. Wohlgeb. gehorsamster Diener BCB Wiedeburg Jena d. 10. oct. 1754. Nr. 7
Wiedeburg an Johann Jakob Bodmer, 5. Januar 1756.
Wohlgebohrner Hochzuehrender Herr Rath Höchstgeneigtester Gönner Ich bin abermalen in Beantwortung dero geehrtesten Zuschrift unterm 29. Nov. vorigen Jahres saumselig gewesen. Habe ich aber zumalen Entschuldigung verdienet so glaube ich dißmal derselben werth zu seyn, da mich dero so verbindliches Schreiben in einer solchen Verfassung antraf, wo ich meine Stunden zwischen Geschäften und Liebe theilen
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Die ›Eneide‹-Handschrift der heutigen Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha, Cod. Chart. A 584. Johann Christoph Mylius, s.o. Anm. 6. Die von Bodmer erbetenen Zitate aus der gotischen Bibel des Codex Argenteus (Mt 6,10 und Joh. 12,47f) werden wohl von Stuß stammen, vgl. Anm. 53.
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musste. Es war schon damals meine Verlobung mit der zweyten Jungfer Tochter unsers seel. Herrn Hofrath Hambergers74 im werke, welche nicht lange darauf unter gottlichem Beystand erfolgte. Eine so glücklich und wohl gewählte liebe darf ich Ihnen um so viel weniger verhalten, da ich weiß daß Sie diese Leidenschaft kennen, und sie uns so wünschens werth gemahlet haben. Ich schätze mich bey dem zärtlichen Gefühl derselben außerordentlich glücklich: und ich bin stolz darauf daß ich in Ihnen einen Freund verehren darf, dessen Schilderungen mein Herz zu denjenigen Empfindungen gebildet hat, in denen ich ein so großes Glück finde. Vermuthlich trauen Sie es mir zu daß ich mich mit meiner Wahl nicht gegen Sie groß machen würde, wenn diese nicht auf das beste und liebenswürdigste Herz, das ich kenne, gefallen wär. Doch ich muß mir Gewalt anthun von dieser Materie abzubrechen um auf die Haupt Sache zu kommen. Zuerst äußere ich meine Verwunderung, wie Ew. Wohlgeb. meines Stillschweigens gedenken können: da ich mich nicht entsinne mich eines solchen Fehlers theilhaftig gemacht zu haben. So viel weiß ich gewiß daß ich unterm 2ten May vorigen Jahres ein Packet an Hn. Canonicus Breitinger hier abgehen lassen, in welchem wo nicht ein Brief, doch wenigstens eine schuldige Antwort an dieselben befindlich gewesen, wo dieselbe nicht am Michael. vor dem Jahre abgegangen ist. Die vorigen Briefe von Ew. Wohlgeb. enthielten den ausdrucklichen Befehl, mit zusammen bringung einer Gesellschaft, die unsre so schätzbaren Ueberbleibsel des alterthums drucken ließ inne zu halten, indem dieselben andre Wege ausgemacht hätten durch welche diese Absicht erreicht werden könnte. Vermuthlich war dieses der Weg, durch welchen wir nun, wie ich vernehme, den alten Codicem von Fabeln75 erhalten sollen. Ich freue mich über diese hoffnung herzlich, und bin außerst begierig den Abdruck zu sehen: es koste was es wolle. So viel meine bisher angewandte Mühe betrifft, so ist diese nicht ganz vergeblich gewesen. Ich habe eine Zahl von 10 bis 12 mit leichter Mühe zusammen gebracht. Von dem seel. Obrist Lieutenant von Spilker76 lieget sein Zuschuß noch bey mir. Einem gewissen hofrath Koch77 in Wolfenbüttel, habe ich seinen beytrag wieder zurücke geschickt, indem dero befehl mich andre schon hinlängliche erfundne Mittel hoffen ließ. Ich getraue mir auch durch hülfe meiner auswartigen Freunde, die Zahl von 30 wohl voll zu machen. So wären wir wohl im Stande ein Bändgen heraus zu drucken aber für den debit habe ich mich immer gefürchtet. bey uns ist denselben zu erhalten gänzlich ohnmoglich, wenn
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Georg Erhard Hamberger (1697–1755), Professor der Chemie und Medizin, Rektor der Universität. Gemeint ist die Boner-Ausgabe. Unter den gedruckten Schriften der Deutschen Gesellschaft (s. Marwinski 1989 [Anm. 10], S. 269) findet sich auch folgender Titel: Heinrich Eberhard Freyherrn von Spilckers, Königl. Preußischen ObristLeutenants und Flügeladjutantens und der Königl. teutschen Gesellschaft zu Königsberg Mitgliedes, DanksagungsOde an die teutsche Gesellschaft in Jena, bey Ueberreichung eines philosophischen Gedichtes von der VernunftLehre, in: Schriften der Teutschen Gesellschaft zu Jena aus den schönen Wissenschaften hg. von Carl Gotthelf Müller auf das Jahr 1753. Jena 1754, S. 246–250. Von Spilcker stammt auch: Abhandlung von den Meynungen der Alten, die Träume, Gespenster und Zaubereyen betreffend […]. Leipzig 1754. In den Akten der Deutschen Gesellschaft (ThULB, Ms. Prov. f. 132 [5]) sind mehrere handschriftliche Gedichte und Reden Spilckers erhalten. Heinrich Andreas Koch (1707–1766), Hofrat und Leiter des herzoglichen Archivs in Wolfenbüttel.
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nicht ein buchhändler damit als mit seinem Eigenthum schalten kann. Ein Mann hat die bekanntschaft nicht daß er ein werk vertreiben könnte, und allen u jeden eine Einnahme zu uberlassen, die noch dazu einzeln ein kommt ist meinem Ermessen nach etwas gefährlich: Ein Verleger zu solchen Sachen die schwehr abgehen weil wenig liebhaber sind, findet sich bey uns nicht leicht. Ich bin daher auf folgenden Vorschlag gefallen, den ich Ew. Wohlgeb. zu reiferer Ueberlegung anheim stelle. Ich dächte es were gut wenn eine geschlossene Anzahl guter Freunde zusammen träte, die die Unkosten zu einen[!] einigen solchen bändgen zusammen schössen. Ihre Namen würden vorangedruckt, sowohl zu einiger aufmunterung als auch des folgenden wegen. Diese verglichen sich mit einem buchhandler folgender gestalt[:] 1) Sie überliefern ihn die ganze Auflage die nicht allzu stark seyn dürfte, nach abzug der Exemplare eins für jeden Intressenten gerechnet, ohne Entgeld und als ein geschenk. 2) Der buchhändler müsste sich dafür anheischig machen a) alle Jahr ein neues Bändgen zu liefern dazu er weiter nichts als die drucker kosten bey zutragen hätte b) von jedem Bändgen erhielt jeder der vor dem ersten verzeichneten Intressenten ein Exemplar umsonst. Sollte auf diese Bedingungen in Zürich kein Verleger aus zu machen seyn, so getraute ich mir hier dergleichen zu verschaffen. Ich will gern alles beytragen was in meinem Vermögen stehet. Ich bin zwar von den durchlauchtigsten Herrschaften an die Mathematik gewiesen, u da ich voritzt auch die Physik mit zu versehen habe, werde ich freilich von dem mir so angenehmen studio der teutschen Litteratur abgezogen: indessen werde ich mich nicht entbrechen, derselben ohne den geringsten Vortheil bisweilen einige Stunden zu widmen. Doch würde ich mir in allem dero rath u beystand erbitten. Ich hoffe wenn mein Vorschlag beyfall findet, die Sache soll thunlich seyn. Es dürfen nicht einmal viel Intressenten seyn, um dem buchhandler nicht den debit schwehrer zu machen: und wenn auch etwas mehr als ein paar Thaler von der Person auf zu wenden wären, so dächte ich sollte diß nicht schwierigkeit machen, da man doch nach u nach den werth dafür wieder bekommt, und für die Ehre zur Erhaltung solcher denkmaeler der würde unsers Vaterlandes ja wohl einen so mäßigen vorschuß wagen wird. Der buchhandler risquiret auch nicht viel dabey da man ihm so viele Vortheile in die Hände gibt. Die itzt zu erwartende ausgabe der alten Fabeln müsste zum Muster dienen. Wär nur jemand der den Vorschuß ubernähm, so dachte ich die Sache wär noch eher thunlich wenn man auf einmal eine große Sammlung in Fol. zu stande brächte, und ihr den Titel eines neuen Toms zu dem Thesauro antiquitatum Germanicarum edirte. das werk ist in vielen Händen, und wer die ersten Tomos hatte würde doch auch die lezten mit nehmen. Nun habe ich Ew. Wohlgeb. noch von den Herrn Prof. Reusch und Müller wie auch von Hn. adj. blaufuß ihrer wahren Ergebenheit u Ehrerbietung zu versichern. Unser H. Statthalter der H. Graf von Bünau, dem wir die vortreffliche teutsche Reichs historie78
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Herrn Heinrich von Bünau Genaue und umständliche Teutsche Käyser- und Reichs-Historie. Aus den bewehrtesten Geschicht-Schreiber und Uhrkunden zusammmengetragen. 4 Teile. Leipzig 1728–1743. Zu Bünau auch Felicitas Marwinski: Die Teutsche Gesellschaft zu Jena – eine »Akademie der höhern Wissenschaften«? Über gelehrte Preisfragen im Rahmen des
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zu verdanken haben, hat in briefen gegen mich dero Eifers für unsre alten Uberbleibsel sehr gnädig gedacht, und sich auch erbothen wenn dergleichen Association zu stande kommen sollte solche nachdrücklich zu befordern. Hn Prof. Nicolai79 kenne ich nicht. Er scheint mir aber allerdings in die zweyte classse des Verf. der Ankündigung der dunciade80 zu gehören; welche über den verdorbenen geschmack seufzen, und das elende verachten nur weil es andre große Männer gethan haben aber auch das gute nicht achten weil es nicht französisch ist. Mich soll wundern wie sich Gottsched gegen diese Ankündigung von deren Verf. ich nichts erfahren können, vertaidigen wird. Ich sehe keine Moglichkeit ein. Ich habe verschiedentlich von leipzig von Hn. M. Titius81 briefe gehabt. Er muß viel von der G. Seite ausstehen weil er sich erfrecht hat mitten in leipzig sich für einen Verehrer von Ihnen auszugeben. Ich sehe wohl daß er ein gutes herz hat. Es kommt mir aber vor als wenn er sich in zu vielerley vertiefte, da er es sonst wohl weiter bringen könnte. Mit seinen Arbeiten bin ich nicht so wohl zu frieden als mit seinem guten willen. Schlieslich empfehle ich mich denenselben u Hn Canonico breitingers hochehrw. zu beharrlicher gewogenheit und bin mit schuldigster Ehrerbietung Ew. Wohlgeb. ergebenster BCB Wiedeburg Jena d. 5 Jenner 1756. Nr. 8
Wiedeburg an Johann Jakob Bodmer, 12. Oktober 1756.
Wohlgebohrner und Hochgelehrter, Hochzuehrender Herr Rath! Ew. Wohlgeb. haben schon im April mich mit einer mir schätzbaren Zuschrift beehret; und daß ich dieselbe noch bis itzt nicht beantwortet, rühret keines weges daher, als wenn ich jemals gegen diese Ehre gleichgültig werden könnte: sondern blos der Mangel einer Gelegenheit, da mir der Brief erst im Iunio lange nach geendigter leipziger Messe zu handen kommen, hat solchen Verzug veranlasset. Ich bin so viel mehr betreten, daß ich meine Schuldigkeit so lange aus den Augen setzen müssen da der freundschaftliche Antheil welchen dieselben an dem glücke meiner Verheirathung nehmen wollen, mich Ew. Wohlgeb. aufs höchste zur schuldigen dankbezeigung verpflichtet hat. Ich erkenne solche mir erwiesene güte als ein neues Merkmal der Empfindlichkeit Ihres Herzens, welche
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Akademie-Konzepts, in: Zs. des Vereins für Thüringische Geschichte 58 (2004), S. 83–122, bes. S. 86 Anm. 12, weitere Lit. ebd. Anm. 18. Gemeint Friedrich Nicolai (1733–1811). Die ›Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland‹ waren 1755 erschienen. Christoph Martin Wieland: Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen. Nebst dem verbesserten Hermann. Frankfurt und Leipzig 1755. Wieland polemisiert in dieser Schrift im Namen des guten Geschmacks gegen Gottsched und seine Anhänger (u. a. Schönaich) und deren Ablehnung des französischen Theaters. Zum Zusammenhang vgl. immer noch Gustav Waniek: Gottsched und die Litteratur seiner Zeit. Leipzig 1897, bes. Kap. XVIII. Wohl Johann Daniel Titius (1729–1796), nach einem Studium in Leipzig ab 1756 Professor der Mathematik und Physik in Wittenberg.
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dero Charakter Ihren Freunden u Verehrern so schätzbar macht. Mir wird sie jederzeit ein antrieb seyn denenselben eine unverleztliche Verehrung zu widmen. Ich wünsche zu Vergeltung derselben ein auf die spätesten lebens Jahre dauerndes Glück, und erbitte mir die Fortsetzung dero Gewogenheit. Ich bin erfreut, wenn meine leztern ohnzielsetzlichen Vorschläge zu beförderung der herausgabe der alten schwäbischen dichter, dero Beyfall verdienen können: und noch mehr bin ich vergnügt da ich aus den Schreiben des Herrn Canonici breitinger erfahre daß schon auf diese Maaße der Codex Apologorum heraus gekommen ist. Meine Freunde und ich werden zu fortsetzung eines solchen Instituti alles mogliche beytragen. Für uns so etwas zu unternehmen ist wohl über unsre Kräfte. Unsrer sind zu wenig; und seit dem ich in eine andre Sphäre der Wissenschaften geworfen worden bin, auch mir mit akademischen u Facultets arbeiten mehrere Zeit vergehet, kann ich durch Briefwechsel weniger als sonst ausrichten. Indessen habe ich alles unternommen was in meinem Vermögen gestanden. Ich fand in einem neuen Berlinischen Journal, daß H. Prof. Sulzer82, der mir von Ew. Wohlgeb. mit getheilten Entwurf einer association, bekannt gemacht, und sich erbothen die Vorschuß gelder zu besorgen. Ich habe ihn darauf in die hiesigen zeitungen drucken lassen, und mich zu gleicher besorgung erbothen. Ohngefehr 10 meiner Freunde haben sich erkläret bey zutreten; und nun denke ich durch meinen Bruder83 der in Erlangen Universitaets Bibliothekar ist, noch etwas aus zurichten. Sollten Ew. Wohlgeb. also zu ausführung und fortsetzung des angefangenen werkes, den geringen beytrag brauchen können, so erwarte ich dero Befehl, da ich dann sogleich mit der Eintreibung des mir versprochenen Zuschusses den Anfang mache werde. Aus mangel etwas angenehmen, damit ich aufwarten konnte lege ich ein lateinisches Gedichte bey. Der Verf. ist ein hier studierender84 der ein Mitglied unserer hiesigen gesellschaft ist. Er hat in der hexametrischen Vers art ein ziemlich ausführliches teutsches gedichte zu stande gebracht, dessen gegenstand der Behemoth85 ist. Vielleicht kann ich künftig eine Abschrift davon bey legen. Daß in der Auskleidung edler Stellen auf eine lächerliche art, wohl viel gefehlt wird hat seine Richtigkeit. Ich weiß aber nicht ob die Gegner des guten geschmacks bey andern, als Narren, ihren Endzweck erreichen. Die heiligsten dinge konnen so gemißbraucht werden; u wer wird sagen daß diese dadurch ihre würde verliehren? Ich habe solche possierliche Köpfe immer mit dem hirnlosen Chroniken Schreiber in eine reihe gestellt, der vor einigen Jahren allerhand histörgen in biblischem Stil eingekleidet heraus gab. So wenig aber dadurch unsre bibel Uebersetzung bey vernünftigen ihren werth verlohr, so wenig leiden auch meines Erachtens wirklich erhabene denkungs arten, durch eine verkehrte anwendung. Ich will H. Gottscheden sein bestes gedicht aussuchen lassen, u wenn das lächerlich machen heist, es noch lächerlicher machen, als er mit Klopstocks Ode an Gott86 umgegangen ist.
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Johann Georg Sulzer (1720–1779), Philosoph. Johann Ernst Basilius Wiedeburg (1733–1789), seit 1756 Bibliothekar in Erlangen, seit 1760 Professor in Jena (ADB 42 [1897], S. 380). Nicht ermittelt. Biblisches Fabeltier (Hiob 40,15). Klopstocks ›Ode an Gott‹ (entstanden 1748 als Teil der ›Fanny‹-Oden), schon vorher, aber erst 1752 in autorisierter Form gedruckt, hat mit ihrer Mischung aus religiöser und erotischer
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Ich schließe mit nochmaliger widerhohlung der aufrichtigsten Versicherung daß ich unausgesetzt mit großester Hochachtung bin Ew. Wohlgebl. gehorsamer Diener BCB Wiedeburg Jena d. 12. Oct. 1756 Nr. 9
Wiedeburg an Johann Jacob Breitinger, 12. Oktober 1756.
Hochwürdiger, Hochgelahrter Hochzuehrender Herr und Gönner! Die Ehre, welche Ew. Hochwd. mir erweisen, indem dieselbigen mich dero freundschaftlichen und mir so ehrenvollen Andenkens würdigen, ist mir jederzeit unaussprechlich schätzbar gewesen: und ich bin höchlich erfreuet worden, da ich mich dieser Ehre durch dero leztere Zuschrift, neuerlich versichert gesehen. Ich werde mich bemühen, durch die unveränderlichste Hochachtung die dauer dieses Vorzugs, wenn gleich nicht zu verdienen, doch wenigstens nicht ganz unwürdig zu genießen. Sie urtheilen nach Dero gegen mich gewohnten güte für mich, wenn Dieselben mir einige Verdienste in Bekanntmachung der alten Schwäbischen dichter, und in Aufmunterungen die Bekanntmachung derselben befördern zu helfen, bey zu legen belieben. Was ich auch zu dem Ende übernommen, halte ich so lange fast für verlohren, als ich nicht, mehr damit aus zu richten, glücklicher bin. Indessen werde ich durch den bisherigen wenigen Erfolg den meine Bemühungen gehabt haben, mich nie ermüden lassen, weitere Versuche zu wagen. Kann ich gleich, wegen andrer Verrichtungen in dem Eifer, welchen ich bisher zu zeigen nur bemüht gewesen bin, nicht fortfahren; so werde ich doch niemals ganz unthätig mich finden lassen. Wie weit ich es bishero gebracht, solches habe ich in bey gehendem an Hn Rath und Professor Bodmer gemeldet. Zu dem durch Herausgabe des Codicis Apologorum erhaltenen neuen Ruhm, wünsche ich von herzen Glück, und sage für meinen Theil für die hierunter übernommene Bemühung verbundensten dank. Ich wünsche daß das weitere beglückt zu stande komme, und werde mich sehr erfreuen, wenn ich in den Stand kommen sollte in etwas dazu beförderlich zu seyn. Das Geschenk welches Ew. Hochwd. mir mit dero vortrefflichem werke zu machen gütigst versprochen haben, erwarte ich mit sehnlich verlangendem Vergnügen. Noch ist es nicht angekommen. Die Briefe des Herrn Rath Bodmers gelangen insgemein erst nach etlichen Monathen an mich, und kommen mir gemeiniglich über Langensalza zu Handen. Diß ist auch die Ursache, warum ich in Beantwortung der Briefe dieses meines so theuren Gönners, diese zeit her so nachlässig gewesen bin; da mir, außer den Messen, keine Gelegenheit nach Zürch bekannt ist.
Schwärmerei auch Gutwillige wie Schubart oder Lessing irritiert. Vgl. Helmut Pape: Klopstock. Die »Sprache des Herzens« neu entdeckt [...]. Frankfurt a.M. 1998, S. 152–161. Zu Gottscheds Kritik an Klopstocks Dichtungen immer noch wichtig Franz Muncker: Friedrich Gottlieb Klopstock. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. Berlin ²1900, v. a. S. 154–164 (S. 160 auch zu Stuß).
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Für die übersandten Gesnerischen87 disputationen erstatte ich um so mehr den allerverbundensten dank, da mir dieselben über aus angenehm sind, und ich, Diemaßen dieselben in keinen Buchladen kommen, ihrer vielleicht, ohne deroselben Vorsorge, vielleicht immer würde haben entberen müssen. Ich weiß einen so gütigen Freundschafts dienst nicht anders zu erwiedern, als wenn ich, unter Erbittung der Fortsetzung dieser geneigtheit, mich erbiete mit unsern hiesigen Dissertationen dagegen aufzuwarten. Ich bekomme alle so hier auf das Katheder gebracht werden, sie mögen aus einer facultet seyn aus welcher sie wollen, wenigstens größtentheils, doppelt: und erwarte daher nur Befehl aus welchem Theile der Wissenschaften Sie unsere akademische Streitschriften, entweder für Sich oder für dero Freunde, wünschen. Ich will so gleich nach erhaltenem befehl mit vollständiger Einsendung derselben den Anfang machen, da ich inzwischen, meine dienstbegierde zu zeigen nur einige theologische u philosophische ergebenst bey lege. Die Idyllen des jungen HEn Gesners88 habe ich ebenfalls mit größestem Vergnügen gelesen, und ich bin darinnen völlig mit Ew. Hochwd. einstimmig, daß ich bisher keinen Schriftsteller kenne der in dieser art Schriften itzt gedachtem Hn Verfasser gleichkäme. Ist dieser etwa ein Sohn des Hn Canonici? Die Ankündigung einer Dunciade ist auch bey uns bekannt worden. Man hat, so viel ich mich entsinne, in unsern zeitungen davon geurtheilet daß die Blöße des Hn G. noch nie so augenscheinlich und offenbar aufgedeckt worden als hier; doch erinnere ich mich, daß man an der Heftigkeit keinen theil genommen, nach welcher G. bey nahe gar für infam erklärt worden. Ich habe an diesen zeitungen überhaupt den großen antheil aufgegeben den ich sonst hatte, und wenn ich gleich noch zu weilen hinein Arbeite, so habe ich doch ein andres Fach vor mir. Die Ursache warum ich mich dieser arbeiten, zumal was die schönen wissenschaften belangt entzogen ist, weil in diesen ein jeder bald sich für tüchtig hält zu urtheilen. Da es nun bey uns oft an Arbeiten fehlt, so hat man ohne bedenken alles eingerückt, was eingelaufen, und ich habe vieles auf meine Rechnung schreiben lassen müssen, daß ich mir zu verantworten weder wünsche noch getraue. Aus der Ursache habe ich fast anderthalb Jahre her, wenig oder nichts aus den schönen Wissenschaften recensiret. Weder H v. Premontval89 noch H. Reinhard90 finden auf unsrer Akademie einigen Beyfall: und es gewinnet daher nicht das ansehn, als ob die ihnen in Berlin erwiesene Verehrung, sich viel weiter ausbreiten werde.
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Gemeint der Züricher Verleger Hans Konrad Gessner (1696–1775), in dessen Verlag zahlreiche naturwissenschaftliche Disputationen gedruckt wurden. H. K. Gessner war der Vater Salomon Gessners (deshalb auch im nächsten Absatz »des jungen HEn Gesners«), der seinerseits in die Orellische Buchhandlung eintrat (s. Anm. 70). Salomon Gessners ›Idyllen. Von dem Verfasser des Daphnis‹ waren 1756 erschienen, der Hirtenroman ›Daphnis‹ 1754. André Pierre Le Guay de Prémontval (1716–1764), frz. Schriftsteller. Adolf Friedrich Reinhard (1726–1783) erhielt für zwei Schriften, ›Sur l’optimisme‹ und ›Die Vollkommenheit der Welt nach dem Systeme des Herrn Leibniz‹, 1755 einen Preis der Berliner Akademie.
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Schließlich empfehle ich mich zu ferneren Wohlwollen und verharre unter Versicherung der vollkommensten Verehrung und Hochachtung Ew. Hochwd. gehorsamster Diener BCB Wiedeburg Jena d. 12ten Oktobris 1756. Nr. 10
Wiedeburg an Johann Jakob Bodmer, 15. Mai 1757.
Wohlgebohrner Hochgeneigter Gönner! Ich bediene mich der Gelegenheit gegenwartiger Meßzeit, um Ew. Wohlgeb. für die Ehre dero Zuschrift unter dem 17. Dec. vorigen Jahres den verbundensten dank aufrichtigst abzustatten, zugleich aber auch wegen der einige wochen vorher erhaltenen Fabeln aus den Zeiten der Minnesinger, meine vollkommenste Erkenntlichkeit zu versichern. So groß mein Vergnügen beym durch lesen derselben gewesen ist, so schmerzhaft ist es mir daß ich nun in einem Stande bin, wo mein Beruf, meine Ehre und auch mein Vergnügen, mich zu andern Beschäftigungen auffordern, und wo ich in einem halben Jahre kaum wenige Tage den schönen Wissenschaften widmen kann. Indessen werde ich niemals aufhören nach meinem wenigen Vermögen Freunden und Beforderern dieser Studien behülflich zu seyn. Weder von Hn D. Hirzel91 noch von Hn Orell92 ist mir bisher etwas zu gesichte gekommen: und ich weiß daher nicht auf wes Art ich ihnen nützlich seyn kann. Indessen freue ich mich daß wir so nahe Hoffnung haben, den vortrefflichen Manessischen Codicem gedruckt zu sehen. Für die Epopoeæ93 deren Sie Meldung zu thun beliebet, und Gottfrieds von Strasburg Mere von der Minne94 bin ich sehr eingenommen, da sie mir von einem solchen Kenner angepriesen worden. Mit Hn Rect. Stuß Ausgabe der Aeneis95 des von Veldegg ist es freilich in Stecken gerathen. Er ist schon ein alter Mann, und wie ich merke zu verdrieslich als daß er sich Mühe geben sollte, ohne Hoffnung zu haben, seine Bemühungen der Welt vor Augen zu legen. Denn freilich findet ein neuer Bänkel-Sänger zehen verleger zu seinen oft sinnlosen reimen als ein alter Poet vom ersten Range, und Schönaich96 wird zweymal aufgelegt, ehe andre Werke eines guten Geschmacks bekannt werden. Ubrigens meldete mir einsmalen H. R. Stuß, er finde Schwierigkeit das Manuscript recht zu brauchen, da
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Wohl Hans Caspar Hirzel d. Ä. (1725–1803), Arzt in Zürich, späterer Begründer der Helvetischen Gesellschaft, Freund Klopstocks, Wielands und Gessners. Wohl Hans Conrad Orell (1714–1785), Landvogt, ging auf Wunsch seines Onkels Bodmer in eine mit einem Verlagsgeschäft verbundene Druckerei, die 1735–1761 als ›Conrad Orell & Co‹ firmiert. Gemeint ist das ›Nibelungenlied‹. Gemeint ist nicht der ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg, sondern Konrads von Würzburg ›Herzmaere‹ aus der Strassburger Sammelhandschrift A 94, das Myller dann erst im ersten Band (Lieferung 4, Nr. 6) seiner ›Samlung‹ (1784) herausgab. Nie erschienen. Vgl. Anm. 53, 71 und 97. Christoph Otto Freiherr von Schönaich (1725–1807), Gegner Klopstocks, Lessings und der Schweizer, in seiner Dichtweise Gottsched verpflichtet.
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doch Gottsched selbiges ein halbes Jahr lang nach Leipzig bekommen.97 Ich vermuthe fast daß dieser etwa eine Ausgabe vor hat; und der Bibliothekar etwa sein Freund ist. Da der Beyfall mit welchen dieselben das Gedichte de DEi exhistentia98 beehren in seinem Verfasser einen meiner Freunde trifft, so erachte ich mich verbunden auch in meinem Namen dafür dank zu sagen: er wird es für sich in der Beylage99 ausführlicher gethan haben. Wir haben in unsrer hiesigen teutschen Gesellschaft einen andern jungen Menschen aus Holstein, Namens Feddersen100, von welchem ich mir gute Hoffnungen mache. Er scheint nur kein recht zutrauen zu mir zu haben, da ich mich öffentlich mit Unterweisungen in den werken der Dichtkunst nicht abgebe, und von der Anweisung in welcher er ist verspreche ich mir nicht genug vortheilhaftes für ihn. Er scheint mir außerdem zum druck seiner Poesieen zu früh zu eilen, da er sonst gewiß schönes natürliches Geschick besitzt. Ich bitte mich Herrn Prof. Breitinger zu empfehlen und verharre mit ungeheuchelter Hochachtung Ew. Wohlgeb. gehorsamer diener BCB Wiedeburg Jena d. 15. May 1757.
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Die Abschrift, die Gottsched anfertigte, ist erhalten. Er hatte bereits 1745 und 1746 über die Handschrift berichtet, aber nie eine Ausgabe vorgelegt; vgl. Henric van Veldeken: Eneide. I. Einleitung. Text, hg. von Gabriele Schieb und Theodor Frings. Berlin 1964 (DTM 58), S. XII. Eine Ausgabe veranstaltete erst Christoph Heinrich Müller (Myller) im Rahmen des ersten, 1784 erschienenen Bandes seiner ›Samlung deutscher Gedichte‹ (dazu s. o.). Gemeint: Balthasar Münter: De Dei existentia Carmen. Jena 1756. Münter (Theologe und Lieddichter, 1735–1793) hat 1759 auch eine Gedächtnisrede auf den im Jahr zuvor verstorbenen Jacob Wilhelm Blaufus (s. o. Anm. 42) verfasst sowie die Gedächtnisschrift (mit Ode): Reuschens Größe von Balthasar Münter, aus Lübeck, der Weltweisheit Doktor auf der Akademie zu Jena, und der dasigen Deutschen Gesellschaft Mitglied. Jena 1758. Zu ihm vgl. auch Marwinski 1989 (Anm. 10), S. 64, 66f., 88 und 95. Offenbar nicht erhalten. Die einzige im Konvolut vorhandene Beilage ist die Aufnahmeurkunde Breitingers in die Deutsche Gesellschaft (s. o.). Zu Jacob Friedrich Feddersen (1736–1788) s. ADB 6 (1877), S. 594; aus der Jenaer Zeit z. B: Die Beredsamkeit und Dichtkunst sind die vertrautesten Freundinnen der Gottesgelahrheit: eine Abhandlung, dem Hochwürdigen [...] Herrn Jacob Wilhelm Blaufuß, der Weltweisheit Doctor [...], bey seiner Erlangung der höchsten Würde in der Gottesgelahrheit, und des ausserordentlichen öffentlichen Lehramts der Weltweisheit auf der hohen Schule zu Jena glückwünschend gewidmet [...]. Jena 1758.
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Zur Verwahr- und Benutzungsgeschichte der ›Jenaer Liederhandschrift‹ in Jena
1980 erhielt die ›Jenaer Liederhandschrift‹ eine Signatur – wohlgemerkt nicht früher. Wahrscheinlich hatte die Handschrift niemals zuvor eine solche besessen. Auf oder in dem Buch findet sich keine Spur eines alten Signatureintrags oder -schilds. Zumindest war dem Codex in seiner Jenaer Zeit, also von 1549 an, keine Signatur zugewiesen worden – bis 1980 eben. Damals entstand die Signatur mit Blick auf Franzjosef Pensels in Arbeit befindliches ›Verzeichnis der altdeutschen und ausgewählter neuerer deutscher Handschriften in der Universitätsbibliothek Jena‹, das dann 1986 erschien.1 Das dafür erarbeitete Katalogisat der Liederhandschrift musste schließlich vernünftig in den Band eingereiht werden. Mit der neu geschaffenen Signatur Ms. El. f. 101 positionierte man die Liederhandschrift an das Ende der Reihe der Foliohandschriften aus der Wittenberger Bibliotheca Electoralis, der die Liederhandschrift zugehört.2 Es verhält sich keinesfalls so, dass vor 1980 niemand eine Signatur der ›Jenaer Liederhandschrift‹ vermisst hätte. Hin und wieder hatten auswärtige Verfasser in Vorbereitung ihrer Publikationen deshalb in der Jenaer Bibliothek nachgefragt.3 Als Antwort erhielt man dann beispielsweise 1961, »daß wegen der Einzigartigkeit unserer Liederhandschrift Bezeichnung und Signatur ›Jenaer Liederhandschrift‹ identisch sind«.4 Der bibliothekarische Reflex, jeder Sammlungseinheit vermittels der Signatur einen Erkennungscode zuzuweisen, um sie im Verwahr- und Benutzungsgefüge eindeutig bestimmbar zu machen, war im Fall der Liederhandschrift also planmäßig unterdrückt worden.
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Vgl. Pensel (1986), S. IX, 307 mit der unzutreffenden Angabe, die Signatur sei erst 1981 vergeben worden. Die neue Signatur findet sich erstmals in einem Brief der Universitätsbibliothek Jena vom 2.9.1980, und in einem Brief der Universitätsbibliothek Jena vom 5.3.1982 wird informiert: »Unsere ›Jenaer Liederhandschrift‹ erhielt 1980 die Signatur Ms. El. f. 101. Die bisherige Angabe ›ohne Signatur‹ ist damit als überholt zu betrachten«. – Wenn nicht anders vermerkt, handelt es sich bei den in vorliegendem Beitrag genannten Briefen und Notizen um Aktenmaterial, das in der Abteilung Handschriften und Sondersammlungen der ThULB Jena verwahrt wird und bislang keine Einzelstückzählung aufweist. Es soll hier bewusst auf die Nennung der Namen der Briefverfasser u. ä. verzichtet werden. Tönnies (2002). Am 28.7.1956 und 26.8.1957 wird die Signatur von Seiten des Lexikons ›Die Musik in Geschichte und Gegenwart‹ wegen des dort vorgesehenen Artikels zur Liederhandschrift angefragt. In der Antwort der Universitätsbibliothek Jena vom 2.9.1957 heißt es: »Unsere ›Jenaer Liederhandschrift‹ geht stets nur unter ihrem vollen Namen und hat keine besondere Signatur«. Eine Anfrage aus München auf Mitteilung der Signatur vom 16.3.1962 wurde ähnlich beantwortet. Antwort des stellvertretenden Direktors der Universitätsbibliothek Jena vom 7.2.1961 auf eine Anfrage aus Berlin.
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Sicherlich auch, weil der etablierten Benennung ›Jenaer Liederhandschrift‹ der Fingerzeig auf den Ort ihrer Verwahrung implizit ist. Abgesehen davon findet jeder Bibliothekar seine Schatzstücke auch ohne Signatur und kann darauf abzielende Benutzungswünsche auch bei unklar artikulierten Anfragen bedienen. Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ jedenfalls wurde wohl schon von alters her als irgendwie anders als die Handschriften ihrer Umgebung wahrgenommen. Man meint dies in der ersten nachweisbaren bibliothekarischen Betitelung der Handschrift zu spüren: Ein aldt meistergesangbuch auff pergamen. Dies stand auf einem in Wittenberg nach erfolgter Neubindung der Handschrift, also um 1540, auf den Vorderdeckel geklebten Titelschild. Leider wurde dieses Schild 1954 vom Restaurator entfernt, weil dem Vernehmen nach eine noch ältere Aufschrift auf der Rückseite des Schildes auf dessen Vorderseite durchgeschlagen habe. Dadurch sei die ohnehin nur noch schwache Titelaufschrift vollends unleserlich geworden. Das Schild lässt sich nicht mehr auffinden, wurde also vermutlich vernichtet.5 Die genannte Betitelung der Handschrift jedenfalls greifen wörtlich oder sinngemäß drei der heute in der ThULB befindlichen zeitgenössischen Wittenberger Bibliothekskataloge auf.6 Der Titel Ein aldt meistergesangbuch auff pergamen oder die Formulierung Ein gros gesanck buch in einem der Kataloge scheinen eine gewisse Unschlüssigkeit gegenüber jenem Pergamentbuch zu spiegeln, welches in erster Linie
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Vgl. Pensel (1986), S. 309. Die einzigen bislang bekannt gewordenen Abbildungen des Vorderdeckels mit dem noch in situ befindlichen Titelschild (zugleich wahrscheinlich die frühesten Aufnahmen des Einbands überhaupt) sind zwei kleine Schwarzweißfotos im Fotoarchiv der Abteilung Handschriften und Sondersammlungen der ThULB Jena, von denen Abzüge auch auf dem bis 2007 im Rückdeckel der Handschrift eingeklebten Restauratorbericht von 1954 kleben. Man erkennt, dass das Schild sich keinesfalls in einem desolaten Zustand befand und nach der Restaurierung unbedingt wieder hätte aufgeklebt oder zumindest an anderer Stelle gesichert werden müssen. In einem Brief des Bibliotheksdirektors der Universitätsbibliothek Jena vom 16.9.1957 nach Frankfurt/M. heißt es dagegen: »Der Zustand der Holzdeckel machte es notwendig, daß der Einband im Juni 1954 restauriert wurde. Dabei mußte der Pergamentstreifen mit der Inschrift vom Vorderdeckel abgelöst werden. Bis dahin waren noch schwache Buchstaben darauf erkennbar, nach der Ablösung erwies sich jedoch, daß der Streifen auf der Rückseite noch ältere Schriftzüge trug, deren Tusche durch das Pergament gedrungen war und nun die für die Liederhandschrift charakteristische Aufschrift vollends verdrängte. Wir haben deshalb den Pergamentstreifen nicht wieder anbringen lassen, womit die Inschrift ins Reich der Vergangenheit gehört.« Im Protokoll des Restaurators ist allerdings zu lesen: »1 Titelschild restauriert«. Auffinden ließ es sich jedenfalls bisher nicht. Dass die Beschilderung noch aus der Wittenberger Zeit stammte, ist aufgrund der Positionierung auf dem oberen Drittel der Vorderdeckelfläche, der typischen länglichen Schildform und angesichts der Übereinstimmung mit den Katalogeinträgen (s. u.) erwiesen. Das gleichfalls aus der Wittenberger Bibliotheca Electoralis stammende ›Jenaer Martyrologium‹ (ThULB Jena, Ms. Bos. q. 3) weist ein noch erhaltenes Wittenberger Schild auf, das ähnlich lautet: Deutsch Martirologium auff Pergamen. Nach Wiedeburg (1754), S. 5, war die Schreibweise des Titelschilds der Liederhandschrift folgendermaßen: »Ein Aldt Meister GesangBuch auff Pergamen«. Müller (1896) schreibt in seinem Vorbericht, S. [1]: »Ein aldt meistergesangbuch auff pergamen«, wobei die letzten beiden Wörter damals bereits nicht mehr lesbar gewesen seien. ThULB Jena, Ms. App. 22 B (3A), 3r: 2. Ein gros gesanck buch; Ms. App. 22 B (4D), 3v: Ein alt meister gesang; Ms. App. 22 B (5C), 10v: Ein alt meistergesangbuch pergamenis [?; Endung unklar].
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ziemlich gros und irgendwie aldt war, was »altehrwürdig« ebenso wie »altertümlich« meinen kann. Die erste Erwähnung der Handschrift in der Literatur durch Burcard Gotthelf Struve 1705 setzt den Schwerpunkt gleichfalls auf den äußerlichen Eindruck: elegantissimus Codex der Meistersänger, forma augusta scriptus.7 Merkwürdigerweise wurde die von Struve solchermaßen bewunderte Liederhandschrift in dem zur selben Zeit, zwischen 1702 und 1704, unter seinem Direktorat angelegten ersten separaten Handschriftenkatalog der Universitätsbibliothek Jena nicht berücksichtigt.8 Da die heutigen Handschriftensignaturen der Electoralis-Gruppe auf dieses alte Verzeichnis zurückgehen, wäre die Liederhandschrift wohl damals zu einer Signatur gekommen, wenn man sie denn katalogisiert hätte. 1746 übernahm Johann Christoph Mylius in seiner Kurzbeschreibung der Handschrift einfach die Formulierung des Wittenberger Titelschilds.9 Auch Basilius Christian Bernhard Wiedeburg eröffnete 1754 seine Ausführungen zur Liederhandschrift mit einem Zitat des Titelschilds Ein Aldt MeisterGesangBuch auff Pergamen. Doch merkte er gleich darauf an: »Zuvorderst muß ich meine Leser erinnern, sich durch diesen ekelhaften Titel nicht abschrecken zu lassen, oder aus demselben übereilt für dieses vortreffliche Althertum widrige Schlüsse zu ziehen. Ich finde diese Erinnerung um soviel nothwendiger, da ich nicht läugnen kann, daß ich mich selbst dieses Fehlers schuldig gemacht habe. Schon zwanzig und mehrmahl hatte ich diese Sammlung in den Händen gehabt, ehe ich mich überwinden konnte, sie einer genauen Betrachtung zu würdigen, und ehe ich nur der Vermuthung Platz gab, daß der Innhalt Aufmerksamkeit verdiene.«10 Mit Wiedeburg kam die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Liederhandschrift in Gang. Ganz in seinem Sinne spricht man spätestens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert von der ›Jenaer Liederhandschrift‹, nicht länger also von einem »aldt Meistergesangbuch auff pergamen«. Im Folgenden soll erstmals der Versuch unternommen werden, die Geschichte der Universitätsbibliothek Jena mit besonderem Blick auf die ›Jenaer Liederhandschrift‹ zu erörtern. Was die Benutzung respektive wissenschaftliche wie öffentliche Wahrnehmung dieser Handschrift anbelangt, so können hier freilich nur ausgewählte Aspekte aufgezeigt werden. Ohnehin lässt sich nicht für alle Zeitabschnitte ein genügend scharfes Bild gewinnen, zumal bei der Zerstörung des alten Bibliotheksgebäudes 1945 (vgl. dazu weiter unten) das bis dahin gesammelte Aktenmaterial der Handschriftenabteilung zum größten Teil vernichtet wurde. Schon aus diesem Grund soll das Augenmerk schwerpunktmäßig
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Burcard Gotthelf Struve: Historia et memorabilia bibliothecae Jenensis. In: Johann Andreas Schmid: De bibliothecis. Accessio altera collectioni Maderianae adiuncta. Helmstedt 1705, S. 279–292, Zitat S. 287. Catalogus Manuscriptorum in bibliotheca academiae Salanae (ThULB Jena, Bibliotheksarchiv, AC II 0), um 1702/04; vgl. hierzu Tönnies (2002), S. 12f., 29. Über das Wirken Burcard Gotthelf Struves (1671–1738) als Bibliothekar, Gelehrter und Geschichtsschreiber der Jenaer Universitätsbibliothek vgl. Geschichte der Universitätsbibliothek Jena 1549–1945. Weimar 1958 (Claves Jenenses 7), S. 161–162, 206–211 u. ö. Johann Christoph Mylius: Memorabilia bibliothecae academicae Jenensis sive designatio codicum manuscriptorum in illa bibliotheca et librorum impressorum plerumque rariorum. Jena/ Weißenfels 1746, S. 376: »Ein alt Meister=Gesang=Buch auf Pergament«. Wiedeburg (1754), S. 1. Zu Wiedeburg s. den Beitrag von Jens Haustein.
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der Zeit der 50er bis 90er Jahre des 20. Jahrhunderts gelten, für die neben einer befriedigenden Aktenlage auch mündliche Berichte vorliegen.11 Zunächst sei die räumliche Situation der Universitätsbibliothek Jena seit ihren Ursprüngen in den Blick genommen. Im August 1549 traf die vormalige Wittenberger kurfürstliche Schloss- und Universitätsbibliothek, die Bibliotheca Electoralis, in Jena ein und wurde im Collegium Jenense aufgestellt.12 Dieses nach kriegsbedingten Zerstörungen heute nicht mehr komplett erhaltene, aus dem Jenaer Dominikanerkloster hervorgegangene bauliche Ensemble beherbergte bis ins 19. Jahrhundert die Universität Jena, die 1548 als (Hohe) Schule gegründet, 1557 vom Reichsoberhaupt Ferdinand I. als Universität privilegiert und als solche am 2. Februar 1558 offiziell eröffnet worden war. Die in zwei Gewölberäumen des Collegiums, dem ehemaligen Klosterrefektorium, untergebrachte Bibliothek wurde alsbald vermehrt. Bis gegen 1684 war sie eine Pultbibliothek mit Kettensicherung, deren Drucke und Handschriften gemischt aufbewahrt wurden.13 Ein Standortkatalog aus der Zeit um 1597 beschreibt, dass Ein alt Meistergesangbuch auff pergamen, also die ›Jenaer Liederhandschrift‹, auf einem Pult im kleineren, östlich gelegenen Raum verwahrt wurde, in Nachbarschaft vorreformatorischer Rechtssammlungen.14 Um die klimatischen Bedingungen und die Sicherheit stand es in diesen Räumen ausweislich wiederholter Beschwerden nicht immer zum Besten. Die spätestens 1684 von einer Pult- zu einer Schrankaufstellung umgeformte Bibliothek wurde im Zuge der Erweiterung des Collegium Jenense 1711/13 um einen neuen Gewölberaum im Erdgeschoss erweitert. Dieser war für die Handschriften bestimmt, die inzwischen von den Drucken getrennt worden waren. Die klimatischen Missstände dauerten an. Ein Zustandsprotokoll von 1817 berichtet neben anderen Monita von »zwey kleineren feuchten […] Kammern, in welchen die Manuscripte aufbewahrt sind, um darin zu vermodern«.15 Johann Wolfgang von Goethe im Amt eines Weimarer Ministers reagierte hierauf mit baulichen Sicherungen. Unter anderem wurde der an das Collegium grenzende Teil der Stadtmauer und der umgebende Erdboden abgetragen, um das Gebäude trockenlegen zu können. Die Handschriften wurden räumlich verlagert und vom Buchbinder gepflegt. Da sich die Probleme jedoch nicht gänzlich beseitigen ließen und zunehmende Raumnot durch Zuwächse herrschte,
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Zu Aspekten der älteren Wahrnehmungs- und Benutzungsgeschichte der Liederhandschrift sei auf weitere Beiträge dieses Bandes verwiesen, insbesondere jene von Christoph Fasbender und Jens Haustein. Vgl. hier lediglich beispielhaft Karl Bulling: Goethe als Erneuerer und Benutzer der jenaischen Bibliotheken. Jena 1932 (Claves Jenenses 2), S. 18f., 51f., 55f.; Georg Karpe: Handschriften und alte Drucke aus den Sammlungen der Universitätsbibliothek der FriedrichSchiller-Universität Jena. Jena 1976, S. 31; Endermann (1995). Zur Bibliotheca Electoralis vgl. Anm. 2. Vgl. hierzu und zum Folgenden: Geschichte der Universitätsbibliothek Jena (Anm. 8), S. 168– 172. ThULB Jena, Bibliotheksarchiv, AC I 2, 9r: Im kleinern gewelbe Von der thur an der Wandt ... Uff dem andern pult ... Ein alt Meistergesangbuch auff pergamen; vgl. Geschichte der Universitätsbibliothek Jena (Anm. 8), S. 48, 93. Ebd., S. 378. Einen Eindruck der damaligen räumlichen Situation vermittelt eine aquarellierte Federzeichnung von 1823, vgl. Konrad Marwinski: 425 Jahre Universitätsbibliothek Jena. Kurzgefaßte Bibliotheksgeschichte. Jena 1983, Abb. 10; vgl. ebd., Abb. 5 Außenansicht des Collegium Jenense im 17. Jahrhundert.
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kam es schließlich zum Bau eines neuen Bibliothekshauptgebäudes am Botanischen Garten, an der Stelle des heutigen Hauptgebäudes der ThULB Jena. Der Neubau wurde 1858 eingeweiht, die Bestände wurden aus dem Collegium dorthin verbracht. 1894/95 kam ein Anbau hinzu, in den zwei feuersichere Räume für Handschriften und Inkunabeln integriert waren und der 1896 bezogen wurde.16 Denn Feuerschutz war im Hauptbau zuvor nicht gewährleistet gewesen.17 Auch der Liederhandschrift war mit dem feuergeschützten Anbau eine gegenüber den Jahrhunderten zuvor konservatorisch stark verbesserte Heimstatt gegeben, die freilich bereits ein halbes Jahrhundert später in Trümmern lag. Das Bibliotheksgebäude wurde während der Bombardierung Jenas am 9. Februar 1945 fast komplett zerstört. 16 Tote waren zu beklagen, unter ihnen der Bibliotheksdirektor Theodor Lockemann.18 Am stärksten getroffen war der Bereich der Sondersammlungen, mit der bis heute schmerzlich spürbaren Konsequenz, dass deren Kataloge und übrigen Nachweismittel fast komplett verlorengingen. Der Altbestand selbst war zum Glück rechtzeitig ausgelagert worden. Die auf die Liederhandschrift abzielenden diesbezüglichen Maßnahmen lassen sich detailliert rekonstruieren. Direktor Lockemann hatte bereits im Februar 1936 dem Thüringer Ministerium für Volksbildung empfohlen, geeignete Vorkehrungen zu treffen, damit im Fall eines Luftangriffs die wertvollen Handschriften und Drucke ohne Zeitverlust in die Kellerräume der Bibliothek verbracht werden könnten. Das Ministerium lehnte ab und schob Kostengründe vor. Lockemann freilich sollte sich als weitsichtig erweisen, denn im Oktober 1937 formte das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Bildung denselben Vorschlag zur Vorschrift für alle Bibliotheken.19 Auch für die folgenden Jahre ist eine besondere Umsicht der Jenaer Bibliothekare gut dokumentiert.20 Ende August 1942 wurden die wertvollsten Handschriften und Drucke der Universitätsbibliothek in 20 Holzkisten verpackt und in einen Stahltresor der Stiftungssparkasse Jena in
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Geschichte der Universitätsbibliothek Jena (Anm. 8), S. 581f.; Zentralblatt für Bibliothekswesen 19 (1902), S. 384. Abbildungen des Gebäudes etwa bei Marwinski (Anm. 15), Abb. 13–15; Lothar Bohmüller: Aus den Tagebüchern der Direktoren der Universitätsbibliothek Jena. Ein Beitrag zur Geschichte der Universitätsbibliothek Jena. Jena 1986, S. 18, 24f. Als Relikt der damaligen räumlichen Disposition hat das Kürzel »HZ« für »Handschriftenzimmer« als Standortangabe für die Sondersammlungen der ThULB Jena noch bis in deren elektronischen Katalog (OPAC) hinein überlebt. Vgl. Zentralblatt für Bibliothekswesen 19 (1902), S. 383. Vgl. Walter Barton: Theodor Lockemann 1885–1945. Ein Leben im Dienste von Bibliothek und Wissenschaft. Zum 50. Jahrestag seines Todes und der Zerstörung Jenas am 9. Februar 1945. Jena 1995 (Beiträge zur Geschichte der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena 4), bes. S. 11–22. Abbildung der Reste des Bibliotheksgebäudes ebd., S. 20; Marwinski (Anm. 15), Abb. 17 und Bohmüller (Anm. 16), S. 64. ThULB Jena, Bibliotheksarchiv, AL I 1, Mappe 10 (Brief Lockemanns vom 20.2.1936; Ablehnung des Thüringer Ministeriums vom 15.5.1936 aufgrund von »Kosten« und »technischen Schwierigkeiten«), Mappe 9 (Anordnung des Reichsministeriums vom 16.10.1937, Luftschutzräume von Bibliotheken auch für den Schutz der kostbarsten Bestände zu nutzen). Vgl. etwa Bohmüller (Anm. 16), S. 48 zu einer Maßnahme von 1939: »In der Zeit vom 16. bis 18. Oktober wird ›ein Teil des kostbarsten Handschriftenbesitzes in den neugeschaffenen Schutzraum gebracht.‹« Gemeint war ein Raum im Bibliothekshauptgebäude, vermutlich im Keller.
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der Ludwig-Weimar-Gasse verbracht. Die Kiste mit der Ordnungsnummer 1 enthielt die ›Jenaer Liederhandschrift‹.21 Doch Lockemann war all das noch zu unsicher. Am 5. Juli 1943 entnahm er persönlich die Kiste mit der Liederhandschrift aus dem Tresor. Sie wird dann auf einer Liste vom 11. Oktober 1943 als im Keller der Heidecksburg in Rudolstadt befindlich aufgeführt. Dieser Standort findet sich noch einmal im Januar 1945 bestätigt.22 Auf der Heidecksburg überstand die Liederhandschrift den Zweiten Weltkrieg unversehrt und konnte 1946 nach Jena zurückgeführt werden.23 Allerdings kamen hinsichtlich ihrer weiteren Lagerung erneut unstete Zeiten auf sie zu. Fürs erste, von 1946 bis 1952, kam die Handschriftenabteilung mitsamt ihren Beständen im damaligen Verwaltungsgebäude der Universität in der Goetheallee 6 gegenüber dem Universitätshauptgebäude unter (heute Fürstengraben 6, Sitz der Theologischen Fakultät).24 1952 wurde dann ein Gebäude als Ort der Aufbewahrung und Verwaltung der Handschriften und übrigen Sondersammlungen erwählt und bezogen, dessen Charme sicherlich in der Welt der Handschriften und Rara einzigartig war. Denn es handelte sich um einen Hochbunker aus dem Zweiten Weltkrieg im Osten der Stadt,25 der inmitten eines Wohngebiets liegt (er existiert noch heute, Karl-Günther-Straße 11–13) und während des Krieges aus der Luft architek-
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ThULB Jena, Bibliotheksarchiv, AL I 1, Mappe 4: Objektliste vom 27.8.1942; Dankschreiben Theodor Lockemanns an den Vorstand der Stiftungssparkasse Jena vom 29.8.1942 und dessen Antwort vom 5.9.1942 mit der Bestätigung, dass die 20 Kisten verwahrt seien. Vgl. ebd., AL I 3, Mappe 3, aus einem Besprechungsprotokoll der Universitätsbibliothek Jena vom 26.10.1942: »Die wertvollsten Seltenheiten, die sich im Besitz der Universitäts-Bibliothek befinden, so die alten sehr kostbaren Handschriften (darunter die ›Jenaer Liederhandschrift‹) sind in 20 besonders zu diesem Zweck gefertigten Kisten im Stahltresor der Stiftungssparkasse untergestellt worden«. Vgl. auch ThULB Jena, 8 Hist. lit. VI, 80/5 (73): maschinenschriftliche Dokumentation der Luftschutzmaßnahmen der Universitätsbibliothek Jena in ihren eigenen und externen Räumlichkeiten vom 4.10.1943, darin S. 1f.: »Für die wertvollsten Handschriftenbände sind dauerhafte Holzkisten nach Mass angefertigt worden, in die je nach Grösse und Gewicht eine oder mehrere Handschriften hineingelegt worden sind. Sie sind z.T. im Stahlraum einer Bank untergestellt worden, der Hauptteil der Handschriften und die Inkunabeln haben in zwei trokkenen festen Kellerräumen der Universität Unterkunft gefunden«. Erste Seite abgebildet bei Bohmüller (Anm. 16), S. 56, mit Abb. S. 57. Vgl. ebd., S. 58, sowie die folgenden Dokumente: 1) ThULB Jena, Bibliotheksarchiv, AL I 1, Mappe 2: Notiz Theodor Lockemanns vom 5.7.1943: »Aus der Stahlkammer der Stiftungssparkasse zu Jena habe ich heute die Kiste 1 entnommen«. – 2) Ebd., AL I 2, Mappe 1: handschriftliche Liste der ausgelagerten Objekte der Universitätsbibliothek Jena, vor Juli 1943, dort »Kiste 1: Jenaer Liederhandschrift« noch als in der Sparkasse befindlich genannt, dies später durchgestrichen. – 3) ThULB Jena, 8 Hist. lit. VI, 80/5 (74): maschinenschriftliche Reinform der o. g. Liste, datierend vom 11.10.1943 und unterzeichnet von Lockemann, hier S. 1: »1. Im Keller der Heidecksburg Rudolstadt: Kiste 1 (Jenaer Liederhandschrift)«; erste Seite abgebildet bei Bohmüller (Anm. 16), S. 59. – 4) ThULB Jena, Bibliotheksarchiv, AL I 2, Mappe 1: Brief Lockemanns an das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 22.1.1945, darin: »Die Jenaer Liederhandschrift wird im Keller der Heidecksburg zu Rudolstadt zusammen mit Akten des Thüringischen Staatsarchivs verwahrt«. Laut einer statistischen Aufstellung der Handschriftenabteilung vom 6.1.1955 wurden die ausgelagerten Bestände 1946 rückgeführt. Da nichts Gegenteiliges zu lesen ist, wird dies auch für die Liederhandschrift gelten. Abb. des Gebäudes bei Marwinski (Anm. 15), Abb. 18. Ebd., S. 50f.
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tonisch nicht von normalen Wohnhäusern zu unterscheiden war. In den größten Notzeiten der in Teilen zerstörten Stadt Jena und nach dem Verlust des Bibliothekshauptgebäudes bot er mit seinen dicken Mauern eine auf der Hand liegende Möglichkeit, die Schätze der Bibliothek wieder in einem gesicherten Umfeld einer Benutzung zuzuführen. Also richteten sich die Mitarbeiter der Handschriftenabteilung dort allmählich ein. Da man zunächst unter großen Mühen Öffnungen für die Anlage von Fenstern in die Außenwand hatte sprengen müssen und auch im Inneren einiges umzubauen war, konnte erst 1956 eine gewisse Wohnlichkeit erreicht werden.26 Das Handschriftenmagazin befand sich im zweiten Stock des Gebäudes und war durch Fenstergitter und Stahltür gesichert. Doch befanden sich Heizungsrohre und eine Wasserleitung im Magazin, deren Brechen misslichste Situationen hergerufen hätte. Überhaupt konnte von angemessenen klimatischen Verhältnissen für Buch und Mensch in diesem Bunker, der die Winterkälte bis in den Frühsommer und die Sommerhitze bis in den Winter hinein zu speichern pflegte, nicht die Rede sein. Aber es funktionierte irgendwie, und man durfte ja davon ausgehen, dass dies nur ein Provisorium sein würde, bis in besseren Zeiten ein neuer Bibliotheksbau entstehen würde. Doch die Jahre vergingen. In den 80er Jahren kam es zu einer Verbesserung der Lagerung der Handschriften, namentlich der Bibliotheca Electoralis, somit auch der ›Jenaer Liederhandschrift‹. Der Magazinraum wurde umgestaltet, und die Zimelien wurden nunmehr in der Regalreihe in der Raummitte untergebracht. Dort herrschte nicht nur das – relativ gesehen – günstigste Raumklima, sondern es war auch ausreichend Abstand zum Überlaufgefäß des Heizungsrohres gegeben, in dessen unmittelbarer Nähe die Handschriften der Bibliotheca Electoralis zuvor auf einem der Tür nächstgelegenen Regal gelegen hatten. Nun wurde, wie wir heute wissen, das über etliche Jahrzehnte im Planungsstatus befindliche neue Bibliothekshauptgebäude erst nach der politischen Wende, im Jahr 1998, begonnen und 2001 für die Benutzung zur Verfügung gestellt. Doch nochmals musste etwas Zeit verstreichen, bis endlich zum Jahreswechsel 2002/2003 auch die Abteilung Handschriften und Sondersammlungen mit ihren kostbaren Beständen in den Neubau einziehen konnte. Somit war aus dem Provisorium des Hochbunkers eine Langstrecke der Jenaer Bibliotheksgeschichte geworden, die sich über etwas mehr als ein halbes Jahrhundert ausgedehnt hatte. Die politische Wende bedeutete also in diesem Fall noch lange nicht einen Wandel zum Besseren, zeitigte sogar zunächst ungewollt negative Folgen. Als nämlich nach 1990 Mittel für das Einsetzen neuer Fenster in den Bunker zur Verfügung standen, kamen an die Stelle der alten zugigen Exemplare neue, dicht schließende Fenster. Dadurch ließ es sich zwar besser heizen, doch fehlte mit einem Mal die zuvor herrschende Luftzirkulation, die dem Raumklima durchaus gut getan hatte. Ablagerung von Kondenswasser und stehende Luft waren die Folge. Die Liederhandschrift und alle
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Der damalige Leiter der Handschriftenabteilung musste sich 1956 »ganz nach Jena Ost zurückziehen«, wegen »amtlich festgestellter starker baulicher Überbelastung unseres Verwaltungsgebäudes«. Vgl. seinen Brief vom 9.5.1956. In einem Brief vom 27.10.1956 schreibt er erfreut: »nach halbjährigem Baubetrieb kommt jetzt endlich meine Abteilung in Ordnung«. In einem Brief vom 19.10.1956 an den für die Universitätsbibliothek Jena zuständigen Restaurator benennt der Abteilungsleiter »die ständige Unruhe der Herrichtung meiner Abteilung, von der man nun endlich das Ende absieht (Ofen brennt!)«.
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übrigen Zimelien der heutigen ThULB Jena haben auch das überstanden. Heute wie in Zukunft sind sie zum ersten Mal in ihrer Geschichte klimatisch und sicherheitstechnisch mustergültig verwahrt. Nach diesem kurzen bibliothekshistorischen Abriss sollen nun ausgewählte Aspekte der Benutzung und Wahrnehmung der ›Jenaer Liederhandschrift‹ namentlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Sprache kommen. Allem Anschein nach hat die Liederhandschrift Jena bislang fünfmal verlassen. Das erste Mal 1826/27, als sie Friedrich Heinrich von der Hagen für seine ›Minnesinger‹Ausgabe ausgeliehen wurde. Goethe kümmerte sich persönlich um diese Angelegenheit. Am 22. Juni 1826 wurde die Handschrift zunächst nach Weimar überführt und reiste von dort nach Berlin zu von der Hagen. Am 15. Februar und nochmals am 28. April 1827 musste Goethe die Rückgabe anmahnen. Am 28. Juni 1827 und damit fast genau ein Jahr nach ihrer Abreise traf die Liederhandschrift wohlbehalten wieder in Jena ein.27 Im Sommer 1956 war der Codex eines der Exponate einer in der Deutschen Staatsbibliothek in Ost-Berlin veranstalteten Ausstellung mit dem Titel ›Handschriften aus zwei Jahrtausenden‹.28 Im August/September 1959 wurde die Liederhandschrift ebenso wie weitere Jenaer Zimelien und solche anderer Bibliotheken als schmückendes Beiwerk der Internationalen Buchkunst-Ausstellung jenes Jahres in Leipzig auserkoren. Dort hatte man im ersten Stockwerk des Alten Rathauses eine »Kollektivausstellung der sozialistischen Länder ›Historische Schau‹« eingerichtet. Im Begleitband wird diese Teilausstellung – unfreiwillig komisch – angepriesen als »willkommene Gelegenheit, gerade die Leistungen der sozialistischen Länder auf dem Gebiete der alten Buchkultur besser einschätzen zu lernen«.29 Die Liederhandschrift war »als Kulturdokument von absoluter Weltbedeutung mit dem zulässigen Höchstansatz von 500.000,- Mark« versichert.30 Im
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Für die Zeitpunkte des Abtransports nach Weimar und der Rückkunft in Jena vgl. die Tagebücher des Jenaer Bibliothekars Christian Ernst Friedrich Weller (1789–1854): ThULB Jena, Bibliotheksarchiv, AB III 7, 43v–44r (Einträge 21./22.6.1826) und AB III 8, 33r (Eintrag 28.6.1827). Goethes Briefe in dieser Sache in: Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen (Weimarer Ausgabe), Abt. IV: Briefe, Bd. 42 (Weimar 1907), S. 58–60, Nr. 54 (an Ludwig Heinrich von L’Estocq, Weimar 15.2.1827); S. 158f., Nr. 137 (an Friedrich Heinrich von der Hagen, Weimar 28.4.1827); vgl. auch S. 209, Nr. 181 (an von der Hagen, Weimar 3.6.1827); vgl. auch Hecker (1929), ferner Bulling (Anm. 11), S. 51. Vgl. hierzu auch die Beiträge von Jens Haustein und Karl Stackmann in diesem Band. Hierzu erschien offensichtlich lediglich eine siebenseitige Broschüre: Handschriften aus zwei Jahrtausenden. Übersicht zu der Ausstellung in der Deutschen Staatsbibliothek Mai/Juni 1956. Berlin 1956. Ausweislich der Akten der Abteilung Handschriften und Sondersammlungen der ThULB Jena befand sich der Codex vom 17.5. bis 6.10.1956 in Berlin, wurde also nicht sofort nach Ausstellungsende nach Jena zurückgegeben. In Auskünften der Universitätsbibliothek im Spätsommer 1956 wird angegeben, der Termin der Rückgabe sei noch offen. Internationale Buchkunst-Ausstellung Leipzig 1959. Unter Mitarbeit des internationalen Komitees hg. vom Sekretariat der Internationalen Buchkunst-Ausstellung. Leipzig 1959, Zitat S. 284. Ausstellungsdauer: 1.8.–30.9.1959; Entleihe der Liederhandschrift vom 27.7. bis 1.10.1959. Leihanfrage (eher: Leihforderung) aus Leipzig vom 21.2.1959, Transportbescheinigung mit Leihdaten und weiteres in den Akten vorhanden. Zitat aus der Zusage des stellvertretenden Direktors der Universitätsbibliothek Jena vom 25.3.1959.
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Herbst 1965 wurde die Handschrift noch einmal nach Leipzig verbracht, dieses Mal in die Universitätsbibliothek, von wo sie kurzzeitig dem Verlag Edition Leipzig zur Verfügung gestellt wurde. Dieser ließ, worauf noch zurückzukommen sein wird, für eine geplante Faksimileausgabe Probereproduktionen anfertigen.31 Zuletzt war die Liederhandschrift außerhalb Jenas in der in Marburg und Eisenach durchgeführten Ausstellung »Hessen und Thüringen – Von den Anfängen bis zur Reformation« zu sehen, allerdings nicht auf der Wartburg, sondern ausschließlich im Rahmen der ersten Ausstellungsstation auf dem Marburger Landgrafenschloss von Mai bis Juni 1992.32 In Jena selbst wurde die Liederhandschrift in zumindest drei Ausstellungen öffentlich gezeigt.33 1902 fand im Rahmen der Dritten Bibliothekarversammlung in der Jenaer Universitätsbibliothek eine Handschriftenausstellung statt, zu deren Exponaten auch die Liederhandschrift gehörte.34 Außerdem wurde sie im August/September 1958 anlässlich des 400jährigen Jubiläums der Universität Jena präsentiert. Ausstellungsort war die Handschriftenabteilung im Hochbunker; man hatte den Benutzungsraum und einen weiteren Raum dafür präpariert. Die Handschriften lagen »auf 3 zusammengesetzten Tischen (dabei zwei Schreibtische) und zwei schmalen Klapptischen ... Flur und Aufgänge zur Hss.-Abteilung hatten vor dem Jubiläum einen gefälligen Farbanstrich erhalten«.35 Fast ein halbes Jahrhundert später und einstweilen letztmals wurde die Liederhandschrift schließlich in Begleitung der im vorliegenden Band dokumentierten Jenaer Tagung zur Liederhandschrift ausgestellt. Vom 3. Oktober bis 10. November 2007 wurde der kurz
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Vgl. einen Brief der Edition Leipzig vom 16.10.1965. Vorausgehendes Schrifttum und Näheres zum Verbringen der Handschrift nach Leipzig ließ sich bislang nicht finden. Hessen und Thüringen – Von den Anfängen bis zur Reformation. Eine Ausstellung des Landes Hessen. Marburg 1992, S. 174, Kat.-Nr. 243, mit Abb. S. 172. Ausstellungsdauer in Marburg: 26.5.–26.7.1992; Entleihe der Liederhandschrift vom 18.5.–29.7.1992. Mit Schreiben aus Rom vom 28.1.1999 wurde die Liederhandschrift für die Jahrtausendwende-Ausstellung »Pilgrims and Jubilees in the Middle Ages – Medieval Pilgrimages to Saint Peter’s Tomb« im Museo Nazionale di Palazzo Venezia angefragt, was von der ThULB Jena mit Brief vom 2.2.1999 wohlbegründet abgelehnt wurde. Anhaltspunkte dafür, dass die Liederhandschrift in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts oder noch davor für externe Ausstellungen angefragt oder ausgeliehen worden wäre, konnten aufgrund des wie gesagt weitestgehend vernichteten Aktenmaterials bisher nicht erlangt werden. Dass im Rahmen einer Führung für Naziprominenz am 26. September 1938, in der eine »Auswahl« der »kostbarsten Handschriften« der Universitätsbibliothek gezeigt wurde, auch die Liederhandschrift vorgeführt wurde, wie Bohmüller (Anm. 16), S. 40, spekuliert, hat keinen Anhalt in der von ihm besprochenen Tagebuchquelle und lässt sich daher nicht verifizieren. Auch lässt sich nicht mehr feststellen, ob die Liederhandschrift Teil einer Ausstellung zum 400jährigen Jubiläum der Hohen Schule Jena im Juni 1948 gewesen sein könnte, als u. a. »Handschriften« und »Prachtstücke« gezeigt wurden, vgl. dazu ebd., S. 68. Geschichte der Universitätsbibliothek Jena (Anm. 8), S. 581; Zentralblatt für Bibliothekswesen 19 (1902), S. 428 (Liederhandschrift genannt). Ausstellungsdauer: 25.8.–15.9.1958. Erhalten sind ein Bericht über die Ausstellung (daraus das Zitat), das Verzeichnis der Ausstellungsobjekte sowie eine Rechnung des Restaurators vom 16.8.1958; vgl. ferner den Bericht der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Jena vom 12.1.1959, bezogen auf 1958, S. 4: »Unmittelbar vor dem Jubiläum behandelte der Restaurator vom 13. bis 15.8. in der Abteilung 23 Handschriften (darunter die Jenaer Liederhandschrift)«; vgl. dazu den Bericht von J. Burgmeir: »Mit Bienenwachs und Hanffasern«. In: Thüringer Neueste Nachrichten, Jg. 8, Nr. 195, vom 23.8.1958.
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zuvor restaurierte und digitalisierte Codex zusammen mit den in der Forschung mit ihm in Verbindung gebrachten Fragmenten weiterer Handschriften sowie dem Dillinger Einzelblatt im »Zimelienraum« der ThULB Jena der Öffentlichkeit gezeigt. Der Begriff Faksimileausgabe klang bereits an. Was die ›Jenaer Liederhandschrift‹ anbelangt, so betreten wir hier ein weites Feld, das oft beackert, aber nie in Blüte und Frucht gebracht worden ist. Betrachtet man die vielen gescheiterten Bemühungen, von der Handschrift ein modernes Faksimile anzufertigen, das die durch Karl Konrad Müller realisierte Schwarzweiß-Reproduktion von 1896 hätte ersetzen können, wird deutlich: Die jüngst, im Jahr 2007, vollzogene Digitalisierung der Liederhandschrift und die Aufbereitung der Digitalisate für das Internet36 hat die lang ersehnte farbige Komplettreproduktion erst Realität werden lassen. Natürlich anders, als man sich das früher erträumt hatte, denn ein schmucker Folioband ist immer noch nicht entstanden – hier wären die Kosten nach wie vor nicht zu verkraften. Aber trotzdem: Jeder hat künftig die Möglichkeit, jedes Detail der Handschrift farbig und qualitätvoll zu betrachten. Dies ist die Anforderung an ein Faksimile. Es ist ja längst gestattet, dieses »Mach’s ähnlich« nicht mehr nur im Sinne eines haptisch greifbaren Buches, sondern auch in elektronischer Hinsicht zu deuten. Der erste Versuch, ein neues Faksimile auf den Weg zu bringen, scheint, wie schon erwähnt, 1965 gestartet worden zu sein. Nachdem in Leipzig anhand der Handschrift zwei Probeaufnahmen gefertigt und für brauchbar erachtet worden waren, verständigte man sich mit der Edition Leipzig darauf, ein Faksimile in der halben Originalgröße herausbringen zu wollen. Die Edition führte nun, wie man verklausuliert formulierte, »Verhandlungen mit einem westdeutschen Partner« und hoffte, »daß diese zu einem Verkaufsabschluß führen«.37 Von Seiten eines Jenaer Wissenschaftlers gab es bereits die Zusage für einen Beitrag im Kommentarband.38 Die Edition Leipzig musste aber im Oktober 1966 nach zunächst ermutigenden Signalen absagen. Der Bärenreiter-Verlag in Kassel – wohl besagter westdeutscher Partner – nämlich sehe keinen Markt mehr für das Projekt. Zur Begründung hieß es, die Nachfrage sei nicht mehr gegeben, da der OlmsVerlag »in Kürze einen Nachdruck der 1901 erschienenen Faksimile-Publikation dieses Titels« herausbringen wolle.39 Diese verquere Aussage verwirrt zunächst. Vermutlich aber besiegelte tatsächlich eine verlagsseitige Verwechslung das Schicksal des Faksimileprojekts zur ›Jenaer Liederhandschrift‹. Denn was Olms herausbrachte, war lediglich der Reprint der zweibändigen Edition von Holz, Saran und Bernoulli von 1901. Ein neues Faksimile gab es damit nicht, im Gegenteil: Ein solches hätte ergänzend sogar noch mehr Sinn ergeben. Im November 1966 teilte der Olms-Verlag per Postkarte der Jenaer Bibliothek auf deren Anfrage hin mit, der Reprint sei bereits seit einigen Monaten lieferbar und
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http://www.urmel-dl.de/SonstigeProjekte/JenaerLiederhandschrift.html Schreiben der Edition Leipzig vom 16.10.1965 an die Universitätsbibliothek Jena. Antwortschreiben des Leiters der Handschriftenabteilung an die Edition Leipzig vom 5.11.1965, hier die Empfehlung, das Faksimile ähnlich jenem der ›Großen Heidelberger Liederhandschrift‹ von 1925/27 (Insel-Verlag) zu gestalten. Schreiben der Edition Leipzig vom 28.10.1966 an die Universitätsbibliothek Jena. Auf der Rückseite klärende Bemerkungen von Seiten der Universitätsbibliothek zur Verwechslung von Bernoulli/Saran 1901 mit dem unter Karl Konrad Müller entstandenen Faksimile von 1896 (Anm. 5).
Zur Verwahr- und Benutzungsgeschichte der ›Jenaer Liederhandschrift‹ in Jena
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koste 116 DM. Die Jenaer Frustration angesichts des unnötigerweise nicht realisierten Faksimiles und darüber, dass man über das Reprintprojekt nie informiert worden war und nun auch noch ein Kaufangebot aus Westdeutschland bekam, entlud sich in einem von unbekannter Hand auf der Olms’schen Postkarte notierten toll!40 Dass die Jenaer Universitätsbibliothek als Eigentümerin der Liederhandschrift über maßgebliche westdeutsche Publikationsprojekte hierzu nicht in Kenntnis gesetzt wurde, war schon vor und auch nach 1966 zu verzeichnen. Das Jenaer Faksimile von 1896 wurde für Friedrich Gennrichs 1963 erschienene Melodienausgabe ebenso verkleinert nachgedruckt wie 1972 für die Ausgabe von Helmut Tervooren und Ulrich Müller in der Litterae-Reihe.41 Beide Projekte wurden ohne Wissen oder gar Einwilligung der Universitätsbibliothek Jena durchgeführt.42 Immerhin veranlassten die Herausgeber des Litterae-Bandes den Versand eines Belegexemplars nach Jena, freilich eines zunächst unvollständigen. Man schrieb dazu: »wir haben dies sozusagen freiwillig getan, da diejenige Bibliothek, die das Original besitzt, doch auch einen Band des Nachdruckes haben sollte«.43 Wie entfernt man in Zeiten der deutsch-deutschen Teilung voneinander war, wird in solchen Dokumenten spürbar. Doch täuscht dieser Eindruck auch, da es nach Ausweis der in der ThULB verwahrten Akten einen über die Jahrzehnte fast ausnahmslos freundschaftlichen und konstruktiven Schriftverkehr zwischen bundesdeutschen Wissenschaftlern und der Jenaer Bibliothek gegeben hat. Sicherlich trug Tervoorens und Müllers Band von 1972 ungewollt dazu bei, dass sich spätere Planungen für ein modernes Faksimile der Liederhandschrift immer aufs Neue zerschlugen. Zuvor schon, 1969, hatte die Universitätsbibliothek Jena nochmals einen Vorstoß bei der Edition Leipzig unternommen, die sich jedoch nach wie vor nicht in der Lage sah.44 Im Sommer 1971 gab es Kontakte zur Edition Peters in Leipzig. Es sollte eine Lichtdruck-Ausgabe in Zweidrittelgröße des Originals entstehen und die Handschrift dafür zum Jahresende auseinandergenommen werden. Doch verlief die Sache im Sande, da der Verlag sich nicht wieder meldete.45 1987 war man kurzzeitig und erfolglos in Korrespondenz mit dem Deutschen Verlag für Musik Leipzig.46 Der nächste Versuch wurde erst nach der politischen Wende gestartet. Auf nachdrückliche Intervention eines namhaften Erlanger Germanisten, der mit einer Seminargruppe die Liederhandschrift in Jena eingesehen hatte, trat im April 1991 die Akademische Druck- und Verlagsanstalt Graz (ADEVA) auf die Bibliothek zu. Doch tat sie sich im Folgenden mit der Kalkulation der Kosten schwer und gab zu bedenken, dass der Markt für Faksimiles nicht illuminierter Handschriften nicht eben groß sei. Im Folgejahr 1992 errechnete die ADEVA einen
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Postkarte des Olms-Verlages an die Universitätsbibliothek Jena vom 22.11.1966. Gennrich (1963); Tervooren/Müller (1972). Vgl. eine auf die Publikation von Gennrich (1963) bezogene Bemerkung auf der Rückseite des Absagebriefs der Edition Leipzig (Anm. 39) sowie eine undatierte handschriftliche Stellungnahme des Leiters der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Jena. Brief eines der Herausgeber an die Universitätsbibliothek Jena vom 26.6.1973. Weitere Korrespondenz dazu vom 22.3.1973 bis 27.7.1973. Schreiben der Universitätsbibliothek Jena an die Edition Leipzig vom 25.4.1969 und Antwortschreiben der Edition vom 21.5.1969. Korrespondenz vom 16.6.1971 bis 20.7.1971 sowie nochmals vom 14.3.1975 und 13.5.1975. Dies geht aus einem Brief der Leiterin der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Jena an die ADEVA Graz vom 15.4.1991 und einem Benutzerblatt vom 9.7.1987 hervor.
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benötigten Druckkostenzuschuss in Höhe von 100.000, besser noch 150.000 DM. Für diese Summe ließ sich erwartungsgemäß kein Geldgeber finden.47 Mit diesem letzten Versuch ist wohl für immer das Vorhaben eines farbigen Vollfaksimiles der ›Jenaer Liederhandschrift‹ in Printform zu den Akten gelegt worden. Ein wichtiger Aspekt der Beschäftigung mit der ›Jenaer Liederhandschrift‹ ist das Bemühen, ihre Melodien erklingen zu lassen, wozu der Codex ja geradezu einlädt. Nur einige der vermutlich zahlreicheren Projekte dazu sind überliefert. In der Neuzeit steht Rochus von Liliencrons und Wilhelm Stades Bearbeitung am Beginn. Sie wurde 1854 in Weimar unter dem Titel ›Lieder und Sprüche aus der letzten Zeit des Minnesanges übersetzt, für gemischten und Männerchor vierstimmig bearbeitet‹ gedruckt und zuweilen von Eisenacher Chorknaben auf der Wartburg in Klang verwandelt.48 Auch später gab es musikalische Darbietungen. In einer Stellungnahme des Direktors der Jenaer Universitätsbibliothek vom September 1957 heißt es: »Die Liederhandschrift steht stets im Mittelpunkt der Führungen in unserer Handschriften-Abteilung, und bei besonderen Anlässen werden Weisen daraus gesungen«.49 Aus jüngster Zeit lassen sich mehrere Konzerte in Jena nennen. 1998 gab es in der Rathausdiele eine Aufführung mit Rezitation und musikalischer Umsetzung für Singstimme, Fidel, Harfe und Laute durch Musiker aus Jena und Umgebung.50 Im selben Jahr fand in der Jenaer Friedenskirche die Uraufführung von fünf Chorsätzen nach Texten der ›Jenaer Liederhandschrift‹ des 2002 verstorbenen deutschstämmigen, in den USA wirkenden Komponisten Jean Berger durch das Jenaer Ensemble Jubilee Singers statt.51 Am 25. Juli 2004 schließlich gestaltete das ›ensemble für frühe musik augsburg‹ im Rahmen der Jenaer Kulturarena ein Konzert mit Auszügen aus der Liederhandschrift in der Jenaer Stadtkirche St. Michael.52 Einen weiteren Auftritt hatte das Ensemble, als die Tagung, aus welcher der vorliegende Band hervorgegangen ist, zusammen mit der Ausstellung zur ›Jenaer Liederhandschrift‹ in der ThULB Jena am 3. Oktober 2007 eröffnet wurde. Abschließend seien einige statistische Beobachtungen zur Wahrnehmung der ›Jenaer Liederhandschrift‹ seit den frühen 50er Jahren des 20. Jahrhunderts bis heute mitgeteilt. Da mündliche Auskünfte der Universitätsbibliothek Jena gewöhnlich nicht dokumentiert wurden, muss man sich an den schriftlich überlieferten Vorgängen orientieren. Es handelt sich um Korrespondenz zu fachlichen Fragen zum Codex sowie um Anfragen auf Benutzung, Reproduktionen oder Publikationserlaubnis. Bei den früheren Vorgängen wird die Problematik des Getrenntseins während der deutsch-deutschen Teilung deutlich. Schriftverkehr mit deutschen Personen oder Einrichtungen ist bis zur Wiedervereinigung in rund
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Briefverkehr vom 3.4.1991 bis 25.6.1992. Vgl. Karpe (Anm. 11), S. 31. Schreiben des Direktors der Universitätsbibliothek Jena vom 16.9.1957. Wohl Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts produzierte die Universitätsbibliothek Jena einen Dia-Ton-Vortrag zur Liederhandschrift. Die Dias und das Tonband sind erhalten. Mit sang ist al die werlt genesen. Wort und Musik aus der Jenaer Liederhandschrift. Programm in der Abteilung Handschriften und Sondersammlungen der ThULB vorhanden. Konzert vom 18.6.1998. Noten, Programm und Zeitungsausschnitte dazu in der Abteilung Handschriften und Sondersammlungen der ThULB Jena vorhanden. Vgl. Berichte der Ostthüringer Zeitung vom 22.7. und 27.7.2004 sowie der Thüringischen Landeszeitung vom 22.7.2004.
Zur Verwahr- und Benutzungsgeschichte der ›Jenaer Liederhandschrift‹ in Jena
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40 Fällen nachweisbar, davon etwas über die Hälfte aus Westdeutschland. Seit der Wende ist mit bislang über 35 Vorgängen ein gewisser Anstieg zu verzeichnen. Offenbar erst seit den späten 60er Jahren wurde die Jenaer Handschriftenabteilung nach und nach auch mit Anfragen aus dem nichtdeutschen Ausland konfrontiert. Rund 20 Vorgänge stehen bisher zu Buche, im Wesentlichen Österreich und Großbritannien betreffend, gefolgt von Italien und vereinzelt den Niederlanden, Israel, Japan, Spanien, Dänemark und Hongkong. Bei all diesen Zahlen sind rund 70 Anfragen von 1953 bis 2007 mitzudenken, die den Versand von Foto- und Mikrofilmmaterial zur Liederhandschrift zur Folge hatten, davon 40 Fälle vor der Wende. Die diesbezüglich Anfragenden sind zum Teil identisch mit den oben aufgezählten Korrespondenzpartnern. Die Statistik vermittelt zweifellos einen nicht ganz repräsentativen, in der Tendenz aber doch interessanten Eindruck. Man kann von einer regelmäßigen Wahrnehmung der Liederhandschrift im In- und Ausland sprechen, aber nicht gerade von einem Ansturm. Dabei darf man natürlich nicht vergessen, dass sich in der genannten Zeit viele weitere Menschen, Wissenschaftler wie Nichtwissenschaftler, der Handschrift zugewandt und sie zuweilen im Original besichtigt haben. Gewiss haben die erwähnten Unwägbarkeiten während der Teilung Deutschlands und der Nachwendezeit zu der streckenweise sehr verhaltenen Rezeption der ›Jenaer Liederhandschrift‹ ihren Beitrag geleistet. Doch war die Handschrift nie aus der Welt, und ihre Bedeutung blieb stets bekannt. Vielleicht hätte die alte Bundesrepublik, zumal in ihren saturierten Jahrzehnten, dem Jena-Leipziger Bemühen, ein neues kommentiertes Faksimile zu schaffen, mit Nachdruck und Mitteleinwerbung aufhelfen müssen – im eigenen Interesse. Stattdessen reproduzierte man, ohne den Kontakt zu Jena zu suchen, das Faksimile von 1896. Dies war eine von vielleicht mehreren vertanen Chancen wissenschaftlicher Kooperation. Doch wird man heute über solch unübersichtliche Zeiten schwerlich gerecht urteilen können. Blicken wir also nach vorn. Es steht zu hoffen, dass dank der nun weltweit im Internet aufrufbaren digitalen Präsentation wie auch in Reaktion auf den vorliegenden Band in Zukunft wieder eine lebhaftere Wahrnehmung und Würdigung der ›Jenaer Liederhandschrift‹ in Forschung und Öffentlichkeit zu verzeichnen sein wird.
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Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und ihr Umfeld
Im folgenden Beitrag soll das Umfeld der ›Jenaer Liederhandschrift‹ unter verschiedenen Aspekten näher beleuchtet werden: (I) Die Verbindungen der ›Jenaer Liederhandschrift‹ mit inhaltlich verwandten Textzeugen; (II) Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ als frühe großformatige deutschsprachige Handschrift; (III) Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und ihre kodikologischen Geschwisterhandschriften.
I. Seit den 1923 von Karl Bartsch veröffentlichten »Untersuchungen zur ›Jenaer Liederhandschrift‹«1 werden zwischen der ›Jenaer Liederhandschrift‹ und einigen deutschsprachigen Textzeugen aus der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts immer wieder Verbindungen hergestellt, die auf eine besonders enge Beziehung untereinander schließen lassen: »eindeutige Verwandtschaft«2, »verwandte Bruchstücke«3 und »enge schreibsprachliche Verwandtschaft«4 lauten einige der gängigen Formulierungen in der einschlägigen Forschung. Bartsch selbst spricht davon, dass die Basler Fragmente (s. u.) mit der ›Jenaer Liederhandschrift‹ »aufs nächste verwandt sind« und man fast versucht wäre, »die Handschriften für Abschriften der einen aus der anderen zu halten«.5 Bei dieser Handschriftengruppe, die mit der ›Jenaer Liederhandschrift‹ in Verbindung gebracht wird, handelt es sich um die folgenden Fragmente, die ausnahmslos Lied- und Spruchdichtung überliefern:6
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Bartsch (1923). Tervooren/Müller (1972), S. 5. Tervooren (1983), hier S. 387. Klein (1987), hier S. 76. Bartsch (1923), S. 47. Auf umfängliche Literaturangaben zu diesen Textzeugen wird hier verzichtet; die jeweils einschlägige Literatur ist leicht über das ›Repertorium deutschsprachiger Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts‹ (http://www.marburger repertorien.de) erreichbar; dort finden sich auch Hinweise zu im Internet zugänglichen Abbildungen. Vgl. auch den Anhang zu diesem Band: Fragmente aus dem Umfeld der ›Jenaer Liederhandschrift‹. – Bei den Maßangaben stehen erschlossene Angaben in spitzen Klammern; in denjenigen Fällen, bei denen eine Rekonstruktion der ursprünglichen Maße nicht möglich ist, erscheinen die Maßangaben in eckigen Klammern.
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Basel, Universitätsbibl., Cod. N I 3 Nr. 145 Kelin, Boppe, Fegfeuer, ›Wartburgkrieg‹ 1. Hälfte 14. Jh.; Schriftmd. auf nd. Grundlage; 4 Doppelblätter; Blattgröße 280 × 210 mm; Schriftraum ca. 200 × 145 mm, zweispaltig zu 38 Zeilen; Strophen abgesetzt; Verse nicht abgesetzt; mit Noten. Berlin, Staatsbibl., Hdschr. 401 (früher Privatbesitz Beate Buchholz, Bonn) Reinmar von Zweter 1. Viertel 14. Jh.; Schriftmd. auf nd. Grundlage; Querstreifen eines Doppelblattes; Blattgröße [68] × 140 mm; Schriftraum [68] × 110 mm; einspaltig zu [11] Zeilen; Strophen abgesetzt; Verse nicht abgesetzt. Berlin, Staatsbibl., Ms. germ. qu. 981 ›Magdeburger Frühlingslied‹ 1. Hälfte 14. Jh.; Md. eines nd. Schreibers; 1 Blatt; Blattgröße 220 × 160 mm; Schriftraum 160 × 105 mm; einspaltig; Strophen abgesetzt; Verse nicht abgesetzt; mit Noten. Krakau, Bibl. JagielloĔska, Berol. Ms. germ. oct. 682 (früher Berlin, Staatsbibl., mgo 682) Walther von der Vogelweide, Walther von Mezze Anfang 14. Jh.; Md. eines nd. Schreibers; 2 Doppelblätter; Blattgröße ca. 210 × 130 mm; Schriftraum 175–185 × 110–115 mm; einspaltig zu 27 bzw. 29 Zeilen; Strophen abgesetzt; Verse nicht abgesetzt. Münster, SA, Msc. VII Nr. 51 Walther von der Vogelweide 1. Hälfte 14. Jh.; Md. eines nd. Schreibers; 1 Doppelblatt; Blattgröße ca. 220 × 150 mm; Schriftraum 172 × 120 mm; zweispaltig mit 42 Zeilen; Strophen abgesetzt; Verse nicht abgesetzt; mit Noten. Soest, Stadtbibl., Fragm. 157 Frauenlob um 1300; md.-nd.; 1 Blatt; Blattgröße 325 × mm; Schriftraum 233 × 178 mm; zweispaltig zu 36 Zeilen; Strophen abgesetzt; Verse nicht abgesetzt. Wolfenbüttel, Herzog August Bibl., Cod. 404.9 (11) Novi Rumelant von Sachsen 1. Hälfte 14. Jh.; md.-nd.; 2 aneinander anschließende Querstreifen aus der unteren Mitte eines Doppelblatt; ursprüngliche Blattgröße und Schriftraum nicht rekonstruierbar;7 zweispaltig zu [21] Zeilen; Strophen abgesetzt; Verse nicht abgesetzt; mit Notenlinien.
7
Es handelt sich um Ausschnitte aus den beiden inneren Spalten eines Doppelblattes, so dass sich Blattgröße und Schriftraum nicht rekonstruieren lassen. Da die Breite einer Spalte ca. 85 mm beträgt, kann man für die Breite des Schriftraumes etwa 180 mm ansetzen; d. h. die Handschrift, aus der das Wolfenbütteler Fragment stammt, entsprach in der Größe etwa dem genannten Münsteraner Walther-Fragment.
Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und ihr Umfeld
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Bei den angeführten Textzeugen handelt es sich ausschließlich um Überreste von einstmals vollständigen Handschriften, bei denen die Lied- und Spruchdichtung im Vordergrund stand – also nicht um Gelegenheitsaufzeichnungen in anderem Kontext. Da deutschsprachige Handschriften aus dem 13. und der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts (unabhängig von ihrem Inhalt) zumeist im 15., 16. oder 17. Jahrhundert makuliert worden sind, stellt die ihnen gemeinsame Überlieferungsform ›Fragment‹ den Normalfall dar8 – die weitgehend vollständig erhaltene ›Jenaer Liederhandschrift‹ bildet hier also die Ausnahme. Bei oberflächlicher Betrachtungsweise lässt der Begriff »Verwandtschaft« zumindest unterschwellig auch kodikologische bzw. paläographische Verbindungen mitschwingen, so dass der Eindruck entstehen könnte, die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und die mit ihr verwandten Fragmente stammten von den gleichen Händen oder zumindest aus e i n e r Schreibstube. Die erste Möglichkeit, dass die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und die genannten, nur noch fragmentarisch erhaltenen Bruchstücke mit Lied- und Spruchdichtung von der gleichen Hand (bzw. den gleichen Händen) stammen, ist auszuschließen und wurde in der einschlägigen Literatur zu Recht auch nie behauptet. Die zweite Möglichkeit, dass alle Textzeugen zwar von verschiedenen Händen stammen, die in einem auf das Abschreiben von Lied- und Spruchdichtung spezialisierten Skriptorium gearbeitet haben, ist zwar sehr ansprechend, lässt sich aber nicht beweisen. Unsere Kenntnisse über Skriptorien im 13. und 14. Jahrhundert, in denen deutschsprachige Handschriften hergestellt worden sind, sind zu dürftig und zu widersprüchlich, als dass man daraus für die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und die mit ihr »verwandten« Fragmente gesicherte Rückschlüsse ziehen dürfte. So kennen wir beispielsweise aus dem 2. Drittel des 13. Jahrhunderts ein im bair.alem. Sprachraum lokalisierbares Skriptorium, in dem die ›St. Galler Epenhandschrift‹9 sowie mindestens zwei weitere, heute nur noch bruchstückhaft erhaltene Codices mit ›Nibelungenlied‹ und mit Wolframs ›Parzival‹ entstanden sind. Hinsichtlich ihrer Größe, ihrer Einrichtung und ihrer Ausstattung könnten diese drei Textzeugen unterschiedlicher kaum sein: 1) Blattgröße 310–315 × 215 mm; zweispaltig zu 42–57 Zeilen: St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 857 (mit Berlin, SBB-PK, Ms. germ. fol. 1021, und Karlsruhe, Landesbibl., Cod. K 2037) Wolfram von Eschenbach: ›Parzival‹, ›Nibelungenlied‹, ›Klage‹, Stricker: ›Karl der Große‹, Wolfram von Eschenbach: ›Willehalm‹, Friedrich von Sonnenburg: Sangspruchstrophen, Konrad von Fußesbrunnen: ›Kindheit Jesu‹, Konrad von Heimesfurt: ›Unser vrouwen hinvart‹
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Von den bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts heute noch nachweisbaren deutschsprachigen Textzeugen dürften schätzungsweise nur noch etwa 30% vollständige Codices sein. Vgl. Joachim Heinzle: ›St. Galler Handschrift 857‹. In: 2VL 11 (2001), Sp. 481–485 (mit weiterführender Literatur), sowie Michael Stolz: Der Codex Sangallensis 857. Konturen einer bedeutenden mittelhochdeutschen Epenhandschrift, In: Sankt Galler Nibelungenhandschrift (Cod. Sang. 857), hg. von der Stiftsbibliothek St. Gallen und dem Parzival-Projekt. 2., erweiterte Auflage 2005 (Codices Electronici Sangallenses 1), S. 9–82.
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2) Blattgröße ca. 230 × 160 mm; einspaltig zu 34 Zeilen: Berlin, Staatsbibl., Fragm. 44 ›Nibelungenlied‹ 3) Blattgröße ca. mm; zweispaltig zu 42 Zeilen: Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. 13070 Wolfram von Eschenbach: ›Parzival‹ Diese drei Handschriften müssen – trotz ihrer Unterschiede – in e i n e m Skriptorium geschrieben worden sein, da die gleichen Hände an der Entstehung der drei Codices mitgewirkt haben. Das zweite Beispiel verdanken wir Hartmut Beckers, der im nordbair.-ostfränk. Sprachraum ein Skriptorium ausgemacht hat, in dem vermutlich im 1. Viertel des 14. Jahrhunderts mindestens sechs deutschsprachige Epen-Handschriften angefertigt worden sind:10 1) Wolfram von Eschenbach: ›Parzival‹ + ›Lohengrin‹ (Heidelberg, Universitätsbibl., Cpg 364) 2) Albrecht: ›Jüngerer Titurel‹ (Heidelberg, Universitätsbibl., Cpg 383) 3) Ulrich von dem Türlin: ›Arabel‹ + Wolfram von Eschenbach: ›Willehalm‹ + Ulrich von Türheim: ›Rennewart‹ (Heidelberg, Universitätsbibl., Cpg 404) 4) Rudolf von Ems: ›Willehalm von Orlens‹ (Berlin, Staatsbibl., Ms. germ. fol. 923 Nr. 25) 5) Heinrich von dem Türlin: ›Diu Crône‹ (Köln, Universitäts- und Stadtbibl., Fragm. 5 P 62) 6) Konrad von Würzburg: ›Trojanerkrieg‹ (Brüssel, Königl. Bibl., ms. IV 950,11) Die Zusammengehörigkeit dieser sechs Textzeugen wird hier vor allem durch die identische Einrichtung erwiesen: Die Handschriften, die eine repräsentative Auswahl der seinerzeit bekannten Epen bieten, haben (bzw. hatten) alle eine Blattgröße von ca. 45 × 33 cm, einen Schriftraum von ca. 33 × 20 cm und sind (bzw. waren) zweispaltig mit jeweils 56 abgesetzten Verszeilen pro Spalte eingerichtet. – Es ist gut vorstellbar, dass hinter dieser Gruppe von Handschriften e i n Auftraggeber steckt und diese Codices auch zusammen in einer mittelalterlichen Bibliothek aufbewahrt wurden. Die Zusammengehörigkeit von Handschriften und ihre gemeinsame Entstehung in einem Skriptorium lassen sich also nur beweisen oder zumindest wahrscheinlich machen, wenn Schreiberidentität oder übereinstimmende Einrichtungsmerkmale vorliegen. Dies ist bei der ›Jenaer Liederhandschrift‹ und den mit ihr »verwandten« Fragmenten nicht der Fall. Bis zum Beweis des Gegenteils müssen wir daher davon ausgehen, dass es zwischen der ›Jenaer Liederhandschrift‹ und den »verwandten« Fragmenten keine kodikologischen11 bzw. paläographischen Gemeinsamkeiten gibt und sie nicht im gleichen Skriptorium entstanden sind. Verbindendes Element ist – neben dem Inhalt – »nur« die
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Hartmut Beckers: Brüsseler Bruchstücke aus Konrads ›Trojanerkrieg‹. In: ZfdA 124 (1995), S. 319–327, bes. S. 322. Am deutlichsten wird dies vor allem bei der Größe: Während die ›Jenaer Liederhandschrift‹ eine Blattgröße von ca. 56 × 41 cm aufweist, sind bzw. waren die »verwandten« Textzeugen lediglich ca. 21–30 × 13–24 cm groß.
Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und ihr Umfeld
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Schreibsprache, die man nach den ausführlichen Untersuchungen von Helmut Tervooren12 und Thomas Klein13 als ein »Schriftmitteldeutsch auf niederdeutscher Grundlage« bezeichnen kann14. Blenden wir die im Begriff »Verwandtschaft« mitschwingenden kodikologischen und paläographischen Aspekte aus, werden wir mit der Erkenntnis belohnt, dass es – bezeugt durch eine überraschend reichhaltige Überlieferung – seit der Zeit um 1300 (Soester Fragment) bis etwa zur Mitte des 14. Jahrhunderts in einem mitteldeutschniederdeutschen Interferenzgebiet ein ausgeprägtes Interesse an Lied- und Spruchdichtung gegeben haben muss. An welchen Höfen oder bei welchen Personen dieses Interesse zu lokalisiert ist, lässt sich wegen der fragmentarischen Überlieferung nicht feststellen.
II. Die gewaltigen Ausmaße der vermutlich um 1330 entstandenen ›Jenaer Liederhandschrift‹ mit einer Blattgröße von ca. 56 × 41 cm – das entspricht in etwa den Abmessungen unserer heutigen überregionalen Tageszeitungen – sind in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts unter deutschsprachigen Handschriften völlig singulär. Nach unserem derzeitigen Kenntnisstand haben lediglich sechs weitere, allerdings erst ab der Mitte des 14. Jahrhunderts vor allem im mitteldeutschen Sprachraum geschriebene Handschriften ein ähnlich großes Format, d. h. eine Blatthöhe von über 50 cm bzw. eine Blattbreite von über 40 cm15: 1) Ulrich von dem Türlin: ›Arabel‹ + Wolfram von Eschenbach: ›Willehalm‹ (München, Staatsbibl., Cgm 5249/4b + München, BSB, Cgm 5249/6 + Regensburg, Stadtarchiv, Bibl. des Hist. Vereins, Ms. Misc. 61 + Seitenstetten, Stiftsbibl., Fragmentenschachtel, ohne Sign.) 2) Ulrich von dem Türlin: ›Arabel‹ + Wolfram von Eschenbach: ›Willehalm‹ + Ulrich von Türheim: ›Rennewart‹ (Wien, ÖNB, Cod. Ser. nova 2643) 3) Gottfried von Straßburg: ›Tristan‹ + Heinrich von Freiberg: ›Tristan‹-Fortsetzung (Linz, Landesarchiv, Pa I/3b + St. Pölten, Stadtarchiv, ohne Sign. [verschollen]) 4) ›Passional‹ (Darmstadt, Universitäts- und Landesbibl., Hs. 3161 + Gedern, Gräfl. Stolbergisches Archiv, ohne Sign. [verschollen] + Ortenberg, Gräfl. Stolbergisches Archiv, ohne Sign. [verschollen] + Privatbesitz Georg Schaaffs, Eschwege, Ms. germ. IV [verschollen]) 5) Vinzenz von Beauvais: ›Speculum historiale‹, dt. (München, Universitätsbibl., 2° Cod. ms. 750 + München, Universitätsbibl., Fragm. 141 [verbrannt]) 6) ›Wenzelsbibel‹ (Wien, ÖNB, Cod. 2759–2764)
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Tervooren (Anm. 3). Klein (1987). Vgl. auch den Beitrag von Luise Czajkowski in diesem Band. Nicht berücksichtigt werden in der Aufstellung die sog. ›Gothaer Riesenbibel‹ (Luxemburg, Bibl. Nationale, Ms. IV, 264 [früher Gotha, FB, Cod. Memb. I 1]; um 1200; Blattgröße 60 × 40 cm), die als einzigen deutschen Text den ›Gothaer Fiebersegen‹ enthält, sowie die ›Rheinfränkische Magnificat-Paraphrase in Versen‹ (Frankfurt a.M., Stadt- und Universitätsbibl., Ms. germ. fol. 14; 14. Jh.; Blattgröße ursprünglich ca. 54 × 42 cm); dieses Blatt war wohl niemals Bestandteil einer Handschrift.
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Klaus Klein
Erst im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert kommen weitere, ähnlich großformatige Pergamenthandschriften hinzu wie z. B.: – – – – –
Heinrich von München: ›Weltchronik‹ (Berlin, SBB-PK, Ms. germ. fol. 1416) ›Lancelot‹ (Heidelberg, Universitätsbibl., Cpg 147) ›Ottheinrich-Bibel‹ (München, BSB, Cgm 8010/1–8) Ulrich Fuetrer: ›Buch der Abenteuer‹ und ›Lanzelot‹ (München, BSB, Cgm 1) Stadtbuch von Znaim (Znojmo, Bezirksarchiv, Cod. Z/II–286/a)
Es bleibt festzuhalten: Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ ist – was ihre kodikologischen Daten betrifft – nach unserem derzeitigen Kenntnisstand ein Unikat unter den deutschsprachigen Handschriften aus der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts; ein annähernd großes Format findet man sonst bei deutschsprachigen Handschriften des 14. Jahrhunderts erst in der zweiten Jahrhunderthälfte. Bemerkenswert ist außerdem die im Vergleich zur Größe auffallend geringe Zeilenzahl pro Spalte, die eine relative Größe der Schrift zur Folge hat: Während bei der ›Jenaer Liederhandschrift‹ bei einer Schriftraumhöhe von ca. 38 cm lediglich 33 Zeilen pro Spalte eingetragen wurden, werden bei anderen Handschriften mit ähnlichem Schriftspiegel meist deutlich über 50 Zeilen geschrieben.16
III. Abschließend sollen die aus den bisherigen Überlegungen ausgeklammerten Textzeugen, die in ein historisches Umfeld der ›Jenaer Liederhandschrift‹ gehören, in das Blickfeld gerückt werden. Es handelt sich um sieben Blätter (Blattgröße jeweils ca. 47 × 35 cm) mit Überresten der beiden Artusromane ›Parzival‹ und ›Segremors‹, die heute in Gotha und Sondershausen (›Parzival‹)17 sowie in Gotha und Weimar (›Segremors‹)18 aufbewahrt werden. Hans-Jochen Schiewer konnte bereits 1988 für die ›Segremors‹-Fragmente feststellen: »Format, Schriftdialekt und Schrift verbinden die ›Jenaer Liederhandschrift‹ mit den ›Segremors‹-Fragmenten auf das engste, so daß die Vermutung nahe liegt, daß es sich hierbei um zwei Schwesternhandschriften handeln könnte: auf der einen Seite ein Liederbuch, auf der anderen Seite der ›Segremors‹.«19 Ob die erhaltenen Blätter der beiden Artusromane Überreste einer Sammelhandschrift (mit ›Parzival‹ und ›Segremors‹) oder von je einer ›Parzival‹- und einer ›Segremors‹Handschrift sind, lässt sich nicht entscheiden. Da auch der zweite, heute in Krakau aufbewahrte ›Segremors‹-Textzeuge nur fragmentarisch erhalten ist, lassen sich für diesen Roman keine gesicherten Aussagen über den Gesamtumfang machen. Zu bedenken ist aber, dass bereits der ›Parzival‹ mit seinen ca. 24.000 Versen bei der vorliegenden zweispaltigen Einrichtung mit je 36 abgesetzten Verszeilen knapp 170 Blätter beansprucht haben muss. Wäre der ›Segremors‹ mit dem ›Parzival‹ zusammengebunden gewesen,
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Z. B. 54 Zeilen (Stuttgart, Landesbibl., Cod. HB XIII 11), 67–74 Zeilen (Berlin, SBB-PK, Ms. germ. fol. 1416), ca. 78 Zeilen (Krakau, Bibl. JagielloĔska, Berol. Ms. germ. qu. 792). Gotha, FB, Cod. Memb. I 130, und Sondershausen, Schlossmuseum, Germ. lit. 2 (olim Hs.-Br. 3). Gotha, FB, Cod. Memb. I 133, und Weimar, Thüringisches Hauptstaatsarchiv, Ernest. Gesamtarchiv, Reg. V, 1. Schiewer (1988), hier S. 229.
Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und ihr Umfeld
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hätte dies vermutlich angesichts des großen Formats bei der Benutzung – beim Transport allemal – nicht geringe Schwierigkeiten bereitet. Neben dem ähnlichen Format, dem identischen Schreibdialekt und den teilweise übereinstimmenden Schreiberhänden gibt es schließlich noch ein weiteres Indiz, das auf eine enge Verbindung zwischen der ›Jenaer Liederhandschrift‹ und den beiden RomanFragmenten hindeutet: Während wir bei der ›Jenaer Liederhandschrift‹ aufgrund der verwendeten Plattenstempel wissen, dass sie ihren heutigen Einband von dem Wittenberger Buchbinder Wolfgang Schreiber in den Jahren zwischen 1536–1541 erhalten hat, geben die sekundären Beschriftungen auf den Roman-Fragmenten in Gotha, Sondershausen und Weimar zu erkennen, dass die Blätter in den Jahren 1541, 1542 und 1543 als Umschläge für verschiedene Archivalien im Amt Wassenburg beim thüringischen Arnstadt verwendet worden sind.20 Es ist sicherlich kein Zufall, dass die ›Jenaer Liederhandschrift‹ und die Roman-Fragmente etwa zur gleichen Zeit eine ›bibliothekarische Sonderbehandlung‹ erfahren haben: Während die Liederhandschrift (genauer gesagt: das, was davon noch übrig war) erhaltenswert erschien und einen stabilen und repräsentativen Einband erhielt, wurde die Handschrift (bzw. die beiden Handschriften) mit den Artusromanen makuliert. Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ umfasst heute noch 133 Pergamentblätter im schon erwähnten ungewöhnlich großen Format von 56 × 41 cm; eine unbekannte Anzahl weiterer Blätter ist schon früh verlorengegangen. Die Größe eines Doppelblattes (ca. 56 × 82 cm) entspricht damit ziemlich genau der Größe eines länglichen Rechtecks, das man nach Karin Schneiders Angaben aus der Haut eines Kalbes bzw. eines großen Schafes gewinnen konnte.21 Das bedeutet: Allein für die heute noch erhaltenen 133 Pergamentblätter der ›Jenaer Liederhandschrift‹ war die Haut von 67 Kälbern bzw. großen Schafen notwendig; hinzu kamen noch die Häute von ca. 85 Kälbern bzw. großen Schafen für den ›Parzival‹ sowie weitere für den ›Segremors‹. Dies lässt nur den Schluss zu, dass der Auftraggeber und wohl auch erste Besitzer der Liederhandschrift wie auch der Handschrift(en) mit den beiden Artusromanen eine hochvermögende Person gewesen sein muss. Material und Herstellung müssen Unsummen verschlungen haben. Im krassen Gegensatz dazu steht das Ausstattungsniveau der ›Jenaer Liederhandschrift‹: Sie ist zwar sorgfältig geschrieben und mit den üblichen vergleichsweise schmucklosen Lombarden in blauer und roter Farbe verziert, doch von einer Person, die ein solch großes Vermögen für die Herstellung der Liederhandschrift ausgegeben haben muss, hätte man nicht nur eine ›gediegene‹, sondern eine weit aufwendigere Ausstattung erwartet. Gleiches gilt übrigens auch für die beiden Artusromane. Ob diese zwei (bzw. drei) Handschriften Repräsentationsexemplare oder eher Gebrauchshandschriften waren, lässt sich nicht eindeutig klären. Zwar sind große Formate üblicherweise ein Hinweis darauf, dass solche Stücke vor allem Repräsentationszwecken dienen sollten, doch kann man sich bei der ›Jenaer Liederhandschrift‹ und den beiden Artusromanen auch gut vorstellen, dass aus den riesigen und schweren Büchern, aufgeschlagen auf einem Pult liegend, von dem bzw. den Vortragenden aufgrund des großen
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Zusammenstellung bei Klein/Lomnitzer (1995), S. 388f. Vgl. Karin Schneider: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung, Tübingen 1999 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte B. Ergänzungsreihe Nr. 8), S. 104.
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Klaus Klein
Schriftbildes gut vorgelesen bzw. vorgetragen werden konnte. Die nicht sehr aufwendige Ausstattung der Handschriften und schließlich auch die zahlreichen zeitnahen Nachträge in der ›Jenaer Liederhandschrift‹ in kleiner Schrift scheinen jedoch eher darauf hinzudeuten, dass bei diesen Handschriften die Benutzung und nicht die Repräsentation im Vordergrund gestanden hat.
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Fragmente aus dem Umfeld der ›Jenaer Liederhandschrift‹
Vorbemerkung In Verbindung mit der durch diesen Sammelband dokumentierten Tagung zur ›Jenaer Liederhandschrift‹ fand vom 3. Oktober bis 10. November 2007 in den Räumen der ThULB eine Ausstellung statt, in der nicht nur die ›Jenaer Liederhandschrift‹ selbst und Dokumente zu ihrer Forschungs- und Verwahrgeschichte gezeigt wurden, sondern auch ›verwandte‹ Lyrik-Fragmente aus ihrem ›Umfeld‹.1 Am Begriff ›Verwandtschaft‹ übt Klaus Klein Kritik (s. seinen Beitrag in diesem Band). Er tut dies sicher dann mit Recht, wenn damit behauptet sein sollte, die ausgestellten Fragmente seien kodikologisch und paläographisch so eng mit J verwandt, dass sie einem gemeinsamen Skriptorium entstammen müssen. Das mag vielleicht in der älteren Forschung hier und dort suggeriert sein. Der Vorwurf trifft aber nicht die jüngeren Arbeiten zu J oder zur Lyriküberlieferung im md.-nd. Raum, die auf ein durch die Fragmente bezeugtes in mancherlei Hinsicht erstaunlich homogenes Umfeld zu J zielen2, ohne die von Klein kritisierten Prämissen zu teilen. Der Begriff ›Umfeld‹, der für die Ausstellung verwendet wurde, berührt die Nähe der Fragmente zu J gewiss in unterschiedlicher Weise: Einen mit J so gut wie identischen Sprachstand zeigt das Münstersche Walther-Fragment oder das Soester Frauenlob-Fragment. Deutliche Nähe zu J in der kolometrischen Stropheneinrichtung und weiteren verbindenden Einrichtungsmerkmalen3 weisen das ›Magdeburger Frühlingslied‹ und das Reinmar-Fragment auf. Geradezu frappierend ist die Nähe in der Strophenanordnung zwischen J und den Fragmenten aus Soest (Frauenlob), Basel (Kelin) und Wolfenbüttel (Rumelant). Dass bei unterschiedlicher Notation die Melodien von J und des Basler Fragments exakt übereinstimmen, hebt Franz Körndle in seinem Beitrag hervor. Nimmt man alles zusammen, sind eigentlich weniger die Unterschiede als die Parallelen auf den unterschiedlichsten Ebenen das Überraschende. Sie deuten auf eine Tradition der Textüberlieferung wie der Einrichtungsweisen im md.-nd. Raum hin, die
1
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Darüber hinaus waren in der Ausstellung auch die mit J aus einem Skriptorium stammenden ›Parzival‹- und ›Segremors‹-Fragmente zu sehen wie auch das Dillinger Blatt aus J, dessen Beschreibung im Folgenden derjenigen der Fragmente vorangestellt wird. Das Walther-Fragment O, das in Krakau liegt, konnte leider nicht im Original gezeigt werden. Vgl. nur Kornrumpf (1990), S. 94. Gisela Kornrumpf weist darauf hin, dass innerhalb der »J-Gruppe« im Falle längerer Abgesänge diese ihrerseits durch Auszeichnung unterteilt sind. Das gilt neben J für Ba, das Wolfenbüttler und Krakauer Walther-Fragment sowie das Reinmar-Fragment. Im Soester Frauenlob- und im Münsterschen Walther-Fragment ist die Praxis »nur zufällig« nicht bezeugt (vgl. Kornrumpf [1988], bes. S. 34 Anm. 22 und S. 44 mit Anm. 52; wieder in Kornrumpf [2008], bes. S. 179 Anm. 22 und S. 190 mit Anm. 52 und in diesem Band S. 47–50).
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Fragmente aus dem Umfeld der ›Jenaer Liederhandschrift‹
für J (und womöglich die verlorenen Lyrikhandschriften der Wittenberger Schlossbibliothek), aber offenbar auch für andere im selben Raum und zur selben Zeit entstandenen Handschriften gegolten hat. Der Dank der Veranstalter gilt den Leihgebern für die großzügige Überlassung der Originale. Alle Fragmente sind dank des großzügigen Einverständnisses der Leihgeber in digitalisierter Form einsehbar unter folgender Adresse: www.urmel-dl.de/SonstigeProjekte/JenaerLiederhandschrift.html Die Katalogisate der Ausstellung, die im Folgenden erweitert und durch Literaturangaben ergänzt dokumentiert werden, stammen von Wolfgang Beck, Christoph Fasbender, Jens Haustein und Franz Körndle. Für eine Durchsicht unserer Texte danken wir Karin Schneider und für viele freundliche und kluge Hinweise Gisela Kornrumpf. J.H.
Dillingen, Studienbibliothek, XV Fragm. 19 ›Jenaer Liederhandschrift‹ (›Wartburgkrieg‹) Um 1330 – Md./Nd. – Pergament – 1 Blatt – Blattgröße 418 × 240–256 (beschnitten; ursprünglich: 560 × 410, Schriftspiegel ursprünglich 380 × 300) – zweispaltig. Textumfang: 10 teils beschnittene Strophen aus dem Anfangsteil des ›Rätselspiels‹; Schlusszeile einer elften, Beginn einer zwölften Strophe (Fortsetzung J fol. 133r); stark berieben. Das aus J stammende Blatt wurde 1917 von Alfred Schröder entdeckt, der zwar erkannte, dass es sich um Strophen aus dem ›Rätselspiel‹ des ›Wartburgkrieges‹ handelt, nicht aber die Herkunft aus J. Es bildete dort einst das hintere Blatt des zwischen fol. 132 und fol. 133 fehlenden Doppelblattes. Im weiteren Verlauf diente es als Einband – daher auch die für diesen Zweck übliche Beschneidung aller vier Ecken – für eine Sammlung von 19 protestantischen Traktaten und Schriften, die zwischen 1546 und 1603 gedruckt wurden. Der Sammelband (Dillingen, Studienbibliothek, VI, 893) war vermutlich ursprünglich Bestandteil der Bibliothek des Lauinger Gymnasiums illustre, von wo aus er in das nahe gelegene Dillingen gelangte. Ganz unklar ist, wann das Blatt herausgeschnitten wurde. Nimmt man an, dass dies geschah, bevor die Lagen von J zum ersten Mal gebunden wurden, also vor 1541, bleibt offen, wo sich das Blatt vor der Verwendung als Einband des Dillinger Sammelbandes, die nicht vor 1603 liegen kann, befunden hat. Hinweise auf eine frühere Benutzung als Einband gibt es jedenfalls nicht. Von den rund 20 Strophen, die mit dem Doppelblatt zwischen fol. 132 und 133 fehlen, ist damit rund die Hälfte der Strophen wieder zugänglich. Das Blatt überliefert in der ersten und dem Anfang der zweiten Spalte eine in C (›Manessische Liederhandschrift‹) und L (›Lohengrin‹) an anderer Stelle des ›Rätselspiels‹ integrierte Szene, in der der Teufel Nasion Wolframs Astronomiekenntnisse prüfen will. Es folgen vier Einzelstrophen,
Fragmente aus dem Umfeld der ›Jenaer Liederhandschrift‹
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von denen drei bislang nur aus C bekannt waren; die vierte, hier leider schwer lesbare Strophe, ist sonst unbekannt. Den Schluss bilden drei Strophen, in denen Klingsor ein Rätsel stellt, das Wolfram im Anschluss (auf fol. 133) lösen kann. Literatur: Klein/Lomnitzer (1995); Die mittelalterlichen Handschriften der Studienbibliothek Dillingen, beschrieben von Elisabeth Wunderle. Wiesbaden 2006, S. 440f.
J.H. * * *
Basel, Universitätsbibliothek, N I 3, Nr. 145 Kelin, Boppe, Fegfeuer, ›Wartburgkrieg‹ 1. Hälfte 14. Jh. – Md./Nd. – Pergament – 4 Doppelblätter – Blattgröße 283 × 210, Schriftspiegel ca. 200 × 145 – zweispaltig mit 38 Zeilen, Strophen abgesetzt – mit Noten. Textumfang: Kelin, Ton I, Str. 1–9; Ton II, Str. 1–4; Ton III, Str. 1–2; Boppe, Hofton, Str. 11, 13, 18, 27–29; Fegfeuer, Ton I, Str. 1–7; ›Wartburgkrieg‹: ›Fürstenlob‹, Str. 7–21, ›Rätselspiel‹, Str. 2–7 und 8–17. Die Fragmente einer Liederhandschrift aus dem 14. Jahrhundert dienten bis zur Entdeckung durch Rudolf Wackernagel im 19. Jahrhundert als Einbände für Akten der Basler Dompropstei aus dem Jahr 1577. Die starken Übereinstimmungen zwischen J und dem Basler Fragment (Ba) könnten auf eine gemeinsame Vorlage zurückgehen. Die auf fol. 1r–2v aufgezeichneten Strophen sind in J »Meister Kelyn« zugewiesen, von den sechs Strophen auf fol. 3r–3v ist 4 auch in J (fol. 113v) als Nachtragsstrophe unter »Meister Poppe« zu finden. Die vierzig Strophen des ›Wartburgkrieges‹ (Ba, fol. 5r–8v) ohne musikalische Notation stehen in J auf fol. 124v–127r und 129r–131r. Während J durchgehend die Nota quadrata verwendet, ist Ba in gotischer Notation (Hufnagelschrift) aufgezeichnet. Dennoch sind die Melodien vollkommen identisch. Literatur: Ludwig Sieber und Karl Bartsch: Bruchstücke einer Minnesängerhandschrift. In: Germania 25 (1880), S. 72–80; Bartsch (1923), S. 47–51; Tervooren/Müller (1972), S. 5; Abb. im Anhang; Wangenheim (1972), bes. S. 1–29; Alex (1998), S. 10, 165, 186f.; Lug (2000), bes. S. 32–36.
F.K.
Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. qu. 981 ›Magdeburger Frühlingslied‹ (Ich sezte minen vuz) 14. Jh. – Md./Nd. – Pergament – 1 Blatt – Blattgröße 220 × 160, Schriftspiegel 160 × 105 – einspaltig mit 8 bzw. 14 Zeilen, Strophen abgesetzt – mit Noten. Textumfang: Zwei Liedstrophen (unvollständig).
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Fragmente aus dem Umfeld der ›Jenaer Liederhandschrift‹
Das im ehemals Königlichen Provinzialarchiv von Magdeburg durch den Archivar Stock aufgefundene und über das Berliner Staatsarchiv an die Königliche Bibliothek zu Berlin (heute SBB-PK) gelangte Pergamentblatt diente als Umschlag einer Rechnung des Amtes Jüterbog (Brandenburg) und wurde zuerst von Friedrich Wiggert (1832) abgedruckt. Es überliefert annähernd zwei Liedstrophen eines Anonymus, die seit ihrer Bekanntmachung als Anfang eines Frühlingsliedes bezeichnet werden. Sie weisen ein bemerkenswert kompliziertes metrisches Schema auf. Die erste Strophe ist darüber hinaus mit einer an Melismen reichen Melodie in gotischer Neumenschrift mit Metzer Einschlag vollständig neumiert. Die kolometrische Darstellung des Strophenbaus durch den Wechsel der Initialenfarbe zwischen rot und blau, die Auszeichnung des Strophenbeginns durch eine größere Initiale und die Verwendung von Reimpunkten stellt das Fragment in einen Zusammenhang mit der ›Jenaer Liederhandschrift‹ und deren Umkreis, wobei die Systematik nicht ganz so aufwändig ist. Die Schreibsprache, die als ›schriftmitteldeutsch auf niederdeutscher Grundlage‹ (Thomas Klein) charakterisiert wurde, weist trotz gewisser Abweichungen im Detail auch auf diesen Umkreis hin, wenngleich das Lied auch nicht dem Sangspruch, sondern der Liebeslyrik zuzuordnen ist. Möglicherweise stellt es den Beginn einer Pastourelle dar. Literatur: Friedrich Wiggert: Scherflein zur Förderung der Kenntniß älterer deutscher Mundarten und Schriften. Magdeburg 1832, S. 36–38; Kurt Böttcher: Berlin, SBB-PK, Mgq 981. Handschriftenarchiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1914, 2 Blätter; Hermann Degering: Kurzes Verzeichnis der germanischen Handschriften der Preußischen Staatsbibliothek II. Die Handschriften in Quartformat. Leipzig 1926 (Mitteilungen aus der Preußischen Staatsbibliothek VIII), S. 164; Kippenberg (1962), S. 81–83; Tafeln zur Neumenschrift. Mit einer Einführung hg. von Ewald Jammers, Tutzing 1965, S. 138; 2KLD I, S. XXVIIf., 277f. und II, S. 338f.; Tervooren (1983), bes. S. 387–389; Klein (1987), S. 107f.; Christoph März: Frauenlobs Marienleich. Untersuchungen zur spätmittelalterlichen Monodie. Erlangen 1987 (Erlanger Studien 69), S. 4f. und S. 22–31.
W.B.
Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Hdschr. 401 Reinmar von Zweter (Frau-Ehren-Ton) 1. Viertel 14. Jh. – Md./Nd. – Pergament – Querstreifen eines Doppelblattes – Blattgröße des Doppelblattstreifens 68 × 292 (Schriftspiegel je 110) – einspaltig mit 11 erhaltenen Zeilen, Strophen abgesetzt. Textumfang: 8 Strophen, davon eine bislang unbekannt (Roethe Nr. 25 [Schluß fehlt], 39 [Anfang fehlt], 54 [nur Anfang], 99–100 [Anfang der ersten und Schluss der zweiten Strophe fehlen], 199 [nur Schluss des letzten Verses], 219 [Anfang fehlt]; die bislang unbekannte Strophe: RSM 1ReiZw/1/248, nur vv. 1–5). Die Herkunft des Fragments ist unbekannt. Als es 1983 veröffentlicht wurde, gehörte es Beate Buchholz (Bonn); 1993 wurde es von der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz erworben.
Fragmente aus dem Umfeld der ›Jenaer Liederhandschrift‹
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Die Handschrift, die durch das Fragment bezeugt ist, war einspaltig geschrieben. Die Strophen sind abgesetzt und durch eine zweizeilige Initiale markiert. Das Versende ist durch Reimpunkt hervorgehoben, der Versanfang durch eine Majuskel mit Zierstrich. Die Strophenteile sind durch größere Majuskeln gekennzeichnet, was auf eine genaue Kenntnis des Strophenbaus schließen lässt. Möglicherweise waren in dieser Handschrift alle Strophen mit Autornamen versehen (vgl. fol. 1r; fol. 2r). Die dialektal nicht sonderlich ausgeprägte Schreibsprache zeigt neben nieder- wie hochdeutschen Formen auch solche, die für das Mitteldeutsche der ›Jenaer Liederhandschrift‹ kennzeichnend sind (vĤr- / vur- für ver-). Überlieferungshistorisch gesehen ist das Fragment deshalb bedeutsam, weil es neben dem deutlich jüngeren ›Möserschen Fragment‹ (Berlin, Staatsbibl. zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. qu. 795), der dialektal weiter nördlich stehenden Leipziger Liederhandschrift (Leipzig, Universitätsbibl., Rep. II 70a) und dem niederdeutschen Göttinger Bruchstück (Göttingen, Nieders. Staats- und Universitätsbibl., Cod. Ms. Müller I,4) eine Reinmarrezeption im (nd.-)md. Raum bezeugt. Es ist sogar vermutet worden, dass die durch das Fragment bezeugte Handschrift Reinmar speziell im md. Norden, etwa am Hof der Askanier, vertreten haben könnte (Tervooren). In jedem Fall könnte das Berliner Fragment, mit dem Soester Frauenlob-Fragment, in der Schreibsprache, der Stropheneinrichtung und anderen kodikologischen Charakteristika eine Gruppe von Handschriften repräsentieren, die, so Tervooren, »interessante Vorstufen« zu J bilden, »zwar weniger kostbar ausgestaltet«, aber »in Anlage und Schreibkonvention« J vorbereitend. Die sieben bereits durch andere Handschriften bekannten Strophen thematisieren für Reinmar Typisches (Minne-, Frauen- und Tugendlehre; geistliche Ermahnung). Die nur hier erhaltenen Verse der achten Strophe schildern den Eingang des Weihnachtswunders. Literatur: Tervooren (1983); Tilo Brandis: Mittelalterliche deutsche Handschriften. 25 Jahre Neuerwerbungen der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. In: Hans-Jochen Schiewer und Karl Stackmann (Hg.): Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften […]. Tübingen 2002, S. 303–335, bes. S. 312 und 324.
J.H.
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Fragmente aus dem Umfeld der ›Jenaer Liederhandschrift‹
(1) (2) (3) (4)
Gotha, Forschungs- und Universitätsbibliothek Erfurt/Gotha, Memb. I 130 Gotha, Forschungs- und Universitätsbibliothek Erfurt/Gotha, Memb. I 133 Sondershausen, Schlossmuseum, Germ. lit. 2 (olim Hs.-Br. 3) Weimar, Thüringisches Hauptsstaatsarchiv, Ernestinisches Gesamtarchiv, Reg. V, 1
Wolfram von Eschenbach, ›Parzival‹; ›Segremors‹ Um 1330 – Md. – Pergament – Doppelblatt Gotha 444 × 345 – Doppelblatt Gotha 475 × 367 – Doppelblatt Sondershausen 465 × 355 – Blatt Weimar 437 × 330. Textumfang: ›Parzival‹ Buch I, 15, 13 – 24, 26 (Gotha); Buch I, 48, 27 – 52, 20; Buch II, 63, 9 – 68, 2 (Sondershausen); ›Segremors‹ (Gotha: 288 Verse; Weimar: 144 Verse). Im 19. Jahrhundert wurden nach und nach Blätter einer großformatigen Epenhandschrift entdeckt, die in den Jahren um 1540 makuliert und gemäß ihren Aufschriften zu Bindearbeiten teils im Amt Arnstadt (Nr. 3), teils im Amt Wachsenburg nahe Arnstadt (Nr. 1, 2, 4) verwendet worden waren. Diese Handschrift enthielt außer dem ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach den anonymen ›Segremors‹, eine wohl in Thüringen entstandene Sprossdichtung um eine arthurische Nebenfigur. Die Epenhandschrift wurde als »Schwesterhandschrift« der ›Jenaer Liederhandschrift‹ (J) angesprochen, da sie die nämlichen Ausstattungsmerkmale (Format, Layout, Schrift) aufweist. Es gilt als ausgemacht, dass beide Handschriften wenn nicht von dem selben Hauptschreiber, so doch von dem selben Skriptorium angefertigt wurden. Im Gegensatz zu den J-Strophen, die fortlaufend notiert wurden, sind die Verse der Epenhandschrift jedoch abgesetzt, wie es seit dem frühen 13. Jahrhundert Brauch wurde; Reimpunkte markieren die Versenden. Durch die Ausrückung des Anverses erscheint das Verspaar als Einheit. Rote und blaue Initialen mit einer feinen Fleuronnée-Füllung wechseln regelmäßig. Das ausgewogene, transparente Layoutkonzept findet sich im ausgehenden 13. und frühen 14. Jahrhundert bevorzugt in ostbairischen, österreichischen und böhmischen Handschriften. Die offenkundige Nähe zu J erleichterte die genauere Einordnung der Epenhandschrift nur bedingt, übernahm man doch von hier mitunter widersprüchliche Angaben zum Schreibdialekt. Attestierte man J stets einen niederdeutschen Einfluss, galt für die Epenhandschrift durchweg ostmitteldeutsche, näherhin thüringische Färbung (Bonath / Lomnitzer). Entstehungs- und Aufbewahrungsort der Epenhandschrift vor 1540 sind unbekannt. Der Codex dürfte allerdings nicht allzu weit vom Ort seiner Makulierung gelagert haben. Liturgische, juristische und theologische Fragmente, die seit 1535/36 in Arnstadt als Einbände verwendet wurden, entstammen überwiegend den 1533 bzw. 1538 aufgehobenen Arnstädter Klöstern, die sich im Herrschaftsbereich der Grafen von Schwarzburg befanden. Das Sondershäuser Doppelblatt des ›Parzival‹ wurde 1889 von zwei Heimatforschern, dem Gymnasiallehrer Prof. Emil Einert und dem Archivrat Hermann Schmidt, im Regierungsarchiv Arnstadt als Umschlag einer Rechnung des Amtes Arnstadt (1540–1541) entdeckt, abgelöst und 1890 von Otto Behaghel der Fachwelt angezeigt. Behaghel fiel auch die Zusammengehörigkeit mit dem 1868 von Franz Pfeiffer publizierten Gotha-
Fragmente aus dem Umfeld der ›Jenaer Liederhandschrift‹
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er Doppelblatt auf. Er notierte die Lesarten des Sondershäuser Bruchstücks und setzte sie ins Verhältnis zum (unvollständigen und unzuverlässigen) Apparat von Lachmanns ›Parzival‹-Ausgabe. Gemeinsam tragen die Bruchstücke die Sigle h und gehören zur Handschriftenklasse *D. Mit der alten und wichtigen *D-Klasse teilt das Gothaer Bruchstück die Auslassung der Verse 17, 1–2. Vor 18, 17 befindet sich ein gereimter Titulus (hie tĤt diz mere kvnt / Aventivre von patelamunt). Der zusammenhängende Text des Sondershäuser Fragments ist noch unveröffentlicht. Beide Fragmente stammen vom mutmaßlichen Anfang der Handschrift. Das Bruchstück aus Gotha war das innere Doppelblatt wohl des ersten, das aus Sondershausen das dritte Doppelblatt des zweiten Quaternio. Sie enthalten längere Abschnitte aus den beiden ersten Büchern des ›Parzival‹, die die Geschichte Gahmurets, des Vaters des Titelhelden, erzählen. Die beiden Bruchstücke des nur fragmentarisch erhaltenen Artusromans ›Segremors‹ (Mitte 13. Jh.) befanden sich an Aktenmaterial, das hauptsächlich Rechnungen des Amtes Wachsenburg bei Arnstadt von 1543 bzw. aus dem »16./17. Jh.« umfasst. Die Wachsenburg war im 16. Jahrhundert Sitz eines landesfürstlichen Amtes, das auch für die Führung der Türkensteuerverzeichnisse zuständig war (vgl. Schiewer, S. 230). Die Fragmente wurden rasch nacheinander bekannt gemacht (Gotha: 1859; Weimar: 1860). Zieht man das heute in Krakau befindliche ›Segremors‹-Fragment Ms. germ. qu. 662 (um 1300, md.; 139 Verse) hinzu, besitzen wir also nicht mehr als 571 Verse eines Romans, der leicht das 20fache an Umfang aufgewiesen haben könnte. Die Überlieferungslage legt eine mitteldeutsche, näherhin thüringische Entstehung des Romans, der sich im Grundsätzlichen an den ›Meraugis de Portlesguez‹ Raouls de Houdenc (um 1215) hält, nahe. Bei einem anzunehmenden Umfang von zwischen 80 und 90 Blättern wäre die Überlieferungsgemeinschaft mit dem ›Parzival‹, der knapp 170 Blätter benötigte, trotz des beachtlichen Formats noch keine Unmöglichkeit. Literatur: Karl Regel: Bruchstücke eines Gedichts aus dem Kreise der Artussage. In: ZfdA 11 (1859), S. 490–500; Reinhold Köhler: Bruchstücke eines Gedichts aus dem Artuskreise. In: Germania 10 (1860), S. 461–463; Otto Behaghel: Arnstädter Bruchstücke II. Bruchstück des Parzival. In: Germania 35 (1890), S. 388–390; Schiewer (1988); Gesa Bonath und Helmut Lomnitzer: Verzeichnis der Fragment-Überlieferung von Wolframs Parzival. In: Studien zu Wolfram von Eschenbach, hg. von Kurt Gärtner und Joachim Heinzle. Tübingen 1989, bes. S. 98–100; Schlossmuseum Sondershausen. Handschriften- und Inkunabelfragmente, hg. von Gerlinde Huber-Rebenich und Christa Hirschler. Sondershausen 2004, S. 131 und Abb. 33; Matthias Herweg: ›Segremors‹. In: bescheidenheit. Deutsche Literatur des Mittelalters in Eisenach und Erfurt. Gotha 2006, S. 84f.
Ch.F.
Krakau, Bibliothek JagielloĔska, Berol. Ms. germ. oct. 682 Walther von der Vogelweide 1. Viertel 14. Jh. – Md./Nd. – Pergament – 2 Doppelblätter – Blattgröße 210 × 130, Schriftspiegel 175–185 × 110–115 – einspaltig mit 27 und 29 Zeilen, Strophen abgesetzt. Textumfang: Cormeau Nr. 26, 85, 35, 29, 88, 42, 94 (fol. 3–4); 21, 20, 106, 44, 37 (fol. 1–2).
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Fragmente aus dem Umfeld der ›Jenaer Liederhandschrift‹
In einer Sammlung orientalischer Handschriftenreste, die von Einbänden abgelöst wurden, entdeckte Hermann Degering 1931 die zwei Pergamentdoppelblätter mit Liedern Walthers von der Vogelweide, die in der Forschung die Sigle O erhalten haben. Die insgesamt 44 Strophen (davon 8 unvollständig) ohne Verfassernennung werden in anderen Handschriften Walther von der Vogelweide zugeschrieben und gehören zu 12 Minneliedern. Fünf Strophen (Cormeau 106), die im Hausbuch Michaels de Leone zu Walthers Œuvre zählen, werden in der ›Manessischen Liederhandschrift‹ Walther von Mezze, vier davon in der ›Kleinen Heidelberger Liederhandschrift‹ dem Truchsess von St. Gallen, Ulrich von Singenberg, zugeschrieben. Die Anbindung an den Umkreis der ›Jenaer Liederhandschrift‹ ist nicht unmittelbar gegeben: die beiden Doppelblätter sind früher zu datieren, bieten keine Melodieüberlieferung und stellen insgesamt mit der flüchtigen Buchschrift und spärlichen blauen Verzierungen einen eher kunst- und anspruchslosen Überlieferungsträger dar. Die Strophengliederung erinnert von der Systematik, nicht von der konkreten Ausführung her, an die der ›Jenaer Liederhandschrift‹. Hinsichtlich der Schreibsprache erweist sich das Fragment als niederdeutsche Abschrift einer wohl ostmitteldeutsch/thüringischen Vorlage. Insofern bezeugt sie mittelbar das Vorhandensein lyrischer Überlieferung für einen regionalen Raum, in dem die ›Jenaer Liederhandschrift‹ entstanden ist. Literatur: Aloys Bömer: Entdeckung einer neuen Walther-Handschrift. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 48 (1931), S. 575; Carl von Kraus: Berliner Bruchstücke einer Waltherhandschrift. In: ZfdA 70 (1933), S. 81–120; Hermann Degering: Die gotische Schrift in deutschsprachigen Handschriften. Handschriften des 13. Jahrhunderts. In: Die zeitgemäße Schrift 40 (1937), S. 3–10; Karl Lachmann (Hg.): Die Gedichte Walthers von der Vogelweide, 13., aufgrund der 10. von Carl von Kraus bearbeiteten Ausgabe neu hg. von Hugo Kuhn, Berlin 1965, S. XXIX; Horst Brunner, Ulrich Müller und Franz Viktor Spechtler (Hg.): Walther von der Vogelweide. Die gesamte Überlieferung der Texte und Melodien. Abbildungen, Materialien, Melodietranskriptionen. Göppingen 1977 (Litterae 7), S. 38*f.; Klein (1987), S. 107; 2KLD I, S. XXVIIIf.; Kornrumpf (1988), bes. S. 44f.; wieder in Kornrumpf (2008), bes. S. 190f.; Max Schiendorfer (Hg.): Die Schweizer Minnesänger. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch neu bearbeitet und hg. Band. 1: Texte, Tübingen 1990, S. XXXVIII; Christoph Cormeau (Hg.): Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche, 14., völlig neubearbeitete Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns. Berlin 1996, S. XXXVIf.; Kornrumpf (2008), S. 95f., 98, 286f. und Abb. 1–8.
W.B.
Münster, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen / Staatsarchiv, Msc. VII, 51 Walther von der Vogelweide 1. Hälfte 14. Jh. – Md./Nd. – Pergament – 1 Doppelblatt – Blattgröße ca. 225 × 145, Schriftspiegel 172 × 110 – zweispaltig mit 42 Zeilen, Strophen abgesetzt – mit Noten. Textumfang: Cormeau Nr. 115, I–III; Nr. 7, I II XII III–VIII X IX XI; Nr. 11, I XV XIV IX XVII XII VII IV; Nr. 11a; Nr. 8b. Bei der Inventarisierung des Archivs des südwestfälischen Adelsgeschlechtes von Romberg entdeckte der Münsteraner Archivrat Merx um 1910 ein Pergamentdoppelblatt, das quergefaltet als Umschlag für Kornabrechnungen des Rotger von Diepenbrock aus dem
Fragmente aus dem Umfeld der ›Jenaer Liederhandschrift‹
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Jahre 1522 diente (Rombergsches Archiv, Haus Buldern, Akten Nr. 865). Das Pergamentdoppelblatt, das nicht das innerste Doppelblatt einer Lage bildet, entstammt der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Das zweispaltige Doppelblatt überliefert neben 26 WaltherStrophen (Sigle Z) auch eine vollständige (Palästinalied) und drei fragmentarische Strophen-Melodien (zu Cormeau 115; zweiter Stollen des König-Friedrich-Tones; erster Stollen des Zweiten Philippstones) in gotischer deutscher Choralnotation und bildet damit die »wichtigste Quelle für Melodien Walthers« (Horst Brunner). Die auf fünf Notenlinien notierten Melodien sind mit einem c-Schlüssel und einem f-Schlüssel versehen, dies erlaubt die Bestimmung der Tonhöhe; der Rhythmus indes lässt sich nicht rekonstruieren. Strophenanfänge sind durch rote Lombarden, Stollenanfänge und Abgesangsanfänge wenigstens teilweise durch rote Majuskeln markiert, damit ist das kolometrische System insgesamt etwas weniger aufwändig als das der ›Jenaer Liederhandschrift‹. Die nicht abgesetzt notierten Verse werden durch rot durchstrichelte schwarze Majuskeln markiert. Inhaltlich bietet das Fragment das Palästinalied, sowie Spruchdichtung im KönigFriedrich-Ton und im Zweiten Philippston. Fünf Walther-Strophen sind in diesem Fragment unikal überliefert. Die anderthalb Zeilen Daz eyme wol getzogenen man / Tzvr werl[...] unter der Autorennennung Meyster Reymar lassen sich weder Reinmar dem Alten noch Reinmar von Zweter zuweisen. Die Handschrift wurde nach geläufiger Forschungsmeinung in mitteldeutscher Schreibsprache von einem vermutlich westfälischen Schreiber niedergeschrieben (Thomas Klein), der sich möglicherweise verschiedener Vorlagen bediente. Der Sprachstand von Z2 erinnert auf den ersten Blick an den der ›Jenaer Liederhandschrift‹, die Übereinstimmungen seien nach Karl Bartsch derart auffallend, dass »dieses Blatt ohne weiteres in J stehen könnte«. Mit J teilt das Münstersche Fragment zudem ein Überlieferungsinteresse an Spruchdichtung. Dass das Münstersche Fragment allerdings aus einer verlorengegangenen Liederhandschrift stammt, wie öfters behauptet wird, lässt sich bezweifeln: Seiteneinrichtung und buchbinderische Verarbeitung legen nahe, dass das Doppelblatt aus einer Handschrift stammt, die auch Konrads von Würzburg ›Goldene Schmiede‹ (Münster, Staatsarchiv, Msc. VII 2d Nr. 29) überlieferte. Literatur: Franz Jostes: Bruchstück einer Münsterschen Minnesängerhandschrift mit Noten. In: ZfdA 53 (1912), S. 348–357; Kurt Plenio: Bausteine zur altdeutschen Strophik. In: PBB 42 (1917), S. 411–502, bes. S. 455–479; Bartsch (1923), S. 51; Horst Brunner, Ulrich Müller und Franz Viktor Spechtler (Hg.): Walther von der Vogelweide. Die gesamte Überlieferung der Texte und Melodien. Abbildungen, Materialien, Melodietranskriptionen. Göppingen 1977 (Litterae 7), S. 44*; Klein (1987), S. 90–92; Voetz (1988), S. 263f. mit S. 575f.; Klaus Siewert: Mittelalterliches Deutsch in Münster. Handschriften, Handschriftenfragmente, Frühdrucke. Münster 1991 (Schriften der Universitätsbibliothek Münster 6), S. 53–60; Ulrich Seelbach: Ein Münsterer Fragment von Konrads von Würzburg ›Goldener Schmiede‹. In: ZfdA 124 (1995), S. 303–318, bes. S. 303–305.
W.B.
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Fragmente aus dem Umfeld der ›Jenaer Liederhandschrift‹
Soest, Stadtarchiv und Wissenschaftliche Stadtbibliothek, Fragm. 157 (ausgelöst aus Bd. 5 Ee 8.10) Frauenlob (Langer Ton) 1. Viertel 14. Jh. – Md./Nd. – Pergament – 1 Blatt – Blattgröße 322 × 223; Schriftspiegel 233 × 178 – zweispaltig mit 36 Zeilen, Strophen abgesetzt. Textumfang: GA V,37 ab v. 11; V,30–32; V,43–45; V,102–104 (V,104 nur bis v.5). Das Blatt wurde als Einband für zwei Lübecker Drucke aus den Jahren 1550 und 1551 benutzt, die sich laut Einträgen auf den Titelblättern im Besitz von Thomas Schwartz befanden. Dieser war, nachdem er geistliche Ämter in der Nähe Lübecks inne gehabt hatte, 1555 in seine Heimatstadt Soest zurückkehrt. Mit der Bibliotheca Ministerii Susatensis, der der Sammelband nach dem Tod von Schwartz gehört hatte, gelangte er in das Stadtarchiv Soest. Das nur leicht beschnittene Blatt wird auf um oder bald nach 1300 datiert, könnte also noch zu Lebzeiten Frauenlobs († 1318) entstanden sein. Die Schreibsprache gilt wie die von J als Schriftmitteldeutsch auf niederdeutscher Grundlage. Zudem sind im Soester Fragment (Sigle A) wie in J die Strophenanfänge durch große Initialen gekennzeichnet, die Anfänge der zweiten Stollen und der Abgesänge durch rote oder blaue kleinere Initialen. Auch in diesem Fall muss der Schreiber also eine genaue Vorstellung vom Strophenbau gehabt haben. Darüber hinaus auffällig ist, dass das Soester Fragment die zehn Frauenlob-Strophen in etwa derselben Reihenfolge und einer vergleichbaren Gruppierung wie J überliefert. So hebt sich etwa die Dreiergruppe V,30–32 mit ihrem Lob der Ritterschaft, aber auch der Mahnung an diesen Stand, nicht die Dörperheit in ihr Gefolge aufzunehmen, hier wie dort erkennbar von ihrer Strophenumgebung ab. Vergleichbares gilt für die Gruppe V,43–45, in der es um die Voraussetzungen des Fürstenlobs geht, und wohl auch für V,102–104, die Fragen der Namengebung und Etymologie behandelt. Dieser wohl mehr als zufälligen Nähe in der Zuordnung der Strophen stehen eigenartigerweise erhebliche Differenzen in den Lesarten entgegen. Im Fall von V,31, der einzig vollständigen Strophe, die in C (›Manessische Liederhandschrift‹) und A überliefert ist, gehören sogar das Soester Fragment und C erkennbar gegen J zusammen (vgl. o. S. 78). Literatur: Heinrich von Meißen gnt. Frauenlob († 1318), 10 Sprüche, bearbeitet von Norbert Eickermann. In: Westfälische Quellen im Bild. Beilage zu ›Archivpflege in Westfalen und Lippe‹ 4, 1973; Stackmann/Bertau (1981), S. 135f.; Klein (1987), S. 94; Die mittelalterlichen Handschriften der Wissenschaftlichen Stadtbibliothek Soest. Beschrieben von Bernd Michael. Mit einem kurzen Verzeichnis der mittelalterlichen Handschriftenfragmente von Tilo Brandis. Wiesbaden 1990, S. 264.
J.H.
Sondershausen, Schlossmuseum, Germ. lit. 2 (olim Hs.-Br. 3) siehe Gotha
Fragmente aus dem Umfeld der ›Jenaer Liederhandschrift‹
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Weimar, Thüringisches Hauptstaatsarchiv, Ernestinisches Gesamtarchiv, Reg. V, 1 siehe Gotha
Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. 404.9 (11) Novi Rumelant (von Sachsen) 2. Viertel 14. Jh. – Md./Nd. – Pergament – 2 Streifen eines Doppelblattes – Gesamtgröße des erhaltenen Ausschnitts 145 × 204 – zweispaltig – Notenlinien. Textumfang: Ton IV: 7–8, 14–18; Ton V: 2–3 (jeweils fragmentarisch). Der Wolfenbütteler Bibliothekar Otto von Heinemann fand bei seinem Amtsantritt eine größere Anzahl von Fragmenten vor, die frühere Bibliothekare aus Einbänden gelöst hatten. Sie wurden geordnet und in eine neue Signaturengruppe, die classis nova, eingruppiert. Unter den deutschsprachigen Fragmenten erwiesen sich zwei Pergamentstreifen mit Sangsprüchen Rumelants als zusammengehörig. Die beiden Streifen, die als Einbandmaterial für einen nicht mehr identifizierbaren Codex dienten, ergeben zusammen die untere Hälfte eines Doppelblattes. Die Einrichtung des zweispaltigen Textes in gotischer Buchschrift mit roten Überschriften, roten und blauen Initialen, nicht abgesetzten Versen, dafür aber Reimpunkten sowie auf fol. 2v mit vier Notenlinien (so auch in der ›Jenaer Liederhandschrift‹), jedoch ohne Noten, weist auf eine Liederhandschrift hin. Ein Autorname ist nicht überliefert, er wird möglicherweise am Beginn des Liedcorpus verzeichnet gewesen sein. Schon Karl Bartsch sah eine enge Verwandtschaft des Fragments mit der ›Jenaer Liederhandschrift‹ und vermutete, beide Überlieferungsträger seien »von einander unabhängige Abschriften derselben Vorlage«. Sie sind ungefähr gleichzeitig zu datieren und stimmen zudem in der Reihenfolge der Strophen überein. Die Ähnlichkeit der Wolfenbütteler Fragmente mit der ›Jenaer Liederhandschrift‹ manifestiere sich auch in der Schreibsprache, wobei das Wolfenbütteler Fragment weniger niederdeutsche Graphien aufweist als J. Ein Zusammenhang ergibt sich auch durch die hier tradierte Gattung der Spruchdichtung; zudem sind beide Überlieferungsträger relativ zeitnah zur Wirkungszeit und auch lokal nah an den Herkunftsraum und Wirkungsraum des Dichters zu setzen. Literatur: Otto von Heinemann: Aus zerschnittenen Wolfenbüttler Handschriften. In: ZfdA 32 (1888), S. 69–123, bes. S. 84–87; Bartsch (1923), S. 95; Hans Butzmann: Die mittelalterlichen Handschriften der Gruppen Extravagantes, Novi und Novissimi. Frankfurt am Main 1972 (Kataloge der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 15), S. 317; Holger Runow: Untersuchungen zu den mehrfach überlieferten Strophen Meister Rumelants. Magisterarbeit (masch.). Göttingen 2002, S. 28f.
W.B.
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Verzeichnis abgekürzt zitierter Literatur
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Verzeichnis abgekürzt zitierter Literatur
Müller s. Tervooren/Müller (1972) Müller-Blattau s. Moser/Müller-Blattau (1968) Myller (1784/1785) – Samlung deutscher Gedichte aus dem XII. XIII. und XIV. Iahrhundert, hg. von Christoph Heinrich Myller. Bd. 1. Berlin 1784. Bd. 2. ebd. 1785. Bd. 3 (nur 2 Lieferungen). ebd. 1786 o. 1787. Objartel (1977) – Der Meißner der Jenaer Liederhandschrift. Untersuchungen, Ausgabe, Kommentar, hg. von Georg Objartel. Berlin 1977 (Phil. Stud. u. Quellen 85). Pensel (1986) – Franzjosef Pensel: Verzeichnis der altdeutschen und ausgewählter neuerer deutscher Handschrift der Universitätsbibliothek Jena. Berlin 1986 (DTM 70,2), S. 307–324. Pickerodt-Uthleb (1975) – Erdmute Pickerodt-Uthleb: Die Jenaer Liederhandschrift. Metrische und musikalische Untersuchungen. Göppingen 1975 (GAG 99). Reichert s. ²Kuhn/Reichert (1962) Rettelbach (1993) – Johannes Rettelbach: Variation – Derivation – Imitation. Untersuchungen zu den Tönen der Sangspruchdichter und Meistersinger. Tübingen 1993 (Frühe Neuzeit 14). Ribera (1923/25) – La música andaluza medieval en las canciones de trovadores, troveros y minnesinger. 3 Bde., hg. von Julián Ribera. Madrid 1923–25, Bd. 3: 90 canciones de los minnesinger del códice de Jena (25 armonizadas). Richter (1980) – Lukas Richter: Spruch und Lied. Zum Melodiestil des Wilden Alexander. In: Jahrbuch Peters 1979 (Leipzig 1980), S. 209–230. Riemann (1902) – Hugo Riemann: Die Melodik der Minnesinger. In: Musikalisches Wochenblatt 33 (1902), S. 429f., 441–444, 457f., 469–471. Rompelman (1939) – Der Wartburgkrieg, kritisch hg. von T.[om] A.[lbert] Rompelman. Amsterdam 1939. RSM – Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts, hg. von Horst Brunner und Burghart Wachinger. 16 Bde. Tübingen 1986–2009. Saran (1902) – Franz Saran: Zu den Liedern der Jenaer Handschrift. In: PBB 27 (1902), S. 191–199. Saran s. Bernoulli/Saran Schiewer (1988) – Hans-Jochen Schiewer: Ein ris ich dar vmbe abe brach / Von sinem wunder bovme. Beobachtungen zur Überlieferung des nachklassischen Artusromans im 13. und 14. Jahrhundert. In: Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985, hg. von Volker Honemann und Nigel F. Palmer. Tübingen 1988, S. 222–278. Schneider (1941) – Erwin Schneider: Spruchdichtung und Spruchdichter in den Handschriften J und C. In: ZfdPh 66 (1941), S. 16–36. Schulze (1989) – Joachim Schulze: Ein bisher übersehenes Kontrafakt in der Jenaer Liederhandschrift? In: ZfdPh 108 (1989), S. 405f. Schütz (1981) – Wolfgang Schütz: »Ein Aldt Meister GesangBuch auff Pergamen« – Die ›Jenaer Liederhandschrift‹ in der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek. In: Reichtümer und Raritäten. Bd. II: Kulturhistorische Sammlungen, Museen, Archive, Denkmale und Gärten der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Jena 1981, S. 93–101. Seagrave s. Thomas/Seagrave (1967) Seydel (1892) – Wolfgang Seydel: Meister Stolle nach der Jenaer Handschrift. Diss. phil. Leipzig 1892. Simrock (1858) – Der Wartburgkrieg, hg., geordnet, übersetzt und erläutert von Karl Simrock. Stuttgart/Augsburg 1858. Spechtler/Waechter (2000) – Franz Viktor Spechtler und Hans Waechter: Psalmodie und Sangspruchlyrik. Zu den Melodien des Bruder Wernher. In: Neue Forschungen zur mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung, hg. von Horst Brunner und Helmut Tervooren. Berlin 2000 (ZfdPh 119), Sh., S. 50–58. Stackmann/Bertau (1981) – Frauenlob (Heinrich von Meissen). Leichs, Sangsprüche, Lieder. 2 Teile. Auf Grund der Vorarbeiten von Helmuth Thomas hg. von Karl Stackmann und Karl Bertau. Göttingen 1981 (Abh. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen. Philol.-Hist. Kl., 3. Folge, Nr. 119/120). Taylor (1968) – The Art of the Minnesinger. Songs of the thirteenth century transcribed and edited with textual and musical commentaries by Ronald J. Taylor. 2 vol. Cardiff 1968.
Verzeichnis abgekürzt zitierter Literatur
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Register
1. Namen und Werke Adelung, Friedrich: 186 A. 28, 200 Adelung, Johann Christoph: 200 Agnes von Lindow: 161 Alamire, Pierre: 139 Alblin: 92 Albrecht I. von Sachsen: 150 Albrecht II. von Sachsen-Wittenberg: 158 Albrecht, ›Jüngerer Titurel‹: 155, 203, 254 Meister Alexander (Der Wilde Alexander): 31, 33f., 40f., 51 A. 62, 53 u. A. 67 u. 71, 54 A. 74f., 73 A. 187, 86, 88, 93, 101 A. 14, 104, 106, 111f., 114, 209, 219 Alexander von Aphrodisias: 167 Der Alte Meißner: 72 ›Ambraser Heldenbuch‹: 187 A. 39, 194 Anker, Meister: 92 Anna von Sachsen-Wittenberg: 161 A. 25 ›Apokalypse‹, nd.: 154 Appel, Carl: 100 Aristoteles: 167 Arx, Ildefons von: 185, 189 ›Augsburger Cantionessammlung‹: 52 A. 65, 68 A. 153 Augustinus: 167 ›Aurons Pfennig‹: 45 s. auch ›Fürstenlob‹ u. ›Der Wartburgkrieg‹ Authenrieth, Lorenz: 139 Bartsch, Karl: 29, 32–37, 43 A. 17, 52 A. 64, 75, 77, 121, 149, 151, 158, 171f., 251, 267, 269 ›Baseler Liederhandschrift‹: 156 A. 12 Bechstein, Ludwig: 214 Behaghel, Otto: 36f., 264 Benecke, Georg Friedrich: 181, 189, 192–195, 201 Bernoulli, Eduard: 216, 246 Berthold von Henneberg: 143f. Bertschi, Nikolaus: 139 Besseler, Heinrich: 139 Bischoff, Bernhard: 140
Blaufus, Jacob Wilhelm: 217 A. 42, 217, 219, 221, 223, 226f., 229, 235 A. 98 u. 100 Bligger von Steinach: 61 Bodmer, Johann Jacob: 184, 188, 190, 201, 205–207, 209, 211, 213 A. 28, 216–219, 221–224, 226, 227 u. A. 73, 230, 232, 234 Boner, Ulrich: 224–226 Boppe: 31, 34f., 39 A. 3, 41f., 47 A. 46, 50, 51 A. 60, 52, 54–63, 66 u. A. 140 u. 142, 73 u. A. 186, 83f., 86, 93, 209, 219, 252, 259, 261 Bose, Johann Andreas: 169 Brandis, Carl Georg: 165–167, 173 ›Braunschweigische Reimchronik‹: 154 Breitinger, Johann Jakob: 184 u. A. 15, 201, 205f., 209, 213 A. 28, 216–218, 220, 223, 225 u. A. 67, 226 A. 70, 228, 230–232, 235 u. A. 99 Buchholz, Beate: 252, 262 Bünau, Heinrich von: 222, 229 Burdach, Konrad: 183, 197 u. A. 88 Büsching, Johann Gustav: 183, 186, 194, 200, 202f., 212 A. 26 Casparson, Wilhelm Johann Christian Gustav: 201 Celsus, Cornelius: 167 ›Christherre-Chronik‹: 155 Christine de Pizan, ›Buch vom Fechten und von der Ritterschaft‹: 177 ›Codex Argenteus‹: 227 A. 73 Colditz, Alexus: 173 Compter, David: 213 A. 29 Cranach, Lucas, d. Ältere: 168 Crueger, Johannes: 216, 220 A. 50, 225 A. 67, 226 A. 70 Damen, Hermann: 40f., 43f., 51 A. 61, 53 A. 72, 54 A. 75, 57, 66 u. A. 140, 87f., 159, 209, 219 Degering, Hermann: 265
278 Diepenbrock, Rotger von: 266 Docen, Bernhard Joseph: 40, 46, 67, 182, 186f., 200f., 210–212 ›Donaueschinger Liederhandschrift‹: 71 A. 175 Dufay, Guillaume: 139 Eberth, Friedrich: 81 Eccard, Johann Georg: 220 u. A. 50 Edenberger, Lucas: 164f., 207 Edward III. von England: 144 Eghenvelder, Liebhard: 53 A. 70, 95, 111 Ehrenbote: 92 Ehwald, Rudolf: 43 A. 17 Eickhoff, Paul: 215 Eike von Repgow, ›Sachsenspiegel‹: 155, 159 Eilhart von Oberge, ›Tristrant‹: 171 Einert, Emil: 264 Elisabeth von Thüringen: 57 Engelhard, Johann Daniel Wilhelm Eduard: 185 A. 20 Erasmus von Rotterdam: 164 Erich I. von Sachsen-Lauenburg: 144 Ernst I., der Fromme, von Sachsen-Gotha: 172 A. 51 Ernst August II. Constantin von SachsenWeimar-Eisenach: 221 A. 54 Eschenburg, Johann Joachim: 186 Estas: 52 A. 65 Ettmüller, Ludwig: 215 Feddersen, Jacob Friedrich: 235 u. A. 100 Fegfeuer: 41f., 44, 47 A. 46, 48, 51 A. 60 u. 62, 53 A. 73, 54 A. 74, 68, 86, 252, 261 Ferdinand I., deutscher Kaiser: 240 Finck von Finckenstein, Friedrich Ludwig Karl: 211f. Forkel, Johann Nicolaus: 99 Frauenlob: 5 A. 11, 30f., 33–35, 39 A. 3, 40f., 47 A. 44, 48–50, 52–56, 62, 64–69, 71–78, 82, 84–86, 90–92, 94, 96f., 99 A. 1, 101– 103, 107–112, 123, 155, 208, 210–212, 215, 252, 259 u. A. 3, 263, 267f. Freidank, ›Bescheidenheit‹: 201, 210 Freund, Max: 216 Friedrich II., der Ernsthafte, von Meißen: 36, 143f., 161 A. 27, 174 Friedrich III., der Weise, Kurfürst von Sachsen: 150 A. 2, 164, 171 Friedrich von Sonnenburg: 32f., 41, 45f., 47 A. 44, 54f., 57–59, 73 A. 187, 87–89, 96, 211 A. 21, 219, 253 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen: 190 Fuetrer, Ulrich, ›Buch der Abenteuer‹: 256 Füglistaller, Leonz: 185
›Fürstenlob‹: 45, 51 A. 64, 261 s. auch ›Aurons Pfennig‹ u. ›Der Wartburgkrieg‹ Gennrich, Friedrich: 81, 83 A. 10 u. 12, 85 A. 16, 100, 104 A. 27, 247 Gervelin: 33f., 41, 51, 68, 87, 209, 219 Gervinus, Georg Gottfried: 193 A. 70 Gessner, Hans Konrad: 233, 234 A. 91 Gessner, Salomon: 233 Glöckle, Ferdinand: 185, 201f. Goethe, Johann Wolfgang von: 181, 188, 212, 213 A. 29, 240, 244 Goethe, Walther von: 213 A. 29 Goldast, Melchior: 189, 218 A. 44 Der Goldener: 31, 34f., 41, 53–56, 64 u. A. 128, 77, 91, 210, 219 Goldhann, Franz: 185 Görres, Joseph: 185 A. 20, 201f. ›Gothaer Fiebersegen‹: 255 A. 15 ›Gothaer Riesenbibel‹: 255 A. 15 Gottfried von Neifen: 91, 201 Gottfried von Straßburg, ›Tristan‹: 155, 173, 189, 201f., 209, 234, 255 Gottsched, Johann Christoph: 221 u. A. 53, 226 A. 69, 230f., 234 A. 96, 235 Graff, Eberhard Gottlieb: 191 Gregor IX., Papst: 57 Grimm, Jacob: 181–183, 185, 188, 190–193, 200–203, 211, 212 A. 23, 214, 216 Grimm, Wilhelm: 181, 188, 192, 201, 212 Groote, Eberhard von: 189 ›Große Heidelberger Liederhandschrift‹: 44–46, 48 A. 52, 51, 54, 58–64, 66f., 70–72, 76–79, 95, 159, 184, 188–190, 206, 208–212, 214, 218, 224, 234, 246 A. 38, 260, 266, 268 Günther XXI. von Schwarzburg: 143–146, 161 A. 27, 174f. Günther XL. von Schwarzburg: 174 Der Guter: 41, 47 A. 44, 51, 53 A. 71, 88, 92, 96, 219 Hadamar von Laber, ›Die Jagd‹: 202 Hagen, Friedrich Heinrich von der: 56, 57 A. 89, 59 A. 102, 61 A. 113, 182f., 185f., 188–190, 192, 200, 202f., 207, 211–216, 244 Haltaus, Christian Gottlob: 183f. Hamberger, Georg Erhard: 228 Harder, Konrad (Der Harder): 82 A. 8, 91f., 94 Der Hardegger: 61 Hartmann von Aue: 193 A. 200f., 195, 201 ›Gregorius‹: 185 A. 20, 202 ›Der arme Heinrich‹: 200 ›Iwein‹: 193–196, 200
279 Hartung, Johann Wilhelm: 221 Haupt, Moriz: 40 A. 7 Heiland, Hans: 1–4, 14f. Heine, Heinrich: 203 Heinemann, Otto von: 269 Heinrich I. von Anhalt: 159 Heinrich (IV.) von Breslau: 52 A. 65 Heinrich II. von Mecklenburg: 161 Heinrich XXXII. von Schwarzburg: 174 Heinrich von Bünau: 222, 229 Heinrich von Freiberg, ›Tristan‹-Fortsetzung: 209, 255 Heinrich von Hesler, ›Apokalypse‹: 155 Heinrich von Morungen: 95 Heinrich von Mügeln: 53 A. 70, 60, 90f., 93 Heinrich von München, ›Weltchronik‹: 155, 256 Heinrich von Ofterdingen: 41, 50, 66, 84 u. A. 14, 85, 88, 92, 219 Heinrich von dem Türlin, ›Diu Crône‹: 43 A. 15, 155, 254 Heinrich von Veldeke, ›Eneit‹: 202, 227, 234 Helena von Sachsen: 150 Helm, Karl: 43 A. 17 Der Henneberger: 41, 51 A. 61, 86, 89, 208f., 211, 219 Henrici, Emil: 194–196 Herbort von Fritzlar, ›Trojanerkrieg‹: 202 Herder, Johann Gottfried: 99f. Hermes, Karl Heinrich: 213 A. 28 ›Herzog Ernst‹ D: 189 Hirzel, Hans Caspar, d. Ältere: 234 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich: 182, 186f., 191f., 203 Höllefeuer: 33, 41, 70 A. 172, 87, 209, 219 Holz, Georg: 29, 36, 40, 51, 54–57, 59 A. 102, 69, 160, 214–216, 246 Hübner, Alfred: 195 A. 81 Hudemann, Ludwig Friedrich: 226 Hugo von Montfort: 141 Hugo von Trimberg, ›Der Renner‹: 155, 174f. Humboldt, Wilhelm von: 191 Husmann, Heinrich: 100 Jacobsthal, Gustav: 100 Jammers, Ewald: 99, 104f., 108 ›Jenaer Martyrologium‹: 169, 238 A. 5 Johann der Beständige von Sachsen: 164 Johann Friedrich I., Kurfürst von Sachsen: 4, 15, 163f., 168f., 172 A. 51, 173, 175, 178, 208, 218 Johannes von Buch ›Glosse zum Sachsenspiegel Landrecht‹: 146 ›Richtsteig Landrechts‹: 146
Der Junge Meißner: 91 Der Junge Spervogel: 88 A. 19, 95 Der Junge Stolle: 84, 90 Just, Leo: 202 ›Kaiserchronik‹: 189, 191 Der Kanzler: 90–92, 94 Karl IV., König von Böhmen u. deutscher Kaiser: 144 Karl V., deutscher Kaiser: 168 Karpe, Georg: 166 Kelin: 41f., 44, 47 A. 46, 50, 51 A. 60 u. 62, 63, 68, 82, 84f., 87f., 101f., 109, 111, 125, 126, 131f., 209, 219, 252, 259, 261 Kettner: 91 ›Klage‹: 253 ›Kleine Heidelberger Liederhandschrift‹: 51, 266 Klingsor: 44f., 57, 66f., 84f., 88, 92, 95f., 141, 261 Klopstock, Friedrich Gottlieb: 221 A. 53, 226, 231, 234 A. 91 u. 96 Koch, Erduin Julius: 200 Koch, Heinrich Andreas: 228 ›Kolmarer Liederhandschrift‹: 45, 51, 53 A. 70, 54 A. 76, 60–63, 66, 71 u. A. 175 u. 179, 72 A. 182, 76-79, 81, 83–85, 88–90, 93–97, 102 ›König Rother‹: 186 Konrad von Fußesbrunnen, ›Kindheit Jesu‹: 253 Konrad von Heimesfurt, ›Unser vrouwen hinvart‹: 253 Konrad von Megenberg, ›Buch der Natur‹: 193 Konrad von Würzburg: 31, 41, 50, 52, 60, 66–72, 82, 84 u. A. 14, 85, 87, 90–92, 97, 155, 201, 208–210, 211 A. 21, 219, 234 A. 94, 254, 267 ›Die goldene Schmiede‹: 201, 267 ›Das Herzmaere‹: 234 A. 94 ›Trojanerkrieg‹: 155, 201, 254 Krüger, Nicolaus: 167 Kugler, Franz: 214 Lachmann, Karl: 40 A. 7, 181, 184–188, 190–196, 200, 203, 214, 216, 264 ›Lancelot‹: 256 Laßberg, Joseph von: 182, 185, 189, 194, 214 Lattorf, Karl von: 190 ›Leipziger Liederhandschrift‹: 263 Lesch, Albrecht: 90–93 Lessing, Gotthold Ephraim: 232 A. 86, 234 A. 96
280 Liebe von Giengen: 91f. Liliencron, Rochus von: 42f., 43 A. 17, 209, 215, 219, 248 Der Litschauer: 41, 47 A. 44, 57, 87, 209, 219 Lockemann, Theodor: 241f. Loesser, Thammo: 170 Löffelholz von Kolberg, Wilhelm Christian Eberhard Friedrich: 196 ›Lohengrin‹: 155, 201, 254, 260 Ludwig IV., der Bayer, deutscher Kaiser: 143–146 Ludwig I. von Brandenburg: 143–146 Ludwig IV. von Thüringen: 57 A. 89 Ludwig, Friedrich: 100 ›Ludwigslied‹: 186 Lufft, Hans: 167 Luther, Martin: 38, 164
Muskatblut: 90 Mylius, Johann Christoph: 205, 207, 227 A. 72, 239 Myller, Christoph Heinrich: 184, 194f., 200, 208–211, 234 A. 94, 235 A. 97
Mabillon, Jean: 187 ›Magdeburger Frühlingslied‹: 44, 48f., 50 A. 57, 252, 259, 261 Mandeville, Jean de, ›Reisen‹: 171 Manutius, Aldus: 164 Margarete von Dänemark: 144 Der Marner: 44, 52 A. 65, 61, 91–93, 95f. Maßmann, Hans Ferdinand: 182, 187 A. 39, 189, 191 Mathilde von Brandenburg: 150 Mathilde von Sachsen: 150 Meffrid: 92 Der Meißner: 30–32, 34, 41, 44f., 50–54, 64 A. 127, 66 u. A. 140–142, 68, 70–73, 86–88, 96, 147 A. 45, 209f., 219 Melanchthon, Philipp: 168 Melnicki, Margareta: 137 Mersburch: 52 A. 65, 62 Merx, Adalbert Ernst Otto: 266 Meusebach, Karl Hartwig Gregor von: 182 Meyer, Wilhelm: 34, 54, 160 Michael de Leone, ›Hausbuch‹: 42 A. 13, 188, 266 Michaeler, Karl: 195 Mönch von Salzburg: 90f. ›Mondsee-Wiener-Liederhandschrift‹: 53 A. 70 Mone, Franz Josef: 182, 185 ›Moriz von Craûn‹: 187 A. 39 ›Mösersches Fragment‹: 263 Mülich von Prag: 91 Müller, Carl Gotthelf: 208, 218 A. 45, 219, 221, 224, 229 Müller, Johannes von: 212 Müller, Karl Konrad: 43, 46 A. 37, 57, 69, 70 A. 167f., 215f., 238 A. 5, 246 u. A. 39 Münzer, Georg: 85 A. 15
Oberlin, Jeremias Jacob: 183f. Oelrichs, Johann Carl Conrad: 189 A. 54 Opitz, Martin: 223 A. 62 ›Ordo librorum‹: 79, 141f., 149 A. 2, 161 A. 27, 171f., 175 Orell, Hans Conrad: 222, 226, 234 Origenes: 167 Otfrid von Weißenburg, ›Evangelienbuch‹: 202 ›Ottheinrich-Bibel‹: 256 Otto V., der Lange, von Brandenburg: 56 Otto I., das Kind, von Braunschweig und Lüneburg: 150 Otto von Magdeburg: 143 Otto III. von Ravensberg: 66 Otto von Botenlauben : 201 Otto von Diemeringen: 171 Ottokar von Steiermark, ›Steirische Reimchronik‹: 220 A. 50
Nachtigall, Konrad: 91 ›Naglersches Fragment‹: 48 A. 52 Neidhart: 53 A. 70, 81, 90, 95, 189 Nestler von Speyer: 92 ›Nibelungenlied‹: 155, 184, 190, 192–194, 196, 234 A. 93, 253f. Nicolai, Friedrich: 230 ›Niederdeutsche Liederhandschrift‹: 263 ›Niederrheinische Liederhandschrift‹: 63–65, 72, 263 Notker III. von St. Gallen: 185
›Passional‹: 152, 154–156, 171, 255 Paul, Hermann: 191 Pertz, Georg Heinrich : 189 Peter von Arberg: 90 Peter von Reichenbach: 90 Peter von Sachsen (Sachs): 92 Petzet, Erich: 183 ›Pfaffe Amis‹, nd.: 174 Pfeiffer, Franz: 43 A. 17, 193, 264 Philipp von Schwaben: 174 ›Physiologus‹: 61 Der Pleier, ›Garel von dem blühenden Tal‹: 155 Plenio, Kurt: 47f. Prémontval, André Pierre le Guay de: 233 Primisser, Alois: 185 Puschmann, Adam: 85 A. 15, 94
281 Raoul de Houdenc, ›Meraugis de Portlesguez‹: 265 Raszmann, Friedrich: 185 ›Rätselspiel‹: 45, 67 A. 151, 260, 261 Raumer, Friedrich von: 190 Regenbogen: 64 A. 128, 77, 90–94 ›Reinfried von Braunschweig‹: 188 A. 42 Reinhard, Adolf Friedrich: 233 Reinmar der Alte: 201 Reinmar von Brennenberg: 91, 93, 95 Reinmar von Zweter: 43f., 48f., 90, 101 A. 14, 252, 259, 262f., 267 Reinolt von der Lippe : 32, 41, 53 A. 71, 87f., 219 Renner, Caspar Friedrich: 218 A. 44 Reusch, Johann Peter: 218 A. 45, 219, 221, 224, 229 ›Rheinfränkische Magnificat-Paraphrase in Versen‹: 255 A. 15 ›Riedegger Handschrift‹: 95, 189 Riemann, Hugo: 100 Rietsch, Heinrich: 105, 108 Roethe, Gustav: 37, 197, 262 ›Roman de Fauvel‹: 140 A. 16 ›Rosengarten zu Worms‹: 172 Rothe, Johannes, ›Thüringische Weltchronik‹: 168-170, 174f. Rubin und Rüdeger: 41, 53 A. 71, 87, 209, 219 Rudolf II., der Blinde, von der Pfalz: 144 Rudolf I. von Sachsen-Wittenberg: 37f., 142f., 146, 150, 158f., 161 Rudolf von Ems: 155, 172, 189, 254 ›Barlaam und Josaphat‹: 189 ›Weltchronik‹: 155, 172 ›Willehalm von Orlens‹: 155, 254 Rumelant von Sachsen: 33f., 40f., 44, 45 A. 30, 47–53, 64 A. 127, 66–68, 73 A. 187, 76f., 86–88, 92, 97, 209f., 252, 259, 268f. Rumelant von Schwaben: 41, 50, 86, 219 Ruprecht I., der Rote, von der Pfalz: 144 Sachsenhauser, Konrad: 146 ›Sächsische Weltchronik‹: 40, 141, 149f., 159, 172 A. 51 Sagittarius, Caspar: 169 ›Salman und Morolf‹: 186 ›St. Galler Epenhandschrift‹: 253 Saran, Franz: 216, 246 Savigny, Friedrich Carl: 185, 202, 212 A. 23 Scherer, Wilhelm: 187 A. 39 Scherz, Johann Georg : 183f., 225 Schilter, Johann: 187, 225 A. 67 Schlegel, August Wilhelm: 202
Schmeller, Johann Andreas: 182 Schmidt, Hermann: 264 Schmidt, Johann Andreas: 205 u. A. 1 Schobinger, Bartholomäus: 189 A. 54 Schönaich, Christoph Otto von: 234 Schonsbekel: 92 Schottky, Julius Maximilian: 186 u. A. 33, 191f., 202f. Schrade, Leo: 99 Schramm, Christoph: 167 Schreiber, Wolfgang: 5–7, 9–11, 13, 36, 163, 166f., 169, 257 Schröder, Alfred: 260 Schröder, Edward: 69, 70 u. A. 171 Schubart, Christian Friedrich Daniel: 232 A. 86 ›Schwabenspiegel‹: 155 Schwartz, Thomas: 267f. ›Segremors‹: 42f., 76 A. 205f., 152, 155f., 161 A. 27, 173, 175, 256f., 259 A. 1, 264f. Serenus, Quirinius: 167 Seydel, Wolfgang: 215 Meister Singauf: 41, 47 A. 44, 66 A. 141, 86, 209, 219 Spalatin, Georg: 163–168, 170, 172 A. 51, 174f. Spervogel: 41, 84, 86, 88, 95f., 209, 219 Spilker, Heinrich Eberhard von: 228 Stäblein, Bruno: 137, 140 Stade, Wilhelm: 248 ›Stadtbuch von Znaim‹: 256 ›Sterzinger Miszellaneen-Handschrift‹: 53 A. 70 Stigel, Johann: 168 Stock, Ludwig: 262 Stolle: 30, 32f., 39 A. 3, 40f., 47 A. 44, 50, 52, 54f., 57f., 61, 63, 66 A. 142, 73 A. 187, 84f., 87, 91, 96, 206f., 209f., 215, 219 Der Stricker, ›Karl der Große‹: 201, 253 Struve, Burkhard Gotthelf: 205 u. A. 1, 239 Stuß, Johann Heinrich: 221f., 224f., 227 u. A. 73, 234 Suchensinn: 92 Sulzer, Johann Georg: 231 Suppius, Christoph Eusebius: 222 Der Tannhäuser: 41, 47 A. 44, 51 A. 61, 54 A. 75, 88, 90, 92, 96, 209, 219 ›Tatian‹: 184–186 Thiele, Gerhard: 38, 43 A. 17 Thomas von Aquin, ›Catena aurea‹, dt. Übersetzung: 154f. Thomas, Helmuth: 74, 95 Tieck, Ludwig: 186, 188 A. 42, 211 A. 22
282 Tilo: 62 Titius, Johann Daniel: 230 ›Der Tugenden Buch‹: 155 Der Tugendhafte Schreiber: 45, 61, 63, 92, 94 Ulfilas: 184, 221 A. 53 Ulrich von Lichtenstein: 186, 189, 201 ›Frauenbuch‹: 186 ›Frauendienst‹: 189 Ulrich von Singenberg: 266 Ulrich von Türheim, ›Rennewart‹: 195 A. 81, 254f. Ulrich von dem Türlin, ›Arabel‹: 254f. Der Ungelehrte: 92 Der Unverzagte: 41, 47 A. 44, 86–88, 210, 219 Der Urenheimer: 41, 53 A. 71, 209, 219 Valla Placentius: 167 ›Väterbuch‹: 155 Vinzenz von Beauvais, ›Speculum historiale‹, dt.: 155, 255 Volmar, Johannes: 168f., 175 Wachler, Johann Friedrich Ludwig: 203 Wackernagel, Rudolf: 186, 261 Wagenseil, Johann Christoph: 207 Wagner, Leonhard: 139 Wagner, Peter: 137 Wagner, Richard: 112 Walch, Johann Ernst Immanuel: 212, 224 Walther von Mezze: 252 Walther von der Vogelweide: 40–44, 48f., 51 u. A. 60, 54 A. 74, 62, 90, 92, 95, 141, 201, 207, 252 u. A. 7, 259 u. A. 1 u. 3, 265–267 Wangenheim, Wolfgang von: 101, 121 ›Der Wartburgkrieg‹: 34, 41f., 44f., 50f., 53 A. 67, 57, 59, 63, 66f., 71 A. 177, 73 A. 187, 84f., 88f., 96, 184, 209–211, 215, 252, 260, 261 s. auch ›Aurons Pfennig‹ u. ›Fürstenlob‹ ›Weimarer Liederhandschrift‹: 188 ›Weingartener Liederhandschrift‹: 48, 189 A. 49
Weller, Christian Ernst Friedrich: 213 A. 29, 244 A. 27 Der von Wengen: 61 ›Wenzelsbibel‹: 255 Bruder Wernher: 32–34, 39 A. 3, 41, 45 A. 30, 50, 51 A. 63, 53–55, 57–59, 63, 73 A. 187, 86f., 95f., 210, 219 Wernher von Hohenberg: 91 Wiedeburg, Basilius Christian Bernhard: 43 A. 15, 67 A. 147, 163, 184 u. A. 15, 205–211, 213 A. 28, 216–221, 223–227, 230–232, 234f., 238 A. 5, 239 Wieland, Christoph Martin: 223f., 234 A. 91 ›Wiener Leichhandschrift‹: 52 A. 66, 53 A. 70, 101, 103, 105–108, 110–112, 114f. ›Wigamur‹: 186 Wiggert, Friedrich: 262 Willems, Jan Frans: 187 Williram von Ebersberg, ›Hoheliedkommentar‹: 202 ›Wiltener Handschrift‹: 54 A. 76, 61 A. 112, 63 A. 122, 71 A. 179 ›Winsbecke‹: 45, 94 Wirnt von Grafenberg, ›Wigalois‹: 172, 189, 201 Wizlav III. von Rügen: 46 A. 33, 56 Wizlav: 8f., 27, 30f., 33–35, 41, 46 u. A. 39, 53 A. 68 u. 73, 56 u. A. 81 u. 85, 79, 83, 86–89, 96, 151–153, 157–161, 208, 211 A. 21, 212 A. 26, 215 Wocher von Oberlochen, Franz Joseph: 190 Wolfram von Eschenbach: 33f., 41–45, 50, 66f., 73 A. 187, 90, 152, 154f., 184, 190, 192 A. 67, 200f., 219, 253–255, 260f., 264 ›Parzival‹: 42f., 76 A. 205f., 152, 155f., 161 A. 27, 173, 175, 192, 194, 196, 198, 200, 253f., 256f., 259 A. 1, 264f. ›Willehalm‹: 192, 194, 196, 201, 253–255 Zahn, Johann Christian: 184–186 Zilies von Sayn: 32, 41, 51 A. 61, 53 A. 71, 86f., 89, 208f., 211, 219 Ziska, Franz: 202 Zitzmann, Rudolf: 81f. Der Zwinger: 91
283
2. Handschriften Augsburg, Universitätsbibliothek – Cod. II. 1.2o 10, Teil VIII (›Augsburger Cantionessammlung‹): 52 A. 65, 68 A. 153 Baden-Baden, Kloster Lichtenthal, Kl. L. 29 (Antiphonar Kloster Maulbronn): 132 Basel, Öffentliche Bibliothek der Universität – A X 138 (Frauenlob o): 74 A. 190, 75 A. 200, 77 – B XI 8 (›Baseler Liederhandschrift‹): 156 A. 12 – N I 3 Nr. 145 (Kelin, Boppe, Fegfeuer, ›Wartburgkrieg‹, Frgm. Ba): 42, 47–52, 53 A. 73, 63, 67, 68 u. A. 156, 101–103, 109, 111, 121–126, 131–134, 251f., 259 u. A. 3, 261 Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz – Fragm. 44 (›Nibelungenlied‹, Frgm. E): 254 – Hdschr. 401 (früher Bonn) (Reinmar von Zweter, Frgm. Bo): 44, 48f., 252, 259 u. A. 3, 262f. – Ms. germ. fol. 779, Teil III (NeidhartCorpus c): 53 A. 70 – Ms. germ. fol. 923 Nr. 25 ( Rudolf von Ems, ›Willehalm von Orlens‹, Frgm. 31): 254 – Ms. germ. fol. 1021 (Konrad von Fußesbrunnen, ›Kindheit Jesu‹, Frgm. L): 253 – Ms. germ. fol. 1062 (›Riedegger Handschrift‹, Neidhart, R): 95, 189 – Ms. germ. fol. 1416 (Heinrich von München, ›Weltchronik‹, B2): 256 u. A. 16 – Ms. germ. fol. 1705 (Christine de Pizan, ›Buch vom Fechten und von der Ritterschaft‹, B ): 177 – Ms. germ. qu. 795 (›Niederdeutsche Liederhandschrift‹, Frgm. m): 263 – Ms. germ. qu. 981 (›Magdeburger Frühlingslied‹, Frgm. Mb): 44, 48f., 50 A. 57, 252, 259, 261 – Ms. germ. oct. 224 (Beischrift zu Frauenlob GA V,1): 74 A. 190 – Ms. germ. oct. 345 (›Apokalypse‹, nd., B): 154 – Ms. theol. lat. fol. 319 (Codex Prämonstratenserkloster Havelberg): 134, 138–140 – Ms. theol. lat. fol. 487: 133 – Nachlass Grimm 127,1 (›König Tirol‹, epische Fragmente): 45 A. 27
Brüssel, Königliche Bibliothek – Cod. 6428 (Codex des Pierre Alamire): 139 – Ms. IV 950,11 (Konrad von Würzburg, ›Trojanerkrieg‹, Frgm. Br): 254 Breslau (Wroclaw), Universitätsbibliothek – Akc. 1955/193 (Frauenlob, Frgm. b): 64f. – I O 9 (Frauenlob B): 74 A. 190, 77 Cambrai, Bibliothèque Municipale – Hs. 6: 139f. – Hs. 11: 139f. Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek – Hs. 3161 (›Passional‹, Od): 255 Dillingen, Studienbibliothek – XV Fragm. 19 (Blatt aus der ›Jenaer Liederhandschrift‹, Jd): 39, 41, 54 A. 74, 67, 161 A. 27, 211, 246, 259 A. 1, 260 Dresden, Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek – Mscr. M 175 (Hartmann von Aue, ›Iwein‹, a): 195 Engelberg, Stiftsbibliothek – Cod. 314 (Liturg. Sammelhandschrift, lat.dt.): 127f. Erfurt, Bistumsarchiv – Lit. 6a (Erfurter Antiphonale): 130f. Eschwege, Privatbesitz Georg Schaaffs – Ms. Germ IV (verschollen) (›Passional‹, Od): 255 Frauenfeld, Museum des Kantons Thurgau – LM 26117 (Graduale aus dem Dominikanerinnenstift Katharinenthal): 138 Frankfurt a.M., Universitätsbibliothek – Ms. germ. fol. 14 (›Rheinfränkische Magnificat-Paraphrase in Versen‹): 255 A. 15 Gedern, Gräfl. Stolbergisches Archiv – o. Sign. (verschollen) (›Passional‹, Od): 255 Gießen, Universitätsbibliothek – Hs. 97 (Hartmann von Aue: ›Iwein‹, B): 195
284 Gotha, Forschungsbibliothek – Cod. Chart. A 584 (Heinrich von Veldeke, ›Eneas‹, G): 227 A. 71 – Cod. Memb. I 65: 128, 134, 135 – Cod. Memb. I 90 (›Sächsische Weltchronik‹, Hs. 24): 40, 141, 149f., 172 A. 51 – Cod. Memb. I 130 (Wolfram von Eschenbach, ›Parzival‹, Frgm. 9 [h]): 42f., 76 A. 205f., 143, 152 A. 8, 173, 175, 256f., 259 A. 1, 263–265 – Cod. Memb. I 133 (›Segremors‹, Frgm. B): 42f., 76 A. 205f., 143, 152 A. 8, 173, 175, 256f., 259 A. 1, 263–265 – Cod. Memb. II 42 (›Reinfried von Braunschweig‹): 188 A. 42 – Cod. Memb. II 226a (›Herzog Ernst‹, Frgm. D): 189 Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek – 2o Cod. Ms. philol. 188/10 (Rudolf von Ems, ›Barlaam und Josaphat‹, G): 189 – 4o Cod. Ms. philos. 21 (Heinrich von Mügeln-Corpus g): 53 A. 70 – Cod. Ms. W. Müller I,4 (Reinmar von Zweter, Frgm.): 263 Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek – Cod. 18 in scrin. (›Braunschweigische Reimchronik‹): 154 Heidelberg, Universitätsbibliothek – Cod. Pal. germ. 147 (›Lancelot-GralProsaroman‹, P): 256 – Cod. Pal. germ. 350, Teil II (H): 59 A. 103f., 74 A. 190, 77 – Cod. Pal. germ. 350, Teil III (R): 64 u. A. 131 – Cod. Pal. germ. 357 (›Kleine Heidelberger Liederhandschrift‹, A): 51, 266 – Cod. Pal. germ. 360 (Gottfried von Straßburg, ›Tristan‹, H): 189 – Cod. Pal. germ. 364 (Wolfram von Eschenbach, ›Parzival‹, Z (Gk); ›Lohengrin‹, A): 254 – Cod. Pal. germ. 383 (Albrecht, ›Jüngerer Titurel‹, B): 254 – Cod. Pal. germ. 397 (Hartmann von Aue, ›Iwein‹, A): 195 – Cod. Pal. germ. 404 (Ulrich von dem Türlin, ›Arabel‹, H; Wolfram von Eschenbach, ›Willehalm‹, H; Ulrich von Türheim, ›Rennewart‹, H): 195 A. 81, 254 – Cod. Pal. germ. 848 (›Codex Manesse‹, ›Große Heidelberger Liederhandschrift‹,
C): 44–46, 48 A. 52, 51, 54, 58–64, 66f., 70–72, 76–79, 95, 159, 184, 188–190, 206, 208–212, 214, 218, 224, 234, 246 A. 38, 260, 266, 268 Jena, Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek – Cod. 4: 139 – Ms. Bos. q. 3 (›Jenaer Martyrologium‹): 169, 238 A. 5 – Ms. App. 22 A [2]: 170 A. 43 – Ms. App. 22 B [9]: 149 A. 2 – Ms. App. 22 B [3 A]: 171 – Ms. App. 22 B [4 D]: 171 – Ms. App. 22 B [5 C]: 171, 179 – Ms. App. 22 B [10]: 166 – Ms. El. f. 41: 169 – Ms. El. f. 55: 168f. – Ms. El. f. 64: 168 – Ms. El. f. 70: 168 – Ms. El. f. 71: 168 – Ms. El. f. 72: 168 – Ms. El. f. 73: 168 – Ms. El. f. 74: 168 – Ms. Rec. adj. f. 3 (Ottokar von Steiermark, ›Steirische Reimchronik‹): 220 A. 50 – Ms. Sag. f. 9 (Johannes Rothe, ›Thüringische Weltchronik‹): 168–170, 175 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek – Cod. Donaueschingen 63 (›Nibelungenlied‹, C, ›Klage‹, C): 71 A. 175, 190, 194 – Cod. K 2037 (Konrad von Heimesfurt, ›Unser vrouwen hinvart‹, Frgm. E): 253 – Cod. St. Georgen 5: 132 – Cod. St. Peter, perg. 29a: 128 – Cod. St. Peter, perg. 16: 130f. – Cod. U.H. 1 (Graduale aus Zisterzienserinnenkloster Wonnental i. Breisgau): 138 Köln, Universitäts- und Stadtbibliothek – Cod. 5 P 62 (Heinrich von dem Türlin, ›Diu Crône‹, Frgm. Kö): 254 Krakau (Kraków), Biblioteka JagielloĔska – Berol. Ms. germ. qu. 662 (›Segremors‹, Frgm. C): 76 A. 205f., 256, 265 – Berol. Ms. germ. qu. 792 (›Nibelungenlied‹, Frgm. O): 256 A. 16 – Berol. Ms. germ. oct. 125 (›Naglersches Fragment‹, Frgm. Cb): 48 A. 52 – Berol. Ms. germ. oct. 462 (Walther von der Vogelweide, Frgm. wxx): 43
285 –
Berol. Ms. germ. oct. 682 (Walther von der Vogelweide, Frgm. O): 43, 48f., 62, 252, 259 A. 1 u. 3, 265 –
Leiden, Universitätsbibliothek – Ltk. 537 (Wirnt von Grafenberg, ›Wigalois‹, B): 189
– –
Leipzig, Universitätsbibliothek – Rep. II. 70a (›Niederrheinische Liederhandschrift‹, n): 63–65, 72, 263 Linz, Landesarchiv – Pa I/3b (Gottfried von Straßburg, ›Tristan‹, g): 255
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London, British Library – Ms. Add. 15690 (Frauenlob k): 74 A. 190, 77 – Ms. Add. 16950 (Graduale aus Zisterzienserinnenkloster Seligenthal bei Landshut): 138 – Ms. Add. 27630 (LoD): 127 u. A. 11, 128 Los Angeles, University of California, Charles E. Young Research Library – 150/575 (Reinmar von Zweter, Rollenfrgm.): 43f. Luxemburg, Nationalbibliothek – Ms. IV, 264 (früher Gotha, Forschungsbibl., Cod. Memb. I 1) (›Gothaer Riesenbibel‹): 255 A. 15 Marburg, Hessisches Staatsarchiv – Best. 147 Hr 1 Nr. 2 (Frauenlob, Frgm. Z): 49 A. 56, 64, 65 u. A. 136 u. 138, 101, 103 A. 24, 108–111 Melk, Stiftsbibliothek – Fragm. germ. 3 (Frauenlob, Marienleich, Frgm. Q): 107 A. 40, 123 Michaelbeuern, Stiftsbibliothek – Man. cart. 1: 110 A. 49 München, Bayerische Staatsbibliothek – Cgm 1 (Ulrich Fuetrer, ›Buch der Abenteuer‹, A; ›Lancelot‹): 256 – Cgm 34 (›Nibelungenlied‹, A; ›Klage‹, A): 190, 194 – Cgm 716: 110, 111 A. 52 – Cgm 4997 (›Kolmarer Liederhandschrift‹, k, Frauenlob t): 45, 51, 53 A. 70, 54 A.
76, 60–63, 66, 71 u. A. 175 u. 179, 72 A. 182, 74 A. 190, 76–79, 81, 83–85, 88–90, 93–97, 102 Cgm 5198 (›Wiltener Handschrift‹): 54 A. 76, 61 A. 112, 63 A. 122, 71 A. 179 Cgm 5249/4b (Wolfram von Eschenbach, ›Willehalm‹, Frgm. 56): 254f. Cgm 5249/6 (Ulrich von dem Türlin, ›Arabel‹, Frgm. 2): 254f. Cgm 5249/10 (›Wartburgkrieg‹, Frgm. Wb): 44f. A. 25 Cgm 8010/1-8 (›Ottheinrich-Bibel‹): 256 Clm 5023: 110 A. 49 Clm 17003 (Antiphonar aus Prämonstratenserkloster Schäftlarn): 138, 145f. Clm 17004 (Antiphonar aus Prämonstratenserkloster Schäftlarn): 138
München, Universitätsbibliothek – 2o Cod. ms. 731 (›Würzburger Liederhandschrift‹, ›Hausbuch‹ des Michael de Leone, Bd. 2, E): 42 A. 13, 188, 266 – 2o Cod. ms. 750 (Vinzenz von Beauvais, ›Speculum historiale‹, dt.): 155, 255 – Fragm. 141 (Vinzenz von Beauvais, ›Speculum historiale‹, dt., verbrannt): 255 Münster, Gräflich Galensches Archiv – R 11 (Winsbecke, ›Wartburgkrieg‹, Frgm., verschollen): 45 A. 29 Münster, Nordrhein-Westfälisches Staatsarchiv – Msc. VII 2d Nr. 29 (Konrad von Würzburg, ›Die goldene Schmiede‹, Frgm. M): 267 – Msc. VII Nr. 51 (Walther von der Vogelweide, Frgm. Z): 43, 48f., 51 u. A. 60, 252 u. A. 7, 259 u. A. 3, 266f. New York, Pierpont Morgan Library – M 870/1-3 (Antiphonar-Fragmente aus Dominikanerinnenkloster Heilig Kreuz): 138 Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum – Cod. 21897 (Graduale wohl aus oberrheinischem Dominikanerinnenkloster ): 138 Ortenberg, Gräfl. Stolbergisches Archiv – ohne Sign. (›Passional‹, Od, verschollen): 255 Paris, Bibliothèque Nationale – f. lat. 10486: 133 – fr. 146 (›Roman de Fauvel‹): 140 A. 16
286 Prag, Nationalbibliothek – Cod. III. D. 10: 110 A. 49, 111 A. 52 – Cod. XXIII.G.43 (›Kaiserchronik‹): 192 – Cod. XXIV.C.55 (Bruder Wernher, Frgm. T): 58 A. 96 – Cheb MS. 147 (Franziskanerkloster, Schrank 11, o. Sign.) (Frauenlob y): 74 A. 190, 75 A. 200, 77 Regensburg, Stadtarchiv – Bibl. Des Hist. Vereins, Ms. Misc. 61 (Antiphonar d. Dominikanerinnenklosters Heilig Kreuz zu Regensburg): 139, 255 St. Gallen, Stiftsbibliothek – Cod. 857 (›St. Galler Epenhandschrift‹, Nibelungenlied, B): 194, 253 – Cod. 985 (Frauenlob G): 74 A. 190, 75 A. 200, 77 St. Pölten, Stadtarchiv – ohne Sign. (Heinrich von Freiberg, ›Tristan‹-Fortsetzung, Frgm. P, verschollen): 255 Seitenstetten, Stiftsbibliothek – Fragmentenschachtel, ohne Sign. (2) (Wolfram von Eschenbach, ›Willehalm‹, Frgm. 56): 255 Soest, Stadtarchiv und Wissenschaftliche Stadtbibliothek – Fragm. 157 (Frauenlob Frgm. A): 40–42, 48f., 74–78, 252, 255, 259 u. A. 3, 263, 267f. Sondershausen, Schlossmuseum – Germ. lit. 2 (Wolfram von Eschenbach, ›Parzival‹, Frgm. 9 [h]): 42, 43 A. 17, 76 A. 205f., 143, 152 A. 8, 173, 175, 256f., 259 A. 1, 263–265, 268 Sterzing (Vipiteno), Stadtarchiv – ohne Sign. (›Sterzinger MiszellaneenHandschrift‹): 53 A. 70 Straßburg, Stadtbibliothek – Cod. A 94 (verbrannt): 234 A. 94 – Cod. A 100 (Hartmann von Aue, ›Gregorius‹, B, verbrannt): 185 A. 20 Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek – HB XIII 1 (›Weingartener Liederhandschrift‹, B): 48, 189 A. 49
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HB XIII 11: 256 A. 16 Cod. mus. fol. I 65 (Graduale für Kloster Lorch): 139
Uppsala, Universitätsbibliothek – DG. 1 (›Codex Argenteus‹, CA): 227 A. 73 Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek – Cod. Quart./Q 564 (›Weimarer Liederhandschrift‹, Frauenlob-Corpus F): 49 A. 56, 62 A. 114, 64 A. 129, 65, 67 A. 146, 72 A. 182, 76–78, 188 Weimar, Thüringisches Hauptstaatsarchiv – Ernest. Gesamtarchiv, Reg. D 148 (Inventar, 1519): 173 – Ernest. Gesamtarchiv, Reg. D 169 (Inventar, 1554): 173 – Ernest. Gesamtarchiv, Reg. V, 1 (›Segremors‹, Frgm. A): 42, 43 A. 15 u. 17, 76 A. 205f., 143, 152 A. 8, 173, 175, 256f., 259 A. 1, 264, 268 Wien, Österreichische Nationalbibliothek – Cod. 2701 (›Wiener Leichhandschrift‹): 52 A. 66, 53 A. 70, 101, 103, 105–108, 110–112, 114f. – Cod. 2759-2764 (›Wenzelsbibel‹): 255 – Cod. 2856, Teil II (›Mondsee-Wiener Liederhandschrift‹): 53 A. 70 – Cod. 13070 (Wolfram von Eschenbach, ›Parzival‹, Frgm. 1): 254 – Cod. Ser. nova 2643 (Ulrich von dem Türlin, ›Arabel‹, W; Wolfram von Eschenbach ›Willehalm‹, W; Ulrich von Türheim, ›Rennewart‹, W): 255 – Cod. Ser. nova 2663 (›Ambraser Heldenbuch‹; ›Nibelungenlied‹, d): 187 A. 39, 194 – Cod. Ser. nova 3028 (Albrecht: ›Jüngerer Titurel‹): 203 – Cod. Ser. nova 3344, 100v–122r (›Liebhard Eghenvelders Liederbuch‹): 53 A. 70, 95, 111 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek – Cod. 44.19 Aug. 2o (›Sächsische Weltchronik‹, Rez. C (mit Fortsetzung), Hs. 23): 150 A. 2 – Cod. 51.2 Aug. 4o (›Wigamur‹, W): 186 – Cod. 404.9 (11) Novi (Rumelant, Frgm. Wo): 40, 42 A. 9, 45 A. 30, 47–51, 53, 67, 76, 252, 259, 268f.
287 Wolfenbüttel, Landeskirchliches Archiv – Depositum Predigerseminar H 1a (Walther von der Vogelweide, Frgm. wx): 43
Znojmo, Bezirksarchiv – Cod. Z/II-286/a (›Stadtbuch von Znaim‹): 256