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German Pages 330 Year 1991
GIOACHINO FRAENKEL
Die italienische Wirtschaftspolitik zwischen Politik und Wirtschaft
Volkswirtschaftliche Schriften Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. J. Broerrnann
Heft 414
Die italienische Wirtschaftspolitik zwischen Politik und Wirtschaft
Von
Dr. Gioachino Fraenkel
DUßcker & Humblot . Berliß
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Fraenkel, Gioachino:
Die italienische Wirtschaftspolitik zwischen Politik und Wirtschaft / von Gioachino Fraenkel. - Berlin: Duncker und Humblot, 1991 (Volkswirtschaftliche Schriften; H. 414) Zugl.: Innsbruck, Univ., Habil., 1988 ISBN 3-428-07100-X NE:GT
Alle Rechte vorbehalten © 1991 Duncker & Humblot GmbH, Beflin 41 Satz: Hagedomsatz, Berlin 46 Druck: Druckerei Gerike GmbH, Berlin 36 Printed in Germany ISSN 0505-9372 ISBN 3-428-07100-X
Inhaltsveneichnis Tabellenverzeichnis
8
I. Einleitung ........................................................
1. Der Begriffsrahmen der Untersuchung
.............................
13 13
a) Der Ansatz der theoretischen Wirtschaftspolitik
15
b) Der Ansatz der Neuen Politischen Ökonomie
20
c) Der integrierende Ansatz ......................................
26
2. Gegenstand und methodischer Ansatz unserer Analyse ...............
29
11. Das italienische politische System: Die Wählerschaft und ihre Vertretungen ..
32
1. Die Wählerschaft
32
2. Die Vertretungen der Wählerschaft ................................
39
a) Die Parteien .................................................
39
b) Die Interessenverbände aa) Die Gewerkschaften ....................................... bb) Die Unternehmerschaft ....................................
43 46 48
III. Der politische Willensbildungsprozeß ..................................
52
1. Das Zusammenspiel der politischen Kräfte nach der Verfassung
52
2. Das Parteiensystem in der parlamentarischen Praxis
55
3. Die Konsensproblematik .........................................
60
4. Die Konsensfindungskosten
68
...................................... .................................
76
1. Der Begriff der Wirtschaftsverfassung ..............................
76
2. Der Mensch und Bürger .........................................
78
3. Das Individuum in der Gemeinschaft ..............................
82
4. Die Gemeinschaft
89
IV. Die italienische Wirtschaftsverfassung
5. Die "offene" Ordnung
...........................................
90
6
Inhaltsverzeichnis V. Das wirtschaftspolitische Modell
96
1. Der integrierende Ansatz
96
2. Das Modell
98
....................................................
3. Die Ordnungs- und Ablaufspolitik im Lichte des Modells ............. 102 VI. Die erste Phase der italienischen Wirtschaftspolitik im Zeichen der liberalen Ausrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 105 1. Die Ausgangslage .................................. . ............ 105 2. Die ordnungspolitischen Grundlinien
.............................. 108
3. Die Politik der Wahrung des monetären Gleichgewichts .............. 114 4. Die Politik zur Förderung des Produktionswachstums ................ 123 5. Abschließende Überlegungen ..................................... l30 VII. Die italienische Wirtschaftspolitik im Zeichen sozialistischer Vorstellungen (60er und 70er Jahre) ................................................... l33 1. Die Ausgangslage ............................................... l33 2. Die Ausformung des sozialistischen Konzepts in der Praxis der 60er Jahre l39 3. Die Ausformung des Konzepts in der Praxis der 70er Jahre
........... 147
4. Die Ablaufspolitik der 60er und 70er Jahre: Hauptbereiche, Ergebnisse und Wertungen ..................................................... 156 a) Die Beschäftigungs- und Einkommenspolitik aa) bb) cc) dd)
Die Die Die Die
..................... 157
Aussagen des Wirtschaftsprogramms ..................... Finanzpolitik als Instrument der Einkommenspolitik ....... Industriepolitik und das Staatsunternehmen Einkommenspolitik in der Praxis der 70er Jahre ...........
157 159 164 171
b) Die Sozialpolitik 175 aa) Der Ausbau des Sozialsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 175 bb) Die Belastung des Staatshaushalts und der Zuwachs der Staatsverschuldung ............................................... 180 c) Die Politik der Verstaatlichung
................................. 184
d) Die Geldpolitik im Zeichen des Zielpluralismus
194 aa) Die Geldpolitik als Instrument der Beschäftigungspolitik 194 bb) Die Geldpolitik als Instrument der Staatsfinanzierung .......... 206
e) Ergebnisse und Wertungen aa) Die Politik der Stimmenmaximierung
215 215
Inhaltsverzeichnis bb) Die Ergebnisse der Ablaufspolitik
7
........................... 217
VIII. Die 80er Jahre: Die schwierige Rückkehr zum Gleichgewicht .............. 237 1. Die Kritik am bestehenden wirtschaftspolitischen Konzept
............ 237
2. Das ordnungspolitische Konzept der 80er Jahre und seine Ablaufspolitik .. 245 IX. Die Rationalität unseres Modells
257
X. Schlußwort ....................................................... 262 Anhang
............................................................... 263
1. Die Democrazia Cristiana ........................................ 263 2. Die Kommunistische Partei Italiens
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 266
3. Die Gewerkschaften ............................................. 269 Literaturverzeichnis ..................................................... 273 Namenverzeichnis Stichwortverzeichnis
...................................................... 305 319
Tabellenverzeichnis Abschnitt 11 Tabelle 1: Parlamentswahlen: Abgeordnetenkammer (in %) 1946-1987. . . . . . . . . .
38
Abschnittm Tabelle 1: Die Regierungen vor der Verfassung (1945-47)
68
Tabelle 2: Die Regierungen der Legislaturperioden (1948-1988)
69
Abschnitt VI Tabelle 1: Entwicklung einiger volkswirtschaftlicher Größen 1938-50
114
Tabelle 2: Entwicklung des BIP, der umlaufenden Geldmenge und der Lebenshaltungskosten (1950= 1) 1950-60 .............................. 118 Tabelle 3: Index der Preissteigerungen im BiP (1963 = 100) 1951-1961 .......... 119 Tabelle 4: Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Verwaltung (laufendes Budget) in Milliarden Lire, 1951-1961 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 120 Tabelle 5: Verhältnis von Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Verwaltung zum jeweiligen BIP 1951-1960 ................................. 121 Tabelle 6: BIP zu Marktpreisen (in Milliarden Lire) 1951-1960
124
Tabelle 7: Veränderungen von BIP, Investitionen und Preisen gegenüber dem Vorjahr in % 1951-1961 .......................................... 125 Tabelle 8: Handels- und Zahlungsbilanz (zu laufenden Preisen, in Milliarden Lire) 1951-1961 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 126 Tabelle 9: Entwicklung der Handelsbilanz (in Milliarden Lire von 1967) 1950-1958
128
Tabelle 10: Aufteilung der Beschäftigten auf die verschiedenen Sparten (in %) 1951-1958 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 129 Tabelle 11: Aufteilung in % des BIP auf die großen Produktionssparten (zu Faktorkosten) 1951-1961 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 129 Abschnitt VII Tabelle 1: Beschäftigung und Einkommen der abhängig Beschäftigten in Industrie und Landwirtschaft von 1961 bis 1981 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 135
Tabellenverzeichnis Tabelle 2: Pro-Kopf-Produktion in Süd- und Norditalien 1951-1981
9 135
Tabelle 3: Jährliche Variationen von BIP und Preisen 1961-1984 .,........... 142 Tabelle 4: Zahl der Ausstände und verlorenen Arbeitsstunden 1967-1983
149
Tabelle 5: Zusammensetzung der Staatsausgaben (Werte in % der Gesamtzahlungen) 1972-1981 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 162 Tabelle 6: Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Verwaltung in % des BIP 1965-1981 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 163 Tabelle 7: Zusammensetzung der Einkünfte der öffentlichen Verwaltung 1965-1980 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 178 Tabelle 8: Struktur der öffentlichen Ausgaben (in % des BIP) 1954-1980 ...... 181 Tabelle 9: Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Verwaltung in % des BIP 1965-1981 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 183 Tabelle 10: Finanzsalden der öffentlichen Verwaltung (in % des BIP) 1965-1981
183
Tabelle 11: Brutto- und Nettogewinne einer Gruppe von 202 italienischen Unterneh187 men der verarbeitenden Industrie (in Milliarden Lire) 1963-1980 Tabelle 12: Selbstfinanzierungsrate in der italienischen Verarbeitungsindustrie 1959-1970 .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 188 Tabelle 13: Selbstfinanzierungsrate in Unternehmensgruppen in Frankreich, BRD und Holland 1967-1974 '" .. ...... .. . . .. . ... ... ... . . . . ... .... 189 Tabelle 14: Aufteilung des gesamten Binnenkredits der Banken 1970-1981
191
Tabelle 15: Jährliche Veränderungen im Preisindex 1960-1980 ................ 197 Tabelle 16: Schöpfung von monetärer Basis (Variationen in Milliarden Lire) 1964-1980 .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 200 Tabelle 17: Bargeld und Bankeinlagen (in 1000 Milliarden Lire) 1966-1973
202
Tabelle 18: Zinssätze und Dividenden Gährliche Durchschnittssätze) 1961-1982 .. 205 Tabelle 19: Nettoemissionen von Staatspapieren und Obligationen (in %) 19611982 ....................................................... 211 Tabelle 20: Finanzierung des öffentlichen Defizits durch die Zentralbank (in%) 1971-1982 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 212 Tabelle 21: Aufteilung des gesamten Binnenkredits an den öffentlichen und den privaten Sektor 1971-1981 ..................................... 213 Tabelle22: Beschäftigung und Arbeitslosigkeit 1960-1980 .................... 219 Tabelle 23: Jährliche Variationsraten (in %) der Investitionen (zu Preisen von 1970) 1961-1981 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 220
10
Tabellenverzeichnis
Tabelle 24: Zahl der Beschäftigten (in Millionen Einheiten), auf Landesteile aufgeschlüsselt 1951-1981 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 220 Tabelle 25: Jährliche nominale und reale Zuwachsraten der Löhne und Gehälter (in %jeweils gegenüber dem VOIjahr) in der italienischen verarbeitenden Industrie 1971-1981 .......................................... 221 Tabelle 26: Entwicklung einiger volkswirtschaftlicher Größen 1970-1982: Vergleich zwischen "Mezzogiorno" und Mittel- und Norditalien 1970-1982 222 Tabelle 27: Anteil der Lohnkosten der abhängig Beschäftigten an der Wertschöpfung (zu Faktorkosten) der italienischen Wirtschaft 1951-1982 .......... 223 Tabelle 28: Löhne, Gehälter und indirekte Kosten, sowie Unternehmensgewinne in % der Wertschöpfung in der italienischen Verarbeitungsindustrie 1954-1976
.............. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 224
Tabelle 29: Bruttorendite auf dem investierten Firmenkapital (in%) 1960-1973 .. 224 Tabelle 30: Ergebnisse der Betriebsstättenzählung 1961-1981
................. 225
Tabelle 31: Bruttogewinnrate in der Verarbeitungsindustrie 1963-1981
......... 226
Tabelle 32: Verhältnis zwischen Verschuldung und Aktivposten in den Firmenbilanzen 1963-1978 ............................................ 228 Tabelle 33: Bilanzergebnisse der Staatsbeteiligungskonzerne IRI, ENI und EFIM (in Milliarden Lire) 1977-1984 .................................... 228 Tabelle 34: Jährlicher Bedarf an Finanzmitteln des staatlichen Sektors (in % des BIP) 1973-1980
.................................................. 229
Tabelle 35: Verschuldung des staatlichen Sektors 1972-1982 .................. 229 Tabelle 36: Ausgaben für Zinsendienst (in % des BIP) der öffentI. Verwaltung in verschiedenen Ländern 1965-1980 ................................ 230 Tabelle 37: Sparkapitalbildung in Italien (in Milliarden Lire) 1970-1980
........ 232
Tabelle 38: Sparkapitalbildung in verschiedenen Ländern (in % des BIP) 19701980
....................................................... 233
Tabelle 39: Verhältnis zwischen öffentlichen Ausgaben für Investitionszwecke und BIP (zu konstanten Preisen) in % 1960-1980 ..................... 234 Tabelle 40: Inflationsraten und Variationen des BIP 1961-1981
236
Abschnitt VIII
Tabelle 1: Ausstände (in 1000 Stunden) 1980-1987
241
Tabelle 2: Arbeitslosenrate (in % der Arbeitskräfte) 1981-1987 ............... 242 Tabelle 3: Variationen der Bruttolöhne und -gehälter der unselbständig Beschäftigten 1982-1987 ............................................... 246
Tabellenverzeichnis Tabelle 4: Variationen in den Konsumgüterpreisen 1981-1987
11 246
Tabelle 5: Schöpfung von monetärer Basis (Variationen in Milliarden Lire) 1980-1986 .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 248 Tabelle 6: Zinsentwicklung (in %) 1980-1987
.............................. 250
Tabelle 7: Jährliche Zuwachsraten des realen Bruttosozialprodukts (in %) 1981-1987 ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 252 Tabelle 8: Jährliche Ausgaben, Einnahmen und Verschuldung des "Öffentlichen Sektors" 1980-1987 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 252 Tabelle 9: Die öffentliche Verschuldung 1980-1987
253
Tabelle 10: Zinszahlungen für den Schuldendienst im "Staatlichen Sektor" 1980-1987 ......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 254
I. Einleitung 1. Der Begriffsrabmen der Untersucbung Wer sich in der wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Wirklichkeit Italiens zurechtfinden will, steht vor erheblichen Schwierigkeitenl . Hat man es doch mit einem Land zu tun, dessen Wirtschaftsgeschehen dem ausländischen, aber nicht selten selbst dem inländischen Beobachter eine Fülle von Fragen stellt. Wie kann eine Wirtschaft bei den vielen Streiks 2 , bei den hohen Inflationsraten überhaupt überleben 3 . Dahinter steht insbesondere die Grundsatzfrage nach dem Vorgehen der wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger und dahinter wieder die Problematik des Zusammenspiels der politischen Kräfte. Man hat Mühe, sich in dieser Kette der Sachverhalte, Aktionen und Reaktionen Klarheit zu verschaffen, und ist versucht anzunehmen, daß ein "System der Systemlosigkeit" vorliegt. Es kommt der Eindruck auf, daß Italien ein Land ist, das aufgrund der Eingebung des Augenblicks und nach dem Prinzip des jeweiligen geringsten Widerstandes "weiterwurstelt"4. Diese Feststellungen führen automatisch zur Frage, ob sich in Italien überhaupt von einer Wirtschaftspolitik sprechen läßt. Denn nur wenn eine genau definierbare Ausrichtung die Fülle der Beschlüsse mit Wirtschaftsrelevanz prägt, läßt sich von einer wirtschaftspolitischen Linie und damit überhaupt von "Wirtschaftspolitik" sprechen. Kann doch die Wirtschaftspolitik nicht als "loser Sammelbegriff für die in der Praxis mit diesem Wort bezeichneten Sachverhalte" gelten s. 1 P. Fritzsche. (Die politische Kultur Italiens, Frankfurt, Campus, 1987, S. 15) spricht von einem "Gestrüpp widersprüchlicher Realität zwischen ... scheinbarem Chaos und hintergründiger Ordnung (oder umgekehrt) ... " Und T. Wieser und F. Spotts (Der Fall Italien, Frankfurt a / M., Wömer, 1983, S. 1) stellen fest: "Das politische System Italiens ist unter den westlichen Demokratien ein Fall eigener Art." M. Gerner. Die Krise Italiens, in H. G. Weh/ing. Westeuropas Parteiensysteme im Wandel, Stuttgart, Kohlhammer, 1983, S. 145ff. schreibt, daß "Italien als ein Musterbeispiel rur Unregierbarkeit" gilt. 2 Siehe Tabelle 4 in Abschnitt VII.3 über die Ausstände und die verlorenen Arbeitsstunden. 3 Siehe Tabelle 3 in Abschnitt VII.2. 4 K. J. Allen and A. A. Stevenson. An Introduction to the Italian Economy, London, Robertson, 1974, weisen auf die überraschenden, ja nicht selten absurden Aspekte der Vorgänge in der italienischen Wirtschaft hin, indem sie jeweils an den Anfang der Kapitel ein Zitat aus "Alice in Wonderland" stellen. 5 T. Pütz. Grundlagen der theoretischen Wirtschaftspolitik, Stuttgart, Fischer, 1975, S.4.
14
I. Einleitung
Will man also einen klärenden Einblick in die Vorgänge auf der italienischen wirtschaftspolitischen Bühne bekommen, muß man versuchen, wesentliche Grundlinien aus der Komplexität der Strukturen und Vorgänge herauszukristallisieren. Hierfür bedarf es allerdings eines begrifflichen Rahmens, der Maßstäbe und Richtlinien für die Darlegung setzt. So wollen wir einleitend kurz eine theoretische Begriffsabklärung vornehmen und zwar in dem Maße, in dem dies für die anschließende Analyse erforderlich ist. Die Praxis bestätigt immer wieder, daß die Wirtschaftsentwicklung ein gestaltungsfähiger und selbst gestaltungsbedürftiger Prozeß ist 6 • Unter Wirtschaftspolitik ist also die Summe der Entscheidungen des Staates zu verstehen, die auf die Wirtschaftsordnung und den spontanen Wirtschaftsablauf Einfluß nehmen 7 • Eine weitere Überlegung ist folgende: die Wirtschaftspolitik ist ein Teil der allgemeinen Politik und hat sich entsprechend organisch in diese einzufügen. Der normative Charakter der Wirtschaftspolitik hat dem der Politik zu entsprechen und ist spezifisch auf die Wirtschaft hin umzuformen. 6 F. Gygi, Wirtschaftsverfassung der Handels- und Gewerbefreiheit, Zeitschrift für Schweizerisches Recht, N. F. 89, 2. Bd., Basel, 1970, S. 273, weist unter Berufung auf die Schweizer Wirtschaftsordnung darauf hin, daß die altliberale Vorstellung durch das Fehlen förmlich postulierter oder stillschweigend anerkannter Makroziele gekennzeichnet war. Man beschränkte sich - so Gygi - auf die Makroziele einer Konjunkturpolitik auf der Basis der Handels- und Gewerbefreiheit. "Die heutige Gesamtwirtschaftspolitik entspringt demgegenüber der Erkenntnis und Erfahrung, daß dies gemischte Wirtschaftssystem - und zwar ebenfalls im marktwirtschaftlich orientierten Bereich - der bewußten Lenkung auf seine Ziele bedarf. Man setzt sich Ziele und man verfolgt eine Zielrealisierungspolitik. " Siehe auch G. Gäfgen, Allgemeine Wirtschaftspolitik, in Kompendium der Volkswirtschaftslehre, Band 2, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1969 (2. Aufl.), S. 169. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf die Erkenntnis von F. A. von Hayek (Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Landsberg alL., Verlag für Modeme Industrie, 1980 -1981, Bd. 2, S. 18), wonach das Vorgehen der Gesellschaft grundsätzlich auf der vergangenen Erfahrung aufbaut. Bestimmte Arten von Situationen sind also mit verschiedenen Graden von Wahrscheinlichkeit zu erwarten, so daß die Resultate nicht unbedingt vorhergesehen werden können. 7 Diese Definition der Wirtschaftspolitik stammt von T. Pütz, Grundlagen der theoretischen Wirtschaftspolitik, S. 4. F. Gygi, (Wirtschaftsverfassung der Handels- und Gewerbefreiheit, Zeitschrift für Schweiz. Recht, S. 271), faßt den Begriff hingegen weiter. Er versteht darunter "alle Verhaltensweisen des Staates - also nicht nur Eingriffe oder Vorkehrungen - welche Daten setzen, wirtschaftlich also relevant, im Gesamtkreislauf des Wirtschaftsgeschehens einzustellen oder von den privaten Unternehmern als Gegebenheiten in ihren Dispositionen einkalkuliert sind". Siehe auch F. Gygi, die Schweizerische Wirtschaftsverfassung, 2. Auflage, Bern, Haupt, 1978. G. Gäfgen, Allgemeine Wirtschaftspolitik, in Kompendium der Volkswirtschaftslehre, Bd.2, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1969, S. 117ff. versteht unter der (theoretischen) Wirtschaftspolitik "die Lehre von der Gestaltung wirtschaftlicher Tatbestände durch die für diese Aufgabe gesamtwirtschaftlich legitimierten oder tatsächlichen Einfluß ausübenden Instanzen, zu denen vor allem die staatlichen, oder vom Staat legitimierten Institutionen, aber auch einige andere Großgruppen gehören."
I. Der Begriffsrahmen der Untersuchung
15
Mit dem Begriff des "Staates" sind die Träger der politischen Führung des Landes - also das Parlament, die Exekutive, die Verwaltung - gemeint. Wenn wir von "Regierung" sprechen, so verstehen wir darunter nicht die "Exekutive" im Sinne der Verfassung, sondern die Träger der politischen Führung des Landes, also neben der Exekutive auch und vor allem das Parlaments. Wir sind uns allerdings bewußt, daß es nicht nur diese Entscheidungsinstanzen gibt. Praktische Wirtschaftspolitik erfolgt oft dezentral. Doch vereinfacht diese Zusammenfassung der Entscheidungsträger die Erörterung der Probleme 9 • Nach diesen einleitenden Ausführungen wollen wir auf die Ansätze eingehen, die wir für die Untersuchung der italienischen Wirtschaftspolitik benützen werden. a) Der Ansatz der theoretischen Wirtschaftspolitik
Jede Art von Politik und also auch die Wirtschaftspolitik hat ihre "Grundsätze" und zwar gesellschaftspolitische Wertvorstellungen, die es zu verwirklichen gilt. Den Grundsätzen haben die Ziele der Politik zu entsprechen, also die Vorstellungen über die anzustrebende gesellschaftspolitische Lage. "Grundsätze" und "Ziele" sind Begriffe, die in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen und sich selbst weitgehend decken können. Wirtschaftspolitik wird dann rational, wenn sie ihre Grundsätze und Ziele eindeutig und widerspruchsfrei bestimmt und jene Mittel anwendet, die im Hinblick auf die gegebene Lage unter Wahrung der aufgestellten Ordnungsprinzipien eine optimale Zielverwirklichung gewährleisten 10. Nach dieser Definition müssen also zwei Bedingungen erfüllt werden, damit sich von einer "Rationalität" der Wirtschaftspolitik sprechen läßt. Einerseits muß die Widerspruchsfreiheit der Ziele gegeben sein; andererseits sind die Mittel zur Erreichung dieser 8 Für eine Definition von "Regierung" in unserem Sinne verweisen wir auf die von R. A. Dahl und C. E. Lindblom. die von A. Downs (Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen, Mohr, 1968, S. 21) zitiert und kommentiert wird, wonach "Regierungen ... Organisationen sind, die ein ausreichendes Machtmonopol haben, um eine geordnete Regelung von Streitigkeiten mit anderen Organisationen, die in dem betreffenden Gebiet wirken, erzwingen zu können . . . Wer den Staatsapparat kontrolliert, kann anderen in dem betreffenden Gebiet tätigen Organisationen Entscheidungen aufzwingen." 9 E. Tuchtfeldt. Bausteine zur Theorie der Wirtschaftspolitik, Stuttgart, Haupt, 1987, S.106ff. 10 Wir übernehmen die nachfolgenden Überlegungen zur Theorie der Wirtschaftspolitik von T. Pütz. Die Theorie der rationalen Wirtschaftspolitik, Schriften des Vereins f"ür Socialpolitik, NF, Band 130, S. 13 und 14. Siehe auch T. Pütz und G. Neuhauser, Einige Bemerkungen zum Begriff der rationalen Wirtschaftspolitik, in E. Küng (Hsgb.), Wandlungen in Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen, Mohr, 1980, S.488. Auf die Problematik, die sich aus der Gegenüberstellung von Rationalität der Wirtschaftspolitik und Demokratie ergibt, geht D. Lukesch (Das Problem rationaler Wirtschaftspolitik in der "alten" und der "neuen" Ordnungs theorie, "Wirtschaftspolitische Blätter", 5 - 6, 1989) ein.
16
I. Einleitung
Ziele so zweckdienlich und wirtschaftlich wie möglich einzusetzen. In der Praxis wird sich die erste Bedingung allerdings nur selten erfüllen lassen, da jedes wirtschaftspolitische Konzept normalerweise Ziele festlegt, die untereinander zumindest teilweise direkt oder indirekt in Kontrast stehen. Trotzdem läßt sich - so scheint uns - dem wirtschaftspolitischen Konzept eine wenn auch nur beschränkte Rationalität nicht absprechen, sofern es eine limitierte Vereinbarkeit der Ziele zuläßt. Auch die Forderung nach einem zweckdienlichen und wirtschaftlichen Einsatz der Mittel wird normalerweise in der Praxis keineswegs voll, sondern nur bedingt verwirklicht. Entsprec,hend wird man dann die Rationalität der Ablaufspolitik als "beschränkt" bezeichnen. Diese Aussagen gehen davon aus, daß die Ziele aufgrund gesellschaftspolitischer Wertvorstellungen, die den Gedanken der Freiheit oder der Gerechtigkeit, des Wohlstandes oder der Sicherheit oder ein anderes gesellschaftspolitisches Prinzip oder selbst mehrere Prinzipien gleichzeitig verwirklichen sollen 11, im vorhinein bestimmt sind. Nach dem theoretischen Ansatz werden die Ziele der Wirtschaftspolitik als anzustrebende Zustände der Gesamtwirtschaft vom Staat vorgegeben, der als zuständig für die wirtschaftspolitische Leitung betrachtet wird. Diese wirtschaftspolitischen Ziele werden also exogen bestimmt. Die Zielstruktur ist entscheidend für die Ordnungspolitik, also das wirtschaftspolitische Konzept. Es hat sich in den von der Verfassung vorgegebenen normativen Rahmen (die sogenannte Wirtschaftsverfassung) einzufügen, der sich aus den verfügten Rechtsnormen ergibt, die der Wirtschaftsgemeinschaft konzeptkonforme Verhaltensregeln auferlegen 12 ; also aus den staatlichen Maßnahmen, die die Wirtschaftsordnung gestalten, erhalten und ausbauen und somit die Rahmenbedingungen setzen, innerhalb derer sich der Wirtschaftsprozeß zu vollziehen hat 13 • Das Konzept besteht aus Leitlinien zur aktiven Beeinflussung und Gestaltung der Wirtschaftspraxis. Es ist also umfassend angelegt und ist insofern normativ, als es Richtlinien für Problemlösungen enthält, die längerfristig für Einzelentscheidungen Gültigkeit haben sollen. Hierbei stellt sich die Frage, welche Dauer der "Längerfristigkeit" zuerkannt werden soll. Dabei läßt sich zwischen subjektiver und objektiver "Längerfristigkeit" unterscheiden. Subjektiv ist sie dann, wenn sich der Träger der Wirtschaftspolitik vom Bestreben leiten läßt, ein Konzept auf unbeschränkte Zeit, also unabhängig vom Wirtschafts geschehen zur Anwendung zu bringen. In einer objektiven Schau verstehen wir hingegen unter "Längerfristigkeit" jene Zeitspanne, die für die Ausprägung in der Praxis eines wirtschaftspolitischen Konzepts erforderlich ist. Sie ist demnach in ihrer Dauer im vorhinein nicht bestimmbar, aber jedenfalls zeitlich beschränkt. 11
12 13
E. Tuchtfeldt, Bausteine zur Theorie der Wirtschaftspolitik, S. 163fT. T. Pütz, Theorie der rationalen Wirtschaftspolitik, S. 12. J. Altmann, Wirtschaftspolitik, Stuttgart, Fischer, 1985, S. 93.
1. Der Begriffsrahmen der Untersuchung
17
Die Ordnungspolitik wird für die Ablaufspolitik maßgeblich, die die Mittel im Hinblick auf die bestmögliche Erreichung der vorgegebenen Ziele bestimmt. Ist die Ablaufspolitik rational, weisen diese Mittel eine "Ausrichtung" auf, die nicht nur einheitlich ist, sondern auch dem ordnungspolitischen Konzept entsprechen muß 14. Wenn Ordnungspolitik und Ablaufspolitik in diesem Verhältnis der gegenseitigen Komplementarität stehen, werden wir von "wirtschaftspolitischer Linie" sprechen. Diese Aussagen lassen sich in folgendem Schema veranschaulichen:
Ordnungspolitisches Konzept
Ablaufspolitische Massnahmen
Schema I
Das Schema besteht aus zwei Feldern: einem karierten Feld, das das ordnungspolitische Konzept darstellt, und einem Feld, das für die ablaufspolitischen Mittel - die ablaufspolitischen Maßnahmen - bestimmend ist. Diese sind durch die Pfeile dargestellt. Die Pfeile, die den Rahmen nicht übertreten, sollen die Maßnahmen darstellen, die konzeptkonform sind. In dem Maße, in dem sich eine Entsprechung von Ordnungs- und Ablaufspolitik - also eine "wirtschaftspolitische Linie" - ergibt, läßt sich von einer "rationalen" Wirtschaftspolitik sprechen. Die ablaufspolitischen Maßnahmen können ihrerseits als Ziele formuliert sein, die dann wieder einer Durchführung - einer Ablaufspolitik - bedürfen. 14 T. Pütz. Theorie der rationalen Wirtschaftspolitik, S.12. Siehe auch A. Wol/. Wirtschaftspolitik, München, Vahlen, 1984, S. 14fT.
2 Fraenkel
18
I. Einleitung
Diese Ziele stellen also - gegenüber den großen Zielen der Ordnungspolitik, die wir auch als "Hauptziele" bezeichnen können - Teil- oder Unterziele dar. Sie bedürfen ihrerseits bisweilen der Verwirklichung anderer Teil- oder Unterziele. Es kommt also in der Ablaufspolitik zu einem Zielsystem mit einer Rangordnung der Ziele in Form einer Zielpyramide. Da das Zusammenspiel von Zielen und Mitteln in einem bestimmten Bereich auch als "Politik" bezeichnet wird, läßt sich auch von einer Rangordnung der Politiken (also von ihrer "Pyramide") sprechen 15. Die Ziele sind umso konkreter gefaßt, je tiefer sie in der Pyramide stehen. Sie sind hingegen genereller und abstrakter formuliert, je näher sie der Pyramiden spitze sind. Dadurch kann es im Einzelfall unter Umständen schwer werden, die Grenzen zwischen Ordnungs- und Ablaufspolitik genau festzulegen, und es stellt sich die Frage, wo das ordnungspolitische Konzept aufhört und die Ablaufspolitik beginnt. Nach unserem Dafürhalten kann eine Ordnungspolitik allerdings nicht nur aus ganz generell formulierten Grundsätzen (Freiheit, Gleichheit oder anderen Prinzipien) bestehen, sondern muß diese schon so praxisbezogen sehen, daß das Konzept ein Minimum an konkreten Richtlinien für die Ausformung der Ablaufspolitik enthält. In diesem Sinne werden wir in den Abschnitten VI, VII und VIII auf die Ausformung der Wirtschaftspolitik in der italienischen Praxis eingehen. Aus der Ausrichtung einer (rationalen) Ablaufspolitik läßt sich also aufgrund ihrer Verknüpfung mit der (rationalen) Ordnungspolitik im Falle einer wirtschaftspolitischen Linie auf die Zielstruktur dieser Ordnungspolitik schließen. Wir deuteten darauf hin, daß die Wirtschaftspolitik auf die spontane Entwicklung der Wirtschaft einwirkt. Unter "Wirtschaft" ist ein System zu verstehen, in dem der Markt die einzelwirtschaftlichen Entscheidungen ständig auf das Gleichgewicht der Kräfte hin steuert und koordiniert l6 • Einheit der Analyse ist das Individuum, das in seinem Verhalten rational ist und zwar in dem Sinne, daß es unter den gegebenen Umständen den größten relativen Nutzen oder die geringsten Kosten (nach dem "Eigennutzenaxiom") sucht. Wenn das Individuum also eine Veränderung seines Handlungsspielraumes feststellt, wird es darauf seinen Präferenzen entsprechend im Sinne des Eigennutzens reagieren. Das Verhalten von Kollektiven ergibt sich aus der Aggregation des Verhaltens von Individuen und nicht aus einem eigenständigen Handeln. Auf die in dieser Zusammenfassung von individuellen Verhaltensweisen enthaltene Problematik werden wir später eingehen l7 • 15 Wir werden insbesondere in Abschnitt VII sehen, wie die eine oder andere Politik als Mittel für die Erreichung von ihr übergeordneten Zielen eingesetzt wird. 16 Es sei in diesem Zusammenhang nicht auf die Gleichgewichtstheorie eingegangen, die zu den wesentlichen Bestandteilen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie gezählt werden kann und die als bekannt vorausgesetzt wird. Verwiesen sei auch auf eine andere Definition des Begriffes "Wirtschaft", die von J. M. Buchanan (Die Grenzen der Freiheit, Tübingen, Mohr, 1984, S. 25ff.) entwickelt wurde; danach handelt es sich "um ein System von Märkten oder Institutionen des Tausches auf der Grundlage einer exakt definierten Ordnung oder eines Katalogs individueller Rechte".
1. Der Begriffsrahmen der Untersuchung
19
Dieser Ansatz, der aus allgemeinen Grundannahmen durch formale Ableitung zu spezifischen Ergebnissen kommt 18 , wird auch als "theoretisch" bezeichnet. Er ist normativ oder "präskriptiv", da er Richtlinien für die Zukunft festlegt. Damit wird er auch ergebnisorientiert. Dem Ökonomen kommt dieser Ansatz gelegen. Kann er sich doch auf seine logische Konsistenz und formale Geschlossenheit berufen, da er aufschlußreiche wissenschaftstheoretische Bewertungskriterien der jeweiligen Situation gibt und die zu erwartenden Ergebnisse, Wirkungsweisen und Erfolgsaussichten der einzusetzenden wirtschaftspolitischen Mittel aus einem kleinen Satz von Annahmen logisch ableitet. So läßt er raum- und zeitlose Aussagen zu, und zwar über das Verhalten des Systems als Ganzes und in seinen Teilaspekten. Der Ökonom wird also als allmächtiger Lenker des Wirtschaftsgeschehens gesehen, dessen Entwicklung er im Sinne von "richtig" oder "falsch" bewerten kann l9 . Derselbe Ansatz weist jedoch auch "erhebliche Mängel" auf: seine Ausgangspositionen sind einseitig oder beschränkt oder wirklichkeitsfremd. So liegt ihm die individualistische Vorstellung eines "homo oeconomicus" zugrunde, der nur auf Nutzenmaximierung bedacht ist und der anhand dieser Nutzenfunktion passiv auf ökonomische Vorgänge reagiert 20 • Durch seine individualistischen Perspektiven fällt es ihm schwer, kollektive Prozesse und andere wesentliche Tatbestände zu erfassen, so daß seine Schlußfolgerungen deduktiv sagen, was geschehen soll, und nicht, was tatsächlich geschehen wird 21 . Ferner sagt er nichts über die Entscheidungsfindung im politischen Kollektiv zur Festsetzung der wirtschaftspolitischen Zielsetzungen aus. Über der Suche nach sachlogisch konsistenten Entscheidungen vernachlässigt er die Gegebenheiten bei deren Zustandekommen im demokratischen Prozeß der politischen Willens- und Entscheidungsbildung, in dem - dies zeigt die Praxis - Faktoren enthalten sind, die dessen Rationalität entscheidend beeinträchtigen oder selbst ins Nicht-Rationale verkehren können 22 • Gerade die Zusammenfassung der Siehe Abschnitt IH.3, wo wir das Unmöglichkeitstheorem von K. Arrowerwähnen. A. Meier und D. Mettler. Auf der Suche nach einem neuen Paradigma der Wirtschaftspolitik, "Kyklos", Vol. 38, 1985, Fase. 2, S. 194. 19 A. Meier und D. Mettler, Auf der Suche ... , S. 117. 20 A. Meier und D. Mettler, Auf der Suche ... , S. 177. 21 A. Downs, Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen, Mohr, 1968. 22 Auf den Gegensatz zwischen Lehre und Praxis im politischen Handeln des Staates wies bereits 1942 J. Schumpeter in seinem Werk "Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie" (München, Francke, 1980, 5. Auflage, S. 417fT.) hin, der bekanntlich zu den "Vätern" der NPÖ gezählt wird. Dieselben kritischen Überlegungen werden auch im Werk von F. von Hayek. Die Verfassung der Freiheit, Tübingen, Mohr, 1983 (im Kapitel über "die Herrschaft der Mehrheit", S. 125 fT.) angetönt. R. Neck (Zur Theorie der Wirtschaftsolitik: Ansätze und Probleme, in H. Abele u. a., Handbuch der österreichischen Wirtschaftspolitik, Wien, Manz, 1984, S. 102) stellt die positive wirtschaftspolitische Theorie der normativen gegenüber. Siehe auch A. Meier und D. Mettler, Auf der Suche ... , S. 171 fT., die insbesondere auf S. 177 auf die Mängel des traditionellen Ansatzes eingehen. 17
18
2*
20
I. Einleitung
individuellen Präferenzen im Kollektiv enthält eine Problematik, die vom theoretischen Ansatz der Wirtschaftspolitik nicht berücksichtigt wird und die darin liegt, daß eine widerspruchsfreie Aggregation normalerweise in einem demokratischen Verfahren nicht möglich ist; ja, daß bei Anwendung der Mehrheitsregel selbst paradoxe Ergebnisse auftreten und - je nach Verfahren und Regel- bei identischen individuellen Präferenzen unterschiedliche kollektive Ergebnisse zustande kommen können 23 . Ferner können gerade in der parlamentarischen Demokratie mit ihrem Interessenpluralismus Konflikte zwischen dem Willen zu folgerichtigem politischem Handeln und dem gleichzeitigen Streben nach politischer Macht, nach Prestigegewinn, nach WäWerpräferenzen usw. aufkommen; zwischen wirtschaftspolitischem Zweckstreben und politischem Machtstreben; zwischen unterschiedlichen Interessen 24 • Dies führt zu unklaren, mehrdeutigen, unvollständigen und entsprechend inkonsistenten Zielvorstellungen und -bestimmungen 2S . b) Der Ansatz der Neuen Politischen Ökonomie
Die Logik der politischen Vorgangsweise und insbesondere die Ausformung der Beziehungen zwischen Politik und Wirtschaft von einer praxisnäheren Warte als im Ansatz der theoretischen Wirtschaftspolitik zu erfassen ist das Anliegen der Neuen Politischen Ökonomie (anschließend als NPÖ bezeichnet)26. Dieser theoretische Ansatz, der auch als "ökonomische Theorie der Politik" bezeichnet wird 27 , faßt die Politik nicht mehr als begrenzte, bereichsbezogene Sozialwissenschaft im konventionellen Sinn auf, sondern 23 Siehe Abschnitt III.3, wo wir auf das Unmöglichkeitstheorem von K. Arrow eingehen. Siehe auch J. Buchanan and G. Tullock. The Calculus ofConsent, Ann Arbor, Univ. of Michigan Press, 1975 (5. Aufl.). Siehe auch B. S. Frey. Modeme politische Ökonomie, S. 105ff. 24 A. Meier und D. Mettler. Auf der Suche ... , S. 179. 2S T. Pütz. Theorie der rationalen Wirtschaftspolitik, S. 14. 26 Die Theorie und Thesen der Neuen Politischen Ökonomie werden als bekannt vorausgesetzt. Eine knappe Übersicht gibt F. Lehner. Einführung in die Neue Politische Ökonomie, Königstein, Athenäum, 1981, wie auch G. Kirsch. Neue Politische Ökonomie, 2. Auflage, Düsseldorf, Wemer, 1983. Zu verweisen ist auch auf den Sammelband von W. W. Pommerehne und B. S. Frey. Ökonomische Theorie der Politik, Berlin, Springer, 1979. Die italienisch-sprachige Literatur beschränkt sich vorwiegend darauf, Schriften angelsächsischer Autoren wiederzugeben (so S. Carrubba e D. Da Empoli, Scelte pubbliche, costi della politica e controllo democratico, Firenze, Le Monnier, 1984, mit Beiträgen von J. Buchanan. G. Tullock. A. Downs. W. Niskanen usw.) oder sie zu kommentieren; so S. Carrubba e D. Da Empoli, La scuola di Public Choice, Roma, Fe, 1979. Wir verweisen ferner auf den Artikel von G. Regoncini. Public Choice, una teoria per l'analisi delle politiche pubbliche, "Stato e Mercato", 1984, Nr. 11, S.299ff. 27 F. Lehner. S. 9.
1. Der Begriffsrahmen der Untersuchung
21
untersucht die politischen Tatbestände unter Zuhilfenahme der wirtschaftstheoretischen Instrumente 28 • Ausgangspunkt ist der traditionelle Ansatz eines ökonomischen Verhaltensmodells des Individuums nach dem Eigennutzenprinzip, der auf die politische Ebene übertragen wird, um daraus auf Regelmäßigkeiten zu schließen. Dabei wird das Individuum als rationaler Mensch gesehen, dessen Beziehungen zu den Mitmenschen vor allem die Form des Tausches annimmt. Das "Ökonomische" an der NPÖ ist also die Anwendung des wirtschaftstheoretischen Instrumentariums auf das politische Verhalten 29 • So wird beispielsweise der Wahlvorgang in die Kategorie des Tausches eingegliedert, bei dem jeder der heiden Partner - der Wähler und der Wahlkandidat - maximalen Nutzen zu erwirtschaften trachtet: der Wähler, weil er sich für diejenige Partei entscheidet, die mit ihren Vorschlägen und Versprechungen seinen Auffassungen - seinen Präferenzenam meisten entspricht; der Kandidat, weil er dadurch Wahlstimmen zu gewinnen strebt. Demokratie wird dadurch zu einem Wettbewerbssystem, in dem die Politiker um die Stimme der Wähler kämpfen 30 • An dieser Stelle sei uns gestattet, kurz den Ausdruck "Politiker" terminologisch von dem des "politischen Entscheidungsträgers" abzugrenzen. Unter "Politiker" verstehen wir den individuellen Teilnehmer am politischen Entscheidungsprozeß, der mit der Wählervertretung beauftragt ist. Die Aufgabe des Politikers ist es, das politische Problem zu erfassen, zu erkennen, zu untersuchen, zu vertiefen, um dann darüber eine Entscheidung zu treffen. Der Wähler wird von uns hingegen nicht als "Politiker" im obengenannten Sinne gesehen. Zwar ist er Teilnehmer am politischen Entscheidungsprozeß, aber als Träger politischer Anliegen und Forderungen an den Politiker stellt er sich diesem gegenüber. Ist er doch ein (wesentlicher) Teil von dem Umfeld - der "Praxis"31 -, das der Politiker in seiner Entscheidung mitberücksichtigt. 28 Unter Politik verstehen wir mit P. Gerlich, (Parlamentarische Kontrolle im politischen System, Wien, Springer, 1973, S. 29) ,jene soziale Zone, innerhalb derer Konflikte über Entscheidungen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz in der Regel unter Ausübung von Macht, insbesondere von institutionalisierter Macht, also Herrschaft, ausgetragen werden". 29 Dieses Instrumentarium läßt sich auch auf andere Sozialwissenschaften wie die Soziologie, die Sozialpsychologie usw. anwenden; siehe hierzu das Geleitwort von H. Albers in: R. McKenzie und G. Tullock, Homo oeconomicus, Frankfurt, Campus, 1984, S. 5. Dabei sind wir uns bewußt, daß die Anwendung einer mirkoökonomischen Logik auf kollektive (politische) Entscheidungen auch zu Bedenken Anlaß geben kann: kann doch diese Logik als unzureichend für die Erfassung des Menschen als Entscheidungsträger in seiner geistigen Vielfalt und Unberechenbarkeit betrachtet werden. Siehe auch J. Buchanan, The Constitution ofEconomic Policy, "American Economic Review", Vol. 77, Nr. 3, Juni 1987, S. 243ff. 30 P. Herder-Dorneich, Problemgeschichte zur ökonomischen Theorie der Demokratie, Schriften des Vereins für Socialpolitik, 11. F., Bd. 98, 1978, S. 489. 31 Wir betrachten die Worte "Umfeld" und "Praxis" als gleichbedeutend und werden sie entsprechend alternativ verwenden.
I. Einleitung
22
Das nachfolgende Schaubild stellt schematisch den politischen Entscheidungsprozeß in der Sicht der NPÖ dar. Es handelt sich dabei um einen zeitlich ablaufenden und fortschreitenden zusammenhängenden Vorgang, der in einem Endergebnis - der Entscheidung - mündet 32 • Vorentscheidungsträger (Parteien, Verbände usw.) '---W-ä-hl-e-rS-Ch-a-ft-'1 /
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I Regierung
I
POLITISCHE ENTSCHEIDUNG
Schema 2 Der politische Entscheidungsprozeß
Unter dem "politischen Entscheidungsträger" verstehen wir das Kollektiv von Politikern, das - in Vertretung der Wähler - politische Entscheidungen trifft. Es ist allerdings eine Unterscheidung mit Bezug auf die Funktion der Entscheidungsträger im Entscheidungsprozeß vorzunehmen: die nach außen wirksame Entscheidung ist allein die der Regierung; die Entscheidungen der anderen Wählervertretungen sind hingegen "nach innen" gerichtet, und zwar in dem Sinne, daß sie die Regierungsentscheidung zu beeinflussen trachten. So lassen sich diese Wählervertretungen im Gegensatz zur Regierung auch als "Vorentscheidungsträger" bezeichnen. Das Verhalten der Entscheidungsträger deckt sich in der Sicht der NPÖ mit dem des Politikers: auch sie müssen die Probleme erkennen, durchleuchten und dann darüber entscheiden. Wenn wir also anschließend vom Verhalten der politischen Entscheidungsträger sprechen, werden wir damit implizit auch das des Einzelpolitikers meinen. Die politische Entscheidung ist das Ergebnis einer Folge von ihr vorausgehenden Entscheidungen auf den einzelnen Stufen des Entscheidungsprozesses. Diese Stufen entsprechen den Vorentscheidungsträgern bis hin zum Entscheidungsträger, wobei sich die Regeln der NPÖ über das politische Verhalten auf jeden Entscheidungsträger beziehen. 32
S.67.
E. Thöni, Politökonomische Theorie des Föderalismus, Baden-Baden, Nomos, 1986,
1. Der Begriffsrahmen der Untersuchung
23
Das Verhaltensmodell der individuellen Nutzenmaximierung wird im Ansatz der NPÖ auf den Politiker und auf den politischen Entscheidungsträger übertragen 33 . Der Politiker setzt sich demnach nicht das Ziel der Verfolgung gesamtgesellschaftlicher Ziel- und Wohlfahrtsfunktionen, sondern der Maximierung des eigenen Nutzens. Der Politiker ist also nicht mehr der allwissende Lenker des Wirtschaftsgeschehens, sondern ein eigennütziger Faktor im politischen System, der in seinem Handeln auf die im Rahmen der ihm von der Wählerschaft vorgegebenen Richtlinien lediglich auf eine der Wiederwahl und Stimmenmaximierung am besten entsprechende Vorgangsweise bedacht ist. Kollektive Entscheidungen - also die Ergebnisse politischer Wahlen, Regierungsentscheidungen usw. - werden auf die gebündelten Präferenzen von Individuen (Wählern, Politikern, Parlamentariern) zurückgeführt. Gerade diese Problematik, die sich aus der demokratischen Zusammenfassung ("Aggregation") der unterschiedlichen individuellen Präferenzen ergibt, ist ein wichtiger Bestandteil der ökonomischen Theorie der Politik 34 • So weist K. Arrow nach, daß die Umsetzung dieser Präferenzen in widerspruchsfreie kollektive Entscheidungen im demokratischen Verfahren nicht möglich ist 3s . In der Sicht der NPÖ werden demnach die politischen Entscheidungen nicht durch eine vorgegebene (exogene) Zielvorstellung gelenkt, sondern vom politischen System aufgrund seiner jeweiligen Situation getroffen. Sie werden also als abhängige (endogene) Größen des Gesamtsystems betrachtet. Damit wird die Regierungstätigkeit zu einem Teil eines interdependenten Systems 36 und die NPÖ auchzur "ökonomischen Theorie der Demokratie"37. Wir deuteten bereits an, daß dieser Ansatz auch dazu verwendet wird, die gegenseitige Abhängigkeit von Politik und Wirtschaft zu erklären 38 . Wie B. S. Frey ausführt, setzt Wirtschaftspolitik voraus, daß "aus dem wirtschaftlichen Bereich herausgetreten und der politische Bereich einbezogen wird" 39. Mit 33 P. Herder-Dorneich, S. 502. Siehe auch K. A. Chrystal and D. A. Peel, What can Economics Leam from Political Science, and Vice versa? "American Economic Review", Vol. 76, Nr. 2, Mai 1986, S. 62ff.; sowie A. M. Rivlin, Economics and the Political Process, "American Economic Review", Vol. 77, Nr. 1, März 1987, S. 1 ff. 34 B. S. Frey, Modeme politische Ökonomie, S.94; siehe auch A. Meier und D. Mettler, Wirtschaftspolitik - Kampf um Einfluß und Sinngebung, Bem, Haupt, 1988. 35 Wir verweisen auf Abschnitt III.3, wo wir auf das Unmöglichkeitstheorem von K. Arrow eingehen. 36 A. Meier und D. Mettler, Auf der Suche ... , S. 179. So schreibt R. Neck, S. 109: "Das zentrale Anliegen dieses Ansatzes ist in der Forderung zu sehen, den Gegenstand der ökonomischen Analyse auch auf das politische System auszuweiten; der Wirtschaftspolitiker soll nicht mehr exogen außerhalb des Systems stehen, sondern ,endogenisiert' werden, indem auch politische Entscheidungsprozesse analysiert werden ... " 37 In diesem Sinne P. Herder-Dorneich, S.487ff. 38 B. S. Frey, Modeme politische Ökonomie, S. 7. 39 B. S. Frey, Theorie demokratischer Wirtschaftspolitik, Einleitung, München, Vahlen, 1981, S. V.
24
I. Einleitung
anderen Worten, Wirtschaftspolitik ist nicht mehr - wie im theoretischen Ansatz - als ein Teilbereich der Wirtschaftswissenschaft allein, sondern auch als ein Teilbereich der Politologie zu sehen, der geeignet ist, insbesondere wirtschaftspolitische Verhaltensweisen zu untersuchen. Dieser Ansatz wird infolgedessen auch dazu benützt, die jeweilige Abhängigkeit der wirtschaftlichen Regierungsentscheidungen vom allgemeinen Zustand der politischen oder wirtschaftlichen Situation zu analysieren. So untersucht Frey - normalerweise in einer kurz- oder mittelfristigen Schau - Teilbereiche der Beziehungen zwischen Politik und Wirtschaft wie beispielsweise die Arbeitslosigkeitsbekämpfung oder die Inflationsrate vor politischen Wahlen40 • Er hat aber auch für die Interdependenz zwischen Politik und Wirtschaft das Grundschema eines politisch-ökonomischen Modells entwickelt, in dem er zwischen dem politischen und dem wirtschaftlichen Bereich unterscheidet. Der Einfluß der Politik auf die Wirtschaft wird darin mittels einer Politikfunktion der Regierung erfaßt, der Einfluß der Wirtschaft auf den politischen Bereich mittels einer Bewertungsfunktion der Wähler.
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I
I
Bewertungsfunktion Grundschema eines politisch-ökonomischen Modells
Methodologisch beschäftigt sich die NPÖ mit der Beschreibung der verschiedenen Aspekte der politischen Wirklichkeit, um daraus auf Wirkungszusammenhänge zu schließen. Diese sollen verursachende Abläufe wie auch die 40 B. S. Frey, Politisch-ökonomische Modelle: Übersicht und Stand der Forschung. Schriften des Vereins für Socialpolitik, NF, Band 98, Berlin, Duncker & Humblot, 1978, S.504ft".
1. Der Begriffsrahmen der Untersuchung
25
notwendigen Bedingungen für die Erreichung von notwendigen Zuständen und Folgewirkungen aufzeigen. Aus einer Mehrzahl von Erkenntnissen, wie sie sich aus der Praxis ergeben, kommt man dann in einer logischen Verbindung zu einer umfassenderen und verallgemeinernden Erklärung des politischen Handeins. Dadurch läßt sich eine Rationalität des politischen Handeins herausfiltern, also eine Vorgangsweise, "die so angelegt ist, daß durch sie auf ökonomisch sinnvolle Weise die bewußt gewählten politischen oder wirtschaftlichen Ziele des Handelnden erreicht werden"41. Es läßt sich feststellen, daß dieser Ansatz in zweifacher Weise interdisziplinär ist: einmal darin, daß politologische Erkenntnisse in das Begriffsschema der Wirtschaftswissenschaft eingefügt werden; zum anderen darin, daß der wirtschaftstheoretische Begriffsapparat auf das politische Handeln Anwendung findet. In diesem Sinne kommt er zu Erkenntnissen, die zum theoretischen Ansatz der Wirtschaftspolitik komplementär sind 42 . Dieser Ansatz weist allerdings auch Mängel auf43 • So wird die Vorstellung des nutzenmaximierenden Individuums vom rationalen Ansatz übernommen und auf Wähler und Politiker ausgedehnt. Dieses individuelle Verhaltensmodell auf die politische Ebene zu übertragen kann zu Ergebnissen führen, die nicht immer befriedigend sind 44 • Ferner wird dem Ansatz vorgeworfen, daß er zwar dazu angetan ist, aus der Analyse des politischen Entscheidungsprozesses Regelmäßigkeiten im politischen Verhalten herauszufiltern, aber nicht unbedingt Aussagen über den Entscheidungsinhalt zu machen 4s . Aus diesen Feststellungen ergibt sich die Schlußfolgerung, daß es der NPÖ unter Umständen schwer fällt, das Zustandekommen einer wirtschaftspolitischen Linie als praktischem Ausdruck eines wirtschaftspolitischen Konzepts zu erklären. Es stellt sich selbst die Grundsatzfrage, ob es in der Politik überhaupt rationale Verhaltensweisen geben kann oder ob diese nicht von der jeweiligen Situation abhängen. Damit wird in Abrede gestellt, daß es möglich ist, den staatlich-politischen Entscheidungsprozeß erfolgreich zu endogenisieren und seine Ergebnisse zu prognostizieren46 • 41 A. Downs, Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen, Mohr, 1968, Einleitung, S.4ff. 42 T. Pütz, Die Theorie der rationalen Wirtschaftspolitik, S. 28 ff., weist daraufhin, daß die Wirtschaftstheorie als Grundlage für die Lösung instrumentaler Probleme der Wirtschaftspolitik als nicht ausreichend empfunden werden kann. 43 A. Meier und D.'Mettler, Auf der Suche ... ,S.181. T. Pütz, Theorie der rationalen Wirtschaftspolitik, S. 47, schreibt: "In meinen antikritischen Ausführungen habe ich auf die großen Schwierigkeiten der multi- und interdisziplinären Forschung hingewiesen; damit sollte aber nicht die große Bedeutung dieser Frage für die Weiterentwicklung der theoretischen Wirtschaftspolitik unterschätzt werden." 44 T. Pütz und G. Neuhauser, S.488ff. 45 A. Meier und D. Mettler, Auf der Suche ... , S. 194. 46 A. Meier und D. Mettler, Auf der Suche ... , S. 175 ff.
26
I. Einleitung
Diesem Einwand begegnet Frey zumindest teilweise mit dem Begriff des gesellschaftlichen Grundkonsens 47 , den er auf zwei Ebenen sieht: einmal auf der Ebene der Grundregeln und Institutionen, die das gesellschaftliche Handeln umgrenzen sollen 48 • Es handelt sich um die von der Verfassung festgelegten Grundsätze für die Wirtschaftsordnung, die von längerfristigen Richtlinien für deren Ausgestaltung ergänzt werden, sowie um die Festlegung der Entscheidungsträger im Staat. Die zweite Ebene ist die des "laufenden politischen Prozesses", in dem diese Entscheidungsträger innerhalb der vom Grundkonsens gesetzten Grenzen ihre eigenen Interessen durchsetzen49 • c) Der integrierende Ansatz
Wirtschaftspolitik läßt sich in einem funktionalen Sinn als politische Verarbeitung wirtschaftlicher Probleme in einem ständigen Entscheidungsfluß sehen so. Sie ist dann nicht mehr als eine Folge von Einzelentscheidungen, sondern als evolutionärer Prozeß zu betrachten, in dem die Einzelentscheidungen in einem gegenseitigen Wirkungszusammenhang stehen. Die Fülle der Einzelentscheidungen fügt sich also zu einer einheitlichen politischen Willensbildung zusammen. Dieser Prozeß läuft einerseits in einem Umfeld ab, das für die politische Entscheidung bestimmend ist. Andererseits wird er aber auch durch ihm immanente normative Kräfte gelenkt, die ihm eine praxisunabhängige Eigendynamik verleihen. Wir wollen also einen realistisch-normativen Ansatz für die Analyse des Objekts unserer Untersuchung zur Anwendung bringen SI. Für eine U ntersuchung der Wirkungszusammenhänge scheinen allerdings die Ansätze der NPÖ und der theoretischen Wirtschaftspolitik nicht ausreichend. So analysiert der Ansatz der NPÖ das Verhalten der Entscheidungsträger auf den verschiedenen Stufen des politischen Entscheidungsprozesses. Dieser Ansatz stellt zwar einen funktionalen Bezug zwischen den politischen Entscheidungen und der Praxis her, sieht die Praxis aber nur als spezifischen Teilbereich und nicht in der bunten Vielfalt der Wünsche, Anliegen, Forderungen usw. noch sieht er den Wirkungszusammenhang zwischen zu fällenden und bereits gefällten Entscheidungen. Ferner läßt er im vorhinein keine konsistenten Prognosen über den Entscheidungsinhalt zu. Wird dieser doch jeweils erst aus dem Tiegel der vielfältigen Anliegen in der politischen Arena (auf dem "politischen Markt") herausge47 B. S. Frey, Theorie demokratischer Wirtschaftspolitik, S. 22fr.; siehe auch A. Meier und D. Mettler, Auf der Suche ... , S. 175. 48 B. S. Frey, Theorie demokratischer Wirtschaftspolitik, S. 22. 49 B. S. Frey, Theorie demokratischer Wirtschaftspolitik, S. 278. 50 C. Donolo e F. Fichera, Il govemo debole, Bari, De Donato, 1981, S. 38ff. 51 A. Pelinka, Dynamische Demokratie, Stuttgart, Kohlhammer, 1974, S. 17.
1. Der Begriffsrahmen der Untersuchung
27
schmolzen 52. Der Ansatz der theoretischen Wirtschaftspolitik geht hingegen auf den wirtschaftspolitischen Entscheidungsinhalt ein. Er sieht jedoch den wirtschaftspolitischen Bereich in einer koordinierenden und selbst steuernden Sicht, und zwar in Form von Richtlinien, die für die Zukunft Lösungsvorschläge anbieten sollen. Dieser normative Ansatz läßt demnach die Praxis unberücksichtigt. Der Zusammenhang zwischen den Einzelentscheidungen liegt hingegen in der Berufung auf ein gemeinsames Konzept als lenkendem Element der ablaufspolitischen Maßnahmen. Der Ansatz geht auch nicht auf die Gründe für Abweichungen vom und für Änderungen im Konzept ein. Es ist also ein Ansatz zur Anwendung zu bringen, der diesen Einwänden vorbeugt. Unser Ansatz, der sich aus der politologischen Analyse der politischen Entscheidung entwickeln läßt, hat diese Aufgabe 53 • Er geht von der Vorstellung aus, daß sich die Ausformung des politischen Willens aus einer Folge von interdependenten Entscheidungsschritten ergibt. Wir werden diese Folge - die einen organischen Charakter aufweist - als "Willensbildung" bezeichnen. Bei jedem neuen Schritt wird der Politiker oder der Entscheidungsträger prüfen, ob aufgrund der ihm zugetragenen Informationen, Wünsche und Anliegen die von ihm bislang eingeschlagene Einstellung beibehalten oder abgeändert werden soll oder nicht. Dabei wird er vorgegebene ordnungspolitische Linien - also bereits festgelegte Entscheidungsinhalte - in seine Überlegungen einbeziehen. Ferner wird er sein weiteres Vorgehen den sich bei dieser Überprüfung ergebenden Erkenntnissen anpassen. Dabei wird er in seinen Entscheidungen jeweils die Praxis in ihrer politischen, gesellschaftspolitischen, wirtschaftlichen und sonstigen Komplexität berücksichtigen, wie sie sich aus der Differenzierung der Strukturen, aus der Vielschichtigkeit der wirtschaftlichen und sonstigen Enzelentwicklungen und dem Interessenpluralismus in der Wählerschaft ergibt. Die politische Willensbildung der Regierung wird dadurch zu einer zusammenhängenden Folge von Einzelentscheidungen, wovon jede nicht nur die Grundlage für eine weitere ist, sondern auch mit früher gefällten Entscheidungen in einem sachlichen Zusammenhang steht. Denn die Entscheidungsträger überdenken bei jedem Schritt ihre zu treffende Entscheidung im Lichte der ihnen zugetragenen Informationen, Anliegen, Parallelaktionen usw. Die politische Willensbildung wird dadurch zum Ergebnis einer Vielzahl von Faktoren und zum Prozeß. Sie baut sich im Laufe der Zeit aufS4 • C. E. Lindblom, The Intelligence of Democracy, New York, Free Press, 1965. C. Donolo e F. Fichera, Il governo debole, S.40ff. Siehe auch F. Naschold, Systemsteuerung, Stuttgart, Kohlhammer, 1971, S. 62ff. 54 P. Trupia, Logica e linguaggio della politica, Milano, Angeli, 1986, spricht von "konstruktiver Theorie" (S.86). Er beruft sich auf: S. Körner, Categorial Framework, Oxford, Blackwell, 1970, sowie vom selben Autor: Experience and Conduct, Cambridge, 52 53
I. Einleitung
28
Wir können diesen Prozeß schematisch wie folgt darstellen.
Sequenzen 2
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Schema 3 Schematische Darstellung der zeitlichen Ausformung einer Ablaufspolitik
Das Schema 3 schildert den Ausformungsprozeß einer Ablaufspolitik. Dieser Prozeß wird in einem zeitlich artikulierten Ablauf gesehen, und zwar als schrittweises ("inkrementales") Vorgehen des politischen Entscheidungsträgers. Die Ablaufspolitik wird zu einer Folge von Entscheidungen, die sequenzhaft getroffen werden 55. Der Ring - der Knotenpunkt - soll nicht nur aussagen, daß der politische Entscheidungsträger zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Entscheidung trifft, sondern auch, daß eine Entscheidung anschließend zu einer neuen Entscheidung oder selbst zu mehreren neuen Entscheidungen zu thematisch verbundenen oder ansatzweise verzahnten Problemen Anlaß geben kann; diese Entscheidungen werden dann ihrerseits wieder als Knotenpunkt mit denselben Merkmalen dargestellt 56 • Der Strich zwischen den Ringen deutet an, daß jede Entscheidung aus einer vorhergehenden herauswächst. Die Ablaufspolitik baut sich also mit der Zeit zu einem Astwerk auf. Die Wirtschaftspolitik wird damit zu einem Ablauf von organisch verbundenen Entscheidungen, der jeweils eine Synthese zwischen unterschiedlichen politischen Anliegen, wirtschaftspolitischen Planungselementen und der Praxis sucht; der also nicht von einem absoluten Ausgangspunkt konzipiert, sondern sequenzhaft vollzogen wird 57. CUP, 1976; und auf A. Gregorcyk, A Philosophically Plausible Formal Interpretation of Intuitional Logic, New York, Johnson, 1964. Siehe auch M. Crozier et E. Friedberg, L'acteur et le systeme, Paris, Seuil, 1977. 55 F. Naschold, Systemsteuerung, S. 65. 56 P. Trupia, S. 88. 57 C. Donolo e F. Fichera, Il govemo debole, S.40ff. Siehe auch F. Naschold, Systemsteuerung, S. 62 ff.
2. Gegenstand und methodischer Ansatz der Untersuchung
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Dieser Ansatz läßt sich als "evolutionär" und als "integrierend" bezeichnen, da er die jeweiligen Wirkungszusammenhänge zwischen drei Elementen koordiniert: 1. der Praxis - dem allgemeinen Umfeld - als Faktor der Rückkopplung, der Kontrolle, der Neuerung und des Ansporns; 2. der politischen Einzelentscheidung als dem jeweiligen Ergebnis des politischen Entscheidungsprozesses; 3. dem wirtschaftspolitischen Konzept als Ausdruck ordnungspolitischen Denkens.
2. Gegenstand und methodischer Ansatz unserer Analyse Gegenstand unserer Analyse ist die Ausformung der italienischen Wirtschaftspolitik in der Zeitspanne von Kriegsende bis zum Auslaufen der 80er Jahre. Wir werden hierfür den Ansatz verwenden, den wir als "integrierend" bezeichnet haben und den wir in einem Modell zusammenfassen werden. Anhand dieses Bezugsrahmens werden wir die Gestaltung der italienischen Wirtschaftspolitik in ihrem zeitlichen Ablauf untersuchen. Dieses Modell betrifft eine Realität der politischen Willensbildung, die sich angesichts der Vielschichtigkeit des Kräftespiels und der Wirkungszusammenhänge teilweise einer rationalen Untersuchung entzieht. Verhält sich doch der politische Entscheidungsträger nicht nur adaptiv aufUmwelteinflüsse, sondern verfügt auch über Autonomie in seiner Entscheidung S8 • Hierfür kommt also nur eine beschreibende Darstellung in Frage. In diesem Rahmen lassen sich aber auch Teilbereiche feststellen, in denen die Möglichkeit der Rationalisierung des faktischen Entscheidungshandelns über die Abklärung von Regelmäßigkeiten in den Verhaltensabläufen hinaus besteht. Hierfür sind die Bereiche des Verhaltens der politischen Entscheidungsträger und der Bewertung wirtschaftspolitischer Entscheidungsinhalte von Bedeutung. Für die Analyse dieser Bereiche sind die Ansätze der NPÖ und der Theorie der Wirtschaftspolitik geeignet, die wir - auch unter Einbeziehung soziologischer und politologischer Erkenntnisse - verwenden werden. Unser methodischer Ansatz stellt also eine Synthese zwischen deskriptiver Darlegung und analytischer Untersuchung dar und entspricht damit der Komplexität der Tatbestände.
Im Interesse einer anschaulicheren Darlegung des Modells scheint es zweckmäßig, eine Analyse der genannten zwei rational durchleuchtbaren Bereiche voranzustellen. Darin soll der Bereich der politischen Entscheidungsfindung zuerst einmal unabhängig von seinen Wechselwirkungen auf Entscheidungsinhalt und Praxis und der Bereich der konzeptuellen Inhalte unabhängig von seinen Wirkungszusammenhängen mit dem Entscheidungsprozeß und der Praxis untersucht werden. Erst anschließend werden wir auf das Modell 58
F. Naschold, Systemsteuerung, S. 28.
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I. Einleitung
eingehen und diese Bereiche dann auf das Modell hin qualifIzieren, damit sie sich sinnvoll einfügen lassen. In den Abschnitten 11 und 111 werden wir demnach das Verhalten "an sich" der italienischen Wählerschaft und der politischen Vorentscheidungsträger (Parteien, Tarifpartner) und Entscheidungsträger (Regierung) untersuchen. Im Abschnitt IV werden wir einen zusammenfassenden Überblick über die Aussagen der italienischen Wirtschaftsverfassung als dem normativen Rahmen geben, der den Trägem der Wirtschaftspolitik vorgegeben ist und der die Leitlinien der ordnungspolitischen Konzepte umreißt, die von der Wirtschaftspolitik in der Praxis verwirklicht werden dürfen. Im Abschnitt V werden wir das diese Ansätze integrierende Modell erläutern, das wir auf die Wirtschaftspolitik im Zeitraum von 1945 bis zum Ende der 80er Jahre anwenden wollen. Eine Schilderung ihrer Ausprägung erfolgt in den anschließenden Abschnitten. Wir haben es dabei für zweckmäßig gehalten, den untersuchten Zeitraum in Phasen einzuteilen. Sie entsprechen jeweils der Ausprägung eines bestimmten wirtschaftspolitischen Konzepts. Wir sind uns bewußt, daß wir dabei Folgerungen vorwegnehmen, die sich erst aus der Analyse ergeben. Unser Vorgehen soll jedoch einer anschaulicheren Schilderung der Tatbestände und Wirkungszusammenhänge dienen. So werden wir auf diese Phasen in den Abschnitten VI, VII und VIII eingehen. Abschnitt VII wird zusätzlich zu einem besseren Verständnis der Vorgänge nach ablaufspolitischen Bereichen unterteilt. Abschnitt IX, der auch einige Schlußfolgerungen enthält, geht auf Merkmale und Rationalität unseres Modells ein. Ihm folgt ein kurzes Schlußwort. In diesem Zusammenhang sei auch auf die von uns benutzten statistischen Unterlagen eingegangen. Leider gibt es keine Veröffentlichung, die ein einheitlich aufgebautes, vollständiges Zahlenwerk bringt. So waren wir dazu genötigt, Zahlen zu übernehmen, die in verschiedenen Veröffentlichungen enthalten sind und aufgrund unterschiedlicher Berechnungsmethoden nicht immer übereinstimmen. Unsere Vorgangsweise scheint zulässig, wenn man nicht so sehr quantitative Angaben, sondern Zahlenreihen geben will, die Tendenzen aufzeigen. Uns geht es darum, gerade diese Trends darzulegen, da sie für die Perioden, in denen sie aufkommen, bezeichnend sein können. Diese Funktion sollen die Zahlentabellen erfüllen. Noch einige Anmerkungen seien zur Bibliographie angebracht. Zu den angeschnittenen Themen gibt es eine Flut wissenschaftlicher Literatur. Alle Autoren zu erwähnen wäre wenig sinnvoll. So haben wir uns auf die Angabe von Werken beschränkt, die uns jeweils besonders aufschlußreich oder "repräsentativ" oder aussagekräftig erscheinen. Mehrheitlich haben wir italienische Autoren - aus offensichtlichen Gründen - zitiert. Allerdings haben wir im Rahmen der allgemeinen begrifflichen
2. Gegenstand und methodischer Ansatz der Untersuchung
31
Ausführungen auch auf nicht italienische Autoren zurückgegriffen. Dies gilt insbesondere für die Abschnitte 11, 111 und IV. Wo wir auf die Begriffe, Erkenntnisse und Argumentationen der Theorie der Wirtschaftspolitik, der Neuen Politischen Ökonomie und der Politologie eingegangen sind, war die Erwähnung vor allem amerikanischer und deutscher Autoren erforderlich. In den Abschnitten 111 und IV, die die Träger der Wirtschaftspolitik und die Wirtschaftsverfassung zum Gegenstand haben, haben wir gelegentlich bei der Erwähnung von verfassungsrechtlichen Grundsätzen, Bestimmungen und Überlegungen zum Vergleich und zur Ergänzung auch österreichische und deutsche Autoren zitiert, die sich mit denselben Themen befassen oder sich im sei ben Sinne wie die italienischen Autoren zu bestimmten Tatbeständen aussprechen.
11. Das italienische politische System:
Die Wählerschaft und ihre Vertretungen 1. Die Wählerschaft Wie wir im einführenden Abschnitt darlegten, beginnen wir unsere Untersuchung mit einer Analyse des Verhaltens der Wählerschaft und der politischen Entscheidungsträger 59 • Im vorliegenden Abschnitt werden wir also das Verhalten der Wähler und ihrer Vertretungen - Parteien und Verbände - umreißen. Dabei wollen wir vor allem auf wesentliche Motivationen für die Vorgangsweise im politischen "Tauschgeschäft" im Sinne der NPÖ hinweisen. In einem anschließenden Abschnitt werden wir dann - in dem Maße, in dem dies für das Verständnis der Vorgänge auf der italienischen politischen Bühne wesentlich erscheint - auf die Zusammenhänge und Wechselwirkungen im parlamentarischen Kräftefeld sowie auf die Prozesse eingehen, die die politischen Entscheidungen dann tatsächlich beeinflussen und selbst prägen. Wir werden uns dabei des system theoretischen Rahmens der NPÖ bedienen. Wir werden allerdings feststellen, daß er in seinem prozeßtheoretischen, aber nicht unbedingt in seinem inhaltstheoretischen Ansatz geeignet ist, die italienische Realität zu erfassen. So werden wir uns auch kritisch mit ihm auseinandersetzen. An den Anfang unserer Überlegungen sei die Theorie des Wählerverhaltens von Downs gestellt OO , wonach die Parteien - in einer rationalen Sicht der Funktionsbedingungen einer idealen Demokratie - von einer Wählerschaft getragen werden, die keine grundsätzlichen Präferenzen für die eine oder andere Partei aufweist. Downs spricht davon, daß der Wähler die Parteiprogramme studiert, um den politischen Nutzen oder Un-Nutzen, den ihm die einzelnen Parteien anbieten, abzuwägen und sich anläßlich der Wahl für die eine oder andere zu entscheiden 61 • Jeder Wähler trifft also bewußt-unbewußt eine 59 Von den vielen Autoren, die sich mit diesem Thema befassen, seien folgende erwähnt: K. von Heyme, Das politische System Italiens, Stuttgart, Kohlhammer, 1970, S.86fT.; T. Stammen, Parteien in Europa, München, Beck, 1978, S. 97fT. 60 A. Downs, Ökonomische Theorie der Demokratie; siehe auch F. Lehner, S. 35fT., der allerdings darauf hinweist, daß die Downssehe Theorie "in vieler Hinsicht abstrakt ist"; siehe auch B. M. Harry, Die ökonomische Theorie der Demokratie, in W. Pommerehne und B. S. Frey, Ökonnomische Theorie der Politik, Berlin, Springer, 1979, S.227fT.
1. Die Wählerschaft
33
Bewertung aufgrund einer Art Kosten-Nutzen-Rechnung, die in einem psychologischen "Parteiendifferential" mündet 62 • Hinter diesen Auffassungen steht die Annahme, daß in den westlichen Demokratien in der Wählerschaft ein grundsätzliches Einverständnis über die gesellschaftspolitischen Grundwerte und die demokratischen "Spielregeln" herrscht 63 • Dieses Grundeinverständnis kommt insofern in den Parteienprogrammen zum Ausdruck, als diese ähnliche, wenn auch nicht gleiche Zielvorstellung aufweisen 64. Es kommt damit zu einer "Konkurrenzdemokratie" , in der die Parteien im Wettbewerb um die Wählerstimmen einer weitgehend übereinstimmenden Wählerschaft stehen 6s • Diese Homogenität der Parteienkonzeptionen hat zur Folge, daß trotz eines Parteienpluralismus, der verschiedene Formen annehmen kann 66 , das Downssehe Modell vor allem auf Zweiparteiensysteme anglo-amerikanischer Prägung Anwendung findet 67 , in denen - im Sinne der "Konkurrenzdemokratie" - alle Parteien grundsätzlich miteinander bündnisfähig, also "aggregationsfähig" sind. Das parlamentarische System, das die Grundlage für die Erkenntnis der NPÖ bildet, ist weiterhin durch die Tatsache gekennzeichnet, daß die im Parlament
61 A. Downs, S. 80 ff. Er weist allerdings daraufhin, daß es auch Wählerkategorien gibt, die nicht durch ökonomische Überlegungen motiviert sind (der Agitator, der apathische Wähler usw.). Siehe auch F. Lehner, S. 23. 62 Das Modell des räumlichen Wettbewerbs (von E. Hotelling, Stability in Competition, in "Economic Journal", Vol. 34, 1929, S. 41-57) läßt sich auch auf die Parteienkonkurrenz in der Wählerschaft - also auf den "politischen Markt" - übertragen. Eine Analyse der Bedingungen und insbesondere der Unterschiede zwischen ökonomischer und politischer Konkurrenz, die diese Übertragung zulassen, ist enthalten in R. Dinkel, Der Zusammenhang zwischen der ökonomischen und politischen Entwicklung in einer Demokratie, Berlin, Duncker & Humblot, 1977, S. 17ff. 63 Diese Auffassung wird ausdrücklich mit Bezug auf die USA von R. McKenzie und G. Tullock, (Homo Oeconomicus, Frankfurt, Campus, 1978) vertreten. So aufS. 234: "in einer zwei Parteien-Demokratie wie wir die in den Vereinigten Staaten kennen, neigen die Parteien dazu, sehr nahe beieinanderzuliegen . . . " 64 So schreibt F. Lehner (S. 35): "Das Downs'sche Modell der Parteienkonkurrenz behauptet, daß die Strategien und Programme von Parteien konvergieren (nahezu identisch werden), wenn die Verteilung der Wählerpräferenzen eingipflig ist. In einer Gesellschaft mit einer ausdifferenzierten Schichtenstruktur und einer starken Mittelschicht werden also, Downs folgend, konkurrierende Parteien weitgehend übereinstimmende Programme vertreten." 6S A. Pelinka, Moderne Demokratietheorie und Parteiideologie, S. 129ff., sowie vom selben Autor, Politik und moderne Demokratie, Kronberg/Ts., Skriptor Verlag, 1976, S. 31 ff. 66 M. Duverger unterscheidet in seinem Standardwerk Les Partis politiques (Paris, Colin, 1954) zwischen dem "einfachen Zweiparteiensystem" (beispielsweise in den USA) und dem "gemäßigten Pluralismus" (beispielsweise in der BRD). 67 So A. Pelinka, Moderne Demokratietheorie und Parteiideologie, S. 125.
3 Fraenkel
34
11. Das italienische politische System
vertretenen Parteien zwei Bereichen angehören: einem Bereich, in dem eine führende Regierungspartei (zusammen mit den sich um sie gruppierenden kleineren Parteien) über die Regierungsmehrheit im Parlament verfügt und der die Aufgabe der Gesetzgebung und deren Durchführung zukommt 68 ; und dem Bereich der Opposition (mit einer Großpartei und den sich darum gruppierenden kleineren Parteien) mit der institutionellen Aufgabe des Ansporns, der Kritik und der Kontrolle. Es besteht die ständige Möglichkeit eines Austausches zwischen Regierungs- und Oppositionspartei. Die Regierungspartei wird dadurch "bestraft", daß sie ihre Machtstellung an der Regierung verliert und in die Schattenstellung der Opposition treten muß. Die Oppositionspartei verfügt über eine ständige Anwartschaft auf den "Platz an der Sonne" in der Regierung und entsprechend über ein "Einschüchterungspotential" gegenüber der Regierungspartei. Jede Partei stellt also jeweils eine Regierungsalternative zur anderen dar 69 • Diese Alternative kann durch den tatsächlichen Austausch zum Tragen kommen oder nur potentiell sein, also eine Möglichkeit darstellen 70. Diese Sicht der Dinge ist für Italien nicht zutreffend. Zwar bestehen die zwei Bereiche der Regierungs- und Oppositionsparteien; aber es herrscht trotzdem ein Parteiensystem, das sich nicht ganz mit dem deckt, das Downs im Auge haCl. Denn in Italien fehlt in der Wählerschaft ein Grundkonsens über die gesellschaftsbildenden Werte. Um ein wenig tiefer in die Analyse des Wählerverhaltens einzutreten, scheint es zweckmäßig, den vorwiegend ökonomischen Ansatz der Wählerentscheidung von Downs mit seiner Analyse kurz- und mittelfristiger Verhaltensweisen zu verlassen und zu versuchen, das Verhalten der Wähler mit Hilfe längerfristiger 68 Auf den BegritT der Partei aus der Sicht der NPÖ gehen wir später in diesem Abschnitt ein. 69 G. Sartori, Bipartitismo imperfetto ... , S.21. 70 So stellt G. Galli in seinem Buch "Dal bipartitismo imperfetto alla possibile alternativa (Bologna, Mulino, 1975, S. 11) die Frage, ob es ein echtes Zweiparteiensystem in Ländern wie Frankreich und England gibt. Denn selbst in diesen Ländern wechseln sich nicht ständig zwei Parteien an der Regierungsspitze ab. Aber überall besteht - so stellt Galli fest - die Möglichkeit eines Austauschs zwischen Parteien oder Koalitionen. Ein Zusammenfassung der Thesen von G. Galli befindet sich in P. Fritzsche, S. 100tT. 71 Wir verweisen auf die Ausführungen zum "polarisierten Pluralismus" von G. Sartori (Bipartitismo imperfetto 0 pluralismo polarizzato? in "Tempi moderni", Nr. 31, 1967., zuerst verötTentlicht mit dem Titel: European Political Parties, the Case of Polarized Pluralism, in J. La Palombara and M. Weiner, Political Parties and Political Development, Princeton, Princeton Univ. Press, 1966). In seinen Überlegungen geht der Autor von der Feststellung aus, daß das italienische System - wie das der Vierten Französischen Republik und das der Weimarer Republik - eine Sonderstellung einnimmt. Es lasse sich - so Sartori - nicht in eine Normalschau des parlamentarischen Systems einfügen. Seine Überlegungen legt Sartori auch in folgenden Schriften dar: "Parties and Party Systems", New York, Cambridge University Press, 1976, sowie in Teoria dei partiti e caso italiano, Milano, SugarCo, 1982.
1. Die Wählerschaft
35
sozial-ökonomischer Determinanten zu erklären. Hierfür ist ein soziologischer Ansatz eher geeignet 72 • Als wesentliche längerfristige sozialökonomische Determinante läßt sich das ideologische Moment im politischen Denken der italienischen Wähler sehen 73. Es führt zu einer Schau, die das politische Geschehen dogmatisch bewertet und von der Praxis absieht. Die Wählerpräferenzen bleiben im Laufe der Zeit konstant. Der italienische Wähler ändert normalerweise seine Überzeugung nicht, er "wandert nicht ab". Vom Tagesgeschehen läßt er sich nicht beeinflussen. Diese"Treue" läßt sich auf seine ideologische Abneigung gegen ein Abgehen von der von ihm einmal eingeschlagenen Linie zurückführen. Ist doch der Abstand von einer Ideologie zur anderen zu groß. als daß er bereit wäre, die "moralischen Kosten der Abwanderung" auf sich zu nehmen 74 • Nur unter Bedingungen, die von ihm als außerordentlich und als besonders gravierend empfunden werden, wird er zu Zugeständnissen in seinen Überzeugungen bereit sem. Die ideologische Loyalität paart sich mit dem Familiensinn des Italieners. Die Wählerpräferenzen beruhen zumeist auf der politischen Ausrichtung - der "politischen Tradition" - der Familie. So stellte eine Untersuchung fest, daß "die Söhne weitgehend wie die Väter wählen" 75 • Mit anderen Worten: die italienischen Wähler gehen nicht aufgrund einer rationalen Entscheidung zwischen konkurrenzierenden politischen Parteien, sondern aufgrund "traditioneller" Überlegungen vor 76 • Darum heißt es bisweilen, der italienische Bürger wähle "mit dem Herzen und nicht mit dem Verstand". Damit findet die erhebliche Starrheit des Wählerverhaltens eine Erklärung. Angesichts der Fülle der Interpretationen, die der Begriff der "Ideologie" erfahren hat 77, ist es zweckmäßig, ihn kurz zu umreißen. Wir verstehen darunter 72 G. Kirchgässner, Können Ökonomie und Soziologie voneinander lernen? "Kyklos", vol. 33, 1980, Fase. 3, S.486. 73 D. E. Stokes (Spatial Models of Party Competition, "American Political Science Review", II, 1963, S. 368-377) unterscheidet zwischen Parteien, die auf ideologische Grundauffassungen besonderes Gewicht legen, und solchen, die dies nicht tun. Siehe hierzu auch G. Sartori, Teoria dei partiti e caso italiano, S.46ff. 74 A. O. Hirschmann, Abwanderung und Widerspruch, Tübingen, Mohr, 1974, S. 78ff. Auf die Problematik der Wählerloyalität gehen auch P. Bernholz und F. Breyer (Grundlagen der politischen Ökonomie, Tübingen, Mohr, 1984, 2. Aufl., S.297) ein. Allerdings erwähnen sie unter den Gründen der Wählerbindung an eine bestimmte Partei die ideologische Präferenz (bezeichnenderweise) nicht. 7S V. Capecchi u. a., Il comportamento elettorale in Italia, Bologna, Mulino, 1968, S.319ff. 76 P. Farneti, Il sistema dei partiti in Italia, Bologna, Mulino, 1983 (veröffentlicht mit dem englischen Titel The ltalian Party System, Leiden, University of Leiden, 1978), S.29ff.
3*
36
11. Das italienische politische System
ein normatives Deutungsmuster zur Interpretation des gesellschaftlichen und politischen Geschehens und Werdens und seiner institutionellen Bedingungen und Werte 78. Der Ideologie lassen sich zwei Funktionen zuschreiben 79: so hat sie zum einen eine instrumentale Funktion, und zwar insofern, als sie dem Wähler werthafte Kriterien zur Beurteilung der Programme und des Vorgehens der politischen Entscheidungsträger vermittelt. Der Wähler wird also diese Kriterien aufgrund ihres normativen Charakters dazu benützen, sein Umfeld und insbesondere die Wirtschaftsdaten in einem deduktiven Denkprozeß einer kritischen Bewertung zu unterziehen. Zum anderen hat sie eine psychologische ("symbolische") Funktion, als sie ihm, sofern er mit der Verwirklichung seines Wert-Anliegens warten muß, doch die Zuversicht gibt, daß dieses Anliegen früher oder später zum Zuge kommen wird. Dies führt dazu, daß der Wähler Akzentverschiebungen im Vorgehen der Entscheidungsträger und selbst längerfristige umweghafte Wertverwirklichungen akzeptieren wird. Die Ideologie stellt also einen Bezugsrahmen von Werten und Symbolen dar, der jeweils bis zu einem gewissen Grad an die Gegebenheiten der Praxis angepaßt werden kann. Auch in einem anderen Sinne weist diese ideologische Ausrichtung Flexibilitätsmomente auf. So wird der italienische Wähler die zur Anwendung kommende Politik zwar unter dem Gesichtspunkt der theoretischen Zielvorstellungen betrachten; aber er wird in seine Überlegungen auch die Ergebnisse der Politik einbeziehen, und zwar vor allem dann, wenn sie störende Besonderheiten aufweisen sollten. Nun weist die italienische Wählerschaft eine Vielzahl von Ideologien auf. Diese Vielseitigkeit der politischen Auffassungen erklärt sich damit 80 , daß die Grundzüge der "politischen Kultur" - also die "von allen Mitgliedern einer politischen Gesellschaft geteilten Wert- und Glaubenshaltungen" - in Italien nicht einheitlich sind. Wir haben es mit einer "segmentierten Gesellschaft", also einer Wählerschaft zu tun, die nicht homogen ist 81 . Für diese Vielfalt sind historische Gründe maßgeblich. Ein demokratisches Bewußtsein entwickelte sich im 19. Jahrhundert in Italien nur zögernd und gebietsweise als "eine der italienischen Kultur fremde Ideologie"82. Der 77 K. Lenk, Zum Strukturwandel politischer Ideologien im 19. und 20. Jahrhundert, in A. Pelinka (Ideologien im Bezugsfeld von Geschichte und Gesellschaft), Innsbruck, InnVerlag, 1981, S. 97ff. 78 K. Mannheim, Ideologie und Utopie, 4. Aufl., Frankfurt alM., Schulte-B., 1965, S. 53ff.; siehe auch K. Salarnun, Ideologie, Erkenntnis und Wahrheit, in A. Pelinka, Ideologien im Bezugsfeld von Geschichte und Gesellschaft, S. 23. 79 N. Luhmann, Soziologische Aufklärung, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1971, S.183. 80 K. von Beyme, Interessengruppen in der Demokratie, München, Piper, 1980, S. 141. Siehe auch P. Fritzsche, S. 17. 81 A. Pelinka, Modeme Demokratietheorie und Parteiideologie, S. 129ff. 82 P. Farneti, La democrazia in Italia tra crisi e innovazione, Torino, Fond. G. Agnelli, 1978, S.30.
1. Die Wählerschaft
37
modeme Parlamentarismus, ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft Frankreichs und Englands, die durch das rationale Naturrechtsdenken der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhunderts geprägt wurde 83 , kam nur langsam und schubweise als Ergebnis des Kampfes zwischen republikanischem Laizismus und katholischem Klerikalismus auf, wohingegen das sozialistische Gedankengut erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in den industrialisierten Großstädten Norditaliens seinen Nährboden fand. Träger des demokratischen Gedankens waren vor dem ersten Weltkrieg im wesentlichen das liberale Bürgertum in den Städten, das sich aus den Kaufleuten, den Industriellen sowie den Freiberuflern zusammensetzte, und auf dem Land die Handwerker und die kleinen Landbesitzer 84 • So lassen sich drei große "subkulturelle" Bereiche feststellen - ein katholischer, ein sozialistischer und ein laizistisch-bürgerlicher - die sich in einem Parteien pluralismus niedergeschlagen haben 85. Die Existenz dieser unterschiedlichen kulturellen Anschauungen führt allerdings nicht dazu, daß jeder Bereich völlig von den anderen abgeschottet ist. In Einzelfragen können sich erhebliche Überschneidungen und Konvergenzen ergeben. Das gilt insbesondere für Grundsatzvorstellungen, die die Rolle des Staates und der Privatwirtschaft betreffen 86 • Die Bindung an die Ideologie bedeutet allerdings nicht, daß der Wähler die Praxis nur als vorgegebenes Objekt der Auslegung betrachtet. Wenn sie außerordentliche Aspekte aufweist, kann er auch vorübergehend ideologische Forderungen und Belange zurückstellen oder diese im Lichte der Umstände betrachten. Eine Partei wie beispielsweise die Democrazia Cristiana mit ihrer Mehrzahl an Wertvorstellungen wird dann die Akzente der Lage entsprechend setzen. Gerade sein Pragmatismus wird den Wähler dazu führen, im Falle von Sonderumständen Sondermaßnahmen zu akzeptieren. Als ein Sonderumstand wird beispielsweise - wie wir noch sehen werden - ein Wirtschaftsnotstand empfunden. T. Stammen, Parteien in Europa, S. 95. P. Farneti, La democrazia in Italia tra crisi e innovazione, S. 22tT. 85 T. Stammen, Parteien in Europa, S. 95. 86 Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Ergebnisse einer Umfrage über die Einstellung der Bevölkerung zum StaatseingritT in die Wirtschaft, die in verschiedenen Ländern von der International Social Service Programme und der Eurisko 1986 durchgeführt wurde und die unter anderem zu folgenden Ergebnissen kam: in Italien erklärten sich 91 % der Befragten - gegenüber 68% in den USA und 70% in der Bundesrepublik Deutschland - für die Schaffung von Arbeitsplätzen durch den Staat. Ferner sprachen sich fUr eine ötTentliche Preiskontrolle 91 % der Befragten in Italien gegenüber 37% in den USA und 55% in der BRD aus. Nicht zuletzt befUrworteten 76% der Befragten in Italien die staatliche Hilfe an Krisenbetriebe, wohingegen dies nur 41 % in den USA und 57% in der BRD taten. Siehe "Corriere della Sera", vom 8.7. 1986, S. 4, im Artikel "L'italiano non rinuncia allo Stato assistenziale". 83
84
38
11. Das italienische politische System
Wenn wir also die ideologische Bindung des italienischen Wählers in den Vordergrund gestellt haben, so deshalb, weil sie normalerweise sein wahlpolitisches Denken und Handeln beherrscht. Der Wähler richtet sich nicht zuletzt an ideologischen Überlegungen aus, da er weiß, daß es eine Regierungskoalition geben muß, daß er aber keinen Einfluß auf die Zusammenstellung dieser Regierungskoalition nehmen kann, die sich auch im Laufe der Wählerperiode ändern mag. Damit wird die Wirkung seiner Stimmabgabe ungewiß. Denn während der fünfjährigen Wahlperiode hat er trotz Änderungen im politischen Entscheidungsfeld aufgrund der instabilen und wechselhaften Mehrheitsverhältnisse praktisch nichts mehr zu sagen 87 • Die Zahl der Wechselwähler bleibt demnach relativ bescheiden und ist nicht ausschlaggebend, wohingegen die Zahl der Stammwähler eher konstant ist. Der Stammwähler ändert seine Überzeugung normalerweise nicht und läßt sich nicht vom Tagesgeschehen beeinflussen. Nur unter Bedingungen, die von ihm als außerordentlich und als besonders gravierend empfunden werden, wird er zu Zugeständnissen in seinen Überzeugungen bereit sein. Nachfolgende Tabelle 1 gibt Auskunft über die Einstellung der italienischen Wählerschaft, und zwar dadurch, daß sie den prozentuellen Anteil widergibt, den die einzelnen Parteien in der Abgeordnetenkammer in den Parlamentswahlen von 1948 bis 1987 errangen 88. Tabelle 1
Parlamentswahlen: Abgeordnetenkammer (in %) 1946-1987 Parteien
1946
1948
1953
1958
1963
1968
1972
1976
1979
1983
1987
DC PCI PSI PSDI PR! PLI Monarch. MSI-DN Andere
35,1 48,5 18,9} 310 20,7 ' 7,1 4,4 2,5 6,8 3,8 2,8 2,8 2,0 11,3 2,3
40,1 22,6 12,7 4,5 1,6 3,0 6,9 5,8 2,8
42,3 22,7 14,2 4,6 1,4 3,5 4,8 4,8 1,8
38,3 39,1 25,3 26,9 13,8 } 145 6,1 ' 1,4 2,0 7,0 5,8 1,7 1,3 5,1 4,5 1,3 1,4
38,7 27,1 9,6 5,1 2,9 3,9
38,7 34,4 9,6 3,4 3,1 1,3
38,3 30,4 9,8 3,8 3,0 1,9
32,9 29,9 11,4 4,1 5,1 2,9
34,3 26,6 14,3 3,0 3,7 2,1
6,1
5,3
6,8
5,9
3,4
7,5
6,9
10,1
Total
} 8,7
4,0
100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0
Quelle: P. Farneti, I1 sistema dei partiti in Italia 1946-1979, S. 38, für die Zahlen von 1946 bis 1979. 87 Zwar gibt es das "Referendum" (die Volksbefragung) und die "Iniziativa popolare" (die Volksinitiative), aber bisher wurden sie nur sporadisch in Anspruch genommen. 88 Die Statistiken gehen allerdings nicht auf die "weißen Stimmzettel", also auf die Stimmenthaltungen ein, die in den letzten Wahlen bis zu 10% der Wählerstimmen ausmachten. Hierzu siehe P. Farneti, Il sistema dei partiti in Italia, S. 86ff.
2. Die Vertretungen der Wählerschaft
39
Die Wahlergebnisse bestätigen das Gewicht der Stammwähler und damit die ideologische Ausrichtung der italienischen Wählerschaft. So läßt sich folgendes feststellen: - die Massenpartei Democrazia Cristiana hat im Laufe der letzten 30 Jahre zwar an Stimmenpotential verloren, jedoch ihre Stellung halten können. Die Voraussetzungen für die Regierungskoalition sind relativ konstant geblieben; - die kleineren Parteien haben diese Stellung nicht in Frage stellen können; - die Abweichungen in der Stimmenzahl der einzelnen Parteien von einer Wahl zur anderen waren relativ beschränkt; das Wählerverhalten war relativ stabil und von den politischen Tagesgeschehnissen relativ unabhängig. Neben seiner Eigenschaft als Wähler ist der italienische Bürger auch häufig Mitglied eines Interessenverbandes. Seine Einstellung zur Partei ist allerdings nicht dieselbe wie die zum Interessenverband: aus innerer ideologischer Überzeugung gibt er einer bestimmten Partei seine Stimme; wenn er hingegen als Mitglied eines Interessenverbandes stimmt, wird er dazu geführt, seine Stimme jener Partei zu geben, die das Anliegen seines Verbandes vertritt. Da normalerweise dasselbe Anliegen, wenn auch unter Umständen mit unterschiedlichen Motivationen, von verschiedenen Parteien vertreten wird, haben die Verbandsmitglieder demnach die Möglichkeit, sich die ihnen am meisten zusagende Partei auszusuchen. Die Interessenverbände werden also eine Partei gegen die andere ausspielen.
2. Die Vertretungen der Wählerschaft a) Die Parteien
Durch die Funktion der Wählervertretung in den parlamentarischen Fraktionen sind die Parteien nicht nur Vermittler zwischen Wählerschaft und Regierung, sondern auch und im wesentlichen Maße politische Entscheidungsträger. Schaffen sie doch die Ebene, auf der die Masse der Wähler ihre Stellung zu den einzelnen Problemen je nach ihren ideologischen Grundausrichtungen klärt und der parlamentarische Kampf in den demokratischen Formen vorbereitet wird 89. Unter dem Begriff "Partei" verstehen wir eine "dauernde organisierte Verbindung von Menschen, die durch gemeinsame Tätigkeit auf eine umfassende Beeinflussung der staatlichen Willensbildung abzielen"90. 89 C. Malberti, Sistemi di partiti e democrazia, Milano, Istituto Editoriale Cisalpino, 1965, S.57; siehe auch T. Stammen, Parteien in Europa, S. 56fT.; sowie E. Ermacora, Österr. Verfassungslehre, Wien, Braumüller, 1970, S. 113. Nach T. Stammen, Parteien in Europa, S.59, läßt sich ein Parteiensystem als "die Gesamtheit aller regelmäßigen Interaktionen zwischen den Parteien in einem politischen System" definieren. Grundlage der italienischen Parteien ist Art. 49 der Verfassung, wonach "alle Bürger sich frei in Parteien zusammenschließen dürfen, um in demokratischer Weise an der Festlegung der nationalen Politik mitzuwirken.
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11. Das italienische politische System
In der Sicht von Downs ist die politische Partei hingegen "eine Gruppe von Personen, die die Kontrolle über den Regierungsapparat dadurch in ihre Hand zu bekommen suchen, daß sie in einer ordnungsgemäß abgehaltenen Wahl ein Amt erhalten" 91 , die sich also einerseits die mit der Ausübung der Regierungsmacht verbundenen Vorteile (prestige, Macht) verschaffen wollen, andererseits das Ziel der Stimmenmaximierung verfolgen, um dadurch an die Regierungsmacht zu gelangen oder sie zu behalten. Gemeinsam ist allerdings diesen Personen ein Konsens über die gesellschaftspolitischen Werte und Ziele, also die Ideologie. In allen Definitionen ist die Aussage enthalten, daß jede Partei eine Ideologie vertritt. Diese Ideologie ist der von der Wählerschaft vorgegebene Bezugsrahmen für das Denken und Handeln der Partei 92 • Die ideologischen Anschauungen sind für die Partei verbindlich, wenn sie nicht einen Stimmenschwund in Kauf nehmen will. Aufgabe der Partei ist es demnach, die zwei Funktionen wahrzunehmen, die dem Begriff der Ideologie innewohnen: so muß sie einerseits die Auswahl der Programme und Aktionen und der entsprechenden Opfer und Verzichte vornehmen und den Wechsel dieser Programme steuern. Zum anderen hat sie den Konsens derjenigen sicherzustellen, die auf die Verwirklichung ihrer spezifischen Werte warten, und eine selbst längerfristige und umweghafte Wertverwirklichung zu legitimieren. Die Ideologie hat also die Aufgaben der Aufrechterhaltung der Loyalität der Wähler gegenüber ihrer Partei und damit der Festigung bereits vorhandener Bindungen. Bei den Parteien, deren Wählerschaft auf beschränkte Zonen oder Regionen Italiens begrenzt war oder noch immer ist, dient sie dazu, diesen Parteien den Charakter überregionaler Parteien zu geben. In diesem Fall wird sie also auch als Mittel der nationalen Aggregation der Wähler betrachtet93 • Angesichts der hohen Veränderungsgeschwindigkeit der Gesellschaft sowie der Eigendynamik problemerzeugender sozio-ökonomischer Prozesse stellt sich der Partei die ständige Frage nach der Erfassung der aufkommenden Probleme und ihrer Verarbeitung94 • Diese Probleme ergeben sich aus der Vielzahl der oft gegensätzlichen Anliegen und Forderungen der Wähler und Wählergruppen.
90 Eine Übersicht über die italienischen Parteien gibt K. von Beyme, Das politische System Italiens, S. 85fT. Ausführlicher sind: G. Ga/li, I partiti politici, Torino, Vtet, 1974; P. Farneti, 11 sistema dei partiti in Italia, Bologna, Mulino, 1983; A. Pizzorno, I soggetti deI pluralismo, Bologna, Mulino, 1980. 91 A. Downs, S.25. 92 N. Luhmann, Soziolog, Aufklärung, S. 183. A. Pelinka, Modeme Demokratietheorie und Parteiideologie, S.130; G. Lehmbruch, Proporzdemokratie, Tübingen, Mohr, 1967. 93 P. Farneti, IL sistema dei partiti in Italia, S. 97fT. 94 F. W. Scharpf, Probleme der politischen Aufgabenplanung, Köln, Heymanns, 1974, Heft 2.3 des Handbuchs der Verwaltung, S. 3. Siehe auch A. Pelinka, Dynamische Demokratie, Stuttgart, Kohlhammer, 1974, S. 36.
2. Die Vertretimgen der Wählerschaft
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Normalerweise wird sich die Partei um einen Informationsvorsprung bemühen. Bei der Vielzahl der angesprochenen spezifischen Gruppeninteressen und Anliegen, die jeweils nur begrenzte Ausschnitte aus einem komplexen Zusammenhang problemerzeugender Faktoren repräsentieren, wird sich die Partei um eine utnfassendere Sicht, als in den Anschauungen dieser Gruppen enthalten ist, bemühen. Ja, sie wird danach trachten, längerfristige Problemlösungen zu erarbeiten. Die Partei wird sich darum bemühen, diese Probleme zu antizipieren. Ferner wird sie sich nicht auf eine reaktive Anpassung beschränken, sondern den Versuch einer aktiven Beeinflussung der Gruppen und überhaupt der indifferenzierten "öffentlichen Meinung" (der Wählerschaft) vornehmen. Dabei werden ihre ideologischen Grundanschauungen als Richtschnur dienen. Sofern diese in Frage gestellt werden sollten, wird die Parteileitung nur allmählich und zögernd neue Vorstellungen übernehmen und sich, soweit sie dies kann, bei ihrer Wählerschaft vorher absichern. Dies soll allerdings nicht heißen, daß gerade die größeren Parteien und insbesondere die Massenparteien auch aufgrund der Vielschichtigkeit ihrer Wählerschaft bisweilen eine beträchtliche Flexibilität in der Ausformung ihrer politischen Aussagen an den Tag legen können 95 • Sind sich doch die Wähler bewußt, daß ihre Partei taktieren muß und ihre Vorstellungen den gegebenen Umständen im Hinblick auf annehmbare Kompromißlösungen anzupassen hat. Die Verschiedenheit ideologischer Auffassungen in der Wählerschaft führt zu einem Parteienpluralismus, der für das italienische demokratische System kennzeichnend ist 96 • Injeder Legislatur gibt es 6 bis 8 Parteien, die im Parlament
A. O. Hirschmann. S.60. Siehe auch F. Lehner. S. 101. Aufgrund von Art. 56 der Verfassung kann jede Partei, die mindestens 80000 Wählerstimmen in den Parlamentswahlen bekommt, einen Vertreter in die Abgeordnetenkammer entsenden. Eine 5%-Klausel, wie sie in die Verfassung der BRD eingefügt wurde, gibt es in der italienischen Verfassung nicht. Wie kam es zur Überbetonung des Proporz-Prinzips, das bereits mancherorts - u. a. in der Weimarer-Republik - seine unzulängliche Funktionsrähigkeit bewiesen hatte? Möglicherweise war es die erinnerungsschwere Erfahrung mit der Diktatur vor und während des Krieges, die den umfassendsten politischen Konsens zwischen allen politischen Schattierungen der demokratisch gewählten Parlamentsmehrheit als anzustrebendes Ideal voranstellte; mit anderen Worten: man wollte die Vorherrschaft einer Partei, einer politischen Richtung, eines Menschen nach Möglichkeit einengen. Möglicherweise war es auch die romantisch verklärte Sehnsucht nach der glorreichen Vergangenheit des "Risorgimento", des Befreiungskampfes Italiens von der österreichischen Herrschaft und der Einigung des Landes im Königreich, die das 19. Jahrhundert mit einem Nimbus der Vollkommenheit umgab. Tatsache ist, daß das Proporz-System, das ein Verschmelzen parallel gelagerter politischer Belange in einer Entscheidungseinheit anstrebt, zu einer weitgehenden Machtzersplitterung geführt hat. Zu dieser Problematik siehe: D. Fisichella. Elezioni e democrazia, Bologna, Mulino, 1982; sowie, vom selben Autor, Conseguenze politiche della legge elettorale regionale in Italia, in "Rivista Italiana di Scienza politica", 1971, Nr.1. 9S
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11. Das italienische politische System
vertreten sind 97 • Im Downsschen Modell einer eindimensionalen Skala hätten wir also beispielsweise für die Parlamentswahlen (Abgeordnetenkammer) vom Jahr 1983 folgende 7-gipflige Kurve 98 , in der die Höhe der Gipfel der jeweiligen Stimmenzahl entspricht (in % der Stimmen): 32.9
KPI
PSI
PSOI
PRI
oe
PLI
MSI-ON
Darüber hinaus sind die Parteien in Flügel (correnti = "Strömungen") gespalten. Diese parteiinternen Gruppierungen, die ihrerseits unterschiedliche Auffassungen vertreten, sind jeweils in den Parteiführungsgremien je nach ihrem Gewicht vertreten. Durch diese parteiinterne Aufsplitterung hemmen sie die Parteiarbeit oft wesentlich 99 • Jede "Strömung" hat ihren Vorsitzenden, mit dem 97 Einen zusammenfassenden Überblick über die Parteiengeschichte bis 1945 gibt F. Leoni, Storia dei partiti politici italiani, Napoli, Guida, 1971. Siehe auch P. Farneti (Il sistema dei partiti in Italia 1946-1979, Bologna, Mulino, 1983), veröffentlicht mit dem englischen Titel" The Italian Party System", Leiden, U niversity of Leiden, 1985), spricht auf S. 98 von politischen "Sub-Kulturen". In diesem Zusammenhang verweisen wir auf G. Sivini, Sociologia dei partiti politici, Bologna, Mulino, 1971, S. 71ff. ("Socialisti e cattolici in Italia dalla societa allo Stato"). J. La Palombara sieht hingegen einen Gegensatz zwischen der dem Katholizismus nahestehenden Democrazia Cristiana und den ihm gegenüber indifferenten ("laizistisehen") Parteien. Auch er sieht historische Gründe für diesen Gegensatz, die nicht nur in Italien anzutreffen sind. Siehe J. La Palombara and M. Weiner, Political Parties and Political Development, Princeton University Press, 1966; sowie S. Roccan, Cittadini, elezioni, partiti, Bologna, Mulino, 1982. Eine Dokumentation über die Grundauffassungen der italienischen Parteien befindet sich in G. De Rosa, I partiti politici in Italia, Bergamo, "Minerva Italica", 1981; sowie in G. Galli, I partiti politici, S. 479ff. 98 Siehe Tab. 1 in diesem Abschnitt. 99 T. Stammen, Parteien in Europa, S.98; G. Galasso, S. 279; A. Lombardo (Frazionismo, sistemi di correnti, in: La crisi delle democrazie industriali 1968 - 76, Firenze, Vallecchi, 1977) spricht von einem "System der Unterparteien". Eine Übersicht über die Flügel oder "Strömungen" der Democrazia Cristiana in den Parteitagen von 1976 und
2. Die Vertretungen der Wählerschaft
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sie sich identifiziert, und ihre Machtpositionen, ohne die sie nicht bestehen könnte 100. Im Anhang sollen für den Leser, der mit den italienischen Verhältnissen nicht vertraut ist, einige Schlaglichter auf die heiden italienischen Massenparteien DC und KPI geworfen werden. Denn diese Parteien bestimmen wesentlich das politische Geschehen. Hingegen scheint es für unsere Untersuchung nicht erforderlich, auf die anderen Parteien einzugehen, für die sich auf die Fachliteratur verweisen läßt 101 • Hier seien die wichtigsten namentlich aufgeführt: - Partito Socialista Italiano (PSI) - Partito Repubblicano Italiano (PRI) - Partito Liberale Italiano (PLI) - Partito Socialdemocratico Italiano (PSDI) Movimento Sociale Italiano (MSI), heute Movimento Sociale Italiano Destra Nazionale (MSI-DN) als Nachfolgepartei der seinerzeitigen Faschistischen Partei. b) Die Interessenverbände
In einer Untersuchung wie der unseren darf eine Darlegung der Interessenvertretungen, also der Verbände, nicht fehlen 102 • Nach Downs handelt es sich beim Verband, oder "Gruppe", um eine "Koalition, deren Mitglieder über alle von ihnen verfolgten Ziele einer Meinung sind, so daß sich diese als einheitliche, widerspruchsfreie Präferenzordnung auffassen lassen. M. Olson sieht hingegen realistischer in der Gruppe "eine Anzahl von Personen mit einem gemeinsamen Interesse"; was also nicht auschließt, daß die Angehörigen der Gruppe in mehreren Bereichen unter1980 gibt G. Pasquino, Degenerazione dei partiti ... , S. 89, sowie T. Wieser und F. Spotts, S. 4 und 25ff. 100 M. D'Antonio, La costituzione di carta, cap. III, S. 87ff. Siehe auch G. Pasquino, Crisi dei partiti, cap. 2, S.91. Nach G. Sartori, Bipartitismo imperfetto e pluralismo polarizzato, Tempi moderni, NT. 31, 1967, S.16, beruht das Aufkommen dieser "Strömungen" auf einem Parteienapparat, der unterschiedliche Anforderungen sozusagen gleichzeitig befriedigen soll: auf der einen Seite soll er die laufende Parteiarbeit leisten, auf der anderen ständig die Richtlinien zur Bewältigung der Tagesprobleme den Grundsätzen der Parteidoktrin anpassen. "Bei dem Abstand von einem Bereich zum anderen ist stets die Möglichkeit des Aufkommens grundlegender Meinungsverschiedenheiten gegeben." Diese schlagen sich in Gruppierungen in den Parteien, eben den bewußten "Flügeln" nieder. Hierzu siehe G. Galli, Il bipartitismo imperfetto, S. 304- 305; sowie G. Galasso, S. 279. 101 Siehe FN 99 und 100. Siehe auch T. Wieser und F. Spotts, S. 55 ff. sowie M. Gerner. 102 P. Gerlich, Parlamentarische Kontrolle im politischen System, S. 35. Zum Begriff des "Interesses" sowie zu einer Umschreibung des "Verbandes" und zur Verbandstypologie verweisen wir auf K. Ucakar, Die Entwicklung des Verbandswesens in Österreich, in H. Fischer, Das politische System Österreichs, S. 397fT.
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11. Das italienische politische System
schiedliche Präferenzen haben können 103. Bei der Verschiedenheit dieser Definitionen ist beiden Autoren jedoch die Vorstellung einer Einheitlichkeit der Ziele gemeinsam, die zur Konstituierung der Gruppe geführt haben. Bei einem Verband wie der italienischen Gewerkschaft, der immer wieder gezielt in den vielschichtigen politischen Raum vorstößt, stelt sich insbesondere die Frage, ob er aufgrund seiner nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch politischen Interessen die Merkmale einer politischen Partei aufweist. In der Literatur wird diese Frage fast einhellig verneint 104, allerdings tnit unterschiedlichen Begründungen. Ein unterscheidendes Kriterium wird auf der einen Seite darin gesehen, daß der Verband die Interessen seiner Mitglieder im staatlichen Entscheidungsbereich tnit wesentlich politischen Mitteln durchzusetzen versucht, ohne dabei jedoch, wie die politischen Parteien, selbst die untnittelbare Regierungsübernahme anzustreben lOS. Auf der anderen Seite wird darauf hingewiesen, daß die Gewerkschaften vornehmlich Sparteninteressen - im Gegensatz zu den Parteien tnit ihren Globalinteressen - vertreten 106. Die Bedeutung der Interessengruppen im politischen Raum läßt sich im wesentlichen auf folgende Funktionen zurückführen 107 : - Sie infortnieren die Träger der Wirtschaftspolitik über die Probleme der jeweils vertretenen Branchen oder Personengruppen, nehmen zu geplanten oder ergriffenen Maßnahmen Stellung und kommen datnit dem Informationsbedürfnis der staatlichen Instanzen entgegen. - Sie dienen dem Vertretungsbedürfnis der Gruppen, und zwar in dem Sinne, daß sie aufgrund der Anliegen, denen sie im politischen Raum Gewicht verleihen sollen, jene Parteien ansprechen, die aufgrund ihrer ideologischen Anschauungen dieselben Anliegen durchsetzen wollen. Dadurch ergibt sich eine Situation, die für die Parteien wahlpolitisch von Bedeutung sein kann. Nicht selten kommt es vor, daß die Interessenverbände ihre Mitglieder mobilisieren oder ihre Marktmacht einsetzen, um über den vor- oder außerparlamentarischen Raum Einfluß auf die Regierung zu nehmen 108. A. Downs, S. 25, M. Olson, S.6ff. K. Ucakar, die Entwicklung des Verbandswesens, S. 399. lOS M. G. Lange, Politische Soziologie, Berlin, Vahlen, 1970, S.9t. 106 G. C. Perone, S.250ff. In diesem Sinne auch A. Macchioro, Oggettivismo e soggettivismo negli anni '70, in G. Guizzardi eS. Sterpi, La societa italiana - crisi di un sistema, Milano, Angeli, 1981, S. 423; sowie U. Romagnoli, La costituzione economica, in F. Galgano, Trattato ... , S. 154ff. weist allerdings daraufhin, daß der Gewerkschaft mit dem Recht zum "politischen Streik" eine politische Autonomie zuerkannt wird. Siehe auch G. Galasso, S. 28t. 107 Auf die wissenschaftliche Diskussion über die Stellung der Verbände in Staat und Demokratie geht W. Dettling, in: Macht der Verbände, Ohnmacht der Demokratie, München, Olzog,1976, ein. Wir verweisen insbesondere auf den Beitrag von M. Groser, Sozialökonomische Theorien der Verbände, S. 81 ff. Verwiesen sei auch aufK. von Beyme, Interessengruppen in der Demokratie, München, Piper, 1980 (5. Aufl.) sowie auf B. S. Frey, Theorie demokratischer Wirtschaftspolitik, S. 180. 103
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2. Die Vertretungen der Wählerschaft
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Eine für den wirtschaftspolitischen Bereich wesentliche Kategorie von Interessengruppen stellen die Tarifpartner dar. Denn sie haben eine zusätzliche Funktion, die sie im wirtschaftspolitischen Bereich qualifIziert, und zwar im Hinblick auf ihre Tarifoberhoheit. Sie sind zwei wichtige Seiten im Kampf um die Einkommensverteilung, also um die Aufteilung des Sozialproduktes auf Investitionen und Verbrauch. Dadurch werden sie zu zentralen Handlungsträgern in einem wesentlichen Bereich des politisch-ökonomischen Systems. In den nachfolgenden Ausführungen wollen wir auf die Verhaltensweisen der Tarifpartner näher eingehen, da diesen Verbänden in der italienischen Wirtschaftspolitik (zumindest zeitenweise) besondere Bedeutung als "PressureGroup" zukam. Wir sind uns zwar bewußt, daß wir mit den Tarifpartnern das weite Feld der Verbände und Interessengruppen keineswegs abstecken. Wir sind allerdings der Ansicht, daß das Gewicht der Tarifpartner im wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozeß wesentlich größer ist als das der anderen Verbände und Interessengruppen, so daß wir auf eine Analyse von deren Wirken in unserer Studie, die nur einen summarischen Überblick geben will und keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, verzichten können. Hat doch das System der Interessenvermittlung der Tarifpartner einen Sondercharakter, da es - wie wir anschließend sehen werden - aufgrund staatlicher Anerkennung innerhalb der von ihm vertretenen Bereiche über ein ihm ausdrücklich zugestandenes Vertretungsmonopol verfügt 109 • Damit wird diese Vertretung zur Spitze einer "oligarchischen Struktur" 110. Die pluralistische Gesellschaft wird nicht mehr als Summe verschiedener konkurrierender, aber gleichgewichtiger Gruppen gesehen, von denen jede spezifIsche Belange betrifft (einfacher Pluralismus), sondern als Struktur mit unterschiedlich gewichtigen Bestandteilen 111. lOS B. S. Frey, Theorie demokratischer Wirtschaftspolitik, S.185fT.; sowie E. Tuchtfeldt, Bausteine zur Theorie der Wirtschaftspolitik, S. 139fT. 109 P. Schmitter, lnterest Intermediation and Regime Governability in Contemporary Western Europe und North America (in S. Berger, Organizing Interest in Western Europe, Cambridge University Press, 1981). In diesem Zusammenhang ist zu verweisen aufK. von Beyme, Interessengruppen in der Demokratie, S.45fT. (Theorien des Neokorporatismus"). Zu verweisen ist ferner aufC. W. Mills, Power Politics and Poeple, Oxford, Oxford University Press, 1963, und R. Miliband, The State in Capitalistic Society, London, Weidenfeld 1969. Nach diesem Modell können die Interessenvertretungen in begrenzten Bereichen Absprachen von wirtschaftspolitischer Relevanz trefTen und sich dadurch neben die parlamentarischen Institutionen stellen. Siehe hierzu A. Ardigo, Verso un nuovo corporativismo? in Il progetto, Nr.6; S. 18. Zu verweisen ist auch auf R. Cafferata, Pubblico e privato nel sistema delle imprese, S. 27, der von einem "liberalen Ständestaat" ("corporativismo liberale") spricht, in dem die Absprache zwischen den "Eliten" - unter denen auch die Gewerkschaften - nicht nur den Markt, sondern überhaupt die gesellschaftspolitische Entwicklung steuert. Siehe hierzu auch P. Lange, Sindacati, partiti, stato e liberal-corporativismo, Bologna, Mulino, 1979, S. 943fT. 110 G. Pirzio Ammassari, Contrattualismo, in M. D'Antonio, La costituzione econornica, Milano, Ed. Il sole - 24 ore, 1985, S. 536fT.
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Ir. Das italienische politische System
aa) Die Gewerkschaften Die Verfassung von 1948 hat auf dem Gebiet des Gewerkschaftswesens eine Neuorientierung gegenüber der bis 1945 geltenden Ordnung vorgenommen ll2 • Die Gewerkschaft wird zum Tragpfeiler des Staates 113 • Damit verbunden werden ihr nun ausgedehnte Rechte zugestanden 114 • In der Verfassung kommt insbesondere dem in Art. 39 festgelegten Prinzip der Freiheit des gewerkschaftlichen Zusammenschlusses besondere Bedeutung zu 115. Es hat zum gewerkschaftlichen Pluralismus geführt, einem Novum gegenüber der vorher bestehenden Einheitsgewerkschaft im Rahmen des faschistischen "Ständestaates" 116. Die Gewerkschaft wird im selben Artikel auch die Tarifoberhoheit - also die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge für alle Arbeitnehmer ("erga omnes") der davon betroffenen Sparte, ob sie nun bei der Gewerkschaft eingeschrieben sind oder nicht, zugestanden, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß die Gewerkschaft offiziell "registriert" ist 117 • Bisher haben die Gewerk111 G. Pirzio Ammassari, Contrattualismo, in M. D'Antonio, La costituzione economica, sowie P. Schmitter, Siehe auch M. Streit, The Mirage of Neo-Corporatism, "Kyklos", Vol. 41, 1988, Fase. 4, S.603fT. Siehe auch Abschnitt VII, insbesondere FN 449. Auf die Selbsteinschätzung ihrer Rolle in Politik und Gesellschaft in den 70er Jahren durch die italienischen Gewerkschaften gehen wir in Abschnitt VII.3. ein. 112 Dem italienischen Gewerkschaftswesen ist eine äußerst reiche Bibliographie gewidmet. Bei der Fülle der Publikationen beschränken wir uns darauf, folgende Schriften zu zitieren: G. Ghezzi e U. Romagno/i, Il diritto sindacale (Bologna, Zanichelli, 1982), das einen Überblick über die verfassungsmäßigen Grundlagen der Gewerkschaft, ihre Organisation, Vorgangsweise, usw. vermittelt; G. P. Cella e T. Treu, Relazioni industriali, manuale per l'analisi della esperienza italiana, Bologna, Mulino, 1982, mit einer systematischen Übersicht über die empirischen Ergebnisse der arbeitsrechtlichen Beziehungen; M. Carrieri e P. Perulli, Il teorema sindacale, Bologna, Mulino, 1985; Atti deI congresso di diritto deI lavoro "Prospettive dei diritto dei lavoro per gli anni '80", (verschiedene Autoren), Milano, GiufTre, 1983, insbesondere M. V. Ballestrero, Garanzie flessibili e rafTorzamento dei sindacati (S. 182fT.); G. Santoro Passarelli: Impresa minore, sindacato, rapporto di lavoro (S.213fT.); G. P. Cella, L'azione sindacale nella crisi italiana, in L. Graziano e S. Tarrow, La crisi italiana, Torino, Einaudi, 1979, S. 271 fT.; Centro di studi sociali e sindacali, Le relazioni sindacali in ltalia, Rapporto 1981, Roma, Edizioni lavoro, 1982; L. Riva Severino, Diritto sindacale, Torino, Utet, 1982: T. Wieser und F. Spotts, S. 160fT. B. Trentin, Wirtschaftsdemokratie, Investitionskontrolle usw., in verseh. Aut., Westeuropäische Gewerkschaften, Berlin, Argument, 1982, S.159fT.; R. Steiert, Gewerkschaften in Italien, in H. Ruehle, Gewerkschaften in den Demokratien Westeuropas, Bd. 1, Paderborn, Schöningh, 1983, S. 115fT. 113 So ist das letzte Werk von E. Tarantelli (Economia politica dellavoro, Torino, Utet, 1986) einer Untersuchung über die Einflußnahme der Gewerkschaften auf die Ausformung der Wirtschaftspolitik in Italien und anderen Ländern gewidmet. 114 G. Mazzoni, Il sindacato nel quadro della Costituzione, S. 161. 115 G. C. Perone, Osservazioni in tema di sindacati e parlamento, S. 239fT. 116 G. Pastore, Il nuovo ordine sindacale italiano, 1° Congresso della CGIL, Roma, 1948.
2. Die Vertretungen der Wählerschaft
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schaften jedoch von dieser Registrierung aus der Befürchtung heraus abgesehen, der Staat könne auf diese Weise ihre Autonomie beschneiden. Sie haben es also vorgezogen, in der rein privaten Sphäre zu leben 118. Damit müßte den Gewerkschaften - wie auch den Arbeitgeberorganisationen - die Tarifhoheit abgesprochen werden. In der Praxis wurde sie ihnen jedoch von der Rechtsprechung zuerkannt, und zwar unter Berufung auf Art. 2077 des Zivilgesetzbuches 119 • Im Falle von Entlohnungsfragen beruft sich die Rechtsprechung auch auf Art. 36 der Verfassung, wonach der Arbeiter "Anrecht auf eine der Art und Menge der geleisteten Arbeit entsprechende Entlohnung hat, die auf jeden Fall ausreichend sein muß, um ihm und seiner Familie ein freies und ehrenwertes Leben zu sichern". Wobei die Rechtsprechung den Begriff der "ausreichenden Entlohnung" dahingehend auslegt, daß der Tarifvertrag für die unselbständige Arbeit die Mindestentlohnung festlegt 120. Damit bekommt der Tarifvertrag in der Praxis Allgemeingültigkeit 121. Die Gewerkschaft ist insofern Träger der Wirtschaftspolitik, als sie zusammen mit der Arbeitgeberseite die Einkommenspolitik erheblich mitsteuern kann 122. Denn gerade durch die Tarifpartner wird die Aufteilung der Einkommen zwischen den zwei Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital sehr wesentlich bestimmt. Auch und insbesondere mit der Höhe der Arbeitskosten werden weitgehend die Weichen für den Einsatz der verfügbaren Ressourcen für Investitionen und Konsum gestellt. 117 P. Carinci u. a., S.28 und S.219ff., wo auf die juristische Problematik des Tarifvertrages eingegangen wird. Einen Kommentar bietet auch U. Romagnoli, IL sistema economico nella Costituzione, in F. Galgano, Trattato di diritto commerciale, S. 152ff. So schreibt U. Runggaldier, Kollektivvertragliche Mitbestimmung bei Arbeitsorganisation und Rationalisierung, Frankfurt a / M., Metzner, 1983, S. 89: "eine Allgemeinverbindlichkeit der Kollektivverträge ist lediglich unter den Voraussetzungen der Abs. 2 -4 des Art. 39 denkbar, die wegen des Fehlens eines Durchführungsgesetzes zu Art. 39 nicht gegeben ist. " 118 Die Absätze 2, 3 und 4 von Artikel 39 der Verfassung entfalten also keinerlei normative Wirkung; sind sie doch nicht durch Gesetz ausgeformt. 119 Art. 2077 des Zivilgesetzbuches sagt folgendes aus: "Die individuellen Arbeitsverträge ... müssen sich an die Bestimmungen des einschlägigen Tarifvertrages halten .... " 120 "Der Tarifvertrag ... wird das natürliche oder selbst einzige Instrument auch für die Bestimmung der Mindestentlohnung", schreibt T. Treu in seinem Kommentar zu Art. 36 (im Commentario alla Costituzione, a cura di G. Branca, Bologna, Zanichelli, 1979, tomo I, S. 76). Siehe auch F. Carinci u. a., S. 28 und S. 226. 121 In diesem Sinne R. Scognamiglio, Illavoro nella Costituzione. in M. D'Antonio, La costituzione economica, S. 35, der bestätigt, daß die vom Verfassungsgeber im Art. 39 angestrebte Gültigkeit "erga omnes" der Tarifverträge über einen Umweg in der Praxis erreicht wurde. Siehe auch R. Scognamiglio, La rilevanza dellavoro ... , S. 107ff. So schreibt T. Treu, in seinem Kommentar zu Art. 36, S. 82, daß die Rechtsprechung zu diesem Artikel "eine hybride rechtspolitische Richtung eingeschlagen hat", die weder den Rechtsvorstellungen über die Mindestentlohnung, noch der Allgemeingültigkeit der Tarifverträge entspricht. 122 R. Scognamiglio, Il lavoro nella Costituzione, in M. D'Antonio, la Costituzione economica, S. 37.
II. Das italienische politische System
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Nicht zuletzt ist die Gewerkschaft - wie auch die Arbeitgeberseite - im Consiglio Nazionale dell'Economia edel Lavoro - CNEL, dem Konsultativorgan des Parlaments, vertreten, das die Grundsatzfragen prüft, die sich bei der Abfassung der sozial- und wirtschaftspolitisch relevanten Gesetze stellen, und auf diesem Gebiet, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, über ein Initiativrecht verfügt 123. Nach dem Kriege bildeten sich drei große Gewerkschaftsbünde heraus: die Confederazione Generale Italiana deI Lavoro - CGIL, die mehrheitlich der KPI und mit einer Minderheit der Sozialistischen Partei nahesteht; - die Confederazione Italiana Sindacati Lavoratori - CISL, die der Democrazia Cristiana nahesteht; - die Unione Italiana deI Lavoro - UIL, die teilweise der Sozialistischen Partei, aber auch der Sozialdemokratischen und der Republikanischen Partei nahesteht. -
Die unterschiedlichen Grundauffassungen dieser Gewerkschaften haben die Geschichte der italienischen Gewerkschaftsbewegung entscheidend gepägt und dazu geführt 124 , daß abwechselnd zwei ordnungspolitische Ausrichtungen zum Zuge kamen. So läßt sich zeitenweise ein gewerkschaftspolitisches Konzept mit Schwerpunkt auf den einkommenspolitischen Zielen und dann wieder ein Konzept erkennen, das die Änderung der bestehenden Wirtschaftsordnung zum Ziele hat. Wie wir noch sehen werden, überwog in den 50er Jahren die Linie der Einkommenszentralität. Ende der 60er Jahre und vor allem in den 70er Jahren stand hingegen die Forderung nach einem Wandel in der Wirtschaftsordnung im Vordergrund 125 • Einen zusammenfassenden Einblick in die Entstehungsgeschichte dieser Gewerkschaften und ihre Entwicklung geben wir im Anhang. Auf ihre wirtschaftspolitischen Einflüsse gehen wir in den Abschnitten VI bis VIII ein.
bb) Die Unternehmerschaft Auch die Unternehmerverbände sind wirtschaftspolitische Entscheidungsträger, und zwar, wie die Gewerkschaften, aufgrund ihrer Tarifautonomie l26 • F. Carinci u. a., Diritto dellavoro, 1, S. 30. Nach K. von Beyme (Interessengruppen in der Demokratie, S.76) vertreten die italienischen Gewerkschaften das "syndikalistische Modell", d. h. es handelt sich dabei um "weltanschaulich gebundene und organisatorisch getrennte Dachverbände, in denen meist eine kommunistisch orientierte Gewerkschaft dominiert". 125 Siehe Abschnitt VII.!. 126 Wie A. Martinelli, P. Schmitter, W. Streeck (L'organizzazione degli interessi imprenditoriali, in Stato e mercato, die. 1981, anno I, Nr. 3) feststellen, ist die Literatur, die sich mit den Ursachen, den organisatorischen Voraussetzungen und den politischen Folgen der Schaffung von Untemehmerorganisationen befaßt, bescheiden, gemessen an 123
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2. Die Vertretungen der Wählerschaft
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Von den großen italienischen Untemehmensverbänden in den einzelnen Bereichen kommt dem, der die Interessen der Privatindustrie vertritt l27, die größte Bedeutung zu 128. Deshalb soll an dieser Stelle die Confederazione generale dell'industria italiana, abgekürzt "Confindustria", etwas eingehender betrachtet werden. Dabei sei nur kurz auf die Mittel und Wege hingewiesen, mit denen sie sich bemüht, ihr Konzept durchzusetzen 129. Durch die Teilnahme an der Festlegung des Lohn- und Gehaltsniveaus und damit an der Einkommenspolitik verfügt die Confindustria - wie bereits angedeutet - über einen wesentlichen Hebel zur Steuerung der italienischen Wirtschaft. Doch die Confindustria kann noch andere Argumente ins Feld führen. Schließlich stehen rund 120000 Firmen mit rund 5 Millionen Arbeitsplätzen hinter ihr l30 , für die sie die Verantwortung trägt. Die industrielle Unternehmerschaft ist also auch ein wichtiger Wirtschaftsmotor l31 • Hingegen verfügt die Confindustria als Organisation nicht wie die Gewerkschaften über eine erhebliche Mitgliederzahl. Sie kann nicht - wie die Gewerkschaften - Massenveranstaltungen organisieren. So muß sie nach der über die Gewerkschaften. Für Italien lassen sich anführen: J. La Palombara, Interest Groups in Italian Policy, Princeton, Princeton University Press, 1964; G. Pirzio Ammassari, La politica deUa Confindustria, Napoli, Liguori, 1976; A. Martine/li, Borghesia industriale e potere politico, in A. Martinelli e G. Pasquino, La politica neU' Italia che cambia, Milano, Feltrinelli, 1978; R. Blanpain, T. Treu and F. Millard(eds.), Comparative Labour Law and Industrial Relations, Deventer, Kluver, 1980, S. 255ff. Verwiesen sei auch auf das Sammelwerk von F. Peschiera, Sindacato industria e stato nel dopoguerra, Firenze, Le Monnier, das bisher in folgenden Bänden erschien: Band 1 für die Jahre 194348 (veröffentlicht 1976), Band 2 (in zwei Abschnitten + und + +) für die Jahre 1948-58 (veröffentlicht 1979) und Band 3 für die Jahre 1958-71 (veröffentlicht 1983). 127 Neben der Confindustria gibt es im Industriebereich noch die Confapi, die gezielt die Kleinindustrie vertritt, sowie den Verband der staatlichen Industrie (Intersind) und Asap (nur für die erdölerzeugende und -verarbeitende staatliche Industrie). Die Intersind wurde 1957 geschaffen mit dem Ziel, auf der Ebene der Gewerkschaftsfragen die Front des privaten Unternehmertums zu zerschlagen (G. Pirzio Ammassari, Studi sull' imprenditoria italiana: 1972-1982, in "Industria e Sindacato", n. 27, 1983, S. 11, mit Bibliographie). Für den Handel gibt es als wichtigste Unternehmerorganisation die Confcommercio, für das Handwerk die Confartigianato, für die Landwirtschaft die Confagricoltura usw. Hierzu siehe F. Carinci u. a., S. 60ff. 128 F. Carinci u. a., S. 62ff. Die Industrie bindet große Kapitalmengen und stellt damit Arbeitsplätze zur Verfügung, kontrolliert ein umfassendes technisches Wissen, einen erheblichen Teil der Produktion und der Verteilung. Wie F. Lehner (S. 151) feststellt, bildet sie "einen entscheidenden Faktor für die Erfolgschancen und Durchsetzbarkeit der staatlichen Wirtschaftspolitik." 129 S. P. Angelini, La Confindustria: profilo storico ed organizzativo, Federazione fra le Associazioni industriali della Lombardia, Milano 1981. 130 "La piccola industria 1983", herausgegeben von der Confederazione generale dell'industria italiana, Comitato nazionale per la piccola industria, maggio 1983. 131 F. Onofri, Potere e struUure sociali nella societä industriale di massa, Milano, Etas Kompas, 1967, sowie vom selben Autor, L'uomo e la rivoluzione, Bologna, Il Mulino, 1968. 4 Fraenkel
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ll. Das italienische politische System
anderen Wegen suchen, um ihre Anliegen durchzudrücken 132. Mit dieser Zielsetzung bemüht sie sich darum, die öffentlichen und insbesondere die parlamentarischen Träger der Wirtschaftspolitik von der Zweckmäßigkeit und EffIZienz ihrer Vorstellungen zu überzeugen 133. Wie sehen diese nun aus? Sicher ist, daß ihre Linie den Grundzügen des liberal-bürgerlichen Denkens entspricht. In diesem Sinne hat sie sich seit ihrer Neugründung nach dem Kriege am 10. Dezember 1945 für die Freiheit als oberstes Leitprinzip des öffentlichen und privaten HandeIns ausgesprochen. So erklärte im Dezember 1945 Confindustria-Präsident A. Costa: "Der wesentliche Grundsatz, in dem ich die Rettung der italienischen Industrie sehe, ist der der Freiheit."I34 In der Tat hat sie sich dann aktiv für eine Befreiung des Außenhandels und von der Devisienbewirtschaftung eingesetzt 135, wie auch von den Preiskontrollen, die aus der Kriegswirtschaft übernommen worden waren 136. Sie legte allerdings den Grundsatz der Freiheit auch dahingehend aus, daß die Tarifverhandlungen allein den Sozialpartnern vorbehalten sind und daß der Staat sich nicht einmischen darf1 37 • Ja, sie hat sich nach dem Krieg und bis in die 60er Jahre gegen eine Wirtschaftsplanung des Staates gewehrt, weil - wie Confindustria-Präsident Costa erklärte 138 - "die Planung und ihre Ausführung eine andere Konzeption der Aufgaben des Staates voraussetzt". Entsprechend kritisierte sie die Tatsache,
132 Schrift des Zentralkomitees der Jungunternehmer der Confindustria "Confindustria e Societä", quaderno 1 di "Quale impresa", 1979, S. 144. 133 s. die erwähnte Schrift des Comitato centrale giovani imprenditori, S. 161 ff., in der folgendes steht: ". .. Die Industria kann politischen Druck durch Finanzbeihilfen ausüben. In der Praxis ergeben sich die Volksvertretungen jedoch aufgrund von Prozeduren und Kraftverhältnissen, in denen finanzielle Überlegungen ganz offensichtlich hinter den zahlenmäßigen stehen. Um die Parteien zu beeinflussen, bedarf es der Wählermassen: gerade das auf dem Vorzugsstimmrecht aufgebaute Wahlsystem trägt zu einer Maximierung des Einflusses von Massenorganisationen bei ... In der italienischen Gesellschaft leidet das Verhältnis zwischen öffentlicher und privater Macht oft unter dem gegenseitigen Mißtrauen. So steht das Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft oft im Zeichen von Polemiken ... Die fortschrittlicheren Unternehmer messen ihrer gesamten Tätigkeit eine politische Bedeutung bei. Sie läßt sich im Satz zusammenfassen: in einer Demokratie macht man insofern Politik, als man seine Tätigkeit als Bürger im Licht politischer Verantwortung sieht. Dies gilt insbesondere für den Unternehmer ... " 134 G. Raimondi, La Confederazione generale dell'industria italiana, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato (1943-48), vol. I, 1976, S. 266. 135 G. Raimondi, La Confederazione generale dell'industria italiana, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato (1943-48), vol. I, 1976, S. 289. 136 G. Raimondi, La Confederazione generale dell'industria italiana, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato (1943-48), vol. I, 1976, S. 306. 137 G. Raimondi, La Conferderazione generale dell'industria italiana, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato (1943-48), vol. I, 1976, S. 269. 138 G. Raimondi, La Confederazione generale dell'industria italiana, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato (1943-48) vol. I, 1976, S. 268.
2. Die Vertretungen der Wählerschaft
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daß der Staat in den Staatsbeteiligungsunternehmen unternehmerische Aufgaben wahrnahm, die ihrer Ansicht nach der Privatwirtschaft vorbehalten waren 139.
139 G. Raimondi, La Confederazione generale dell'industria italiana, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato (1943-48), vol. I, 1976, S. 267 und S. 316.
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III. Der politische Willenbildungsprozeß 1. Das Zusammenspiel der politischen Kräfte nach der Verfassung Die politische Willens bildung in einem modernen hochdifferenzierten und vielschichtigen demokratischen Staatsgebilde ergibt sich jeweils aus dem Zusammenspiel komplexer Vorgänge. Sie erwächst aus einer Vielzahl von sich gegenseitig bedingenden, sich bekämpfenden, sich ergänzenden und sich ausschließenden Kräften und Gegenkräften im pluralistischen Kräftefeld der Demokratie 140 • Das dialektische Spiel ist in diesem politischen Raum automatisches Ergebnis der Bemühungen um Einflußnahme der verschiedenen Machtund Interessengruppierungen 141. Es geht also darum, das "System" der politischen Entscheidungsträger zu erfassen, wobei wir darunter eine Struktur verstehen, in der die Teile oder Elemente in einem intensiven Wirkungszusammenhang stehen und sich anstelle einer einseitigen Kausalität - gegenseitig durch Wechselwirkung und Interdependenz bedingen 142 • Nachdem wir im vorhergehenden Abschnitt auf die Wählerschaft und ihre Vertretungen eingegangen sind, kommen wir nun zum Problem des Zusammenspiels dieser Kräfte in der politischen Arena. Diese Analyse soll dann der Ausgangspunkt für eine sinnvolle Darlegung des Ausformungsprozesses der Wirtschaftspolitik sein. Als erstes wollen wir das Zusammenspiel in dem von der Verfassung vorgesehenen parlamentarischen Regierungssystem streifen (das wir im übrigen als bekannt voraussetzen), und zwar in dem Maße, in dem dies für das 140 G. Gäfgen, Allgemeine Wirtschaftspolitik, S. 166, spricht vom "strategischen Spiel der Demokratie". 141 Nach T. Stammen, Regierungssysteme der Gegenwart, S. 53, kennt das politische System der westlichen Demokratien auf der Grundlage der Verteilung der Gewalten auf verschiedene Machtstellungen "einen pluralistisch organisierten Willensprozeß". P. Gerlich, Parlamentarische Kontrolle im politischen System, S.28fT., gibt einen Überblick über die Struktur des politischen Systems und die Beziehungen zwischen seinen Handlungseinheiten sowie die ablaufenden Prozesse und das dabei beobachtete Verhalten von Rollenträgem. Mit Bezug auf Italien ist auch auf J. C. Adams and P. Barile, The Govemment of Republican Italy, Boston, Houghton Mifflin, 1966, zu verweisen. 142 T. Stammen, Regierungssysteme der Gegenwart, S. 35. Auf den BegrifTsrahmen des "politischen Systems" geht P. GerUch (S. 28fT.) ein "in der Absicht, der empirischen Forschung ein Kategorienschema für die Erfassung des politischen Bereichs der Gesellschaft, sowie für die Einordnung konkreter Problem- und Fragestellungen in größere Zusammenhänge bereitzustellen".
1. Das Zusammenspiel der politischen Kräfte nach der Verfassung
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Verständnis des politischen Willensbildungsprozesses erforderlich erscheint 143 • Wir werden also kurz die einschlägigen Verfassungsbestimmungen erwähnen. Die parlamentarischen Entscheidungsträger bestehen aus dem Parlament, den von ihm mit gesetzgeherischen Befugnissen ausgestatteten regionalen bzw. provinzialen Körperschaften, der Exekutive einschließlich der Verwaltung und dem Nationalen Wirtschafts- und Sozialbeirat. Das Parlament, als das oberste Entscheidungsorgan, schafft den gesetzlichen Rahmen. Es beruft sich dabei auf die Verfassung, die in Art. 10 verfügt, daß die Gesetzgebungsfunktion gemeinsam von den heiden Kammern - der Abgeordnetenkammer und dem Senat - ausgeübt wird 144. Die Parlamentsmitglieder werden von den stimmberechtigten Bürgern aus Namenslisten gewählt, die von den Parteien aufgestellt sind. Die Parlamentarier sind also nicht nur Volks-, sondern auch Parteienvertreter. Nach Art. 64 der Verfassung "sind die Entscheidungenjeder Kammer und des Parlaments ungültig, wenn nicht die Mehrheit der Mitglieder anwesend ist und wenn diese Entscheidungen nicht von der Mehrheit der Anwesenden getroffen sind". Die Aggregation der individuellen Präferenzen im parlamentarischen Kollektiv erfolgt demnach nach dem Mehrheitsprinzip 145 • Die Gesetzgebungsfunktion kann an die Regierung laut Art. 76 nur innerhalb eines vorgegebenen Rahmens und nur auf beschränkte Zeit übertragen werden 146. Die Exekutive ist als oberste Instanz im administrativen Bereich für die Durchführung der vom Parlament beschlossenen Maßnahmen verantwortlich. Als solche hätte sie also keine Entscheidungsbefugnis auf die ihr vom Parlament vorgebenen Richtlinien. In der politischen Praxis nimmt sie jedoch regelmäßig auf die Gesetzgebung Einfluß und zwar insofern, als sie den größten Teil der Gesetzesvorhaben vorbereitet. Damit findet das parlamentarische System einen 143 Nach E. Fraenkel- in seinem Artikel "Das parlamentarische Regierungssystem" im Fischer Lexikon "Staat und Politik", 1964, (zitiert von T. Stammen, Regierungssysteme der Gegenwart, S. 54) - ist "das parlamentarische Regierungssystem eine Erscheinungsform einer Repräsentativverfassung, in der das Parlament einen unmittelbaren Einfluß auf die personelle Zusammensetzung der Regierung besitzt und nicht darauf beschränkt ist, Hoheitsrechte bei der Gesetzgebung, Etataufstellung und Verwaltungskontrolle auszuüben". Über die Merkmale des parlamentarischen Regierungssystems siehe T. Stammen, Regierungssysteme der Gegenwart, S. 55. Für eine zusammenfassende Darstellung des italienischen parlamentarischen Systems verweisen wir auf K. von Beyme, das politische System Italiens. 144 K. von Beyme, Das politische System Italiens, S. 31 fT. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auch aufP. GerUch, Parlamentarische Kontrolle im politischen System. 145 Auf die Problematik der Zusammenfassung der individuellen Präferenzen nach dem Mehrheitsprinzip - wie sie von K. Arrow aufgezeigt wird - gehen wir in diesem Abschnitt später ein. 146 K. von Beyme, Das politische System Italiens, S. 52fT.
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III. Der politische Willensbildungsprozeß
Ausgleich zwischen Gesetzgebung und -vollziehung in Fonn einer gegenseitigen Mitwirkung l47 • Die Befugnisse der Exekutive liegen ferner bei der Wahl der Instrumente zur Verwirklichung - über den Verwaltungsapparat - der in der Gesetzgebung vorgegebenen Ziele und Maßnahmen 148. Die Exekutive kann allerdings aufgrund von Art. 77 der Verfassung in außerordentlichen Fällen der Dringlichkeit Notverordnungen ("Decreti legge") mit verbindlichem Charakter erlassen, die dann vom Parlament - wenn sie nicht verfallen sollen - innerhalb von 60 Tagen in Gesetze umgewandelt werden müssen 149. Den Regionen mit Nonnalstatut und mit Sonderstatut sowie den autonomen Provinzen Bozen und Trient sind eine Reihe von Entscheidungsbefugnissen vorbehalten 150. Dabei müssen sie sich grundsätzlich an die Rahmenrichtlinien 147 Zu dieser Problematik siehe P. GerUch (Parlamentarische Kontrolle im politischen System, S. 6 und S. 42ff. sowie S. 175ff. (wonach dem Parlament "faktisch höchstens die Möglichkeit bleibt, allgemeine Richtlinien zu setzen"). 148 Zur Problematik der Verwaltung verweisen wir aufK. von Beyme, Interessengruppen in der Demokratie, S. 186, der dazu folgendes aussagt: "Die Verwaltung wird im modemen Daseinsvorsorgestaat als Adressat des Einflusses von Interessengruppen zunehmend wichtiger. Die alte Dychotomie zwischen Politik und Verwaltung, "rule making" und "rule applying", läßt sich für die modeme Verwaltung nicht mehr halten, da die Bürokratie selbst in immer größerem Maßstabe Regeln schafft und in der Gesetzesanwendung einen immer weiteren Auslegungsspielraum bekommt ... " Was insbesondere die italienische Verwaltung betrifft, verweisen wir auf FN 211. Wegen ihrer wirtschaftspolitischen Bedeutung sei in diesem Zusammenhang die italienische Notenbank, die Banca d'Italia, erwähnt. Siehe hierzu: R. De Mattia e A. Finocchiaro, La Banca d'Italia, a cura della Banca d'Italia, Roma, 1966; G. Puccini, L'autonomia della Banca d'Italia, Profili istituzionali, Milano, Giuffre, 1979; G. Carli, La struttura deI sistema creditizio italiano, Bologna, Mulino, 1978. Für den deutschsprachigen Leser mag auch die zweisprachige Broschüre von E. Mauri, Das italienische Bankwesen, herausgegeben vom Istituto italiano di cultura in Innsbruck, 1986, von Interesse sein. 149 K. von Beyme, Das politische System Italiens, S. 63 ff. Über den Einsatz des "decreto legge" in den ersten sieben Legislaturen und den ersten zwei Jahren der achten verweisen wir auf M. Morizzi e F. Cazzola, La decisione urgente, in "Rivista italiana di scienza politica", 1981, Nr. 3. 150 Die Kompetenzen der Regionen mit ordentlichem Statut sind in Art. 117 der Verfassung festgelegt: die Wirtschaftspolitik ist davon auf folgenden Gebieten betroffen: Messen und Märkte, Berufsausbildung, Tourismus und Gastgewerbe, Thermen, Kies- und Torfgruben, Fischereiwesen, Landwirtschaft, Handwerk usw. Diese Regionen sind in Art. 116 der Verfassung namentlich aufgeführt. Es sei in diesem Zusammenhang erwähnt, daß es sich nach S. Morscher (Land und Provinzen, Vergleich der Befugnisse der autonomen Provinz Bozen mit den Kompetenzen der österreichischen Bundesländer, Wien, Braumüller, 1981, S. 19) in Italien trotz dieser territorialen Kompetenzen "um einen mehr oder weniger dezentralisierten Einheitsstaat handelt". Mit Sonderstatut sind die Regionen Sizilien, Sardinien, Trentino-Südtirol, FriuliVenezia Giulia, Valle Aosta (laut art. 116 der Verfassung) versehen. Die autonomen Provinzen sind im Rahmen der Region Trient-Südtirol von DPR 31. 8. 1972 Nr. 670 geschaffen worden. Über Südtirols Autonomie siehe S. Morscher, Südtirols Verwaltung, Berlin, Duncker & Humblot, 1975.
2. Das Parteien system in der parlamentarischen Praxis
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halten, die von der Verfassung und vom Parlament vorgegeben bzw. festgelegt werden (die anderen Provinzen haben keine gesetzgeberischen, sondern lediglich Verwaitungsbefugnisse)151. In ihrer Rolle sind diese Gebietskörperschaften also nicht nur Durchführungsorgane, sondern können auch wirtschaftlich relevante Entscheidungsträger - wenn auch mit beschränkter Gebietskompetenz sein 152. Es sei abschließend noch der Nationale Wirtschafts- und Sozialbeirat (CNEL - Consiglio Nazionale dell'Economia e del Lavoro) erwähnt, der aus Fachleuten und Vertretern der "an der Produktion beteiligten Gruppen" zusammengesetzt ist (nach Art. 99 der Verfassung)l53. Er hat keine Entscheidungs-, sondern nur Beratungsfunktionen. Er kann unter Umständen Einfluß auf die parlamentarischen und Regierungsentscheidungen ausüben, da er gesetzliche Initiativen ergreifen kann 154. Neben diesem Mitwirkungsrecht hat der Rat das Recht, eigene Studien und Erhebungen zu erstellen.
2. Das Parteiensystem in der parlamentarischen Praxis Wesentliches Problem im demokratischen Entscheidungsprozeß ist die Erreichung einer ihn tragenden parlamentarischen Mehrheit. Der Konsens ist die K. von Beyme, Das politische System Italiens, S. 65tT. Das Vorgehen dieser Gebietskörperschaften soll in den nachfolgenden Ausführungen unberücksichtigt bleiben. Wir sind uns zwar bewußt, daß dies zu Bedenken Anlaß geben kann; wir sind jedoch der Ansicht, daß eine derartige Ausweitung der Ausführungen ins Detail führen würde, ohne Neues zu erbringen. Wer das Thema vertiefen möchte, sei insbesondere verwiesen auf F. Buglione, L'autonomia finanziaria delle Regioni, in M. D'Antonio, La costituzione economica, S.469tT. 153 Das Gremium besteht aus 80 Mitgliedern, wovon 25 Arbeitnehmervertreter, 13 Vertreter der Freiberufe, 17 Vertreter der privaten Arbeitgeber, 20 unabhängige Sachverständige usw. Hinsichtlich seiner beschränkten Funktionsfahigkeit siehe G. Motzo, E. De Marco, M. Stramacci, P. BUancia, Linee per una riforma dei CNEL, in M. D'Antonio, La costituzione economica, S. 357tT. (mit Literaturangaben), sowie G. Pirzio Ammassari, Contrattualismo, in M. D'Antonio, La costituzione economica, S.551, die darauf hinweist, daß das CNEL als Stelle der Vermittlung und der Erarbeitung von Lösungen im Falle gegensätzlicher Interessen der Sozialpartner letzten Endes versagt hat. Siehe auch R. Krisan, die Beteiligung der Arbeitnehmer, Leiden, Sijthoff, 1963, S. 291, sowie K. von Beyme, Das politische System Italiens. 154 G. C. Perone (Osservazioni in tema di sindacato e Parlamento, in Studi per il ventesimo anniversario dell'assemblea costituente, Milano, Vallecchi, 1969, S.243ff.) prüft die Unterschiede zwischen dem CNEL und einem parlamentarischen Organ: insbesondere untersucht Perone die Frage, ob es Berufsinteressen vertritt und ob es überhaupt eine Vertretungsfunktion ausübt. Siehe auch vom selben Autor: Partecipazione dei sindacato alle funzioni pubbliche, Padova, Cedam, 1972. Eine kritische Einstellung zum CNEL hat S. Fois, Sindacato e sistema politico, Milano, GiutTre, 1978, S. 74tT. (mit eingehender Literatur). K. von Beyme, Das politische System Italiens, S. 117, bezeichnet diesen Beirat als "Relikt korporativer Vorstellungen der christlichen Demokraten". 151
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III. Der politische Willensbildungsprozeß
Hürde, die sich jeder italienischen Regierung ständig mit größter Hartnäckigkeit stellt, da keine Partei über die absolute Mehrheit im Parlament verfügt. Eine Abstimmung zwischen den Parteien wird dadurch zur wesentlichen Voraussetzung für die parlamentarische Mehrheit. So werden heute in und zwischen den Parteisekretariaten wichtige politische Entscheidungen im voraus besprochen, ausgearbeitet und abgesprochen ISS. Wenn also nach der Verfassung der Entscheidungsprozeß grundsätzlich dem Parlament vorbehalten ist, so werden in der italienischen parlamentarischen Praxis die Parteien zum wesentlichen politischen Entscheidungsträger. Die anschließenden Ausführungen sollen ihre Verhaltensweisen darlegen. Das Parteiensystem ist durch die Bildung von "Polen" oder Zentren im politischen Kraftfeld - bestehend aus einer größeren Partei oder aus einer Parteienkoalition um eine größere Partei - gekennzeichnet lS6 , wobei jeder "Pol" eine ihm eigene Konzeption des demokratischen Systems vertritt. Der ideologische "Abstand" zwischen den "Polen" bedingt die Aggregationsfähigkeit oder aber die gegenseitige "Ablehnung" im Verhältnis zwischen den Parteien oder Parteiengruppierungen. Besteht der "Pol" aus einer Parteienkoalition, so bedeutet dies, daß sich eine "Aggregation der Präferenzen" zwischen diesen Parteien erreichen läßt. Die Parteien lassen sich in Italien in drei "Polen" zusammenfassen, die also drei Ideologien vertreten 157: - Im systemkonformen ls8 , systemtragenden Pol der Massenpartei Democrazia Cristiana und der mit ihr koalierten Parteien wie: PLI, PSDI, PRI und seit 1963 auch PSpS9. Diese Parteien stimmen voll den Ordnungsprinzipien der westlichen Demokratie mit ihren Institutionen und Spielregeln zu. - Im Pol mit der die Opposition tragenden Massenpartei KPI, der größten kommunistischen Partei des Westens. Bei ihr ist es fraglich, ob sie das bestehende demokratische System voll und ganz akzeptiert; weshalb sie als ISS Dies gilt für Italien, aber auch für andere Länder. Hierzu siehe P. Gerlich, Parlamentarische Kontrolle im politischen System, S. 52. 156 G. Sartori, Bipartitismo imperfetto e pluralismo polarizzato, S.4ff.; sowie vom selben Autor: Teoria dei partiti e caso italiano, Kap. III (Tipologia dei sistemi di partito), S.63ff. (veröffentlicht als Kap. 12 in F. Allardt and S. Rokkan (edts.), Mass Politics Studies in Political Sociology, New York, Free Press, 1970). Eine Übersicht über die Thesen von G. Sartori gibt P. Fritzsche, S. 125ff. 157 G. Sartori, Bipartitismo imperfetto ... , S. 8. 158 Systemkonform bedeutet, daß diese Partei die "Spielregeln" der liberalen Demokratie akzeptiert, die auf dem Pluralismus basiert und auf dem politischen Wettbewerb (G. Sartori, Bipartitismo imperfetto ... , S. 11 ff.) wohingegen die systemfremden Parteien diese Spielregeln nicht akzeptieren oder zumindest zur Frage Anlaß geben, ob sie sie tatsächlich annehmen. 159 Diese Parteien waren nicht immer mit der DC koaliert. Sie waren aber immer bündnisfahig.
2. Das Parteiensystem in der parlamentarischen Praxis
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grundsätzlich systemfremd oder selbst als systemfeindlich betrachtet wird 160. Dies drängt die KPI automatisch in die Rolle der OppositionsparteP61. Im Pol der faschistischen Partei MSI-DN: von dem ausgeschlossen wird, daß er das demokratische System akzeptiert 162 . Da die Parteien des sog. "Verfassungsbogens" (Democrazia Cristiana, Sozialistische Partei, Republikanische Partei, Sozialdemokratische Partei, Kommunistische Partei) sich grundsätzlich gegen den Faschismus und seine Ideologie aussprechen, wird die faschistische Partei des Movimento Sociale Italiano - Destra N azionale (MSI-DN), die offIziell die Nachfolge der faschistischen Partei übernommen hat, als nicht bündnisfähig betrachtet.
Wir haben es also mit einer Ballung von Wählerpräferenzen zwischen "nicht miteinander auf der horizontalen Ebene konkurrierenden Parteien" zu tun; die Parteien müssen sich also abstimmen: es ergibt sich eine "Konkordanzdemokratie", in der die Koalitionsregierungen der Normalfall sind l63 • 160 S. Tarrow, Political Dualism and Italian Communism, "American Political Science Review", March 1967, Siehe auch G. Sani, L'elettorato comunista: tendenze e prospettive, in J. La Palombara, G. Sani, G. Sartori, 11 PCI dall' opposizione al govemo, Torino, BibI. liberta, 1978, S. 59fT. 161 Wir sind uns bewußt, daß der BegrifT der konstitutionellen Opposition nur auf Parteien Anwendung finden kann, die das System befürworten, daß also die Opposition der KPI zwar der traditionellen Rolle der Oppositionspartei entspricht, daß sie aber von einer nicht systemkonformen Partei ausgeübt wird. Daß die KPI sich dem leninistischmarxistischen System verpflichtet fühlt, hat Parteisekretär Berlinguer auf dem XV. Parteikongreß 1979 klar zum Ausdruck gebracht, als er sagte: "Es ist absurd, von uns zu verlangen, über unsere Wurzeln, unsere Bindung zur Oktoberrevolution, unsere Einstellung zum Werk, und zur Konzeption von Lenin zu springen, der der italienischen Arbeiterklasse für die SchafTung einer autonomen Revolutionspartei so viele Impulse gegeben hat (zitiert im Artikel Quellento lavorio che viene dall'est, "Corriere della Sera", 26. 10. 1982, S. 2); zu verweisen ist auch auf den Artikel von L. Colletti, PCI, il prezzo di una scelta, "Corriere della sera", vom 22. 10. 1986, S. 1; sowie auf A. D'Amato, La via italiana al comunismo, Rovigo, Ist. pad. arti grafiche, 1981, insbesondere auf den Abschnitt über die Beziehungen der KPI zur Sowjetunion (S.51). Siehe auch J. La Palombara, G. Sani, G. Sartori, 11 PCI dall' opposizione al govemo, Torino, Biblioteca della liberta, 1978. 162 G. Sartori, Bipartitismo imperfetto, S.22fT. Auch die MSI-DN hat Vorbehalte gegen das parlamentarische demokratische System der Republik. Siehe hierzu A. von Beyme, Das politische System Italiens, S. 92, und D. Sassoli, La destra in Italia, Roma, Cinque lune, 1959, mit zahlreichen bibliographischen Angaben. Über den Ausschluß des MSI-DN aus dem sog. "Verfassungsbogen", also den als demokratisch betrachteten Parteien, und seine Gründe berichtet A. Lombardo, Le cause politiche e istituzionali dell'incremento incontrollato dei deficit ... pubblico, in M. D'Antonio, La Costituzione economica, S. 324. Als am 22. Dezember 1947 die neue Verfassung von der verfassungsgebenden Versammlung angenommen wurde, stimmten 453 Mitglieder dafür, 62 dagegen, alle der faschistischen Partei angehörend (siehe den Artikel La costituzione cosi difficile ... , in ,,11 Giomale nuovo", vom 2.6.1986, S. 9). 163 Wie A. Pelinka (Modeme Demokratietheorie und Parteiideologie, S. 130) feststellt, "sieht die Konkordanzdemokratie den Regelfall von Koalitionsregierungen oder anderer
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III. Der politische Willensbildungsprozeß
Hieraus ergeben sich einige bedeutungsvolle Folgen. So läßt sich als erstes feststellen, daß die parlamentarischen Wahlen im Gegensatz zu denen in anderen westlichen Ländern nicht dazu bestimmt sind, eine von zwei oder mehr Regierungsparteien oder deren Exponenten auszusuchen; sie sind für den italienischen Wähler eine Gelegenheit, um nicht nur seine Präferenzen auszudrücken, sondern auch, um jeweils eine Art Grundsatzentscheidung über das System als solches zu treffen. Die Rollen der Massenparteien sind infolgedessen vorgegeben und unabänderlich 164. Die Überlegung, wonach die Parteienprogramme das Wahlverhalten der Wähler bestimmen, ist also in Italien nur bedingt zutreffend: sie läßt sich nur auf die Parteien anwenden, die für die Regierungskoalition in Frage kommen. Das Programm, das normalerweise gar nicht vorgelegt wird, wird von der italienischen Wählerschaft auch nicht als verbindliches Dokument empfunden 16s • So ergab eine Umfrage, daß zwei Drittel der Italiener kein Vertrauen in die Parteiprogramme haben 166. Der italienische Wähler stimmt also für eine Partei, weil sie "seine Ideologie vertritt". Die Wahl ist die Gelegenheit für ihn, bei der er den Anspruch auf "seine Ideologie" vorbringt. Eine weitere Folge der bestehenden politischen Konstellation ist, daß die Wählermehrheit die KPI nicht an die Regierung kommen lassen will; denn sie fürchtet, daß diese Partei das gesamte demokratische System in Frage stellt. Die KPI ist also de facto "nicht regierungsfähig" . Es läßt sich ferner feststellen, daß unter den gegebenen Umständen das italienische parlamentarische System einen Wechsel an der Regierungsspitze ausschließt. Denn bei einer Massenpartei an der Regierung und einer in der Opposition ist es nicht möglich, daß letztere die für die Regierungsfähigkeit erforderliche parlamentarische Mehrheit erringt, selbst wenn sie sich mit der sozialistischen Partei - eine andere Partei kommt nicht (oder nur in Ausnahmefällen) in Frage - koaliert. Da dieser Zustand nicht eine "Besonderheit", sondern eine Wesensmerkmal des italienischen parlamentarischen Systems schlechthin ist 167 , wird dieses als ein "unvollständiges" Zweiparteiensystem bezeichnet 168 • Kompromißmechanismen vor, bei denen die Beteiligung an der Macht nicht primär vom Wahlsieg abhängig ist." 164 Wir verweisen auf unsere Ausführungen zum Wählerverhalten und insbesondere zur "Wählerloyalität" in Abschnitt H. 165 Entsprechend kümmern sich die Politiker, wenn sie einmal gewählt sind, nicht um die Wünsche ihrer Wähler. In diesem Sinne spricht sich O. Petracca, im Artikel In contrasto con il paese, "Corriere della Sera" vom 28. 6. 1986, S. 1, aus. 166 "Corriere della Sera", vom 29. 5. 1985, S. 2. 167 So stellt G. Galli, (Il bipartitismo imperfetto, S.44ff.) fest, daß das Wesen des parlamentarischen Systems in diesem Austauschmechanismus liegt. G. Sartori (Il caso italiano ... , in A. Lombardo, Il sistema disintegrato, Milano, SugarCo, 1977) erklärt zwar, daß das Auslegungsmodell von Ga1li über ungenügend Aussagekraft verfügt; den italienischen Parlamentarismus über das "mangelhafte Zweiparteiensystem" zu interpre-
2. Das Parteiensystem in der parlamentarischen Praxis
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Die ideologische Polarisierung führt ferner dazu, daß das System als solches ständig in Frage gestellt wird 169. Mit anderen Worten, es wird zum Spielball zentrifugaler Kräfte. Man hat es mit einer "belagerten Demokratie" zu tun 170 , die mit einer ständigen Tendenz zur IneffIzienz zu kämpfen hat 171 • Allerdings ist Italien fest in ein atlantisches und europäisches Ländergefüge eingebettet, das einen stabilisierenden Rahmen abgibt. Selbst ein Druck von außen, wie er sich beispielsweise in den 40er und zu Anfang der 50er Jahre im Zeichen des "kalten Krieges" ergab, war nicht so stark, daß er größere Reaktionen hervorgerufen hätte 172. Die Bündnisfähigkeit zwischen den Polen - den Massenparteien - ist äußerst gering. Keine der beiden Massenparteien ist imstande, die Parlamentsmehrheit zu erringen, und muß deshalb die Koalition mit anderen kleineren Parteien eingehen. Dies gilt insbesondere für die Democrazia Cristiana als der stärksten Partei Italiens - trotz ihrer relativ zahlreichen Wählerschaft! Damit ist sie den Koalitionspartnern jedoch auch jeweils "ausgeliefert". Daneben gibt es auch systemimmanente Stabilisierungselemente, und zwar einmal die Democrazia Cristiana, zum anderen selbst die KPI, die nach jahrzehntelanger Zugehörigkeit zur Opposition ein Element der Beständigkeit darstellt. Gerade die permanente Rollenaufteilung von Regierung und Opposition auf dieselben Parteien spielt paradoxerweise im italienischen "Modell" auch die Rolle eines stabilisierenden Faktors 173.
tieren, scheint ihm unzulänglich. Insbesondere stellt er fest, der "Austauschmechanismus" sei nicht der wesentliche, sondern nur ein wesentlicher Aspekt des Parlamentarismus. L. Pellicani (S. 26) teilt in seinen Überlegungen diese Ansicht nicht. 168 G. Galli, (Il bipartitismo imperfetto, S. 45 Ir.). Derselbe Autor untersucht in seinem Buch Dal bipartitismo imperfetto alla possibile alternativa (S. 12ff.) den Austauschmechanismus in der Praxis der einzelnen Länder und insbesondere in Italien vor dem ersten Weltkrieg. 169 G. Galli sieht in der ausgeprägten ideologischen Ausrichtung der beiden italienischen Massenparteien selbst die wesentliche Ursache für die unzulängliche Funktionsfähigkeit des italienischen Parlamentarismus. Siehe hierzu G. Galli, Il bipartitismo imperfetto, S.285ff. Zum selben Thema siehe auch G. Sartori, Bipartitismo imperfetto 0 pluralismo polarizzato, S. 4ff. 170 Der Begriff stammt von L. Pellicani, S. 26. 171 G. Galli, Il bipartitismo imperfetto, S. 61. 172 Auf den stabilisierenden Einfluß der internationalen Komponente für den Fortbestand eines parlamentarischen Systems weist G. Galli, il bipartitismo imperfetto, S. 61 ff. hin. Nach G. Galli, il bipartitismo imperfetto, S.63ff. fehlt auch die "organisierte Minderheit". Die Kommunistische Partei habe keinen Zugang zu den Schlüsselstellungen im Staatsapparat (Kontrolle der Polizei, des Heeres usw.), wie das bei der Machtübernahme der Partei in den Ostblockstaaten der Fall gewesen sei. So gebe es in Italien keine politischen Kräfte im Innern, die das System erfolgreich angreifen könnten. 173 G. Galli, Il bipartitismo imperfetto, S. 63ff.
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III. Der politische Willensbildungsprozeß
3. Die Konsensproblematik Damit kommen wir zum wesentlichen Fragenkomplex der Konsensproblematik. Wie M. Talamona zutreffend schreibt, ist der Konsens "kostbar", weil er das billigste Mittel für ein geregeltes Funktionieren der Beziehungen in Staat und Gesellschaft darstellt 174. Und Talamona fügt an: "Natürlich darf der Konsens nicht Selbstzweck sein. Er ist ein Mittel, das dazu dient, die Ziele der Wirtschaftspolitik zu verwirklichen." Die für die Regierung erforderliche parlamentarische Mehrheit läßt sich wie gesagt - nur durch die Bildung von Parteienkoalitionen erreichen 175. Nicht selten nützt die KPI diese Lage aus, um ihre Vorstellungen in die gesetzgeberische Tätigkeit einfließen zu lassen 176. Welcher Zielsetzung entspricht nun das Verhalten der Parteien in der Regierungskoalition? Die Konsensbildung der Koalitionspartner wird zum entscheidenden Faktor, sozusagen zum "politischen Nutzen" der Regierungstätigkeit, dessen Maximierung zentrales Anliegen der Regierungskoalition ist. Am Einverständnis wird die Leistungsfähigkeit der Regierung bewertet. Die Regierung steht unter Konsensdruck l77, will sie etwas erreichen, das dann das 174 Siehe den Artikel von M. Talamona, Con questa scala mobile non si sale in Europa, "Corriere della Sera" vom 11. 3.1985, S.1. 175 Wir sehen von der Tatsache ab, daß nicht selten die parlamentarische Mehrheit nur mit Unterstützung der Opposition erreicht wird, bisweilen selbst gegen den Willen der einen oder anderen Koalitionspartei. Zitiert sei auch P. GerUch (Parlamentarische Kontrolle, S. 7): "Empirische Analysen zeigen, daß das Verhältnis von Regierung und Mehrheitsfraktion mehrschichtig ist und verschiedene Formen latenter Kontrolle und innerer Opposition eröffnet." Zu diesem Fragenbereich siehe auch G. De Rita, (11 nuovo impegno: come organizzare il consenso, "Corriere della Sera" vom 12. 8. 1980, S. 7), der der Ansicht ist, daß heute die organisierte Partei als Instrument der Schaffung von Konsens an Bedeutung verliert und daß der Konsens immer mehr das Ergebnis der Indifferenz und des Verzichts auf politischen Einsatz darstellt. 176 Wir verweisen aufP. Farneti, I partiti e il sistema politico, in V. Castronovo, L'Italia contemporanea, Torino, Einaudi, 1976, der feststellt, daß "ein guter Teil der in den Parlamentskommissionen erarbeiteten Gesetze mit dem Einverständnis bzw. der Enthaltung der Kommunistischen Partei angenommen worden ist". 177 Der Begriff "Konsens" wird von uns als Synonym von "Einverständnis" betrachtet und benützt. In unserer Untersuchung werden wir nicht auf die Frage eingehen (die P. Herder-Dorneich unter dem Pseudonym F. O. Harding in seiner Schrift Politisches Modell zur Wirtschaftstheorie, Freiburg i. Br., Görlich, 1959, aufwirft), ob der Konsensbildungsprozeß dazu dienen kann, den Volkswillen zu erkennen. Siehe hierzu auch G. Kirsch, der folgendes ausführt: "Diese Interpretation des demokratischen Systems als legitimierendes Interaktionsverfahren zwischen Politikern und Bürgern ist nun ausdrücklich nicht so zu versehen, als sei das Ergebnis der Willensbildung beliebig. Vielmehr bleibt auch im Zusammenhang mit dieser Betrachtungsweise die Frage erhalten, ob und wie ein Bezug zwischen den Präferenzen der Wähler und den politischen Entscheidungen besteht. Wenn auch die Suche nach den rationalen Ergebnissen abgelöst worden ist durch die Suche nach dem für die Betroffenen und Beteiligten akzeptablen Verfahren, so gilt doch
3. Die Konsensproblematik
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Einverständnis der Wählerschaft findet. In diesem Sinne strebt sie ihren eigenen Nutzen und nicht das "Gemeinwohl" an 178. Wir werden in den anschließenden Überlegungen lediglich auf den Konsensmechanismus eingehen, wie er zwischen den Parteien zum Zuge kommt. Wir werden also vom Anspruchsdruck der organisierten Interessen in diesem Zusammenhang absehen l79 , obwohl er in einem vielschichtig aufgebauten Staat wie dem italienischen keineswegs bedeutungslos ist. Haben doch zeitenweise die Gewerkschaften erheblichen Druck auf das Parlament ausgeübt 180. Er kam jedoch vor allem auf der Parteienebene und nur indirekt auf der parlamentarischen Ebene zum Tragen, so daß er den parlamentarischen Konsensmechanismus als solchen nicht beeinträchtigte. Wir verwiesen bereits darauf, daß Frey die Konsensproblematik dahingehend löst, daß er den Konsens auf zwei Ebenen sieht und zwar auf der des gesellschaftlichen Grundkonsenses, der als gegeben gesehen werden kann, und der der ablaufspolitischen Maßnahmen, die jeweils von den Politikern unter Berücksichtigung ihrer kurzfristigen Interessen ausgehandelt werden 181. Diese Vorstellungen lassen sich nicht auf Italien anwenden. In Italien - dies ist die Schlußfolgerung von Abschnitt IV - gibt es keinen von der Verfassung vorgegebenen ordnungspolitischen Konsens über ein wirtschaftspolitisches Konzept. Infolgedessen müssen sowohl die ordnungspolitischen Richtlinien als auch die ablaufspolitischen Maßnahmen von der parlamentarischen Mehrheit jeweils festgelegt werden. Daneben prägen die ideologischen Grundvorstellungen der Wähler den Willensbildungsprozeß jeweils mit. So ist eine Stimmenmaximierung bzw. Beschränkung des Stimmenschwundes nur dann gegeben, wenn die Parteienführungen möglichst wenig von den von ihrer Wählerschaft vorgegebenen ideologischen Leitlinien in ihren Entscheidungen abweichen 182. Daraus ergibt sich, daß noch immer, daß die Akzeptanz der Verfahren von den Individuen und deren Präferenzen abhängt." (G. Kirsch, Neue politische Ökonomie, S. 112). 178 B. S. Frey, Theorie demokratischer Wirtschaftspolitik, S. 135. 179 Zur Problematik der Aggregation der Präferenzen und des kollektiven Handeins haben zahlreiche Autoren Stellung genommen. Grundlegend ist das Werk von M. Olson, Die Logik des kollektiven Handeins, Tübingen, Mohr, 1968. Verweisen möchten wir auch auf: P. Bernholz und F. Breyer, K. von Beyme, Das politische System Italiens, sowie F. Lehner (mit zahlreichen bibliographischen Angaben auf S. 108ff.). 180 Siehe die Ausführungen zur Rolle der Gewerkschaften in Abschnitt VII.3. 181 Siehe Abschnitt 1.1 b. 182 A. Downs, S. 30. Damit wird auch ausgesagt, daß die Partei nicht das Allgemeinwohl im Auge hat. B. S. Frey schreibt allerdings (Theorie demokrat. Wirtschaftspolitik, S. 11), daß "in einem demokratischen System die Verfolgung des Eigennutzens der Parteien und der Regierung indirekt dazu führt, daß die Präferenzen der Bevölkerung beachtet werden". . Gerade der Stimmenschwund stellt ein Faktum dar, unter dem die Democrazia Cristiana seit Jahrzehnten, aber vor allem in den letzten Jahren leidet. Es handelt sich um
62
III. Der politische Willensbildungsprozeß
die Parteien unterschiedliche Stellungen beziehen. Die Lösungsfindung setzt demnach eine Strategie voraus, wonach Konfliktlösungen angepeilt werden, die einerseits von den anderen Koalitionspartnern nicht abgelehnt werden, andererseits die Koalitionspartner auf eine Linie bringen können. Wesentliches Instrument der Konfliktbewältigung ist der Kompromißl83. Nun besteht unter den Regierungsparteien normalerweise ein Minimum an ideologischer Homogenität und damit ein Grundeinverständnis über die Ausrichtung der Präferenzen, also über die Rangordnung der Anliegen. Dies schließt jedoch nicht aus, daß jede Partei auch eigene Präferenzen aufweist. Es sei uns gestattet, diesen Aggregationsprozeß - also die Konsensfindung unter den Parteien - in der parlamentarischen Praxis näher zu analysieren. Ist er doch von besonderer Bedeutung, da er die parlamentarische Willens bildung bestimmt. So stellt sich die Frage, ob die Zusammenfassung der Anliegen jeweils auf die Partei als einheitliches Kollektiv oder auf ihre (individuellen) Vertreter im Parlament bezogen werden soll. Die Frage scheint insofern nicht müßig, als immer wieder von der "Aggregation individueller Präferenzen" die Rede sein wird. Hierzu möchten wir feststellen, daß wir von der vereinfachenden (in der italienischen Parlamentspraxis nicht immer realistischen) Annahme ausgehen, daß die parlamentarischen Parteienvertreter aus Gründen innerer Überzeugung oder der Parteidisziplinjeweils dieselbe Meinung vertreten. Dadurch können die parlamentarischen Parteienvertreter mit der "Partei" sozusagen gleichgesetzt werden; das heißt, daß das Anliegen einer Partei auch als "individuelle Präferenz" dieser Partei bezeichnet werden kann. Ferner ist zu berücksichtigen, daß die Regierungskoalition im Parlament über die Stimmenmehrheit verfügen muß. Tatsache ist jedoch, daß die Aufteilung der parlamentarischen Stimmen auf die einzelnen Parteien die Bildung der Regierungsmehrheit erschwert 184. Für die Regierungsbildung gelten demnach folgende Normalbedingungen, die aus der Praxis der Stimmenaufteilung erwachsen l8S .
die "Abwanderung", die von A. O. Hirschman eingehend untersucht wird. Einen Stimmenschwund erlitt die KPI in den Jahren 1976-1979 der großen "Allianz" mit der Democrazia Cristiana. Dies war der Grund dafür, daß die KPI dann wieder die Rolle einer Oppositionspartei übernahm. Siehe hierzu Abschnitt VII.3. 183 E. Tuchtfeldt. S. 216ff. 184 So erklärte Regierungschef A. Moro auf dem christdemokratischen Parteikongreß im März 1976: "Wir wissen, daß die Begrenzung der Regierungsalternativen unser System kennzeichnet, das darum, im Unterschied zu anderen europäischen Systemen, eine schwierige Demokratie ist" (zitiert von T. Wieser und F. Spotts. Der Fall Italien, S. IX der Einleitung). 185 Wir verweisen auf die Aufstellung der Stimmenaufteilung in den Parlamentswahlen (Abgeordnetenkammer) ab 1948 in Abschnitt II.1 (Tabelle 1).
3. Die Konsensproblematik
63
Es bestehen zwei Massenparteien, die grundsätzlich keine Koalition eingehen und entsprechend keine Regierung bilden können: die Democrazia Cristiana als Regierungspartei und die Kommunistische Partei als Oppositionspartei. Keine dieser Parteien erreicht die absolute Stimmenmehrheit im Parlament. Sie erreicht sie selbst dann nicht, wenn sie sich mit der nächstgroßen Partei, nämlich der Sozialistischen Partei koaliert. Die Einstellung der Christdemokratischen und der Kommunistischen Partei gegenüber den Sozialisten ist allerdings nicht dieselbe: die Democrazia Cristiana geht von der Feststellung aus, daß sie sich mit der Sozialistischen Partei und mit anderen Kleinparteien koalieren muß, um zu einer parlamentarischen Mehrheit zu gelangen; sie legt jedoch besonderen Wert auf die Koalition mit den Sozialisten, weil diese ihr die Verwirklichung der Stimmenmehrheit erleichtern. Die Kommunistische Partei weiß hingegen, daß sie sich neben der Sozialistischen Partei mit keiner anderen Partei verbünden kann und daß ihr deshalb die Regierungsmehrheit verschlossen bleibt. Die Sozialistische Partei ist sich ihrerseits bewußt, daß sie nicht das "Zünglein an der Waage" zwischen den beiden Massenparteien spielen kann. Sie kann ferner nicht übersehen, daß eine Koalition mit der KPI ihr keinen Platz in der Regierung sichert. So wird sie sich mit der Christdemokratischen Partei und anderen kleineren Parteien - soweit bündnisfähig - koalieren, um an die Regierung zu gelangen. Dasselbe gilt auch für diese kleineren Parteien. Der Democrazia Cristiana bleibt also praktisch kein anderer Weg, als die Koalition mit der Sozialistischen Partei und anderen kleineren Parteien einzugehen. Dabei zeigt sich jedoch jeweils, daß eine Regierungskoalition in Italien, selbst wenn sie fünf Parteien umfaßt, nur auf eine knappe parlamentarische Mehrheit zählen kann. Fällt also die eine oder andere Koalitionspartei aus, kommt keine parlamentarische Mehrheit mehr zustande. Die Koalition bricht auseinander. Hieraus ergibt sich, daß in der Regierungskoalition trotz der unterschiedlichen parlamentarischen Stimmenzahl jede Partei aufgrund ihrer "blocking power", also ihrer Fähigkeit, eine Mehrheit zu blockieren, letzten Endes jeweils dasselbe Gewicht hat. So reichte beispielsweise das Mißtrauensvotum der Liberalen Partei, die lediglich auf rund 2% der Wählerstimmen zählen kann, am 13. November 1987 aus, um eine Regierungskrise vom Zaune zu brechen. Jede parlamentarische Entscheidung, die nach Art. 64 der Verfassung das Mehrheitsprinzip beachten muß, setzt also den Konsens aller Parteien in der Regierungskoalition voraus, also die Zusammenfassung der Parteienpräferenzen in einem gemeinsamen Anliegen. Diese Aggregation ist - wie wir bereits erwähnten - nicht problemlosl 86 • Nach dem "Unmöglichkeitstheorem" von K. Arrow kann es bei der demokratischen Umsetzung individueller Präferenzen in kollektive Entscheidungen
186
Siehe Abschnitt 1.1 a und b.
64
-
-
III. Der politische Willensbildungsprozeß
entweder zu logisch widerspruchsfreien Entscheidungen kommen, bei denen aber die von Arrow angeführten Bedingungen, die als minimale Anforderungen an das demokratische Entscheidungsverfahren zu betrachten sind, verfälscht werden; oder es kann bei Beachtung aller dieser demokratischen Minimalbedingungen zu widersprüchlichen Entscheidungen kommen 187.
Es ließe sich daran denken, die Überlegungen von Arrow betreffend die Zusammenlegung der Anliegen der Wähler (beispielsweise in den Parteienprogrammen) auch auf die Konsensfindung in der Regierungskoalition zu übertragen. Doch kann das Unmöglichkeitstheorem nur dann zur Anwendung kommen, wenn die individuellen Präferenzen heterogen sind und es auch bleiben. Was mit der italienischen Situation wohl nur selten in Einklang zu bringen wäre 188 • Bei Koalitionsregierungen wie der italienischen, die ständig unter Konsensdruck stehen, scheint die Untersuchung des Prozesses, der konkret zum Kompromiß führt, eher angepaßt. Zum Kompromiß läßt sich folgendes feststellen: Das Einverständnis läßt sich nur erreichen, wenn jede Koalitionspartei einer bestimmten Entscheidung entweder ihre Zustimmung gewährt oder ihr gegenüber indifferent ist, also Stimmenthaltung übt: nicht aber, wenn sie diese Entscheidung ablehnt l89 • Sie wird sie ablehnen, wenn sie damit einen Nachteil in Form "externer Kosten" in Kauf nehmen muß, der größer ist als der Nutzen, der ihr aus einer Haltung der Zustimmung oder Indifferenz erwächst. Unter "externen Kosten" verstehen wir die Nachteile, die jenen Parteien entstehen, die nicht - oder nicht gleich vielvon den Vorteilen einer Koalitionsentscheidung wie andere Parteien profitieren. Soll also ein Einverständnis erreicht werden, müssen die Parteien, die zu dieser Entscheidung negativ eingestellt sind, auf eine Linie der Zustimmung oder zumindest der Indifferenz gebracht werden 190. Wir haben bereits darauf 187 K. Arrow, Social Choice and Individual Values, New York, Wiley, 2nd Ed., 1963, insbesondere S. 22ff. 188 B. S. Frey, Modeme politische Ökonomie, S.98ff. weist darauf hin, daß das Unmöglichkeitstheorem in der wissenschaftlichen Diskussion nicht unumstritten ist. So wird der Einwand vorgebracht, bei der parlamentarischen Entscheidung stehe weniger die gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion als die Notwendigkeit von faktischem kollektivem Handeln im Vordergrund. 189 F. Lehner, S.52, sowie J. Buchanan and G. Tullock, The Calculus of Consent, S. 88-90 und 97ff. 190 Die Aussage von P. GerUch (Parlamentarische Kontrolle im politischen System, S. 36), wonach "konkordanzdemokratische Systeme in der Regel durch tiefgehende Gegensätze in der Interessenstruktur gekennzeichnet sind", läßt sich nach unserem Dafürhalten auf Italien übertragen wie die weitere Aussage, wonach zur Überbrückung dieser Gegensätze bestimmte Formen der Konfliktregelung entwickelt werden: so insbesondere "unter Umgehung des Mehrheitsprinzips ein unter wechselseitigen Zugeständnissen stattfindendes Aushandeln auf der Eliteebene" .
3. Die Konsensproblematik
65
hingewiesen, daß eine Partei, obwohl ideologisch gebunden, deshalb nicht starr ihre Anschauungen vertreten muß, sondern jeweils von ihrer Wählerschaft auch zum Taktieren befugt wird. Neben dem Vorzeichen der Einstellung - positiv oder negativ oder undifferent - zu der jeweiligen Entscheidung ist auch die Intensität der Präferenzen zu beachten. Es gibt Entscheidungen, auf die eine Partei den größten Wert legt und für die sie demnach mit aller Gewalt eintritt, und solche, denen sie nur mit einigen Bedenken zustimmt. Entsprechend gibt es Entscheidungen, die sie - aus welchen Gründen auch immer - ganz entschieden ablehnt, und solche, die sie nur lau ablehnt. Es kommt zu einem "Markt" des Stimmentauschs 191. Die Partei A, die umgestimmt werden soll, verlangt von der sie umstimmenden Partei B einen Preis für den Verzicht auf ihren Eigennutzen 192. Dieser Preis, der also einerseits für die Partei A die "Einigungskosten" darstellt und andererseits die externen Kosten der Partei B neutralisieren soll, berücksichtigt nicht nur die Tatsache der Ablehnung, sondern auch die Intensität der Ablehnung bei der Partei B, die umgestimmt oder zumindest auf eine Indifferenzlinie gebracht werden soll 193 • Der Preis kann einmal darin bestehen, daß die Entscheidungsvorlage so lange abgeändert wird, bis die Partei B eine Stellung der Indifferenz oder gar der Zustimmung bezieht. Selbstverständlich wird bei der Partei B die Intensität der Zustimmung daraufhin abnehmen. Dieser Kompromißmechanismus läßt sich auch graphisch darstellen. Nehmen wir an, daß die Koalition aus 5 Parteien (A, B, C, 0 und E) besteht, von denen drei, nämlich die Parteien A, Bund C ein Vorhaben - beispielsweise die Annahme eines Gesetzes über die Ausweitung der Leistungen des Nationalen Sanitätsdienstes - befürworten, wohingegen zwei, nämlich die Parteien 0 und E, es bekämpfen. Die ersten drei Parteien werden also im nachfolgenden Schaubild im Feld eingezeichnet, das ein positives Vorzeichen aufweist; die anderen zwei im Feld mit dem negativen Vorzeichen. Es ergibt sich also folgende
B. S. Frey, Theorie demokratischer Wirtschaftspolitik, S. 191. Es kommen also Tatbestände auf, die sich mit vertraglichen Absprachen vergleichen lassen. In diesem Sinne weist G. Pirzio Ammassari (Contrattualismo, in M. D 'Antonio, La Costituzione economica, S. 535) darauf hin, daß die Vertragsverhandlung (contrattualismo) die Vorgangsweise ist, mit der die moderne Demokratie der "Krise der Regierungsunflihigkeit" begegnet. Der Pluralismus wird über die Absprache mit gegenseitigem Geben und Nehmen bzw. Tun und Nicht-Tun auf einen Nenner gebracht. Während jedoch dieses Vorgehen auf der politischen Bühne oft .. hinter den Kulissen" stattfindet, ist es offensichtlich in den Beziehungen zu den Sozialpartnern und zwischen diesen. In diesem Sinne auch N. Bobbio, Liberalismo vecchio e nuovo, in "Mondo operario", Nr. 11, nov. 1981, S. 94. 193 B. S. Frey, Theorie demokratischer Wirtschaftspolitik, S. 38. 191
192
5 Fraenkel
Ausgangsposition
c
B
A
D
E
+ --------- -- --
- --- -- ------------------------
~:~ii: ~e;r~~~:~:~~~]
Konsens
Abbildung 1
Wird nun die Gesetzesvorlage im Sinne von den Parteien D und E abgeändert, kommen wir zu folgender Endposition A
c
B
E
D
+ linie der Zustimmung linie der Indifferenz
J
Konsens
Abbildung 2
Der Preis kann hingegen darin bestehen, daß die den Konsens suchenden Parteien A, Bund C in einem anderen Gesetz eine Stellung der Indifferenz oder der Zustimmung beziehen, in dem sie anfangs eine ablehnende Haltung eingenommen hatten und das den Parteien D und E am Herzen liegt. In diesem Fall haben wir folgende Ausgangsposition D
C
B
A
+
E
,.-, I
I
I I I
L_~
I
I
I I I I I I I
,.-, I I
I I
linie der Zustimmung ] Linie der Indifferenz
L_~
0
Vorhaben 1
,.-, I
I
L_~
Abbildung 3
Vorhaben 2
Konsens
3. Die Konsensproblematik
67
Um zu einem Konsens zu kommen, müssen die Parteien A, Bund C, die sich für Vorhaben 1 und gegen Vorhaben 2 ausgesprochen hatten, auf die "Intensität" ihrer Stellung verzichten und sich für beide Vorhaben praktisch auf das "Konsensband" beschränken. Partei D, die auf Vorhaben 2 den größten Wert legte, aber Vorhaben 1 bekämpfte, hat auch beiden Vorhaben ihren Konsens zu geben. Partei E, der vor allem Vorhaben 2 am Herzen lag und die Vorhaben 1 nur wenig ablehnte, kann trotz allem Vorhaben 2 eine intensive Zustimmung gewähren. Wir kommen also zu folgender A
B
c
Endposition D
E
+ Linie der Zustimmung Linie der Indifferenz
1
Konsens
Abbildung 4
Ihre "Zustimmungsintensität" zu Vorhaben 2 kann Partei E unter Umständen bei einem Vorhaben 3 gegen einen anderen Nutzen einhandeln. Damit wird der Tausch ausgedehnt. Abschließend können wir also folgendes feststellen: Der Konsensmechanismus tendiert dazu, daß sich auf der ganzen Linie eine Null-Summe einstellt 194 , es kommt also zum "Konsens-Paradox", wonach es "keine Gewinner bei den einzelnen Entscheidungen gibt" 195 • - In den beiden von uns untersuchten Beispielen der Konsensbildung haben wir es auch mit einem Kompromißmechanismus zu tun, wie er die Konsensbildung auf der italienischen politischen Bühne - und nicht nur dort - beherrscht. - Der Kompromiß - dessen Zustandekommen wir dargelegt haben - stellt einen Konsensmechanismus dar, der eine Reihe von Vorteilen aufweist: zum einen erlaubt er die Beteiligung aller Koalitionspartner an den Verhandlungen; zum anderen werden jeweils die Präferenzintensitäten der Koalitionspartner berücksichtigt, was hingegen bei Mehrheitsabstimmungen nicht der Fall sein kann; zum dritten führt er dazu, daß sich das Einverständnis auf ein sehr qualifiziertes Konsensquorum berufen kann. -
194 In diesem Sinne spricht sich W. H. Riker, The Theory ofPolitical Coalitions, New Haven, Yale U. P., 1962, S. 28, aus. Siehe auch F. Lehner, S. 62, sowie J. Buchanan and G. Tullock, The Calculus of Consent, S. 24 und S. 90. 195 B. S. Frey, Modeme politische Ökonomie, S. 9ff. spricht von "Abstimmungsparadox".
S*
III. Der politische Willensbildungsprozeß
68
4. Die Konsensfindungskosten Die Kompromißbildung kostet l96 • Die Erarbeitung einer allseits annehmbaren Entscheidung braucht Zeit und Energie, die einen Verzicht auf andere Tätigkeiten mit sich bringt. Die Regierungstätigkeit verzettelt sich in Verhandlungen zwischen den Parteien, deren Ergebnis oft nicht im Verhältnis zum Aufwand steht. Insbesondere die Bildung von Regierungskoalitionen wird jeweils problematisch und ist mit den größten Schwierigkeiten verbunden. Aber es kommen auch keine längerfristigen parlamentarischen Mehrheiten auf. Die Lebensdauer der Regierungen ist normalerweise kurz: im Durchschnitt betrug sie jeweils weniger als ein Jahr 197 • Nicht zuletzt kann sich eine Regierung nur selten zur Festsetzung einer politischen Strategie aufraffen; und wenn sie es auch schaffen sollte, läßt sich diese dann nicht in die Tat umsetzen. So blieb bisher, um ein typisches Beispiel zu nennen, jeder Versuch einer Wirtschaftsplanungjeweils nur ein Sandkastenspiel 198 • Tabelle 1 Die Regierungen vor der Verfassung (1945-47) Ministerpräsident
Koalitionspartner
Dauer
Kabinett Parri 1. Kabinett De 2. Kabinett De 3. Kabinett De 4. Kabinett De
DC-PCI-PSI-PLI-PDI-Pd'A DC-PCI-PSI-PLI-PDI-Pd'A DC-PCI-PSI-PRI DC-PCI-PSI DC-PLI-PSLI-PRI
20.06.45-24.11. 45 10.12.45--01.07.46 13.07.46--20.01.47 02.02.47-13.05.47 31.05.47-12.05.48
Gasperi Gasperi Gasperi Gasperi
Quelle: "Corriere della Sera" vom 17.10.1985, S. 3. 196 Wir verweisen hier auf die ökonomische Theorie politischer Entscheidungen, wie sie von J. Buchanan and G. Tullock (insbesondere in The Calculus of Consent, S. 63 fT. sowie 97fT.) vorgebracht wird. Siehe hierzu auch F. Lehner, S. 53, sowie T. Wieserund F. Spotts, S. 13, die folgendes feststellen: "Vergleicht man das politische System Italiens mit dem anderer westeuropäischer Staaten, so zeigen sich neben normalen Varianten des politischen Entscheidungsprozesses Fehlfunktionen, die nur Italien eigen sind. Die auträlligsten unter ihnen sind die Schwäche und die Unstabilität der Regierungen". 197 T. Stammen, Parteien in Europa, S. 96; siehe auch G. Urbani, La riforme istituzionali nell'agenda dei politici, in "Industria Lombarda", Dez. 1983, S. 68; er weist darauf hin, daß die durchschnittliche Dauer einer Regierung zehn bis elf Monate beträgt. Wir verweisen auf die Tabelle 1 in diesem Abschnitt. Wie A. Lombardo (im Artikel La vera regola delle politiche italiane, "Corriere della Sera" vom 5. 8. 1985, S. 2) feststellt, ist die Regierungskrise auch die Folge von Gegensätzen innerhalb der Democrazia Cristiana. So schreibt er: "Wenn ein Flügel dieser Partei das Parteisekretariat umwerfen oder bedingen will, wird er es nicht direkt angreifen, sondern irgendwie die gesamte Regierungsmehrheit in Schwierigkeiten setzen. So wird er eine Allianz mit einer kleineren Partei der Regierungsmehrheit eingehen oder selbst mit der KPI". Siehe auch A. Lombardo, Le cause politiche e istituzionali ... , in M. D'Antonio, La Costituzione economica, S.331, M. Calise und R. Mannheimer, Governanti in Italia; in verschiedene Autoren, Ricerca sociale e movimento operaio, Milano, Angeli, 1982. M. Gerner, S.145 spricht von "Stabilität der Instabilität".
69
4. Die Konsensfindungskosten
Tabelle 2
Die Regierungen der Legislaturperioden 1948-1988 Ministerpräsident
Koalitionspartner
Dauer
5. Kabinett De Gasperi 6. Kabinett De Gasperi 7. Kabinett De Gasperi
DC-PLI-PSDI-PRI DC-PSDI-PRI DC-PRI
23.05.48--12.01.50 27.01.50--16.07.51 26.07.51--29.06.53
8. Kabinett De Gasperi Kabinett Pella 1. Kabinett Fanfani Kabinett Scelba 1. Kabinett Segni Kabinett Zoli
DC DC DC DC-PSDI-PLI DC-PSDI-PLI DC
16.--28.07.53 17.08.53--05.01.54 18.--30.01. 54 10.02.54--22.06.55 02.07.55--06.05.57 19.05.57--19.06.58
2. Kabinett Fanfani 2. Kabinett Segni 3. Kabinett Fanfani 4. Kabinett Fanfani
Kabinett Tambroni
DC-PSDI DC DC DC DC-PSDI-PRI
01. 07. 58--26. 01. 59 18.02.59--24.02.60 25.03.-19.07.60 26.07.60--02.02.62 21. 02. 62--16. 05. 63
1. Kabinett Leone 1. Kabinett Moro 2. Kabinett Moro 3. Kabinett Moro
DC DC-PSI-PSDI-PRI DC-PSI-PSDI-PRI DC-PSI-PSDI-PRI
21. 06.--05.11. 63 04. 12.63--26.06.64 22.07.64--21.01.66 23.02.66--05.06.68
2. 1. 2. 3.
Kabinett Leone Kabinett Rumor Kabinett Rumor Kabinett Rumor Kabinett Colombo 1. Kabinett Andreotti
DC DC-PSI-PRI DC DC-PSI-PSDI-PRI DC-PSI-PSDI-PRI DC
24.06.--19.11.68 12.12.68--05.07.69 05.08.69--07.02.70 27.03.--06.07.70 06.08.70--15.01.72 17.--26.02.72
2. 4. 5. 4. 5. 3. 4. 5.
DC-PSDI-PLI DC-PSI-PSDI-PRI DC-PSI-PSDI DC-PRI DC
26.06.72--12.06.73 07.07.73--02.03.74 14.03.--03.10.74 23.11.74--07.01.76 12.02.--30.04.76
DC DC DC-PSDI-PRI
29.07.76--16.01.78 12.03.78--31. 01. 79 20.--31. 03. 79
1. Kabinett Cossiga 2. Kabinett Cossiga
Kabinett Forlani 1. Kabinett Spadolini 2. Kabinett Spadolini 5. Kabinett Fanfani
DC-PSDI-PLI DC-PSI-PRI DC-PSI-PSDI-PRI DC-PSI-PSDI-PRI-PLI DC-PSI-PSDI-PRI-PLI DC-PSI-PSDI-PLI
04.08.79--19.03.80 04.04.--29.09.80 18.10.80--26.05.81 28.06.81--07.08.82 23.08.--11.11.82 01.12.82--29.04.83
1. 2. 6. 1. 1.
DC-PSI-PSDI-PRI-PLI DC-PSI-PSDI-PRI-PLi DC DC-PSI-PSDI-PRI-PLI DC-PSI-PSDI-PRI-PLI
04.08.83--27.06.86 02.08.86--10.04.87 17.04.87--10.07.87 28.07.87--11.03.88 13.04.88--19.05.88
Kabinett Kabinett Kabinett Kabinett Kabinett
Andreotti Rumor Rumor Moro Moro
Kabinett Andreotti Kabinett Andreotti Kabinett Andreotti
Kabinett Kabinett Kabinett Kabinett Kabinett
Craxi Craxi Fanfani Goria De Mita
Quelle: T. Wieser und F. Spotts, S. 222 (bis 1983).
70
III. Der politische Willensbildungsprozeß
Neben den Kosten für die Regierung gibt es auch solche für die Regierten. Denn der Parteienkonsens ist nicht unbedingt derart, daß die Öffentlichkeit ihn als befriedigend betrachtet. So klagt Galli: "Warum macht das italienische Parlament schlechte Gesetze? Warum kümmert es sich nicht um die "große Gesetzgebung", wohingegen es ständig "Gesetzehen" erläßt, die - manchmal nur vorübergehend - beschränkte Gruppenbelange befriedigen können? Wie kann ein parlamentarisches System fortbestehen, das auf diese Weise Beziehungen zwischen Parteien und Verbänden regelt? Was zwingt das Parlament, so schlecht zu funktionieren?" 199 • Neben den Entscheidungskosten gibt es in Italien jedoch auch erhebliche Systemkosten. Das Fehlen eines Austauschmechanismus an der Regierung führt zu Verkrustungen, zu Immobilität und Ineffizienz; er wirkt sich systemverschleißend aus. Jede sachgerechte Kontrolle über den Einsatz der zur Verfügung stehenden menschlichen und materiellen Ressourcen bleibt unwirksam; die Innovationstendenzen im Gesellschaftsgefüge werden gebremst und können bisweilen nur schwer wirksam werden. Insbesondere kann die dem parlamentarischen System immanente Logik der Aufgabenteilung nur bedingt zum Tragen kommen, wonach grundsätzlich den parlamentarischen Institutionen die Aufgabe der Bestimmung der politischen und wirtschaftspolitischen Leitlinien und die Kontrolle über das Wirtschaftsgeschehen und über die Verwirklichung dieser Leitlinien zufällt; wohingegen den Sozialpartnern die Rolle der Festlegung von Arbeitsbedingungen und insbesondere Entlohnungen, sowie der privaten und öffentlichen Unternehmerschaft die Verantwortung für die Investitionen und die Kapitalakkumulation zufällt. In Italien kommen immer wieder Rollenüberschneidungen vor 2OO • 198 So stellen A. Meier und D. Mettler, S. 176, grundsätzlich folgendes fest: "Für die Konsensfindung sind vage Zielumschreibung, mangelnde Transparenz der Zusammenhänge nicht unbedingt nachteilig, ja vielleicht von Vorteil. Überlegungen zur Machbarkeit, zum Vorgehen, zu den Anforderungen im Gesetzgebungsverfahren sind schon in früheren Entscheidungsstadien wichtig." In Italien war die Folge: der vermehrte Rückgriff auf das Gesetzesdekret; allein im Jahre 1984 erließ die Regierung 68 Gesetzesdekrete. Siehe hierzu den Artikel in "Il sole - 24 ore" vom 3. 1. 1985, S. 3, Piil che la legge pote il decreto. 199 G. Galli, il bipartitismo imperfetto, S. 43. Zwar stellt hierzu G. Di Palma (Contenuti e comportamenti legislativi dei Parlamento italiano, in A. Lombardo, Il sistema disintegrato, S. 137 ff. fest, daß das italienische Parlament wesentlich mehr Gesetze verabschiedet hat als die Parlamente anderer Länder. Gleichzeitig verweist er allerdings darauf, daß das Parlament wegen seiner Schwierigkeiten in der Schaffung eines Konsens die komplexeren Fragen hinausschiebt und in seinen Entscheidungen auf weniger verpflichtende Teilprobleme ausweicht. Weshalb der größte Teil der Gesetzesproduktion keine Grundsatzthemen aufgreift. Siehe auch K. von Beyme, Das politische System Italiens, S. 92; sowie A. Lombardo, Le cause politiche e istituzionali ... , in M. D'Antonio, La Costituzione economica, S. 331. F. Cazzola, Governo e opposizione nel pariamento italiano, Milano, Giuffre, 1974; S. Cotta, Classe politica e pariamento in Italia 1946-76, Bologna, Mulino 1979; A. Manzella, Il pariamento, Bologna, Mulino, 1977; T. Wieser und F. Spotts, S. 101 und 102.
4. Die Konsensfindungskosten
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Damit kommt es also zu einer Entmachtung des Parlaments und zu einem AuseinanderklafTen zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit 201 • Dies hat allerdings auch dazu geführt, daß die Parteien Machtpositionen im Staatsapparat errungen haben, die mit ihren weitgehenden Befugnissen weit über die Funktionen hinausreichen, die ihnen von der Verfassung ursprünglich zugestanden waren. So wird das italienische Regierungssystem auch als eine "Partitocrazia", als ein "Parteienstaat" bezeichnet; womit allerdings auch ausgesagt wird, daß die politische Arena zum Tummelplatz der Parteien wird, die dort ihre Eigeninteressen zu befriedigen suchen 202 • Die Taktik ist die
200 G. Tamburrano, Istituzioni e governo, in A. Lombardo, 11 sistema disintegrato, Milano, SugarCo, 1977, S. 179ff. 201 In diesem Sinne F. Bourricaud (Partitocrazia: consolidamento 0 rottura, in F. Cavazza eS. Graubard, Il caso italiano, Milano, Garzanti, 1974, S. 81 ff.). Siehe auch A. Lombardo, La crisi delle democrazie industriali, Firenze, Vallecchi, 1977. Dieselbe Entwicklung läßt sich auch in anderen Ländern feststellen. So schreiben R. Walter und H. Mayer mit Bezug auf Österreich (Grundriß des österreichischen Bundesverfassungsrechts, S. 39): "Die politischen Parteien und die Verbände (Kammern, Gewerkschaften u. a. m.) bilden die Träger der politischen Macht: sie besetzen nicht nur die parlamentarischen Einrichtungen, sondern auch die Regierungen von Bund und Ländern. Der gesellschaftliche Antagonismus verläuft nicht mehr - wie z. T. früher - zwischen Parlament und Regierung, sondern zwischen den Parteien und Verbänden. Da sich die Verfassung z. T. noch an den früheren Situationen orientiert, wird sie insoweit ihrer Aufgabe, die politische Macht, zu bändigen, nicht voll gerecht." So F. Ermacora, (Wirtschaftsgesetzgebung und Verbandseinfluß, in Wirtschaft und Verfassung in Österreich, Festschrift F. Korinek, Wien, Herder, 1972, S. 161). 202 G. Galasso, (Potere e istituzioni in ltalia, Torino, Einaudi, 1974, S. 279) schreibt: "Die zunehmende Parteienmacht hat die Aufgabe der parlamentarischen und entsprechenden Gebietsinstitutionen ausgehöhlt." Zum Thema: "die Parteien in der Wirklichkeit" verweisen wir auch auf die Studie von A. M. Cremona, Funzione costituzionale dei partiti politici, in: "Quaderni di Azione Sociale" Nr. 16 (Juli, August 1981), worin der Autor zum Schluß kommt, daß die italienischen Parteien "nicht nach demokratischen Prinzipien organisiert" sind; weshalb der Parlamentarismus denn auch nicht befriedigend funktionieren kann. Siehe hierzu auch M. Sandulli, Corriere della Sera, 11. 4.1962, S. 7. Zu den Problemen, die das Parteienwesen im demokratischen Parlamentarismus aufwirft, verweisen wir auf G. Pasquino, Crisi dei partiti e governabilita, il Mulino, Bologna, 1980 (S. 82). Nach Ernesto Galli della Loggia (il Giornale nuovo vom 25. 4.1983, Seite 1, "Un altro 25 aprile - Requiem per un Fasto") sind die italienischen Parteien, die Gegner der italienischen Demokratie aufgrund "ihrer oligarchischen Grundtendenz, ihrer Zurückhaltung, wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen, ihrer bescheidenen Wirtschaftskenntnisse, ihrer Tendenz, den Staat als eine Art Eigentum zu betrachten". 1945 sei nicht die Demokratie, sondern das Mehrparteiensystem und der parteigebundene Parlamentarismus wieder eingeführt worden, "die zwar mit der Demokratie vereinbar sind, deren Totengräber sie aber auch sein können". Zu diesem Thema siehe auch: M. D'Antonio, La costituzione di carta, Milano, Giuffre, 1977, insbesondere cap. 3, I partiti dentro il Parlamento e contro il Parlamento, S. 87ff.; G. Sartori, Teoria dei partiti e caso italiano, Milano, SugarCo, 1982 (der auf die Aufsplitterung der und in den Parteien hinweist). Zum Thema "Partitocrazia" siehe A. Lombardo, Le cause politiche e istituzionali ... , in M. D'Antonio, La Costituzione economica, S. 329ff., wie auch G. Pasquino, Crisi dei
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III. Der politische Willensbildungsprozeß
Schaffung eines Verhältnisses von gegenseitigem Geben und Nehmen, das als "Klientelismus" bezeichnet wird 203. Das Einflußvermögen einer Partei hängt dabei weitgehend von dem Gewicht ab, das der Zahl der hinter ihr stehenden Wählerstimmen beizumessen ist. Typisch ist das System der Postenaufteilung, der "Lottizzazione" im Verhältnis zur Stärke der Parteien im Parlament. Dies gilt beispielsweise für die Präsidentenposten der großen Banken, der Staatsholdinggesellschaften, der staatlichen Fürsorgeinstitute usw., also aller Institutionen und Körperschaften, die Machtpositionen vergeben 204 • Die politische Logik will übrigens, daß die anderen Parteien dieses Vorgehen gutheißen, und zwar unter dem Motto: "heute dir, morgen mir". Wer diese Spielregel mißachtet, wird aus dem System hinausgesetztlOS . Mit dem Erschlaffen der Leistungsfahigkeit der demokratischen Institutionen konnten zeitenweise die organisierten Interessen - insbesondere die Gewerkschaften - erhebliche Machtpositionen erringen 206 • Seit Jahren stehen sie im Zentrum des wirtschaftspolitischen Geschehens und bestimmen es mit 207 • partiti e governabiliUi, insbesondere S. 78ff.; sowie vom selben Autor: Degenerazione dei partiti e riforme istituzionali, Bari, Laterza, 1982, S.82ff. Zum Begriff der "Parteiendemokratie" nimmt P. GerIich (parlamentarische Kontrolle im politischen System, S. 166) im Rahmen der parlamentarischen Praxis Stellung. 203 J. La Palombara, Clientela e parentela, studio sui gruppi di pressione in Italia, Milano, Comunita, 1967, S.243 und S.306; siehe auch F. Bourricaud, S.104, sowie P. Fritzsche, S. 35. 204 Ein prägnantes Beispiel für dieses Vorgehen war das der Nominierung der Verwaltungsräte der staatlichen Radio- und Fernsehkörperschaft RAI-TV. Diese ist eine fast zu 100% der Staatsholding IRI gehörende Aktiengesellschaft. Von den 16 Verwaltungsratsmitgliedern werden zehn von der zuständigen parlamentarischen RAI-Kommission benannt. Die Auswahl der restlichen 6 Ratsmitglieder steht formal dem IRI zu, wurde bisher aber ebenfalls den Parteien nach dem Parteienproporz überlassen. IRI -Präsident R. Prodi wollte 1984 diese Praxis ändern, die zu einer erheblichen Politisierung auf allen Ebenen der RAI geführt hatte und die dem IRI zustehenden sechs Verwaltungsratsmitgliedern selbst benennen. Dies führte zu einem Streit zwischen Christdemokraten und Sozialisten sowie zu erheblicher Kritik in der öffentlichen Meinung. Von den vielen Stellungnahmen seien lediglich folgende Artikel als besonders aufschlußreich zitiert: G. Rossi, Lo Stato ei partiti, "Corriere della Sera", 27. 1. 1984, S. 1; G. Pasquino, La socieUi civile fermera il mercato delle cariche, "Il sole - 24 ore", 1. 2. 1984, S. 7. 20S G. Bocca (La logica dei partiti, in "La Repubblica", 19. November 1983, S. 8) führt aus, daß diese politische Logik zwar allgemein angewandt ist, jedoch offIziell nicht erwähnt wird. Man decke sie mit einem liberal-demokratischen Mantel zu: "Die Eingeweihten wissen allerdings, worum es geht!", stellt Bocca abschließend fest. 206 In diesem Sinne sprechen sich folgende Autoren aus: G. Giugni, Il sindacato tra contratto e riforme, Bari, Oe Donato, 1973, S.71; T. Treu, L'attivita politica dei sindacato, in "Politica dei diritto", 1975, Nr. 2. 207 S. Fois, Sindacato e sistema politico, Milano, Giuffre, 1978, sieht einen weiteren Grund für das Vordringen der Gewerkschaften in den rein politischen Raum, nämlich das stärkere Bewußtsein der Gewerkschaften, durch die Verfassung hierzu legitimiert zu sein. Nach A. Lombardo (Le cause politiche e istituzionali ... , in M. D'Antonio, La
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Sie haben mit ihren Forderungen den ihnen ursprünglich zugewiesenen Rahmen der Vertretung der Arbeitnehmerinteressen gesprengt und sind in den politischen Raum vorgedrungen. In den 70er Jahren wurden sie zu einem wesentlichen Faktor im italienischen Wirtschaftsleben 208 • Durch ihre politischen Streiks übten sie damals großen Druck aus, um die staatlichen Stellen zum Einlenken gegenüber ihren politischen Wünschen zu bewegen. Damit ergab sich eine erhebliche Konvergenz zwischen den Gewerkschaftsforderungen und der Ausrichtung in der staatlichen Wirtschaftspolitik, so daß die Regierung sich oft genug leicht tat, ihnen entgegenzukommen209 • Der Ausbau der Sozialgesetzgebung bestätigt es 210 • In diesem Zusammenhang sei auch kurz auf die Sonderrolle eingegangen, die die Verwaltung spielt 211 • Ihr fallt es zu, die Kontinuität im politischen Leben
Costituzione economica, S. 327 ff.) gab es eine erste Phase der italienischen Politik, die bis zum Ende der 60er Jahre anhielt, in der die Politik von den Spitzen der Parteien, der Gewerkschaften, der Bürokratie a,usgeprägt wurde ("vertikale Phase"). Anschließend seien die Machtstrukturen auf die "mittlere Ebene" oder selbst die Basis gesunken; was zu einer "Machtinflation" geführt habe. So ginge es heute darum, die Macht den hierfür vorgesehenen institutionellen Organen zurückzugeben. 208 G. Mazzoni, 11 sindacato nel quadro della costituzione, S. 159, stellt fest, daß die Gewerkschaft in einen ordnungspolitischen Raum vorgedrungen ist, der sich wesentlich vom Staat unterscheidet. S. Fois, S. 8, spricht von "Gewerkschaftsstaat". 209 Über den Einfluß von Interessengruppen auf den politischen Entscheidungsprozeß siehe P. Bernholz und F. Breyer, S. 349ff. 210 Siehe den nachfolgenden Abschnitt VII.4 b. 2ll Das italienische Verwaltungssystem geht in seiner Struktur auf das Jahr 1865 zurück, als nach der Einigung des Königreichs Italien die Verwaltung Piemonts auf das ganze Land ausgedehnt wurde. Sie entsprach den Überlegungen und Anforderungen, die damals maßgeblich waren und ihre Berechtigung hatten, die aber heute, in einem modemen Industriestaat, nicht mehr zeitgemäß sind. Das System erweist sich als zu formaljuristisch, zu wenig elastisch, was zu Verzögerungen und mangelhaftem Funktionieren führt. Auf der einen Seite werden die Vorschriften buchstabengetreu und ohne Verständnis für wirtschaftliche Notwendigkeiten beachtet; auf der anderen Seite herrscht ein allgemeiner Schlendrian, der von der Beamtenschaft mit ihrer schlechten Bezahlung gerechtfertigt wird. Zu dieser Problematik verweisen wir insbesondere auf G. Gal/i, 11 bipartitismo imperfetto, S. 20, der dazu feststellt, daß die italienische Verwaltung im Gegensatz zu der deutschen, französischen, englischen usw. niemals ein Selbstbewußtsein entwickelt hat. Angesichts dieser Mißstände wurden im Laufe der Jahre verschiedene Ansätze zu einer Modemisierung der Verwaltung ergriffen. Allerdings vergeblich! So gab es lange Zeit einen Minister für die Reform der Bürokratie. Sein Wirken blieb erfolglos. Ein weiterer Weg wurde mit der Schaffung der Regionen beschritten. Durch die Delegierung von Verwaltungsbefugnissen der Zentralverwaltung an die Regionen und an die Autonomen Provinzen wollte man die Verwaltung der Bevölkerung nahe bringen, auch um eine bessere Leistungskontrolle zu erreichen. A. Podbielski, (Storia dell'economia italiana, Bari, Laterza, 1975, S. 204ff.) widmet dem Problem der Verwaltungsreform ein Kapitel, in dem sie auf einzelne Vorschläge, deren Ziele und Merkmale eingeht sowie auf die Hindernisse, die bisher bei jedem Sanierungsversuch auftraten. Dabei verweist sie insbesondere auf die
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III. Der politische Willensbildungsprozeß
trotz der mangelnden Regierungsstabilität zu wahren. In "vergleichbaren" Ländern steht die Verwaltung traditionell außerhalb der politischen Sphäre und ist also parteipolitisch von ihr nicht beeinflußbar. Demzufolge werden die institutionellen ordnungspolitischen Mechanismen durch parteipolitische Interventionen dort nicht verzerrt 212 . In Italien ist die Verwaltung hingegen zum Teil in die Einflußsphäre der Parteien und der großen Interessenvertretungen geraten 213. Es ergibt sich nicht selten eine Interessenverflechtung und -verfilzung. Die parlamentarischen Träger der Wirtschaftspolitik sind bei der Komplexität der Probleme, Situationen, Vorgänge und Lösungen aufInformationen von zuständiger Verwaltungsseite sowie auf geeignete Lösungsvorschläge angewiesen 214 . Aber das Maß einer korrekten Zusammenarbeit ist wohl bisweilen überschritten. Wir verweisen dabei auf unsere Ausführungen zum Parteienwesen und insbesondere zu den Begriffen "Lottizzazione" (Parzellierung der Einflußzonen) und "Clientelismo" (Tausch und Vergünstigungen)215. Von diesen Überlegungen ist allerdings die italienische Notenbank auszunehmen, deren Unabhängigkeit von Parteien und Interessengruppen nicht in Frage gestellt werden kann. Hingegen ist ihre Unabhängigkeit gegenüber der Regierung und deren politischer Linie nicht gegeben, da "in Italien die Festlegung der geld- und kreditpolitischen Ziele in die Zuständigkeit der Regierung fällt"216. Schwierigkeiten bei der Übertragung von Finanzbefugnissen an die lokalen Körperschaften zur Abdeckung der ihnen übertragenen Aufgaben. Zur Problematik der italienischen Verwaltung siehe A. Cassese, Il sistema amministrativo italiano, Roma, Ist. Pol. Stato, 1982, sowie T. Wieser und F. Spotts, S. 129ff. 212 G. Galli, Ripartitismo imperfetto, S. 201. Die Neue Politische Ökonomie hat sich eingehend mit der öffentlichen Verwaltung befaßt. Von vielen Autoren seien folgende zitiert: W. Niskanen, Bureaucracy and Representative Government, Chicago, Aldine, 1971, der ein Modell der budgetmaximierenden Verwaltung erstellt; A. Downs, Inside Bureaucracy, Boston, Little Brown, 1966, der der Verwaltung eine Reihe von Zielvorstellungen wie Macht, Prestige, Sicherheit, Einkommen usw. zuschreibt und sie in einer komplexen Wechselwirkung mit Politikern und Interessengruppen sieht; B. S. Frey, Theorie demokratischer Wirtschaftspolitik, S. 156ff. 213 G. Pasquino, Crisi dei partiti, S. 89; siehe auch G. Podbie/ski, S. 83. So spricht man von "sottogoverno" (= "Unterregierung") und meint damit die Ämter, die von der Regierung mit Rücksicht auf die Parteien verteilt und vergeben werden. Siehe hierzu G. Ga/asso,S. 290. 214 B. S. Frey, Theorie demokratischer Wirtschaftspolitik, S. 173, stellt grundsätzlich fest, daß die Parlamentarier auf eine gute Zusammenarbeit mit der staatlichen Verwaltung angewiesen sind. 215 K. von Beyme, Das politische System Italiens, S. 18 und 113ff. Siehe auch J. La Pa/ombara, Interest Groups in Italian Policy, Princeton, Princeton U. P., 1964, S. 270, zitiert in K. von Beyme, Das politische System Italiens, S. 113, der auf die besonders enge Verbindung zwischen Verbänden und Bürokratie in Italien verweist und dabei von einer "Clientela-Beziehung" spricht. An dieser Stelle sei auch auf F. Lehner (S.l13ff.) verwiesen, der ein Kapitel der "ökonomischen Theorie der Bürokratie" widmet (mit bibliographischen Angaben). Dabei geht er vor allem auf die Theorie der Budgetmaximierung von Niskanen und auf die Motivationsstrukturen von Downs ein. 216 R. De Mattia e A. Finocchiaro, La Banca d'Italia, S. 117.
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Damit wird auch ausgesagt, daß ihr auf der wirtschaftspolitischen Ebene lediglich die "Rolle des Regierungsberaters" für die bestmöglichen Mittel und Wege für die Erreichung der längerfristigen Ziele zukommt. Die Banca d'ltalia umschrieb ihren "Standort" seinerzeit wie folgt: "Uns steht es zu, unsere Unabhängigkeit gegenüber der politischen Macht zu verteidigen; was allerdings keiner Auflehnung gleichkommen darf. Unsere Unabhängigkeit ist als eine dialektische Gegenüberstellung von Staatsorganen zu verstehen, da die Aufgabe der Notenbank in einer Mitarbeit besteht, die die Geldwertstabilität nicht beeinträchtigen darr'2I7.
217 Aussage des Gouverneurs der Banca d'Italia, zitiert von R. De Mattia e A. Finocchiaro, S. 119.
IV. Die italienische Wirtschaftsverfassung 1. Der Begriff der Wirtschaftsverfassung Nachdem wir im vorhergehenden Abschnitt die Prozesse darlegten, die das Zusammenspiel der politischen Entscheidungsträger prägen und die politische Willens bildung bedingen, wollen wir nun auf die Beziehungen zwischen Politik und Wirtschaft eingehen. Bevor wir jedoch auf die Verhaltensweisen der wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger eingehen, scheint es zweckmäßig, an den Anfang die Grundsätze zu stellen, denen sie unterworfen sind. Ist doch ihr Entscheidungsspielraum nicht unbeschränkt. So wollen wir einen Blick auf die italienische Verfassung als den wesentlichen Rechtsrahmen werfen, der die Grenzen für die wirtschaftspolitische Entscheidung absteckt 218 • Wir gehen dabei von der Vorstellung aus, daß die Verfassung nicht nur eine hierarchische Rechtsquellenordnung aufstellt, daß also die verschiedenen Rechtsnormen in einem sog. Erzeugungszusammenhang zueinander stehen, bei dem die Verfassungsnorm am Anfang steht; sondern daß sie dadurch auch und in wesentlichem Maße die Ausrichtungsmöglichkeiten der Politik und damit der Wirtschaftspolitik bestimmt. Im vorliegenden Abschnitt werden wir also auf verfassungsrechtliche Aussagen hinweisen. Dabei wäre es wohl wenig sinnvoll, den Ordnungsrahmen, der in der italienischen Verfassung von 1948 seinen Niederschlag gefunden hat, an dieser Stelle in aller Ausführlichkeit darzulegen und zu erläutern 219 • Es dürfte 218 J. BuchananandG. Tullock, TheCalculusofConsent,S. 76fT.SieheauchK. Arrow, S. 107, sowie T. Pütz, Grundlagen der theoretischen Wirtschaftspolitik, S. 26. 219 Am 2. Juni 1946 wurde die "Costituente", die verfassungsgebende Versammlung mit dem Auftrag gewählt, eine neue Verfassung auszuarbeiten. 1947 wurde die Verfassung angenommen und am 1. 1. 1948 trat sie in Kraft. Für einen ausfUhrlichen Kommentar verweisen wir auf das Sammelwerk Commentario della Costituzione, a cura di G. Branca, Bologna, Zanichelli, das in verschiedenen Jahren veröfTentlicht wurde. Siehe auch U. Rescigno, Costituzione italiana e Stato borghese, Roma, Savelli, 1975, sowie vom selben Autor Manuale elementare di diritto pubblico, Bologna, Zanichelli, 1983; und P. Barile. Istituzioni di diritto pubblico, Padova, Cedam, 1982. Eine Zusammenfassung ist bei T. Stammen, Parteien in Europa, München, Beck, 1978 (2. Aufl.), S. 95. Über die Ausarbeitung der republikanischen Verfassung und die Probleme, die sie stellte, verweisen wir auf K. von Beyme, Das politische System Italiens, Stuttgart, W. Kohlhammer, 1970, S. 18fT. sowie aufF. Chabod. L'Italia contemporanea (1918-48), Torino, Einaudi, 1961, S. 145 fT. Eine deutsche Übersetzung des italienischen Verfassungstextes ist enthalten in P. C. Mayer-Tasch, die Verfassungen Europas, Stuttgart, Kröner,
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ausreichen, auf die Leitgedanken und Richtpunkte für die Gestaltung der Wirtschaftsordnung einzugehen, die für das italienische wirtschaftspolitische System direkt oder indirekt maßgeblich oder verbindlich sind und die dadurch ein besseres Verständnis der Ausführungen und Überlegungen in den anschließenden Abschnitten ermöglichen. Geht man also von der Feststellung aus, daß die Verfassung die rechtliche Grundordnung des Staates darstellt, ist die Wirtschaftsverfassungjener "Teilbereich der Verfassung, welcher den Rahmen für die staatliche Wirtschaftspolitik und damit die Ordnung der Wirtschaftsgemeinschaft festlegt" 220. In diesem 1966, S. 248fT., wie auch in Der italienische Staat und seine Verfassungsordnung, Roma, Istituto Poligrafico dello Stato, 1976. 220 Wir übernehmen die Definition von F. Gygi (Die schweizerische Wirtschaftsverfassung, S. 102), möchten aber daraufhinweisen, daß der Ausdruck "Wirtschaftsverfassung" in der Literatur mit verschiedenen BegrifTsinhalten versehen wird. Wir verweisen auf W. Weber, Der ökonomische BegrifT der Wirtschaftsverfassung, in Wirtschaft und Verfassung in Österreich, Festschrift F. Korinek, Wien, Herder, 1972, S. 11 fT., der darlegt, daß auf der einen Seite die Wirtschaftsverfassung als die "Gesamtentscheidung über die Ordnung des Wirtschaftslebens eines Gemeinwesens" gesehen wird, wie sie sich aus der Funktionsweise dieses Wirtschaftslebens - also auch unabhängig vom normativen Rahmen der Gemeinschaft - ergibt; auf der anderen Seite wird sie als die vom Staat der Wirtschaft und Wirtschaftsordnung gegebene Rechtsgrundlage begrifTen. Wie K. Korinek, Zum BegrifT des Wirtschaftsverfassungsrechts, S. 23 fT., ausführt, kann dieser juristische BegrifT der Wirtschaftsverfassung unterschiedlich aufgefaßt werden. So kann er als die "Gesamtheit der rechtlichen Normen, die die Wirtschaftsordnung zum Gegenstand haben", betrachtet werden oder als die Gesamtheit der Grundsätze, wie sie sich aus den Verfassungsnormen und aus den Gesetzen ergeben, oder als die Gesamtheit der wirtschaftsbezüglichen Normen der Staatsverfassung. K. Korinek hebt hervor (S. 31), daß unter diesen Normen nur diejenigen zu begreifen, die für die Konstituierung der Wirtschaftsordnung von Bedeutung sind, einer "sehr engen" Sicht der Problematik gleichkommt; "denn - so schreibt er - es gibt auch andere Normen des Verfassungsrechts, die ,wirtschaftsbezogen', also in einem allgemeinen Sinn ,für die Wirtschaft' von Bedeutung sind". Er fügt allerdings hinzu, daß die exakte Abgrenzung zwischen den einen und den anderen unmöglich ist (S. 34). K. Korinek sieht also in der Wirtschaftsverfassung die Gesamtheit der "Normen in Verfassungsrang, die für die Wirtschaftsordnung und das Wirtschaftsgeschehen eines ,Staates in besonderem Maße von Bedeutung sind". H. Schambeck, Wirtschaftsverfassung und Verfassungsrecht, in Wirtschaft und Verfassung in Österreich, Wien, Herder, 1972, S. 37fT., teilt diese AufTassung. Von den vielen Autoren des deutschsprachigen Raums, die sich mit diesem Thema befassen, seien folgende erwähnt: G. Strickrodt, die Idee der Wirtschaftsverfassung als Gestaltungs- und Interpretalionsprinzips, "Juristenzeitung", 1957, 12. Jahrgang, Nummer 12, S. 351 fT.; K. Wenger, die Wirtschaftsordnung, in: H. Schambeck, Das österreichische Bundesverfassungsgesetz und seine Entwicklung, Berlin, Duncker, 1980, S. 685fT.; K. Korinek, Die verfassungsrechtliche Grundlegung der österreichischen Sozial- und Wirtschaftsordnung, in A. Mock und H. Schambeck, Verantwortung in Staat und Gesellschaft, Wien, Europa, 1977, S. 245fT.; L. Fröhler, Das Wirtschaftsrecht als Instrument der Wirtschaftspolitik, Wien, Springer, 1969, S.7fT. und 19ff.; P. Oberndorfer, Grundrechte und staatliche Wirtschaftspolitik, "Österr. Juristenzeitung", 1969, S. 449fT.; S. Morscher, Das Abgabenrecht, in S. Morscher und C. Smekal, Kommunale Unternehmungen zwischen Eigenwirtschaftlichkeit und öfTentlichem Auftrag, Wien, Österr. Wirtschaftsveriag 1982. S. 74.
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IV. Die italienische Wirtschaftsverfassung
Sinne besteht die Wirtschaftsverfassung aus den Verfassungsartikeln, in denen die Leitlinien verankert sind, die für die Gestaltung der Wirtschaftsgemeinschaft maßgeblich sind. Unter diesen gibt es auch Artikel, die zwar sozialpolitischen Charakter haben, die aber dem Staat erhebliche Finanzlasten aufhalsen und es insofern verdienen, in der Darlegung der Wirtschaftsverfassung erwähnt zu werden. Diese wird deshalb jedoch nicht zu einer "Wirtschafts- und Sozialverfassung" . Steht doch fest, daß nur der ökonomische Standpunkt berücksichtigt wird, so daß sozialpolitische Bestimmungen unberücksichtigt bleiben, die ohne direkte wirtschaftliche Relevanz sind. Im Fall der italienischen Verfassung ergibt sich die Wirtschaftsverfassung aus den ersten Artikeln, in denen die individuellen Grundrechte festgelegt sind, aus einigen Artikeln der Abschnitte, die den "ethisch-sozialen Beziehungen" und den "politischen Beziehungen" gewidmet sind, und insbesondere aus dem Abschnitt der "Wirtschaftsbeziehungen" (Artikel 35 _47)221. In den nachfolgenden Ausführungen soll versucht werden, aus diesen Artikeln die italienische Wirtschaftsverfassung in ihren Grundzügen "herauszuschälen". Dabei werden wir feststellen, daß zwischen den Rechten und Pflichten des Individuums als Mensch und Bürger und denen der Gemeinschaft als Gesamtheit der Bürger und Ausdruck überindividueller Wertvorstellungen zu unterscheiden ist.
2. Der Mensch und Bürger Zuerst sei die Stellung des Einzelmenschen untersucht. Er soll sich seinen Fähigkeiten entsprechend auf bestmögliche Weise verwirklichen können 222 ; und zwar dadurch, daß ihm eine private Freiheitssphäre zugestanden wird. Es wird also ein Bereich der individuellen Grund- und Freiheitsrechte abgesteckt, der von der staatlichen Regelung ausgenommen ist 223 • In diesem Sinne betrachtet 221 F. Galgano, Trattato di diritto commerciale, Padora, Cedam, 1977; G. Amato e. A. Barbera, Manuale di diritto pubblico, Bologna, Mulino, 1986 (2. Aufl.); M. D 'Antonio, La costituzione economica, Milano, Ed. II sole - 24 ore, t 985, der auch die Artikel 9 (Förderung von kultureller Entwickhmg sowie wissenschaftlicher und technischer Forschung), 81 (bei der Erstellung des jährlichen Staatshaushalts zu beachtende Modalitäten), 100 (Staatsrat als oberstes Verwaltungsgericht) und 119 (Finanzautonomie der Regionen) analysiert. Das letztgenannte Werk untersucht die Artikel der Verfassung, die die "Wirtschaftsverfassung" ausmachen, insbesondere auf ihre Reformbedürftigkeit. 222 C. Mortati, in seinem Kommentar zu Art. 1 der Verfassung in G. Branca, Commentario della Costituzione, S.9. 223 Von der italienischen Verfassung - wie auch von der österreichischen - wurde also das liberale Grundprinzip übernommen. Einer Erläuterung dieses Grundprinzips ist eine Fülle von Schriften gewidmet. Wir dürfen folgende Standardwerke erwähnen: F. von Hayek, die Verfassung der Freiheit, 2. Auflage, Tübingen, Mohr, t 983; vom selben Autor: Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Landsberg am Lech, Verlag modeme Industrie 1980-
2. Der Mensch und Bürger
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die Verfassung das Individuum als eigenständige, eigenverantwortliche Einzelperson. Seine Privatautonomie schützt ihn vor dem staatlichen Eingriff ("Freiheit vom Staat"). So stellt Art. 2 fest, daß es Aufgabe des Staates ist, " ... die unverletzlichen Rechte des Menschen als Einzelperson wie in den Gesellschaftsgruppen, in denen er seine Persönlichkeit entfaltet, anzuerkennen und zu garantieren". Allerdings wird gleichzeitig die "Erfüllung der individuellen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Pflichten" gefordert. Art. 3 der Verfassung ergänzt obige Aussagen, indem er festlegt, daß "alle Bürger dieselbe gesellschaftspolitische Würde haben und vor dem Gesetz gleich sind ... "224. Derselbe Artikel fügt hinzu, daß es Aufgabe des Staates ist, die wirtschaftlichen und sozialen Hindernisse zu entfernen, die in der Praxis die Freiheit und Gleichheit der Bürger einschränken und dadurch die volle Entfaltung der Persönlichkeit sowie die Teilnahme aller Arbeiter an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Organisation der Gemeinschaft unterbinden 225 . Weiterhin erkennt Artikel 4 "allen Bürgern das Recht auf Arbeit" zu. Er erklärt ferner: "Jeder Bürger hat die Pflicht, eine Tätigkeit oder eine Funktion im Einklang mit seinen Fähigkeiten und seinen Entscheidungen auszuüben. Diese Tätigkeit oder Funktion soll zum materiellen und geistigen Fortschritt der Gemeinschaft beitragen"226. Hinter diesen Artikeln steht also als Leitbild ein Gemeinwesen, das auf der Achtung menschlicher Würde und Freiheit beruht. Unverkennbar ist die Übernahme des liberalen Prinzips der Verfassungen des letzten Jahrhunderts, wonach dem Individuum - und seiner Freiheit - eine Zentralstellung eingeräumt wurde und eine bürgerlich-liberale Wirtschaftsordnung verwirklicht werden so1l227. 81; T. M ayer-M aly, Der liberale Gedanke und das Recht, Festschrift A. Merkl, München, Fink, 1970, S. 247. Für eine Begriffsbestimmung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Grundrechte im österreichischen Verfassungsrecht, die aber auch für das italienische Verfassungsrecht gelten kann, verweisen wir auf R. Walter und H. Mayer, S. 391 ff. 224 Für einen Kommentar zu Artikel 2 verweisen wir auf A. Barbera, in G. Branca, Commentario della Costituzione, Bologna, Zanichelli, 1975. Im erwähnten Commentario della Costituzione nehmen A. S. Agra e U. Romagnoli zu Artikel 3 Stellung. 225 Der Gleichheitsgrundsatz ist auch in der österreichischen Verfassung im Staatsgrundgesetz von 21. 12. 1867, Art.2 enthalten. Wir verweisen auf R. Walter und H. Mayer, S. 399ff. 226 Für einen Kommentar zu Artikel 4 verweisen wir auf G. E. Mancini im mehrmals erwähnten Commentario von G. Branca, 1975. Was die Auslegung dieser Verfassungsartikel betrifft, herrscht nicht zu jedem Punkt Einhelligkeit. So taucht immer wieder die Frage auf, ob dem arbeitenden Menschen eine Vorzugsstellung einzuräumen ist. Zu dieser Problematik verweisen wir auf R. Scognamiglio, La rilevanza dellavoro nelle disposizioni fondamentali della Costituzione, in (versch. Autoren) Il lavoro nella giurisprudenza costituzionale, Milano, Angeli, 1978, S. 33ff.
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IV. Die italienische Wirtschaftsverfassung
Gerade das liberale Prinzip ist also Grundlage für einen wesentlichen Teil einer Wirtschaftsverfassung 228 • Denn es garantiert auch und insbesondere die Grundrechte einer freien Wirtschaft wie Vertrags- und Koalitions-, Gewerbefreiheit usw. 229, aber auch die freie Verfügung über den Einsatz der Produktionsmittel. Im Einklang mit dieser Ausrichtung wird die Freiheit der Privatinitiative in Art. 41 der Verfassung verankert 230 • Damit wird ihr als treibender Kraft im Wirtschaftsgeschehen, dessen dynamisches Prinzip sie verkörpert, prioritäre Bedeutung beigemessen. Die dezentralisierte ökonomische Initiative soll sich 227 Ein Prinzip wie dieses, das als "Inbegriff der Rechtsentscheidungen zu verstehen ist, die sich als wesenhafter Ausdruck eines weltanschaulichen oder politischen Gedankenkreises darstellen", wurde von A. Merkl als "Baugesetz" bezeichnet. Siehe A. M erkl, Die Baugesetze der österreichischen Bundesverfassung, in: H. Klecatsky (Hrsg.), Die Republik Österreich, Wien, Herder, 1968, S.77ff., zitiert von B. Gutknecht, Das liberale Baugesetz und die Wirtschaftsverfassung, in: Wirtschaft und Verfassung in Österreich, Festschrift F. Korinek, Wien, Herder, 1972, S. 77ff. Eine zusammenfassende Übersicht über das alt- und das neuliberale Konzept findet sich bei G. Gäfgen, Allgemeine Wirtschaftspolitik, S. 176ff. Auf das politische und ökonomische Selbstverständnis des Liberalismus geht J. B. Müller (Liberalismus, in A. Pelinka, Ideologien im Bezugsfeld von Geschichte und Gesellschaft, Innsbruck, Inn-Verlag, 1981, S. 173ff.) ein. Das liberale Grundprinzip kommt auch in der österreichischen Verfassung zum Tragen. Wir verweisen hier insbesondere aufS. Morscher, Das Abgabenrecht, in S. Morscher und C. Smekal, Kommunale Unternehmungen zwischen Eigenwirtschaftlichkeit und öffentlichem Auftrag, S.74ff., wo das liberale Bauprinzip im Rahmen des österreichischen Wirtschaftsverfassungsrechts untersucht wird. Siehe auch R. Walter und H. Mayer, S. 59. Wer eine systematische und kommentierte Zusammenstellung der Bestimmungen sucht, die das österreichische Verfassungsrecht ausmachen, sei verwiesen auf H. R. Klecatsky und S. Morscher, Das österreichische Bundesverfassungsrecht, Wien, Manz, 1982, 3. Aufl. 228 So schreibt S. Morscher, Das Abgabenrecht, S. 74: "Das liberale Bauprinzip bildet einen Kern des Wirtschaftsverfassungsrechts ... , reicht aber auch darüber hinaus; es wird ... konstituiert durch den Bestand und die Garantie von Grund- und Freiheitsrechten ... " Siehe hierzu auch T. Mayer-Maly, Privatautonomie und Wirtschaftsverfassung, in Festschrift F. Korinek, Wien, Herder, 1972, S. 151 ff.; siehe auch K. Marschall, Privatautonomie, Verbandsautonomie und Familienautonomie, Wien, Manz, 1972. 229 G. Gäfgen, Allgemeine Wirtschaftspolitik, S. 176. 230 Einen Kommentar von Art. 41 gibt F. Galgano in Commentario della Costituzione, in G. Branca, Bologna, Zanichelli, 1982. Damit wird impliziter auch der Unternehmenspluralismus und die Verhinderung privatwirtschaftlicher Monopole grundsätzlich in die Verfassungsordnung eingeführt. In diesem Sinne sieht F. Garella (Interpretazione degli indirizzi costituzionali ... , in M. D'Antonio, La Costituzione economica, S. 603ff.) das Unternehmen als einen "Träger des Pluralismus", der dazu beiträgt, das Wohlergehen der Gemeinschaft zu verwirklichen . . .". Ein wettbewerbssicherndes Gesetz wurde allerdings bisher nicht erlassen. Siehe hierzu auch S. Morscher, Das Abgabenrecht, S. 76, der auch auf die Unterschiede zwischen dem öffentlichen und dem privaten Monopol hinweist. Siehe auch K. Korinek, Die verfassungsrechtliche Garantie einer marktwirtschaftlichen Ordnung durch die österreichische Bundesverfassung, "Wirtschaftspolitische Blätter", 1976, Heft 5, S.90. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf T. Mq),er-Maly, Privatautonomie und Wirtschaftsverfassung, in Wirtschaft und Verfassung in Osterreich, Festschrift F. Korinek, S. 151 ff., der auf den Gegensatz zwischen der Privatautonomie die nicht mit der Vertragsfreiheit verwechselt werden darf - und der Wirtschaftsverfassung als Ausdruck überindividueller Wertvorstellungen eingeht.
2. Der Mensch und Bürger
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insbesondere in der Ausübung des privaten Eigentumsrechts äußern 231 , das laut Art. 42 "anerkannt und garantiert wird" 232 • Übernommen wird damit die Vorstellung, die im Vordergrund des liberal-bürgerlichen Denkens steht, wonach das Eigentumsrecht "heilig und unverletzlich" als Garantie der individuellen Autonomie gegenüber der staatlichen Macht ist 233 ; daß also das Eigentum der freien Entfaltung der Einzelpersönlichkeit in ihrem privaten Lebensr:aum zu dienen hat. Die freiheitssichernde Funktion der Grundrechte führt damit zum Verständnis der Eigentumsgarantie als wesentlicher Ergänzung der Freiheitsgarantie 234 • Bei der Bedeutung, die dem Privateigentum - als Bündel von Rechten, die von einem Individuum gegenüber anderen Individuen geltend gemacht werden können - im Hinblick auf ein ordnungspolitisches Konzept beigemessen werden muß, scheint es angebracht, kurz auf die ökonomische Rolle dieser Rechte hinzuweisen. Stellen sie doch eine sozio-ökonomische Antwort auf die Frage dar, wie die Interessenkonflikte, die sich aus der Vielfalt der Wirtschaftssubjekte angesichts der Existenz knapper Ressourcen ergeben, gelöst werden sollen 235 • Dabei läßt sich feststellen, daß ihnen in einer marktwirtschaftlichen 231 T. Pütz, Grundlagen der theoretischen Wirtschaftspolitik, S.33ff.; wie K. Ballerstedt, Wirtschaftsverfassungsrecht, in K. A. Bettermann u. a., die Grundrechte, Berlin, Duncker, 1958, S.78, feststellt, "ist das Einzeleigentum die rechtssystematisch wichtigste Grundlage des Unternehmensrechts". 232 Einen Kommentar zu diesem Artikel gibt S. Rodota in Commentario della Costituzione, in G. Branca, 1982, in dem insbesondere auf die eigentumsrechtliche Garantie verwiesen wird, die in diesem Artikel verankert ist. Die verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie ist auch im österreichischen Verfassungsrecht gegeben. Sie geht zurück auf Art. 5 des Staatsgrundgesetzes von 21.12.1867 und auf Art. 1,1 vom Zusatzprotokoll zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11. 1950. Wir verweisen aufH. Walter und H. Mayer, Grundriß des österreichischen Verfassungsrechts, Wien, Manz, 1985, S. 407ff.; sowie auf J. Aicher, Verfassungsrechtlicher Eigentumsschutz und Enteignung in: Verhandlungen des 9. Österr. Juristentages, Wien, Manz, 1985; sowie aufG. Schantl, Berufsfreiheit, Eigentumsfreiheit und Vertragsfreiheit als die wichtigsten Grundrechte der Wirtschaft, in: Wirtschaft und Verfassung in Österreich, Festschrift F. Korinek, S. 136 ff. Zitiert seien auch H. Klecatsky und S. Morscher, Das österreichische Bundesverfassungsrecht, S. 1179ff. 233 K. Marschall (Privatautonomie, Verbandsautonomie und Familienautonomie, S. 17 ff.) sieht das Privateigentum als "besondere verfassungsrechtliche Grundlage der Privatautonomie" . 234 J. Aicher, Verfassungsrechtlicher Eigentumsschutz und Enteignung, ÖJT, Wien, Manz, 1985, S. 10, weist darauf hin, daß die Eigentumsgarantie eine zweifache Funktion hat: einmal "schützt sie das Eigentum als ein in der Privatrechtsordnung ausgeformtes Institut; zum anderen schützt sie das Eigentum des einzelnen als subjektives Recht (Institutsgarantie und Rechtsstellungsgarantie)". Auf die Problematik, die sich aus der von der Verfassung vorgesehenen Sozialgebundenheit des Privateigentums ergibt, kommen wir in diesem Abschnitt noch zurück. 23S Zur Theorie der Eigentumsrechte siehe A. A. Alchian and W. R. Allen, Exchange and Production, Belmont, Wadsworth 1977 (2. Aufl.). Siehe auch L. De Alessi, Property Rights, Transaction Costs, and X-Efficiency, "American Economic Review", March 1983, S.64ff.
6 Fraenkel
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IV. Die italienische Wirtschaftsverfassung
Ordnung Funktionen der Einkommensverteilung, Wettbewerbsförderung, sowie der Allokation, Kontrolle und Koordinierung der vorhandenen Ressourcen entsprechen. Damit wird der Begriff in Richtung auf die Gesamtheit aller Handlungsnormen ausgedehnt, welche den Wirtschaftsablauf steuern, und kann fast gleichgesetzt werden mit dem Ordnungsrahmen einer Volkswirtschaft 236 . In diesem Sinne wird eine marktwirtschaftliche Ordnung, insofern als sie auf dem Privateigentum und damit auch auf dem Privatkapital beruht, auch als "kapitalistisch" bezeichnet. Im Geiste der liberalen Prinzipien wird von der italienischen Verfassung auch die "private Spartätigkeit" stimuliert und abgesichert (Art. 47)237. Im Sinne des Schutzes des Individuums ist auch Art. 23 zu sehen, wonach "Dienst- oder Sachleistungen nur durch Gesetz auferlegt werden können"238. Dieser Artikel ist im Zusammenhang mit Art. 53 zu sehen, wonach ,jedermann gehalten ist, nach Maßgabe seiner Steuerkraft zur Deckung der öffentlichen Ausgaben beizutragen", und wo ausdrücklich das System der progressiven Besteuerung verankert wird 239 .
3. Das Individuum in der Gemeinschaft Wenn nun die italienische "Costituente", die verfassunggebende Versammlung, die Grundzüge eines liberalen Ordnungsrahmens übernahm, so wandelte sie diesen dann auch wieder erheblich ab. Denn die Vorstellungen werden durch eine ausgeprägte soziale Komponente ergänzt, die im Begriff des "Sozialstaates" ihren Ausdruck findet, also in der Anerkennung vor allem sozialer Individualrechte und -ansprüche. Wobei die Überzeugung mitschwingt, daß eine freiheitliche Wirtschaftsverfassung ihre notwendige Ergänzung und Erfüllung gerade in der Festlegung sozialstaatlicher Grundsätze findet 240 • 236 G. Gäfgen, Entwicklung und Stand der Theorie der Property Rights, Schriften des Vereins für Socialpolitik, N. F., Band 14ü, 1984, S. 48fT. 237 Für einen Kommentar zu diesem Artikel verweisen wir aufF. Merusi, 11 risparmio, l'esercizio dei credito, in G. Branca, Commentario della costituzione, 1980. Derselbe Autor vertritt die Ansicht, daß Art. 47 ein Grundsatzartikel insofern ist, als er impliziter die Geldwertstabilität und dadurch die Kontrolle der Geldmenge vertritt. In diesem Sinne vom selben Autor auch der Artikel "Le istituzioni della stabilizzazione economica, in M. Cammelli, Le istituzioni nella recessione, Bologna, Mulino, 1984, S. 115 fT. Gegen diese These spricht sich G. C. Loraschi, (Credito e Risparmio: l'art. 47 della Costituzione, in M. D'Antonio, La Costituzione economica, S. 197) aus, der diesen Artikel eingehend kommentiert, wobei er insbesondere auf das Kreditwesen eingeht. Wir verweisen ferner auf die Kurzkommentare zum Artikel 47 von G. Palladino e G. Visentini in M. D 'Antonio, La costituzione economica, S. 243 und S. 253. 238 Für einen Kommentar zu diesem Artikel verweisen wir auf A. Fedele, in G. Branca, Commentario della Costituzione, 1978. 239 Wir verweisen auf G. Marongiu, Gli aspetti fiscali della Costituzione, in M. D'Antonio, La costituzione economica, S. 271fT. 240 Über das Spannungsverhältnis zwischen Sozial- und Rechtsstaat verweisen wir auf K. Ballerstedt, Wirtschaftsverfassungsrecht, in K. A. Bettermann u. a., Die Grundrechte,
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Dem arbeitenden und insbesondere dem selbständig arbeitenden Menschen wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt. So erklärt Art. 35, daß der Staat die Arbeit in allen ihren Formen und Anwendungen schützt 241 • Diese Aussage wird durch Art. 36 ergänzt, wonach "der Arbeiter auf eine der Art und Menge der von ihm geleisteten Arbeit entsprechende Entlohnung Anrecht hat" 242 , und durch Art. 37, der die Rechte der arbeitenden Frau umreißt 243 • Gerade der Interessenvertretung des arbeitenden Menschen - dem "sindacato" (= Gewerkschaft) - wird besondere Bedeutung geschenkt 244 • So verankert Art. 39 nicht nur den Grundsatz der freiwilligen Mitgliedschaft, sondern er stellt auch und insbesondere fest, daß "die Gewerkschaft bei den lokalen und zentralen Stellen registriert" werden soll sowie daß sie, wenn sie einmal registriert ist, "ihre Mitglieder offIZiell vertritt" und "Kollektivverträge mit verbindlichem Charakter für alle Branchenangehörigen" abschließen kann. In diesem Artikel finden also zwei unterschiedliche Auffassungen über das Wesen der Gewerkschaft ihren Niederschlag: auf der einen Seite die der Gewerkschaft als reiner Privatorganisation, die also - im Sinne liberaler Anschauungen - keine Bindung an den Staat kennt; auf der anderen Seite die der Gewerkschaft als öffentlich-rechtlicher Institution, und zwar aufgrund eines öffentlichen Auftrags, der sie dazu berechtigt, die Zwangswirksamkeit ihrer Entscheidungen auch für die nicht eingeschriebenen Mitglieder zu fordern 245 • S. 50ff., der dazu feststellt, das Fehlen allgemeiner Sozialordnungsbestimmungen ließe sich selbst als "verfassungslosen Zustand" bezeichnen. Er bezieht sich dabei auf das Grundgesetz der BRD.; die Überlegung ließe sich jedoch auf die italienische Verfassung ausdehnen. Er fügt allerdings hinzu, daß ein derartiger Zustand "von niemandem behauptet wird"; denn es würde bedeuten, daß die Wirtschaftsgemeinschaft ohne rechtliche Gesamtordnung hätte bleiben müssen. Soziale Grundrechte sind in der österreichischen Verfassung nicht verankert; wir verweisen auf R. Walter und H. M ayer, S.395. 241 Kommentar von T. Treu, M. Napoli, M. OffeMu, in Commentario della Costituzione, a cura di G. Branca, Bologna, Zanichelli, 1979. 242 Im selben "Commentario" ist ein Kommentar zu Art. 36 von T. Treu veröffentlicht, auf den wir verweisen. Auf diesen Artikel kamen wir in Abschnitt 11.2 b im Zusammenhang mit der die Tarifoberhoheit der Gewerkschaft betreffenden Problematik zu sprechen. 243 Im selben "Commentario" ist ein Kommentar zu Art. 37 von T. Treu veröffentlicht, auf den wir verweisen. An dieser Stelle sei ferner kurz erwähnt, daß dieser Verfassungsartikel die Grundlage fiir das Gesetz vom 9. 12. 1972 Nr.403 über die Gleichstellung von Mann und Frau abgibt. 244 G. Mazzoni, Il slndacato nel quadro della Costituzione, in (Verseh. Autoren) Studi per il ventesimo anniversario dell'Assemblea costituente, Milano, Vallecchi, 1969, S. 160; sowie G. Giugni in Commentario della Costituzione, a cura di G. Branca, Für weitere Schriften verweisen wir auf die Bibliographie im Abschnitt II.2b zum Thema "Gewerkschaften". 245 G. Mazzoni, S. 161. Zu dieser Problematik siehe auch P. De Carli, Costituzione e attivita economiche, Padova, Cedam, 1978. Hinsichtlich der Zwangswirksamkeit der gewerkschaftlichen Entscheidungen und damit der tariflichen Oberhoheit der Gewerkschaft verweisen wir auf unsere Ausführungen in Abschnitt 11. 2 b. 6*
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Ferner ist in diesem Zusammenhang zu vermerken, daß unter "gewerkschaftlicher Organisation" auch die Unternehmerorganisation gemeint ist 246 • Nach der faschistischen Ära, in der im Rahmen der damaligen Ständeordnung der Unternehmer als Unternehmensleiter eine sozusagen absolute Macht ausübte und folglich die Gewerkschaft trotz ihres öffentlich-rechtlichen Status praktisch wenig Bedeutung hatte 247, steht sie nun gleichberechtigt mit der Unternehmerschaft da. Mit Art. 39 schafft also die Verfassung über die parlamentarischen Institutionen hinaus zusätzliche wirtschaftspolitische Instanzen, die mit Entscheidungen über die primäre Einkommensverteilung und über den Anteil der Tarifpartner am Sozialprodukt betraut sind. Ganz im Sinne der Selbständigkeit der Gewerkschaft wurde von Art. 40 das Recht zum Streik zugesichert 248 , aber es wurde hinzugefügt, daß dafür eine gesetzliche Regelung festzusetzen ist. Die Spielregeln für die Arbeitskampfordnung sollte also später bestimmt werden, damit der Kampf nicht ausartet, sondern korrekt geführt wird 249 • In diesem Zusammenhang ist auch darauf zu verweisen, daß die Verfassung zwar die Streikfreiheit verankert, aber den Unternehmern das Recht auf Aussperrung nicht zuerkennt. Hier wurde also - bewußt - vorn Prinzip der Symmetrie abgegangen 250 • Die Grundsätze der Würde des Menschen und der Gleichheit der Bürger, die in den Artikeln 3 und 4 verankert sind, finden ihre Bestätigung mit Bezug auf den arbeitenden Menschen auch in Art. 46, der besagt, daß dem Arbeiter das Recht zur Mitarbeit an der Firmenleitung im "Rahmen der Gesetze" zusteht 251 • 246 In diesem Sinne G. Giugni in seinem Kommentar zu Art. 3-9 der Verfassung, in G. Branca, Commentario aHa Costituzione, Bologna, ZanicheHi, 1979, S. 280ff. 247 U. Romagnoli, la Costituzione economica, in F. Galgano (a cura di), Trattato ... , S.250. 248 Dieser Artikel findet einen Kommentar bei U. Romagnoli, in G. Branca, Commentario deHa Costituzione; siehe auch F. Carinci, R. De Luca Tamajo, P. Tosi, T. Treu, Diritto dellavoro, 1, Torino, Utet, 1985, S. 290ff. 249 Es ist zu vermerken, daß diese Regelung bisher nicht erfolgte. Es gibt hingegen eine Vielzahl von Urteilen der Judikatur und des Verfassungsgerichts. Siehe hierzu G. Maranini, Storia dei potere in Italia 1948-1967, Firenze, VaHecchi, 1967, S.385. Ebenso verweisen wir auf R. Scognamiglio (Illavoro neHa costituzione, in M. D'Antonio, La costituzione economica, S.38ff.), der darauf verweist, daß der Gedanke der Selbstregulierung des Streikrechts bei der Gewerkschaft auf Grenzen stößt. Hierzu siehe auch F. Carinci u. a., S. 25ff. und 66ff. 250 U. Runggaldier, KoHektivvertragliche Mitbestimmung bei Arbeitsorganisation und Rationalisierung, Frankfurt alM., Metzner, 1983, S.152ff.; sowie F. Carinci u. a., S.372ff. 251 Ein Kommentar zu Art. 46 wird von G. Ghezzi (La partecipazione dei lavoratori aHa gestione deHe aziende) in G. Branca, Commentario deHa Costituzione, 1980, gegeben, Wie R. Scognamiglio, Illavoro neHa Costituzione, S. 39-40, feststeHt, wurde in der Praxis diesem Verfassungsartikel bisher nicht entsprochen. Er könnte jedoch nach Ansicht von Scognamiglio dann Bedeutung bekommen, wenn die 5. Direktive der EG über die
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Durch die Überwindung der Vorstellung einer ausschließlichen Herrschaftsbefugnis des Kapitaleigners im Unternehmen wird die hierarchische Betriebsordnung der faschistischen Ära, wonach das Unternehmen den uneingeschränkten Leistungs- und Disziplinbefugnissen des Firmenchefs unterworfen war, nun durch eine demokratische Betriebsordnung ersetzt 252 . Womit eine erhebliche Bresche sowohl in das Prinzip des absoluten Privateigentums wie auch in das damit verbundene Prinzip der freien Unternehmerinitiative geschlagen wird. Die soziale Sicherheit ist in den Artikeln 32 und 38 verankert. Art. 32 stellt fest, daß der Staat die Gesundheit "als individuelles Grundrecht im Interesse der Gemeinschaft" schützt 253 . Art. 38 legt das Recht auf öffentliche Unterstützung und Fürsorge im Falle von Krankheit, Unfall, Invalidität, Alter und ungewollter Arbeitslosigkeit fest 254 . Diese Artikel waren die Grundlage für viele sozialpolitische Maßnahmen, die anschließend vom italienischen Parlament ergriffen wurden und auf die im Abschnitt über die italienische Sozialpolitik eingegangen werden soll. Die sozialpolitische Komponente ist jedoch auch in einem anderen Lichte zu sehen. So geht es nicht mehr darum, daß sich der Staat nur um Gesetze und Ordnung kümmert und den Bürger sonst "in Ruhe läßt"255. Bereits zur Zeit des Rechtsordnung der Kapitalgesellschaften erlassen werden sollte, die die Mitbestimmung vorsieht. Er verweist auch auf Gesetzesvorschläge in Italien, die jedoch bisher keine Bedeutung bekamen. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf A. Ardigo, La partecipazione sociale e la trasformazione dello Stato, "La ricerca sociale", estateautunno 1977, wonach das "Klima der Beteiligung an den Firmenentscheidungen die Teilnahme der Bevölkerung an den staatlichen Entscheidungen wiederspiegeln soll". Zu verweisen ist auch auf G. Ghezzi, La partecipazione dei lavoratori alla gestione delle imprese, "Rivista giuridica dellavoro" 1978, S. 3 ff., der auf die Frage eingeht, ob das von den Tarifverträgen vorgesehene Informationsrecht zugunsten der Gewerkschaften den Mitbestimmungsgrundsatz von Art. 46 zumindest teilweise zur Verwirklichung bringt. 252 G. Mazzoni, S. 161. 253 Für einen Kommentar zu Art. 32 der Verfassung verweisen wir auf L. Montuschi e D. Vincenzi Amato, in G. Branca, Commentario della Costituzione, 1976; sowie auf M. Pasquini, La sicurezza sociale ... , in (Versch. Autoren) Studi per il 20° anniv., III, S.204. . 254 Für einen Kommentar zu Artikel 38 der Verfassung verweisen wir auf F. Orlandi, La previdenza nella sicurezza sociale. in M. D'Antonio, La costituzione economica, S. 43 ff., der auf die diesem Artikel innewohnende Verpflichtung zur öffentlichen Leistung hinweist. Unter Berufung auf diesen Artikel wurde 1978 der Nationale Gesundheitsdienst mit Gesetz vom 23.12. 1978 Nr.833 eingeführt. Für weitere Kommentare zu diesem Artikel lassen sich anführen: G. Roberti, Legislazione sociale, Teoria generale, Padova, Cedam, 1978; M. Paci, Prospettive istituzionali di riforma dei sistema italiano di "Welfare", in M. D'Antonio, La costituzione economica, S. 511 (mit zusätzlichen bibliographischen Angaben). Auf den Aspekt der Umverteilung, der dem im Artikel 38 festgelegten Prinzip innewohnt, wies bereits G. Strickrodt (die Idee der Wirtschaftsverfassung als Gestaltungs- und Interpretationsprinzip, "Juristenzeitung", 12. Jahrgang, 20. 6. 1957, S. 362) hin, dessen Ausführungen nichts von ihrer Aktualität verloren haben. 255 T. Stammen, Regierungssysteme der Gegenwart, S. 27, zitiert in diesem Zusammenhang das von Lassalle geprägte Schlagwort des "Nachtwächterstaates" .
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IV. Die italienische Wirtschaftsverfassung
aufkommenden Liberalismus war man sich bewußt, daß die schrankenlose Ausübung der persönlichen Grundrechte den Entscheidungsspielraum der Mitmenschen einengt und dadurch den Entfaltungsspielraum der Gemeinschaft begrenzt. Nun sollen dieselben Rechte auch die Rolle einer aktiven Kraft in der Entfaltung und Gestaltung der Gemeinschaft übernehmen. Gerade die Möglichkeit der Schaffung individueller Machtstellungen soll künftig unterbunden und dadurch eine gerechtere Güterverteilung gewährleistet werden 256. Die Verfassung strebt also auch die Schaffung eines normativen Rahmens an, der ein optimales Gleichgewicht zwischen Grundrechten und -pflichten des Individuums, aber auch zwischen denen des Menschen und Bürgers und der Gemeinschaft als Gesamtheit der Menschen und Bürger gewährleistet. Entsprechend werden die individuellen Grundrechte von der italienischen Verfassung zwar anerkannt, aber in ihrem Umfang unter Berufung auf ihre "soziale Funktion" eingeschränkt. Es wird ihnen also die Aufgabe übertragen, gezielt die Gemeinschaftsbeziehungen mitzugestalten, wodurch sie einen weitgefaßten, über den ihnen traditionell zugesprochenen Sinn hinausweisenden Inhalt bekommen. Werden sie doch nun vom individuellen auf den Kollektivbereich umfunktioniert 257 • Es kommen damit Vorstellungen zum Zuge, in denen das Einzelinteresse hinter dem Gemeinschaftsinteresse zurücktritt. Dieser gesellschaftspolitische Grundsatz ist in Art. 1 der Verfassung in der Aussage zusammengefaßt, daß "Italien eine demokratische, auf der Arbeit begründete Republik" ist 258 • In dieser Aussage schwingt die Vorstellung einer sozialen Verantwortung "aller für alle" mit, einer "neuen Einheit" ("nuova unitä ")259, die die materielle und geistige Entwicklung der Gemeinschaft von Art. 4,2 zum Ziele hat 260 • C. Mortati, S. 10. Auf die Begriffe "sozialer Nutzen" und "soziale Zielsetzung" geht insbesondere P. De Carli ein (Costituzione e attivitä economiche, Padova, Cedam, 1978); M. D'Alberti (Considerazioni intorno all' art. 41 della Costituzione, in M. D'Amtonio, S. 142ff.) weist darauf hin, daß der "soziale Nutzen" vom Verfassungsgericht mit "Allgemeininteresse" gleichgesetzt wurde, und zitiert hierzu eine Reihe von Verfassungsgerichtsurteilen. V. Ottaviano, Il governo dell'economia ... , in F. Galgano, Trattato ... , S.206, stellt bedauernd die "Unbestimmtheit" des Begriffs vom "sozialen Nutzen" fest. Was insbesondere die Problematik der öffentlichen Kontrolle betrifft, verweisen wir aufC. M. M azzoni, I controlli sulle attivitä economiche, in F. Galgano, Trattato ... , S. 307 ff. 25B Für einen Kommentar zu Artikel 1 verweisen wir auf C. Mortati. 259 Die italienische Verfassung hat also mit dieser Formulierung den Begriff der "sozialen Republik" nicht übernommen, der im Grundgesetz der Bundesrepublik und in der französischen Verfassung von 1958, Art. 2 Eingang gefunden hat und der im Anspruch des Einzelindividuums aufgrund des Prinzips der Gleichheit der Bürger auf Teilnahme am allgemeinen Wohlstand seinen Ausdruck findet. Die italienische Verfassung will dem Begriff auch einen ethischen Inhalt geben. Sie hat ihn denn auch an den Anfang gestellt, während beispielweise das Grundgesetz der BRD seine Aussage im Art. 20 nach den Grundrechten setzt. Siehe C. Mortati, S. 11. 260 C. Mortati, S. 12. 256
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3. Das Individuum in der Gemeinschaft
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Es läßt sich also feststellen, daß die Aussagen der ersten Verfassungsartikel eine Gegenüberstellung, nicht einen Gegensatz von zwei Bereichen herausformen: dem des Einzelmenschen und dem der Gemeinschaft. Die Synthese zwischen den beiden Sphären - also der harmonische Interessenausgleich soll eben die "Arbeit" im Sinn, den die Verfassung diesem Begriff beimißt, schaffen: nämlich Arbeit als Voraussetzung für die Entfaltung des Menschen und Arbeit als Voraussetzung für die wirtschaftliche und geistige Entwicklung der Gemeinschaft. Damit erhält der Begriff "Arbeit" eine Bedeutung, die weit über die hinausgeht, die man ihm normalerweise beimißt 261 • Denn er wird zu einem oder selbst zu dem AngelpunkCder Staatsordnung 262 • Die Eigentumsordnung, wie sie in der Verfassung festgelegt ist, führt allerdings kein unbeschränktes Eigentum ein. Sie sieht den Grundsatz der Sozialgebundenheit vor, der die Tragweite der Eigentumsgarantie einschränkt. Dies soll in einem Maße erfolgen, das ein harmonisches Verhältnis zur Gemeinschaft und ihren Rechten anstrebt 263 • Der Spielraum der wirtschaftspolitischen Dispositionsfreiheit des einzelnen ist also eingeschränkt. Der privaten Willkür werden Grenzen gesetzt; und zwar dann, wenn sich die Privatinitiative in Widerspruch zum "sozialen Nutzen" stellt oder sofern sie der "menschlichen Sicherheit, Freiheit oder Würde Abbruch 261 G. Maranini, S. 382, weist darauf hin, daß es ;,unmenschlich" wäre, auf die Arbeit das wirtschaftliche Gesetz in seiner unerbittlichen Automatik von Angebot und Nachfrage anzuwenden; womit er der Arbeit eine Sonderstellung einräumt. Der Begriff "Arbeit" ist allerdings im Laufe der Jahre nicht immer als eindeutig empfunden worden: zu den verschiedenen Auslegungen verweisen wir auf R. Scognamiglio, La rilevanza dellavoro nelle disposizioni fondamentali della Costituzione, in (Versch. Autoren) 11 lavoro nella giurisprudenza costituzionale, Milano, Angeli, 1978, S. 19ff. 262 Wie C. Mortati, S. 12, ausführt, hatte man daran gedacht, den ersten Artikel in dem Sinne zu formulieren, daß man von einer "Republik der Arbeiter" sprach. Man ging allerdings von dieser Formulierung ab, weil sie sich dahingehend auslegen ließ, man verstehe darunter die "Arbeiterklasse" unter Ausschluß der restlichen Bevölkerung (S. 13, mit einschlägigen bibliographischen Angaben). Zu diesem Fragenkomplex siehe auch K. von Beyme, das politische System Italiens, S. 30, der darauf hinweist, daß die anderen Parteien den "Klassencharakter der Staatsformbezeichnung weniger stark betont wissen wollten, weshalb man sich auf die "Umschreibung geeinigt habe, die auf eine Konvergenz aller produktiven Kräfte des Landes hindeutet"; siehe hierzu auch V. Carullo, La costituzione della repubblica italiana, Milano, Giuffn:, 2. Aufl., 1959, S. 16. 263 Ein ausführlicher Kommentar bei P. De Carli. Dasselbe Konzept ist auch in der österreichischen Verfassung enthalten. Siehe beispielweise S. Morscher (Das Abgabenrecht, S. 74), wenn er schreibt: "So wird sowohl eine völlige "Enthaltsamkeit" des Staates unter Ablehnung jeglicher Verantwortung für das wirtschaftliche Geschehen als auch deren totale Übernahme mit einer Identifikation von Staat und Gesellschaft von Verfassungs wegen als unzulässig angesehen. Für diese Auffassung sind insbesondere die Grundrechte im allgemeinen, jene des Wirtschaftslebens im besonderen und hier vornehmlich wieder die Grundrechte auf Eigentumsschutz ... maßgeblich". Siehe auch R. Walter und H. Mayer, S. 410, sowie L. Fröhler und P. Oberndorfer, Österr. Raumordnungsrecht, Linz, Tranner, 1975, S. 20.
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IV. Die italienische Wirtschaftsverfassung
leistet" (Art. 41). Ferner wird im letztgenannten Artikel bestimmt, daß "das Gesetz die Programme und Kontrollen vorsieht, die die private und staatliche Wirtschaftstätigkeit auf den sozialen Nutzen ausrichten und koordinieren sollen"264. Gerade mit Bezug auf das Privateigentum wird die Möglichkeit einer Enteignung vorgesehen, und zwar "aus Gründen des Gemeinwohls, im Interesse von Firmen oder Firmenkategorien, die wesentliche öffentliche Dienste leisten oder über Energiequellen oder Monopolsituationen verfügen bzw. vordringlich dem Generalinteresse dienen" (Art. 43)265. Zusätzlich sieht Art. 44 die Möglichkeit vor, daß der Gesetzgeber Auflagen auf das private landwirtschaftliche Eigentum verhängt 266 . Nicht zuletzt wird ausdrücklich die "soziale Funktion" des Genossenschaftswesens als typischer Ausdruck zwischenmenschlicher Solidarität in Art. 45 hervorgehoben 267 . Diese Gegenüberstellung von Einzelmensch und Gemeinschaft weist jedoch noch einen anderen Aspekt auf. Kommt doch neben der bürgerlich-liberalen Vorstellung einer Wirtschaftsordnung, die den Markt als "lenkende Hand" und oberste Instanz sieht, die Vorstellung von einem Staat als ausgleichender Instanz der Individualinteressen zum Zuge. Die Gemeinschaft wird aufgrund ihrer 2M F. Galgano (Pubblico e privato, in F. Galgano, Trattato ... , S. 135) stellt hierzu fest, daß die Zugehörigkeit des Subjektes zur öffentlichen Sphäre nicht unbedingt eine Vergesellschaftung der Ergebnisse seines Handeins gewährleistet. Diese ergäbe sich nur dann, wenn man aufgrund von parlamentarisch abgestimmten und durchgeführten Programmen und Kontrollen vorginge. 265 Einen Kommentar zu Artikel 43 gibt F. Galgano in: G. Branca, Commentario della Costituzione. Wie F. Galgano, Pubblico e privato ... , in F. Galgano, Trattato ...• S. 122 feststellt, kann es sich bei der Enteignung nur um ein außerordentliches Vorgehen des Staates handeln, das den Grundsatz der Gleichheit von privater und öffentlicher Initiative von Art. 41 nicht in Frage stellen darf. In demselben Sinne auch A. Di Majo (L'avocazione delle attivitä economiche ... , in F. Galgano, Trattato ... , S. 333 ff.) in seinem Kommentar zu Art. 43, in dem er auch auf Art. 41 und auf die Problematik von privater und öffentlicher Initiative eingeht. Es ist in diesem Zusammenhang auch anzumerken, daß die mangelhafte Entschädigung bei der Enteignung - wie sie beispielsweise in Italien praktiziert wurde - eine nicht unwesentliche Schwachstelle in der L Eigentumsordnung darstellt. 266 Einen Kommentar zu Artikel 44 gibt S. Rodota, in G. Branca, Commentario della Costituzione, 1982; wir verweisen auch auf C. Desideri, Costituzione economica e agricoitura, in M. D'Antonio, La Costituzione economica, S. 161 ff. sowie auf C. A. Graziani, Sull'attualitä dell'art.44 della Costituzione, ebenfalls in M. D'Antonio, La Costituzione economica, S.169ff. 267 Für einen Kommentar zu Artikel 45 verweisen wir auf A. Nigro, in G. Branca, Commentario della costituzione, 1980; wie auch auf A. Mignoli e P. Marchetti, Costituzione economica e cooperazione, in M. D'Antonio, La Costituzione economica, S. 179ff. Der Grundsatz, der in diesem Artikel zum Ausdruck kommt, ist der katholischen Soziallehre entnommen, die - wie R. Ca//erata, (Pubblico e privato nel sistema delle imprese, Milano, AngeH, 1983, S. 118ff.) feststellt - "dem Gedanken der Kooperation näher steht als dem der demokratischen Untemehmensführung" (S.131).
4. Die Gemeinschaft
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demokratischen Legitimation befugt, diese Gleichheit der Bürger selbst gegen die Wirtschaftsordnung durchzusetzen. Die Freiheit (des Marktes) stellt sich also in ein dialektisches Verhältnis zur Gleichheit (der politischen Wähler)268.
4. Die Gemeinschaft Die Gemeinschaft wird unter zwei Gesichtspunkten gesehen. Zum einen ist sie die Gesamtheit der Bürger, denen ein gemeinsames Ziel vorgegeben wird, nämlich das der Entfaltung des Gemeinwesens; wobei dieses Ziel durch die Mitwirkung jedes einzelnen erreicht wird. (Art. 4, 2). In einer zweiten Sicht wird die Gemeinschaft als eine Einheit - dem Staat - mit eigenen Rechten betrachtet, die teilweise parallel zu und teilweise über denen des Einzelmenschen liegen. So wird von Art. 42 neben dem privaten auch das öffentlichen Eigentum und neben der privaten auch die öffentliche Initiative anerkannt 269 • Damit wird die Möglichkeit zur Überführung der Produktionsmittel in Gemeineigentum eingeführt. Die Tür zur Nationalisierung der Produktionsmittel ist offen 270 • Über die Formen dieser Sozialisierung sagt allerdings die Verfassung nichts aus. Aber auch der Begriff des "sozialen Nutzens" (Art. 41, 42 usw.), der bereits wiederholt erwähnt wurde, ermächtigt den Staat zum Eingreifen in die Wirtschaftsbeziehungen im Hinblick auf die soziale Gerechtigkeit. So erklärt Art. 41, 3: "Das Gesetz bestimmt die Programme und die zweckmäßigen Kontrollen, damit die öffentliche und private Wirtschaftstätigkeit auf gesellschaftspolitische Ziele hin gesteuert und koordiniert werden kann. "271 Man hat es also hier mit einem Koordinationsprinzip zu tun, das typisch für ein dirigistisches Wirtschaftssystem ist, in dem es also der Staatsverwaltung obliegt, das Wirtschaftsgeschehen in seinen Grundzügen von einer zentralen Planstelle aus zu bestimmen und zu steuern. Hinter diesen Auffassungen der Wirtschaftsgemeinschaft, sei es als Einheit der arbeitenden Menschen wie auch als Staat mit wirtschaftlichen Lenkungsrechten, stehen Wertvorstellungen, die wir vereinfachend als "sozialistisch" bezeichnen, da sie den Vorstellungen eines freiheitlichen und demokratischen Sozialismus entsprechen 272. G. Ruffolo, La qualita sociale, Bari, Laterza, 1985, S. 30 und 70ff. Wie F. Galgano (Indroduzione, in F. Galgano, Trattato di diritto commerciale, S. 121 ff.) feststellt, steht das staatliche Eigentum auf derselben Ebene wie das Privateigentum; entsprechend habe der Staat dieselben Verhaltensregeln wie das Privatunternehmen zu beachten. 270 Wir verweisen auf F. Roversi Monaco, L'impresa pubblica nel quadro delle riforrne istituzionali, in M. D'Antonio, La costituzione economica, S. 147ff. 271 Wir verweisen auf FN 257 in diesem Abschnitt. 272 Zu verweisen ist auf die wirtschaftspolitischen Vorstellungen von sozialdemokratisch geführten Regierungen in einigen westeuropäischen Ländern, wie sie von F. W. Scharpf (Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa, Frankfurt, Campus, 1987) 268
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IV. Die italienische Wirtschaftsverfassung
5. Die "offene" Ordnung Die italienische verfassunggebende Versammlung hat also einen mehrfachen Auftrag erteilt, nämlich die Verwirklichung einer bürgerlich-liberalen, aber sozialverpflichteten Wirtschaftsordnung. Auf der einen Seite erkennt sie eine marktorientierte Komponente an, auf der anderen führt sie zentralwirtschaftliche Elemente ein. Das Privateigentum wird ausdrücklich geschützt; aber auch das Staatseigentum wird anerkannt 273 • Neben dem Individuum steht ebenbürtig das Gemeinwesen als Gemeinschaft freier verantwortlicher und gleichgestellter Menschen, deren Beziehungen durch eine Wirtschafts-, aber auch durch eine Sozialordnung geregelt werden. Dieser Dualismus - der auch als ordnungspolitische Neutralität bezeichnet werden kann - gewährt der Regierung einen breiten Spielraum zur Gestaltung der Wirtschaftspolitik. So läßt sie zwei Konzepte zu. Ein erstes läßt sich als "liberal-bürgerlich" bezeichnen 274. Es geht von der Überzeugung aus, daß es eine natürliche Ordnung in der Gütererzeugung und -verteilung gibt, die den Wirtschaftsbeziehungen immanent ist. Dieser Gedanke läßt sich im Begriff der Selbstregulierung des Wirtschaftsgeschehens über den Markt zusammenfassen, der über den Preis und den Wettbewerb die Funktion des obersten Koordinators aller Einzelwirtschaftspläne übernimmt. Wobei der Markt seinerseits das Ergebnis der einzelwirtschaftlichen Entscheidungen ist. Wir haben es also mit einem Konzept zu tun, das auf der Handlungsfreiheit des einzelnen beruht 27s • Voraussetzung hierfür ist die Verfügungsrnacht über die dargelegt werden; so wie insbesondere auf T. Stammen u. a., Programme der politischen Parteien in der Bundesrepublik, München, Beck, 1975, S. 51 ff.; sowie H. Ostleitner, Zu den Grundlagen der wirtschaftspolitischen Konzeption der Sozialistischen Partei Österreichs, in H. Abele, u. a., Handbuch der österreichischen Wirtschaftspolitik, 2. Auflage, Wien, Manz, 1983, S. 133ff. 273 Auf diese Zwei-Deutigkeit der Verfassung weist F. Garella (Interpretazione degli indirizzi costituzionali ... , in M. D'Antonio, La Costituzione economica, S.605) hin, wenn er schreibt, daß "nur die Möglichkeit, aber nicht die Gewähr dafür besteht, daß die Wirtschaftsentwicklung in Italien sowohl auf einer privaten als auch auf einer öffentlichen Komponente beruht". Anderer Meinung ist G. E. M ancini (in seinem Kommentar zu Art. 4 der Verfassung in G. Branca, Commentario alla Costituzione,S. 216, 1975), der die These vertritt, die Verfassung lege das Gewicht auf eine neo kapitalistische Ausrichtung. Hierzu siehe auch U. Romagnoli, I1 sistema economico nella Costituzione, in F. Galgano, Trattato ... , S. 139ff. 274 Es handelt sich dabei um das Konzept, das von der klassischen Volkswirtschaftslehre entwickelt wurde und das als bekannt vorausgesetzt werden kann. Ohne auf die äußerst reiche Bibliographie einzugehen, beschränken wir uns darauf, auf die Ausführungen von H. Gram and V. Walsh (Classical and Neoc1assical Theory of General Equilibrium, Oxford U. P., 1980) einzugehen, die die klassische der neo klassischen Theorie in einer systematischen Übersicht gegenüberstellen. Beide Ansätze lassen sich im Konzept der italienischen Wirtschaftspolitik wiederfinden, das bis in die 60er Jahre gültig war und von dem wir jene Aspekte anführen, die für die nachfolgenden Ausführungen als wesentlich zu betrachten sind.
5. Die "offene Ordnung"
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Produktionsmittel. Entscheidend ist das freie Privateigentum, das Kapital, das die Eigentumsverhältnisse bestimmt. Dieses Konzept wird denn auch vereinfachend als "marktwirtschaftlich", "wettbewerbswirtschaftlich" oder auch als "kapi talistisch" bezeichnet. Die Entscheidungsfreiheit der Einzelwirtschaften ist jedoch nicht nur die Bedingung einer optimalen Koordination, sondern hat auch "Eigenwert" als Mechanismus für einzelwirtschaftliche Selbstregulierung und Selbststeuerung. Das darin eingeschlossene Prinzip des Wettbewerbs als der "unsichtbaren Hand" im Wirtschaftsablauf wird durch das Prinzip der Legitimität der Privatinitiative als treibender Kraft im Wirtschaftsablauf ergänzt. Der Privatinitiative wird demnach eine Autonomie zuerkannt, die die Einzelwirtschaften in ihrem Handeln auf eine Gewinnmaximierung steuert. In dieser Sicht wird der Markt also zum Ausdruck eines dynamischen Moments, da er die größtmögliche Entfaltung aller Wirtschaftskräfte zuläßt. Das Wirtschaftswachstum ist das Ergebnis dieser Wirtschaftsordnung 276 • Wird jedoch das Selbststeuerungsprinzip der Einzelwirtschaften anerkannt, wird gleichzeitig ein weiterer Mechanismus als legitim betrachtet, und zwar der, wonach dieser Selbststeuerungsprozeß über die koordinierende Funktion der (relativen) Preise zur Abstimmung und dadurch zum Wirtschaftsgleichgewicht in allen Komponenten führt, also zwischen Produktion und Verbrauch, zwischen Binnen- und Außenwirtschaft, zwischen Kapital- und Arbeitseinkommen USW. 277 . Das Bestehen eines allgemeinen Wirtschaftsgleichgewichts läßt sich aus einer Währung mit stabiler Kaufkraft ersehen. Denn ohne eine stabile Währung als Wertmaßstab können die Einzelwirtschaften nicht rational vorgehen. Die Wirtschaft gerät aus den Fugen. Entsprechend wird die Geldwertstabilität zur wichtigen Voraussetzung für eine rationale Ausnützung aller Ressourcen. Sie ist wesentliches Ziel der Wirtschaftspolitik. Hinter dieser Zielvorstellung steht allerdings auch die Überlegung, daß die Geldpolitik über gesellschaftspolitische Beeinflussungsmöglichkeiten in dem Sinne verfügt, daß sie durch ihre stabilisierende Wirkung auf die Wirtschaft auch eine Stabilisierung im Gesellschaftsgefüge herbeiführt und dadurch dessen spannungsfreie Entwicklung und dessen Fortschritt ermöglicht278 • Die Geldpolitik wird damit zu einem vorrangigen Instrument der Wirtschaftspolitik. 275 G. v. Eynem, Grundriß der politischen Wirtschaftslehre, Köln, Westdeutscher . Verlag, 1968, S. 60ff. 276 Aus der Warte von H. Gram and V. Walsh (siehe FN 274) haben wir es hier mit einer klassischen Sicht des Wirtschaftssystems zu tun. 277 Aus der Warte von H. Gram and V. Walsh (siehe FN 274) haben wir es mit einer neoklassischen Sicht des Wirtschaftssystems zu tun. 278 K. Socher geht auf die Problematik der geldpolitischen Einflüsse auf die Gesellschaftsordnung in seiner Schrift "Geld politik und Gesellschaftsordnung" (in A. Klose und
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IV. Die italienische Wirtschaftsverfassung
Das zweite Konzept, das von uns vereinfachend als "sozialistisch" bezeichnet wird 279, geht von der Überlegung aus, daß der Markt nicht autonom und angemessen den Konsum stimulieren, Angebot und Nachfrage von Sparkapital wie auch von Arbeit nicht in Einklang bringen kann, daß er also den Wirtschaftsprozeß nicht optimal lenkt. Vor allem wird dem Markt vorgeworfen, er sei unsozial oder, besser gesagt, asozial, weil er die soziale Gerechtigkeit nicht oder nur ungenügend gewährleistet. Demnach fällt dem Staat die Aufgabe einer fortschreitenden Erfüllung sozialer Postulate ZU280. SO ergeben sich ordnungspolitische Zielvorstellungen, die den Wirtschaftsprozeß mit der Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit und Gleichheit verbinden sollen. Wesentliche Ziele dieses neuen ordnungspolitischen Konzepts sind demnach: der Einkommensausgleich und parallel dazu die Vollbeschäftigung der Arbeitskräfte im Zuge einer sozialgerechten Verteilung des Sozialprodukts zwischen Nord und Süd, zwischen Stadt und Land, und der Schaffung neuer Arbeitsplätze durch eine wohldurchdachte Investitionslenkung 281 ; - der Vermögensausgleich durch die Nationalisierung der Privatunternehmen und den Ausbau der vom Staat kontrollierten Unternehmen, insbesondere der Staatsbeteiligungsunternehmen282 ; - der Ausbau eines ausgedehnten Sozialsystems vor allem zugunsten der schwächeren Einkommensschichten und insbesondere der arbeitenden Bevölkerung auch durch eine Einkommensumverteilung; damit im Zusammenhang auch eine Ausweitung der Dienste zur Befriedigung der Gemeinschaftsbedürfnisse wie Schule, Gesundheitswesen, Verkehrswesen, Straßennetz, USW. 283
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G. Merk, Marktwirtschaft und Gesellschaftsordnung, Berlin, Duncker, 1983) ein, wobei der Autor vor allem die gesellschaftpolitischen Auswirkungen der Inflation untersucht. 279 Wir verweisen auf FN 272. 280 F. Di Fenizio, S. 31. 281 Ein Niederschlag dieser Diskussion findet sich auch im Bericht der Banca d'Italia für das Jahr 1962, S. 500. Siehe auch G. Gäfgen, Allgemeine Wirtschaftspolitik, (S. 195): ". .. Im engeren Sinne befaßt sich die Verteilungspolitik mit der Verteilung des Volkseinkommens (Einkommenspolitik) und des Volksvermögens (Vermögenspolitik) auf die wirtschaftlich aktive Bevölkerung. Die Verteilung zwischen dieser und den aus dem Erwerbsleben vorübergehend oder dauernd Ausgeschiedenen wird zunehmend auch zum Gegenstand der Verteilungspolitik, jedoch dominiert hier der Gesichtspunkt der sozialen Sicherheit. Viele Maßnahmen der Verteilungspolitik sind der Sozialpolitik zuzurechnen." 282 Die Nationalisierung der Produktionsmittel war von Anfang an ein Postulat der sozialistischen europäischen Parteien, ob sie nun "revolutionär" oder "reformistisch" waren. Siehe hierzu B. Amoroso e O. Olsen, S. 12, die eine kurze historische Übersicht zu diesem Thema vermitteln und anschließend auf Struktur und Typologie des öffentlichen Unternehmens in Europa eingehen. Das Thema ist Gegenstand zahlreicher Schriften, die es aus theoretischer und / oder praktischer Sicht be- und durchleuchten. Wir verweisen auf das bereits mehrmals zitierte Werk von B. Amoroso e O. Olsen. 283 U. La Malfa, S. 83ff.
5. Die "offene Ordnung"
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Parallel hierzu soll die Geldpolitik nicht mehr nur eine das Gleichgewicht wahrende Rolle spielen, sondern ihr wird auch eine aktive Rolle im Hinblick auf die Erreichung der ordnungspolitischen Ziele zugewiesen. Damit bekommt die Geldpolitik einerseits einen dynamischen Aspekt, andererseits einen Instrumentalcharakter mit Bezug auf jene Politiken, die ihrerseits die ordnungspolitischen Ziele vorrangig realisieren sollen.
Für die Verwirklichung dieser neuen ordnungspolitischen Ziele - bei denen das ökonomische Wachstum nun neben und möglicherweise selbst hinter den sozialpolitischen Zielen rangieren kann - will man zu einer Reformpolitik übergehen. Sie soll die Fluktuationen im unternehmerischen Handeln "durch eine planende Bürokratie zu überwinden trachten, sowie staatliche Mittel zur Durchsetzung reformierter marktwirtschaftlicher Handlungszusammenhänge gebrauchen" 284. Mit anderen Worten: eine aktive Wirtschaftssteuerung soll an die Stelle der bis dahin geführten Politik reaktiver Anpassung treten und zur Überwindung der geographischen, branchenmäßigen und sozialen Unterschiede in der italienischen Wirtschaft führen. Dabei ist die Wirtschaftspolitik nicht mehr als Summe von Teilpolitiken (lnfrastruktur-, Industrie-, Forschungspolitik usw.), sondern als Abstimmung aller Teilpolitiken auf eine einheitliche, "rationale" Strategie zu verstehen. Diese Aufgabe, zu der sich der Staat als der wahre Verteidiger der Einzel- und Gesellschaftswohlfahrt berufen fühlt, will er über eine umfassende Planung verwirklichen, die ihn in einer mittel- bis langfristigen Perspektive stärker in den Wirtschaftsablauf einbezieht 285 • Aufgabe dieser Planung ist es, für die Träger der Wirtschaftspolitik qualitative und quantitative Zieldaten für den längerfristigen Wirtschaftsablauf festzulegen und die für deren Verwirklichung geeigneten ablaufspolitischen Maßnahmen zu bestimmen 286 • Dabei sollen diese Daten einen unverbindlichen Orientierungsrahmen für die privaten Einzelwirtschaften abgeben; für die staatlichen Entscheidungsträger sind sie hingegen in dem Sinne bindend, als sie sie dazu verpflichten, die Ablaufspolitik auf die vorgegebenen Ziele hin auszurichten. Die Planung hat also einerseits eine Koordinierungs-, andererseits eine Lenkungsfunktion 287.
284 Das Zitat von H. Ost/eitner (Zu den Grundlagen der wirtschaftspolitischen Konzeption der Sozialistischen Partei Österreichs, in: Handbuch der österreichischen Wirtschaftspolitik, Wien, Manz, 1984 (2. Aufl.), S. 138) ist auf Österreich gemünzt, läßt sich aber auch auf Italien beziehen. Eine äußerst kritische Stellung zu dieser Umorientierung nahm F. Mattei, Quarantanni usw., S. 165fT. 285 S. Lombardini, La programmazione, S. 119. 286 Über die italienische Wirtschaftsplanung gibt es eine reiche Bibliographie. Wir können uns darauf beschränken, folgende Werke zu zitieren, da sie einen umfassenden Überblick über den Themenbereich und die damit im Zusammenhang stehende Diskussion in der Öffentlichkeit geben: F. Di Fenizio, La programmazione econornica (1946 -62), Torino, UTET, 1965; S. Lombardini, La programmazione, Torino, Einaudi, 1962. 287 S. Lombardini, La programmazione, S. 75.
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IV. Die italienische Wirtschaftsverfassung
Die Tatsache, daß es sich um keine zentralverwaltungswirtschaftliche Planung handelte, wie sie in den Ostblockländern praktiziert wurde, kam sprachlich zum Ausdruck: während die Planung des administrativen Sozialismus als "pianificazione" und als "obbligatoria" ("obligatorisch") bezeichnet wurde, sprach man von "programmazione economica" von "Wirtschaftsprogrammierung" , die man als "demokratisch" ("democratica") und als "orientierend" ("indicativa ") bezeichnete 288 . Entsprechend sprach man von einer "Programmierungspolitik" ("politica di programmazione")289, um damit auszusagen, daß sich die Wirtschaftspolitik vorrangig der Koordinierungsinstrumente bedienen würde. Wir werden uns in unseren anschließenden Ausführungen der italienischen Terminologie bedienen. Abschließend läßt sich feststellen, daß die Verfassung eine "offene Ordnung" einführt, und zwar in dem Sinne, daß sie sich nicht auf ein bestimmtes Konzept festlegt 290 . Lediglich extreme Lösungen sind ausgeschlossen, da sie im Gegensatz zum Geiste und Buchstaben der Verfassung stehen würden. Hat sie doch einen gemischt-wirtschaftspolitischen Ordnungsrahmen vorgesehen, in dem die beiden Grundrechtkomponenten Freiheit und Verpflichtung, Privatnützigkeit und Gemeinwohl gegenübergestellt sind 291 . Aber nicht nur dies. Dadurch, daß die Verfassung auf die statische Harmonie, also auf die Verwirklichung eines in sich geschlossenen, einheitlichen, aber deshalb als zu abstrakt empfundenen Gedankengebäudes - sei es der liberalbürgerlichen als auch der sozialistischen Anschauungswelt - verzichtet, strebt sie eine dynamische Harmonie an, wie sie sich aus den Spannungen unterschiedlicher Anschauungen und Prinzipien ergibt. Die Dialektik der Zielvorstellungen soll in der Praxis nicht zu einem "Nebeneinander", sondern zu einem "Miteinander" im Sinne der Komplementarität führen. F. Di Fenizio, S. 10. F. Di Fenizio, S. 8. 290 G. Gygi, Wirtschaftsverfassung der Handels- und Gewerbefreiheit, S. 287fT. Siehe auch G. Strickrodt, S.366, der auf den Dualismus zwischen freiem Wettbewerb und staatlicher Lenkung als zwei gegensätzlichen Ordnungsprinzipien in der deutschen Rechtsordnung hinweist. Siehe auch U. Romagnoli, La costituzione economica, in F. Galgano, Trattato ... , S.148. 291 G. Maranini, S. 384; siehe auch P. De Carli, Costituzione e attivitä economiche, Padova, Cedam, 1978, der diese Aussage in der Einleitung (S. 5) bestätigt. Siehe auch U. Romagnoli, La costituzione economica in F. Galgano, Trattato ... , S. 140, der in diesem Zusammenhang darauf hinweist, daß einige "Väter der Verfassung" von einem "faulen Kompromiß" sprachen, wobei er insbesondere auf die KPI anspielt. Tatsache war jedoch, daß die KPI Art. 41 der Verfassung zustimmte, der die Privatinitiative anerkennt. So erklärte beispielsweise KPI-Sekretär P. Togliatti 1946 (zitiert von L. Barca, F. Botta, A. Zevi, I comunisti e l'economia italiana 1944-1974, Bari, De Donato, 1975 S. 87fT.): "Man wirft uns vor, wir wollten ... die Privatinitiative unterdrücken. Dies trifft aber nicht zu. Wir wollen, daß der Privatinitiative ein ausgedehnter Freiraum bleibt, und zwar vor allem beim mittleren und kleinen Unternehmen. Gleichzeitig verlangen wir jedoch auch die staatliche Lenkung beim Wiederaufbau ... " 288
289
5. Die "offene Ordnung"
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Daneben erlaubt diese "offene Ordnung" jedoch auch den politischen Entscheidungsträgem, im Laufe der Zeit unterschiedliche ordnungspolitische Vorstellungen und Zwischenformen zu verwirklichen, eben weil der in der Verfassung verankerte "gesellschaftliche Grundkonsens" sich darauf beschränkt, die möglichen Konzepte zu umreißen, aber kein bestimmtes Konzept vorzugeben.
v.
Das wirtschaftspolitische Modell 1. Der integrierende Ansatz
In diesem Abschnitt und den anschließenden Abschnitten wollen wir auf die Ausformung der Wirtschaftspolitik in der italienischen Realität eingehen. Wie wir im einleitenden Abschnitt bereits andeuteten, läßt sich diese Ausformung als ein komplexer Prozeß sehen, der sich aus dem Zusammenwirken dreier Elemente ergibt, und zwar aus dem Verhalten der politischen Entscheidungsträger, dem wirtschaftspolitischen Konzept und der Praxis, die sich in ihrem Wirkungszusammenhang zu einem organischen Ganzen zusammenfügen 292 • Die Analyse des Objekts unserer Untersuchung wollen wir in einer realistischnormativen Sicht angehen 293 , wie sie im Ansatz zum Ausdruck kommt, den wir als "integrierend" bezeichnet haben und der empirische und normative Züge aufweist. Empirisch ist er insofern, als er von der Wirklichkeit als Umfeld für den Politiker mit Bezug auf die Ausformung seiner Entscheidung ausgeht und den Wandel dieses Umfeldes in die Untersuchung einbezieht; normativ ist er, weil er das Bestehen ordnungspolitischer Leitlinien voraussetzt, die über das "Heute" in das "Morgen" hinausweisen und Lösungsvorschläge für die Zukunft anbieten. Wie wir bereits bei der Erläuterung des integrierenden Ansatzes in Abschnitt I darlegten, ist der politische Willensbildungsprozeß als eine zusammenhängende Folge von Entscheidungen zu sehen. Von Schema 3 in Abschnitt I übernehmen wir die Darstellung der Einzelentscheidung als Ring. Jede Einzelentscheidung setzt drei Elemente in ein funktionales Interdependenzverhältnis und in einen Wirkungszusammenhang: das Verhalten der politischen Entscheidungsträger, die Ordnungspolitik als normativen Faktor und die Praxis. Jeder Ring - und auch jede Stufe - ist eine Synthese der Beziehungen, die wir in den Schemen 1, 2 und 3 von Abschnitt I darstellten. Die einzelnen Elemente, die in der Entscheidung zusammenfließen, bedürfen einer kurzen Erläuterung. So gibt das Modell nur die Entscheidungen des Entscheidungsträgers Regierung an. Der dahinter liegende Entscheidungsprozeß mit den Entscheidungen der Vorentscheidungsträger scheint als solcher nicht auf; gehen wir doch davon aus, daß die Entscheidung der Regierung jeweils diejenige der Vorent292 293
P. Trupia, S. 85ff., spricht von "konstruktivem Ansatz". A. Pelinka, Dynamische Demokratie, Stuttgart, Kohlhammer, 1974, S. 17.
1. Der integrierende Ansatz
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scheidungsträger berücksichtigt. Die Zielsetzung, die das Verhalten der Entscheidungsträger bestimmt, entspricht der, die wir in Abschnitt II und III dargelegt haben und die der wahlpolitischen Nutzenmaximierung entspricht. Hingegen sieht unser Modell das Verhalten der einzelnen Teilnehmer am politischen Entscheidungsprozeß nicht nur im Lichte wahlpolitischer Überlegungen. Denn unser integrierender Ansatz geht von der Vorstellung aus, daß dieser Prozeß jeweils von einem breiteren Umfeld sowie von normativen Vorstellungen beeinflußt ist, die allerdings längerfristig - wie wir sehen werden - auch einem Wandel unterworfen sind. Was nun das normative Element betrifft, legten wir in Abschnitt IV dar, daß die italienische Wirtschaftsverfassung kein bestimmtes vorgeprägtes wirtschaftspolitisches Konzept, sondern die Möglichkeit verschiedener, alternativer Konzepte vorsieht, die als Leitbild für die wirtschaftspolitische Regierungsentscheidung maßgeblich sein können. Das tatsächlich zur Verwirklichung gelangende Konzept muß demnach jeweils von der Regierung durch politische Übereinkunft entwickelt (oder übernommen) werden. Es ergibt sich also eine graduelle Ausformung des ordnungspolitischen Konzepts, die parallel zur Ablaufspolitik verläuft. Diese Ausformung wird damit zum Prozeß. Am Anfang bestehen lediglich vage Vorstellungen - ein Erwartungsniveau - von noch nicht klar definierten Leitlinien, die jedoch als verbindlich für die spätere Ausprägung des Konzepts und der Ablaufspolitik betrachtet werden 294 • Ihre Ausprägung erfolgt in indirekter Form, und zwar über die ablaufspolitischen Einzelentscheidungen. Um allerdings die Darstellung zu vereinfachen, gehen wir davon aus, daß die Grundzüge des Konzepts in der Anfangsstufe weitgehend fixiert sind. Wie wir bereits in Abschnitt 1.1 a ausführten, weist die Ablaufspolitik nur dann eine Rationalität auf, wenn sie einem ordnungspolitischen Konzept entspricht und dessen Ziele konkret verwirklicht. Sofern also die Vielfalt der konkreten ablaufspolitischen Maßnahmen in einem rationalen Verhältnis zum dahinterliegenden ordnungspolitischen Konzept steht, läßt sich - im Sinne der postulierten Einheit zwischen Ordnungs- und Ablaufspolitik - auf das ordnungspolitische Konzept schließen. Wir werden uns dieser Vorgangsweise bedienen, um die ordnungspolitischen Vorstellungen, die ja nicht vorgegeben sind, aus den ablaufspolitischen Maßnahmen herauszukristallisieren. Wird sind uns bewußt, daß diese Vorgangsweise bei einer Schau in die Zukunft - also "a priori" - anfechtbar ist, da keine Gewähr für die rationale Einheit zwischen ablaufspolitischen Maßnahmen und ordnungspolitischem Konzept gegeben ist. Sie scheint hingegen im Falle eines geschichtlichen Rückblicks - also "a posteriori" - insofern zulässig, als die Tatbestände objektiv festgelegt sind. Diese Vorgangsweise kann übrigens nur dann zielführend sein, wenn der
294
F. Naschold, Systemsteuerung, S. 51 und S. 74.
7 Fraenkel
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V. Das wirtschaftspolitische Modell
untersuchte Zeitraum lang genug ist, damit sich eine tatsächlich rationale Einheit in den wirtschaftspolitischen Entscheidungen herausbilden kann. Kommen wir nun zum dritten Faktor: der Praxis. Wir verstehen darunter das wirtschaftliche, gesellschaftspolitische, politische, soziologische und sonstige Umfeld, das der politische Entscheidungsträger bei seiner Bewertung der jeweiligen Sachlage berücksichtigt und das er als konstruktives Element in seinen Entscheidungsprozeß einbaut, auf das er jedoch auch lenkend einwirken will 295 • In diesem Umfeld nehmen die Präferenzen der Wählerschaft eine wesentliche Stellung ein, wenn sie auch nicht immer für den politischen Entscheidungsträger ausschlaggebend sein mögen. Diese Präferenzen sind einmal durch die Ideologie vorgeprägt, wie wir in Abschnitt 11.1 darlegten, und entspringen damit theoretischen Vorstellungen. Die Wähler werden also dazu tendieren, ihre grundsätzlichen Anliegen nicht abzuändern. Zwar werden sie sie auch - wie wir in Abschnitt 11 ausführten - jeweils den Umständen anpassen. Aber im Hinblick auf deren normative Züge werden sie immer wieder versuchen, ihre grundsätzlichen Vorstellungen durchzudrücken. Dadurch wird ein statisches Element in das Umfeld getragen. Zum anderen weist die Praxis jedoch auch einen dynamischen Aspekt auf: ist sie doch aufgrund neuer Tatbestände, neuer Entwicklungen, neuer Ideen ständig im Fluß. Dies führt jeweils zu neuen Wünschen und Forderungen, ja selbst zu neuen Wertvorstellungen, die als neue Wählerpräferenzen an den Politiker und den politischen Entscheidungsträger herangetragen werden. Es läßt sich also feststellen, daß das Umfeld gegensätzliche Merkmale aufweist, die der politische Entscheidungsträger berücksichtigen, bewerten und verarbeiten muß.
2. Das Modell Betrachten wir nun die Struktur unseres Modells. Es besteht aus einer Reihe von Entscheidungsstufen. Die Gesamtheit dieser Stufen bildet die "Ausformung" der Wirtschaftspolitik. Die Stufen stellen - in einer schematischen Sicht - Sequenzen dar, in denen jeweils eine Vielzahl von Einzelentscheidungen zeitlich zusammenfällt. Jede Stufe entspricht also der Gesamtheit der Einzelentscheidungen an einem bestimmten Zeitpunkt. In der Praxis werden sich die einzelnen Entscheidungszeitpunkte allerdings normalerweise differenzieren. Zuoberst stellen wir die Stufe 1. Dabei handelt es sich nur formal um eine Ausgangsstufe. In Wirklichkeit ist die Ausgangsstufe auch wieder die Folge vorangegangener Entscheidungen. Wir haben sie deshalb auch als Ring dargestellt, um darauf hinzuweisen, daß sie das Ergebnis der Verarbeitung von 295
F. W. Scharpf, Probleme der politischen Aufgabenplanung, S. 3.
99
2. Das Modell
normat. pollt. Ent· wirtschafts· scheidungs· pollt Konzept prozess
1. Stufe
..
Praxis
2. Stufe
l>
0ll> C
CI> '0
3. Stufe
0
-'"
4. Stufe
~~--------~
V ~--------~I
untererste Stufe
Modell
ordnungspolitischen Vorstellungen, der Bewertung eines komplexen Umfeldes und eines Verhaltensprozesses ist. Die anschließenden Stufen stellen die Ablaufspolitik dar. Das grundierte Feld entspricht dem Bereich, in dem die Ablaufspolitik als konzeptgemäß betrachtet werden kann. Die Pfeile, die dieses Feld verlassen, weisen darauf hin, daß diese Entscheidungen nicht mehr konzeptkonform sind; mit fortschreitender Zeit werden immer mehr Pfeile über 7*
100
V. Das wirtschaftspolitische Modell
das Feld hinausgehen, da der Druck der normativen Vorstellungen unter dem Einfluß des Wandels im Umfeld abnimmt. Die punktierten Linien sollen die Informations- und Wirkungs beziehungen andeuten, auf denen sich unser Modell grundet. Die unterste Stufe des Modells entspricht dem Zeitpunkt, an dem der politische Entscheidungsträger zur Einsicht gelangt, daß das bis dahin gültige wirtschaftspolitische Konzept nicht mehr beibehalten werden kann und abgeändert werden muß. Er wird also aufgrund seiner Bewertung des Umfeldes und insbesondere der in seiner Wählerschaft vorherrschenden Überzeugungen im Laufe der Zeit oder unter dem Druck von Sonderumständen vom ursprünglichen Konzept ab- und zu einem neuen Konzept übergehen. Damit entspricht die unterste Stufe der Stufe 1. Mit dem konzeptuellen Wandel kommt es also zu einer Kreiskausalität in dem Sinne, daß in einer ersten Phase die Wirtschaftspolitik als Ausgangsfaktor auf die Wirtschaft als wesentliches Element der Praxis einwirkt und Ergebnisse in der Wirtschaft - aber nicht unbedingt nur in ihr - bewirkt und in einer zweiten Phase diese Ergebnisse als wesentlicher Aspekt der Praxis auf die wirtschaftspolitische Ausrichtung "ursächlich" zuruckwirken 296 • Dieser zyklische Vorgang ist die Folge einer Bezugnahme ("Rückkopplung") der Entscheidungen auf allen Stufen auf eine Realität, die sich ständig verändert. Damit bekommen die dem politischen Entscheidungsträger zukommenden Informationen über diese Realität im Wandel besondere Bedeutung. Der Sprung von Stufe 4 zu Stufe 1 findet beispielweise statt, wenn die Regierung zur Überzeugung kommt, daß die wirtschaftspolitische Linie die Wirtschaft in eine Sackgasse führt, oder wenn das Konzept nicht mehr mit bestimmten gesellschaftspolitischen Grundvorstellungen im Einklang steht; weshalb wesentliche Anschauungen, die vorher nicht zur Diskussion standen, nun zuerst in Frage gestellt und dann auf die Seite gelegt werden. Am Ende dieser Strukturanalyse scheint es sinnvoll, unser Modell noch kurz einem Vergleich mit dem Freyschen Grundschema zu unterziehen.
Gemeinsam ist beiden Modellen, daß Wirtschaftspolitik als Teilbereich der Politik betrachtet und entsprechend auch unter dem Gesichtspunkt politischer Verhaltens- und Vorgangsweisen analysiert wird. So geht der politische Entscheidungsträger in beiden Modellen nach dem Prinzip der Stimmenmaximierung vor. Gemeinsam ist auch die Erkenntnis, daß das wirtschaftspolitische Handeln nicht nur Ausgangspunkt einer Wirtschaftsentwicklung ist, sondern daß es auch das Ergebnis einer Wirtschaftsentwicklung sein kann. Damit ergibt sich nicht nur die Bestätigung der gegenseitigen Abhängigkeit von Wirtschaft und Politik, sondern - im Falle einer Folge von wirtschaftspolitischen Aktionen - auch die Erkenntnis eines zyklischen Moments, das diese Interdependenzverhältnisse bestimmen kann. Wir werden auf diesen Aspekt noch zurückkommen. 296 W. D. Narr, TheoriebegrifTe und Systemtheorie, Stuttgart, Kohlhammer, 1971, S.101.
2. Das Modell
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Hingegen unterscheidet sich unser Modell sehr wesentlich vom Freyschen Modell, wenn man folgendes in Betracht zieht: a) Das Freysche Grundschema geht auf die Wirtschaft als den Sektor ein, der in einer Wechselwirkung zur Politik steht: die Wirtschaftsentwicklung ist das Ergebnis der Wirtschaftspolitik und - über die Reaktionen der Wählerschaft zu dieser Wirtschaftsentwicklung - dann auch wieder Ursache der wirtschaftspolitischen Ausrichtung. Die Wählerschaft wird dabei zum entscheidenden Faktor, und zwar insofern, als der politische Entscheidungsträger das Wirtschaftsgeschehen sozusagen durch die Augen der Wählerschaft betrachtet. Wenn wir hingegen in unserem Modell von der "Praxis" sprechen, so meinen wir ein Umfeld, das der politische Entscheidungsträger in seinen Entscheidungen berücksichtigt und das als wichtigen und oft selbst wesentlichen Faktor die Wünsche und Anliegen der Wählerschaft umfaßt, das aber auch sonstige Wertungselemente wie die gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Lage und ihre Entwicklungstendenzen, selbst wenn sie von der Wählerschaft noch nicht bewußt wahrgenommen werden, einbezieht. Der Entscheidungsträger verfügt also über ein weiteres Spektrum an Bewertungselementen, als wie das Freysche Grundschema es sieht. In diesem Sinne ist unser Modell differenzierter als das von Frey. b) Das Freysche Grundschema geht nicht direkt auf den ordnungspolitischen Entscheidungsinhalt ein, sondern setzt ihn als vorgegeben voraus. In der Tat geht Frey von der Vorstellung aus, daß die wirtschaftspolitische Ausrichtung in ihren Grundzügen von einem gesellschaftlichen Grundkonsens bestimmt ist 297 • Darin schwingt die Vorstellung mit, daß dadurch auch die wirtschaftliche Ordnungspolitik von Anfang an festgelegt ist. Ihre Konstanz ist gesichert. Frey stellt hingegen fest, daß die jeweilige Tagespolitik - die also als Ablaufspolitik betrachtet werden kann - vom Entscheidungsträger nach dem Prinzip des Eigennutzens festgelegt wird. Nur sie ist Gegenstand der Kreiskausalität. In unserem Modell ist hingegen Gegenstand der Tagespolitik nicht nur die Ablaufs-, sondern auch die Ordnungspolitik, da beide im Laufe der Zeit ausgeformt werden. Die Ordnungspolitik ist also nicht vorgegeben, sondern als Ausdruck der Wählerpräferenzen bei jedem Entscheidungsschritt auch wieder Gegenstand politischer Bewertung. Damit wird auch ausgesagt, daß die Ordnungspolitik veränderlich sein kann, und zwar als Folge von Änderungen der Wählerpräferenzen. Damit bekommt unser Modell eine größere Reichweite als das Freysche Grundscherna, das von gegebenen Wählerpräferenzen ausgeht. c) Das Freysche Grundschema sieht ein Wirkungsverhältnis vom ablaufspolitischen Bereich auf die Wirtschaftsentwicklung vor, die dann ihrerseits auf die Präferenzen der Wählerschaft und damit auf die Einstellung der politischen Entscheidungsträger zurückwirkt. Beispielweise wird die Regierungspartei vor 297
B. S. Frey, Theorie demokratischer Wirtschaftspolitik, S. 22ff.
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V. Das wirtschaftspolitische Modell
politischen Wahlen eine Politik zur Beschränkung der Arbeitslosigkeit führen, die dann bei der Wahl die Wählerschaft dazu führen soll, ihr wieder ihre Stimme zu geben 298 • Damit ergibt sich eine Kreiskausalität, die sich auf der ablaufspolitischen Ebene abspielt. In der Sicht unseres integrierenden Modells ist hingegen die Praxis in jeder ablaufspolitischen Entscheidung automatisch berücksichtigt. Sie wird also nicht sequenzhaft einbezogen, wie die NPÖ dies sieht. In unserem Modell ergibt sich dieses sequenzhafte Vorgehen hingegen auf der ordnungspolitischen Ebene.
3. Die Ordnungs- und Ablaufspolitik im Lichte des Modells Wir wiesen bereits daraufhin, daß im Laufe der Jahrzehnte unterschiedliche ordnungspolitische Wertvorstellungen in der italienischen Wählerschaft maßgeblich wurden und infolgedessen unterschiedliche Linien in der Wirtschaftspolitik zum Zuge kamen. So läßt sich die italienische Wirtschaftspolitik in Phasen einteilen, die jeweils einem bestimmten ordnungspolitischen Konzept entsprechen 299 • Wir werden nach diesem Kriterium drei Phasen unterscheiden, und zwar eine erste, die die erste Nachkriegszeit umfaßt und bis in die 60er Jahre reicht, eine zweite bis zum Ende der 70er Jahre und eine dritte in den 80er Jahren. Unser Modell werden wir als Bezugsrahmen für die Untersuchung dieser Phasen benützen. Dabei werden wir jeweils insbesondere auf das wirtschaftliche, politische und gesellschaftspolitische Umfeld eingehen, da es bei der politischen Entscheidung besonders maßgeblich ist und aufgrund seines ständigen Wandels stets neue Entscheidungsprozesse auslöst. Wie werden hierfür - wie wir in Abschnitt I ausführten - einen deskriptiven Ansatz benützen, allerdings auch auf normative und verhaltensmäßig rationale Aspekte hinweisen. In der Darstellung der einzelnen Phasen wäre es folgerichtig, wenn wir die ordnungspolitische Ausrichtung an das Ende der Ausführungen stellen würden. Denn sie läßt sich nur aus der Ablaufspolitik als Ergebnis der im Laufe dieser Phase erfolgten Ausformung des wirtschaftspolitischen Willens "herausschälen" . Bei der Komplexität der Vorgänge scheint es jedoch für eine klarere Darlegung zweckmäßig, einen anderen Weg einzuschlagen. Und zwar soll die Aussage über die ordnungspolitische Ausrichtung vorweggenommen werden und in der anschließenden Analyse dann eine Erläuterung erfahren. Auf diese B. S. Frey, Moderne politische Ökonomie, S. 172 fT. P. Farneti, La democrazia in Italia tra crisi e innovazione, Torino, Fond. Agnelli, 1978, S. 115 fT. weist darauf hin, daß sich die italienische Politik in Phasen einteilen läßt, deren Zeiten etwa denen entsprechen, die wir für die wirtschaftspolitischen Phasen angeben. 298
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3. Die Ordnungs- und Ablaufspolitik im Lichte des Modells
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Weise wird an den Anfang eine Aussage gesetzt, auf die wir uns in der Schilderung der ablaufspolitischen Maßnahmen und deren Ergebnissen berufen können und die das Verständnis erleichtert. Angesichts des Fehlens von klaren und verläßlichen Aussagen über ordnungspolitische Ziele und Werte werden wir - wie gesagt - diese aus den ablaufspolitischen Maßnahmen herausfiltern. Unsere Darlegung der Wirtschaftspolitik in den einzelnen Phasen kann also nur die jeweiligen ablaufspolitischen Mittel zum Gegenstand haben. Es sei in diesem Zusammenhang vermerkt, daß es bei der Vie1schichtigkeit der zu untersuchenden Tatbestände und Wechselwirkungen zuerst einmal festzulegen gilt, welche Maßnahmen wir als wirtschaftspolitisch relevant betrachten wollen. Haben wir es doch mit einer komplexen Fülle von Äußerungen des wirtschaftspolitischen Willens zu tun, wobei nicht selten eine Kluft zwischen den Aussagen eines Parlaments, in dem sich die politische Entscheidung bisweilen in praxisfernen oder -fremden Kompromißlösungen niederschlägt, und einer Wirklichkeit im Wandel zu erkennen ist. So werden wir uns auf praktizierte Entscheidungen berufen, die für das Wirtschaftsleben richtungweisend sind. Wir werden also vom faktischen Verhalten der Träger der Wirtschaftspolitik ausgehen, also die "objektive"3°O oder "praxiswirksame"301 und nicht die "subjektive" oder "theoretische" Wirtschaftspolitik, die lediglich das Bestreben dieser Träger zum Ausdruck bringt, zum Gegenstand unserer Analyse machen. Bei der Fülle der Fakten ist eine Beschränkung erforderlich. So werden wir nur einige Stationen einer äußerst komplexen Entwicklung nachvollziehen können. Ein solcher Rückblick muß ferner, um überschaubar zu bleiben, Akzente setzen, wobei notgedrungen auch subjektive Wertungen in die Untersuchung Eingang finden. Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob auf die italienische Wirtschaftsplanung in einer Untersuchung wie der unseren überhaupt eingegangen werden soll. Enthalten doch die italienischen Planungsdokumente eine Reihe von Aussagen, die - zumindest was das Wirtschaftsprogramm 1966-70 betrifftoffiziell vom Parlament als Gesetz angenommen und entsprechend als verbindlich erklärt wurden. Sie spielten aber anschließend keine oder nur eine unwesentliche Rolle und entpuppten sich infolgedessen als Wunschdenken. Die italienischen Wirtschaftsprogramme sind also ein typisches Beispiel für "theoretische" Wirtschaftspolitik. Trotzdem halten wir es für richtig, mit einigen kurzen Hinweisen insbesondere auf das erste Programmierungsdokument einzugehen. Wirft es doch ein Licht T. Pütz, Theorie der rationalen Wirtschaftspolitik, S. 14. G. Gäfgen, Allgemeine Wirtschaftspolitik, S. 117, der zwischen "theoretischer Wirtschaftspolitik" und "praktischer Wirtschaftspolitik" unterscheidet. Siehe auch T. Pütz, Grundlagen der theoretischen Wirtschaftspolitik, S. 15fT. 300 301
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V. Das wirtschaftspolitische Modell
auf die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Jahre, in denen es ausgearbeitet wurde. In den anschließenden drei Abschnitten VI, VII und VIII werden wir also in einer beschreibenden Darstellung den Wirkungszusammenhang zwischen Praxis, normativen Vorstellungen und politischem Verhalten darlegen, wie er in der italienischen Wirtschaftspolitik seinen Niederschlag gefunden hat. In den einzelnen Abschnitten wollen wir jeweils - wie wir bereits sagten - die Ablaufspolitik zu einem bestimmten dahinterliegenden ordnungspolitischen Konzept schildern. Bei der Vielschichtigkeit der Zielsetzungen im Konzept, das wir als "sozialistisch" bezeichnen, erachten wir es allerdings für zweckmäßig, im Abschnitt VII die Ablaufspolitik auf einzelne Zielvorstellungen zu unterteilen und dabei auch auf die Geldpolitik im Hinblick auf ihren Beitrag zur Verwirklichung der verschiedenen Zielvorstellungen einzugehen.
VI. Die erste Phase der italienischen Wirtschaftspolitik im Zeichen der liberalen Ausrichtung 1. Die Ausgangslage Einleitend sei ein Blick auf die Wirtschaftslage nach Kriegsende geworfen, da sie bestimmend für die Einstellung der Wählerschaft und damit für das Vorgehen der Parteien und überhaupt der Regierung wurde. Die ersten Nachkriegsjahre waren eine Zeit des Notstandes 302 . Die Wirtschaft, deren Produktionsstätten teilweise zerstört waren, war zusammengebrochen. Es zeigte sich in aller Härte die Schwierigkeit, einer Bevölkerung von damals rund 46 Millionen Einwohnern Arbeit und Auskommen zu sichern. Die aus dem Krieg heimkehrenden Soldaten, die Flüchtlinge, die Heimkehrer aus den Kolonien drängten auf den Markt und verstärkten die Probleme einer ohnehin übermäßigen Arbeitslosigkeit. Hinzu kam, daß die noch bestehenden Produktionsstrukturen, die sich im Zeichen der Autarkie und des Protektionismus der faschistischen Ära nicht erneuert hatten, nun veraltet waren. Dies galt sowohl für die Landwirtschaft303 als auch für die Industrie 304 , in der technologisch rückständige Sektoren, wie die
302 Über die damaligen Wirtschaftsverhältnisse liegt eine umfangreiche Bibliographie vor. Von vielen Autoren seien folgende zitiert: - G. Amato, il Govemo dell'industria in ItaIia, Bologna, Mulino, 1972, S. 18ff. - D. L. Horowitz, Storia deI movimento sindacale in Italia, Bologna, Mulino, 1972 - S. Lombardini, Riflessioni sulla ricostruzione, in M. Fini, 1945-1975 Italia: fascismo antifascismo resistenza rinnovamento, Milano, Feltrinelli 1975 - P. Saraceno, Intervista sulla Ricostruzione 1943-53, in L. Villari, La questione meridionale ... , Milano, Giuffre, 1980 (2 ed.). Bibliographische Angaben sind auch in K. J. Allen and A. A. Stevenson (S. 43ff.) zu finden, sowie in Il dopoguerra italiano (1945-1948). Guida bibliografica, Milano, Feltrinelli, 1975. Der Zerstörungsgrad erwies sich bei näherem Zusehen allerdings als weniger gravierend, als anfangs angenommen worden war. Nach G. Podbielski (S. 5ff.) betrugen die Schäden nicht mehr als 8 -10% der Vorkriegskapazitäten (was immerhin nicht unbeträchtlich war). Nach G. Tamburri e V. Traverso (Dall'8 settembre al govemo Parri, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato nel dopoguerra, Firenze, Vol. I, Monnier, 1976, S. 87) betrug der Zerstörungsgrad zwischen 25% und 18%; sie geben einen zusammenfassenden Überblick über die damalige Wirtschaftslage (S.83ff.). Was insbesondere die Industrie betrifft, verweisen wir auf F . Maltei, Quarantanni di economia italiana, Roma, SIPI, 1986, S. 63ff. 303 Einen Überblick vermittelt P. Germani, L'agricoltura italiana nel dopoguerra, in Banco di Roma, "Review ofthe Economic Conditions in Italy", 1947-1956, S. 33ff.
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VI. Die erste Phase der italienischen Wirtschaftspolitik
Lebensmittelindustrie und die Textilindustrie, vorherrschend waren 30S • Gerade die kapitalintensiven Sparten wie die Stahle, Chemie- und Automobilindustrie waren größenmäßig beschränkt und mit Ausnahme der letzteren in ihren Ausrüstungen überholt. Eine Modernisierung der Wirtschaft setzte allerdings eine Ausweitung der Einfuhren der erforderlichen Rohstoffe wie Holz, Kohle, Erdöl, Eisenerz usw. voraus. Wobei allerdings berücksichtigt werden mußte, daß der Binnenmarkt zu klein war, als daß er einen eigenständigen Entwicklungsprozeß zugelassen hätte. Sichtbares Zeichen der Wirtschaftsmisere war ein Inflationsprozeß, der - in den letzten Kriegsjahren aufgestaut - nach dem Verstummen der Waffen mit voller Wucht explodierte. Er wurde von den Alliierten, den Siegermächten, die das Land besetzt hielten, noch durch die Ausgabe einer eigenen Währung weiterhin verstärkt 306 • Schon während des Krieges hatten sich die vor der faschistischen Ära bestehenden Parteien wieder konstituiert 307 . Ihre Exponenten bildeten nach Kriegsende die erste Koalitionsregierung. Sie baute auf dem Gedanken des Antifaschismus auf. Sie bestand aus Vertretern der Democrazia Cristiana, der Kommunistischen Partei Italiens, der Liberalen Partei, der Sozialistischen Partei, des Partito d'Azione (mit sozialistischen und liberalen Vorstellungen) und der Demokratischen Partei der Arbeit (später Sozialdemokratische Partei). Die faschistische Partei war hingegen geächtet und blieb in der Opposition308 • Bis Mitte 1946 wurde die Gesetzgebung von einer "Consulta", bestehend aus 429 Mitgliedern, ausgeübt, die von der Regierung aufgrund von Listen, die die Parteien und die Gewerkschaften aufgestellt hatten, nominiert worden war. Im Juli 1946 wurden die ersten Wahlen für die verfassunggebende Versammlung abgehalten. Damals bekamen die Christdemokraten 35%, die Sozialisten 20% 304 Einen Überblick vermittelt F. Mattei, L'industria italiana nel dopoguerra, in Banco di Roma, "Review of the Economic Conditions in Italy", 1947 -1956, S. 62fT. lOS G. Martinengo e F. P. Rossi, Reddito assistenziale e reddito da disoccupazione, in G. Franeo, Sviluppo e crisi dell'economia italiana, Milane, Etas, 1979. 306 Die Alliierten Besatzungsmächte gaben eine eigene Währung, die sog. "AM-Lire", aus. Hierüber: E. Corbino, Moneta e politica valutaria nel dopoguerra, in Banco di Roma, "Review of the Economic Conditions in Italy", 1947 -1956, S. 208-209. 307 Auf die Geschichte der Parteien bis 1945 geht F. Leoni (Storia dei partiti politici italiani, Napoli, Guida, 1971) ein, sowie G. Galli, I partiti politici, der seine Untersuchung auch auf die Jahre nach 1945 ausdehnt. Seine Ausführungen über die Jahre von 1945 bis 1948 sind auf S. 321 fT. 308 Über die Folge der italienischen Regierungen geben Tabellen 1 und 2 in Abschnitt III.4 Auskunft; für die Zeitspanne von 1945 bis 1962 siehe auch Italy Today, Presidenza del Consiglio dei Ministri, Servizio Informazioni, Roma, 1963, S. 48-63. Eine ausführliche Darlegung der Ereignisse gibt G. Tamburri, L'avvento di De Gasperi, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato nel dopoguerra, Firenze, Monnier, 1976, vol. I, S.110fT. Verwiesen sei auch auf P. Fritsche, S. 75 fT., der auf die "Neuorientierung der politischen Kultur" nach dem Kriege eingeht.
1. Die Ausgangslage
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und die KPI 19% der Stimmen, wobei diese beiden Parteien in der "Volksfront" verbündet waren 309. Nachdem die Grundsatzentscheidung über die Staatsform durch Volksbefragung am 2. Juni 1945 im Sinne der Republik entschieden worden war 31O , trat am 1. 1. 1948 die Verfassung in Kraft, die eine rechtliche Rahmenordnung für das wirtschaftspolitische Handeln der italienischen Regierung festlegte (wir verweisen auf Abschnitt IV). Im April 1948 wurden die ersten Parlamentswahlen abgehalten. Sie fanden im Zeichen einer großen Streitfrage statt: auf der einen Seite standen die Kräfte, die sich auch im Einklang mit den Vorstellungen in den USA dem Gedanken der demokratischen Freiheit und des Verbleibens in der westlich-christlichen Kultur verpflichtet fühlten; auf der anderen die Kräfte, die sich "volksnahe und fortschrittlich" nannten und die eine Evolution oder selbst Revolution der Gesellschaft in Richtung auf die Ideale des Sozialismus im sowjetisch-russischen Sinne forderten. Während die Volksfrontparteien 31 % der Stimmen erhielten, bekam die Democrazia Cristiana 48% und wurde dadurch die stärkste Partei Italiens. Es ergab sich jedoch auch eine starke Opposition. Italien spaltete sich in einen "schwarzen" und einen "roten Block". Das Fehlen des gesellschaftlichen Grundkonsens in der Wählerschaft aufgrund der unterschiedlichen Ideologien, der sie sich verpflichtet fühlte, schlug sich auf der parlamentarischen Ebene nieder. Damals wurden also die wesentlichen Weichen für die politische und also auch für die wirtschaftspolitische Grundausrichtung gestellt, die anschließend zum Zuge kommen sollte. Es zeigte sich aber auch, daß das politische Geschehen Italiens von der Schwierigkeit für die Regierung überschattet war, ständig über die parlamentarische Mehrheit verfügen zu müssen 311 • Schon damals errang die Democrazia Cristiana nicht die absolute Stimmenmehrheit.
Wir verweisen auf die Tabelle 1 in Abschnitt 1I.t. Einen Überblick vermittelt F. De Felice, La formazione deI regime repubblicano, in L. Graziano e S. Tarrow, La crisi italiana, vol. 1, Torino, Einaudi, 1979, S. 43ff. Siehe auch N. Kogan, A Political History of Postwar ltaly, London, Pall Mall, 1966. 3ll Über die Folge der Regierungen und der politischen Ereignisse siehe G. Tamburri, La politica negli anni '50, in F. Peschiera, Sindacato Industria e stato negli anni deI centrismo (1948-1958), vol. II+, S.27ff. Zu verweisen ist auch auf P. Farneti, La democrazia in ltalia fra crisi e innovazione, S. 115ff., der im Abschnitt "Il ciclo liberal democratico" auf die politischen Grundzüge der Politik von 1945 bis in die 60er Jahre eingeht. 309 310
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VI. Die erste Phase der italienischen Wirtschaftspolitik
2. Die ordnungspolitischen Grundlinien Es herrschte ein politisches Einverständnis darüber, daß man die Wirtschaft möglichst rasch, möglichst massiv aus dem bestehenden Chaos herausbringen und in eine Expansionsphase führen sollte 312 • Aber wie sollte man vorgehen? Schon bald brach in der Öffentlichkeit eine Diskussion aus, welcher wirtschaftspolitische Kurs einzuschlagen sei. Die Parteien wie KPI, PSI, PSDI wollten eine nur sehr schrittweise, sehr vorsichtige Abschaffung der bürokratischen Kontrollen und insbesondere - bei der unzulänglichen Versorgung mit Konsumgütern - der Lebensmittelrationierung. Die KPI sprach sich hingegen von Anfang an gegen eine Wirtschaftsplanung nach sowjetischem Vorbild aus 313 • Die Christdemokraten und die Liberale Partei sahen im Dirigimus ein faschistisches Erbe und drängten auf eine beschleunigte Abschaffung aller Planelemente und Verwaltungskontrollen, auf Öffnung der Märkte und auf Einführung einer zunehmend freiheitlichen Ordnung. Die Planwirtschaft wurde grundsätzlich abgelehnt, da sie "kollektivistisch ist" 314 • Nur die Rückkehr zu den Marktmechanismen und dem freien Welthandel konnte ihrer Ansicht nach die unternehmerischen Kräfte in der italienischen Wirtschaft aktivieren und diese sanieren. Gerade diese Ansicht wurde von maßgeblichen Kreisen der Wirtschaft wie der Confindustria geteilt, die die Ausweitung der außenwirtschaftlichen Beziehungen in den Vordergrund stellten 315 • Der Meinungsstreit erstreckte sich auch - und insbesondere - auf die Finanzpolitik, und zwar auf die Zweckmäßigkeit der Finanzierung des Staatsdefizits über den Bankenkredit. Wie der bekannte liberale Volkswirtschaftler und Notenbankgouverneur L. Einaudi hierzu ausführte, muß "ein Finanzdefizit in einem demokratischen System durch das Sparkapital abgedeckt werden, wenn man nicht zur Notenbankpresse Zuflucht nehmen will ... Das Problem der staatlichen Nachfrage nach Sparkapital ist also ein eminent politisches Problem ••• "316. Im liberalen Lager war man der Ansicht, daß jeder Eingriff in das 312 F. Peschiera e M. T. Torti, La confederazione generale italiana dei lavoro, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato nel dopoguerra, 1943-48, 1976, S.172ff. 313 A. Pepe, (Classe operaia e sindacato, Roma, Bulzoni, 1982, S. 171) weist auf die Erklärung von KPI-ChefP. Togliatti auf der Wirtschaftstagung der KPI am 21. 3.1945, wonach die Forderung auf einen nationalen Wirtschaftsplan als "utopisch" abgetan wird. 314 F. Peschiera, I soggetti delle relazioni industriali, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato nel dopoguerra (1943-48), vol. I, 1976, S. 172ff. 315 G. Raimondi, Soggetti e politiche delle relazioni industriali, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato 1948-58, Vol. 11+ +, S. 7ff.; es wird darauf hingewiesen, daß in der Praxis von der Industrie immer wieder Wünsche und Forderungen auf Abschirmung dieser oder jener Sparte vorgebracht wurden, die ganz offensichtlich im Widerspruch zur offIziellen Linie der Liberalisierung standen. 316 Bericht der Banca d'Italia für das Jahr 1948, S. 204.
2. Die ordnungspolitischen Grundlinien
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private Sparaufkommen das ohnehin schon angeschlagene Vertrauen der Bevölkerung in den Staat noch mehr ins Wanken bringen würde, so daß eine wesentliche Quelle für die Staatsfinanzierung zum Versiegen kommen würde. Diese Auseinandersetzung verursachte erhebliche Spannungen. Der liberale Standpunkt überwog; und zwar einmal aufgrund der Persönlichkeit De Gasperis, der die Ansicht vertrat, der Wiederaufbau lasse sich nur dadurch beschleunigen, daß man das Schwergewicht auf die Freiheit, die Liberalisierung nach innen und nach außen, das marktwirtschaftliche Konzept legt; zum anderen auch wegen des Pragmatismus in der italienischen Denkweise, der bewußt-unbewußt eine wirtschaftspolitische Ordnung befürwortete, die möglichst rasch das Güterangebot ausweiten würde. So sprach bereits 1945 selbst KPI-ChefTogliatti von "progressiver Demokratie", in der der Staatsapparat keine geeignete Kontrolle ausüben könne 317 • Die Unternehmerschaft und - als ihr Wortführer - der Industrie-Spitzenverband Confindustria 318 , der am 10. Dezember 1945 eine offizielle Neugründung erfahren hatte, teilten diese Grundsätze, die ihren Interessen und Zielvorstellungen nahestanden 319 • Sie war sich allerdings bewußt, daß sie eine wesentliche Rolle im Wiederaufbau und in der Weiterentwicklung des Landes zu spielen haben würde 320 • Sie leitete daraus das Recht ab, in einem Sonderverhältnis zur Welt der Politik zu stehen, und zwar in dem Sinne, daß sie auf einen ihr zustehenden Freiraum sowie auf öffentliche Unterstützungsmaßnahmen zählen konnte 321 • 317 G. Toniolo, La politica monetaria negli anni '50, in G. Franco, Sviluppo e crisi dell'economia italiana, Milano, Etas, 1979, S.50, FN.2. siehe auch F. Bourricaud (Partitocrazia: consolidamento 0 rottura?, in F. Cavazza e S. Graubard, Il caso italiano, Milano, Garzanti, 1974, S.88), der die Mäßigung Togliattis hervorhebt und darauf verweist, daß T. von einer "Übergangszeit" gesprochen habe. U. Romagnoli, Il sistema economico nella Costituzione, in F. Galgano, Trattato ... , S. 145, weist daraufhin, daß in jenen Jahren die sozialistischen Parteien kein Konzept zur Steuerung des Wiederaufbaus vorweisen konnten. Er beruft sich dabei auch auf G. C. M azzocchi, La CGIL e le politiche economiche, in I 30 anni della CGIL, Roma, Esi, 1975, S.45-47. Hinsichtlich der Wirtschaftspolitik jener Jahre ist zu erwähnen: M. De Cecco, La politica economica durante la ricostruzione in J. Woolf Stuart, Italia 1943-54, Bari, Laterza, 1974. 318 Wir verweisen auf unsere Ausführungen zur Confindustria in Abschnitt 11.2 b, sowie aufG. Raimondi, La confederazione generale dell'industria italiana, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato (1943 -48), vol. I, 1976, S. 249 ff., der einen Überblick über die Entwicklung dieser Organisation im genannten Zeitraum sowie über deren Aufbau und Vorstellungen gibt. 319 Über die wirtschaftspolitischen Vorstellungen im einzelnen des ersten Confindustria-Präsidenten nach dem Kriege A. Costa siehe die Einleitung von M. Vitale zum Buche von A. Mazzucca, Confindustria - una poltrona che scotta, Milano, Sphyma, 1981. 320 G. Raimondi, La confederazione generale dell'industria italiana, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato (1943-48), vol. 1,1976, S. 263, der auch auf die Struktur der Confindustria eingeht (S. 252ff.).
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VI. Die erste Phase der italienischen Wirtschaftspolitik
Von Anfang an bestand die Confindustria auf ihre Unabhängigkeit gegenüber der Politik 322 • Doch die Konvergenz der Anschauungen von Democrazia Cristiana und Confindustria gab auch zu Kritik Anlaß. So wurde der Vertretung der industriellen Unternehmerschaft vorgeworfen, sie habe sich auf eine Rollenaufteilung mit der christdemokratischen Partei geeinigt, und zwar in dem Sinne, daß ihr weitgehende Entscheidungsfreiheit auf wirtschaftlichem Gebiet vorbehalten blieb, wohingegen die Democrazia Cristiana dafür im politischen Bereich jeweils auf die Unterstützung der Industrie zählen konnte 323 . Es ergab sich also eine Konvergenz zwischen den Überlegungen zur Überwindung von einer verbreiteten Wirtschaftsmisere und den theoretischen Vorstellungen einer marktwirtschaftlichen Ausrichtung. Nicht zuletzt mag auch die Nostalgie - wie im verfassungsrechtlichen Bereich - mitgespielt haben, weshalb man auf Vorstellungen zurückgriff, die vor der faschistischen Ära gültig gewesen waren. Der sozialpolitische Bereich wurde hingegen nur am Rande berücksichtigt. Die Gewerkschaft - wohl auch wegen der Schwäche, die ihr aus der hohen Arbeitslosigkeit und ihrer ideologisch-politischen Aufsplitterung erwuchs nahm eine gemäßigte Haltung ein 324 • Schon bald kam jenes Organ vorrangig zum Zuge, das relativ autonom und ohne politisches Aufsehen in Italien vorgehen kann, nämlich die Notenbank, die Banca d'Italia. Die Inflationsbekämpfung - im Zeichen einer allgemeinen Rückkehr zum Wirtschaftsgleichgewicht - stand dabei im Vordergrund 325. 321 G. Raimondi, Soggetti e politiche delle relazioni industriali, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato 1948-58, vol. 11+ +, S. 4fT. Siehe auch G. Amato, Il govemo dell'industria in Italia, Bologna, Mulino, 1972, S.28. 322 G. Raimondi, La confederazione generale dell'industria italiana, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato nel dopoguerra (1943-48), vol. I, 1976, S. 277. 323 In diesem Sinne: G. Provari, Borghesia industriale e Democrazia Cristiana, Bari, De Donato, 1976, J. La Palombara, Clientela e parentela, studio sui gruppi d'interesse in Italia, Milano, Comunitä, 1967, S.245, spricht von einer Art "verwandschaftlichem Verhältnis", also einem Verhältnis der ideologisch-kulturellen Nähe. Siehe auch G. Pirzio Ammassari, La politica della Confindustria, Strategia economica e prassi contrattuale deI padronato italiano, Napoli, Liguori 1976, S. 15, die auf die "kulturelle Verspätung der industriellen Klasse" und auf das Fortbestehen eines "Fürsorgekapitalismus" hinweist. Negativ beurteilt diese Einstellung auch G. Baglioni, L'ideologia della borghesia industriale nell'Italia liberale, Torino, Einaudi 1974, der den Industrieunternehmen vorwirft, "eine Gruppe zu sein, die am Geist und an den Interessen der dominierenden Klasse teilnimmt ... die traditionell keine neue echt bürgerliche Sozialordnung anstrebt"; was, so Baglioni, eine bewußt gewählte strategische Leitlinie der Industriepolitik im Hinblick auf höhere Gewinne und stärkere Machtpositionen darstellt. 324 F. Carinci u. a., S. 209fT. Wir verweisen auch auf unsere Ausführungen über die Einheitsgewerkschaft CGIL in dem der Gewerkschaftsbewegung gewidmeten Teil von Abschnitt II.2b. Eine ausführliche Beschreibung geben F. Peschiera e M. T. Torti, La confederazione generale italiana dellavoro, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato 1943-1948, 1976, S.161fT., sowie, im selben Band, L. Castelvetri, Verso un nuovo ordinamento sindacale, S. 375. 325 G. Toniolo, La politica monetaria ... , in G. Franco, Sviluppo e crisi, S. 52; siehe auch G. Galli, Il capitalismo assistenziale, in A. Lombardo, Il sistema disintegrato, S. 92.
2. Die ordnungspolitischen Grundlinien
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Bereits 1946 ging die Notenbank unter der Leitung von L. Einaudi daran, die ersten Schritte zur Eindämmung der Preissteigerungen zu unternehmen. Ziel ihrer Bemühungen war es, die Ausweitung des Geldumlaufs einzuschränken, um dadurch der Inflation als des schlimmsten Übels Herr zu werden. Durch eine Neuordnung des Geldwesens sollte also eine feste Basis für die Wirtschaftsgesundung geschaffen werden 326 . Das Instrument der Pflichtreserven wurde nach "klassischem Muster" eingesetzt. So wurde im September 1947 festgelegt, daß die Pflichtreserven bei der Banca d'Italia in Höhe von 20% des Überschusses der Einlagen über zehnmal dem Bankeigenkapital mit einer Reservehöchstgrenze von 15% der Einlagen zu deponieren seien. Ab Oktober 1947 wurde diese Maßnahme noch verschärft: es mußten 40% aller zusätzlichen Einlagen als Pflichtreserven mit einer Höchstgrenze von 25% der Reserve, gemessen an den Einlagen, abgeführt werden, weshalb der Pflichtreservesatz praktisch bei 25% der Einlagen zu liegen kam 327 . Wobei es erstaunlich anmuten mag, daß die Nationalbank trotz der politischen Schwierigkeiten auf Regierungsebene eine sozialpolitisch derartig gewagte restriktive Geldpolitik einschlagen konnte. War es die Schwäche einer Regierung, die sich der Zentralbank nicht zu widersetzen wagte? Oder bestand ein unausgesprochener Konsens infolge einer Notstandslage, aus der man mit allen Mitteln herauskommen mußte?328 Tatsache ist, daß die Notenbank auf ihrer Linie beharrte. Denn die Bemühungen gingen im anschließenden Jahr auf dem eingeschlagenen Wege weiter, um die Lira-Stabilisierung mit Nachdruck fortzusetzen und zu festigen 329. Daneben übernahm die Banca d'Italia die Kontrolle über die größeren Kreditausleihungen und zusammen mit einem interministeriellen Komitee über die Wertpapieremissionen. Dadurch konnte auf längere Sicht das Kreditvolumen gesteuert werden. Und damit im Zusammenhang das Investitionsvolumen, dem in der Sicht der wirtschaftspolitischen und insbesondere geldpolitischen Behörden ein Maximum an verfügbaren Ressourcen zur Verfügung zu stellen 326 Einen Überblick über die damalige Ausrichtung der Geldpolitik gibt M. De Cecco, Sulla politica di stabilizzazione dei 1947, in Saggi di politica monetaria, Milano, Giuffn\ 1968. 327 G. Toniolo, La politica monetaria degli anni '50 (1947-60) in: Sviluppo e crisi dell'economia italiana a cura di G. Franeo, S.48ff. (mit bibliographischen Angaben). Über das italienische Bankensystem und -wesen gibt es eine umfangreiche Fachliteratur. Einen einprägsamen Überblick vermitteln K. J. Allen and A. A. Stevenson, S. 158-163. 328 G. Toniolo (La politica monetaria, S. 62) weist daraufhin, daß die Kraft der Banca d'Italia auf drei wichtigen Faktoren basierte: der Effizienz ihres Beamtenstabes; der Konstanz ihres Managements angesichts sich abwechselnder Regierungen und ihrer Unabhängigkeit von parteipolitischen Belangen; und drittens dem Einverständnis zwischen Geldbehörden und politischer Spitze über die Ziele der Wirtschafts- und Währungspolitik. Dies äußerte sich vor allem in einer guten Zusammenarbeit zwischen Banca d'Italia und Schatzministerium. 329 G. Toniolo, La politica monetaria, S. 53, gibt eine Zusammenfassung der 1947 von der Banca d'Italia getroffenen Maßnahmen.
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VI. Die erste Phase der italienischen Wirtschaftspolitik
war 330 • Zentralbankgouverneur Menichella, der 1947 Einaudi als Zentralbankgouverneur ablöste, unterhielt gute Kontakte zu den größeren Banken und setzte persönlich und gezielt das Instrument der "Moral Suasion" ein. Bereits 1947 zeigten sich die ersten Erfolge der restriktiven Geldpolitik. Die Inflationsrate sank, die Produktion wuchs, die Güter wurden nicht mehr gehortet, sondern strömten auf den Markt. Die Exporttätigkeit weitete sich immer mehr und immer rascher aus 33l • Das gestärkte Vertrauen in die nationale Währung förderte die private Ersparnisbildung, so daß ein anfangs noch bescheidener Kapitalakkumulationsprozeß einsetzte. Sicher, die Deflationspolitik führte zu einer Verlangsamung im wirtschaftlichen Erholungsprozeß. Es ergab sich als sofortige Reaktion ein erheblicher Rückgang in der Investitionstätigkeit und eine Zunahme der Arbeitslosigkeit bis 1950, als der Korea-Boom einsetzte 332 • Die Gewerkschaft reagierte scharf. Aber durch die Einführung der gleitenden Lohnskala sah sie ein wesentliches Anliegen, nämlich die Lohnangleichung an die Inflation, verwirklicht. So beharrte sie auf der gemäßigten Linie und trug dadurch wesentlich zum Kapitalakkumulationsprozeß der 50er Jahre bei. Im Sinne der liberalen Wirtschaftspolitik ging man schon bald gezielt daran, dem vorher nur ansatzweise verwirklichten marktwirtschaftlichen Konzept auf der ganzen Linie zum Durchbruch zu verhelfen 333 • Oberstes Gebot blieb jedoch die Beibehaltung der inzwischen erreichten Geldwertstabilität als der wichtigsten Voraussetzung für ein harmonisches Wirtschaftswachstum 334 • Die freiheitliche Ausrichtung der Wirtschaftspolitik, die der Eigeninitiative den größtmöglichen Spielraum einräumte, forderte die Abschaffung der bürokratischen Kontrollen und verwaltungsmäßigen Fesseln 33s • In diesem 330 L. Einaudi sprach sich ganz eindeutig in seinen Bericht für das Jahr 1946, S. 160, für eine Politik des Sparens, des Verzichts aus. 331 Eine Übersicht über den italienischen Wiederaufbau nach dem Kriege gibt S. J. Woolf Stuart, Italia 1943-54, La ricostruzione, Bari, Laterza, 1974: siehe auch P. Bafft, Studi sulla moneta, Milano, GiufTre, 1965. 332 G. Tamburri, L'avvento di De Gasperi, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato nel dopoguerra (1943-48), vol. I, S. 150fT. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit war übrigens eine Konstante in den Aussagen der Politiker. Als Beispiel verweisen wir auf die Rede von Ministerpräsident A. De Gasperi, als er seine Regierung und sein Programm am 21. 7. 1953 vorstellte (Siehe I programmi dei governi repubblicani, S. 96). 333 In diesem Sinne stellte D. Menichella im Jahresbericht der Banca d'Italia für das Jahr 1954 (S. 403) fest, man müsse sich der "Probe der Freiheit" auch im internationalen Vergleich stellen. 334 Im Bericht der Banca d'Italia für das Jahr 1956 (S. 17) betonte D. Menichella mit allem Nachdruck, daß es oberstes Ziel der Geldpolitik sein müsse, jede Inflationsursache, welcher Art auch immer, zu bekämpfen. 335 In der Liberallsierungspolitik wagte man sich, gemessen an der dirigistischen Vorkriegsverwaltung, sehr weit vorwärts. Allerdings nicht so weit, daß alle Interventions-
2. Die ordnungspolitischen Grundlinien
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Sinne gab man bald nach Kriegsende das Lebensmittelrationierungssystem auf, das im Kriege bestanden hatte. Ferner ließ sich an eine Neuausrichtung der außenwirtschaftlichen Ordnung denken. Die Tatsache, daß Italien rohstoffarm und entsprechend zu einer Veredelungswirtschaft prädestiniert ist, führte dazu, daß dem Prinzip der freiheitlichen internationalen Arbeitsteilung das größte Gewicht beigemessen wurde 336 • Schon bald erwies sich die Entscheidung zugunsten des Freihandels als äußerst günstig. Es kam zu einer aktiven Zahlungsbilanz dank zunehmender Exporte, was zur Bildung eines ersten Devisenpolsters führte. Parallel hierzu ergab sich die Zweckmäßigkeit, die Lira in das internationale Währungssystem einzubauen. Ein entscheidender Schritt in dieser Richtung war bereits im März 1947 mit dem Einverständnis aller Parteien ergriffen worden, und zwar als beschlossen wurde, dem neugegründeten Internationalen Währungsfonds IWF beizutreten 337 • Er hatte die Aufgabe, die internationalen Währungsverhältnisse zu ordnen, um dadurch die Basis für eine Entwicklung der internationalen Beziehungen zu schaffen. Italien hatte 1947 bestimmt nicht die Voraussetzungen, um dem IWF beizutreten, weil es seine Wechselkursparitäten noch nicht festsetzen konnte. Doch der IWF erlaubte den Beitritt mit der Auflage, Italien solle diese Parität fixieren, "sobald es dies könne". 1947 stabilisierte sich der $-Kurs auf 575 Lire, 1948 auf 625 Lire. Dieses Niveau konnte dann bis 1971 gehalten werden. Der außenwirtschaftliche Liberalisierungsprozeß ging relativ rasch vorwärts 338 •
möglichkeiten des Staates unterbunden wurden. Es blieben einige planwirtschaftliehe Elemente aus der Kriegsära mit ihrer Zentralverwaltung. So erhielt man dem Staat immerhin einige Lenkungsinstrumente, die zwar die Verhaltensweisen des einzelnen beeinflussen, nicht aber seine Dispositionsfreiheit ausschalten sollten. Es blieben eine Reihe von Preis- und Mengenkontrollen. Ferner wurden die Staatsbeteiligungen aus sozialpolitischen Erwägungen - und zwar um die Arbeitslosigkeit nicht zu vergrößernam Leben erhalten und erheblich unterstützt, trotz der massiven Kritik der Confindustria und der liberalen Partei (siehe B. Amoroso e O. Olsen, S. 38). 336 F. Garella, Interpretazione degli indirizzi costituzionali ... , in M. D'Antonio, La Costituzione economica, S. 606ff., erwähnt die Gesetze jener Jahre, die eine spontane Entwicklung der Wirtschaft und insbesondere der Industrie fördern sollten. 337 E. Corbino, S.213ff. 338 Die italienische Regierung wurde von den Vereinigten Staaten in ihren Bemühungen zur Linderung der Not unterstützt, die großzügig Lebensmittel, Rohstoffe und Maschinen im Rahmen verschiedener Programme (Federal Economic Aid, UNRRA, AUSA European Recovery Program ["Marshall Plan"] usw.) zur Verfügung stellte und dadurch den Erholungsprozeß nicht unerheblich beschleunigte. Allein die Marshall-Plan-Einfuhren machten 1948 immerhin 39% aller Einfuhren aus und betrugen insgesamt 1,3 Milliarden $, wovon 70% nicht zurückgezahlt werden mußten. In diesem Zusammenhang verweisen wir auch auf K. J. Allen and A. A. Stevenson, S. 10, sowie auf F. Mattei, Quarantanni ... , S. 67 ff. 8 Fraenkel
114
VI. Die erste Phase der italienischen Wirtschaftspolitik
Während 1946 die freien Einfuhren aus den OEEC-Ländern nur 3,5% der Gesamteinfuhren aus diesen Ländern ausgemacht hatten, betrugen sie 1949 bereits 25%, 1952 50% und 1954 bereits 99%! 1949 wurde der neue Zolltarif angenommen, der wesentliche Zollsenkungen einführte, Italien trat weiteren internationalen Organisationen bei: 1949 der OEEC, 1950 der Europäischen Zahlungunion,1953 der Montanunion und 1957 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 339 •
3. Die Politik der Wahrung des monetären Gleichgewichts In den Jahren 1948-50 erreichte die Wirtschaft das Produktionsniveau, das sie vor dem Krieg innehatte 340 • Tabelle 1
Entwicklung einiger volkswirtschaftlichen Größen 1938-50 Jahr
Lebenshaltungs-. kostenindex (1938 = 100)
BIP pro Kopf (1938 = 100)
1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 1950
100,0 104,4 121,9 141,0 163,0 273,3 1214,5 2392,0 2823,0 4575,0 4844,0 4915,0 4849,0
100,0 104,8 99,1 96,6 94,9 90,0 70,5 52,9 76,5 85,2 89,1 92,3 97,7
Landw.") Ind.")
40,1 42,1 39,7 38,3 34,1 29,6 28,6 27,0 33,5 35,1 36,4 38,4 39,8
37,4 40,8 41,2 38,5 33,3 25,8 15,7 10,9 26,6 34,0 36,3 40,0 46,0
Bruttoinvestitionen")
28,7 34,1 25,9 23,5 18,2 11,2 8,0 6,1 24,7 37,1 26,1 27,9 31,9
Exporte") Importe")
11,6 10,6 8,8 0,2 8,0 7,8 1,6 0,5 5,3 9,4 14,9 16,3 18,4
12,3 10,9 10,9 8,2 7,9 8,9 6,8 7,2 10,3 21,6 19,2 19,6 21,2
")in Milliarden Lire, zu Preisen von 1938. Quelle: J. K. Allen and A. A. Stevenson, S.9.
339 Einen Überblick über den italienischen Außenhandel und die Liberalisierungsbestrebungen vermittelt der Artikel von A. Mazzantini, 11 commercio italiano con l'estero, in Banco di Roma, "Review ofthe Economic Conditionsin Italy", 1947 - 56, S. 135-166. Der anschließende Artikel von F. Masera über die italienische Zahlungsbilanz bis 1956 (S. 167 -204) legt die Bemühungen um die Erreichung und Beibehaltung des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts dar. Einen Überblick vermittelt auch die Sonderbeilage vom 23. 4. 1960 von "Mondo Economico" mit dem Titel "Dieci anni di sviluppo economico". Siehe auch K. J. Allen and A. A. Stevenson, S. 58fT. sowie S. 72fT. (mit bibliographischen
3. Die Politik der Wahrung des monetären Gleichgewichts
115
Gleichzeitig konnte man den Weg der Notstandpolitik verlassen, um in einer globalen Schau der Tatbestände und Zusammenhänge zu versuchen, über den Markt und die spontane Wirtschaftsentwicklung die großen Strukturprobleme der italienischen Wirtschaft - Arbeitslosigkeit, Unterentwicklung des "Mezzogiorno", Defizit des Staatshaushalts und der Zahlungsbilanz 341 - einer Lösung entgegenzuführen 342. Im Oktober 1949 hatte die der KPI nahestehende Gewerkschaft CGIL einen "Plan der Arbeit" ("piano deI lavoro") vorgelegt, der einer wirtschaftspolitischen Konzeption nach Keynesschem Modell entsprach und der das Problem der Arbeitslosigkeit einer Lösung entgegenführen sollte 343 • Doch er fand weder die Unterstützung der Regierung noch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit 344 . In der Aufbauphase nach dem Kriege richtete man das Augenmerk verstärkt auf die Landwirtschaft, der man gerade im Hinblick auf die Hebung des unterentwickelten Südens - des "Mezzogiorno" - besondere Bedeutung beimaß. Dabei stand die Vorstellung im Vordergrund, daß die Landwirtschaft noch lang einen sehr erheblichen Beitrag zum Sozialprodukt leisten würde. So wurden der Landwirtschaftspolitik anfangs zwei Ziele zugewiesen: einmal sollte sie die italienische Lebensmittelversorgung übernehmen und absichern; zum anderen sollte sie den Forderungen der arbeitenden Landbevölkerung (Tagelöhner, Pächter usw.) auf ein angemessenes Einkommen und einen Arbeitsplatz entgegenkommen 345 • Angaben); sowie G. Raimondi, SoggeUi e politiche delle relazioni industriali, la Confederazione generale dell'industria italiana, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato 194858, Vol. n+ +, 1979 S.85fT. Wie G. Raimondi (S.90) weiterhin feststellt, bestand im Unternehmerlager der Confindustria keineswegs eine einhellige Zustimmung zu dieser Politik, die immer wieder von dieser oder jener Sparte kritisiert wurde. Grundsätzlich war man sich jedoch einig, daß eine Ausweitung der Märkte die damit verbundenen Opfer aufwiegen würde .. 340 Wir verweisen auf J. K. Allen and A. A. Stevenson, S. 8fT. 341 Damit nahm auch die Landwirtschaftspolitik ihren Anfang. Siehe FN 345. Einen Überblick über die Südpolitik bis 1974 gebenJ. K. Allenand A. A. Stevenson, S. 175-216. 342 R. Cafferata, Pubblico e privato ... , S. 359, FN 70, weist darauf hin, daß schon damals - wie Verfassungsartikel 43 bestätigt - Stimmen laut wurden, die die Nationalisierung der stromerzeugenden Industrie forderten. In diesem Zusammenhang verweisen wir auf: I congressi della CGIL, "Quademi di rassegna sindacale" Nr. 41, 1973, S. 12fT. 343 Er stellte damals auch einen Versuch der CGIL zu einem Dialog mit der Regierung dar. Hierzu siehe V. Traverso, SoggeUi e politiche delle relazioni industrali, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato 1948-58, vol. n+, 1979, S. 310fT. 344 So G. Martinengo e F. P. Rossi, Reddito assistenziale e reddito da occupazione ... , in G. Franeo, Sviluppo e crisi dell'economia italiana, 1979, Milano, Etas, 1979, S. 124fT., die von einer Politik des "liberalen Protektionismus" sprechen. 34S Hinsichtlich der Ausformung dieser Politik verweisen wir auf G. Scarpa, Profilo dell'agricoltura italiana, in G. Franeo, Sviluppo e crisi dell'economia italiana, Milano, 8*
116
VI. Die erste Phase der italienischen Wirtschaftspolitik
Gerade in diesem Sinne wurde mit Gesetz Nr.841 vom 21. 10. 1950 eine umfassende Agrarreform durchgeführt, die den Großgrundbesitz vor allem in Süditalien zertrümmerte und das Land an die Kleinbauern umverteilte. Schon bald zeigte sich jedoch, daß diese Parzellierung gegenüber den durchschnittlich größeren europäischen Landwirtschaftsbetrieben zu Wettbewerbsnachteilen führte. Die öffentliche Verwaltung, die auch über die "Cassa per il Mezzogiorno" - die Südkasse - den erforderlichen InfrastrukturRahmen hätte schaffen sollen, erwies sich als weitgehend untätig. So blieb das Einkommen in der Landwirtschaft bescheiden und hielt mit dem in anderen Sparten nicht Schritt, was sich in einer Welle der Abwanderung der arbeitenden Bevölkerung ins Ausland und in die Industriezentren in Norditalien niederschlug. In den 50er Jahren wurde die Industrie - parallel zu deren Ausweitungallgemein als jener Sektor betrachtet, der aufgrund seiner natürlichen Merkmale die Übel der Wirtschaft, insbesondere die große Arbeitslosigkeit, am schnellsten und besten wenn nicht abschatTen, so doch lindern konnte. In diesem Sinne wurde der Industrie eine Vorzugsstellung eingeräumt. In jener Zeit wurden die Grundlagen einer sich später ständig ausweitenden Industrieförderungsgesetzgebung gelegt. Wurde doch die Industrie als jener Sektor betrachtet, der alle anderen Sparten mitzieht und vor allem geeignet ist, rasch neue Arbeitsplätze zu schatTen 346 • Letzten Endes bestand die Industriepolitik darin, daß den Firmen die größtmögliche Freiheit beim Einsatz der Ressourcen eingeräumt wurde. Sie führte dazu, daß sich die Produktion immer stärker den Markterfordernissen anpaßte. Dem Markt blieb es also überlassen, den technologischen Fortschritt, die Zusammensetzung der Produktionsfaktoren, die optimalen Betriebsgrößen usw. festzulegen. Der StaatseingritT war bisweilen subsidiär, bisweilen flankierend. So setzte sich der Staat über die Staatsbeteiligungsfirmen nur in den Basissparten der Eisen- und Stahlerzeugung und der Energie ein 347 • Die reichliche Versorgung Etas, 1979, S. 249ff.; sowie aufItaly today, Presidenza dei Consiglio dei Ministri, Servizio Informazioni, Roma, 1963, S. 150-190. Wir verweisen ferner auf den zusammenfassenden Abschnitt über die Landwirtschaftspolitik von L. Vandone. I1 modello di sviluppo economico italiano, in F. Peschiera. Sindacato industria e stato 1948-58, VoL n+, 1979, S.178ff. 346 Der Entwicklungsprozeß ruhte nicht nur in den 50er Jahren, sondern auch anschließend zum größten Teil auf den Schultern der Industrie, wie der Gouverneur der Banca d'Italia in seinem Tätigkeitsbericht für das Jahr 1971 (S. 359) feststellte, wobei er vor allem auf den Produktivitätszuwachs in der verarbeitenden Industrie hinwies. In dieser Sicht wurde den Industrieunternehmen in der Nachkriegszeit von den Wirtschaftspolitikern stets besondere Bedeutung beigemessen. 347 G. Tamburri. la politica degli anni '50, in F. Peschiera. Sindacato industria e stato 1948-58, VoL n+, 1979, S. 97.
3. Die Politik der Wahrung des monetären Gleichgewichts
117
mit Grundstoffen führte zu einer Expansion der verarbeitenden Industrie vor allem in den Sparten Metallverarbeitung und Basischemie, gefolgt von Texilund Schuhindustrie 348 • Die Geldpolitik blieb weiterhin ein wichtiges Instrument der Wirtschaftspolitik, deren Ziel zugegebenermaßen die Erreichung und Erhaltung der "fundamentalen wirtschaftlichen Gleichgewichte" war 349 • Die Notenbank war vor allem auf die Geld- undWechselkursstabilität bedacht, auch im Hinblick auf die Schaffung eines ausreichenden Devisenpolsters bei gleichzeitiger Produktionsausweitung und entsprechender Senkung der Arbeitslosenrate. Ihr Ziel, das zu Ende der 40er Jahre darin bestanden hatte, die Binnennachfrage in einem zum Außenwirtschaftsgleichgewicht angemessenen Verhältnis zu halten, bestand in den 50er Jahren vor allem darin, das Güterangebot durch ein ausreichendes Geldangebot - allerdings unter Beachtung des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts - abzustützen. So ging es der Banca d'Italia darum, die Produktionsunternehmen mit ausreichender Liquidität zu versorgen, ohne daß sich dadurch stabilitätsfeindliche Impulse entwickeln konnten. So ließ man bis 1958 das Geldangebot jährlich um rund 12 % - also um etwa 3% über der durchschnittlichen nominalen Ausweitung des BIP - und in den anschließenden Jahren selbst um 14% steigen3so . Wesentliches Instrument der Geldpolitik war die Kontrolle der Geldmenge. Sie erfolgte durch Einsatz der klassischen Instrumente der Geldpolitik: über die Steuerung der Zusammensetzung der obligatorischen Bankreserve (ihr Satz blieb bis 1962 unverändert bei 25%), aber auch über die Offen-Markt-Politik (im Zusammenhang mit der Steuerung der öffentlichen Emissionen) sowie über die Steuerung der Bankenreserven in Auslandswährung 3s1 .
348 L. Vandone, 11 modello di sviluppo economico italiano, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato 1948-58, Vol. II+, 1979, S. 184. 349 Die Berichte der Banca d'Italia jener Jahre stellen immer wieder die Erreichung und Wahrung der Währungsstabilität und des Gleichgewichts im Staatshaushalt und in der Außenwirtschaft in den Vordergrund. So heißt es beispielsweise im Bericht für das Jahr 1951 (S. 332): "Diese Stabilität war die Voraussetzung für den harmonischen Zuwachs von Produktion und Einkommen." So sagte Nationalbankgouvemeur D. Menichella bezeichnenderweise in einer Rede vor der Gesellschaft für Wirtschaftspolitik in Zürich im Februar 1956: "Auf das Geldgeschehen eines Landes einzugehen, kommt praktisch der Abgabe eines Berichts über dessen Wirtschaftspolitik gleich." (Die Rede wurde abgedruckt in "Il Sole - 24 Ore" vom 1O. 8. 84 S. 4. ("Cosi abbiamo ricostruito l'Italia."» 350 G. Toniolo, La politica monetaria, S. 24fT. und S. 62fT. 351 L. Vandone, 11 modello di sviluppo economico italiano, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato 1948-58, Vol. 11+,1979, S.197fT. Siehe auch G. Toniolo, La politica monetaria, S. 69. Der offizielle Diskontsatz, der am 6. 9. 1947 auf 5,5% festgesetzt worden war, wurde bereits am 9. 4. 1949 auf 4,5%, am 6. 4. 1950 auf 4,0% und dann wieder am 7. 6.1958 auf 3,5% gesenkt.
118
VI. Die erste Phase der italienischen Wirtschaftspolitik
Tabelle 2 Entwicklung des HIP, der umlaufenden Geldmenge und der Lebenshaltungskosten (1950 = 1) 1950-60 Jahr
BIp a)
Umlaufende Geldmenge b)
Lebenshaltungskosten C)
1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960
1,00 1,05 1,13 1,25 1,30 1,47 1,60 1,72 1,84 1,96 2,12
1,00 1,13 1,33 1,50 1,64 1,81 1,97 2,22 2,44 2,81 3,22
1,00 1,09 1,14 1,15 1,20 1,23 1,29 1,32 1,38 1,38 1,41
a) Eigene Berechnung auf der Grundlage der Zahlen in Istat, Annuario di contabi1itit nazionale, vol. 15, ed. 1987. b) Eigene Berechnung auf der Grundlage der Zahlen für Bargeld und Sichteinlagen in verschiedenen Jahresberichten der Banca d'Italia. C) Eigene Berechnung auf der Grundlage des Index in Istat, Annuario di contabi1itit nazionale, verschiedene Jahre.
Zwar ließ man die Ausleihungen parallel zu den Bankeinlagen ab 1948 um einen Prozentsatz steigen, der über dem des Produktionszuwachses lag. Aber aufgrund des steigenden Güterangebots kam es praktisch zu keinen Preisspannungen. Der sinkende Zinssatz förderte die Investitionsneigung, die ihrerseits durch den Wiederaufbau eines Wertpapiermarktes gefördert wurde 352 • So gelang es der Notenbank, auch dank der guten Zusammenarbeit mit den staatlichen Finanzbehörden, die Kaufkraft der Lira relativ stabil zu halten. Bis in die 60er Jahre war die jährliche Preissteigerungsrate vergleichsweise bescheiden, zum Teil durch Qualitätsverbesserungen bedingt und auf jeden Fall auf europäischem Durchschnittsniveau. Wir verweisen auf anschließende Tabelle 3. Es muß allerdings in diesem Zusammenhang festgestellt werden, daß die Nationalbank insofern ihre Aufgabe relativ leicht erfüllen konnte, als sie bei der ständig expandierenden Wirtschaft nicht zu restriktiven Maßnahmen greifen mußte 353 • Ferner wurde sie durch die niedrigen Inflations- und Zinssätze in einem Weltwährungssystem fester Wechselkurse unterstützt. 352 A. Fazio, La politica monetaria dal1947 al 1978, "Moneta e credito", 3° trim. 1979, Nr. 127, S. 274ff. 353 K. J. Allen and A. A. Stevenson, S. 168.
3. Die Politik der Wahrung des monetären Gleichgewichts
119
Tabelle 3 Index der Preissteigerungen im DIP (1963 = 100) 1951-61
Jahr
Index
Veränderungen in %
1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961
14,3 14,9 15,2 15,6 16,0 16,8 17,2 18,0 17,9 18,4 18,9
9,7 4,2 1,9 2,7 2,8 5,0 1,9 4,8 -0,4 2,7 2,9
Quelle: ISTAT, "Bollettino mensile di statistica" und Annuario di contabilita nazionale.
Die anhaltende Kaufkraftstabilität im Innern und die positive Entwicklung in den Außenwirtschaftskonten erlaubten den italienischen Geld- und Währungsbehörden die volle Konvertibilität der Lira, die am 28. 1. 1960 mit der offiziellen Einführung des $- Lira-Wechselkurses von 1 $ = 625 Lire ausgesprochen wurde. Wie überhaupt prioritäres Anliegen der Währungsbehörden die feste Einbindung der Lira in das internationale Währungssystem blieb. Dieser Linie entsprach die prompte Zusage Italiens im Jahre 1959 bei der Anfrage desIWF zur Quotenerhöhung von 25%. Welch ein langer Weg seit 1948, als Italien noch nicht einmal eine Währungsparität zum Dollar hatte angeben können, war zurückgelegt worden! Dem Gebot der Stabilität war auch die Haushaltspolitik unterstellt, die in erster Linie auf das Haushaltsgleichgewicht ausgerichtet war. Zu unterstreichen ist dabei das enge Zusammenspiel von Geld- und Finanzbehörden 3S4 • Während des Krieges hatten sich die Staatsausgaben erheblich ausgeweitet und das Deftzit der öffentlichen Verwaltung auf eine für damalige Verhältnisse "astronomische" Höhe getrieben. In der Periode des Wiederaufbaus nach dem Kriege war demnach der Staat darum bemüht, den Einsatz von Finanzrnitteln so weit wie möglich zu beschränken 3ss . In den anschließenden Jahren blieb die 354 Dieses Zusammenspiel war insbesondere ausschlaggebend für die Bereitstellung des für die Wirtschaft erforderlichen Investitionskapitals. Siehe hierzu G. Martinengo e F. P. Rossi, S. 107ff., die auf die Finanzierung der italienischen Industrie in den ersten Nachkriegsjahren eingehen; auf S. 115ff. geben sie einen Überblick über die Industriefinanzierung ab 1950. 355 Während im Haushaltsjahr 1940-41 die Staatsausgaben 76 Milliarden Lire überschritten hatten und ein Staatsdefizit von 50 Milliarden Lire erreicht worden war,
120
VI. Die erste Phase der italienischen Wirtschaftspolitik
staatliche Finanzpolitik einer marktwirtschaftlichen Linie verbunden, und zwar in dem Sinne, daß der Staat einmal die Wirtschaft im wesentlichen den privatwirtschaftlichen Entscheidungsträgern überließ und sich als nicht berechtigt sah, ihnen die ihm nicht unbedingt erforderlichen wertvollen Finanzmittel zu entziehen; denn - so hieß es ~as Privatunternehmen sei imstande, diese Mittel über seine Investitionen "wesentlich effizienter als der Staat" einzusetzen 356. Zum anderen war der Staat ständig darauf bedacht, die Kaufkraftstabilität der Lira zu wahren. So bemühte er sich immer wieder, das Defizit der öffentlichen Hand so gering wie möglich zu halten 357 • Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf nachfolgende Tabelle 4 über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Verwaltung. Sie zeigt, wie im untersuchten Zeitraum im laufenden Budget die öffentlichen Einnahmen stärker als die Ausgaben stiegen und dadurch die Bildung eines Überschusses zuließen. Tabelle 4 Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Verwaltung (laufendes Budget) in Milliarden Lire, 1951-1961 Jahre
Einnahmen
Ausgaben
Saldo
1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961
2251 2649 3106 3557 3935 4561 4908 5288 5771 6480 7072
2217 2635 2918 3321 3696 4157 4377 4844 5330 5780 6163
34 14 188 236 239 404 531
444
442 700 909
Quelle: ISTAT, I conti economici nazionali dell'Italia, Suppl. straord. al "Bollettino mensile di statistica", No 1, genn. 1970, S. 52.
Aus der Tabelle ist auch ersichtlich, daß die Ausgaben sowohl in absoluten Zahlen wie auch in ihrem Verhältnis zum BIP ständig wuchsen. Nachfolgende Tabelle 5 bestätigt dies. waren die Ausgaben im Haushaltsjahr 1948 - 49 auf 29 Milliarden zurückgegangen, und das Defizit betrug knapp 9 Milliarden Lire. Hierzu verweisen wir auf L. Vandone. I1 modello di sviluppo economico italiano ... , in F. Peschiera. Sindacato industria e stato (1948-1958), Vol. II+, 1979, S. 188fT. Verwiesen sei auch aufE. Cambio Finanza pubblica, in Banco di Roma, "Review of the economic conditions in Haly", 1947 -1956, S. 219fT. 356 Banca d'Italia, Bericht für das Jahr 1958, S. 394. 357 F. A. Repaci. La finanza pubblica italiana ne1 secolo 1861 -1960, Bologna, Zanichelli, 1962. Dieses Ziel taucht immer wieder auch in den Regierungsprogrammen auf; verwiesen sei auf: I programmi dei govemi repubblicani, S. 98 und 151.
3. Die Politik der Wahrung des monetären Gleichgewichts
121
Tabelle 5 Verhältnis von Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Verwaltung zum jeweiligen BIP 1951-1960
Jahr
Einnahmen/BIP
Ausgaben/BIP
1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960
20,9% 22,9% 24,2% 26,0% 26,1% 27,8% 27,9% 27,9% 28,7% 29,7%
20,6% 22,7% 22,8% 24,3% 24,6% 25,4% 24,8% 25,6% 26,5% 26,4%
Quelle: eigene Berechnung aus Tab. 4 und Tab. 5.
Aus der Tabelle 5 geht ferner hervor, daß der Staat seinen Einfluß durch steigende Ausgaben ständig ausweitete. Er rechtfertigte diese Politik mit folgender Überlegung: das ungebremste Wachstum des BIP führt jeweils zu zusätzlichen Investitionen und damit auch zu einem zusätzlichen Steueraufkommen; was wiederum eine Ausweitung der Staatsausgaben - darunter auch der Sozialleistungen - ermöglicht. Hingegen ging man nicht so weit, die These zu übernehmen, die Arbeitslosigkeit lasse sich durch eine Forcierung der Staatsausgaben und durch eine Ausweitung des HaushaltsdefIzits bekämpfen 358 • Die Sozialüberweisungen waren denn auch der Posten, der in diesen Jahren relativ zum BIP am meisten stieg359 • In diesem Zusammenhang ~ei noch ein kurzer Blick auf die Politik betreffend die Staatsbeteiligungskomplexe geworfen 360 • Denn sie war ein Beispiel dafür, Bericht der Banca d'Italia für das Jahr 1956, S.416-417. L. Vandone, Il modello di sviluppo economico italiano, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato, 1948-58, vol. IP, S.190. 360 Eine Übersicht über die Anfänge der Geschichte der Staatsbeteiligungsunternehmen gibt V. Ottaviano, Il governo dell'economia, in F. Ga/gano, Trattato ... S. 185 ff. An dieser Stelle beschränken wir uns darauf festzustellen, daß die Iri-Holding mit RDL vom 23.1. 1933 Nr.5 im Anschluß an die Weltwirtschaftskrise mit der Aufgabe gegründet wurde, den illiquiden italienischen Großbanken durch Übernahme ihrer Wertpapierbestände wieder auf die Beine zu helfen. Bei der allgemeinen Unternehmensverschachtelung gelangte der Staat in den Besitz von nicht unbeträchtlichen Industrie- und Bankbeteiligungen. Die IRI-Lösung war damals allerdings nur als Provisorium gedacht. War doch ausdrücklich festgelegt worden, daß die im IRI zusammengefaßten Unternehmen nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen zu verwalten und nach Überwindung ihrer Finanzschwierigkeiten wieder in privatwirtschaftliche Hände überzuführen seien. In der Tat wurden später einige Beteiligungen auch tatsächlich abgestoßen. Dann erkannte der faschistische Staat jedoch die Vorteile, die in der Verfügungsgewalt über einen derart gewaltigen Unternehmenskomplex lagen, und sah von weiteren Veräußerungen ab. Über 358
359
122
VI. Die erste Phase der italienischen Wirtschaftspolitik
daß die Ablaufspolitik bisweilen auch über das vorherrschende Konzept hinausgehen kann. In der Tat nahm sie Anschauungen der anschließenden ordnungspolitischen Phase vorweg. Bei Kriegsende 1945 gab es als großen Staatsbeteiligungskomplex das IRI (Istituto per la Ricostruzione Industriale), von dem ein nicht unerheblicher Teil der Beteiligungsunternehmen stark gelitten hatte. Er war dadurch zu einer erheblichen Belastung des Staatshaushalts geworden. Es stellte sich die Frage, ob man die Beteiligungsunternehmen schließen und die Produktion ganz der Privatwirtschaft überlassen sollte 361 • Sie wurde negativ beantwortet 362 , und zwar im Interesse der Erhaltung der Arbeitsplätze angesichts der ohnehin erheblichen Arbeitslosigkeit. Gegen eine Überführung dieser Unternehmen in die Privatwirtschaft sprachen sich offiziell insbesondere die Kommunistische und die Sozialistische Partei, de facto auch die Democrazia Cristiana aus 363 • Die Staatsbeteiligungsfirmen bekamen also eine Art Symbolcharakter der sozialen Ausrichtung des italienischen Staates angesichts der erheblichen wirtschaftlichen Strukturschwächen 364. Anfangs der 50er Jahre ergab sich eine Wende. Man begann, sie aktiv in die Wirtschaftspolitik einzubauen. Es kam damals das Schlagwort vom "statalismo econornico", vom "wirtschaftlichen Eingriffsrecht des Staates" auf, gegen das vor allem die Confindustria Einspruch erhob 36s • Diese neue Ausrichtung kam allerdings ohne Gesamtkonzept zum Ausdruck, und zwar zuerst einmal in der Schaffung eines zweiten Staatsbeteiligungskomplexes im Jahre 1953, dem des ENI (Ente Nazionale Idrocarburi)366, das mit der Aufgabe betraut wurde, eine nationale, von den großen internationalen Erdölgesellschaften unabhängige die dem IRI angeschlossenen Banken konnte er den Kredit in die von ihm gewünschten Bahnen lenken. Damit hatte er praktisch die Kontrolle der gesamten Wirtschaft in der Hand, was sich bei der Aufrüstung und Kriegsfinanzierung als sehr willkommen erwies. Siehe hierzu insbesondere R. Gallo ed E. Lizza, Privatizzazioni, in Ceep, Risanamento e riordino delle partecipazioni statali, S. 313 ff. 361 P. Saraceno, L'istituto per la ricostruzione industriale IRI, in Ministero Industria e Commercio, Rapporto, vol. III, Torino, Utet, 1956, der insbesondere die Beschäftigungsproblematik angeht (S. 246 und 375ff.). 362 Selbst der damalige Confindustria-Präsident A. Costa (Scritti e discorsi 1942 -1948, Milano, Angeli, vol. 1, 1980, S. 146) sprach sich 1945 aus praktischen Erwägungen offen für ein Zusammenleben von öffentlichen und privaten Unternehmen aus. 363 R. Cafferata, Pubblico e privato, S. 358. 364 Diese soziale Ausrichtung wurde 1948 in die IRI-Satzung (bei deren Novellierung durch D. Lg. vom 12.2. 1948 n. 51) eingebaut. 365 G. Raimondi, Soggetti e politiche delle relazioni industriali, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato, Vol. II+ +, 1979, S. 91 ff. 366 Das ENI wurde mit Gesetz vom 10. 2.1953 n. 13 geschaffen. Dem ENI wurden die in der faschistischen Zeit gegründeten staatlichen Firmen aus dem Erdölbereich AGIP (Azienda Generale Italiana Petroli) und ANIC (Azienda Italiana Nazionale Combustibile) einverleibt.
4. Die Politik zur Förderung des Produktionswachstums
123
Energiepolitik zu verwirklichen. 1956 ging man noch einen Schritt weiter. Es wurde das Ministerium für Staatsbeteiligungen mit der Aufgabe konstituiert, die Steuerung der Staatsbeteiligungskomplexe und deren "Kontrolle" zu übernehmen 367 • Ferner wurde verfügt, daß diese Unternehmen selbständig ihre Tarifverhandlungen vornehmen sollten. Man wollte sie aus der privatwirtschaftlichen Verbandsverflechtung mit der "Confindustria", dem Spitzenverband des industriellen Privatunternehmertums, lösen 368 • Diese Steuerungsfunktion blieb allerdings vorerst auf dem Papier, weil die Lenkungskriterien der Staatsbeteiligungsfirmen nicht festgelegt wurden: weder von der Regierung noch von der Democrazia Cristiana noch von der Kommunistischen Partei noch von den Gewerkschaften. Es bildete sich ein "Vertrauensverhältnis zwischen den Konzernspitzen und den Politikern" heraus 369 , wobei ein stillschweigendes Einverständnis darüber bestand, die Staatsbeteiligungsfirmen sollten nach dem Grundsatz der Effizienz, der Produktivität und der Eigenwirtschaftlichkeit geführt werden 370 • In diesem Zustand vager Vorstellungen gelang es diesen Unternehmen, sich parallel zu den privatwirtschaftlichen Unternehmen positiv zu entwickeln.
4. Die Politik zur Förderung des Produktionswachstums Im sei ben Zeitraum sah sich die Überlegung, wonach die Privatinitiative die marktimmanenten Kräfte aktivieren und also die Vollbeschäftigung herbeifüh367 Mit Gesetz vom 22.12.1956 n. 1589. Über die politischen Hintergründe für diesen wichtigen Schritt, der von weiten Kreisen der Democrazia Cristiana befürwortet wurde, berichtet R. Aglieta, Verso l'Intersind: le vicende dei "distacco", in F. Peschiera, Sindacato industria e stato, Vol. 11++,1979, S.145ff. 368 Mit Gesetz vom 22.12. 1956 n. 1589. Über die politische Bedeutung dieser Entscheidung, die das "Monopol" der Confindustria in der Unternehmerinteressenvertretung brechen sollte: siehe G. Martinengo e F. P. Rossi, S. 138ff., die unter Berufung auf einige Autoren darauf hinweisen, daß sich ein Zusammenfallen der Unternehmerinteressen mit dem Allgemeininteresse ergeben hatte, das jeden Staatseingriff zu verhindern trachtete. Dies dürfte auch der Grund dafür sein, daß vom Staat die Entscheidung getroffen worden war, die Einheitsfront der Arbeitgeber in der Confindustria durch Konstituierung einer eigenen Arbeitgeberorganisation aufzuspalten. Seitdem werden die kollektiven Arbeitsverträge mit den Gewerkschaften nicht nur von der "Confindustria", sondern auch von der "Intersind" für das IRI und von der ASAP für das ENI unterzeichnet. Eine kritische Bewertung des Vorgehens dieses Ministeriums findet sich bei F. Roversi Monaco, L'impresa pubblica nei quadro delle riforme istituzionali, in M. D'Antonio, La costituzione economica, S. 155. 369 B. Bottiglieri, Linee interpretative dei dibattito sulle Partecipazioni statali, in "Economia pubblica", Nr. 4-5, 1984, S. 240. 370 Der Grundsatz der Eigenwirtschaftlichkeit der Staatsbeteiligungsunternehmen wird in Art. 3 von Gesetz vom 22. 12. 1965 Nr. 1589 zur Schaffung des Ministeriums für Staatsbeteiligungen festgelegt.
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VI. Die erste Phase der italienischen Wirtschaftspolitik
ren und ein ständiges Wirtschaftswachstum verursachen würde, weitgehend von der Praxis bestätigt. Es entwickelte sich in der Tat eine Reihe von Wachstumsprozessen, die vor allem der Industrie als dem dynamischsten Sektor zugute kommen sollten und die dazu führten, daß Italien in den Rang der hochindustrialisierten Länder aufstieg. Tabelle 6 DIP zu Marktpreisen (in Milliarden Lire) 1951-1960
Jahr
Absolute Werte
zu Preisen von 1963
1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960
10748 11591 12826 13656 15050 16394 17622 18923 20113 21828
15816 16523 17769 18403 19633 20565 21677 22734 24241 25763
Quelle: Istat, Annuario di contabilitit nazionale, versch. Jahre.
Bezeichnenderweise bauten sie auf unterschiedlichen Gegebenheiten - dem sogenannten "Dualismus" im italienischen Wirtschaftsgefüge - auf, der verschiedene Wachstumsprozesse in Gang setzte.
t. Ein von C. Kindleberger untersuchter Wachstumsmechanismus ergab sich aus der unterschiedlichen Produktivität der einzelnen Wirtschaftsbereiche 371 • Gab es doch einerseits einen relativ kapitalintensiven Industriesektor mit modemen Produktionsverfahren, andererseits eine zurückgebliebene Landwirtschaft und einen rückständigen Dienstleistungssektor, die beide aufgrund des Überangebots an Arbeitskräften ein tieferes Lohnniveau als der Industriesektor mit seiner relativ günstigeren Ertragslage aufwiesen. Das Lohndifferential zwischen den Sektoren führte zu einer Abwanderung der Arbeitskräfte aus dem Dienstleistungssektor und aus der Landwirtschaft in die Industrie mit ihrem höheren Lohnniveau, die den Kapitalakkumulationsprozeß schon begonnen hatte. Aufgrund der großen Arbeitslosigkeit, die die Stellung der Gewerkschaften schwächte, stiegen die Löhne weniger schnell als die Produktivität, insbesondere in den fortschrittlichen Industriesparten. Daraus ergaben sich hohe Unternehmergewinne, aber auch unternehmerische Chancen und eine große Bereitschaft zur Investition. 371 C. Kindleberger, Europe's Postwar Growth: the Ro1e ofLabour Supp1y, Cambridge Mass., Harward University Press, 1967.
125
4. Die Politik zur Förderung des Produktionswachstums Tabelle 7 Veränderungen von DIP, Investitionen und Preisen gegenüber dem Vorjahr in % 1951-1961 Jahr
DIP zu konst. Preisen")
Investitionen zu konst. Preisen")
Preise (BIP-bezogen)b)
1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961
4,5 7,5 3,6 6,7 4,7 5,4 4,9 6,6 6,3 8,2
14,0 13,1 11,4 12,7 6,6 9,0 2,7 8,7 12,3 11,4
3,2 2,8 2,8 3,4 3,9 2,0 2,3 -0,2 2,0 2,7
Quellen: ") L. Vandone, L'evoluzione dei sistema economico nello sviluppo alla stagflazione, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato, 1958-71, 1983, vol. III, S. 147. b) übernommen aus ISTAT, »Bollettino mensile di statistica" und Annuario di contabilitil nazionale (auf der Grundlage der Preise von 1963).
Der Wachstumsprozeß erlaubte es der Industrie, sich zu modernisieren, neue Arbeitsplätze zu schaffen und so die anfallenden Gewinne bei sinkenden Stückkosten zu steigern. Dies förderte wiederum den Kapitalakkumulationsprozeß im Industriesektor, wodurch sich die Nachfrage nach neuen Arbeitskräften zusätzlich intensivierte 372 • Der große Exportzuwachs ließ eine Wirtschaftsentwicklung zu, die nicht auf die Zahlungsbilanz Rücksicht zu nehmen brauchte, da diese sowieso dank der anhaltenden Nachfrage im Waren- und Dienstleistungssektor, den Rimessen der italienischen Arbeiter aus dem Ausland und dem zunehmenden Tourismus ständig positive Salden aufwies 373 • Andererseits förderte er diesen Wachstumsprozeß durch intensivere Auslastung der Anlagen. So konnte der Export absolut und gemessen am BSP in jenen Jahren nicht unerheblich gesteigert werden. Mit der Ausweitung des industriellen Produktionsapparates ergaben sich günstigere Allokationsmöglichkeiten für die zur Verfügung stehenden Ressourcen 374 • Die unternehmerische Dynamik wurde im Zeichen der optimistischen 372 Siehe Tabelle 7 dieses Abschnitts. Sie zeigt auch, daß die Investitionen höhere Zuwachsraten als das BIP aufwiesen. 373 Siehe Tabelle 8. K. J. Allen and A. A. Stevenson (S. 58fT.) weisen insbesondere daraufhin, daß die rege Auslandsnachfrage ein wesentlicher Expansionsfaktor war; denn sie förderte die Ausfuhrtätigkeit und f"ührte zu einer Vereinbarkeit hoher Zuwachsraten in der Binnenproduktion mit dem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht. 374 E. Denison, (Why Growth Rates DifTer, Washington, The Brookings Institution, 1967, zusammengefaßt in K. J. Allen and A. A. Stevenson, S. 57) weist auf die sich aus der
126
VI. Die erste Phase der italienischen Wirtschaftspolitik
Tabelle 8 Handels- und Zahlungsbilanz (zu laufenden Preisen, in Milliarden Lire) 1951-1961 Jahr
Ausfuhren
Einfuhren
Saldo der Handelsbilanz
Saldo der Zahlungsbilanz
1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961
1286 1190 1385 1502 1695 1982 2415 2475 2749 3354 3838
1435 1562 1658 1649 1843 2167 2539 2319 2437 3340 3750
-149 -372 -273 -147 -148 -185 -124 + 156 +312 + 14 +88
35 -213 -136 -47 -48 -59 23 347 465 179 296
Quelle: Istat, Annuario di contabilitil nazionale, vol. 15, ed. 1987, S. 363.
Erwartungen gefördert. Der steigende Wettbewerb schuf einen zusätzlichen Leistungsdruck, der sich seinerseits in steigenden Investitionen niederschlug. Rückläufige Lohnstückkosten erlaubten ihrerseits bei hohen Gewinnen relativ stabile Binnenpreise und eine steigende Wettbewerbsfähigkeit auf den internationalen Märkten 37S • Der industrielle Wachstumsmechanismus hielt so lange an, als das Lohnniveau langsamer als die industrielle Betriebsproduktivität stieg. Diese Grenze wurde erstmals anfangs der 60er Jahre erreicht, als man sich in einigen Zonen dem Zustand der Vollbeschäftigung zu nähern begann 376 • 2. Ein weiterer Dualismus, der von V. Lutz untersucht wurde 377 , basiert auf der unterschiedlichen Entlohnung der Arbeitskräfte. Die höheren Löhne in den fortschrittlicheren Sektoren (vor allem in der Industrie) sind ihrer Ansicht nach die Folge des von den (starken) Gewerkschaften ausgeübten Drucks, während in besseren Allokation der Ressourcen ergebenden Kapitalakkumulation hin, die sich gerade in Italien ergab und die nach seiner Ansicht der wichtigste Grund für die Produktivitätssteigerungen war. So ist der Anteil der Verarbeitungsindustrie am BIP von 20,4% im Jahre 1951 auf 27,6% im Jahre 1963 gestiegen. Siehe auch G. Podbielski, S. 15. 375 P. Sylos-Labini, Prezzi, produzione e investimenti in ltalia dal 1951 al 1966, "Moneta e credito", 1967. 376 G. Podbielski, S. 21 weist in diesem Zusammenhang auf die massive Auswanderung von Arbeitskräften vor allem in die EWG-Staaten und in die Schweiz: zwischen 1951 und 1961: insgesamt 1,2 Millionen Arbeiter. 377 V. Lutz, Italy A Study in Econornic Development, Oxford University Press, 1962; zitiert in K. J. Allen and A. A. Stevenson, S. 54ff.; sowie V. Lutz, The Growth Process in a Dual Economy System, in "Banca Naz. dei Lavoro Quart. Rev.", 1958.
4. Die Politik zur Förderung des Produktionswachstums
127
den anderen Bereichen mit tieferen Entlohnungen die Arbeiter gewerkschaftlich überhaupt nicht oder nur schwach organisiert sind. V. Lutz weist ferner darauf hin, daß die größeren Unternehmen auch eine höhere Produktivität aufweisen und entsprechend höhere Löhne zahlen können 378. Der sich daraus ergebende Mechanismus entspricht dem, den Kindleberger dargelegt hat. 3. A. Graziani hebt den Dualismus zwischen exportorientierten Sektoren und den anderen Produktionsbereichen hervor, um daraus auf einen exportinduzierten Wachstumsprozeß zu schließen 379 • Grazianis These ist folgende: der eine Bereich habe aus den "traditionellen" Produktionssparten wie dem Textil-, dem Lebensmittel- und dem Holzsektor mit einer auf viele Kleinunternehmen verteilten Produktionsstruktur und einer vor allem auf den Binnenmarkt ausgerichteten Erzeugung bestanden; bei der relativ stabilen Nachfrage hätten diese Firmen keine größeren Investitionen nötig gehabt; aber ihre Produktivität sei auch nicht gestiegen, wie auch ihre Stückkosten nicht gesenkt wurden. Der zweite Bereich habe aus den Erzeugern langlebiger Konsumgüter (Autos, Elektrogeräte) sowie von Schuhwaren, von Maschinen, von Chemieprodukten bestanden 380 , die auf eine steigende Nachfrage aus dem Ausland rechnen konnten. Diese Sektoren hätten dank ihrer erheblichen Investitionen hohe Produktivitäts- und Gewinnsteigerungsraten sowie erhebliche Kostensenkungen aufgewiesen. Sie seien durch das Ausland "herausgefordert" worden. Auf diese Weise sei ein Teil der italienischen Industrieproduktion durch die technologisch fortschrittlicheren Länder geprägt worden 381 • Nun sei die italienische Industrie dazu geführt worden, in ihrer Produktionspalette den Gütern für den Massenkonsum, ja selbst den Luxusgütern Bedeutung einzuräumen, obwohl dieses Güterangebot nicht mit dem relativ bescheidenen italienischen Lebensstandard im Einklang stand. So konnte die Industrie der Nachfrage des Binnenmarktes nach qualitativ hochstehenden Erzeugnissen trotz dessen anfanglicher Beschränktheit nachkommen, weil die große Auslandsnachfrage 378 V. Lutz, The Growth Process ... , weist in diesem Zusammenhang aufSparten wie die Metallverarbeitung, die Chemie, die Bekleidungs- und Schuhindustrie, die aufgrund ihrer Kapitalintensität erhebliche Produktivitätssteigerungen erreichten und dies im Gegensatz zu Sparten wie die Textil- und die Lebensmittelindustrie, sowie die Bauindustrie. Siehe auch L. Vandone, I1 modello di sviluppo economico italiano, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato 1948-58, Vol.lI+, S. 153, sowie L. Bruni, Analisi disaggregata dello sviluppo manifatturiero dopo la seconda guerra mondiale, in G. Fua, Lo sviluppo economico in Italia, Milano, Angeli, 1969, Vol. III, S. 274tT. 379 A. Graziani, Lo sviluppo di un'economia aperta, Napoli, Edizioni Scientifiche Italiane, 1969; sowie vom seI ben Autor L'economia italiana 1945 -1970, Bologna, Mulino, 1972. 380 L. Vandone, I1 modello di sviluppo economico italiano, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato, Vol.lI+, S.153. 381 M. De Cecco, Lo sviluppo dell'economia italiana e la sua collocazione intemazionale, in "Rivista intemazionale di scienze economiche e commerciali", 1971.
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VI. Die erste Phase der italienischen Wirtschaftspolitik
einträgliche Produktionsserien zuließ. Ja, die Preise in diesem technologisch fortschrittlichen Bereich waren aufgrund der steigenden Produktionsserien selbst rückläufig, was wiederum die Nachfrage nach diesen Gütern auf dem Binnenmarkt steigerte. Der italienische Konsument wurde dadurch zum Großkäufer von Autos und Waschmaschinen. Auf diese Weise kam die italienische Industrie dazu, trotz eines beschränkten Binnenmarktes qualitativ hochstehende Produkte anzubieten, was sie sich sonst nicht hätte leisten können. Tabelle 9 zeigt die Entwicklung des Außenhandelssaldos (bei konstanten Preisen), das zwar nicht positiv wurde - Italien ist ein Veredelungsland - das aber gemessen am BIP relativ gering blieb und leicht durch Tourismus und Kapitalverkehr ausgeglichen werden konnte. Tabelle 9 Entwicklung der Handelsbilanz (in Milliarden Lire von 1967) 1950-1958
Jahr
Ausfuhren
Einfuhren
Saldo
1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958
752 987 847 832 921 1080 1299 1532 1580
852 1260 1302 1323 1388 1573 1817 2082 1882
-100 -273 -455 -490 -467 -493 -518 -550 -307
Quelle: L. Vandone, 11 modello di sviluppo economico italiano, in F. Peschiera , Sindacato industria e stato 1948-1958, Vol. II+, S. 163.
Diese Wachstumsprozesse mündeten in einer erheblichen Ausweitung des BIP. Tabelle 2 dieses Abschnitts gibt Auskunft über die Entwicklung des BIP in den einzelnen Jahren. Es ist daraus ersichtlich, daß es sich von 1950 bis 1960 mehr als verdoppelte. Oie Statistiken bestätigen den erheblichen Umschichtungsprozeß in der Struktur der Arbeitskräfte. So ergab sich eine erhebliche Abwanderung von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft, die auf eine große Mobilität dieser Arbeitskräfte schließen läßt. Wir verweisen auf Tabelle 10. Gleichzeitig wurden im Jahrzehnt 1948-58 etwa 800000 Arbeitsplätze zusätzJ.ich geschaffen 382 • 382 L. Vandone, 11 modello di sviluppo economico italiano, in F. Peschiera, Sindacato, Industria, Stato 1948-58, 1979, Vol. 11+, S. 139ff. Wie die OCDE (Italie, 1961, S.12) schreibt, "ist es bedauerlich, daß für eines der wichtigsten Probleme, nämlich die große
4. Die Politik zur Förderung des Produktionswachstums
129
Tabelle 10
Aufteilung der Beschäftigten auf die verschiedenen Sparten (in %) 1951-1958
Jahr
Landwirtschaft
Industrie
Dienste
Öffentl. Verwaltung
Insgesamt
1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958
43,87 42,44 40,92 39,59 38,15 36,67 34,89 34,13
29,48 30,24 31,27 32,16 32,80 33,52 34,55 34,65
20,88 21,44 21,86 22,28 22,93 23,63 24,27 24,87
5,77 5,88 5,95 5,97 6,12 6,18 6,29 6,35
100 100 100 100 100 100 100 100
Quelle: L. Vandone, 11 modello di sviluppo economico italiano, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato 1948-58, vol. II+, S. 140.
Dieselbe Umschichtung spiegelt sich in der Quote der einzelnen Produktionssparten am BIP wider. Aus Tabelle 11 ergibt sich, daß in diesem Zeitraum der Anteil der Landwirtschaft von rund 30% auf rund 20% zurückging, wohingegen der der Industrie, der der Verwaltung und vor allem der der Dienste stieg 383 • Tabelle 11
Aufteilung in % des BIP auf die großen Produktionssparten (zu Faktorkosten)") 1951-1961
Jahr
Landwirtschaft
Industrie
Dienste
Öffentl. Verwaltung
Insgesamt
1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961
22,9 21,5 28,4 20,6 20,2 19,1 17,9 18,5 16,7 14,8 15,3
36,6 36,0 35,3 36,1 36,0 35,7 36,3 35,8 36,5 37,9 38,2
31,1 32,5 32,5 33,2 33,6 34,9 35,5 35,3 36,1 36,7 36,0
9,4 9,5 10,0 9,8 10,1 10,2 10,3 10,4 10,7 10,7 10,5
100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0
8) Eigene Berechnung aufgrund der Zahlen in ISTAT, Annuario di contabilitit nazionale, volume 15, ed. 1987, S. 366.
Arbeitslosigkeit, die verfügbaren Statistiken keinen genauen Überblick über die bestefenden Tendenzen geben und bisweilen selbst widersprüchlich sind". 383 Auf einige Gründe für das Nachhinken der Landwirtschaft gingen wir bereits ein, wie auch auf die Prozesse, die zu einer Ausweitung der Industrie und der damit 9 Fraenkel
130
VI. Die erste Phase der italienischen Wirtschaftspolitik
5. Abschließende Überlegungen Rückblickend lassen sich anhand unseres Modells einige Überlegungen zur Ausprägung der wirtschaftspolitischen Willensbildung im untersuchten Zeitraum vorbringen. Wie wir darlegten, geht unser Modell von der Vorstellung aus, daß in jeder politischen Entscheidung drei Elemente - das Verhalten der politischen Entscheidungsträger, die ordnungspolitischen Vorstellungen und die Praxis - zusammenwirken. So geht es nun darum festzustellen, welche Rolle den einzelnen Elementen jeweils in der Ausformung der Wirtschaftspolitik beizumessen ist. Bestimmend für die ordnungspolitische Ausrichtung wurde nach Kriegsende die Praxis; und zwar in dem Sinne, daß die Wirtschaftsschwierigkeiten, die auffiammende Inflation, die erhebliche Arbeitslosigkeit usw. die Wähler dazu führten, eine Wirtschaftspolitik zu fordern, die auf ein ausgedehntes Güterangebot und auf eine Ausweitung der Einkommen und der Zahl der Arbeitsplätze ausgerichtet war. Die Wirtschaftslage wurde damit für die Einstellung der Wählerschaft maßgeblich. So kamen ordnungspolitische Erwartungen auf, die das Schwergewicht auf die Kapitalakkumulation und den Produktionszuwachs legten. Die Democrazia Cristiana bekam in den Parlamentswahlen des Jahres 1948 aufgrund ihres Stimmenzuwachses die Bestätigung, daß diese Ausrichtung den Vorstellungen ihrer Wähler entsprach. Selbst die KPI als Oppositionspartei und die Gewerkschaften bekämpften sie nicht wesentlich. So kam ein liberales wirtschaftspolitisches Konzept zur Verwirklichung, das sich in einer entsprechenden Ablaufspolitik niederschlug und in die Wirtschaftsexpansion führte. Die Ablaufspolitik war im wesentlichen durch eine duale Ausrichtung geprägt. So räumte sie der Produktionswirtschaft die größtmögliche Freiheit zur Verwirklichung des dynamischen Prinzips, also des Wirtschaftswachstums, ein und beschränkte sich darauf, dieses abzustützen. Mit anderen Worten: die Gestaltung der realen Seite der Wirtschaft wurde weitgehend der Privatinitiative überlassen. Hingegen behielt sich der Staat die Steuerung in Richtung auf Stabilität und Gleichgewicht vor und setzte hierfür vor allem die Geldpolitik, aber auch die Finanzpolitik - also die monetäre Seite des Wirtschaftssystems -ein. Gemessen an diesen Zielen lassen sich die Ergebnisse als durchaus erfolgreich bezeichnen: BIP und Volkseinkommen stiegen erheblich, die Zahl der Arbeitsplätze nahm zu, die Arbeitslosigkeit ab. Es gab allerdings auch wirtschaftspolitizusammenhängenden Dienste führten. Die unterschiedliche Entwicklung läßt sich auch auf die unterschiedliche Kapitalausstattung sowie auf die unterschiedliche Produktivität der eingesetzten Kapitalressourcen zurückführen; hierzu siehe L. Vandone, Il modello di sviluppo economico italiano, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato, vol. II+, 1979, S.149fT.
5. Abschließende Überlegungen
BI
sche Entscheidungen, die insofern nicht konzeptkonform waren, als sie der wettbewerbspolitischen Ausrichtung nicht entsprachen: so beispielsweise die Schaffung der Staatsholding ENI, der ein Monopol für die Schürfung von Erdgas in der Poebene gewährt wurde, sowie der Ruf nach einer gesamtwirtschaftlichen Rahmenplanung 384 • Als erster konkreter, wenn auch lückenhafter Versuch läßt sich der Plan zur Finanzierung der "außerordentlichen Infrastrukturarbeiten" in den südlichen Landesteilen erwähnen, der 1950 zur Schaffung der "Cassa per il Mezzogiorno", der "Südkasse" , führte 385 • Ein zweiter Versuch war der 1954 vorgelegte "Vanoni-Plan" (nach dem damaligen Bilanzminister E. Vanoni benannt)386, der darauf ausgerichtet war, im Laufe des Jahrzehnts 1955-1964 die Arbeitslosigkeit in Italien durch ein gesteigertes Investitionsvolumen vor allem in der Industrie aufzusaugen. Danach sollte der Staat durch Zusatzinvestitionen Multiplikatoreffekte auf die Gesamtnachfrage und damit auf die Investitionstätigkeit und die Beschäftigung auslösen. Wegen der unrealistischen Einschätzung der Ausgangslage, aber vor allem wegen der damaligen marktwirtschaftlichen Einstellung der Regierung übte der Vanoni-Plan allerdings keinen Einfluß auf das wirtschaftspolitische Geschehen aus 387 • Die damit verbundenen sozialpolitischen Ziele und Überlegungen wurden in der Regierung vor allem der Christlich-demokratischen Partei vertreten, und zwar einmal als Ausdruck der sozialen Anschauungen der katholischen Tradition, zum anderen aus der Überzeugung heraus, daß sich einer Zunahme der kommunistischen Wähler nur durch bessere Lebensbedingungen in den ärmeren Bevölkerungsschichten entgegentreten lasse. So erklärte A. De Gasperi auf dem 5. Kongreß der Democrazia Cristiana vom 25.6. 1954, 384 G. Podbielski, S. 211, gibt einen geschichtlichen Überblick über die Entwicklung der Programmierungspolitik in ihren verschiedenen Phasen. Siehe auch L. Vandone, 11 modello di sviluppo economico italiano, in F. Peschiera, Sindacato Industria Stato, 19481958, vol. 11 +, S. 138 ff. 385 Errichtet mit Gesetz vom 10.8. 1950 Nr. 646. Einen Überblick über die damalige Landwirtschaftspolitik gibt M. Rossi-Doria, Dieci anni di politica agraria nel Mezzogiorno, Bari, Laterza, 1958. Zu verweisen ist auch auf G. Amato, 11 governo dell'economia, in F. Galgano, TraUato ... , S. 213ff. 386 Offiziell hieß er "Schema decennale di sviluppo dell'occupazione edel reddito in Italia nel decennio 1955 - 64" (also: ,,1 O-Jahres-Schema für die Entwicklung von Beschäftigung und Einkommen in Italien in den zehn Jahren 1955 -64"). Es sah für den Zeitraum bis 1964 die Schaffung von 4 Millionen Arbeitsplätzen vor und sollte damit die Arbeitslosigkeit endgültig beseitigen. Eine Zusammenfassung gibt L. Vandone, 11 modello di sviluppo economico italiano, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato 1948-58, Vol. 11+, S. 204 ff. Siehe auch E. Picozza, Vicende e procedure della programmazione economica, in F. Galgano, TraUato ... , S. 264ff., der auch auf die damals verabschiedeten spartenbezogenen Programme eingeht. Zu verweisen ist auch auf den Artikel von Finanzminister G. Goria "Ha 30 anni 10 schema Vanoni, "Corriere della Sera", 12. 12. 1984, S. 15; sowie u. La Malfa, Nota aggiuntiva su problemi e prospettive dello sviluppo economico, Roma, Janus, 1973, S. 76. 387 B. Bottiglieri, C'era una volta la programmazione,,,11 sole-240re" vom 8.2.1981.
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VI. Die erste Phase der italienischen Wirtschaftspolitik
es sei "weder Kapitalismus noch Kommunismus anzustreben, sondern die Solidarität des Volkes, in dem Kapital und Arbeit sich verbinden, wobei allerdings der Arbeit das Schwergewicht gebührt, unter der Kontrolle und gegebenenfalls dem Ansporn des Staates" 388 • Diese Versuche eines Abgehens vom herrschenden ordnungspolitischen Konzept stellten die ersten Reaktionen der Entscheidungsträger auf neu aufkommende Anschauungen in der Wählerschaft dar. Der wachsende Wohlstand, die rückläufige Arbeitslosigkeit, die Wanderung der Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft und aus Mittel- und vor allem Süditalien in die Industrie Norditaliens, die Öffnung der Grenzen und die sich daraus ergebende Zirkulation nicht nur der Menschen, sondern auch der Gedanken und Einstellungen bewirkten zunehmende soziologische Umschichtungen. Sie riefen ausdrückliche oder unterschwellige Wünsche und Anliegen hervor. Die Entscheidungsträger wurden sich zunehmend des sich neu entfaltenden Erwartungsniveaus der Wähler bewußt: nach mehr Sozialstaat, nach mehr Wohlfahrt, nach mehr Rücksicht für den arbeitenden Menschen, nach einer ausgeprägteren "sozialen Dimension" . Dies mußte sich mit der Zeit in einem Abgehen vom bestehenden ordnungspolitischen Konzept und dessen Ablösung durch neue Vorstellungen niederschlagen. Im nachfolgenden Abschnitt werden wir auf diesen Ausformungsprozeß eingehen.
388 G. Tamburri, La politica negli anni '50, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato (1948-58), vol. 11+, 1979, S.71. Im Zeichen dieser Ausrichtung ist der Einsatz der Democrazia Cristiana für die Agrarreform in Süditalien zugunsten der Kleinbauern, für die Schaffung der "Cassa per il Mezzogiorno" - die "Südkasse" - zugunsten der süditalienischen Wirtschaft, für die Deckung der erheblichen DefIzite der StaatsbeteiligungsfIrmen im Hinblick auf die Erhaltung der Arbeitsplätze usw. zu sehen.
VII. Die italienische Wirtschaftspolitik im Zeichen sozialistischer Vorstellungen (60er und 70er Jahre)389 1. Die Ausgangslage Der zunehmende, sich ausbreitende Wohlstand der 50er Jahre hatte zu Umschichtungen im Gesellschaftsgefüge geführt und neue gesellschaftspolitische Anschauungen aufkommen lassen. Die Wählerschaft ging allmählich dazu über, neue Akzente in ihren Vorstellungen zu setzen. In die Stimmen der Euphorie, die die ständige und erhebliche Produktionsausweitung ausgelöst hatte, hatten sich bereits in den 50er Jahren verhaltene Stimmen der Kritik gemischt, und zwar nicht mehr nur aus den Reihen der Opposition, sondern selbst aus den Kreisen der christlich-demokratischen Wählerschaft. Man gab zwar zu, daß die Selbststeuerung der marktwirtschaftlichen Mechanismen im Rahmen einer auf Wirtschaftsfreiheit ausgerichteten Ordnung eine erhebliche Ausweitung des Produktionspotentials ermöglicht hatte, die die Arbeitslosigkeit weitgehend aufgesaugt hatte 390 • Aber die liberalen Vorstellungen von den wirtschaftspolitischen Hebeln, die es anzusetzen galt, um das Gleichgewicht in allen Bereichen zu verwirklichen, hatten nur zum Teil ihre Bestätigung in der Praxis gefunden; zum Teil hatten sie sich als unzureichend oder selbst als unzutreffend erwiesen 391 • So stellte man plötzlich fest, daß das erhebliche Wirtschaftswachstum der 50er Jahre die seit Jahrzehnten schwelenden Ungleichgewichte nicht beseitigt hatte. Abschätzend sprach man von "Wachstum ohne Entwicklung" 392 . In der Tat hatte die Vorstellung, wonach der traditionelle Dualismus in der Einkommensverteilung zwischen Stadt und Land, zwischen Nord und Süd automatisch über den Markt beseitigt werden kann, keine Bestätigung gefunden 393 . Die öffentlichen Investitionen in Südita-
Zur Bezeichnung "sozialistisch" verweisen wir auf Abschnitt IV.4 und auf FN 272. Die Datenserie des Nationalen Statistischen Instituts ISTAT über die Arbeitslosigkeit beginnt erst mit dem Jahre 1959. Das ISTAT hatte allerdings von 1954 bis 1958 Probeerhebungen durchgeführt, deren Ergebnisse in ISTAT, Indagine sulle forze di lavoro, veröffentlicht wurden. Danach ist die Arbeitslosenrate von 8,8% (1,7 Millionen) im Jahre 1954 auf 6,5% (1,3 Millionen) der Erwerbsbevölkerung im Jahre 1958 gesunken. Hinzu kommen die ausgewanderten Arbeitskräfte, die nach G. Podhielski, S. 152, von 1951 bis 1961 per Saldo 1,157 Millionen Menschen betrugen. 391 Zum Thema "Marktversagen" verweisen wir aufB. S. Frey, Theorie demokratischer Wirtschaftspolitik, S. 73 ff. Wir verweisen auch auf die Angaben in der FN 405. 392 R. Prodi, L'intermediazione politica nell'economia, in F. Cavazza e S. Graubard, S.369ff. 389
390
134
VII. Die italienische Wirtschaftspolitik der 60er und 70er Jahre
lien waren nicht imstande gewesen, eine autonome, sich selbst weiterführende Entwicklung anzufachen, sondern hatten sich lediglich in einer Steigerung der Nachfrage nach Konsumgütern niedergeschlagen, die ihrerseits wieder dem industrialisierten Norden zugute gekommen war. Der Entwicklungsprozeß hatte also in Norditalien die Investitions- und in Süditalien die Konsumneigung gefördert 394 • Wie verweisen auf die nachfolgenden Tabellen 1 und 2, aus denen hervorgeht, daß 1961 tatsächlich die Unterschiede in den Einkommen im Süden und Norden erheblich waren. Hinter der Kritik an der liberalen Linie stand nun die Überlegung, daß das politische Geschehen in den 50er Jahren von der Überzeugung getragen war, die Gesellschaftsordnung beruhe letzten Endes auf dem Wettbewerb zwischen den Einzelmenschen und auf den gesellschaftlichen und einkommensmäßigen Unterschieden als der wesentlichen Triebfeder. Diese vom damaligen "Mittelstand" verfochtene Sicht sei dann VOn politischer Seite übernommen worden. Nun ginge es jedoch darum, die Interessen jener Bevölkerungsgruppen zu verteidigen, deren Anliegen unberücksichtigt geblieben seien. Der Zeitpunkt sei gekommen, an dem das Gruppeninteresse vor die individuellen Belange zu treten habe. Damit habe auch der "Mittelstand" seine Rolle als gesellschaftspolitischer Träger ausgespielt 39s • Aus dieser neuen Schau der Gesellschaft ergab sich eine Umorientierung der wirtschaftspolitischen Vorstellungen. In den 50er Jahren hatte man die Freiheit des Marktes anerkannt, aber die dem Staate VOn der Verfassung zugestandenen Eingriffsmöglichkeiten zur Gleichstellung des Bürgers nicht im erforderlichen Maße ausgenutzt: diese Politik habe letzten Endes den "Geist der Verfassung" insofern mißachtet, als der Staat seinen Spielraum nicht gezielt genug benutzt habe und einem ungeordneten Wirtschaftswachstum passiv zugeschaut habe. Mit anderen Worten, er habe sich dem Markt ausgeliefert und einen "liberalen Protektionismus" eingeführt 396 • Entsprechend nahm die Forderung auf Einkommensausgleich an Intensität zu. 1960 hatte die Democrazia Cristiana versucht, in der Regierung Tambroniso nach ihrem Regierungschef benannt - die Regierungsmehrheit auf die 393 G. Podbielski (S. 159) gibt einen zusammenfassenden Überblick über die Mezzogiorno-Problematik. Zum Wirtschaftsdualismus siehe L. Vandone, L'involuzione dei sistema economico italiano, in F. Peschiera, Vol. 111, 1983, S. 95tT. Siehe auch K.J. Allen and A.A. Stevenson, S. 29tT. 394 L. Vandone, 11 modello di sviluppo economico italiano negli anni '50, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato, 1948-1958, Vol. 11+, 1979, S. 247tT. 395 A. Pizzorno, I ceti medi nei meccanismi dei consenso, in F. Cavazza e S. Graubard, 11 caso italiano, Milano, Garzanti S. 315tT. 396 G. Amato, 11 governo dell'industria in Italia, Bologna, Mulino, 1972, S. 5tT.; siehe auch G. Tamburri, La politica negli anni '50, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato 1948-58, Vol. 11+, 1979, S. 120tT.
5881 5995 6554 6549 6470
1
Abhängig Beschäftigte Einkommen der abhängig Beschäftigten 2 479 808 1264 3641 9049
Abhängig Beschäftigte 1 1665 1403 1218 1147 1035
Pro-KopfEinkommen 3=2: 1 856,8 1445,2 2477,6 6320,0 14535,2
Einkommen der abhängig Beschäftigten 2
5039 8664 16238 41390 94043
Landwirtschaft
287,7 575,9 1037,8 3174,4 8743,0
3=2: 1
Pro-KopfEinkommen
46 39 35 38 37
machte der Unterschied in der durchschnittlichen individuellen Produktion des Einwohners in Süditalien gemessen an der des Einwohners in Nord- und Mittelitalien ... % aus:
Quelle: P, Sylos-Labini, L'evoluzione economica deI Mezzogiomo negli ultimi trent'anni, Studi Svimez, No. 1, genn.-marzo 1985, S. 5.
1951 1973 1975 1980 1981
Im Jahre ...
Tabelle 2: Pro-Kopf-Produktion in Süd- und Norditalien 1951-1981
Quelle: ISTAT, Annuario di contabilitil nazionale , ed. 1983, Tomo I, Tavv. 17 e 34. N. B. - Die Zahl der Beschäftigten ist in 1000, die Höhe der Einkommen der abhängig Beschäftigten in Milliarden und das Prokopfeinkommen in 1000 Lire ausgedrückt.
1961 1966 1971 1976 1981
Jahr
Industrie
Tabelle 1: Beschäftigung und Einkommen der abhängig Beschäftigten in Industrie und Landwirtschaft von 1961 bis 1981
t:I
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...... VI
..."
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(ij.
136
VII. Die italienische Wirtschaftspolitik der 60er und 70er Jahre
Faschistische Partei auszudehnen 397. Das Experiment scheiterte jedoch am Widerstand der anderen Parteien. Um also über eine ausreichend solide Regierungsmehrheit zu verfügen, bot sich als Ausweg eine Koalition mit der Sozialistischen Partei an 398 , also die sog. "Öffnung nach links" ("apertura a sinistra"), wobei die Democrazia Cristiana auch auf die moralische Unterstützung von Papst Johann XXIII rechnen konnte 399 • Es gab allerdings auch wahlpolitische Überlegungen, die für diese neue politische Ausrichtung sprachen. So erklärte der Soziologe A. Ardigo auf der Studientagung der Democrazia Cristiana 1961 in S. Pellegrino: "Die gesellschaftspolitische Entwicklung, die sich aufgrund der Industrialisierung ergeben hat, greift die Stammwählerschaft der DC an; die wahlpolitischen Analysen zeigen, daß die DC-Wähler vor allem den landwirtschaftlichen Kreisen (soweit es sich nicht um Tagelöhner handelt) sowie dem Mittelstand der Städte angehören. Hingegen sprechen sich die umgesiedelten Wähler nicht immer für die DC aus: sind doch die kommunistischen Hochburgen gerade in den bevölkerungsreichen Vororten sowie in den neuen Quartieren neben den Arbeiterwohngebieten der Großstädte. Wenn sich die Democrazia Cristiana dieser Entwicklung nicht bewußt wird, wird von der Entwicklung im Zuge der Industrialisierung die christdemokratische Wählerbasis immer mehr angegriffen ... Die neue Ausrichtung verpflichtet die DC zu einer verständnisvollen politischen Führung der neuen sozialen Gruppen innerhalb der Arbeiterschichten und des Mittelstandes ... Hieraus ergibt sich das Problem der politischen Beziehungen zu den Sozialisten"400. Hinter diesen Worten stand offenbar die Überzeugung, daß sich ein geistiger Standortwechsel in der Wählerbasis vollzogen hatte, den die Democrazia Cristiana in ihrer politischen - und wirtschaftspolitischen - Ausrichtung berücksichtigen mußte, wenn sie keinen Wählerstimmenschwund in Kauf nehmen wollte. Zur gleichen Zeit ergaben sich Schwierigkeiten in der Regierungskoalition. Die Democrazia Cristiana hatte Mühe, mit ihren traditionellen Koalitionspartnem eine Regierung zu bilden 401 • 397 Siehe Aufstellung der italienischen Regierungen in Abschnitt III.4 (Tabellen 1 und 2). Einen Überblick über die damaligen politischen Ereignisse vermittelt G. Galli, I partiti politici, S. 390 fT. 398 In diesem Sinne spricht sich auch M. Sa/vati (Alle origini dell'inflazione italiana, Bologna, Mulino, 1976, S. 32) aus. Über die politische Entwicklung in den Jahren von 1958-1972 siehe G. Tamburri, La politica negli anni '60, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato, vol. III, 1983, S. 1 fT. Siehe hierzu auch N. Kogan, A Politica1 History ... , S.159fT. 399 So war gerade erst die Enzyklika "Mater et magistra" veröfTentlicht, in der zu einem neuen Verständnis des EigentumsbegrifTs und der sozialpartnerschaftlichen Beziehungen aufgerufen wurde. 400 A. Ardigo, zitiert von G. Galli, Storia della DC, Bari, Laterza, 1978, S. 212 und 213. Seine Ausführungen übertragen neu aufkommende gesellschaftspolitische Vorstellungen auf die Ebene des Wählerverhaltens. 401 Man sprach von einer "organischen Mehrheit"; siehe hierzu die programmatische Rede von Ministerpräsident A. Moro, als er seine Regierung am 12.12. 1963 dem
1. Die Ausgangslage
137
Die Democrazia Christiana entschied sich damals für die Koalition mit der Sozialistischen Partei402 • Ein gewagter politischer Schritt! Bedeutete er doch ein Abgehen von der politischen Linie der 50er Jahre und das Aufsteigen neuer Wert- und Zielvorstellungen, die Gedanken aus der katholischen Soziallehre mit sozialistischen Vorstellungen zu einer Art "katholisch angehauchtem Labourismus" verbanden 403 • 1963 bildete die Democrazia Cristiana also mit dem Partito Socialista Italiano eine Koalitionsregierung des "linken Zentrums", das "Centrosinistra". Weitere Koalitionspartner waren die Republikanische Partei und die Sozialdemokratische Partei. Auch für die Sozialistische Partei bedeutete dieses Bündnis ein politisches Novum. Denn sie gab damit offIziell ihr seit 1948 eingegangenes Bündnis mit der Kommunistischen Partei auf und fing ihre Politik der "dritten Kraft" - neben Democrazia Cristiana und KPI - an. Die Sozialistische Partei wurde ab 1963 für eine Reihe von Jahren zu einer Konstanten in der Regierungskoalition. Das wirtschaftspolitische Konzept, das damit zum Zuge kam, sah also den Wirtschaftsablauf in einem neuen Licht und versuchte, ihn nach neuen Gesichtspunkten zu steuern. So war es sowohl Ausdruck einer neuen ideologischen Einstellung als auch Niederschlag ausländischer Erfahrungen wie beispielsweise der französichen "Planification"404. Es ergab sich ein Umdenken in den wirtschaftspolitischen Zielvorstellungen. Das wirtschaftspolitische Modell der 50er Jahre, wonach die Wirtschaft weitgehend sich selbst überlassen blieb und der Staat sich darauf beschränkte, das Gleichgewicht im monetären und Finanzsektor zu garantieren, wurde zum Objekt der Kritik. Man erklärte offiziell, daß dem Markt infolge der Funktionsschwächen der dezentralisierten Entscheidungsmechanismen Grenzen gesetzt sind 40s • Das Wachstum sollte also nicht mehr das Ergebnis von selbständigen Parlament vorstellte (in (ohne Angabe des Autors) I programmi dei governi repubblicani, S.281). 402 Zu diesem Thema verweisen wir aufG. De Rosa, S. 551 fT., der die Rede vom christdemokratischen Exponenten A. Moro auf dem Kongreß der Democrazia Cristiana in Neapel vom 1962 auszugsweise wiedergibt, in dem sich die Democrazia Cristiana für die neue Koalition aussprach. Was die parteipolitische Entwicklung betrifft, die zu dieser Konstellation führte, verweisen wir auf G. Galli, I partiti politici, S. 313 fT. 403 G. Galli, Storia della DC, S. 213. Er verweist auch darauf, daß der Sekretär der Republikanischen Partei U. La Ma/fa diese Vorstellungen mit New-Deal-Vorstellungen ergänzte. Wie S. Turone, S. 282fT., ausführt, hatte nicht nur der damalige USA-Präsident Kennedy, sondern selbst ein Teil der italienischen Industrie sein Einverständnis zu dieser politischen Neuausrichtung gegeben. So erklärte der damalige Fiat-ChefV. Valletta, "die Regierung des linken Zentrums ist die Frucht der Neuzeit"; womit er sich in Gegensatz zur Confindustria stellte. 404 Verwiesen sei auf Abschnitt VII.2 (insbesondere FN 414). 40S Die neo klassische Wirtschaftstheorie hat sich mit der Frage des Marktversagens auseinandergesetzt. So beispielsweise A. C. Pigou, Economia dei benessere, Torino, Utet,
138
VII. Die italienische Wirtschaftspolitik der 60er und 70er Jahre
Impulsen sein, die in Raum und Zeit unstetig auftreten und dadurch die Ungleichgewichte nicht abschaffen, sondern sie unter Umständen selbst intensivieren, erklärte der Sekretär der Republikanischen Partei La Malfa in einem vielbeachteten Dokument 406 • Dem Staat wurde also eine Richtungsfunktion und Verantwortung hinsichtlich des Wirtschaftsablaufs und der sozialgerechten Zuweisung der Ressourcen zugewiesen, wobei nicht mehr deren Erwirtschaftung, sondern deren Umverteilung im Vordergrund stand 407 • Die Ziele und Mittel dieser wirtschaftspolitischen Globalsteuerung sind in einem "Wirtschaftsprogramm" festgelegt 408 • Seine Aussagen sollen für den Staat in dem Sinne verbindlich sein, daß es "den Einsatz der traditionellen Instrumente der Wirtschaftspolitik auf die vorgegebenen Ziele hin orientiert"409; die Privatwirtschaft soll hingegen "demokratisch" durch Leistungsanreize auf die vorgegebenen Ziele hingesteuert werden. Neben den Wettbewerb "so weit wie möglich" tritt demnach das Wirtschaftsprogramm "so weit wie nötig". Das Wirtschaftsprogramm hat also vor allem die Mittel festzulegen, mit denen diese Ziele zu erreichen sind 41O , sowie die Entscheidungsträger - seien sie
1953, der angesichts der Unvollkommenheit des Marktes einen Vorteil im Staatseingriff sieht, weil er die Wirtschaftseffizienz und das Wohlergehen steigern kann. Siehe auch R. Cafferata, Pubblico e privato, S. 63 ff. Kritisch werden die Thesen von Pigou von M. Dobb, Economia deI benessere ed economia socialista, Roma, Editori Riuniti, 1972, und von E.J. Mishan, L'Economia deI benessere 1939-59, in F. Caffe, Il pensiero economico contemporaneo, Milano, Angeli, 1974, vol. 1, S. 222ff., bewertet. Zu dieser Problematik siehe auch H. Ostleitner, Zu den Grundlagen der wirtschaftspolitischen Konzeption der SPÖ in H. Abele, Handbuch der österreichischen Wirtschaftspolitik, S. 134. Die Frage wird auch von Vertretern der Neuen Politischen Ökonomie untersucht. Ihre Überlegungen betreffen die Produktion und Verteilung kollektiver Güter, die Schaffung externer Kosten für einen Teil der Bevölkerung (aufgrund von MonopolsteIlungen usw.). Hierzu siehe J. Buchanan, Die Grenzen der Freiheit, insb. Kap. 2, sowie F. Lehner, S. 68 und B. S. Frey, Theorie demokratischer Wirtschaftspolitik, S. 73 ff. Was insbesondere die Theorie der öffentlichen Güter betrifft, verweisen wir auf R. A. Musgrave, Die öffentlichen Finanzen, 3. Auflage, Tübingen, Mohr, 1984, Band 1, S. 60 ff.; sowie auf F. M. Bator, The Anatomy of Market Failure, "Quarterly Journal of Economics", August 1958, S. 351 ff. 406 Vom damaligen der Republikanischen Partei angehörenden Finanzminister U. La Malfa wurde am 22. 5. 1962 die sog. "Nota aggiuntiva" ("Zusatznote" zum Finanzbericht) mit dem Titel "Problemi e prospettive dello sviluppo economico italiano" (veröffentlicht bei Janus, Roma, 1973) vorgelegt. 407 K.J. Allen and A.A. Stevenson, S. 156. 408 Für diesen Begriff verweisen wir auf Abschnitt IV.4. 409 S. Lombardini, La programmazione, S. 75. 410 So erklärte A. Fan/ani in der Rede vor dem Parlament am 2. 3. 1962, in der er das Programm für die 4. von ihm angeführte Regierung darlegte: "Die Zeiten sind reif für eine
2. Die Ausfonnung des Konzepts in der Praxis der 60er Jahre
139
nun staatlich oder privatwirtschaftlich - mit ausreichenden und adäquaten Infonnationen zu versorgen, damit die Einzelpläne zu einem umfassenden und programmgerechten Beziehungsnetz verknüpft werden 411 • Es ist also für die Ablaufspolitik bestimmend. Diese Mittel können auch als Teil- und Unterziele festgelegt sein. In diesem Sinne sind die geplanten Strukturrefonnen in den Bereichen der Schul-, Krankenhaus-, Verkehrspolitik usw. zu sehen412 • Die ordnungspolitischen Vorstellungen, die das Schwergewicht einerseits auf die Beschäftigungs- und Einkommenspolitik, andererseits auf die Sozialpolitik legten 413 , wurden allerdings nicht von Anfang an in all ihrer Tragweite und Komplexität gesehen. Obwohl sie sich zum Teil bereits ansatzweise in den 50er Jahren abgezeichnet hatten, entwickelten sie sich voll erst in den 60er und 70er Jahren mit der Verwirklichung der ablaufspolitischen Maßnahmen. Das ordnungspolitische Konzept wuchs also im Laufe der Jahre zu einem Ganzen zusammen, nicht ohne Rückschläge und Widersprüche, und zwar parallel zu der ihm entsprechenden Ablaufspolitik. Das Konzept wurde offiziell nur ansatzweise und häufig in unklaren und widersprüchlichen Fonnulierungen umrissen. Es ergibt sich hingegen deutlich aus seiner Ablaufspolitik und den dabei anvisierten Zielen. In den nachfolgenden Ausführungen dieses Abschnittes wollen wir einen knappen Überblick über den politischen Hintergrund geben, vor dem die jeweiligen gesetzgeberischen Initiativen ergriffen wurden, um dann in den anschließenden Abschnitten auf die Ablaufspolitik einzugehen.
2. Die Ausformung des sozialistischen Konzepts in der Praxis der 60er Jahre Zuerst werden wir auf die Programmierungspolitik eingehen, die in ihren Anfängen das ordnungspolitische Konzept ansatzweise umreißen und die daraus resultierende Ablaufspolitik festlegen sollte. Die Annahme eines Wirtschaftsprogrammes war neben der Nationalisierung der elektrizitätserzeugenden Industrie das Pfand, das damals die Democrazia Cristiana für das offIzielle Ausscheren der Sozialistischen Partei aus dem Fahrwasser der Kommunistischen Partei und zum Eintritt in die Regierungswirtschaftliche Programmierungspolitik. " Siehe I programmi dei govemi repubblicani, S.258. 411 Auf die Bedeutung der Infonnation im gesamtwirtschaftlichen Planungssystem weist insbesondere H.J. Thieme, Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Bd. 1, München, Vahlen, 1980, S. 13fT., hin. 412 U. La Malfa, S. 83fT. 413 F. Mattei, Politica dei redditi, primo scontro, nell'Italia dei "boom" economico, "Corriere della Sera", 4. 1. 1984, S. 12.
140
VII. Die italienische Wirtschaftspolitik der 60er und 70er Jahre
koalition gegeben hatte. Es sollte ein Zeichen für den Kurs gesetzt werden, der einzuschlagen war. Die Parteien der Regierungskoalition des "linken Zentrums" betrachteten die Programmierungspolitik als Element einer globalen Wirtschaftslenkung, wie sie bereits im Ausland und insbesondere in Frankreich mit seiner "Planification" ihren Niederschlag gefunden hatte und wie sie nun auch in Italien zur Anwendung kommen sollte 414 . Die Democrazia Cristiana und die Republikanische Partei hatten die Programmierungspolitik im Hinblick auf die Überlegung übernommen, daß die Mängel im Kapitalakkumulationsprozeß den Staat dazu nötigen, die Kapitalbildung auf grundsätzlich andere Weise als über den Markt zu veranlassen. Das Programm wurde nun als Instrument gesehen, das den Gegensatz zwischen liberaler und kollektivistischer Konzeption, zwischen Staat und Markt überwindet415 . Man dachte an einen "dritten Weg"416. Eine ähnliche Stellung nahm die Gewerkschaft CISL ein417 . Die CGIL lehnte die Programmierungspolitik ab, weil sie ihr - wie der KPI auch - zu wenig einschneidend schien. Sah die KPI sie doch als Instrument, das die Widersprüche in der kapitalistischen Wirtschaft und deren "perverser Struktur" abschaffen sollte; den Staatsbeteiligungen falle die Aufgabe der Überwindung der sich daraus ergebenden Antinomien ZU418. Die Liberale Partei und die private U nternehmerschaft erhoben laut Einspruch419 ; ihre Kritik blieb jedoch erfolglos. 414 So war es wohl kein Zufall, daß 1962 in Rom eine Tagung des Consiglio Nazionale del'Economia e delI Lavoro - CNEL zum Thema der Programmierungspolitik in den Europäischen Ländern stattfand. Wir verweisen auf: Versch. Aut., La programmation economique europeenne et la programmation economique nationale dans les pays de la Cee, Firenze, Vallecchi, 1963. Wir verweisen auf das bereits erwähnte Dokument von U. La Malfa, S. 83, wie auch auf die Rede von A. Moro vor dem italienischen Parlament am 12.1. 1963 (I programmi dei governi repubblicani, S. 287). 415 Gerade auf katholischer Seite (beispielsweise von F. Vito, L'economia al servizio dell'uomo) wird die Lenkung des Staates in einem Markt verlangt, der Gerechtigkeit bei der Verteilung der Ressourcen zusichert. Siehe hierzu R. Cafferata, S. 107fT. Diese These wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ausgebaut, so insbesondere von P. Saraceno, Lo Stato e l'economia, in Il congresso di San Pellegrino della Democrazia Cristiana, Roma, Cinque Lune, 1962, sowie vom selben Autor: L'economia dei paesi industrializzati, Milano, Etas, 1970, S.101; sowie La programmazione nell'impresa pubblica, in Versch. Autoren, L'organizzazione dell'economia al servizio dell'uomo, Milano, Comunita, 1963. Dabei soll der Markt als solcher keineswegs ausgeschaltet, sondern wegen der ihm eigenen Unzulänglichkeiten lediglich "gelenkt" werden. So spricht A. Moro in seiner Rede vor dem Parlament am 12. 12. 1963 (I programmi dei governi repubblicani, S. 287) einerseits von der AbschafTung der bestehenden Ungleichgewichte in der Gesellschaftsstruktur, andererseits von der Einführung einer "länger anhaltenden Geldwertstabilität" . Den Staat als Begründer einer Entwicklung im Gleichgewicht sieht A. Ardigo, Classi Sociali e Sintesi politica, in 11 Congresso di San Pellegrino della Democrazia Cristiana, S. 142 -143. 416 R. Cafferata, S. 346fT. 417 R. Cafferata, S. 354, der auf! Congressi della CISL, "Prospettiva sindacale", 1977, hinweist. 418 A. Romagnoli, "Filosofie" per l'impresa a partecipazione statale nell'esperienza italiana, "Rassegna economica" N3, maggio-giugno 1984, S. 629fT. Siehe auch L. Barca,
2. Die Ausfonnung des Konzepts in der Praxis der 60er Jahre
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Die Regierungsparteien drängten nun auf die Erstellung eines Dokuments, das ihre Vorstellungen konkret festlegen sollte. 1963 wurde ein erster Entwurf für einen 5-Jahres-Plan - unter der Leitung des sozialistischen Theoretikers und Ministers A. Giolitti - ausgearbeitet420 • Darin wurden eine drastische Staatskontrolle der Investitionsprogramme, Entballungsmaßnahmen für die hochindustrialisierten nördlichen Landesteile, die Enteignung der Baugrunde usw. vorgesehen. Auf christdemokratischer Seite war man weniger drastisch. Es hatte sich in den Parlamentswahlen von 1963 gezeigt, daß die neue politische Ausrichtung nicht die Zustimmung aller Wähler gefunden hatte: so war der Prozentsatz der christdemokratischen Wähler auf 38% - gegenüber 42% in den Wahlen vom Jahre 1958 - gesunken, wohingegen die liberale Partei ihre Stellung erheblich verbessert hatte 421 • Das mahnte zur Vorsicht. Der Zustand der Vollbeschäftigung hatte die Gewerkschaften zu erheblichen Lohnforderungen ermuntert. Es gab die ersten massiven Streiks. Die zugestandenen Lohnerhöhungen übertrafen erheblich den Produktivitätszuwachs422 • Die bereits 1963 einsetzende Wirtschaftsrezession, die erste nach Kriegsende, mit einer besorgniserregenden Zunahme der Inflation und einem beängstigend hohen Zahlungsbilanzdeftzit veranlaßte die Regierung zu einer Hinhaltepolitik auf der ganzen Linie423 • Entsprechend ging es darum, die Verwirklichung der Programmierungspolitik zu verschieben. Die Aufmerksamkeit wurde zuerst einmal den Konjunktur-Schwierigkeiten und ihrer Überwindung geschenkt. Wir verweisen auf Tabelle 3, aus der hervorgeht, daß sich in den Jahren 19631964 eine Zunahme der Inflationsrate ergab, wohingegen die BSP-Zuwachsrate F. Botta, A. Zevi, 1 comunisti e l'economia italiana 1944-1974, Bari, De Donato, 1975, S. 51 fT. Wie R. Cafferata, S. 365, feststellt, legt die KPI in ihren Stellungnahmen zur Programmierungspolitik das Schwergewicht auf den Staat als "demokratischen Lenker"; siehe hierzu auch G. Napolitano, Movimento operaio ed industria di Stato, Roma, Editori Riuniti, 1962. Hinsichtlich der Linie der CGIL, die die der KPI im wesentlichen widerspiegelt, verweisen wir aufG. Di Vittorio, Azioni e programma della CGIL, "Critica economica" Nr.6, 1951, S. 16fT. 419 F. Fenghi, Programmazione economica ... , in F. Galgano, Trattato ... , S.236fT. weist auf den begriffiichen Gegensatz zwischen kapitalistischer Produktionweise und Wirtschaftsprogrammierung hin. So zitiert er beispielsweise die Schrift von A. Carlo mit dem bezeichnenden Titel ,,11 capitalismo impianificabile" (Matera, Basilicata, 1976). 420 Seine Vorstellungen sind dargelegt in A. Giolitti, Un socialismo possibile, Torino, Einaudi, 1967. Siehe auch: Ministero del Bilancio, La programmazione economica in ltalia, 1967, in dem auch der vom Sozialisten G. Pieraccini ausgearbeitete Plan wiedergegeben ist. 421 Siehe Tabelle 1 in Abschnitt 11.2. 422 Für eine zusammenfassende Beschreibung der damaligen Entwicklung verweisen wir auf G. Podhielski, S. 22, wie auch auf die VeröfTentlichung der OCDE, Italie, 1966, S.5fT. 423 G. Galli, Storia della DC, S. 220.
142
VII. Die italienische Wirtschaftspolitik der 60er und 70er Jahre
rückläufig war. Dieser Konjunktureinbruch wurde von der Öffentlichkeit besonders stark vennerkt. Tabelle 3 Jährliche Variationen von DIP nnd Preisen 1961-1984 Jahr
Jährliche Veränderungen des BIp a)
Jährliche Preisvariationen b)
1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969
8,2 6,2 5,6 2,8 3,3 6,0 7,2 6,5 6,1
2,8 5,8 8,5 6,5 4,2 2,2 2,8 1,7 4,1
1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979
5,3 1,6 3,2 7,0 4,1 -3,6 5,9 1,9 2,7 4,9
6,9 7,2 6,3 11,6 18,5 17,5 18,0 19,1 13,9 15,9
1980 1981 1982 1983 1984
3,9 0,2 -0,5 -0,4 2,6
20,6 18,3 17,6 15,0 10,7
a) zu Preisen von 1970. b) 1970 = 100 Quelle: ISTAT, Annuario di contabilitil nazionale und "Bollettino mensile di statistica".
Auf sozialistischer Seite dachte man daran, den Gewerkschaften für die Haltung der Mäßigung in den Lohnforderungen eine Reihe grundlegender "Strukturrefonnen" anzubieten. Der Notenbankgouvemeur Carli und Schatzminister Colombo waren hingegen der Überzeugung, daß mit den Gewerkschaften und insbesondere mit der CGIL als einer KPI-hörigen Gewerkschaft kein Paktieren möglich sei, und bemühten sich darum, daß die geforderten Strukturrefonnen aufgeschoben würden. Letzten Endes ging es bei der Auseinandersetzung - in die auch die Programmierungspolitik hineingeriet 424 - nicht nur um eine konjunkturpoliti4204-
J. La Pa/ombara, Italy - the Politics ofPlanning, Syracuse, Syr. Univ. Press, 1966.
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sehe Debatte, sondern auch und vor allem um die Ausrichtung des "Centrosinistra": sollte es "gemäßigt und vernünftig" oder "fortschrittlich und radikal" sein? Die Democrazia Cristiana hatte aus wahlpolitischen Überlegungen heraus Bedenken, die Strukturreformen, die teilweise ausgesprochen antikapitalistische Züge aufwiesen, in Angriff zu nehmen, wohingegen die Sozialistische Partei darauf drängte. Stellten sie für diese Partei doch eine Voraussetzung für das Mitziehen in der Koalitionsregierung dar. Auch aufgrund der Rezession gingen die Programmierer daraufhin zu weniger einschneidenden Thesen über, die dann im ersten Wirtschaftsprogramm für die Jahre 1966-70 ihren Niederschlag fanden. Erst im Juli 1967, also mit mehrjähriger Verspätung und nachdem ein Teil der betrachteten Zeitspanne bereits verstrichen war, wurde das Programm als Gesetz vom Parlament angenommen 425 • Es umriß keine ideologische Plattform, noch setzte es offizielle gesellschaftspolitische Ziele, sondern es gab - für die privatwirtschaftlichen Entscheidungsträger unverbindliche - Orientierungsdaten 426 • Der demokratische Charakter der Programmierungspolitik sollte auf jeden Fall gewahrt bleiben 427 • Es läßt sich im wesentlichen als ein ablaufspolitisches Konzept für die normativen Zielvorstellungen betrachten, das nun konkret folgende Zielsetzungen aufweist 428 : die Unterschiede im Pro-Kopf-Einkommen in der Landwirtschaft und den anderen Sparten abzubauen; den "Mezzogiorno" wirtschaftlich zu heben und in seiner Entwicklung dem restlichen Staatsgebiet anzupassen; die Wirtschaft auf die Vollbeschäftigung der Arbeitskräfte hin zu lenken; den Lücken in der Versorgung mit Wohnraum, Schulen, Krankenhäusern in der wissenschaftlichen Forschung usw. zu schließen. Ferner weist das Wirtschaftsprogramm dem öffentlichen Unternehmen und insbesondere den Staatsbeteiligungsfirmen die Aufgabe ZU429, in den Basis- und Dienstleistungssparten sowie in der verarbeitenden Industrie so vorzugehen, daß "sie die gesamte nationale Wirtschaft lenken". Daneben haben sie aber auch marktwirtschaftliche Wettbewerbsbedingungen zu erhalten oder wiederherzustellen430 •
Gesetz vom 27. 7. 1967 Nr. 685. Für einen Kommentar verweisen wir auf M. D 'Antonio, Commento al Programma economico nazionale, Bologna, Cappelli, 1967; sowie aufE. Picozza, Vicende e procedure della programmazione economica, in F. Galgano, Trattato ... , S. 284ff. 427 Dies gilt insbesondere für die Zielprojektionen für die nationalwirtschaftlichen Konten bis 1970. 428 Wirtschaftsprogramm 1966-70, Par. 3. 429 Wirtschaftsprogramm 1966-70, Par. 202. 430 Wirtschaftsprogramm 1966 -70, Par. 3. 425
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Allerdings merkte man diesem Programm an, daß es in Zeiten der Krise erarbeitet worden war. So lassen sich auch Einflüsse eines liberalen ordnungspolitischen Konzepts erkennen. Wurde doch den wirtschaftspolitischen Behörden zur Auflage gemacht, auf jeden Fall die Einhaltung der Geldstabilität und des Gleichgewichts im Staatshaushalt und in den außenwirtschaftlichen Konten zu beachten. Auch die Privatinitiative wird anerkannt und die Entscheidungsautonomie der Sozialpartner bestätigt4Jl. Die Programmierungspolitik war damals noch ein tiefempfundenes Anliegen der Regierungskoalition. Dies ergibt sich schon daraus, daß man der Programmierungspolitik auch institutionelle Träger gab. Ging es doch darum, die Idealvorstellungen der Programmierungspolitik durchzusetzen. Es wurden also neue Organe geschaffen4J2 . Obwohl das Programm mit Gesetzescharakter ausgestattet worden war, blieb seine Wirkungskraft beschränkt4J3 . Weder wurden die vom Programm aufgestellten Richtlinien beachtet noch die Wirtschaftsprognosen eriullt. Am schlechtesten schnitt der Staat ab 4J4 • So stellte G. Ruffolo, als Exponent der Sozialistischen Partei einer der Verfechter der Programmierungspolitik, resigniert fest, die "damit gemachte Erfahrung hat die Schwierigkeiten der Einführung einer geeigneten Haushaltspolitik bzw. kompatibler wirtschaftspolitischer Eingriffe aufgezeigt"4Js. Von den vielen Reformen, die das Programm vorsah und für die zum großen Teil bereits vorgearbeitet worden war, wurden nur wenige - und diese zumeist nur ansatzweise - verwirktlicht 436 • 431 Wirtschaftsprogramm 1966-70, Par. 18 sowie Wirtschaftsprogramm 1966-70, Par. 52. 432 Wir verweisen auf den Par. 20ff. des Wirtschaftsprogramms 1966-70: Es wurden geschaffen (mit Gesetz vom 27.2. 1967 Nr.48): - das interministerielle Programmierungskomitee (CIPE - Comitato Interministeriale per la programmazione economica) - das Ministerium für Staatshaushalt und Wirtschaftsprogrammierung, das aus dem vorhergehenden Ministerium für Staatshaushalt hervorging - das Institut für Studien über die Wirtschaftsprogrammierung (lSPE - Istituto di studi per la programmazione economica) - der regionale Ausschuß für Wirtschaftsprogrammierung (als beratendes Organ). Einen Kommentar zu diesem Gesetz gibt E. Picozza, Vicende e procedure della programmazione economica, in F. Galgano, Trattato ... , S. 274ff. Siehe auch FN 426. 433 Eine kritische Stellungnahme enthält die Veröffentlichung des Ministero deI bilancio, Documento programmatico preliminare, 1971, all. 11: programma 1966-70, obiettivi e risultati, S. 19;-siehe auch M. Salvati, Il sistema economico italiano, Bologna, Mulino, 1975, S. 26. 434 OCSE, !talie, 1972, S. 33ff. 43S G. Ruffolo, Rapporto sulla programmazione, Bari. Laterza, 1973, S. 64ff. 436 F. Peschiera, Conclusioni, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato, vol. 111,1983, S.619ff.
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Ferner wurde dem Programmierungsdokument vorgeworfen, von der Planlosigkeit der Vergangenheit steuere es nun in die Überprogrammierung. Es stelle ein Inventar aller, aber wirklich aller Wünsche und Anliegen dar (bis hin zur Reform des Steuersystems, der Steuerverwaltung, der Gesetzbücher, zur Errichtung von Sportanlagen USW.)437. Ferner weise diese Detailfreudigkeit Widersprüche auf. Zusammengehörendes sei unter verschiedenen Überschriften untergebracht, Verschiedenes im gleichen Kapitel zusammengefaßt. Insbesondere fehle eine zusammenhängende, "organische" wirtschaftspolitische Konzeption, was sich in einem Mangel an Prioritäten bei den vorgeschlagenen Maßnahmen und Aufgaben, wie auch in der Unbestimmtheit der zu ihrer Verwirklichung erforderlichen Instrumente führe. Von den Gewerkschaften wurde es hingegen als zu wenig einschneidend abgelehnt. Über diesem Mißerfolg war den italienischen Planem die Lust am Theoretisierenjedoch nicht vergangen. Vom Bilanz- und Programmierungsministerium wurde Anfang 1969 ein als "Progetto '80" bezeichnetes Grundsatzdokument ausgearbeitet 438 • Es stellt ein bis 1980 und darüber hinaus gültiges gesellschaftspolitisches Konzept in dem Sinne dar, daß darin Richtlinien für den Entwicklungsprozeß der Gemeinschaft vorgezeichnet sind. Es stellt also einen ordnungspolitischen Rahmen für die Gesellschaftspolitik dar. In diesem Sinne werden die wichtigsten Forderungen und Wünsche der italienischen Gesellschaft sowie die für die Zukunft gültigen Antworten einzeln dargelegt. In diesen Rahmen ist die Wirtschaftspolitik als ein Hilfsinstrument zur optimalen Autbringung und Verteilung des Bruttosozialprodukts gestellt. Sie soll die Verwirklichung der "sozialen Projekte", d. h. der Sozialprogramme zur Anhebung des materiellen und zivilisatorischen Standards ermöglichen sowie die Wirtschaftsentwicklung in die gewünschten Bahnen lenken 439 • Aufgrund dieser sozialpolitischen Zielsetzung beansprucht der Staat die totale Wirtschaftsführung. Im Wirtschaftsspiel weist er sich die Aufgabe des Regisseurs und gleichzeitig die des Hauptakteurs zu. So befürwortet das Dokument die Ausweitung des Bereichs der öffentlichen Kontrolle über die Unternehmen durch Ausdehnung der Staatsbeteiligungen und der staatlichen Finanzierung. Damit wird die Funktion des Marktes als Ordnungsfaktor im Wirtschaftsgefüge zwangsläufig zurückgedrängt. Der Unternehmer übernimmt eine Nebenrolle, deren Bedeutung unbestimmt bleibt, so wie auch seine Rolle als Motor im Wirtschaftsgefüge in Frage gestellt wird 440 •
Programm, Par. 32, 33, 34, 35, 38, 152. Offiziell wurde dieses Dokument folgendermaßen benannt: "Rapporto preliminare al Programma economico nazionale 1971 -1975"; es wurde im April 1969 vom Bilanz- und Programmierungsministerium und dann vom Verlag Sansoni in Florenz (1970) veröffentlicht. 439 Ministero dei Bilancio, "Pro getto '80", S. 24. 440 Ministero dei Bilancio, "Progetto '80", S.63. 437
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VII. Die italienische Wirtschaftspolitik der 60er und 70er Jahre
Das "Progetto '80" wurde infolge einer dilatorischen Taktik dem Parlament nicht unterbreitet, obwohl es als Grundlage für das Wirtschaftsprogramm 197175 hätte dienen sollen. Es blieb eine akademische Übung. Die Wirtschaftsprogrammierung verlor jede politische Bedeutung441 • Rückblickend läßt sich feststellen, daß man durch eine staatliche Globalsteuerung der Wirtschaft dem Mangel an Rationalität im wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozeß Einhalt gebieten und die Entscheidungsträger auf einen gemeinsamen Nenner verpflichten wollte. Diese Zielsetzung beruhte jedoch auf der Voraussetzung, daß das Parlament die programmierten wirtschaftspolitischen Richtlinien in konkrete Maßnahmen ummünzen und daß der Verwaltungsapparat die Beschlüsse dann auch rasch und sachgerecht ausführen würde. Diese Voraussetzung war offenbar nicht gegeben 442 • So schoben die Programmierungsideologen den Politikern die Schuld für das Versagen der Programmierungspolitik in die Schuhe443 • Nicht ohne Grund. Das Parlament hatte sich in seinen Entscheidungen nicht daran gehalten und selbst gegen darin enthaltene Richtlinien mit Rücksicht auf Sonderumstände oder aus Tagesopportunismus verstoßen. Wenn letzten Endes ein Teil der zahlenmäßigen Zielprojektionen für das Jahrfünft 1966-70 erreicht worden war, so war dies
441 Die Programmierungsbehörden arbeiteten trotzdem auf der Grundlage der Richtlinien des "Progetto '80" den Entwurf für ein zweites Programm für das Jahrfünft 1971-75 (Ministero deI bilancio, Roma, 1971) aus; seine Richtlinien, obwohl vom Interministeriellen Programtnierungskomitee genehmigt, kamen nicht einmal ansatzweise zur Ausführung (für eine genauere Kenntnis des Inhalts dieses Programms verweisen wir auf G. Podbielski, S. 216ff.). Bezeichnend ist, daß man sich darum bemühte, dem Einwand zu begegnen, es handele sich wieder um eine theoretische Übung tnit dem Charakter einer Fleißarbeit. Um das Programm also konkreter zu gestalten, schuf man zwar einen quantifizierten mittelfristigen Bezugsrahmen, sah aber auch eine ständige Überprüfung der Planlinien durch die Erarbeitung von Jahresplänen und einer kurz- und mittelfristigen Finanzplanung vor. Das Programm wurde also als "historischer Prozeß" verstanden, der im Laufe der Zeit unter Beteiligung der Sozialpartner wächst und reift. Die Hearings von Unternehmern, Gewerkschaften, selbst Vertretern der Verwaltung sollten zu einer ständigen Einrichtung im Rahmen permanenter Ausschüsse werden. Ferner wurde dem Staat vorgeschrieben, insbesondere in zwei Richtungen aktiv zu werden; einmal auf dem Gebiet der Verwirklichung der Sozialaufgaben, zum anderen auf dem der Förderung bestimmter Industriesektoren (Grundindustrie, forschungsintensive Branchen usw.) und Projekte (Rettung der Stadt Venedig, Brücke über die Meerenge von Messina usw.). Es wurden dann auch Spartenprogramme ausgearbeitet (ein Chetnie-Programm, ein Programm für die Elektromechanik usw.). Einen Überblick über die italienische Programtnierungspolitik gibt M. Carabba, Un ventennio di programmazione, Bari, Laterza, 1977. Eine kritische Stellungnahme gibt F. Garella, Interpretazione degli indirizzi costituzionali ... , in M. D'Antonio, La Costituzione econotnica, S. 616ff. Auf die regionale Programtnierungspolitik geht E. Picozza, Vicende e procedure della programmazione econotnica, in F. Galgano , Trattato ... , S. 296ff., ein. 442 B. Bottiglieri, C'era una volta la programmazione, ,,11 sole 24 ore", 8.2. 1981, S.3. 443 G. Ruffolo, Rapporto sulla programmazione, S. 63ff.
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wohl eher dem Zufall, sozusagen einem "Programmversehen", als der Programmierungspolitik und dem Staatseingriff zuzuschreiben 444 • Im parlamentarischen Bereich gab man hingegen der Bürokratie die Schuld: die öffentliche Verwaltung sei veraltet, zu wenig elastisch, zu langatmig, zu kompliziert und verschroben. Tatsache ist, daß Planung und Bürokratie nicht gegenseitig integriert wurden. In der Rückschau bekommen die Programme demnach den Charakter akademischer Übungen. Damit hatte jedoch die Wirtschaftspolitik auch ihren Anspruch auf eine längerfristige Umverteilung der Ressourcen und auf die Auslösung längerfristiger Anpassungsprozesse verloren. Immer gezielter war sie dazu übergegangen, durch kurzfristige konjunkturpolitische Maßnahmen (zur Beschränkung der Kapitalexporte, durch Förderungsmaßnahmen zugunsten von Firmen und Sparten) aufkommenden Ungleichgewichten entgegenzuwirken, auch um die internationale Wettbewerbsfähigkeit von Firmen und Sparten zu erhalten 445 .
3. Die Ausformung des Konzepts in der Praxis der 70er Jahre In der ersten Hälfte der 70er Jahre übten die Gewerkschaften einen erheblichen Druck auf die Ausformung der Wirtschaftspolitik aus 446 • Bereits 1969 waren sie es, die nun massiv auf die Verwirklichung der versprochenen Zielvorstellungen drängten. Mit einer Streikwelle im "Heißen Herbst"447, als es darum ging, die Tarifverträge für die Jahre 1970 -1972 zu erneuern, mobilisierten sie die Wähler aus der Arbeiterschaft, um Druck auf die Regierung auszuüben. Dabei traten sie mit dem Anspruch auf den Plan, Vertreter und Verfechter nicht nur der Arbeiterinteressen, sondern selbst öffentlicher Belange in Gesellschaft und Staat zu sein 448 • Sie sahen sich zu "dialektischer Mitarbeit" am Wirken des 444 So ist es nicht verwunderlich, daß Finanzminister G. Goria im Artikel "Ha 30 anni 10 schema Vanoni" ("Corriere della Sera" vom 29. 12.1984, S. 15) feststellt, ein "Programm" solle nicht eine Aufstellung von Zielen und Instrumenten, sondern lediglich von Verhaltensregeln sein. 445 Dies sind einige Ergebnisse der Studie von G. Rosa "L'aggiustamento dell'industria italiana" (Nr. 46 der Collana di Studi e documentazioni, Roma, SIPI, 1982). 446 Wir verweisen auf die Ausführungen von G. Pirzio Ammassari (Contrattualismo, in M. D'Antonio, La Costituzione economica, S. 536fT.), wonach es in der pluralistischen Gesellschaftsstruktur Interessenvertretungen gibt, die mehr Gewicht als andere haben. Siehe hierzu auch Abschnitt II.2 b. 447 Siehe Tabelle 4 von Abschnitt VII.3. 448 Über die Politik der drei Gewerkschaften in den 60er Jahren gibt das diesbezügliche Kapitel von V. Traverso, Soggetti e politiche delle relazioni industriali in F. Peschiera, Sindacato industria e stato, Vol. III, 1983, S. 165, Auskunft; siehe auch L. Castelvetri, Le relazioni industriali bipolari, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato, vol. III, S. 521 fT.; für eine Zusammenfassung der gewerkschaftlichen Linie in den 70er Jahren verweisen wir aufP. Craveri, La crisi deI sindacato usw., in "Industria Lombarda", Dez. 1984, S. 69-74; siehe zu diesem Thema auch F. Carinci und andere, S. 32fT. und S. 213fT. A. Macchioro
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Staates berechtigt, ja als "freischwebende Gegenmacht zum Staat"44!l. So forderten sie eine Reform des Wirtschafts- und Sozialgefüges durch eine Umorientierung der .Investitionen und der Produktionstätigkeit4SO , um das italienische Modell der Wirtschaftsentwicklung und damit auch der gesellschaftspolitischen Entwicklung abzuändern 4s1 • Sicher ist, daß sich die Gewerkschaften in den 70er Jahren eine Machtfülle zusprachen, die den ihnen von der Verfassung vorgegebenen Rahmen sprengte. Es lassen sich hierzu dieselben Überlegungen anstellen, die mit Bezug auf die Parteien vorgebracht wurden 4s2 ; und zwar, daß der Staat aufgrund eines den (Oggettivismo e soggettivismo negli anni '70, in G. Guizzardi eS. Sterpi, La societä italiana - crisi di un sistema, S. 423) deutet an, daß die Gewerkschaft sich damals als Vertretung der "Klasse aller Arbeiter" habe profilieren wollen und damit den Anspruch erhoben habe, eine Partei zu sein; daß sie jedoch ihr Ziel wegen ihrer unzulänglichen Mittel und ihrer strukturellen Grenzen nicht habe erreichen können. K. von Beyme. Interessengruppen in der Demokratie, S. 75fT., schreibt zu diesem Thema: "Die Gewerkschaften haben sich von ihrem Selbstverständnis als Klassenorganisation her vielfach nicht als Interessengruppe unter anderen verstanden. Vor allem in Kontinentaleuropa haben sie häufig geltend gemacht, daß sie allgemeine Interessen aller Arbeitenden vertreten ... Zum anderen vertreten sie zumindest verbal in ihren Programmen systemtranszendierende Interessen und verstehen sich vielfach als Bannerträger einer kommenden sozialistischen Gesellschaft ... 449 Dieser BegrifT ist dem Einleitungsreferat von Arbeitsminister N. Blüm auf der Vortragsveranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung am 29. 11. 1983 im Wissenschaftszentrum Bonn-Bad Godesberg zum Thema "Die Haltung der Gewerkschaften zur Sozialen Marktwirtschaft" entnommen (siehe Kurzbericht des Forschungsinstituts rur Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb e. V. in Köln). Wie R. Herzog, Das Verbandswesen im modemen Staat, in W. Dettling, S. 70, feststellt, "sind die Verbände dabei, mit staatlicher Duldung, teils auch ohne sie, autochthone Rechts- und Herrschaftsordnungen eines geradezu ständischen Charakters aufzurichten". Siehe auch F. Peschiera e A. V. [zar, Le relazioni industriali tripolari, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato, Vol. III, 1983, S. 603. Über die Stellung der Gewerkschaften in jenen Jahren in Italien und in anderen Ländern siehe C. Crouch e A. Pizzorno, Conflitti in Europa, Lotte di c1asse, sindacati e stato dopo il '68, Milano, Etas, 1977; sowie R. Blanpain, T. Treu, F. Millard, Comparative Labour Law and Industrial Relations, Deventer, Kluwer, 1980. Eine Analyse aus politologischer Sicht des gewerkschaftlichen Vorgehens in Italien gibt P. Fritzsche, S. 135fT. Siehe auch T. Wieser und F. Spotts, S. 160fT. 450 G. Meroni (Sindacati e crisi in Italia e in Europa, Roma, Editrice sind. ital., 1979, S. 59fT.) weist darauf hin, daß diese Ausrichtung die italienische Gewerkschaft von den anderen europäischen Gewerkschaften unterscheidet. So bekämpft die italienische Gewerkschaft im Gegensatz zur deutschen und österreichischen Gewerkschaft das kapitalistische Wirtschaftssystem. Aber sie beschränkt sich nicht darauf, dieses Ziel über die Verwirklichung sozial- und wirtschaftspolitischer Forderungen durchzudriicken (wie dies die französische und die belgische Gewerkschaft tut); noch delegiert sie die Verwirklichung genereller gewerkschaftspolitischer Ziele an die politische Partei, wie dies die englische Gewerkschaft tut. 451 G. Podbielski, Storia dell'economia italiana 1945 -1974, S. 42ff. Siehe auch G. Galli, 11 bipartitismo imperfetto, S. 224, der darauf hinweist, daß gerade die ideologische Komponente zum Erfolg des gewerkschaftlichen Handeins geruhrt hat.
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Tabelle 4 Zahl der Ausstände und verlorenen Arbeitsstunden 1967-1983
Jahr
Zahl der Ausstände
Zahl der verlorenen Arbeitsstunden (in 1000)
1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983
2658 3377 3788 4162 5598 4765 3769 5174 3601 2706 3308 2479 2000 2238 2204 1747 1565
68548 73918 302597 146212 103590 136480 163935 136267 190324 177643 115963 71239 192713 115201 73691 129940 98021
Quelle: Istat, Annuario statistico, verseh. Jahre.
Gewerkschaften zugestandenen von der Verfassung nicht vorgesehenen und deshalb übermäßigen Freiraums zum "Gewerkschaftsstaat" wird 4s3 • Wie sah das damals von der Gewerkschaft angestrebte ordnungspolitische Konzept nun aus? In der gewerkschaftlichen Schau der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Zusammenhänge ist die Arbeiterschaft - und damit die Gewerkschaft als deren offIZielle Vertretung - ein Hauptpfeiler im Gesellschaftsgefüge. Die optimale Selbstentfaltung des arbeitenden Menschen - am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft - stellt dabei den wesentlichen Bezugspunkt dar454 • Die Arbeiterklasse ist für die Gesellschaft bestimmend. So wird die 452 So schreibt U. Romagnoli, La costituzione economica, in F. Galgano, TraUato ... , S. 160, mit Bezug auf die Ereignisse von 1969: "Die Gewerkschaft hält sich für stark, weil sie sich mit einem politischen und institutionellen System konfrontiert sieht, das in der Krise steckt ... Deshalb sieht sich die Gewerkschaft dazu genötigt, alle Probleme unterschiedslos anzugehen, die das Volk ihr übertragen hat ... " 453 Diese Überlegung steht hinter den Worten von P. Barile (I nodi della costituzione, Torino, Einaudi, 1979) "Die Gewerkschaften verhandeln mit dem Parlament" (S. 25) und "sie handeln die Gesetze mit dem Parlament aus" (S. 26). 454 In diesem Sinne ist das von der Gewerkschaft angestrebte Gesetz vom 20. 5. 1970 Nr. 300 zu sehen, das in Italien als "Arbeiterstatut" bezeichnet wird. Es handelt sich dabei um ein Gesetz, das Bestimmungen zum Schutz der Freiheit und Würde des Arbeitnehmers, der Freiheit und Tätigkeit der Gewerkschaft im Betrieb usw. vorsieht. Von den vielen diesbezüglichen Kommentaren erwähnen wir folgende: F. Peschiera e A. V. Izar, Le
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Zugehörigkeit zur Arbeiterschaft innerhalb der Gesellschaft klassenbildend. In diesem Sinne will die Gewerkschaft im sozial- und gesellschaftspolitischen Bereich ihre Machtinstrumente einsetzen. Die Gewerkschaft verband also Richtlinien der marxistischen Doktrin mit dem katholischen Leitbegriff des "Solidarismo". Dadurch wurde ein Zusammengehen der mit der KPI verbundenen CGIL mit der der DC nahestehenden CISL und der der Sozialistischen Partei nahestehenden UIL möglich. Das Konzept eines "Sozialpaktes" auf der Grundlage der Interessengemeinschaft zwischen aufgeklärtem Kapitalismus und Arbeiterklasse - wie es beispielsweise 1970 Fiatchef G. Agnelli skizzierte - wurde abgelehnt 4ss . Nicht der undurchsichtige Kompromiß, der nur die bestehenden Widersprüche in der Gesellschaft und Entwicklung verstärkt, sei anzustreben, sondern die" Transparenz in der Gegenüberstellung", erklärte 1970 der damalige CISL-Sekretär Storti. Die Gewerkschaftsideologen dachten offenbar nicht pragmatisch, sondern dogmatisch. In diesem Sinne wehrten sich die Gewerkschaften auch gegen das Konzept der Partnerschaft und insbesondere gegen jede Form von Mitbestimmung in der Unternehmensleitung; denn diese würde ja letzten Endes eine Mitverantwortung der Arbeitnehmer in der Betriebsführung bedeuten. Prioritäres Mittel zur Verwirklichung der angepeilten wirtschaftspolitischen Ziele ist nicht die kompromißbereite Aussprache, sondern der Kampf. Die Ausstände, Umzüge, Versammlungen usw. sollen nicht nur der Durchsetzung des gewerkschaftlichen Willens dienen, sondern auch eine demonstrative Kraftprobe abgeben. Die Konfrontation - konkreter Ausdruck der gesellschaftskritischen Komponente im gewerkschaftlichen Denken - in allen ihren Formen bis hin zum Streik ist integrierender Bestandteil der Gewerkschaftsstrategie. In den Jahren ab 1969 - dem Jahr des "Heißes Herbstes" mit seiner Explosion an Ausständen - beherrscht der bewußt heraufbeschworene ständirelazioni industriali tripolari, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato, vol. III, 1983, S. 661 ff., der auf den Werdegang und den politischen Hintergrund dieses Gesetzes eingeht. Weitere Stellungnahmen zu diesem Gesetz: Per una politica deI lavoro (verschiedene Autoren), Roma, Edizioni lavoro, 1979; P. Al/eva, I1 campo di applicazione dello Statuto dei lavoratori, Milano, Giuffre, 1980; der Artikel Lo Statuto dei lavoratori, "Prospettive nel mondo", Nr.68, 1982, S. 91; A. Cessari e R. De Luca Tamajo, Dal garantismo al controllo, Milano, Giuffre, 1982, F. Miani Canevari, Guida allo Statuto dei lavoratori, Roma, Buffetti, 1982; N. Crisci, Lo statuto dei lavoratori, Roma, Buffetti, 1983; C. Cester, U nitä produttiva e rapporti di lavoro, Padova, Cedam, 1983; Prospettive di sviluppo dello Statuto dei lavoratori, (verschiedene Autoren), Milano. Giuffre, 1984; T. Treu, Una ricerca empirica su1lo Statuto dei lavoratori negli anni '80, Artikel im "Giornale di diritto deI lavoro", 1984, Nr.23; M. Grandi e G. Pera, Commentario breve allo Statuto dei lavoratori, Padova, Cedam, 1985; F. Carinci u.a., S. 30ff. und S. 116ff. Siehe auch FN 563. 455 In seinem Vortrag im Centro italiano per la conciliazione internazionale dargelegt; siehe "Mondo Economico" vom 24. 6. 1976, S. 35.
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ge Konflikt die Beziehungen zwischen den Sozialpartnern456 • Es ging so weit, daß in der Tagung der Metallarbeiter-Gewerkschaft im Mai 1972 in Bologna die Gewerkschaftsspitzen den Sinn des Tarifvertrages als Instrument zur Wahrung des sozialen Friedens während seiner Gültigkeitsdauer bestritten, insofern als die Gewerkschaft frei sei, auf anderer Ebene - angespielt wird dabei auf die Unternehmensebene - Konflikte vom Zaune zu brechen. Damit hätte das Prinzip, wonach gegenseitig ausgehandelte und gemeinsam unterschriebene Verträge zu beachten sind, seine Gültigkeit verloren 4S7 • Energisch pochten die Gewerkschaften mit ihren sog. "politischen Streiks", die gezielt gegen die Regierung und nicht gegen die Unternehmerschaft gerichtet waren4S8 , auch auf die Verwirklichung sozialpolitischer Postulate. Insbesondere drängten sie auf die Verwirklichung jener Reformen (Sanitätswesen, Schulwesen, Wohnungswesen usw.), die vom Wirtschaftsprogramm vorgesehen und nicht verwirklicht waren 4S9 • So scheuten die großen Gewerkschaften nicht vor der Konfrontation mit den parlamentarischen Institutionen zurück 460 • Andererseits drängten sie sich in den den Parteien vorbehaltenen Raum461 • 456 Verseh. Autoren, Gli anni della conflittualitä permanente, Milano, Angeli, 1976, insbesondere S.128fT., wo darauf hingewiesen wird, daß gerade die ideologische Komponente wesentlicher Bestandteil der Gewerkschaftsforderungen war. 457 Siehe hierzu: (ohne Autor), Sindacati e no, Milano, Ed. Il sole - 24 ore, 1984, S. 22. 458 So beispielsweise der Generalstreik "für die Wohnung" vom 19.11. 1969 (siehe K. von Beyme, Das politische System Italiens, S. 117). Zum "politischen Streik" nimmt U. Romagnoli (La costituzione economica, in F. Galgano, Trattato ... , S. 158 fT.) Stellung. Er weist daraufhin, daß das Verfassungsgericht in seinem Urteil vom 17. 3. 1969 feststellte, "der Streik sei ein Instrument zur Erreichung der wirtschaftlichen und sozialen Ziele, die das Verfassungssystem mit der Notwendigkeit des Schutzes und der Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit verbindet". Damit - so führt U. Romagnoli weiterhin aus - werde der Gewerkschaft auch eine politische Selbständigkeit zugestanden, die sie sozusagen in das Vorfeld der Parteien stellt. Hinsichtlich der Diskussion über das Wesen von Gewerkschaft und Partei verweisen wir auf FN 207 in Abschnitt IH. Zum selben Thema siehe auch M. Salvati, Il sistema economico italiano, Bologna, Mulino, 1976, S. 79. S. Fois, Sindacato e sistema politico, S. 11, prüft insbesondere die Frage, ob es sich um die freie Meinungsäußerung einer "Pressure Group" oder um die Ausübung politischer Macht handelt. Er kommt zum Schluß, daß die zweite Auslegung zutrefTend ist und daß die Machtausübung auf den "politischen Rechten" der Gewerkschaft beruht (S. 5). Der Versuch, die demokratischen Institutionen zu umgehen, wurde selbst von den Parteien der Linken mit Unbehagen gesehen. Siehe hierzu: A. Pizzorno, Lotte operaie e sindacato in Italia, vol. VI, Bologna, Il Mulino, 1978, S.42. 459 Zu dieser "Politik der Reformen" der Gewerkschaften siehe G. Pasquino, Crisi dei partiti e governabilitit, Bologna, Mulino; 1980, S. 130fT. 460 G. Pasquino, Crisi dei partiti e governabilitä. Siehe auch die FN 207. Um über größere Bewegungsfreiheit zu verfügen, traten 1971 die Gewerkschaftsvertreter aus dem Parlament aus. Man wollte keine politische Mitverantwortung mehr, sondern durch die "demokratische Gegenüberstellung zu den Parteien" größeren Aktionsspielraum (K. von Beyme, Das politische System Italiens, S. 116).
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Um ihrem Auftreten mehr Nachdruck zu verleihen, schufen sie 1971 ein einheitliches Sekretariat. Unter dem Motto "Einheit macht stark" sollte ihr Wirken koordiniert werden. Ja, man sprach selbst von der Schaffung einer Einheitsgewerkschaft462 • Die Confindustria als Vertretung der wichtigsten Arbeitgeberinteressen sah sich an die Wand gedrängt 463 • Ende der 60er Jahre paßte sie ihre Vorstellungen denen eines "progressiven Kapitalismus" an und verankerte sie in einer neuen Satzung464 • Sie wollte dadurch zum Ausdruck bringen, daß sich der Standort der Unternehmerschaft in der italienischen Gesellschaft gewandelt hatte. Insbesondere ging es ihr darum, in der Öffentlichkeit das marxistisch vorgeprägte Bild des Unternehmers als dem "ausbeutenden Kapitalisten" auszulöschen 465 • Er sollte 461 Wie P. Barile (I nodi della costituzione, Torino, Einaudi, 1979, S. 25) feststellt, maß sich die Gewerkschaft das Recht an, mit dem Parlament zu "verhandeln" und die Gesetze "auszuhandeln" (S. 26). 462 Wie F. Mortil/aro (L'ombra dei patto sociale, "Relazioni industriali", Nr. 4, 1984, S. 181) feststellt, vereitelte - bezeichnenderweise - die CGIL durch ihre starre Haltung das Zustandekommen der Einheitsgewerkschaft. Was seiner Ansicht nach auch bestätigt, daß die kommunistische Partei ihrer Gewerkschaft keinen ideologischen Freiraum zugestehen will. Über die Schwierigkeiten bei der Schaffung des "Bündnisses" unter den Gewerkschaften berichtet S. Turone, S. 456ff. 463 P. Ferraris, La Confindustria e la costruzione dell'ordine sociale, in "Fabbrica e Stato", Mai-Juni 1972, 3. Band, S. 20. Weitere Bibliographie ist in der Studie von G. Pirzio Ammassari, Studi sull' imprenditoria italiana, S. 8, enthalten.
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darauf zu verweisen, daß zwar die Zunahme der Ausgaben erheblich war,jedoch der der anderen hochindustrialisierten OCSE-Länder entspricht. So betrugen Mitte der 60er Jahre die Ausgaben rund 36% des BIP der europäischen Länder UK, Frankreich und BRD; und 25-30% in Japan und den USA. Ende der 70er Jahre waren sie bei 45% in den genannten europäischen Ländern angelangt und bei 39% in den anderen beiden Ländern. Dieser Parallelismus ist jedoch nicht auf der Einnahmenseite anzutreffen. In den 70er Jahren stiegen in den genannten Ländern Gesamteinnahmen und -ausgaben einigermaßen gleichmäßig, so daß die öffentlicheR Finanzdefizite auf einem annehmbaren Niveau gehalten werden konnten. Dies war in Italien nicht der Fall. Dort blieben die Einnahmen in der ersten Hälfte der 70er Jahre hinter denen der anderen vergleichbaren Länder zurück 579 • In der zweiten Hälfte der 70er Jahre stiegen zwar die Steuereinnahmen parallel zu den Ausgaben, aber bei der Größe des aufgelaufenen Defizits war der Zinsendienst so beschwerlich, daß er die Staatsfinanzen zusätzlich belastete. Die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben klaffte also weiter auseinander oder, anders ausgedrückt, erhöhten Einnahmen standen jeweils noch höhere Ausgaben gegenüber 580 • c) Die Politik der Verstaatlichung In Abschnitt IV.5 wiesen wir darauf hin, daß wesentlicher Bestandteil eines sozialistischen Konzepts die Zielvorstellung eines ausgedehnteren Vermögensausgleichs ist. So wurde dem Staatsunternehmen besondere Bedeutung beigeStaatsverwaltung auf die Budgetmaximierung hinarbeitet; siehe hierzu auch F. Lehner, S.113ff. und B.S. Frey, Theorie demokratischer Wirtschaftspolitik, S.156ff. Wir verweisen ferner auf U. Widmaier, Politische Gewaltanwendung als Problem der Organisation von Interessen, Maisenheim am Glan, Hain, 1978, sowie auf A. Peacock and J. Wiseman, The Growth of Public Expenditure in the UK, Oxford University Press, London, 1961, mit ihrer Theorie des "displacement effeet", wonach die politische Einstellung der Bürger für die Bürokratie und den Staatshaushalt ausschlaggebend ist, wie überhaupt die Beziehung zu den politischen Institutionen vor allem in einer Demokratie als entscheidender Faktor herangezogen werden kann. Womit diese Erklärungen in den Bereich der Politologie fallen. Für eine kritische Untersuchung dieser Theorien (mit einschlägigen bibliographischen Angaben) verweisen wir auf R. Montelatici, La spesa pubblicain Italiaenel Regno Unito dal1960 al 1980, "Economia pubblica", Nr.1/2, 1984. Der Autor kommt zum Schluß, daß die letzterwähnte Theorie am ehesten die Zunahme der öffentlichen Ausgaben erklärt, und zwar für die Einkommensüberweisungen, die den überwiegenden Teil der öffentlichen Ausgaben ausmachen; daß aber auch die Theorien von Baumol und die von Wagner empirisch verifizierbar sind. L. Bernardi, S. 98, unterstreicht, daß auch wirtschaftlich-konjunkturelle Faktoren zum Defizit der italienischen öffentlichen Hand beigetragen haben. 579 Siehe hierzu: M. Baldassarri, S. 45, F. Reviglio, S. 90 sowie L. Bernardi, S. 87ff. und A. Majocchi, 11 disavanzo pubblico in Italia, S. 18ff. 580 E. Gerelli im Artikel"I tre stadi deI deflcit pubblico" im,,11 sole - 24 ore" vom 11. 6. 1983.
4. Die Ablaufspolitik: Hauptbereiche, Ergebnisse und Wertungen
185
messen 581 • In Abschnitt VII.4 a, sind wir auf die Rolle des Staatsunternehmens und insbesondere des Staatsbeteiligungsunternehmens als Werkzeug zur Schaffung von Arbeitsplätzen im Zeichen der Programmierungspolitik eingegangen. In diesem Abschnitt wollen wir hingegen die Politik der Nationalisierung der Privatunternehmen und ihre Einverleibung in den staatlich kontrollierten Bereich als Ablaufspolitik zum ordnungspolitischen Anliegen des Vermögensausgleichs kurz untersuchen. Der Beginn der Regierung des "linken Zentrums" fallt mit der Nationalisierung der stromerzeugenden Industrie zusammen 582 • Als es 1963 um die Erneuerung der Staatskonzessionen für die Stromerzeugung ging, beschloß das Parlament die Zusammenfassung der nationalen Stromerzeugung im staatlichen Ente Nazionale per l'Energia Elettrica (ENEL)583 . Diese wirtschaftspolitisch bedeutsame Entscheidung war sozusagen das Pfand, das damals die Democrazia Cristiana für das offIzielle Ausscheren der Sozialistischen Partei aus dem Fahrwasser der Kommunistischen Partei und zum Eintritt in die Regierungskoalition gewährt hatte. Sie sollte Zeichen für den Kurs setzen, den man einschlagen wollte. Es handelte sich also um einen demonstrativen politischen Akt, der der Öffentlichkeit die Wende im wirtschaftspolitischen Konzept vor Augen führen sollte. Die Nationalisierung der elektrizitätserzeugenden Industrie wurde von der konservativen Wählerschaft als Schlag ins Gesicht der italienischen Wirtschaft und insbesondere der Industrie empfunden. Die liberale Partei und die Confindustria protestierten laut 584. Sie führte zu einer nicht unerheblichen Verunsicherung der den Unternehmen nahestehenden politischen Kreise, was die Regierungsparteien zur Vorsicht mahnte. In der Folge sollte eine solch eklatante Vorgangsweise nicht mehr zur Anwendung kommen. Auch wurde die verstaatlichungspolitische Linie in keinem otTtziellen wirtschaftspolitischem Konzept fixiert. Gerade das Wirtschaftsprogramm 1966-70 sagte zu diesem Problemkreis nichts aus. Ganz im Gegenteil erkannte es die unternehmerische Initiative und Entscheidungsfreiheit voll an und sprach keineswegs von einer Ausdehnung der Staatsunternehmen 585 • Was letzten Endes selbst als logischer Widerspruch zu einer programmierten Wirtschaftspolitik, die sich um geographische und spartenmäßige Investitionssteuerung bemüht, betrachtet werden kann. Wenn die "Mäßigung" auch als eine Reaktion auf die Kritiken an der bereits erfolgten Nationalisierung der elektrizitätserzeugenden Industrie angesehen Für eine Definition des Staatsunternehmens siehe Abschnitt VII.4 a. Mit Gesetz vom 6. 12. 1962 N. 1643. 583 G. Galli, Storia della DC, S. 219. 584 Eine Kritik an der Nationalisierung der elektrizitätserzeugenden Industrie übte F. Mattei (Quarantanni usw., S. 170fT.). 585 Wirtschaftsprogramm 1966-70, Par. 18. 581
585
186
VII. Die italienische Wirtschaftspolitik der 60er und 70er Jahre
werden kann, die die Politiker zur Vorsicht gemahnt hatte, läßt sich nicht leugnen, daß der Gedanke des Vermögensausgleichs in der Form der Nationalisierung weiter im Raum stand. Hatte er doch bereits seit den 50er Jahren in der italienischen Wirtschaftspolitik Eingang gefunden und war immer wieder aufgeflackert 586 • In den anschließenden Jahren wurde die Politik der Verstaatlichung nicht "programmatisch" geführt, sondern ergab sich aus der Praxis der Schaffung ständig neuer Auflagen zu Lasten der Unternehmer. Die Unternehmensbelastung ergab sich auf vielfältige Weise: durch Erschwerung der Möglichkeit, Überstunden zu verlangen, durch Abschaffung der Teilzeitarbeit und der betrieblichen "Mobilität" der Arbeitskräfte, also der Möglichkeit, den Arbeitnehmer von einem Arbeitsplatz zum anderen zu verschieben sowie durch Anhebung der Löhne besonders in den unteren Lohnkategorien 587 • Massiv wurde die Forderung nach "Humanisierung des Arbeitsplatzes" gestellt 588. Immer lauter wurde der Ruf nach Ausbau der Sozialgesetzgebung, selbst wenn dies zu Lasten der Unternehmen erfolgen sollte. Es kam das Gesetz Nr. 300 im Jahr 1970, das sog. "Arbeiterstatut", das die Rechte der Arbeitnehmer weitgehend ausdehnte und verbriefte und soweit ging, daß es deren Entlassung praktisch verunmöglichte. Aufgrund all dieser Auflagen fand eine erhebliche Abnahme des Kassenflusses vor allem der größeren Firmen, die wegen ihrer Dimension weniger elastisch und weniger anpassungsfähig waren, statt, die deren Unterkapitalisierung verstärkte 589 • Wir verweisen auf Tabelle 11.
Siehe Abschnitt VI.3. Wie verweisen in diesem Zusammenhang auf A. Pizzorno, Lotte operaie e sindacato in Italia (1968-1972), vol. VI, Bologna, Mulino, 1978, S. 7ff. Die Belastung der Firmen gerade durch die Sozialversicherungen wuchs derart an, daß sich der Gouverneur der Banca d'Italia bemüßigt fühlte, dieses Vorgehen zu kritisieren (siehe den Bericht der Banca d'Italia für das Jahr 1977, S. 401). 588 Hinsichtlich der Fehlzeiten vertraten beispielsweise die Gewerkschaften die These, sie seien die Reaktion auf ungünstige psychologische Arbeitsbedingungen, auf "Entfremdung" und "Frustration". Die Arbeit am Fließband könne dem italienischen Arbeiter, der inzwischen ein. höheres kulturelles Niveau mit einer neuen Lebensmoral verbinde, nicht mehr zugemutet werden. Man müsse ihn am Arbeitsplatz auch geistig ansprechen, indem man ihn am Produktionsprozeß in seiner Gesamtheit und an dessen Entscheidungen beteilige. Krankheitskontrollen nützten also wenig oder nichts. Zur Problematik der "Humanisierungdes Arbeitsplatzes" siehe C. Stanzani, Contro la nocivitä deli' ambiente di lavoro, CISL, Documenti Nr. 22; sowie M. Maurice, Politiche sindacali per il miglioramento delle condizioni di lavoro, in Annuario dei Centro Studi CISL, Nr. XI, 1974, S. 105. 589 Bericht der Banca d'Italia für das Jahr 1982, S. 401. P. Sylos-Labini, Il ruolo delle imprese pubbliche nel recente sviluppo dell'economia, (in "Economia pubblica", Nr. 1- 2, 1984, S. 9) weist auffolgendes hin: das Großunternehmen tut sich schwer, dem Druck der Gewerkschaften und der Steuer zu entgehen; es ist beschränkenden Vorschriften in der Preisgestaltung besonders leicht zu unterwerfen. 586
587
4. Die Ablaufspolitik: Hauptbereiche, Ergebnisse und Wertungen
187
Die Bilanzen gerieten in die roten Zahlen. Die Folge war eine erhebliche Zunahme der Bankverschuldung - "die Falle der Verschuldung" S90 - die dann aufgrund der hohen Zinsbelastung das Rad der Verschuldung weiterdrehte S91 . Die Abhängigkeit der Unternehmen von den Banken und von den Finanzmärkten nahm zu, die unternehmerische Kapitalbildung ab. Tabelle 11 Brutto- und Nettogewinne einer Gruppe von 202 italienischen Unternehmen der verarbeitenden Industrie (in Milliarden Lire) 1963-1980
Jahr
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980
89,1 90,1 123,2 143,8 140,1 158,1 82,5 49,3 -92,6 -390,3 221,2 90,8 -269,7 -78,2 -583,4 -643,2 64,6 -611,6
315,4 336,3 361,5 414,2 421,1 489,0 539,3 603,2 619,3 950,4 843,8 1141,6 1231,3 1596,4 1769,6 1962,3 2292,1 2535,5
76,5 52,5 60,0 55,4 47,3 52,5 99,9 148,2 126,4 151,8 260,0 423,4 470,8 516,6 284,5 317,4 623,1 408,8
481,0 478,6 544,7 613,4 608,5 699,6 721,7 800,7 653,1 711,9 1325,0 1655,8 1432,4 2034,8 1470,7 1636,5 2979,8 2332,7
165,6 142,3 183,2 199,2 187,4 210,6 182,4 197,5 33,8 -238,5 481,2 514,2 201,1 438,4 -298,9 -325,8 687,7 -202,8
Bilanzgewinne + Vermögenszunahmen Amortisierung Zunahme der Abfertigungsgelder Bruttogewinne = (1) + (2) + (3) Nettogewinne = (4) - (2) Quelle: Bericht der Banca d'Italia für das Jahr 1980, S. 310.
(1) (2) (3) (4) (5)
Durch die Finanzschwierigkeiten wurde auch das Problem der Produktionsund Investitionsfinanzierung immer gravierender. Wir verweisen auf die anschließende Tabelle 2 über die Selbstfinanzierungsraten der italienischen 590 E. Filippi: Imprese e inflazione: considerazioni sulla politica industriale italiana dell'ultimo decennio, "L'Industria", luglio-settembre 1983. Siehe auch die Schlußfolgerungen des Gouverneurs der Banca d'Italia zum Jahresbericht für das Jahr 1971, S. 360. 591 Nach E. Filippi, S. 356 ff., war die Gewinnschrumpfung hingegen nicht die Folge der Zinsbelastung und ab 1976 auch nicht mehr der Arbeitskosten; sondern vor allem der Verspätung, mit der die Industrie die Innovation übernahm und in den Preisen niederschlug sowie in der unzulänglichen Wertschöpfung.
188
VII. Die italienische Wirtschaftspolitik der 60er und 70er Jahre
Firmen 592. Zum Vergleich fügen wir auch die Zahlen über die Selbstfinanzierungsraten in Frankreich, der BRD und Holland bei 593. Wenn die erhobenen Zahlen aufgrund der Unterschiedlichkeit in der Zusammensetzung der Unternehmensgruppen auch zu Bedenken Anlaß geben können, scheinen sie doch ausreichend, um ein Bild der betrieblichen Finanzrealität in diesen Ländern zu vermitteln. Tabelle 12 Selbstfinanzierungsrate in der italienischen Verarbeitungsindustrie 1959-1970
Jahr
Brutto in % der betrieblichen Bruttoinvestitionen (unter Berücksichtigung der Variationen in der Lagerhaltung)
Netto in % der betrieblichen Nettoinvestitionen
betr. eine Gruppe von 226 Unternehmen der Vorarbeitungsindustrie a) 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970
73,4 61,8 49,8 36,7 34,1 40,9 65,7 70,5 53,8 82,8 63,8 34,1
41,7 37,4 29,0 12,3 7,5 6,5 21,4 25,1 13,3 43,0 17,5 4,9
betr. eine Gruppe von 426 Unternehmen der Vorarbeitungsindustrie b ) 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981
32,1 47,7 73,5 46,2 37,5 57,0 35,4 51,4 57,9 43,7 37,2
-
53,0 22,5
-
18,8
-
22,5 7,9
-
a) Banca d'Italia, Bericht für 1975, Anhang S. 125. b) Banca d'Italia, Bericht für 1982, Anhang S. 134. 592 G. Panati, Crisi dei profitto e dell'autofinanziamento nell'industria italiana, "Bollettino di economia e politica industriale", Nr. 2, 1973, S. 38. Die CGIL sprach vom "Ende der Selbstfinanzierung" als notwendiger Voraussetzung für eine Investitionsprogrammierung: siehe Osservazioni al rapporto Saraceno, a cura della CGIL, in Ministero dei bilancio, La programmazione economica in Italia, Roma, 1976, III, S. 64. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf A. Prodi, Si sterna industriale e sviluppo economico
4. Die Ablaufspolitik: Hauptbereiche, Ergebnisse und Wertungen
189
Aus den Statistiken ergibt sich, daß in Italien die Nettoselbstfinanzierungsrate, abgesehen von den Krisenjahren 1963 und 1964, ab 1970 erheblich rückläufig und in verschiedenen Jahren selbst negativ war 594 . Es läßt sich ferner feststell~n, daß vor allem ab 1969 die Nettoselbstfinanzierung in Italien unter der in den anderen untersuchten Ländern lag (siehe Tabelle 13)595. Tabelle 13
Selbstfinanzienmgsraten in Untemehmensgruppen in Frankreich, BRD und Holland 1967-1974 Jahr
Brutto in % der betrieblichen Bruttoinvestitionen (einschließlich Änderungen in der Lagerhaltung)
Netto in % der betrieblichen Nettoinvestitionen
Zum Vergleich: 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974
81,6 82,9 80,8 63,4 62,7 54,8 80,6 54,2
1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974
130,6 148,1 76,7 60,6 79,4 133,1 119,9 94,0
1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974
119,3 169,6 113,4 72,4 168,5 269,5 155,8 92,3
Frankreich (70 Unternehmen)
31,0 34,9 54,9 31,9 35,8 13,8 51,9 33,7
BRD (58 Unternehmen) 53,3 28,4 38,5 174,8 86,5 Holland (66 Unternehmen)
237,7 147,3 58,3 193,4 88,4
Quelle: Bericht der Banca d'Italia rur das Jahr 1975, Anhang, S. 126.
in Italia, ,,11 Mulino", Nr. 226, 1973; sowie A. Graziani, Crisi e ristrutturazione dell'economia italiana, Torino, Einaudi, 1975. 593 Siehe auch Tabelle 28 dieses Abschnitts. 594 Siehe auch Tabelle 31 dieses Abschnitts.
190
VII. Die italienische Wirtschaftspolitik der 60er und 70er Jahre
1974 schlug im Unternehmensbereich (ohne Finanzkörperschaften) das Sparaufkommen von positiv auf negativ um. Es war ein Jahr der Wende für viele Betriebe aufgrund der zunehmenden Unternehmensbelastung und der Schwierigkeiten, die die Erdölverteuerung hervorgerufen hatte 596 • Die "Linie der Feindseligkeit" gegenüber dem Privatunternehmen führte auch dazu, daß der Staat die Finanzierungsmöglichkeiten der Firmen immer mehr einengte 597 , die - wie auch die damit getätigten Investitionen - der Programmierungskontrolle entzogen sind. So wurde die Aktienemission aufgrund vielfacher Besteuerung zur teuersten Finanzierungsquelle 598 • Aber auch die Ausgabe von Obligationen wurde steuerlich belastet. Der Zugang zum Kapitalmarkt durch Börsenquotierungen wurde zudem durch buchhalterische und steuerliche Auflagen erschwert 599 • Die Firmen wurden also dazu genötigt, immer stärker auf den Bankenkredit auszuweichen, wenn sie ihren Bedarf an Investitionskapital decken wollten 600. In den 70er Jahren ergab sich infolgedessen eine erhebliche Zunahme des Bankenkredits gemessen am BIP: von 13,9% im Jahre 1970 auf 26,8 % im Jahre 1975, auf 22,4% im Jahre 1978, um dann allerdings auf 18,6% im Jahr 1980 zu sinken. Im selben Zeitraum ergab sich eine Wende in der Verteilung dieses Kreditvolumens: 1970 wurden davon 65% dem Privatsektor übertragen, wohingegen 35% dem öffentlichen Sektor zugute kamen. 1981 war das Verhältnis umgekehrt (siehe Tabelle 14); woraus sich auch der Schluß ziehen läßt, daß die ständige 595 Zum Thema "Krise der Industrie" verweisen wir auf C. Scognamiglio, Crisi e risanamento dell'industria italiana, Milano, GiufTn:, 1979. 596 Siehe Tabelle 38 diese Abschnitts, sowie G. Podbielski, S. 69. 597 Im Bericht der Banca d'Italia für das Jahr 1972, S. 379fT. verweist der Gouverneur beispielshalber auf Gesetz vom 22. 10. 71, N. 865, Art. 27: "Bei der Ansiedlung von Betrieben ... wird den Anfragen von öfTentlichen Körperschaften und Staatsbeteiligungsfirmen der Vorzug gegeben". Siehe auch R. Cafferata, S. 338. 59B G. Podbielski (S. 70). Der Gouverneur der Banca d'Italia spricht in seinen Schlußfolgerungen zum Bericht für das Jahr 1976 (S. 404) von "steuerlicher Diskriminierung des Risikokapitals" zugunsten der (geförderten) Verschuldung. In diesem Zusammenhang läßt sich auch verweisen auf: M. Onado, Il sistema finanziario italiano, Bologna, Mulino, 1980, sowie aufG. Amata, Il governo dell'economia, in F. Galgano, Trattato ... , S.227. 599 Wie R. Cafferata, S. 237, feststellt, wurde den kleinen und mittleren Unternehmen der Zugang zum Kapitalmarkt praktisch verwehrt; hierzu siehe auch M. Massari, La media impresa in Italia, Milano, Isedi, 1977. 600 F. Tantazzi, Il finanziamento degli investimenti, " L'industria" , Nr. 1-2, 1972, S. 17fT. Gleichzeitig wurde der Förderungskredit ausgebaut; der Notenbankpräsident G. Carli hatte allerdings im Jahresbericht für das Jahr 1966 (S.352) schon geklagt, die privaten und öfTentlichen Unternehmer würden von der Überzeugung ausgehen, sie hätten ein "Recht auf den geförderten Kredit"; dabei sei zu bedenken, daß man damit lediglich wettbewerbsschwache Unternehmen unterstützt, aber den Fortschritt bremst. Siehe hierzu auch R. Cafferata, S. 228 fT.
4. Die Ablaufspolitik: Hauptbereiche, Ergebnisse und Wertungen
191
Kapitalnachfrage des öffentlichen Sektors die der Produktivwirtschaft einengte; was sich in einem Anziehen der Zinssätze niederschlug und letzten Endes in einem Rückgang der Investitionen mündete(j(Jl. Tabelle 14 Aufteilung des gesamten Binnenkredits der Banken 1970-1981
Jahre
1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981
an den öffentlichen Sektor
Gesamter Binnenkredit
an den Privatsektor
(1)
(2)
(3)
(1)
(2)
(3)
(1)
(2)
(3)
2800 4800 6700 10700 11700 19700 18782 20037 34189 31082 35447 46748
4,8 7,7 9,7 13,0 11,5 16,5 12,0 10,5 15,4 11,5 10,5 11,7
34,7 41,4 44,5 51,2 60,0 61,6 56,4 57,0 68,7 58,8 56,3 63,8
5271 6790 8371 10197 7799 11824 14498 15137 15604 21765 27568 26512
9,1 10,8 12,1 12,3 7,7 10,3 9,1 8,0 7,0 8,1 8,1 6,7
65,3 58,6 55,5 48,8 40,0 38,4 43,6 43,0 31,3 41,2 43,7 36,2
8071 11590 15071 20897 19499 30824 33280 35174 49793 52847 63015 73260
13,9 18,4 21,8 25,3 19,2 26,8 21,2 18,5 22,4 19,6 18,6 18,4
100 100 100 100 100 100 100 100 100 100 100 100
(1) In absoluten Werten in Milliarden Lire. (2) In % vom BIP. (3) In % vom gesamten Binnenkredit. Quelle: M. Baldassarri, S. 67. Es sei in diesem Zusammenhang erwähnt, daß die Unternehmen auf diese Strategie des Staates unterschiedlich reagierten. Während die kleinen Firmen allen mit dieser Politik verbundenen Schwierigkeiten voll ausgesetzt waren und schauen mußten, wie sie überleben konnten, reagierten anfangs die Großfirmen bis zu einem gewissen Grad positiv auf diese wirtschaftspolitische Linie 602 • Sie forcierten ihre Anlage- und Forschungstätig601 R. Masera, Disavanzo pubblico, creazione di attivitä finanziaria e politica monetaria, "Rivista bancaria Minerva bancaria", 1984, Nr. 3, S. 120ff. 602 Die kleineren Firmen, die auf eine ausgedehnte Förderungsgesetzgebung zählen konnten, sahen sich trotz allem zu einer vorsichtigen Verhaltensweise genötigt; zumal wenn sie nur über karge Kapitalpolster verfügten. Mit Rücksicht auf das Bilanzgleichgewicht mußten sie kurzfristig disponieren, selbst wenn ihnen eine höhere Einsicht eine längerfristige Schau bei ihrer Vorgangsweise hätte nahelegen müssen. Die Folge war eine weitgehende Abhängigkeit der Firmenpolitik von der Konjunkturphase. Sind die kleineren Firmen doch sowohl einem Nachfragerückgang als auch plötzlichen Kostenerhöhungen - beispielsweise infolge der Erneuerung von Tarifverträgen - voll ausgesetzt. So blicken sie jeweils gespannt auf das Gewinn- und Verlustkonto, dessen Saldo zum erbarmungslosen Richter über ihre Effizienz und ihren Fortbestand wird. Im Bericht der
192
VII. Die italienische Wirtschaftspolitik der 60er und 70er Jahre
keit, um sich für die Zukunft eine sichere Ausgangsstellung mit Monopol- oder zumindest mit ausgeprägtem Oligopolcharakter zu erkämpfen. Dadurch, daß sie die Investitionen auf die voraussehbare künftige Nachfrage abstellten, steckten sie sich mittel- und langfristige Ziele. Ihr Expansionsprozeß erfolgte also unabhängig von der Höhe der firmeninternen Kapitalbildung und wurde allein durch das zur Verfügung gestellte Fremdkapital bestimmt. Wobei der Staat dafür sorgte, daß es reichlich floß. Sie trieben also eine bewußte Verschuldungspolitik; ihre Logik war die des "Deficit spending". Dadurch, daß sie ihre Entwicklung unabhängig von den kurzfristig vorsehbaren Gewinnen programmierten, hatte das Konjunkturgeschehen relativ wenig Einfluß auf ihre Firmenpolitik. Bei den Staatsbeteiligungen gingen die Dinge selbst soweit, daß sie gezielt antizyklisch handelten. Sie steckten mit ihrer Investitionstätigkeit im Falle der Konjunkturabschwächung erst dann zurück, als selbst die großen Privatfirmen ihre Anlageprogramme unter dem Druck der abflauenden Wirtschaftsentwicklung zurückschraubten, als also die Konjunktur das "Tal" bereits erreicht hatte. Entsprechend hinkten sie auch nach, als es darum ging, die Investitionstätigkeit wieder auszudehnen C503. Andererseits bestand - insbesondere bei den privaten Großunternehmen die Tendenz, die Automation und die Firmenrationalisierung im Hinblick auf eine größtmögliche Personaleinsparung vorwärts zu treiben. Der Prozeß der Beschneidung der Eigenkapitalbildung führte dazu, daß ein Teil der privaten Unternehmen es nicht mehr schaffte. Die Verstaatlichung dieser Unternehmen wurde dann aus sozialpolitischen Grunden ("zur Erhaltung der Arbeitsplätze") zu einem Gebot der Stunde. Eine Reihe von größeren Konkursbetrieben wurden zu Staatsbeteiligungsunternehmen-. Eine weitere Folge der Aushungerungspolitik der Firmen war der Verkauf an ausländische Unternehmen: allein von 1965 auf 1971 stieg der Anteil der Auslandsinvestoren am italienischen Firmenkapital von 15,3 auf 20%605. Ließ sich diese Entwicklung rechtfertigen? Zu einer ideologischen kam auch eine soziale Begründung: so ging es darum, Konkursbetriebe am Leben zu erhalten, um ihren Beschäftigten einen Arbeitsplatz zu erhalten. 1974 wurde die Banca d'Italia für das Jahr 1971 (S.363) wird von einem "Strukturwandel" der italienischen Wirtschaft gesprochen. 603 P. Sylos-Labini, 11 ruolo delle imprese pubbliche nel recente sviluppo dell'economia italiana, "Economia pubblica", Nr. 1-2, 1984, S. 6. 604 Für viele seien die Firmen Alemagna, Motta, Leboie, Agusta und Liquigas erwähnt. 605 L. Prati, Italia malata, Milano, Mursia, 1973. Als Beispiel seien die Firmen Negroni, Cirio aus dem Lebensmittelbereich genannt sowie die Firmen Zambeletti und Pierrel aus dem pharmazeutischen Bereich ("Corriere della Sera" vom 30.6. 1984, S. 12, 11 grande sbarco del capitale straniero).
4. Die Ablaufspolitik: Hauptbereiche, Ergebnisse und Wertungen
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Staatsholding GEPI (Gestioni e Partecipazioni Industriali) mit dem Ziel gegründet, die Konkursbetriebe aufzukaufen und zu sanieren 606 • Daneben wurden auf Regionalebene mit öffentlichem Kapital Finanzierungsinstitute gegründet, die den notleidenden Firmen durch Aufkaufvon Beteiligungen und Kapitalspritzen unter die Arme greifen sollten. Am Ende der Sanierungsaktion sollten die Betriebe wieder dem Markt übergeben werden. Gemeinsam ist den beiden Initiativen - GEPI und Finanzierungsgesellschaften - das Eindringen in privatwirtschaftliche Strukturen. Das System der Staatsbeteiligungen wurde ausgeweitet 607 • Es sei in diesem Zusammenhang auch auf die widersprüchliche Einstellung des Staates zum Staatsunternehmen hingewiesen. So betrachtete er es einerseits als Instrument der Wirtschaftspolitik, begünstigte es durch die Gewährung von MonopolsteIlungen und gab ihm die Gewißheit, daß es nicht in Konkurs geraten konnte. Zum anderen betrachtete er es auch in seiner Eigenschaft als Unternehmen und unterwarf es - wie die anderen Unternehmen auch - den sozialpolitischen Auflagen. Aber er belastete es zusätzlich. Lastete er ihm doch auch Aufgaben auf, die rein politischen Erwägungen und Zielen dienen sollten; so beispielsweise, wenn diese Aufgaben nur den Zweck hatten, den Konsens unter den Parteien herbeizuführen 608; oder wenn es zu unwirtschaftlichen Investitionen gezwungen wurde: zur Schaffung von Arbeitsplätzen in Süditalien, zur Übernahme von konkursreifen Privatunternehmen im Hinblick auf die Rettung der Arbeitsplätze 609 • Die Einstellung der Staatsbeteiligungsunternehmen zu dieser Vorgangsweise war nicht einheitlich. Auf der einen Seite verlangten sie, die daraus erwachsen-
Mit Gesetz vom 22. 5. 1971 Nr. 184 Art. 5. Es werden weitere Staatsbeteiligungskomplexe geschaffen, und zwar das: - EGAM (Ente per la gestione delle aziende minerarie) mit Schwergewicht auf dem Bergwerkssektor, dessen Satzung mit Dekret des Präsidenten der Republik vom 7. 5. 1958 Nr. 574 angenommen wurde; es wurde aufgelöst mit Gesetz vom 6. 6.1977 Nr. 267. - EGIGC (Ente di gestione per il cinema) mit Schwergewicht beim Filmwesen, dessen Satzung mit Dekret des Präsidenten der Republik vom 7. 5. 1958 N r. 575 angenommen wurde. - Mit Dekret des Präsidenten der Republik vom 7. 5. 1955 nr. 576 wurde die Körperschaft zur Führung der Heilwasseruntemehmen (EAGAT) geschaffen. - EFIM (Ente di gestioni per la partecipazioni dei fondo di finanziamento dell'industria meccanica) mit Schwergewicht bei der Finanzierung der metallverarbeitenden Industrie, dessen Schaffung mit Dekret des Präsidenten der Republik vom 27.1. 1962 Nr. 38 verfügt wurde. 608 M. Maratti, Impresa pubblica e sistema politico, in "Quale impresa", 1982, Nr. 1011,S.19. 609 Conclusioni dei Ceep, Risanamento e riordino delle partecipazioni statali, S. 425, wo darauf verwiesen wird, daß diese Ausweitung der Wirkungsbereiche ohne Wirtschaftlichkeitsanalyse und konzeptlos durchgeführt wurde. 606
607
13 Fraenkel
194
VII. Die italienische Wirtschaftspolitik der 60er und 70er Jahre
den "ungerechtfertigten Kosten" sollten vom Staat laufend ersetzt werden, da sie nicht ökonomischen, sondern politischen Zielsetzungen entsprachen 610 • Auf der anderen Seite wurde die Ausweitung des Aufgabenbereichs von den Managern aus dem Staatsbeteiligungssektor mit Wohlwollen gesehen, da sie deren Machtsphäre und Einflußmöglichkeiten ausdehnte 611 • Allerdings kam diese Nationalisierungspolitik teuer zu stehen. So bauten diese Unternehmen erhebliche Bilanzdefizite. Hierzu wurde resigniert festgestellt, "die Entartung des öffentlichen Unternehmens sei nicht auf seinen öffentlichen Charakter, sondern auf den Mangel eines staatlichen Unternehmenskonzepts zurückzuführen 612.
d) Die Geldpolitik im Zeichen des Zielpluralismus aa) Die Geldpolitik als Instrument der Beschäftigungspolitik 613 Wir wiesen bereits daraufhin, daß die Geldpolitik in den 60er und 70er Jahren als ein ablaufspolitisches Mittel betrachtet wurde, das nicht mehr einen gleichgewichtigen monetären Rahmen schaffen sollte, sondern vor allem zur Erreichung der ordnungspolitischen Ziele einer Wirtschaftspolitik, die wir als "sozialistisch" bezeichneten, eingesetzt wurde. Dabei nutzte die Regierung es aus, daß die Notenbank ihr untergeordnet ist und als wähler- und parteiunabhängiges Verwaltungsorgan relativ mühelos eingesetzt werden kann; daß die Notenbank rasch und ohne Befragung des Parlaments handelt und daß ihr 610 Zur Problematik der "ungerechtfertigten Spesen" ("oneri impropri") siehe R. Gallo, Gli oneri impropri, in Ceep, Risanamento e riordino delle partecipazioni statali, S. 172. 611 G. Galli, (11 capitalismo assistenziale, Milano, SugarCo, 1976, S. 95, weist auf die "Schwäche des italienischen Bürgertums" hin, das das Entstehen einer neuen Klasse, der des Managers der Staats beteiligungen, nicht habe verhindern können. Diese Klasse habe eigene Wertvorstellungen und Ziele, die sich von denen des traditionellen Bürgertums unterschieden. G. Galli e A. Nannei durchleuchten diese Themen kritisch in 11 mercato di Stato, il capitalismo assistenziale rivisto (Milano, SugarCo, 1984) und kommen zum Schluß, daß diese Entwicklung vor allem dazu führte, Ressourcen in die Taschen zweier sozialer Schichten zu überweisen: und zwar in die des sog. "staatlichen Großbürgertums", also der hohen Staatsbeamten; und in die des mittleren Beamten, der insofern auch ein Schmarotzer-Dasein führt, als er nicht am kapitalistischen Produktionsprozeß teilnimmt, sondern sich Machtnischen und Privilegien schafft. In diesem Sinne sprechen sich auch E. Scalfari e G. Turani (Razza padrona: storia della borghesia di Stato, Milano, Feltrinelli, 1974) aus. Siehe auch den Artikel: La borghesia di Stato riscopre il privato, ,,11 sole 24 ore", 13.1. 1985. 612 R. Cafferata, Pubblico e privato. 613 Wir sind uns bewußt, daß die Geld- nicht von der Kredit- und Währungspolitik getrennt werden kann. So ließe sich dem Titel dieses Abschnitts vorwerfen, er sei zu einschränkend. Da wir aber auf die Kredit- und Währungsereignisse nur am Rande eingehen werden, scheint es uns richtig, den Titel nicht zu weit zu fassen.
4. Die Ablaufspolitik: Hauptbereiche, Ergebnisse und Wertungen
195
Eingriff nicht nur die monetäre, sondern auch die reale Seite des Wirtschaftssystems einschneidend beeinflussen kann 614 • Wir werden den Zeitraum in zwei Phasen unterteilen. In einer ersten Phase, die etwa den 60er Jahren entspricht, bestand die Strategie der Geldpolitik darin, über eine Lenkung der Geldmenge und des Zinsniveaus die Gesamtnachfrage in Richtung auf eine Erhöhung der Investitionen und eine Verwirklichung der Vollbeschäftigung hinzusteuern 615 • In der zweiten Phase der 70er Jahre sollte sich die Rolle der Geldpolitik wandeln. Der Ausbau der Sozialrnaßnahmen in den 70er Jahren führte zu einem derartigen staatlichen Ausgabenzuwachs, daß die Notenbank sich genötigt sah, die Staatsfinanzierung als vordringliche Aufgabe zu betrachten. Die erwähnten Aufgaben der Geldpolitik wollen wir in den anschließenden Ausführungen kurz darlegen. Dabei werden wir auch auf die Wirtschaftsentwicklung jener Jahre eingehen, da sie die Geldpolitik nicht unwesentlich mitprägte. In die Verflechtung der Tatbestände und Beziehungen, die in einem ständig sich wandelnden Kausalitätsverhältnis stehen, eine logische Ordnung zu bringen, ist nicht leicht. In unserer Analyse werden wir uns demnach auf kurze Hinweise auf Fakten und Faktoren beschränken müssen, die besonders bedeutungsvoll oder aufschlußreich sind. Die erste Phase stand im Zeichen der Aussagen des Wirtschaftsprogrammes, das der Geldpolitik neben der Geld- und Währungsstabilität drei weitere Hauptziele setzte, nämlich -
die Gesamtnachfrage so zu regulieren, daß die angepeilte Wachstumsrate und damit die vorgesehenen Beschäftigungsziele erreicht werden können; - die zyklischen Produktions- und Nachfragefluktuationen abzubauen; - das strukturelle Einkommensgefälle zu beheben 616 • Zwar ist also noch immer die Erhaltung der Kaufkraft ein wichtiges Ziel, aber nur eines neben anderen. Es hat nicht mehr das Gewicht wie in den 50er Jahren, in denen es im Zentrum gestanden hatte. Es ist allerdings anzumerken, daß schon vor der offiziellen Annahme des Wirtschaftsprogrammes die Linie der "Geldwertstabilität allein" Anfang der 60er Jahre nach dem Ausscheiden von D. Menichella aus dem Amt des Notenbankgouverneurs verlassen worden war; und zwar als G. earli das Heft der Notenbank in die Hand genommen hatte 617 • Er betrachtete die Geldpolitik 614 Eine kritische Wertung ihrer Befugnisse gibt M. Monti, im Artikel "E il Governatore poi disse al Ministero", "Corriere delle Sera", 2.6. 1989; S. 1. 615 L. Vandone, L'involuzione dei sistema economico, in F. Peschiera, Sindacato industria e stato, Vol. III, 1983, S. 158ff., gibt einen zusammenfassenden Überblick über die Wirtschaftsentwicklung dieser Jahre. Ebenso A. Fazio, La politica monetaria in Italia dal 1947 al 1978, "Moneta e credito" Nr. 127, 1979, S. 276. 616 Wirtschaftsprogramm 1966-70, Par. 3. 617 Am 19.8. 1960.
13*
196
VII. Die italienische Wirtschaftspolitik der 60er und 70er Jahre
als Instrument zur Erhaltung der Vollbeschäftigung und zur Beschleunigung des natürlichen Entwicklungsrhythmus 618 . Gerade weil sich konjunkturelle Ermüdungssymptome in Form eines für damalige Verhältnisse erheblichen Preisanstiegs abzeichneten, die ein Umschlagen des Konjunkturtrends voraussehen ließen, wollte er die Hochkonjunktur durch eine antizyklische Geldpolitik forcieren, um die reale mit der monetären Seite der Wirtschaft wieder in Einklang zu bringen. So erklärte der Notenbankgouverneur in seinen Ausführungen zur Geldwirtschaft, daß die "Bildung eines angemessenen Devisenpolsters es erlaubt, die realen Ressourcen verstärkt auf interne Ziele umzulenken"619. Die Größe, auf die die Geldbehörden einwirkten, war die Geldmenge 62o . So bemühten sie sich nun, durch Erhöhung des Geldvolumens die Expansionsphase über das natürliche Maß hinauszuzögern. Die Pflichtreserven der Banken wurden von 25 auf 22,5% gesenkt. Ferner wurde die Staatsverschuldung nicht mehr nur durch Wertpapiere, sondern vermehrt durch Bevorschussung der Notenbank finanziert 621 . Nicht zuletzt wurde das Bankensystem zu einer Erhöhung seiner Auslandsverschuldung ermächtigt. Die Überlegungen der Banca d'Italia waren dabei folgende: die Schaffung einer Geldmenge, die zwar reichlich aber nicht übermäßig sein sollte, gekoppelt mit einem relativ bescheidenen Zinssatz, sollte die Investitionstätigkeit anspornen und dadurch die Vollbeschäftigung ermöglichen. Allerdings visierte sie nicht im voraus Zieldaten an, sondern bemühte sich darum, einen Rahmen von untereinander vereinbaren Größen festzusetzen. Selbst wenn das Investitionsvolumen dann die Bildung von Sparkapital übertreffen und ein Geldüberhang mit potentiellen Inflationswirkungen aufkommen sollte - so argumentierte die Notenbank - so wäre dies nicht weiter besorgniserregend; denn automatisch würde sich das Gleichgewicht bald wieder herausbilden. In einer KostenNutzen-Rechnung, die die erzielbaren positiven Folgen dieser Politik mit den negativen Folgen des anschließenden unweigerlichen Konjunktureinbruchs vergleicht, werden erstere "per saldo" doch überwiegen, insofern als in der zweiten Phase das in der ersten akkumulierte Kapital nur zu einem Teil wieder aufgebraucht wird. Die damit notwendigerweise verbundenen Preissteigerungen 618 Für die Geldpolitik in den 60er Jahren siehe G. Mengarelli, Politica e teoria monetaria nello sviluppo economico italiano 1960-74, Torino, Boringhieri, 1979. 619 Schlußfolgerungen des Gouverneurs zum Bericht der Banca d'Italia für das Jahr 1961, S. 389. 620 Wie W. Poole ausführt (Optimal Choice ofMonetary Policy Instruments in a Simple Stochastic Macromodel, in "Quarterly Journal of Economics", May 1970), empfiehlt es sich, daß die Geldbehörden in einem durch Unsicherheitsmomente gekennzeichneten System auf die Geld- und Kreditmenge einwirken, wenn sie die realen Größen des Wirtschaftssystems beeinflussen wollen. 621 Bericht der Banca d'Italia für das Jahr 1962, S.474ff.
4. Die Ablaufspolitik: Hauptbereiche, Ergebnisse und Wertungen
197
werden also als lästige Nebenerscheinung einer sonst vernünftigen Wirtschaftspolitik mit beschäftigungspolitischen Zielen betrachtet 622 . Die Folgen ließen angesichts der Erschöpfung des Arbeitslosenpotentials und der rasch steigenden Löhne nicht auf sich warten 623 : Es ergab sich eine Aufblähung des Geldumlaufs und ein erheblicher Inflationsstoß624. Das Staatsdefizit wuchs. Tabelle 15
Jährliche Veränderungen im Preisindex 1960-1980 Jahr
Jährliche Veränderungen im Index der Konsumgüterpreise a)
1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969
2,7 2,9 5,1 7,5 5,9 4,3 2,0 2,0 1,3 2,8
1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979
5,1 5,0 5,6 10,4 19,4
1980
21,1
17,2 16,5 18,1 12,4 15,7
a) "Prezzi consumo famiglie operai ed impiegati", base 1980 = 100. Quelle: Istat, "Bollettino mensile di statistica".
Eine Zahlungsbilanzkrise war die Folge, nach über zehn Jahren der Geldstabilität und der ständigen Expansion. Die rasch steigenden Lohnkosten (auch wegen des Mangels an Arbeitskräften) erwirkten einen allgemeinen Rückgang in 622 A. Marzano, "Einaudi Notizie" Nr. 20-21,1983, S. 3; G. Mengarelli, S. 75fT. mit zahlreichen bibliographischen Angaben. 623 Allein in den Jahren 1962 und 1963 stiegen die Nominallöhne um 43% (siehe A. Fazio, Monetary Policy in Italy from 1970 to 1978, in "Kredit und Kapital", 12. Jahrg. 1979, Heft 2, S. 147. 624 Siehe Tabelle 15 dieses Abschnitts.
198
VII. Die italienische Wirtschaftspolitik der 60er und 70er Jahre
der betrieblichen Selbstfinanzierung. Dadurch wurde die Investitionstätigkeit gebremst. Das Vertrauen in die Währung schwand. Dies bewirkte eine plötzliche Kapitalflucht, die die ohnehin schon kritische Außenwirtschaftslage weiter erschwerte. Der Druck auf die Lira in Richtung auf eine Abwertung nahm erst ab, als der Internationale Währungsfond und das Ausland mit Krediten zu Hilfe kamen 625 • Angesichts dieser Wirtschaftsmisere befanden sich die italienischen Währungsbehörden in einer Zwickmühle, in die sie anschließend noch öfters hineinschlittern sollten. Auf der einen Seite ging es darum, durch restriktive Geld- und Währungsrnaßnahmen das Zahlungsbilanzdefizit rasch zu drosseln, um keine außenwirtschaftliche Notlage aufkommen zu lassen; auf der anderen war die Wirtschaftsentwicklung abzustützen; was jedoch zu einer entsprechenden Geldmengenausweitung mit ihren inflationswirksamen und außenwirtschaftlich negativen Folgen führen konnte. Die Notenbank zögerte eine Entscheidung hinaus in der Hoffnung, daß man zum Gleichgewicht auf einem höheren Produktions- und Einkommensniveau zurückfinden könnte. Erst als offenkundig wurde, daß die Politik der Geldvermehrung die erheblichen außenwirtschaftlichen Schwierigkeiten zusätzlich verschärfte, wurde das Steuer 1963 massiv umgedreht 626. Es wurden Kreditrestriktionen und Beschränkungen auf den Auslandskonten der Banken verfügt 627 , um die Wirtschaft wieder auf Gleichgewichtskurs zu bringen 628. Im Frühjahr 1964 kamen zusätzliche Steuererhöhungen. Sie fielen umso drastischer aus, als man sie mit Verspätung verfügte und entsprechend härter vorgehen mußte. Sie hatten eine rasche Bremswirkung nicht nur auf die Geldexpansion, sondern auf die
G. Podbielski, S. 32ff. Am 15. Mai 1964 machte der damalige Schatzminister E. Colombo den Ministerpräsidenten A. Moro im Anschluß an sein Gespräch mit dem Vizepräsidenten der EGKommission Marjolin in einem Brief auf die schwierige Situation aufmerksam, in der sich die italienische Wirtschaft befand (zusätzlicher Preiszuwachs von 3-4% im Laufe von knapp 12 Monaten, Konsumzuwachs über dem Anstieg der Realeinkommen von 3,5 -4% usw.). Dabei regte er im Einvernehmen mit Marjolin eine Reihe von Maßnahmen an: eine Staatsausgabensenkung, eine Erhöhung der Verbrauchssteuern, Lohnstopp usw. Bei dem Gewicht, das damals der EG beigemessen wurde, konnte die italienische Regierung nicht umhin, diesen Anregungen Folge zu leisten. Dem Minister wurde allerdings der Vorwurf nicht erspart, er habe mit seinem Treffen mit der EG-Kommission eine "Verschwörung" gegen das "Centro Sinistra" anzetteln wollen. Der Briefvom Minister Colombo vom 15. 5. 1964 ist mit einem Kommentar von ihm im "Corriere della Sera" vom 17. 12. 1983 auf S. 2 abgedruckt. 627 Im Bericht der Banca d'Italia für das Jahr 1963, S. 492, werden diese Maßnahmen zusammengefaßt und erläutert. 628 A. Fazio, La politica monetaria in Italiadal1947 al 1978, "Monetaecredito" n. 127, 1979, S. 276, der darauf hinweist, daß einmal ein Kredit von 1 Milliarde $ der Federal Reserve Bank die Devisenlage Italiens wesentlich entschärfte, daß zum anderen die Steuern erhöht wurden, um die Güternachfrage zu bremsen. 625
626
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gesamte Wirtschaftstätigkeit 629 . Die Wirtschaft reagierte prompt. Bereits 1964 konnte die Banca d'Italüi wieder von ihrer "harten Linie" abgehen. Nach diesem "Stop und go" stand bis zum Ende der 60er Jahre die Geldpolitik im Zeichen der Anpassung: die Geld- und Währungsbehörden bemühten sich um eine vorsichtige Stützung ("Begleitung") der Wirtschaftsentwicklung, ohne diese jedoch zu forcieren. Die Politik der Anpassung wies ab 1964 allerdings in ihrer Handhabung eine Neuheit auf630 • Die Banca d'Italia entwickelte nämlich eine neue Strategie der Geldmengenkontrolle; nicht mehr über die Höhe des Mindestreservesatzes, sondern über die Geldmenge, die dem Bankenmultiplikator unterworfen ist, also über die Zusammensetzung der Mindestreserve der Banken. Es wurde genau festgesetzt, welche Werte für die Mindestreserve in Frage kommen können, und zwar mit Rücksicht auf folgende Überlegung. Beschließen nämlich die Geldbehörden, daß hierfür Aktiva - beispielsweise eine Kategorie von Schatzscheinen - in Frage kommen, die die Banken sowieso gehalten hätten, können die Banken andere Aktiva - beispielsweise Bargeld für ihre Geldausleihungen benützen und somit die Geldmenge ausweiten. Andernfalls, wenn nämlich die Geldbehörden für die Mindestreserve Aktiva vorsehen, die die Banken normalerweise für ihre Ausleihungen eingesetzt hätten, ergibt sich daraus ein Schrumpfungseffekt auf die Geldmenge. So stand nun die Kontrolle der Bankenaktiva, die für die Mindestreserve in Frage kommen - oder leicht in derartige Aktiva umgewandelt werden können - im Vordergrund der Geldpolitik. Diese Aktiva werden als "monetäre Basis" bezeichnet 631 • 629 G. Mengarelli, S.81. Über die Maßnahmen im einzelnen und ihre Wirkungen verweisen wir aufOCDE, Italie, 1964, S. 6fT. sowie aufOCDE, Italie, 1965, S. 7fT. 630 Die Banca d'Italia nannte diese Politik in ihrem Jahresbericht für das Jahr 1963, S. 566, der "Begleitung" der Konjunktur; d. h. in Expansionsphasen stützt sie die Konjunkturentwicklung, indem sie die Wirtschaft mit genügend Geld versorgt, um deren Finanzierung zu gewährleisten; wohingegen sie in Zeiten einer rückläufigen Konjunktur eine vorsichtige Geldsterilisierungspolitik betreibt, um keine Inflationsstöße hervorzurufen. 631 Nach O. Issing (Einführung in die Geldtheorie, München, Vahlen, 1977, S. 52) wird die "monetäre Basis" definiert als "Summe der Zentralgeldbestände der Kreditbanken und der inländischen privaten Nichtbanken". Von A. Fazio wird hingegen die "monetäre Basis" als die Gesamtheit der Aktiva definiert, "deren Änderung eine mehrmalige Änderung in der Kreditnachfrage und in den Bankeinlagen hervorruft". Siehe A. Fazio, Monetary Base and the Control ofCredit in Italy, " Banca Nazionale dei Lavoro Quarterly Review", Giugno 1969. In Italien besteht die monetäre Basis aus: Bargeld, bestimmten Kategorien von Wertpapieren (Schatzscheinen) und Aktiva, die leicht in reservegültige Aktiva umgewandelt werden können wie die Bankenguthaben gegenüber dem Ausland, die Postspareinlagen, nicht ausgenützte Bankenkredite gegenüber der Notenbank usw. Siehe "Bollettino Economico" der Bancad'Italia N. 1, Okt. 1983, S. 37. Es gibt eine reiche Literatur über die "monetäre Basis"; wir verweisen auf O. Issing, S. 79.
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In der Praxis bedeutete dies, daß die Zentralbank sich darum bemühte, die Versorgung des Bankenapparates mit monetärer Basis zu lenken, um auf diese Weise die Leihtätigkeit der Banken zu kontrollieren 632. Tabelle 16 Schöpfung von monetärer Basis (Variationen in Milliarden Lire) 1964-1980
Jahr 1964') 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980
Außenwirtschaft
Schatzamt
Bankensystem
andere Quellen
Insgesamt
293 627 235 241 122 -648 319 478 -415 -204 -3063 -1714 1102 5140 5911 2888 708
893 917 495 421 921 1500 2991 2611 4170 7234 8210 4081 9535 -3976 4984 760 9740
-6 -169 564 625 220 469 -1276 89 934 277 135 785 -1656 227 -56 2624 -2576
-6 -66 -81 -117 -23 -75 119 131 -1090 -2229 -2064 1388 -4018 5003 979 689 -2
1173 1308 1213 117l 1241 1245 2153 3362 3599 5078 3217 4538 4963 6395 9860 6941 7869
') Im Jahre 1964 begann die Banca d'Italia mit der Statistik über die monetäre Basis. Quelle: Banca d'Italia, verschiedene Jahresberichte. 632 Die monetäre Basis läßt sich bekanntlich nicht global steuern, sondern sie bedarf einer Reihe von Maßnahmen, je nach der "Quelle", die eine Änderung in der ZentralgeldMenge bewirken kann. Wie aus Tabelle 16 dieses Abschnitts ersichtlich ist, gibt es vier "Quellen": Außenwirtschaft: sie umfaßt auch die Bankenpositionen gegenüber ausländischen Bankinstituten. Während die Zentralbank keinen direkten Einfluß auf die außenwirtschaftlichen Konten und dadurch auf die daraus resultierende Geldmenge ausüben kann, kann sie dies im Bankensektor, und zwar insofern, als sie den Banken vorschreiben kann, in welchem Maß sie Auslandsgeschäfte durch eigene Aus1eihungen bzw. Verschuldung finanzieren dürfen. Schatzamt: es kann die Schöpfung von monetärer Basis im Zusammenhang mit der Staatsverschuldung bewirken. Der Banca d'Italia obliegt es, zusammen mit ihm zu entscheiden, ob die Finanzierung der Staatsschuld im Wege über monetäre Basis erfolgen soll und bejahendenfalls, in welchem Maße. Wobei sie auch dafür sorgen muß, daß die vom Staat ausgegebenen Papiere vom Bankensystem übernommen werden. Hieraus ergibt sich für die Staatsbank die Notwendigkeit eines stabilen Wertpapiermarktes. Bankensystem: diese Quelle betrifft die Ausleihungen der Zentralbank an die einzelnen Banken zur Aufstockung ihrer Liquidität. Da die Zentralbank diese Ausleihungen nicht automatisch - wie in den meisten westlichen Ländern - vornehmen muß, bekommt sie die, Möglichkeit der Kreditsteuerung und der Geldmengenkontrolle. Andere Quellen: betreffen die Schaffung von monetärer Basis aus Transaktionen der
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In den Jahren von 1966 bis 1969, in denen die monetäre Basis nur sehr langsam zunahm (siehe Tabelle 16), war das Preisniveau relativ konstant (siehe Tabelle 15). In jenen Jahren begann sich allerdings ein grundlegender Umschwung in der wirtschaftspolitischen Ausrichtung abzuzeichnen. Die Regierung verlagerte immer gezielter ihr innenpolitisches Augenmerk auf das sozialpolitische Engagement. Dies führte zu wachsenden Staatsausgaben. Trotzdem war die Oberhoheit der Zentralbank in der zweiten Hälfte der 60er Jahre immer noch groß genug, um ihr eine Politik der Geldmengenkontrolle zu ermöglichen 633 • Dadurch konnte sie den Wachstumsprozeß mitsteuem. Die Schwelle wurde etwa 1970 erreicht, wie aus den Zahlen der Tabelle 17 ersichtlich ist. Sie weist einen entgegengesetzten Trend in den (steigenden) Zuwachsraten (und besonders hohen Ausschlägen im Jahr 1970) der umlaufenden Geldmenge (bestehend aus Bargeld und Sichteinlagen) einerseits und den (sinkenden) Zuwachsraten der Ausleihungen andererseits auf. Ende der 60er Jahre ging die Notenbank angesichts eines rasch wachsenden öffentlichen Finanzbedarfs und steigender Zinssätze auf den internationalen Märkten dazu über, die Geldmenge als "strategische Größe" zu betrachten, und stellte die Zinsstabilität in den Vordergrund 634 • Sie verfolgte damit eine doppelte Zielrichtung: zum einen sollte dadurch der italienische mittelfristige Kapitalmarkt vor Inflation, Konjunkturschwankungen und Zinsfluktuationen auf den ausländischen Kapitalmärkten abgeschirmt werden, damit die Investitionen und damit auch die Beschäftigung weiterhin auf hohem Niveau gehalten werden konnten 635 • Zum anderen ließ sich dadurch das Staatsdefizit leichter finanzieren. Zentralbank mit anderen Finanzinstitutionen wie den Sonderkreditinstituten (die nicht den Mengenkontrollen des Bankensystems unterworfen sind). 633 Wie M. Friedman, Die Rolle der Geldpolitik, inJ. Badura und O. Issing, Geldpolitik, Stuttgart, Fischer, 1980, S. 20, feststellt, kann die Geldpolitik "die inflationären Gefahren durch eine niedrigere Rate monetären Wachstums als sonst wünschenswert unter Kontrolle halten". Wie wir allerdings in unseren anschließenden Ausführungen darlegen werden, sind den geldpolitischen Behörden Grenzen in dieser "antizyklischen" Politik gesetzt, die sich aus der Höhe der vom Schatzamt geforderten Geldschöpfung ergeben. So erklären A. Fazio e S. Lo Fasso (The Control of Financial Flows by Control of the Monetary Base, the Italian Experience, in Bank for International Settlements, The Monetary Base Approach to Monetary Control, Basle, Sept. 1980; S. 78 ff.), daß die Banca d'Italia auch im Hinblick auf die Zinssätze erfolgreich war; daß diese Eingriffsmöglichkeitenjedoch in Zeiten von Inflationsraten zwischen 10 und 20% zu langsam wirken können und zu kostspielig ("costly") sind (S. 92). 634 C. Caranza e A. Fazio, (L'evoluzione dei metodi di controllo monetario in Italia 1974-1983, in "Bancaria", sett. 1983) stellen aufS. 524 fest, daß bei der Investitionsfinanzierung durch firmenintemes Sparkapital die Steuerung des Zinssatzes erfolgreicher wird als die des Kreditvolumens. Hierzu auch: A. Fazio, Monetary Base and the Control of Credit in Italy, "Quarterly Review", Banca Nazionale deI Lavoro, giugno 1969; sowie, vom selben Autor, La politica monetaria in Italia dal1949 al 1978, S. 278ff. 635 G. Mengarelli, La politica monetaria in Italia (1960-75), in G. Franeo, Sviluppo e crisi dell'econornia italiana, S. 75, spricht von einer Politik des "easy money".
4,2 4,2 4,6 5,0 5,7 6,3 7,4 8,7
1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 +20 + 19 + 19 +33 +20 +26 +21
23,7 27,1 30,8 34,5 40,0 47,2 57,7 69,3
absolut
+14 +13 + 12 + 16 + 18 +22 +20
jährliche Zuwachsraten in %
Bankeneinlagen (insgesamt)
Ausleihungen (in 1000 Milliarden Lire) kurzfristig mittelfristig jährliche absolut jährliche absolut ZuwachsZuwachraten in % raten in % 13,9 2,1 16,1 2,5 +11 + 19 + 12 17,8 + 15 2,8 20,5 3,2 + 14 +13 23,2 3,8 + 19 +13 25,7 4,8 +26 +11 30,4 + 18 6,0 +25 +17 +27 35,7 7,6
9,5 11,4 13,6 16,2 21,5 25,8 32,6 39,6
Banken Sichteinlagen (nicht vinkulierte Kontokorrenteinlagen) jährliche absolut Zuwachsraten in %
+ 14 + 16 + 16 +28 + 18 +21 +20
jährliche Zuwachsraten in %
insgesamt absolut jährliche Zuwachsraten in % 16,0 18,6 +16 20,6 +11 23,7 + 15 27,0 + 14 30,5 +13 36,4 + 19 43,3 + 19
27,9 31,3 35,4 39,5 45,7 53,6 65,1 78,0
absolut
umlaufende Geldmenge
') Im Januar 1974 wurde eine neue Aufgliederung der Bankstatistiken eingeführt, so daß die Zahlenreihe unterbrochen wurde. Quelle: Banca d'Italia, verschiedene Jahresberichte.
1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973
Bargeld
Jahr
Tabelle 17: Bargeld und Bankeinlagen (in 1000 Milliarden Lire)") 1966-1973
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...... ~
....(1)
0-..J 0
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VII. Die italienische Wirtschaftspolitik der 60er und 70er Jahre
Die Politik der Verstaatlichung hatte demnach Erfolge aufzuweisen. Heute ist die italienische Industrie etwa zu 13% in staatlicher Hand oder vom Staat kontrolliert 704. Es ist hervorzuheben, daß das Verhältnis der Wirtschaftspolitik zu den staatlich kontrollierten Unternehmen vielschichtig ist. Auf der einen Seite förderte sie, wie wir sahen, ihrer Ausweitung. Auf der anderen benachteiligte sie sie auch wieder. So kamen sie wegen der Auflagen, denen alle Unternehmen unterworfen waren, aber auch wegen der Auflagen, denen spezifisch diese Unternehmensgruppe im Hinblick auf ihre sozialpolitischen Zielsetzungen unterworfen war, besonders in Bedrängnis. Wir verweisen auf anschließende Tabelle 31. Sie läßt einen Vergleich über die Bruttogewinnrate in der Verarbeitungsindustrie aufgeschlüsselt nach privaten Unternehmen und Unternehmen mit Staatsbeteiligung zu und macht deutlich, daß die Bruttogewinnrate in den öffentlichen Unternehmen stets unter der bei den Privatunternehmen lag und zu Beginn der 80er Jahre selbst negativ wurde, wohingegen die Privatunternehmen und vor allem die Kleinunternehmen immer noch eine, wenn auch nur bescheidende Gewinnrate aufweisen konnten 705. Tabelle 31 Bmttogewinnrate in der Verarbeitungsindustrie 1963-1981
Privatunternehmen groß klein 1963-{j8 1969-73 1974-78 1976 1977 1978 1979 1980 1981
4,5 5,4 4,3 12,7 9,2 9,4 11,5 11,3 8,8
4,7 4,2 3,1 10,5 6,6 4,8 8,0 7,3 6,4
öffentliche Unternehmen 3,4 3,2 1,8 4,2 0,1 1,4 4,0 0,9 -1,6
Quelle: P. Syslos-Labini, 11 ruolo delle imprese pubbliche ... , "Economia pubblica", n. 1-2, 1984, S. 8.
Zum Verhältnis zwischen Verschuldung und Aktivposten gibt Tabelle 32 Aufschluß706. Sie macht deutlich, wie die Verschuldung gegenüber den in den 704 R. Avitabile (Analisi dei bilanci, in Ceep, Risanamento e riordino delle partecipazioni statali, Milano, Angeli, 1986, S. 61 ff.) bezieht diese Quote auf Beschäftigung und Produktion. 705 Eine Bilanzanalyse der Staatsbeteiligungsunternehmen gibt R. Avitabile, Analisi dei bilanci, in Ceep, Risanamento e riordino delle partecipazioni statali, S. 61 ff. 706 Dabei sprach man von einer "Privatisierung des Gewinns und einer Sozialisierung des Verlusts" (siehe Grilli, La Ma/fa, Savona, S. 107). Siehe hierzu auch M. S. Giannini, 11
4. Die Ablaufspolitik: Hauptbereiche, Ergebnisse und Wertungen
227
Unternehmensbilanzen ausgewiesenen Aktivposten im Zeitraum von 1963 bis 1978 immer mehr zunahm. Sie zeigt aber auch, daß die Verschuldung im Bereich der öffentlichen Unternehmen am größten war. Die Verschuldung der privaten Kleinunternehmen war in den 60er Jahren relativ hoch und selbst höher als die der großen Privatunternehmen. Allerdings blieb sie dann in der zweiten Hälfte der 70er Jahre unter der der privaten Großunternehmen 707. Tatsache ist, daß der Staat bei den Dotationsfonds der Staatsholdings in den 70er Jahren und auch danach mit erheblichen Beträgen einspringen mußte, um deren Defizite abzudecken (siehe Tabelle 33)108. Was die sozialpolitischen Zielvorstellungen betrifft, läßt sich feststellen, daß die italienische Regierung gerade in den 70er Jahren nicht wenig zum Ausbau der Sozial- und Fürsorgegesetzgebung unternahm. Allerdings tat sie es zu Lasten des Staatshaushalts. Die Verwirklichung sozialpolitischer Anliegen führte zu einem überbordenden Staatsdefizit. Es sei uns gestattet, an dieser Stelle kurz einen Blick auf die Staatsfinanzen zu werfen. Die steigenden Sozialausgaben schlugen sich in negativen Finanzsaiden der öffentlichen Hand nieder 709 . Die ausufernde Staatsschuld erreichte 198060,7% des BIp71o. Immer öfter sprach man von der "Unregierbarkeit der Staatsfinanzen"711. finanziamento delle impresse con le risorse della collettivita, in "Giurisprudenza Costituzionale", 1977, S. 22ff.; sowie S. Cassese, 11 controllo delle partecipazioni statali, in "Rivista trimestrale di diritto pubblico", 1980, S. 1228ff. 707 R. Avitabile gibt allerdings zu, daß es auch im Bereich der Staatsbeteiligungsunternehmen Firmen mit positiven Bilanzergebnissen gibt und zwar dort, wo es sich um Firmen mit fortschrittlichen Technologien handelt, wohingegen die anderen Firmen vielfach darunter leiden, daß sie auf soziale Belange Rücksicht nehmen müssen (S. 62). 708 G. Ragazzi (La componente finanziaria nella crisi e nel risanamento delle Pp.Ss., Ministero per le partecipazioni statali, Roma, 1980) kommt zum Schluß, daß die Erhöhung der Dotationsfonds nicht der Finanzierung von Investitionsprogrammen, sondern der Deckung der Verluste diente (S. 92ff.). Was die Problematik der Dotationsfonds betrifft, verweisen wir auf R. Cafferata, S. 250ff., sowie P. Saraceno, Fondo di dotazione e oneri impropri ... , "Bancaria", Nr. 1, 1977, S. 24ff. Siehe zum Thema der Finanzierung der Staatsbeteiligungskonzerne auch den Beitrag von M. Di Stefano, Le risorse finanziarie, in Ceep, Risanamento e riordino delle partecipazioni statali, S. 208ff., in dem der Autor insbesondere auf die Entwicklung der Dotationsfonds eingeht. 709 Siehe die Tabellen 6 und 10 in diesem Abschnitt. 710 Im Tätigkeitsbericht der Banca d'Italia für 1981, S. 403, stellte der Notenbankgouverneur denn auch lakonisch fest: "Das Bilanzgleichgewicht verpflichtet das Individuum wie das Unternehmen zum Ausgleich; der öffentlichen Verwaltung erlaubt der ihr gewährte Kredit, diesen Ausgleich hinauszuschieben. Der Versuch, ihn endgültig zu umgehen, führt zur Inflation und zu weiteren perversen Entwicklungen. Abhilfe läßt sich nur schaffen, wenn man vom Staat nicht verlangt, daß er jeden Wunsch befriedigen muß und kann". 15*
49,2 53,3 61,5 38,6 48,8 63,7 '--
-
52,7 65,4 78,1
öffentliche Unternehmen
1984, S. 8.
Tabelle 33
Quelle: P. Syslos-Labini, 11 ruolo delle imprese pubbliche ... , "Economia pubblica", n. 1-2,
1963-68 1969-73 1974-78
Privatunternehmen klein groß
-823,6 -1047,0 -1346,0 -2400,9 -2869,0 -2610,1 -3405,4 -2700,0
Bilanzergebnis
IRI 18221,0 21134,3 24297,0 25507,7 31040,7 36552,0 34019,0 37000,0
Verschuldung
---~-
7562,5 9075,5 10819,1 13 154,1 19632,7 18344,0 18960,0 19065,0
Verschuldung
- - -
ENI
---
-312,5 -353,3 +42,1 +98,7 -264,7 -1733,8 -1449,0 -90,0
Bilanzergebnis
-
~-
-104,2 -103,3 -185,3 -88,5 -326,0 -497,0 -603,1 -450,0
---
Bilanzergebnis
EFIM
Bilanzergebnisse der Staatsbetelligungskonzeme IRI, ENI und EFIM (in Milliarden Lire) 1977-1984
Quelle: Konzernbilanzen
31. 12.77 31. 12.78 31.12.79 31.12.80 31.12.81 31. 12.82 31. 12.83 31.12.84
am:
Tabelle 32
Verhältnis zwischen Verschuldung und Aktivposten in den Firmenbilanzen 1963-1978
1379,0 1453,9 1355,0 1833,0 1993,0 2412,0 3081,0 3631,0
Verschuldung
~
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234
VII. Die italienische Wirtschaftspolitik der 60er und 70er Jahre Tabelle 39 Verhältnis zwischen öffentlichen Ausgaben für Investitionszwecke und HIP (zu konstanten Preisen) in % 1960-1980
Jahre
öffentliche Invest.lBIP
1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980
3,78 3,20 3,47 3,36 3,49 3,13 3,05 2,76 3,09 2,84 3,12 3,03 3,17 2,83 2,96 3,23 3,07 2,97 2,81 2,75 3,02
Quelle: R. Montelatici, S. 79.
Der von Keynes empfohlene Einsatz des Steuerhebels zur Nachfragesteuerung war in Italien aus den erwähnten Gründen nicht zum Zuge gekommen 717. Untersuchungen bestätigen, daß gerade die unökonornische Zuweisung der Ressourcen durch den Staat die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze verhinderte 718 • würde zwischen einem Arbeitslosigkeitsniveau und einem Inflationsniveau wählen je nach der Konjunkturlage und den gesamtwirtschaftlichen Daten. H. Ostleitner (Zu den Grundlagen der wirtschaftspolitischen Konzeption der Sozialistischen Partei Österreichs, in H. Abele, Handbuch der österreichischen Wirtschaftspolitik, Wien, Manz, 1984, 2. Aufl., S. 139) sieht diese Auffassung allerdings als zu "technokratisch" und setzt das Schwergewicht auf den Konsens der Sozialpartner zu den wirtschaftspolitischen Maßnahmen als wesentlicher Voraussetzung für deren Durchschlagskraft. G. Tichy (AustroKeynesianismus, Gibt's den? "Wirtschaftspolitische Blätter", N.3, 1982, S.58) setzt hingegen den Akzent auf die Zusammenarbeit unter den Sozialpartnern und mit dem Staat, als eine Art " Mitbestimmung" . Was die Vorgangsweise betrifft, verweisen wir aufT. Lachs, Wirtschaftspartner in Österreich, Wien, Verlag des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, 1976, sowie auf J. Farnleitner, Die paritätische Kommission, Eisenstadt, Prugg, 1977. 717 Wir verweisen auf Abschnitt VII.4e. 718 M. Baldassarri, La falsa leva dei deficit, ,,11 sole-24 ore", 27.9. 1985, S.4.
4. Die Ablaufspolitik: Hauptbereiche, Ergebnisse und Wertungen
235
Es zeigte sich auch, daß der wachsende Finanzbedarf der öffentlichen Hand trotz der zunehmenden Geldmenge zu einer Verknappung der verfügbaren Geldmittel für die Privatwirtschaft führte. Zwar wurde verneint, daß es zu einer Verdrängung der Privatwirtschaft durch den Staat im Geld- und Kreditbereich kommen könne, solange Produktionskapazitäten noch frei sind und kein außenwirtschaftliches Ungleichgewicht besteht 719 ; es wurde ferner geltend gemacht, daß ein Teil der dem Staat zufließenden Gelder von ihm in Form von Beihilfen an die Betriebe zurückfließen, so daß der Staat sich als "Umverteiler von Kapitalmitteln", als "verstecktes Bankinstitut" verhält 720 • Tatsache war dann jedoch, daß die staatliche Nachfrage nach Finanzmitteln den Zinssatz in die Höhe trieb: sie beschränkte "über den Preis" die Kreditnachfrage der Privatwirtschaft. Es ergab sich also ein indirekter Verdrängungseffekt dadurch, daß das höhere Zinsniveau die Kreditnachfrage senkte, wenn auch die staatlichen Zinssubventionen diesen Effekt hinwiederum bremsten 721. Die Politik der 60er Jahre und vor allem der 70er Jahre wies also im Ansatz keynesianische Züge auf, aber nicht im Ergebnis 722 • Von den Geldbehörden, die sich der aus dem Finanzgebaren des Staates erwachsenden Inflation nicht mehr gewachsen sahen, wurde die Öffentlichkeit auf die Grenzen der Belastbarkeit der Staatsfinanzen und überhaupt des Wirtschaftssystems wiederholt aufmerksam gemacht 723 • Wir verweisen auf die anschließende Tabelle 40, in der die Inflationsraten von 1961 bis 1981 sowie die Variationsraten des BIP im selben Zeitraum wiedergegeben sind. Zusammenfassend läßt sich also feststellen, daß das wirtschaftspolitische Konzept der 60er und 70er Jahre mit seinen sozialstaatlichen Ansprüchen nur teilweise und teilweise nur in beschränktem Maße seine Ziele erreichte. Hingegen führte die zur Anwendung gelangende Ablaufspolitik ~ wie wir sahen ~ zu erheblichen Ungleichgewichten vor allem in den Staatsfinanzen, die sich R. Cafferata, Pubblico e privato, S.259ff. M. Monti e B. Siracusano, I trasferimenti pubblici alle imprese e 10 "spiazzamento", "Tendenze monetarie", Nr. 34, 1979, S. 5ff., sowie M. Monti, 11 banchiere occulto, in B. Colle, Impresa privata, cultura industriale e programmazione, Milano, Ed. Mondoperaio, 1980, S. 75ff. 721 Es kam also in Italien eine Situation auf, die der entspricht, die K. Socher für Österreich nach 1979 schildert (siehe K. Socher, Vom Austro-Keynesianismus zum Austro-Monetarismus, "Wirtschaftspolitische Blätter" Nr. 3, 1982, S. 44). Eine empirische Untersuchung, die ein meßbares "Crowding Out" für Italien feststellt, wurde allerdings bisher nicht durchgeführt. Siehe auch E. Altvater u. a., Alternative Wirtschaftspolitik jenseits des Keynesianismus, Opladen, Westd. VerI., 1983, S. 147ff. 722 Italien stand in seiner keynesianischen Ausrichtung und den sich daraus ergebenden Wirtschaftsresultaten nicht alleine. Auch in anderen Ländern (Schweden, England, Bundesrepublik usw.) ergaben sich Parallelentwicklungen. Hierzu siehe F. W. Scharpf, Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa, Frankfurt, Campus, 1987. 723 Beispielsweise: Berichte der Banca d'Italia für das Jahr 1979, S. 329ff., und für das Jahr 1980, S. 376,377 und 383ff. . 719
720
236
VII. Die italienische Wirtschaftspolitik der 60er und 70er Jahre
Tabelle 40
Ioßationsraten und Variationen des DIP 1961-1981
Jahr
Inflationsrate a)
jährliche Variationen des DIp b )
1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981
2,8 5,8 8,5 6,5 4,2 2,2 2,8 1,7 4,1 6,9 7,2 6,3 11,6 18,5 17,5 18,0 19,1 13,9 15,9 20,6 18,3
8,2 6,2 5,6 2,8 3,3 6,0 7,2 6,5 6,1 5,3 1,6 3,2 7,0 4,1 -3,6 5,9 1,9 2,7 4,9 3,9 0,2
a) Vom DIP, zu Preisen von 1970. b) Zu Preisen von 1970. Quelle: ISTAT, Annuario di contabilitil nazionale.
im monetären Bereich in hohen Inflationsraten niederschlugen. Die anvisierten Ziele, soweit sie erreicht worden waren, waren damit also mit gesamtwirtschaftlichen Opfern erkauft worden. Es kamen Bedenken in der Wählerschaft auf. Das Vertrauen der Sparer in die Zahlungsfähigkeit des Staates und damit in die Anlage in Staatspapieren begann zu schwinden. Die politischen Entscheidungsträger merkten, daß ihre Wähler ihnen nicht mehr folgen würden. Wie wir im anschließenden Abschnitt sehen werden, ging man zu neuen wirtschaftspolitischen Vorstellungen über.
VIII. Die 80er Jahre: Die schwierige Rückkehr zum Gleichgewicht 1. Die Kritik am bestehenden wirtschaftspolitischen Konzept
Die 70er Jahre waren in vieler Hinsicht - so scheint es im nachhinein - eine Zeit der Experimente. Es gab alles und das Gegenteil von allem"724. Die Regierung hatte versucht, eine Politik der Vollbeschäftigung, des Wohlstandes für alle, der Einkommensabflachung, der Nationalisierung usw. zu verwirklichen. Nun mußte sie feststellen, daß diese Ziele nicht oder nur bedingt erreicht waren. Ja, daß sich Entwicklungen herauskristallisiert hatten, die zu den vorgegebenen Zielen selbst im Widerspruch standen. Sie hatte sich in ein Wunschdenken verrannt, das an der Praxis gescheitert war 72S. Wie wir in Abschnitt VII.4e sahen, hatte sich nur ein Teil der angepeilten Ziele erreichen lassen. So war die Vollbeschäftigung der Arbeitskräfte - ein wesentliches Anliegen - nicht erreicht worden; ja, es hatte sich groteskerweise als negative Folgewirkung von Rationalisierung und Automation eine Zunahme der Arbeitslosigkeit ergeben 726. Die Steigerung von Löhnen und Gehältern wurde als inflationsfördernder Faktor betrachtet, der keine reale Besserstellung der Arbeitskräfte bewirkt hatte 727. Die Wählerschaft wurde sich gleichzeitig bewußt, daß der Wohlfahrtsstaat zwar auf der einen Seite Probleme aus dem Wege geräumt, auf der anderen jedoch auch Probleme geschaffen hatte. Das Konzept wurde einer kritischen Analyse unterzogen. Dabei stellte man fest, daß es auf Wunschvorstellungen aufgebaut war, und zwar auf der Annahme, das Wirtschaftswachstum gemessen in Zuwachsraten des BIP - werde ständig weiter anhalten und grenzenlose Möglichkeiten der sozialstaatlichen Umverteilung zulassen. Als dann die Wirtschaftskrise kam, ergab sich ein zunehmendes Loch in den Staatsfinanzen und eine steigende Inflationsrate. Die Wirtschaft war offenbar an ihre natürlichen Grenzen gestoßen 728. Die Ansprüche auf staatliche Leistung 724 A. Levi, Usciamo maturati da dieci anni di sperimentazione, "Industria Lombarda", Dez. 1984, S. 7. 72S Eine kritische Übersicht der anstehenden Probleme gibt F. Mattei, 11 neoliberalismo oggi, in Quarantanni di economia italiana, Roma, SIPI, 1986, S. 24ff. 726 Siehe Tabelle 22 in Abschnitt VII.4 e. 727 Siehe Tabelle 25 in Abschnitt VII.4 e. 728 Zu diesem Thema siehe auch die Bibliographie in FN 568. Für eine Kritik am Vorsorgestaat insbesondere unter dem Gesichtspunkt des übermäßigen Ausgabenvolumens, das es verursacht, verweisen wir auf F. Orlandi, S. 65ff.
238
VIII. Die 80er Jahre: Die schwierige Rückkehr zum Gleichgewicht
nahmen trotz allem weiter zu. Es kam zu einer "konservativen Linie" der Finanzkrise 729 • Am überbordenden Staatsdefizit erkannte die Wählerschaft, daß der Staat infolge einer leichtfertigen Überbewertung der verfügbaren Mittel "über den Verhältnissen gelebt hatte"; daß also die ausufernde Belastung eines zu ehrgeizigen, verschwenderischen und schlecht verwalteten Sozialstaates auf die Dauer selbst "die Qualität der Wirtschaftsordnung verändern und die Effizienz des ökonomischen Prozesses niederdrücken kann" 730 • Ferner wurde sie sich bewußt, daß sich im Zeichen des Wohlfahrtsstaates ein Gegensatz zwischen der Anerkennung der freiheitlichen kostenindifferenten Rechte des Einzelbürgers und dessen leistungsindifferenten Gleichheitsansprüchen ergeben hatte. Der Staat hatte sich veranlaßt gesehen, im Interesse der Gleichheit verstärkt in die Individualsphäre einzudringen, zu Lasten also der Freiheitsrechte. Die Folge: ein Übermaß an staatlicher Intervention 731. Mit anderen Worten: der Wohlfahrtsstaat war in die Krise geraten 732 • Im Zentrum der Kritik stand die Finanzpolitik als entscheidender Faktor des Ungleichgewichts und Motor der Inflation. Die staatlichen Ressourcen seien ungeordnet eingesetzt und würden verschwendet, hieß es; dies habe zu einer offensichtlichen Überforderung des Staates und zu einem Zustand der "öffentlichen Armut" geführt733 • 729 Dieser Begriff steht im Artikel von o. Petracca, Italia malata di Welfare, im ,,11 sole -24 ore" vom 11.12.1985, S. 4. Zu dieser Problematik siehe auch G. Ruffolo, La qualitä sociale. 730 Es findet hier ihre Bestätigung die Aussage von A. Gutowski (Präsident des HWWAInstituts für Wirtschaftsforschung in Hamburg) in seinem Vortrag zum Thema: "Arbeit und Soziales in einer marktwirtschaftlichen Ordnungspolitik" anläßlich der ordentlichen Mitgliederversammlung des Forschungsinstituts für Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb (Köln) vom 14.6. 1985. 731 M. Ferrera (La crisi dei Welfare State, "Industria Lombarda", Dez. 1984, S. 103) weist auf folgende (typischen) Beispiele: die Lohnausgleichskasse als "Auffangstruktur der Arbeitslosigkeit" engt den Arbeitsmarkt ein und bietet infolgedessen im Falle einer rückläufigen Entwicklung in der Zahl der Arbeitsplätze keine Lösung an; auch das Gesetz über die "gerechte" Miete, wonach diese nach vorgegebenen Koeffizienten errechnet werden muß und nicht mehr dem Markt überlassen ist, hat sowohl Mieter als auch Vermieter enttäuscht und den Markt der Mietwohnungen abgewürgt. 1978 forderte Confindustria-Präsident G. Carli beim Kongreß der Confindustria in Portofino zum Thema "Unternehmen und Markt"("Rivista di politica economica", 1978, S. 272ff.) laut die Rückkehr zu einer Ordnung, die den Markt als regelnden Faktor in den Vordergrund stellt und sich gegen den übermäßigen Staatseingriffin die Wirtschaftssphäre wehrt. 732 Zum Thema "Krise des Wohlfahrtstaates" gibt es heute eine Fülle von Werken. Wir müssen uns daraufbeschränken, nur einige zu zitieren: F. CajJe, La fine dei Welfare State, in: Transformazione e crisi dei Welfare State, Versch. Autoren, Bari, De Donato, 1983; sowie A. O. Hirschmann, The Welfare State in Trouble: Systemic Crises or Growing Pains?, in: Proceedings ofthe American Economic Association, Mai 1980; W.J. Mommsen (Ed.), The Emergency of the Welfare State in Britain and Germany, London, Croom Helm, 1981.
1. Die Kritik am bestehenden wirtschaftspolitischen Konzept
239
Die Notenbank wurde nicht müde, das überbordende Staatsdefizit anzuprangern 734; sie pochte auf ihren Auftrag zur Erhaltung eines stabilen Umfeldes, in dem sich die Wirtschaft zu entfalten hat 735 • Angesichts der sich mehrenden Krisensymptome wurde sie zunehmend zur Trägerin von Anschauungen und Forderungen, die einer Rückkehr zu liberaleren, marktwirtschaftlicheren Vorstellungen das Wort redeten. Es setzte also ein Prozeß des Nach- und Umdenkens ein. Die Wählerschichten, die sich in den 60er Jahren als unbemittelt empfunden und einschneidende Sozialreformen gefordert hatten, hatten inzwischen an einem erheblichen Einkommenszuwachs teilgenommen 736, was nicht ohne Folgen auf die gesellschaftspolitischen Vorstellungen blieb 737. Die Regierungsparteien, allen voran die Democrazia Cristiana, mußten um ihre Popularität bangen, wenn sie nicht neue wirtschaftspolitische Wege einschlugen. Auf der politischen Bühne hatten sich inzwischen neue Entwicklungen angebahnt. Mit dem Jahr 1979 hatte die Reihe der Regierungen im Zeichen des "nationalen Notstandes", der Unterstützung "von außen" der Demorazia Cristiana durch die KPI, ihr Ende gefunden. Die KPI hatte in den Wahlen von 1979 einen erheblichen Stimmenschwund erlitten 738. Sie hielt demzufolge den Zeitpunkt für gekommen, ihre Politik des "historischen Kompromisses", also ihre Linie der Zusammenarbeit mit der Democrazia Cristiana, aufzugeben 739. So kehrte sie ganz bewußt zur Rolle der Oppositionspartei zurück 740 • 733 Zu verweisen ist auf die Tagung zum Thema der Finanzpolitik, deren Referate abgedruckt sind unter dem Titel Le scelte per il riequilibrio della finanza pubblica, in "Economia italiana", 1984, NT. 2. R. A. Dahl (Polyarchie: Participation and Opposition, New Haven, Yale Univ. Press, 1971) kommt zum Schluß, daß die Möglichkeiten der Bekämpfung der öfTentlichen Armut normalerweise beschränkt sind. Die Regierung wird dabei versuchen, auf die Entscheidung der organisierten Interessen Einfluß zu nehmen. Wir verweisen hierbei auf U. Widmaier (Politische Gewaltanwendung als Problem der Organisation von Interessen, Meisenheim ajG., Hain, 1978), der den Mechanismus der finanziellen Überlastung des Staates untersucht. 734 Berichte der Banca d'Italia für das Jahr 1980, S. 373fT.; 1981, S. 404; 1982 S. 415. 735 Berichte der Banca d'Italia für das Jahr 1980, S. 372; 1981, S.403; 1982, S. 415. 736 Siehe Tabelle 25 in Abschnitt VII.4 e. 737 C. Donolo, Le forme della politica nella crisi sociale, "Quaderni piacentini", XVII, NT. 67-68, giugno 1978. 738 Wie O. M. Petracca (Per il PCI la "terza via" diventa mito, ,,11 sole 24 ore", 8. 3. 1985, S. 4) ausführt, ergibt sich allerdings ein Unterschied zu früher: nämlich daß die KPI nun als ihre echten Gesprächspartner eher die großen westeuropäischen sozialdemokratischen Parteien als die Kommunistischen Parteien Oste uropas betrachtet. Man redet seitdem von einem "dritten Weg der KPI", die nicht einen Mittelweg zwischen Demokratie und Totalitarismus, sondern ein ökonomisch-soziales System sucht, das sich von beiden grundlegend unterscheidet, wobei im Gegensatz zur deutschen SPD, die das Schwergewicht auf die "Lebensqualität" legt, die KPI weiter die traditionellen Probleme des Wirtschaftswachstums in den Vordergrund stellt.
240
VIII. Die 80er Jahre: Die schwierige Rückkehr zum Gleichgewicht
Die Democrazia Cristiana sah sich hingegen nach 1979 nach anderen Verbündeten um. Sie fand sie in den sog. "laizistischen" Parteien und bildete eine Fünferkoalition, das sog. "Pentapartito". Diese Koalition zeichnete sich dadurch aus, daß sie die Democrazia Cristiana zusammen mit der Sozialistischen, der Republikanischen und der Sozialdemokratischen Partei wie im "Centrosinistra" umfaßte, aber auch die Liberale Partei einschloß741. Die Parlamentswahlen von 1983 bestätigten die Befürchtungen der Democrazia Cristiana eines Stimmenverlustes. Sie suchte nach neuen Wegen. So erklärte sie sich damit einverstanden, daß eine andere Koalitionspartei den Miniräsidenten stellen würde. Die sog. laizistische Komponente, also die Republikanische, die Liberale und die Sozialdemokratische Partei, die nicht alle unbedingt sozialstaatlich eingestellt waren, hatte an Gewicht gewonnen. Die italienischen Gewerkschaften gingen von den Anschauungen der 70er Jahre ab. Diese Wende nahm offiziell ihren Anfang im Herbst 1980 im Anschluß an einen 35-tägigen Streik im Fiatwerk in Turin. Das größte italienische Privatunternehmen sollte in einer Kraftprobe an die Wand gedrängt werden. Es folgte ein Schweigemarsch der 40 000 mittleren und leitenden Angestellten durch die Straßen der Stadt als Protest gegen das undemokratische und einschüchternde Vorgehen der Gewerkschaften. Ein Schlag also ins Gesicht der Gewerkschaftsspitzen und ein Beweis für die Leere des Gewerkschaftsvorgehens hinter der Fassade des Auftrumpfens 742 . Seitdem sind die Gewerkschaften auf der Suche nach einem neuen gewerkschaftspolitischen Standort, der ihnen die Zustimmung - die "Präferenzen" der Arbeiterschaft sichert. Diskutiert wird in diesem Zusammenhang die Rechtmäßigkeit der Vertretung der Arbeiterinteressen durch die Gewerkschaft. Bisher wurden Entscheidungen in den Arbeiterversammlungen getroffen. Da es sich dabei jeweils um offene und nicht um geheime Abstimmungen handelte, war es der Gewerkschaftsspitze ein leichtes gewesen, ihren Willen in gezielt organisierten Veranstaltungen durchzudrücken. So hatte sich eine Kluft zwischen der Gewerkschaftsbürokratie und der Gewerkschaftsbasis herausgebildet. Nun wurde dieser Versammlungstaktik vorgeworfen, sie sei zu wenig differenziert, zu grob. Man wollte zu geheimen Abstimmungen und zu ständigen Befragungen der Basis kommen, also die innergewerkschafliche Partizipation, die "Demokratie", nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis einführen 743. G. De Rosa, S. 391 ff. Über die Beziehungen der KPI zur Democrazia Cristiana und zur Sozialistischen Partei siehe L. Coletti, im Artikel im "Corriere della Sera" vom 19. 5. 1985 "Il dramma di Natta" (S. 1). 741 G. Urbani, La societä civile, "Industria lombarda", Dez. 1984, S. 16. 742 Nach G. Pasquino, Crisi dei partiti e govemabilitä, S. 128ff., hatte sich die Gewerkschaft in einen Raum - den der Parteien - gedrängt, für dessen Bewältigung sie nicht über die erforderliche Legitimation verfügte. 739
740
1. Die Kritik am bestehenden wirtschaftspolitischen Konzept
241
Dahinter stand einmal die Wirtschaftsrezession anfangs der 80er Jahre, die den Gewerkschaften nicht mehr erlaubt hatte, ihre Forderungen mit derselben Härte wie vorher durchzudrücken 744. Entsprechend ging die Zahl der Ausstände zurück 745 • Hinzu kam die technologische Revolution, die zu einem Abbau der Arbeitsplätze in der Industrie - wo die Gewerkschaften bisher am stärksten waren - führte 746. Tabelle 1 Ausstände (in 1000 Stunden) 1980-1987
Jahr
insgesamt
davon in der Industrie
1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987
115201 73691 129940 98021 60923 26815 39506 32240
81989 41402 94416 69343 32141 17907 14369 17189
Quelle: Istat, Annuario di contabili1il. nazionale, vol. 15, ed. 1987.
Gerade die Folgen der elektronischen Datenverarbeitung, der Informatik, der Telematik usw. stellte die Arbeitnehmervertretungen vor erhebliche Probleme, die neuer, moderner Lösungen bedurften, die aber auch eine Anerkennung der beruflichen Spezialisierung und Qualifikation voraussetzten, was vorher in diesem Maße nicht erforderlich gewesen war 747. Die nachfolgende Tabelle 2 gibt Auskunft über die Zunahme der Arbeitslosenrate. 743 Siehe das Gespräch zwischen G. Benvenuto, Zentralsekretär der UIL, und M. Capanna, Sekretär von Democrazia Proletaria, in "Corriere della Sera" vom 3. 12. 1984, S. 6; siehe auch den Artikel von F. Mortillaro, 11 sindacato non vuol giocare, in ,,11 sole24 ore", vom 8. 12. 1984, S. 4. Auf die "Schlappe" der Gewerkschaftsbewegung im Herbst 1980 geht auch S. Turone, S. 513 ff., ein. Siehe auch T. Treu, E in Italia einiziata la corsa ai progetti di "rifondazione", ,,11 sole - 24 ore" vom 19. 1. 1989, S. 6. 744 Siehe Tabelle 4 in Abschnitt VII.3. 745 Siehe Tabelle 1 von Abschnitt VIII. 746 Zum Einfluß der technologischen Innovation auf die Beziehungen zwischen den Sozialpartnern siehe G. Della Rocca, S. 33ff., der darauf hinweist, daß dieses Phänomen sich bisher in den Verträgen nur im Recht der Gewerkschaften auf Information niedergeschlagen hat (S. 42ff.). Auf die arbeitsrechtlichen Folgen dieser Lage geht M. L. de Cristofaro (La disoccupazione: nodo cruciale del diritto deI lavoro negli anni '80, in: Versch. Autoren, Atti deI congresso di diritto dellavoro su "Le prospettive deI diritto dellavoro per gli anni '80", S. 175ff.) ein. 747 Wir verweisen auf den Artikel "Come governare Je fabbriche" in ,,11 sole - 24 ore" vom 13. 2.1985, S. 9; sowie aufM. Unnia, Probabile evoluzione delle relazioni industriali negli anni '80, in Confindustria, Orizzonte 80, Milano, 1984, wonach durch den
16 Fraenkel
242
VIII. Die 80er Jahre: Die schwierige Rückkehr zum Gleichgewicht Tabelle 2 Arbeitslosenrate (in % der Arbeitskräfte) 1981-1987
I Arbeitslosenrate in %
1981
1982
1983
1984
1985
1986
1987
8,4
9,1
9,9
10,4
10,6
11,1
12,0
Quelle: Für die Jahre von 1981 bis 1985: Istat, Sommario di statistische storiche 1926-85, S. 131; für die anschließenden Jahre: Istat, Annuario di contabilitii nazionale, verseh. Jahre.
Dadurch, daß die italienischen Gewerkschaften ideologisch gebunden sind, daß sie theoretisch und nicht pragmatisch denken, haben sie jedoch Mühe, neue Denkmodelle zu entwickeln 748 • Unter sich zerstritten, sind sie nicht mehr imstande, eine gemeinsame Linie zu finden 749 • Sie verlieren an Glanz und Anhängern 750 •. Grundsätze werden nun der Kritik unterzogen, die vorher nicht angefochten worden waren 751. Die Gewerkschaften müssen sich beispielsweise den Vorwurf gefallen lassen, ihre Lohnpolitik habe zu einer übermäßigen Abflachung der Einkommen geführt 7S2 ; nicht nur berücksichtige sie die Leistung nicht, sondern sie sei auch produktivitätsfremd und inflationsfördernd 753. technologischen Wandel, Automation und Firmenrationalisierung das traditionelle System der Tarifabsprachen in die Krise geraten ist und neue Formen der Beziehungen zwischen Sozialpartnern erfordert. 748 Aufschlußreich zu diesem Thema sind die Ausführungen von G. Giugni, Prospettive dei diritto dellavoro per gli anni '80, sowie R. Scognamiglio, Per una nuova filosofia dei diritto dellavoro, beide in: Atti dei congresso di diritto dellavoro su "Le prospettive dei diritto dellavoro per gli anni '80". 749 Diese Situation erschwert die Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern. Es gibt Versuche einer offiziellen Vermittlung der Regierung, die in einer konzertierten Strategie über die Steuerung der organisierten Interessen der Sozialpartner in den Bereich der Lohnabsprachen vordringen will (sog. "Neocorporativismo", also "neuer Ständestaat"). Es zeigte sich jedoch, daß die Regierung ... "stört". Siehe hierzu G. Berta, Nodi della contrattazione sindacale prima e dopo I'accordo deI 22 gennaio, in "Queste Istituzioni" N.56, 1983, 1 semestre, S.29; sowie G. Pirzio Ammassari, Contrattualismo, in M. D'Antonio, La Costituzione economica, S. 535ff. (mit bibliographischen Angaben zum Thema "Neocorporativismo"), die in diesem Zusammenhang die österreichische Sozialpartnerschaft als "an oberster Stelle auf der Leiter der "neokorporativen" Systeme stehend" erwähnt (S. 541); P. C. Schmitter, Still the Century ofCorporatism? "The Review ofPolitics", N. 26; Jan. 1974, und vom selben Autor: Interest Intermediation and Regime Governability, in S. Berger, Organizing Interests in Western Europe. 750 Artikel von A. Falletta, Sindacato addio, mi faccio prete, in "Giornale nuovo", vom 4.11. 1987, S.13, sowie Artikel im "Giornale nuovo" vom 29. 3. 1986, S. 2, Sindacato: netto calo dei lavoratori iscritti. 751 Selbst CGIL-Chef Lama gab in einer Aussprache mit dem Journalisten A. Ronchey ("Corriere della Sera" vom 29. 12. 1984, S. 11 " A tu per tu con Lama") zu, daß die Gewerkschaftsthese von 1969, wonach der Lohn eine "unabhängige Größe" im Wirtschafts system ist, falsch war. 752 M. Regini, I dilemmi del sindacato, Bologna, Mulino, 1981, 1. Teil. 0
I. Die Kritik am bestehenden wirtschaftspolitischen Konzept
243
In diesem Zusammenhang wird die Frage zum Stellenwert der Lohnpolitik im Rahmen der Einkommenspolitik aufgeworfen 754. Bis zu den 80er Jahren war die Lohnpolitik ein Instrument zur "Modernisierung der Gesellschaft" über die Erhöhung der Lohnquote am Gesamteinkommen gewesen. Nun stellt man fest, daß die "Gewerkschaftsforderungen mit Firmenbilanz- und Wirtschaftsgleichgewicht unvereinbar" waren 755. Man spricht von einer "neuen Philosophie des Arbeitsrechts" und vom "Neocorporativismo", dem neuen Ständestaat'56. So wird auch die Frage aufgeworfen, ob Tarifverhandlungen auf nationaler Ebene überhaupt noch sinnvoll sind und ob nun, nachdem die Tarifverträge praktisch alles festgelegt haben, nur noch die Lohn- und Gehaltsprobleme jeweils unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Gegebenheiten auf Firmenebene ausgehandelt werden sollen 757. Insbesondere die Idee der Staatsunternehmen und vor allem der Staatsbeteiligungsunternehmen hatte ihre Leuchtkraft verloren. Es wurden Stimmen laut, die durch die sich daraus ergebenden "unproduktiven Bereiche" 758 , die die italienische Gesellschaft in ihrer Entwicklung blockieren, den demokratischen Pluralismus angegriffen sahen 759. Der Verlust der Eigenwirtschaftlichkeit 753 P. Craveri, La crisi dei sindacato ... , in "Industria Lombarda", Dez. 1984, S. 69. Siehe auch den Artikel im "Corriere della Sera" vom 27.2. 1985 Gli imprenditori concordano con la UIL: Busta-paga secondo la professionalita" , in dem von der Kritik an der Gewerkschaft die Rede ist. So wird ihr vorgeworfen, sie habe sich in starren Denkmodellen festgefahren, die mehr der Erhaltung bestehender Arbeitsplätze als der Schaffung neuer durch die Förderung der Qualifikation und die Innovation dienen sollen. In diesem Sinne G. Della Rocca, S. 21. Siehe auch T. Treu, Il patto contro l'inflazione, Roma, Ed. Lavoro, 1984. 754 Siehe hierzu auch G. Giannola, Il potere sindacale ed i modelli di inflazione salariali, "Economia & lavoro", Anno XVIII, Nr. 2, S. 105ff. 755 F. Mattei, Quarantanni, S. 328ff. 756 R. Scognamiglio, Per una nuova filosofia dei diritto dei lavoro, in Congresso nazionale di diritto dei lavoro. G. Baglioni, Potere e responsabilita, Roma, Ed. Lav., 1981, S. 17ff.; siehe auch: Tagung zum Thema "Governare l'economia: stato impresa sindacato" (Verseh. Autoren), Cedis, 1984; Siehe auch FN 749. 757 Diese Einstellung wird von der Unternehmervereinigung in der Metallindustrie im Gegensatz zum IRI vertreten, das hingegen die Gewerkschaft als Verhandlungs- und Vertragspartner in den Mittelpunkt stellt. Siehe hierzu den Artikel Come governare la Fabbrica, ,,11 sole - 24 ore" vom 13.2. 1985, S. 9. F. Mortillaro wirft in seiner Schrift L'ombra del patto sociale ("Relazioni industriali" N° 4, 1984), der Confindustria vor, ihr Bezugsrahmen sei veraltet, insofern als er von der Vorstellung großer Arbeiterkonzentrationen mit bescheidenen Berufsqualifikationen, repräsentativer Gewerkschaften usw. ausgeht. 758 Verwiesen sei auf die Diskussion über die "produktiven und unproduktiven Bereiche in der Wirtschaft" bei R. Cafferata, S. 269ff. 759 A. Lindbeck, Can Pluralism Survive? Graduate School ofBusiness Administration, Univ. ofMichigan, 1977, S. 7 - 24, zittiert von R. Cafferata, Pubblico e privato nel sistema delle imprese, S. 25. Insbesondere Schlagworte wie die "öffentliche Armut und privater
16*
244
VIII. Die 80er Jahre: Die schwierige Rückkehr zum Gleichgewicht
schürte die Diskussion über die öffentliche Aufgabe und die daraus resultierende Betriebspolitik der Staatsbeteiligungsunternehmen, die in den 70er Jahren erlahmt war, wieder an 760 . Man wurde sich bewußt, daß die BilanzdefIzite nicht mehr mit politischen Überlegungen gerechtfertigt werden konnten. Die ersten kritischen Stimmen waren bereits 1975 laut geworden, und zwar in dem Sinne, daß man den öffentlichen Unternehmen vorwarf, sie würden immer weniger nach rationalen und immer mehr nach politischen Gesichtspunkten geleitet'61. Selbst von der Kommunistischen Partei wurde festgestellt, man solle von einer Ausweitung des bestehenden Systems des Staatskapitalismus absehen 762 . Es wurde die Forderung auf eine Neuordnung des gesamten Komplexes der Staatsbeteiligungsunternehmen vorgebracht und mit dieser Zielsetzung ein "Weißbuch" über die StaatsbeteiligungsfIrmen ausgearbeitet'63. Ein zunehmendes "ökonomisches Verständnis" der Wählerschaft führte diese dazu, die wirtschaftspolitische Linie der Vorjahre kritisch zu betrachten 764 . So wurde der Regierung vorgeworfen, sie habe sich zu allzu kostspieligen Sozialreformen verleiten lassen und durch ihren Mangel an Verständnis für die Wirtschaftszusammenhänge die Wirtschaftsmisere Ende der 70er Jahre mit ihren hohen Inflationsraten heraufbeschworen, zumal das Einverständnis im politischen Entscheidungsfeld immer häufIger zu Lasten der Wirtschaft gesucht und gefunden worden sei, so daß die Wirtschaft letzten Endes durch eine Bevorzugung der sozialstaatlichen Ziele zum Opfer der Politik geworden sei; in diesem Sinne sei es also zu einer "Entartung" der Wirtschaftspolitik gekommen 76S . Es kommt also die Forderung nach einem Abgehen von der wirtschaftspolitischen Linie auf. Diese Forderung entspringt allerdings nicht - wie Anfang der 60er Jahre - theoretischen Anschauungen, sondern der Erkenntnis, daß der bisher eingeschlagene Weg zu übermäßigen Ungleichgewichten führt. Die Umorientierung ist also das Ergebnis von Überlegungen, die der Praxis entstammen. Reichtum", wie die "Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der Verluste" werden auch in der italienischen Wirtschaftsliteratur zitiert; siehe hierzu R. Cafferata, S.287ff. und 490ff. 760 Siehe FN 539. 761 S. Vacca, Potere politico e tecnostrutture delle imprese a partecipazione statale, "Economia e politica industriale", NT. 10, 1975, S.35ff.; siehe auch P. Saraceno, Il processo decisionale nel sistema delle imprese a partecipazione statale, "Economia e politica industriale", NT. 9, S. 11 ff. Siehe auch G. Gaia e F. Roversi-Monaco, S. 38. 762 L. Barca, F. Botta, A. Zevi, I comunisti e l'economia italiana, S. 309. Siehe auch FN 539. 763 Ministero delle partecipazioni statali, Rapporto sulle partecipazioni statali, Milano, Angeli, 1981. Siehe auch FN 540. 7M Siehe Intersind, Cultura, lavoro, imprese, opinioni sulla societä industriale, Roma, Assoc. sind. Intersind, 1980. 765 B. Amoroso e O. Olsen, S. 38ff. mit bibliographischen Angaben.
2. Das ordnungspolitische Konzept und seine Ablaufspolitik
245
So kommt es zu einem Wandel in der wirtschaftspolitischen Ausrichtung der Regierung 766 : Marktfreiheit, Untemehmerinitiative und Kapitalakkumulation soll wieder stärkere Bedeutung beigemessen werden.
2. Das ordnungspolitische Konzept der 80er Jahre und seine Ablaufspolitik Es kommt ein ordnungspolitisches Modell zum Tragen, das auf marktwirtschaftliehe Zielvorstellungen zurückgreift. Allerdings betrachtet es die bestehenden Sozialrechte als festen Bestandteil der Wirtschaftsordnung. Der Sozialstaat als solcher wird also nicht angefochten. Hingegen ist man sich bewußt, daß die Sozialleistungen mit dem tatsächlichen italienischen Wirtschaftspotential in Einklang zu bringen sind. Das derzeitige ordnungspolitische Konzept sucht demnach nach einem Ausgleich, der als Grundlage für einen ausgeprägteren Kapitalakkumulationsprozeß dienen kann und der also unter dem Motto "Soviel Markt wie nötig, soviel Sozialleistungen wie möglich" steht. An diesen Vorstellungen richtet die Regierung ihre Ablaufspolitik aus. Sie geht allerdings behutsam vor. Weiß sie doch, daß der Führung von der Wirtschafts- und insbesondere der Finanzpolitik Grenzen gesteckt sind, die in den sozialrechtlichen Ansprüchen der Wählerschaft ihren Ursprung haben 767 . Sie muß also unter Berücksichtigung gegensätzlicher Ansprüche taktieren. Dies hat dazu geführt, daß das ordnungspolitische Konzept bisher nur in einigen, aber nicht in allen Bereichen zum Durchbruch gekommen ist. So steht die Programmierungspolitik heute nicht mehr zur Diskussion, nachdem sie bereits in den 70er Jahren - wie wir in Abschnitt VII.2 sahen - in den Hintergrund getreten war. Selbst die KPI erklärt, "man denke nicht mehr an eine verwaltungsmäßige Planifikation"768. Heute werden die Organe der Programmierungspolitik in Frage gestellt, die in den 60er Jahren eingesetzt worden waren 769. Der Einkommenspolitik wurden Anfang der 80er Jahre neue Zielrichtungen gesetzt. Sie sollte nicht mehr speziell beschäftigungspolitische Ziele verfolgen 766 Isco, "Rapporto semestrale" Nr. 47, Febb. 1987, S.78, spricht von "Bruch" ("rottura"). 767 S. Ristuccia, Progetto bilancio, Fondazione Olivetti, Roma, insbesondere 11 bilancio fra Govemo e Parlamento, 1985. 768 R. Mieli, "Corriere della sera", 12.12.1985, S. 1, im Artikel ,,1 quattro punti caldi di un PCI in movimento". 769 Wie A. Monti in ,,11 sole - 24 ore" vom 27. 9. 1985, S. 2, im Artikel "Organi della programmazione, la riforma resta difficile" schreibt, besteht heute eine Diskussion darüber, ob man das Bilanzministerium, das ja auch Programmierungsministerium ist, noch weiter bestehen lassen soll; so habe bereits das Gesetz vom 8. August 1985 Nr. 439 das Istituto di Studi per la Programmazione economica ISPE abgeändert.
246
VIII. Die 80er Jahre: Die schwierige Rückkehr zum Gleichgewicht
und schon gar nicht eine Erhöhung der Lohnquote der abhängig Beschäftigten am Gesamteinkommen bewirken, sondern sich in Erkenntnis der Wirtschaftszusammenhänge organisch in eine gleichgewichtige Wirtschaftsentwicklung einfügen. Mit anderen Worten: es hatte sich ein Einverständnis darüber herauskristallisiert, daß eine Begrenzung der Lohndynamik tunlich sei. Dieses Einverständnis umschloß die Erkenntnis, daß eine übermäßige Lohndynamik ein inflationsfördernder Faktor sein kann. Hinzu kam allerdings der Rückgang in der Zahl der Arbeitsplätze vor allem in der Industrie. Die Rationalisierung, die sich bereits aus den Kostensteigerungen im Lohn-, Rohstoff-, Energiebereich usw. in den 70er Jahren ergeben hatte, hielt weiter an. Es ergab sich daraus eine zunehmende Arbeitslosigkeit, Veränderungen in der Zusammensetzung und Qualifikation der Beschäftigten, das Aufkommen neuer Berufsbilder usw. 770. Auch diese Entwicklung förderte das Einverständnis, auf das wir oben hinwiesen 771 • Wie aus den Tabellen 3 und 4 ersichtlich ist, waren ab 1980 die Zuwachsraten der Lohn- und Gehaltssteigerungen rückläufig, parallel zu den Inflationsraten. Tabelle 3 Variationen der Bruttolöhne und -gehälter der unselbständig Beschäftigten 1982-1987
Variationen gegenüber dem
I Vorjahr in %
1982
1983
1984
1985
1986
1987
+17,4
+16,4
+12,5
+12,4
+6,0
+5,4
Quelle: 1stat, Annuario statistico italiano, verseh. Jahre. Tabelle 4 Variationen in den Konsumgüterpreisen 1981-1987
Variationen gegenüber dem Vorjahr in % (1980 = 100)
1981
1982
1983
1984
1985
1986
1987
+ 18,7
+ 16,3
+ 15,0
+10,6
+8,6
+6,1
+4,6
Quelle: 1stat, "Bollettino Mensile di statistica".
Auch in der Diagnose der Ursachen für die Arbeitslosigkeit zeigt sich ein Umdenken. Nicht mehr der Nachfragemangel wird dafür verantwortlich 1SCO, "Rapporto semestrale", Febb. 1987, S. 78. B. S. Frey, Theorie demokratischer Wirtschaftspolitik, S. 243 ff., geht speziell auf das Thema "Einkommenspolitik und Grundkonsens" ein. 770 771
2. Das ordnungspolitische Konzept und seine Ablaufspolitik
247
gemacht, sondern im Sinne der traditionellen neoklassischen Theorie die Höhe der Lohnkosten. Wobei in diesen auch die Ausbildungskosten und die Kosten für die Friktionen in der Arbeitsmarktordnung (also insbesondere die bürokratischen Hindernisse bei der Einstellung und Entlassung von Arbeitskräften) eingeschlossen sind. Da die Lohnkostensteigerungen nicht durch einen entsprechenden Produktivitätszuwachs neutralisiert werden können, betrachten die Unternehmer die Schaffung neuer Arbeitsplätze als zu kostspielig. Die Entwick1ung der Lohnstückkosten wird damit zu einem "strategischen Indikator" für die Gesundheit der Betriebe und die Einstellung zusätzlicher Arbeitskräfte. In den letzten Jahren wurden von der Regierung einige Flexibilitätsmomente in die Arbeitsmarktordnung eingebaut. Es gibt beispielsweise wieder - wenn auch nur unter bestimmten Bedingungen - die Möglichkeit der Einstellung auf Zeit und der Teilzeitarbeit; ferner wurde der Bereich der namentlichen Einstellungen ausgeweitet usw. 772. Das ökonomische Denken kommt auch im Bereich der Staatsunternehmen zum Ausdruck, der schon immer ein empfindliches Thermometer für die jew~ilige ordnungspolitische Ausrichtung gewesen ist. Diese Unternehmen werden immer offenkundiger als Unternehmen wie alle anderen betrachtet, also ohne spezifischen Zielauftrag, der sie von den Privatunternehmen unterscheiden kann. Das profitorientierte Denken steht wieder stärker im Vordergrund. Ihre Sanierung ist zu einem Zentralanliegen geworden 773. Dem Markt soll wieder die Entscheidung über die EfflZienz überlassen werden 774. Ja, es wird selbst der Ruf nach Privatisierung laut, zumal sich dadurch auch die angespannte Finanzlage der Staatsbeteiligungsholdings etwas entschärfen läßt 77S • Deshalb soll selbst ein Teil des Kapitals der Großbanken und der Sparkassen an die privaten Investoren abgetreten werden 776. 772 Eine Zusammenfassung dieser Maßnahmen ist in ISCO, "Rapporto semestrale", febb. 1987, S. 100ff. enthalten:Eine Umfrage des ISCO in der italienischen Industrie hat ergeben, daß eine Vereinfachung der Einstellungs- und Entlassungsmodalitäten, bessere Differenzierungsmöglichkeiten in der Entlohnung usw. zu mehr Einstellungen führen würden. Siehe ISCO, "Rapporto semestrale", febb. 1987, S. 101. 773 IRi-Präsident R. Prodi geht auf die damalige Krise der Staatsbeteiligungsfirmen in folgender Schrift ein: R. Prodi, La crisi delle partecipazioni statali: conseguenze economiche di faticosi processi di decisione, in "L'industria" Nr. 1, genn. -marzo 1981. A. Sandulli bestreitet in seinem Manuale di diritto amministrativo (Napoli, Jovene, 1982, S. 1002ff.), daß die Staatsbeteiligungsunternehmen als Instrument der Beschäftigungspolitik eingesetzt werden können. 774 A. Romagnoli, "Filosofie" per l'impresa a partecipazione statale ... , S. 641 ff. 775 Artikel von B. Crosti, In tre anni di privatizzazioni l'IRI ha incassato 3400 miliardi, "Giomale nuovo", 5.9. 1985, S. 11. 776 Ein Artikel für viele zu diesem Thema ist: La BNL collochera in Borsa "quote" per 100 miliardi, "Giomale Nuovo" vom 23.3. 1985, S. 15. Siehe auch das Interview von Staatsbeteiligungsminister C. Darida im "Corriere della Sera" vom 26.4.1985, S. 21, in dem der Minister dem IRI die Aufgabe zuweist, in technologisch fortschrittlichen ("strategischen") Sektoren tätig zu werden und die "reifen" Sektoren abzustoßen. Dieses
248
VIII. Die 80er Jahre: Die schwierige Rückkehr zum Gleichgewicht
Der Geldpolitik wird besondere Bedeutung zuerkannt, und zwar in dem Sinne, daß sie als Hauptaufgabe die Wahrung des monetären Gleichgewichts hat. Mit anderen Worten, die Inflationsbekämpfung ist wieder wesentliches Ziel. Die Kaufkraft der Lira soll so stabil wie möglich sein und ihre Entwertung soll auf ein Niveau gebracht werden, das dem der anderen Industrieländer entspricht. Mit anderen Worten: die Geldpolitik findet zur Rolle zurück, die sie bereits in den 50er Jahren gespielt hatte, nämlich zur Hüterin eines stabilen monetären Umfeldes, in dem sich die Produktionswirtschaft - die "reale" Seite des Wirtschaftssystems - dann optimal entfalten kann. In der Tat konnte die Inflationsrate ab 1980 erheblich gesenkt werden 777 • Der Inflationsbekämpfung sind allerdings Grenzen gesetzt. Der Staat ist weiterhin der Faktor, der mit dem größten Anteil zur Geldmengenausweitung beiträgt. Dies ergibt sich aus der Statistik über die Schöpfung von monetärer Basis (siehe nachfolgende Tabelle 5). Alle Ansätze, um dem Übel der zunehmenden, übermäßigen Staatsverschuldung entgegenzuwirken, blieben bisher nur Stückwerk oder selbst erfolglos. Tabelle 5 Schöpfung von monetärer Basis (Variationen in Milliarden Lire) 1980-1986 Jahr
Außenwirtschaft
Schatzamt
Bankensystem
andere Quellen
Insgesamt
1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986
708 25 -5647 8840 5141 -13677 3543
9740 14233 12676 4514 10027 27519 10994
-2576 119 638 -3 -218 5881 -4333
-2 -5738 2670 -747 -1103 -647 -1004
7869 8639 10336 12604 13847 19076 9200
Quelle: Bericht der Banca d'Italia rur das Jahr 1986, Anhang, Tab. aD 1.
So wurde im Juli 1981 die Verpflichtung der Zentralbank zum Ankauf der nicht von den Banken übernommenen Schatzscheine abgeschafft 778. Mit dieser Interview erfolgte einige Tage vor der Nachricht, wonach das IRI den Willen zur Reprivatisierung der SME, also der Holding aller seiner Nahrungsmittelindustrien (Cirio, Bertolli, De Rica, Pavesi, Pai usw.) an die Buitoni (Teigwaren, Schokolade usw.) bekanntgab. (Siehe "Corriere della Sera" vom 1. 5. 1985, S. 11). Zur Privatisierungsp'roblematik siehe R. Gallo ed E. Lizza, Privatizzazioni, in Ceep, Risanamento e riordino delle partecipazioni statali, S. 305ff., die daraufhinweisen, daß immer wieder Privatisierungen erfolgt waren, daß sie aber keinem Konzept gehorcht hatten. Eine Aufstellung der privatisierten Firmen wird von ihnen auf den Seiten 315 ff. und 325 ff. für die Jahre 1954 bis 1985 gegeben. 777 Siehe Tabelle 4 dieses Abschnitts.
2. Das ordnungspolitische Konzept und seine Ablaufspolitik
249
Entscheidung wurde also die automatische Abdeckung des Finanzdefizits unterbrochen. Für das Schatzamt bedeutete dies eine größere Beachtung der Finanzmarktbedingungen. Diese Entscheidung brachte vor allem eines zum Ausdruck, und zwar, daß die Regierung von einer Linie abgehen wollte, die die Finanzierung des Staatsdefizits über die Notenbank erheblich erleichtert hatte. Mit der "Scheidung" von Banca d'Italia und Schatzamt - wie man es nannte 779 - kehrte man offiziell zu einer Ausrichtung zurück, in der die Nationalbank sich stärker ihren institutionellen Aufgaben der Versorgung der Wirtschaft mit dem erforderlichen Geldvolumen zuwenden sollte 780 • Die Banca d'Italia reagierte auf diese Neuausrichtung, indem sie zum altbewährten Mittel der Erhöhung der obligatorischen Bankreserve griff, um die Inflation in den Griffzu bekommen. Sie erhöhte sie am 23. 12. 1982 auf25% und gab dadurch auch zu erkennen, daß sie die Anhebung der Zinsen auf ein Niveau, das über der Inflationsrate lag 78 1, befürwortete. Diese Maßnahme hatte eine Anhebung der Zinsenlast für den Staat und eine Verteuerung der Investitionen zur Folge. Sie erwies sich allerdings insofern als positiv, als sie die Anpassung des Zinsniveaus an die Marktverhältnisse forcierte. Damit wurden die Voraussetzungen für eine "Normalisierung" des Kapitalmarktes geschaffen. Nicht zuletzt führte die Zentral bank Höchstgrenzen auf die Ausleihungen an die Bankenkundschaft ein und engte dadurch den Bankenkredit erheblich ein. Allerdings handelte es sich um vorübergehende Maßnahmen. Um das Vertrauen in die Geld- und Währungspolitik zu festigen, wurden diese Limits schon bald wieder graduell abgebaut. Parallel hierzu wurde das Devisengeschäft allmählich liberalisiert 782 • Die Tendenz zu mehr Marktwirtschaft und zu mehr Freiheit ist unverkennbar! In diesem Sinne drängt die Notenbank weiterhin auf eine bessere Finanzpolitik, die ihr noch mehr Autonomie in der Führung der Geldpolitik gewährt 783 • 778 Siehe den Bericht einer Studiengruppe unter Leitung von M. T. Salvemini e A. Fazio, Innovazioni nella politica di finanziamento del Tesoro, "Bancaria", Feb. 1982, S. 181 Cf. Siehe auch Spesa pubblica e copertura dei fabbisogno (Bericht einer Studiengruppe der Universität Bocconi), veröffentlicht in "Einaudi Notizie", anno III, nr. 28-30, ott.-dic. 1983, S.10; Cer (Centro Europa Ricerche) Rapporto: 11 finanziamento dei Tesoro e politica monetaria, "Cer Rapporto", 1983, Nr. 22, S. 32. Für die Verpflichtung der Banca d'Italia zur Übernahme der nicht von den Banken angekauften Schatzscheine verweisen wir auf FN 681. 779 M. Sarcinelli, Determinanti e direttrici della politica finanziaria italiana, S. 25. 780 Cer Rapporto, S. 32. 781 Siehe Tabelle 6 dieses Abschnitts. 782 Siehe insbesondere Gesetz vom 26.9.1986 Nr. 599, das einschneidende Liberalisierungsmaßnahmen im Devisenrecht einführte.
250
VIII. Die 80er Jahre: Die schwierige Rückkehr zum Gleichgewicht
In einem von der italienischen Presse vielbeachteten Vortrag forderte Notenbankgouverneur Ciampi in Zürich selbst "die Trennung von Geldpolitik und Staatsfinanzierung ... " und fügte hinzu: "Allzu oft gerät die Beachtung monetärer Ziele in Konflikt mit der Befürchtung, dem Staat könnten die erforderlichen Gelder fehlen. "784 Die Neuausrichtung der Geld- und Kreditpolitik übte einen erheblichen Einfluß aufWirtschaftsentwicklung und Beschäftigung aus. Gerade die restriktive Linie forcierte die Innovation der Betriebsstrukturen und Produkte 7sS, Automation und Robotisierung, die Auslagerung weniger einträglicher Sparten ins Ausland oder an kleinere, flexiblere Firmen. Die allmähliche Zinssenkungsiehe Tabelle 6 - der letzten Jahre, die parallel zu einem Konjunkturaufschwung verlief, förderte zusätzlich die Investitionstätigkeit. Tabelle 6
Zinsentwicklung (in %) 1980-1987 Jahr
Rendite der Schatzscheine a) im Durchschnitt
Einlagen bei den Banken
Ausleihungen der Banken
Prime rate Assoc. Banc. Ital. (ABI)
1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987
15,92 19,70 19,44 17,89 15,37 13,71 11,40 10,73
11,79 13,89 15,03 14,24 12,93 11,66 9,32 7,63
20,32 22,89 23,08 21,24 19,07 17,51 15,65 13,43
19,93 22,13 21,54 19,19 17,67 16,55 14,18 12,74
a) Sog. Bot (= "Buoni ordinari deI Tesoro") Quelle: Bericht der Banca d'Italia für das Jahr 1987, Anhang, Tab. aD 28.
Auf der ganzen Linie stiegen die Firmengewinne auf ein Niveau, das über dem der 70er Jahre liegt 786 • So steuerten selbst die Staatsunternehmen wie die großen 783 So beispielsweise der Bericht der Banca d'Italia für das Jahr 1986, S. 338fT. Siehe auch M. T. Salvemini, La politica monetaria e il finanziamento della spesa pubblica, in Versch. Autoren, La finanza pubblica in Italia, Milano, Angeli, 1985. 784 "Il sole 24 ore" vom 17. 12. 1985, S. 1 "Con il conto corrente il Tesoro dribbla Ciampi". In diesem Sinne spricht sich auch das Zentrum für Geldwirtschaft der Universität Bocconi aus. Siehe auch "Il sole - 24 ore" vom 28. 7. 1985, S. 5, "La stretta nasce al Tesoro". 785 Über die Innovationen in der italienischen Industrie gibt die Studie des ISTAT, Indagine sulla difTusione dell'innovazione tecnologica nell'industria manifatturiera italiana, "Notiziario" Nr. 4, Serie 4, giugno 1986, Auskunft. 786 Diese Feststellung ergibt sich aus der Auswertung der Firmenbilanzen, die Mediobanca jährlich vornimmt. Siehe hierzu auch den Artikel in "Il sole - 24 ore" vom 2.8. 1985 (S. 3) unter dem Titel "Analisi Mediobanca".
2. Das ordnungspolitische Konzept und seine Ablaufspolitik
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Staatsholdings IRI und ENI auf das Bilanzgleichgewicht zu, das inzwischen erreicht wurde, nicht zuletzt aufgrund der Privatisierung verschiedener Staatsbeteiligungsfirrnen 787. Italien, das 1982 und 1983 in der Zuwachsrate des realen Bruttosozialprodukts hinter dem EG-Durchschnitt nachhinkte, hat ihn seitdem nicht unerheblich überholt. Siehe hierzu Tabelle 7. Es hat also voll an der internationalen Aufschwungsphase teilgenommen 788. Die neuen ordnungspolitischen Vorstellungen fanden hingegen bisher in einem wesentlichen Bereich keine ablaufspolitische Bestätigung und zwar - wie wir bereits andeuteten - in der Finanzpolitik. Der Regierung ist es nicht gelungen, das Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben herzustellen und dem Zuwachs der Staatsverschuldung Einhalt zu gebieten. Wir verweisen auf nachfolgende Tabelle 8, aus der hervorgeht, daß die Ausgaben des öffentlichen Sektors von 1980 bis 1987 von 43% des BIP auf52% gestiegen sind. Auch die Einnahmen sind in diesem Zeitraum in ihrem Verhältnis zum BIP angewachsen, und zwar von 34 auf 41 %, konnten jedoch die Ausgaben nicht einholen. So ergab sich eine jährliche Zunahme der öffentlichen Verschuldung: von 8,8% des BIP im Jahre 1980 auf 10,8% im Jahre 1987. Zwar setzt die Regierung jedes Jahr einen Höchstbetrag fest, den die Zusatzverschuldung in jenem Jahr nicht überschreiten darf. Es stellt sich jedoch jeweils heraus, daß die Regierung sich schwer tut, diese Auflage dann auch zu beachten 789. Bei der Vielzahl und dem Gewicht der jeweils anstehenden Interessen wird der Konsens letzten Endes immer zu Lasten der öffentlichen Finanzen gefunden. Entsprechend ist die öffentliche Gesamtverschuldung gestiegen, und zwar von 58% des BIP im Jahre 1980 auf 92% im Jahre 1987 (siehe Tabelle 9)190. Die Regierung ist sich wohl bewußt, daß sie nicht darum herum kommt, die Sozialdienste auf die Dauer zu angemesseneren Kosten anzubieten: so geht es um eine Begrenzung der Dynamik des Rentenwesens, um die Rationalisierung der Sozialversicherungen, um einen größeren Beitrag zum nationalen Gesundheitswesen usw. 791. Ferner geht es darum, die Zunahme der laufenden Ausgaben 787 Nach G. de Jonquieres (im Artikel "La voglia di privatizzare" in ,,11 sole 24 ore" vom 19. 12. 1986, S. 4) "betrug der beim IRI aus dem Verkauf an private Investoren von Aktienbeteiligungen in den letzten drei Jahren mehr als 5000 Milliarden Lire". 788 Über die Strategien des privaten und öffentlichen Sektors zur Anpassung an die Ungleichgewichte und insbesondere an das öffentliche Defizit geben Auskunft: F. Giavazzi and L. Spaventa, High Public Debt: the Italian Experience, Bologna, Centro di politica economica dell'Univ. di Bologna, 1988. 789 OCSE, Italy, Paris, 1987, S. 22. 790 M. T. Salvemini, La politica monetaria e il finanziamento della spesa pubblica, weist darauf hin (S. 464), daß zwar auch schon früher eine besonders hohe Verschuldung stattfand, daß sie aber in der Vergangenheit nie länger gedauert hatte.
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') b) C) d)
390,4 468,0 545,1 633,6 727,8 815,6 902,2 982,6
1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987
+ 1,1 + 1,4 +3,2 +2,3
1984 +2,9 +2,4
1985 +2,9 +2,7
1986 +3,1 +2,6
1987
168,8 222,0 273,0 327,6 374,2 431,1 472,8 513,3
Betrag')C) 43,2 47,4 50,0 51,7 51,4 52,8 52,4 52,2
Ausgaben in % des BIP 134,3 168,0 209,3 297,4 288,8 326,7 369,0 406,9
34,4 35,9 38,3 40,6 39,6 40,0 40,9 41,4
Einnahmen Betrag')