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German Pages 480 Year 2022
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1466
Die Interpretation von Gesetzgebungskompetenzen Von
Frederic Stephan
Duncker & Humblot · Berlin
FREDERIC STEPHAN
Die Interpretation von Gesetzgebungskompetenzen
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1466
Die Interpretation von Gesetzgebungskompetenzen
Von
Frederic Stephan
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristischen und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hat diese Arbeit im Jahr 2020 als Dissertation angenommen.
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© 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Satz: Textforma(r)t Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-18445-3 (Print) ISBN 978-3-428-58445-1 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Meinen Eltern und meiner Frau
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2020 von der Martin-Luther- Universität Halle-Wittenberg als Dissertation angenommen. Bis zu diesem Zeitpunkt veröffentlichte Literatur wurde umfassend berücksichtigt. Bis Juni 2021 veröffentlichte Publikationen wurden weitgehend ergänzend aufgenommen. Die vorliegende Veröffentlichung wurde dankenswerterweise durch einen Druckkosten zuschuss des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat ermöglicht. Ein besonderer und herzlicher Dank gilt meinem Doktorvater und akademischen Lehrer Herrn Professor Dr. Winfried Kluth. Er hat das Promotionsvorhaben von Anfang an mit vielen hilfreichen Anregungen und großem Enthusiasmus gefördert. Vor allem bedanke ich mich für den großen Freiraum, den er mir während der Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl mit viel Vertrauen und Geduld entgegengebrachte. Diese Jahre werde ich immer in allerbester Erinnerung behalten. Herrn Professor Dr. Michael Germann habe ich die zügige und gewissenhafte Erstellung des Zweitgutachtens und seine vielen hilfreichen Hinweise im Hinblick auf die vorliegende Druckfassung der Arbeit zu verdanken. Bibiana Lange und meine liebe Frau, Friederike Stephan, haben die Arbeit Korrektur gelesen; auch dafür gebührt ihnen mein herzlicher Dank. Aus tiefstem Herzen danke ich meinen Eltern, die mich Zeit meines Lebens stets gefördert, bekräftigt und unterstützt haben. Ihnen und meiner Frau widme ich diese Arbeit. Halle, im Juni 2021
Frederic Stephan
Inhaltsverzeichnis Einführung 19 I.
Gegenstand und Ziel der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
II.
Gang und Methodik der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
Erstes Kapitel I.
Die Kompetenz als formale Kategorie 26 Idee und Funktion des Bundesstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1. Der Bundesstaat als staatsrechtliche Form des Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . 27 2. Ausgestaltung des Bundesstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
II.
Die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2. Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 b) Kompetenz als rechtliches Können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 c) Ermächtigungs- und Ausgrenzungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 d) Verhältnis zu anderen Rechtsfiguren und Begriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 aa) Das Verhältnis von Kompetenz und Staatsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . 38 bb) Kompetenz und Befugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 cc) Kompetenz und Zuständigkeit als synonyme Begriffe . . . . . . . . . . . . . . 42 dd) Anschlussbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 (1) Kompetenznormen, Kompetenztitel und Kompetenzausübung . . . . 43 (2) Verbands- und Organkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 (3) Sach- und Wahrnehmungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 e) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 3. Der Gehalt der Kompetenzzuweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 a) Formeller Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 b) Keine Verpflichtung zum Tätigwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 c) Materieller Gehalt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 4. Zusammenfassung: Die Kompetenz als Relationsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
10
Inhaltsverzeichnis
III. Funktionen der Kompetenzordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 IV. Typologie der Gesetzgebungszuständigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 1. Titulierte Kompetenzen und Residualkompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2. Ausschließliche und konkurrierende Zuständigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3. Kompetenzeinschlüsse und Kompetenzausschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 4. Geschriebene und ungeschriebene Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 5. Sonderkompetenz, konstitutive Kompetenz und deklaratorische Kompetenz . . 60 V.
Prinzipien der Kompetenzzuordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 1. Das Verteilungsprinzip: Ermächtigung und Ausgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2. Trennung und Alternativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 b) Die Nichtexistenz von Doppelkompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3. Beidseitigkeit der Kompetenzordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 4. Relativität des Kompetenzrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 5. Statik, Rigidität und Unverfügbarkeit der Kompetenzzuweisung . . . . . . . . . . . 78 6. Subsidiarität als Kompetenzverteilungsmaxime? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 b) Das Subsidiaritätsprinzip als politische Klugheitsregel . . . . . . . . . . . . . . . . 81 c) Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . 82 d) Insbesondere: Normtextliche Hinweise auf ein Subsidiaritätsgebot im Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 aa) Art. 30 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 bb) Art. 72 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
VI. Zusammenfassung des ersten Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
Zweites Kapitel I.
Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen 91 Methodische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 1. Zusammenspiel von Auslegung und Subsumtion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 2. Das Auslegungsziel: Wille des Kompetenznormsetzers oder Wille des Gesetzes? 94
II.
Besonderheiten bei der Auslegung von Kompetenznormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 1. Die Notwendigkeit einer hinreichenden Bestimmtheit der Kompetenzordnung 98 2. Strikte Interpretation von Kompetenznormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
Inhaltsverzeichnis
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3. Keine Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4. Unterschiede zur herkömmlichen Verfassungsinterpretation, insbesondere zur Grundrechtsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 III. Wortlautauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 IV. Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 V.
Kompetenz, Typus, Tradition – Methodische Leitlinien einer entstehungszeitlichen Kompetenzinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 1. Die historische Auslegung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungs gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 2. Wille des Gesetzgebers als Chimäre? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 3. Die Berücksichtigung der Genese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 4. Tradition als historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 b) Im Vergleich: Die Versteinerungstheorie des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 aa) Der Zusammenhang zwischen Versteinerungstheorie und historischer Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 bb) Die ergänzende Anwendung der „intrasystematischen Interpretations methode“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 cc) Versteinerungstheorie als Leitlinie der Kompetenzinterpretation nach dem Grundgesetz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 c) Interpretation nach Art des Zuweisungsgehalts: Die Unterscheidung faktisch-deskriptiv und normativ-rezeptiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 bb) Kritik des Interpretationsansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 d) Mutmaßung der inhaltsgleichen Übernahme: Das „Schweigen“ des Verfassungsgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 aa) Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 bb) Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 cc) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 e) Voraussetzung der Übernahme im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 aa) Zeitpunkt der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 bb) Objekt der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 cc) Insbesondere: Die Übernahme einer rechts- und verfassungswidrigen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 5. Zum Verhältnis von vergangenheitsbezogener und zukunftsbezogener Kompetenzinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
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Inhaltsverzeichnis a) Versteinerung des Rechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 b) Kompetenz als Typus – Aufnahme des Zuweisungsgehalts nur in seinen Grundstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 c) Die Verfassungspraxis des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . 158 aa) Sozialversicherung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) als Gattungsbegriff . . . . 159 (1) Identität von Gattungsbegriff und Typus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 (2) Abweichende Stimmen im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 (3) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 bb) Steuern und Steuerarten als Typusbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 (1) Beschluss zur Verfassungsmäßigkeit des Kernbrennstoffsteuerge setzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 (2) Übertragbarkeit des Beschlusses auf die Interpretation von Sachgesetzgebungskompetenzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 cc) Der Typus und seine Grenzen: Partielle Erweiterung einer historisch- genetisch orientierten Typusinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 (1) Öffentliche Fürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 (2) Altenpflege-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 (a) Der historisch-genetische Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . 176 (b) Dynamische Elemente und kompetenzielle Verzahnungen . . . 178 6. Zusammenfassung: Der typisierende Fallvergleich als Hilfe zur Kompetenz bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen und dynamischen Kompetenzinterpretation . 181 1. Teleologische Auslegung von Kompetenznormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 a) Objektive Zwecke von Kompetenznormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 b) Überregionalität versus Regionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 aa) Rechtseinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 bb) Das Regionalprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 2. Staatspraxis als Interpretation der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 a) Das Bundesverfassungsgericht und die nachkonstitutionelle Staatspraxis . . 188 b) Der Beschluss des Ersten Senats zur Bundesärzteordnung (BVerfGE 68, 319) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 c) Die Berücksichtigung der nachkonstitutionellen Staatspraxis als Deaktivierung des Verfassungsgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 d) Staatspraxis als Argumentationslastregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 e) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 3. Stillschweigend mitgeschriebene Kompetenzen als Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 a) Begriff und Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
Inhaltsverzeichnis
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b) Sonderfall: Die Kompetenz kraft Natur der Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 aa) Überblick über die Voraussetzungen einer Kompetenz kraft Natur der Sache nach dem Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 bb) Typologie und Voraussetzung der Kompetenz kraft Natur der Sache . . 203 cc) Die leitenden Gesichtspunkte zur Begründung der Kompetenz kraft Natur der Sache: Staatsnotwendigkeit und Funktionsnotwendigkeit . . . . . 205 (1) Unerträgliche Uneinheitlichkeit und Evidenz der Natur der Sache . 205 (2) Natur der Sache aus der Organisationshoheit des Bundes . . . . . . . . 206 (3) Funktionsnotwendigkeit und Staatsnotwendigkeit . . . . . . . . . . . . . 206 (4) Staatsnotwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 (5) Funktionsnotwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 (a) Vertretung der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 (b) Raumbedeutsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 (6) Mögliche Einwände und andere Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 (a) „Metaphysische Scheinbegründung“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 (b) Kompetenz kraft Analogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 dd) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 c) Die Kompetenz kraft Sachzusammenhangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 aa) Grundgedanke des Sachzusammenhangs als Instrument zur Zielerreichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 bb) Formelhafter und nicht formelgebundener Sachzusammenhang . . . . . . 221 cc) Das Kriterium der Unerlässlichkeit als Voraussetzung des Sachzusammenhangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 (1) Die Sachzusammenhangsformel des Bundesverfassungsgerichts . . 225 (2) Der Sachzusammenhang als Junktim: Die Unerlässlichkeit der Fremdmaterie für die Regelung der Sachmaterie . . . . . . . . . . . . . . 227 (3) Akzessorietät und punktueller Bezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 dd) Gründe der Unerlässlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 (1) Rückanknüpfung an Lebenswirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 (2) Grundrechtsschutz und Unerlässlichkeit: Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum bayerischen Schwangerenhilfeergän zungsgesetz (BVerfGE 98, 265) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 (a) Grundrechtliche Unerlässlichkeit und Relativität des Kompetenzrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 (b) Der Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 (c) Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . 239 (d) Stellungnahme: Rückführung des Sachzusammenhangs auf seinen punktuellen und akzessorischen Bezug . . . . . . . . . . . . . . . 241 (aa) Beratungsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 (bb) Einrichtung zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen 243
14
Inhaltsverzeichnis (cc) Voraussetzungen und Begründung der Annahme einer „grundrechtlichen Unerlässlichkeit“ im Sinne des Sachzusammenhangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 ee) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 d) Annexkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 aa) Die Wirkung der Annexkompetenz in Abgrenzung zum Sachzusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 bb) Die Voraussetzung der Annexkompetenz: Unselbstständigkeit der Annexmaterie und spezifischer Zusammenhang zur Sachregelung . . . . . . . . . 254 (1) Keine Notwendigkeit im Sinne der Sachzusammenhangsformel . . 254 (2) Spezifischer Zusammenhang zur Sachregelung am Beispiel des Gefahrenabwehrrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 (3) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 cc) Anwendungsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 (1) Statistik und Enteignung als Beispiele für geschriebene Annexkompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 (2) Verwaltungsverfahrensrecht und Verwaltungsorganisation . . . . . . . 263 (3) Informationszugangsansprüche als Annexregelungen . . . . . . . . . . . 267 (4) Die Situation bei presserechtlichen Auskunftsansprüchen . . . . . . . 269 (a) Presserechtliche Auskunftsansprüche und die Facetten einer historischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 (b) Subsumtion der Vorgaben der Annexkompetenz . . . . . . . . . . . 272 (c) Kompetenz kraft Sachzusammenhangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 (d) Kompetenz kraft Natur der Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 (e) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 dd) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 4. Fazit zur teleologischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
VII. Zusammenfassung des zweiten Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
Drittes Kapitel
Maßstäbe der Kompetenzzuordnung 283
I.
Einführung und Einordnung der Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
II.
Kriterien der Qualifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 1. Zuordnung nach dem objektivierten Willen des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . 286 2. Zuordnung nach dem Schwerpunkt der Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 b) Schwerpunkt als Auflösungskriterium einer Kompetenzkonkurrenz oder als Hilfsmittel zur Kompetenzzuordnung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
Inhaltsverzeichnis
15
c) Zuordnung über die Spezialität: Sonderrecht, allgemeines Recht und „Ordnungsschwerpunkt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 bb) Abgrenzung nach dem Gesichtspunkt des Sonderrechts am Beispiel „typischer“ presserechtlicher Problemfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 (1) Presserechtliche Verjährungsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 (2) Zeugnisverweigerungsrecht für Presseangehörige . . . . . . . . . . . . . 296 (3) Auflagenbeschlagnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 (4) Presserechtlicher Auskunftsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 d) Kern- und Randbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 e) Der Regelungszusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 aa) BVerfGE 97, 228 – Kurzberichterstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 bb) BVerfGE 121, 30 – Parteibeteiligung an Rundfunkunternehmen . . . . . 308 cc) Bedeutung und Auswirkung des Regelungszusammenhangs für die Kompetenzzuordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 3. Andere Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 a) Zur These des idealkonkurrierenden Sonderrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 b) Auflösungskriterien in eine bestimmte Richtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 III. Zum janusköpfigen Verhältnis von implizit mitgeschriebenen Gesetzgebungszuständigkeiten (Sachzusammenhang, Annex) zu Schwerpunktkriterien . . . . . . . . . . 319 1. Ungeklärte dogmatische Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 2. Eigener Ansatz: Die Zirkelbewegung der Anwendung implizit mitgeschriebener Gesetzgebungszuständigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 IV. „Mosaikkompetenzen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 2. Insbesondere: Mosaikkompetenz im Bereich des Ladenöffnungsrechts . . . . . . 325 V.
Regelungskumulationen durch verschiedene Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . 328
VI. Zusammenfassung des dritten Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
16
Inhaltsverzeichnis Viertes Kapitel
I.
Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten 336 Einleitung: Kompetenzkonflikte als Normkonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 1. Normkonkretisierungskonflikte und Normkonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 2. Typologie des bundesstaatlichen Normkonflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 a) Konkurrierende Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 b) Normkollisionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 c) Widersprüchliche Regelungskonzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 3. Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
II.
Konfliktvermeidung im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung . . . . . . . . . . . 342 1. Systematik der konkurrierenden Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 2. Rahmenbedingungen für den Vorrang des Bundes und für den Eintritt und Wegfall der Sperrwirkung nach Art. 72 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 a) Das abgeschlossene Ordnungsmodell als Voraussetzung der Sperrwirkung 346 b) Der „absichtsvolle Regelungsverzicht“ als Teil der konzeptionellen Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 c) Nachträglicher Wegfall der Sperrwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 aa) Nachträglicher Wegfall durch förmliches Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 bb) Wegfall durch unförmliches Verhalten: Der Beschluss zu thüringischen Ladenöffnungszeiten (BVerfGE 138, 261) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 cc) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 3. Parallele Kompetenzen im Bereich der Abweichungsgesetzgebung . . . . . . . . . 362 a) Einordnung der Abweichungsgesetzgebung als Sperre für den abschließenden Gebrauch der Bundeskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 b) Tatbestand der Abweichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 bb) Anforderungen an den Gebrauch im Sinne von Art. 72 Abs. 3 GG: Zum Anwendungsbereich der Abweichungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 (1) Zeitpunkt des Gebrauchs („solange“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 (2) Umfang des Gebrauchs („soweit“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 cc) Sonderfragen zur inhaltlichen Qualität der Abweichung . . . . . . . . . . . . 373 (1) Nur punktuelles Abweichen oder Vollkompetenz? . . . . . . . . . . . . . 373 (2) Zulässigkeit der Negativgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 (3) Inhaltsgleiche Übernahme von Bundesrecht als eigene Regelung . 375 (4) Zwischenfazit: Abweichungsgesetzgebung als volles Zugriffsrecht der Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377
Inhaltsverzeichnis
17
dd) Abweichungsintention und Zitiergebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 c) Grenzen der Abweichungsbefugnis und Kompetenzausübungsschranken . . 382 aa) Allgemeine Grenzen der Abweichungsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . 382 bb) Bundestreue als ungeschriebene Kompetenzausübungsschranke . . . . . 383 (1) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 (2) Akzessorischer Charakter der Bundestreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 (3) Eingeschränkte Anwendbarkeit der Bundestreue auf dem Gebiet der Abweichungsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 III. Schranken übergreifender Kompetenzausübungen und widersprüchlicher Regelungskonzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 1. Entstehung widersprüchlicher Regelungskonzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 2. Unterscheidung von Normwidersprüchen und Wertungswidersprüchen . . . . . . 392 3. Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 a) Die Entscheidung zur kommunalen Verpackungssteuer (BVerfGE 98, 106) 397 aa) Der Sachverhalt: Konterkarierung des dualen Abfallsystems durch kommunale Verpackungssteuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 bb) Lenkungssteuern als Teil der Steuerbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 cc) Die Konstruktion der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als Kompetenzausübungsschranke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 b) Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als Verfälschungstatbestand . 402 c) Stellungnahme: Unvereinbarkeit der Ansicht mit der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 4. Die Bundestreue als Maßstab zur Lösung von Normkonflikten . . . . . . . . . . . . 408 a) Allgemeine Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 b) Die Voraussetzung einer Kompetenzausübungsschranke im Falle konzeptioneller Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 aa) Aushöhlung der eigenen Gesetzgebungszuständigkeiten? . . . . . . . . . . . 410 bb) Das abgeschlossene Ordnungsmodell als Voraussetzung einer bundesstaatlichen Rücksichtnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 cc) Konkretisierung der „gravierenden Störung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 (1) Keine prozeduralen Anforderungen an die Gesetzgebung . . . . . . . 415 (2) Hemmung fremder Lösungsmuster nicht ausreichend . . . . . . . . . . 415 (3) Der entscheidende Gesichtspunkt: Nachhaltige Schädigung oder Vereitelung der konzeptionellen Gestaltungsmöglichkeiten . . . . . . . . . 417 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 d) Übertragung auf ausgewählte Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420
18
Inhaltsverzeichnis 5. Keine Anwendbarkeit von Art. 31 GG auf Wertungswidersprüche . . . . . . . . . . 422 6. Lösung durch Abwägung: Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 7. Rechtsstaatliche Lösungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 8. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429
IV. Zusammenfassung des vierten Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474
Einführung I. Gegenstand und Ziel der Untersuchung Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Bundesstaat (Art. 20 Abs. 1 GG). Der Bundesstaat zählt zu den elementaren Prinzipien des Grundgesetzes1, zugleich zeichnet das Grundgesetz seinen Bau- und Funktionsplan „relativ genau“ vor.2 Da sich der Bundesstaat vor allem danach definiert, wie das Grundgesetz ihn im Einzelnen ausgestaltet, rückt der Verfassungstext in das Zentrum der Aufmerksamkeit.3 Bedeutenden Raum für die Erklärung der Funktionsweise des Bundesstaats nehmen dabei Kompetenzen ein. Sie stellen die Mittel dar, mit denen eine Verfassung Bundesstaatlichkeit zu erreichen versucht.4 Nach Herbert Krüger ist die Zuständigkeit „das zugleich unscheinbarste, aufschlußreichste und vor allem bedeutsamste Merkmal der Systematik des modernen Staates“5. Sie ist eine Grundkategorie des Rechts der Organisation6 und elementar für die Teilung der Gewalten sowohl in horizontaler als auch in vertikaler Hinsicht. Diese Arbeit interessiert sich für Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat. Die wissenschaftliche Praxis und insbesondere das Bundesverfassungsgericht haben seit Bestehen der Bundesrepublik zu einem vertieften Verständnis beigetragen. Dies betrifft die Erörterung von Grundfragen einer Kompetenzlehre7, die Untersuchung von historischen und aktuellen Entwicklungen8, den Vergleich mit anderen Verfassungsordnungen9, die Analyse sowohl von allgemeinen dogmati 1
BVerfGE 1, 14 (18); Bauer, in: Dreier, GG, Art. 20 (Bundesstaat) Rn. 22. Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 6. 3 Šarčević, Das Bundesstaatsprinzip, S. 59 ff. 4 T. Weber, DÖV 2016, 671 (673); siehe auch Kimminich, in: HStR I2, § 26 Rn. 21: „Das Bund-Länder-Verhältnis reduziert sich damit auf Kompetenzfragen.“ 5 Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 103. 6 Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 1. 7 Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre; Heintzen, Die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaatsrecht; Zimmer, Funktion-Kompetenz-Legitimation; vgl. auch Isensee, in: HStR VI, § 133. 8 Oeters, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht; Haag, Die Aufteilung steuerlicher Befugnisse im Bundesstaat; Sanden, Die Weiterentwicklung der föderalen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland; Lahne, Die Entwicklung der bundesstaatlichen Ordnung; Lutz, Vielfalt im Bundesstaat; siehe auch das umfassende Schrifttum zur Föderalismusreform: H. P. Schneider, Der neue Bundesstaat; Gerstenberg, Zu den Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen nach der Föderalismusreform; Kluth (Hrsg.), Föderalismusreformgesetz; Meyer, Die Föderalismusreform 2006; Starck (Hrsg.), Föderalismusreform. 9 Bothe, Die Kompetenzstruktur des modernen Bundesstaats in rechtsvergleichender Sicht; Hanschel, Konfliktlösung im Bundesstaat; v. Danwitz, AöR 131 (2006), 510 ff.; Wiederin, 2
20
Einführung
schen Fragen10 als auch von Detailfragen11 sowie von verwandten Rechtsfiguren12. Der entscheidende Motor für die Entwicklung eines Kompetenzverständnisses ist gleichwohl das Bundesverfassungsgericht, was vor allem daran erkennbar ist, dass alle Studien im engen Dialog mit den Auffassungen des Gerichts stehen und die Grundprämissen seit dem Baurechtsgutachten13 erhalten geblieben sind. Dennoch gibt es auch heute noch im Streitfall große Unsicherheiten.14 Diese Unsicherheiten kreisen vor allem um Zuordnungsfragen. Die Schwierigkeit in der Handhabung von Gesetzgebungskompetenzen liegt darin, komplexe Regelungen oder auch ganze Regelungskomplexe einer Kompetenznorm zuzuordnen, die ihren Tatbestand lediglich etikettiert.15 Eine leitende Annahme dieser Arbeit ist, dass der Kompetenzordnung Doppelzuständigkeiten, auf deren Grundlage Bund und Länder ein und denselben Gegenstand in unterschiedlicher Weise regeln könnten, fremd sind. Ihrer Vermeidung ist größte Aufmerksamkeit zu schenken.16 Bundesrecht und Landesrecht; bezogen auf die Abweichungsgesetzgebung auch Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen. 10 Umfassend Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat; ferner Barthelmann, Der gestaltende Steuergesetzgeber im Konflikt mit dem Sachgesetzgeber; Bullinger, AöR 96 (1971), 237 ff.; März, Bundesrecht bricht Landesrecht; Schröder, Kriterien und Grenzen einer Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs; Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen. Zu Art. 72 Abs. 2 GG Kenntner, Justitiabler Föderalismus; Knorr, Die Justitiabilität der Erforderlichkeitsklausel; Würtenberger, Art. 72 II GG. Zu Art. 72 Abs. 3 GG Chandna, Das Abweichungsrecht der Länder gemäß Art. 72 Abs. 3 GG; Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen; Krapp, Die Abweichungskompetenzen der Länder; v. Stackelberg, Die Abweichungsgesetzgebung. 11 Etwa Bullinger, Die Mineralölfernleitungen, S. 51 ff.; Gärditz, Strafprozeß und Prävention, S. 219 ff.; Jarass, Kartellrecht und Landesrundfunkrecht; Köstlin, Die Kulturhoheit des Bundes; Pabel, Grundfragen der Kompetenzordnung im Bereich der Kunst; Petschulat, Die Regelungskompetenz der Länder für die Raumordnung; Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz; Zsinka, Das Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung. Empfehlenswert ist nach wie vor die Kommentierung von Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 3. Aufl. 1996, Art. 70–75. 12 Bauer, Die Bundestreue; Felix, Einheit der Rechtsordnung; Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat. 13 BVerfGE 3, 407. 14 Vgl. nur aus jüngerer Zeit BVerfGE 121, 30 (Parteibeteiligung an Rundfunkunternehmen); 125, 260 (Vorratsdatenspeicherung); 134, 33 (Therapieunterbringungsgesetz); 135, 155 (Filmförderung); 138, 261 (Thüringisches Ladenöffnungsgesetz); 140, 65 (Betreuungsgeld); 145, 20 (Spielhallen); 145, 171 (Kernbrennstoffsteuergesetz); ferner BVerwGE 146, 50 (Auskunftsanspruch der Presse gegenüber dem Bundesnachrichtendienst); BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20 (Berliner Mietendeckel). 15 Darauf weist hin Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 69. 16 Das entspricht der herrschenden Ansicht, vgl. BVerfGE 36, 193 (202 f.); 61, 149 (204); 106, 62 (114); BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 81; Degenhart, in: Sachs, GG; Art. 70 Rn. 62; Dreier, in: ders., GG, Art. 31 Rn. 58; Heintzen, in: BK, GG, Art. 70 Rn. 77; Isensee, HStR VI, § 133 Rn. 98; Müller / Pieroth / Rottmann, Strafverfolgung und Rundfunkfreiheit, S. 51 ff.; Pietzcker, in: HStR VI, § 134 Rn. 51; Rengeling, HStR VI, § 135 Rn. 41; Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 58; Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 310 ff.
I. Gegenstand und Ziel der Untersuchung
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Diese nicht unumstrittene Annahme17 wird jedoch durch die Gesetzgebungspraxis herausgefordert, die zahlreiche Beispiele aufzeigt, wonach Regelungsthemen sowohl vom Bund als auch von den Ländern wahrgenommen werden können und insoweit Doppelungen auftreten. Die Gründe für diese Überschneidungen, so zahlreich sie sein mögen, beruhen im Kern darauf, dass Bund und Länder vergleichbare Ziele auf Grundlage unterschiedlicher Kompetenztitel verwirklichen können. Dabei sind drei Entstehungskonstellationen zu unterscheiden, die eine gesonderte Betrachtung verlangen: – Ein Kompetenzträger überschreitet seine Kompetenzen und regelt Themen, für die er nicht zuständig ist (1); – ein Kompetenzträger macht von seinen Kompetenzen zulässigen Gebrauch, seine Regelung berührt aber eine Zuständigkeit des anderen Kompetenzträgers, ohne unter diese subsumiert werden zu können (2); – ein Kompetenzträger macht zwar zulässig von seiner Kompetenz Gebrauch, die Kompetenzausübung führt aber in der Folge dazu, dass seine Regelung auf Aspekte anderer Kompetenzen (punktuell) übergreift (3). Die erste und zweite Konstellation betrifft die Frage der richtigen Kompetenzinterpretation und -zuordnung, während die dritte Konstellation die Kompetenzausübung betrifft. Viele „Doppelzuständigkeiten“ entpuppen sich bei näherer Betrachtung oft als Kompetenzüberschreitungen (zu 1). Das, was als Doppelzuständigkeit bezeichnet wird, ist in diesem Kontext eine verfassungswidrige Praxis. Dies zu erkennen ist ungleich schwieriger: Die Kompetenzauslegung beruht auf knapp formulierten Kompetenztiteln (z. B. „Bürgerliches Recht“), unter denen sich eine Vielzahl einfachgesetzlicher Regelungsmöglichkeiten verbergen. Die Konkretisierung dieser Normen steht vor der Herausforderung, dass der intuitive Rückgriff auf bestehende gesetzliche Normen wegen des Selbststands der Verfassung nicht möglich ist.18 Die verfassungsrechtlichen Normen müssen also aus sich selbst heraus ausgelegt werden, was angesichts der geringen systematischen Bezüge nicht selten zu unsicheren und umstrittenen Entscheidungen führt. Hinzu kommt, dass der Verfassungsinterpret bei Kompetenznormen auf ein schwieriges Spannungsverhältnis stößt: Einerseits sind Kompetenzen mit Blick auf die Vergangenheit 17 Von Doppelzuständigkeiten gehen mit zum Teil unterschiedlichen Begründungen aus Bothe, in: AK-GG, Art. 70 Rn. 21 ff.; Herbst, in: Berliner Kommentar, Art. 70 Rn. 51; Lerche, JZ 1972, 468 (471); März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 132 ff.; Pestalozza, DÖV 1972, 181 (190); ders., in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Bd. 8, Art. 70 Abs. 1 Rn. 75 f.; Scholz, in: FG BVerfG, S. 256; Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, S. 132 ff.; skeptisch auch Jestaedt, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, GVwR I, § 14 Rn. 50. Grundlegend Merkl, Zum rechtstechnischen Problem der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung, S. 1305 ff. 18 Rengeling, in: HStR VI, § 135 Rn. 35; Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 49; Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 70 Rn. 31; grundlegend Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung.
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Einführung
formuliert, andererseits sind sie zukunftsorientiert. Sie sollen dem heutigen Gesetzgeber die Möglichkeit geben, Antworten auf Zeitfragen zu finden und ihn ermächtigen, das Recht weiterzuentwickeln. Der Umgang mit Kompetenzvorschriften darf deshalb nicht dazu führen, dass frühere Rechtszustände verewigt werden. Dessen ungeachtet hat die historische Auslegung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine besondere Bedeutung gewonnen; das Gericht betont regelmäßig die Merkmale des „Traditionellen“ oder „Herkömmlichen“ sowie die „Entstehungsgeschichte“ und „Staatspraxis“.19 Deshalb soll hinterfragt werden, ob und unter welchen Voraussetzungen eine historisch orientierte Interpretation dem zukunftsgerichteten Anspruch von Gesetzgebungszuständigkeiten gerecht wird. Helfen sollen bisweilen die sogenannten ungeschriebenen Kompetenzen. Doch abgesehen von losen Formulierungen, ist bis heute kein Konsens erzielt worden, unter welchen Voraussetzungen der Rückgriff auf Figuren wie die Kompetenz kraft Sachzusammenhangs und die Annexkompetenz erfolgt. Wie zu zeigen sein wird, hat auch das Bundesverfassungsgericht noch keine konsistente Rechtsprechung gefunden, die diese Problemkreise sauber in die Kompetenzmethodik integriert. Während das Gericht in manchen Entscheidungen den Sachzusammenhang zur Begründung seiner Ansicht nutzt20, greift es in vergleichbaren Fallgestaltungen nicht auf ihn zurück.21 Mitunter nutzt es einen formelfreien „lockeren“ Sachzusammenhang im Sinne eines Schwerpunktkriteriums22, während es in anderen Entscheidungen auf einen formelgebundenen und unter strengen Voraussetzungen stehenden Sachzusammenhang abstellt.23 Schwierig ist aber nicht nur die Interpretation von Kompetenznormen, sondern auch die Zuordnung einer einfachgesetzlichen Regelung zu einer Kompetenznorm (zu 2). Es geht hierbei um janusköpfige Gesetze24, d. h. um solche Gesetze,
19
St. Rspr., etwa BVerfGE 106, 62 (105) (Altenpflege) m. w. N. BVerfGE 98, 265 (299 ff.) (Bayerisches Schwangerenhilfegesetz); 106, 62 (104 ff.) (Altenpflege); 110, 33 (48) (Zollkriminalamt); 125, 260 (314 f.) (Vorratsdatenspeicherung). 21 So etwa in BVerfGE 97, 332 (Kindergartenbeiträge); 135, 155 (Filmförderung); einen Sachzusammenhang hat es in jüngerer Zeit abgelehnt in BVerfGE 138, 261 (279 Rn. 40) (Thüringisches Ladenöffnungsgesetz); 140, 65 (92 Rn. 60 ff.) (Betreuungsgeld). 22 BVerfGE 4, 74 (84) (Ärztliches Berufsgericht); 7, 29 (38 f.) (Pressedelikte); 22, 180 (213) (Jugendhilfe); 23, 113 (125) (Blankettstrafrecht); 88, 230 (330) (Schwangerschaftsabbruch); 109, 190 (215 ff.) (Nachträgliche Sicherungsverwahrung); vgl., auch die neuere Rechtsprechung zum Regelungszusammenhang BVerfGE 97, 228 (251 f.) (Kurzberichterstattung); 97, 332 (342 f.) (Kindergartenbeiträge); 121, 30 (47 f.) (Parteibeteiligung an Rundfunkunternehmen); 138, 261 (274 Rn. 30) (Thüringisches Ladenöffnungsgesetz). 23 BVerfGE 3, 407 (421) (Baugutachten); 12, 205 (237) (1. Rundfunkentscheidung); 15, 1 (20 f.) (Seewasserstraßen); 26, 281 (300) (Gebührenpflicht) sowie die Nachweise in Fn. 20; Kritik an der Judikatur etwa bei Cremer, ZG 2005, 29 ff.; Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, Art. 70 Abs. 1 Rn. 109 ff.; zur unterschiedlichen Verwendungsweise der Sachzusammenhangsformel Bullinger, AöR 96 (1971), 237 (241 ff.). 24 Cremer, ZG 2005, 29 (31). 20
I. Gegenstand und Ziel der Untersuchung
23
die verschiedene Kompetenzmaterien berühren.25 Dass eine möglichst eindeutige und nachvollziehbare Zuordnung nicht einfach ist, zeigt die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, die sich seit jeher mit Zuordnungsfragen im Schnittstellenbereich befassen musste.26 Um Doppelzuständigkeiten zu vermeiden, bedarf es handhabbarer Kriterien, die die Kompetenzzuordnung möglichst konkret anleiten. In anderen Fällen führen zwei auf Kompetenzen beruhende Regelungen zu Wertungs- oder zu Normwidersprüchen (zu 3). Der klassische Anwendungsfall ist eine Kompetenzausübung, die auf einem Sachzusammenhang beruht.27 Ebenso kann der Steuergesetzgeber mithilfe von Lenkungssteuern Ziele umsetzen, die ansonsten einer Sachzuständigkeit bedürfen.28 Während die ersten beiden Konstellationen auf Normkonkretisierungskonflikte hindeuten, sind die Konflikte der dritten Konstellation Normkonflikte, und knüpfen an Kompetenzausübungsschranken an.29 Das Bundesverfassungsgericht hat in einigen Entscheidungen auf das Gebot einer widerspruchsfreien Rechtsordnung verwiesen.30 Es wird zu klären sein, ob diese Rechtsprechung überzeugen kann. Ziel dieser Arbeit ist es in diesem Sinne, grundlegende Instrumente und Argumente aufzuzeigen, die eine rationale Handhabung von Kompetenznormen gewährleisten. Bestehende dogmatische Figuren und „typische“ Argumentationsmuster sollen aufgegriffen, weitergedacht, möglichst anhand von Sub-Kriterien konkretisiert und – wenn nötig – kritisch reflektiert werden. Dies alles geschieht nicht auf einer abstrakten Ebene, sondern in enger Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Dieses Vorgehen soll einerseits die Rezeptionsfähigkeit der eigenen Aussagen sicherstellen. Andererseits hat dies den Vorteil, dass die Betrachtung konkreter Rechtsprobleme sowie die Einbeziehung des Kontextes, in denen sie stehen, die Tauglichkeit der eigenen Modelle kontrolliert, während rechtstheoretische Überlegungen ohne entsprechendes Fallmaterial oft nur bloße Gedankenspiele bleiben. Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass diese Arbeit nicht das Ziel verfolgt, die einzelnen Entscheidungen oder gar einzelne Kompetenztitel ausführlich zu kommentieren. Von größerem Interesse ist vielmehr, wie das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidungen begründet, welche Argumente zu allgemeinen Leitlinien abstrahiert und weitergedacht werden
25
Man kann insoweit auch von „ambivalenten“ oder von „chamäleonartigen“ Normen sprechen, vgl. dazu Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 337. 26 Etwa BVerfGE 7, 29 (Presserechtliche Verjährungsregelungen); 36, 193 (Zeugnisverweigerungsrecht); 97, 228 (Kurzberichterstattung); 97, 332 (Kindergartenbeiträge); 98, 106 (Kommunale Verpackungssteuer); 121, 30 (Parteibeteiligung an Rundfunkunternehmen); 106, 62 (Altenpflegegesetz); 135, 155 (Filmförderung); 138, 261 (Thüringisches Ladenöffnungsgesetz). 27 Zum Beispiel BVerfGE 98, 265 (299 ff.) (Bayerisches Schwangerenhilfegesetz). 28 BVerfGE 98, 83 (97 ff.) (Landesrechtliche Abfallabgabe); 106 (117 ff.) (Kommunale Verpackungssteuer). 29 Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 375. 30 BVerfGE 98, 83 (97); 98, 106 (118 f.); 98, 265 (301).
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können, aber auch, ob das Gericht seinen selbst gesetzten Maßstäben gerecht wird und diese konsequent und konsistent vertritt. Die Arbeit soll so einen Beitrag für eine gegenstandsadäquate Kompetenzinterpretation leisten.
II. Gang und Methodik der Darstellung Diese Arbeit geht deduktiv vor. Die Methodik der Kompetenzabgrenzung soll anhand allgemeiner Überlegungen zur verfassungsrechtlichen Wirkweise der Kompetenz nachvollzogen werden. Dazu wird in einem ersten Schritt die Kompetenz als eine formale Kategorie des Rechts reflektiert. Es gilt, die Kompetenz mithilfe ihrer begrifflichen Elemente, ihrer Funktionen und der ihr zugrundeliegenden Prinzipien zu rekonstruieren. Dieses Anliegen wird Gegenstand des ersten Kapitels sein. Die Ausführungen erscheinen bisweilen eher schwer zugänglich und wenig praxisrelevant. Sie werden sich im Laufe der Untersuchung aber als maßgeblich erweisen, weil die Erkenntnisse immer wieder die eigenen Argumente und Thesen stützen werden. Das erste Kapitel soll in diesem Sinne einen „allgemeinen Teil“ für eine gegenstandsadäquate Kompetenzinterpretation voranstellen. Dabei werden sich die Ausführungen auf die Gesetzgebungskompetenzen des Grundgesetzes konzentrieren. Andere Zuständigkeiten, wie die Verteilung der Verwaltungsoder Steuerkompetenzen sind nur insoweit Gegenstand dieser Arbeit, wie sie im Zusammenhang zu den Gesetzgebungszuständigkeiten stehen oder Rückschlüsse erlauben, die auch für die hier relevanten Fragestellungen interessant sind. Der weitere Gang der Darstellung ist durch die Problembeschreibung der Doppelzuständigkeit bereits vorgezeichnet. Im zweiten Kapitel sollen die Linien für eine funktionsgerechte Kompetenzauslegung aufgezeigt werden. Dabei wird die Untersuchung entlang des gewöhnlichen Verlaufs eines Auslegungsprozesses erfolgen. Deshalb werden im zweiten Kapitel typische Argumente aus dem Wortlaut, der Systematik, des Historischen und Traditionellen sowie des Sinn und Zwecks einer Kompetenznorm aufgezeigt. Im Vordergrund stehen der Rang und die Stellung der historischen Auslegung für die Kompetenzinterpretation sowie die Dogmatik „ungeschriebener Zuständigkeiten“. Im dritten Kapitel wird die Zuordnung einer Regelung zu den Kompetenznormen näher betrachtet. Während das zweite Kapitel Auslegungsprobleme untersucht, rückt im dritten Kapitel die Relation der Gesetzgebung zu den Kompetenznormen in den Vordergrund. Im Besonderen soll nachgewiesen werden, dass Regelungen, auch wenn sie unterschiedliche Kompetenzbereiche berühren, dennoch einem Kompetenztitel einheitlich zugeordnet werden können. Dazu werden die maßgeblichen Gesichtspunkte erarbeitet. Anschließend soll in einem vierten Kapitel der Umgang mit Normkonflikten näher beleuchtet werden. In einem ersten Schritt wird typologisiert, wann im Bundesstaat Normkonflikte zwischen Bundes- und Landesrecht auftreten. Sodann sind
II. Gang und Methodik der Darstellung
25
für diese Anwendungsfälle die geeigneten Lösungsinstrumentarien zu erarbeiten. Insgesamt wird es im vierten Kapitel um Kompetenzausübungsschranken gehen. Es wird zu klären sein, inwiefern Kompetenzausübungen inhaltlich beschränkt werden können, wenn sie zu Regelungen anderen kompetentiellen Ursprungs im Widerspruch stehen. Schlussendlich werden die Ergebnisse der Untersuchung in Thesen zusammengefasst.
Erstes Kapitel
Die Kompetenz als formale Kategorie Zu Beginn soll der Frage nachgegangen werden, ob der Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten ein System entnommen werden kann. Die Notwendigkeit, den vielen verschiedenen Kompetenztiteln ein System zu entnehmen, darf nicht unterschätzt werden. Folgt man Claus-Wilhelm Canaris, so liegt die Funktion des Systems in der Jurisprudenz darin, „die wertungsmäßige Folgerichtigkeit und innere Einheit der Rechtsordnung darzustellen und zu verwirklichen. Hieraus gewinnt zugleich das juristische Systemdenken seine Rechtfertigung, die sich somit mittelbar aus den ‚obersten Rechtswerten‘ herleiten läßt“.1 Teilt man die Annahme, dass das juristische Denken in Systemen vielleicht die entscheidende Grundlage der Rechtswissenschaft ist2, so verdient die Charakterisierung gewisser Leitprinzipien der Kompetenzordnung besondere Aufmerksamkeit. Das erste Kapitel soll in diesem Sinne einen „allgemeinen Teil“ der Kompetenzordnung“ verfassen, der die grundlegenden Elemente der späteren Kapitel vor die Klammer zieht. Es soll wichtige Impulse für eine gegenstandsadäquate und zugleich methodengerechte Kompetenzinterpretation ermöglichen und der „willkürlichen Auflistung der Kompetenznormen“ eine gewisse Rationalität verleihen. Um zum Ergebnis eines rational begründeten Kompetenzverständnisses zu gelangen, soll in verschiedenen Schritten vorgegangen werden: Zunächst wird das Augenmerk auf das Prinzip gelegt werden, dessen Teil und Baustein die Kompetenz ist: Das Bundesstaatsprinzip. In einem knappen ersten Gliederungspunkt soll reflektiert werden, welcher Funktion der Bundesstaat dient und wie er zugleich im Grundgesetz ausgestaltet ist. Dabei wird – um das Ergebnis vorweg zu nehmen – deutlich zu machen sein, dass der Bundesstaat selbst kein in sich abgeschlossenes und a priori subsumierbares Strukturprinzip ist; der Bundesstaat definiert sich vielmehr danach, wie er im Grundgesetz positiv ausgestaltet ist. Dies führt zur Feststellung, dass erst die Zusammenschau der Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern eine bundesstaatliche Ordnung konzipiert.
1
Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 155. Dazu auch Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, S. 23 ff.; Sodan, JZ 1999, 864 ff. Bekannt ist auch der Satz von Hans Julius Wolff: „Rechtswissenschaft zumindest ist systematisch oder sie ist nicht!“, in: Studium Generale 5 (1952), 195 (205). Differenzierend dazu Peine, Das Recht als System, der zwar ein das gesamte Recht als System umfassendes Verständnis ablehnt, aber zugleich die Existenz von Teilsystemen bejaht, wenn die rechtlichen Vorschriften in einer Zweck-Mittel-Relation stehen (S. 124). 2
I. Idee und Funktion des Bundesstaats
27
Im zweiten Teil wird es um die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaat gehen. Es wird zu definieren sein, was eine Kompetenz im Bundesstaat ist und aus welchen Gehalten diese besteht. Auch soll die Abgrenzung zu verwandten Rechtsbegriffen durchdacht werden. Anschließend werden ausgehend vom hier vertretenen Begriffsverständnis die wesentlichen Funktionen, Typen und Prinzipien der Kompetenznormen vorgestellt, eingeordnet und reflektiert.
I. Idee und Funktion des Bundesstaats 1. Der Bundesstaat als staatsrechtliche Form des Föderalismus Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat (Art. 20 Abs. 1 GG). Die Bundesstaatlichkeit gehört zur verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes und ist nach Art. 79 Abs. 3 GG durch die Ewigkeitsgarantie geschützt. Der Hintergrund ist der bündische Ordnungsgedanke. Verbände schließen sich zur Erreichung und Förderung gemeinsamer Belange zusammen, ohne ihre Eigenständigkeit aufzugeben. Dies ist die Idee des Föderalismus, deren staatlicher Ausdruck der Bundesstaat darstellt.3 Er teilt die Staatsgewalt sachlich und räumlich in Gliedstaaten und Zentralstaat auf. Dabei kann der Bundesstaat als Typus4 verstanden werden und unterscheidet sich von anderen Formen nach zwei Seiten: Vom Staatenbund als völkerrechtliche Kategorie unterscheidet er sich, weil nicht nur die Mitglieder, sondern auch die Bundesorganisation Staatscharakter besitzen. Dagegen drückt sich der Einheitsstaat darin aus, dass nur die Gesamtkörperschaft, nicht aber ihre Mitglieder einen Staat im staatsrechtlichen Sinne darstellen.5 Weil aber besonders mit dem Einheitsstaat eine gleichsam erfolgreiche Alternative besteht, stellt sich zwangsläufig die Frage nach der Legitimation des Bundesstaats. Dies unterscheidet das Bundesstaatsprinzip von anderen Prinzipien, wie dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip, die bereits einen Wert an sich darstellen und deren moralische Rechtfertigungen „außer Frage stehen“.6 Deshalb versteht das
3
Vgl. dazu Hain, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Bd. 2, Art. 79 Abs. 3 Rn. 120; Šarčević, Das Bundesstaatsprinzip, S. 140 ff.; Schambeck, in: FS Geiger, S. 644. 4 Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 4; grundlegend Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 743 ff. 5 Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 4; Stern, Staatsrecht I, § 19 I 5, S. 653. Gleichwohl sind in beide Richtungen vielfältige Abstufungen denkbar. Im Verhältnis von Einheitsstaat und Bundesstaat existieren etwa mit dem unitarischen Bundesstaat und dem dezentralisierten Einheitsstaat durchaus benachbarte Übergangsformen. Auch die Europäische Union als „Staatenverbund“ bildet eine Form zwischen Staatenbund und Bundesstaat, vgl. dazu auch Jestaedt, in: HStR II, § 29 Rn. 9. Vgl. aber auch Schönberger, AöR 129 (2004), 81 ff., der darauf hinweist, dass – zumindest für die Europäische Union – das Denken im Schema Staatenbund-Bundesstaat überholt sei und es hierfür eines „eigenständigen Analyserasters“ bedürfe (S. 86). 6 Isensee, AöR 115 (1990), 248 (249); Jestaedt, in: HStR II, § 29 Rn. 1; Haag, Die Aufteilung steuerlicher Befugnisse im Bundesstaat, S. 41.
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
Schrifttum den Bundesstaat auch weitgehend als „Hilfsprinzip“7. Der Bundesstaat ist in der verfassungsrechtlichen Ordnung vorrangig ein „Mittel zum Zweck“. Er steht unter Legitimationsdruck.8 Ursprünglich übernahm der Bundesstaat vor allem die Funktion, Vielfalt in der Einheit zu bewahren. Die Einzelstaaten vor 1871 waren historisch gewachsene Staatsgebilde. Die Reichsgründung war nur möglich, weil die föderative Ausgestaltung des Deutschen Reichs die Individualität und Eigenheiten der Territorialstaaten auch nach der Reichsgründung bewahrte.9 Dieser Legitimationsgrund ist demgegenüber nach 1945 in den Hintergrund geraten. Die Bildung der Bundesländer beruhte weniger auf der Bewahrung von Tradition, weil die Länder nach 1945 (abgesehen von Bayern und den Hansestädten) nicht an historisch gewachsene staatliche Einheiten anknüpfen konnten.10 Deshalb hat sich heute – auch wenn dem Gesichtspunkt der Vielfalt seit der Wiedervereinigung und der Föderalismusreform wieder verstärkte Aufmerksamkeit beigemessen wird11 – vor allem der Aspekt der Gewaltenteilung als wesentliche Legitimationsgrundlage des Bundesstaats etabliert.12 Die Gewaltenteilung kommt als Regelungsgegenstand in Art. 20 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 GG und in Art. 1 Abs. 3 GG zum Ausdruck. Durch den Bundesstaat werden die Gewalten sowohl vertikal als auch horizontal aufgeteilt. In vertikaler Hinsicht teilt und differenziert der Bundesstaat die Staatsfunktionen zwischen Bund und Ländern auf. Die Aufteilung erfolgt durch die Zuweisung von Kompetenzen; der Bundesstaat erfährt durch sie seine rechtlichen Konturen. Ergänzt wird die vertikale Gewaltenteilung durch eine horizontale Dimension. Gemeint ist die Mitwirkung föderativer Bundesorgane (Bundesrat) an den Entscheidungen des Zentral 7
Haag, Die Aufteilung steuerlicher Befugnisse im Bundesstaat, S. 41. Isensee, AöR 115 (1990), 248; W. G. Leisner, Föderalismus, S. 28 ff. Gegen die Legitimationsbedürftigkeit des Bundesstaats kann im Übrigen nicht eingewendet werden, dass dieser unter dem Grundgesetz wegen Art. 79 III GG ohnehin nicht zur Disposition steht. Spätestens dann, wenn zwischen Verfassungsprinzipien abgewogen werden muss, hat die Frage der Legitimation entscheidende Bedeutung, vgl. dazu Michael, JZ 2006, 884 (885). 9 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 220. Ausführlich zu den bundesstaatlichen Konstruktionsprinzipien der Reichsverfassung Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, S. 29 ff. So betonte die Reichsverfassung von 1871 in der Präambel noch den bündischen Charakter der einzelnen Länder und somit die Vorstellung von gesonderten Ländernationen, während bereits die Weimarer Reichsverfassung von 1919 das Deutsche Volk in den Vordergrund stellte, vgl. dazu Grzeszick, in: Härtel, Handbuch Föderalismus, Bd. 1, § 2 Rn. 87. 10 Sturm, Der deutsche Föderalismus, S. 225 spricht in diesem Zusammenhang von „Bindestrich-Identitäten“. 11 Vgl. Michael, JZ 2006, 884 ff.; Lutz, Vielfalt im Bundesstaat, passim; Heitsch, Die Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder, S. 10; ähnlich auch Bauer, DÖV 2002, 837 (838). 12 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 27; Haag, Die Aufteilung steuerlicher Befugnisse im Bundesstaat, S. 42 ff.; Schenke, JuS 1989, 698; Starck, in: Härtel, Handbuch Föderalismus, Bd. 1, § 1 Rn. 6. Auch das BVerfG hat sich mitunter diesem Verständnis angeschlossen, so in BVerfGE 55, 274 (318 f.); 108, 169 (181). Die Entwicklung der Idee der Gewaltenteilung seit Charles de Montesquieu zeichnet Schambeck, in: FS Geiger, S. 658 ff. nach. 8
I. Idee und Funktion des Bundesstaats
29
staats.13 Beide Formen der Gewaltenteilung wirken der Konzentration staatlicher Macht in der Hand einer politischen Gruppierung entgegen.14 Insgesamt lassen sich die Gründe für Bundesstaatlichkeit wie folgt zusammenfassen: – Der Bundesstaat stellt die Pluralität der politischen Leitungsgewalt her, indem er die staatliche Macht aufteilt, den Bund und die Länder an den staatlichen Funktionen und Finanzen beteiligt und zugleich durch die föderative Ordnung die demokratische rechts- und sozialstaatliche Ordnung verstärkt.15 – Aus staatsorganisationsrechtlicher Perspektive ist der Bundesstaat weiterhin ein Instrument zur Dezentralisation.16 Er delegiert Verantwortlichkeit, stattet Sachbereiche mit eigenen Entscheidungsträgern und eigenen Entscheidungsgewalten aus und trägt so zur Schaffung von eigenen Lebensbereichen bei.17 – Der föderative Staatsaufbau ist zugleich freiheitsschützend und freiheitserweiternd. Er garantiert eine doppelte Mitwirkung an der staatlichen Willensbildung und vermeidet eine Gewaltenkonzentration.18 Der Bundesstaat ist damit ein Mittel zur Machtbegrenzung. Er weist die einzelnen Staatsaufgaben mehreren Entscheidungsträgern (Bund und Ländern) zu und ist dadurch ein Element zusätzlicher funktionaler Gewaltenteilung.19 Allerdings darf nicht übersehen werden, dass Bundesstaatlichkeit nicht dazu dient, die Einheit der staatlichen Gewalt zu sprengen und der Staatsgewalt insgesamt Ketten anzulegen. Indem der Bundesstaat die staatlichen Funktionen auf zwei Kompetenzträger aufteilt, geht es ihm vielmehr um die Wohlverteilung staatlicher Macht.20 Er entspricht dem Bild einer res publica composita als gegliederte und aus unterschiedlichen Elementen zusammengesetzte „komponierte“ Einheit des Gemeinwesens.21 Der Bundesstaat organisiert die Innehabung und Ausübung der Staatsgewalt, das Bundesstaatsprinzip ist daher vor allem ein Organisationsprinzip. Darüber hinaus und teilweise ergänzend werden im Schrifttum weitere Funktionen des Bundesstaats 13
Grzeszick, in: Maunz / Dürig, Art. 20, IV, Rn. 23; Haag, Die Aufteilung steuerlicher Befugnisse im Bundesstaat, S. 45; Lutz, Vielfalt im Bundesstaat, S. 61 f.; Šarčević, Das Bundesstaatsprinzip, S. 195; Schenke, JuS 1989, 698 (701 f.). 14 Grzeszick, in: Maunz / Dürig, Art. 20, IV, Rn. 20. 15 Stern, Staatsrecht I, § 19 II 1, S. 658. 16 Grundlegend Kelsen, VVDStRL 5 (1929), 30 (82); ders., in: FS Fleiner, S. S. 130 f. 17 Stern, Staatsrecht I, § 19 II 2, S. 658; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 38 II, S. 309. 18 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 231; Hain, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 79 Abs. 3 Rn. 122; Schambeck, in: FS Geiger, S. 658 f.; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 38 IV, S. 310 f. Eine ausführliche Zusammenstellung der Wirkung föderaler Gliederungen findet sich bei Grzeszick, in: Maunz / Dürig, Art. 20 Rn. 19 ff. und Isensee, AöR 115 (1990), 248 (265 ff.). 19 BVerfGE 108, 169 (181). 20 Lerche, VVDStRL 21 (1964), 66 (83); Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 196. Zur Unteilbarkeit der Staatsgewalt bereits Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 496 ff. und speziell zur Staatsgewalt im Bundesstaat S. 502 ff. 21 Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 196; ders., AöR 115 (1990), 248 (269).
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
genannt: Verstärkung des Innovationspotentials und Steigerung der Problemlösungskapazität, Verstärkung des Subsidiaritätsprinzips22 sowie die Unterstützung des Kulturstaats23. 2. Ausgestaltung des Bundesstaats Das Grundgesetz konstituiert den Bundesstaat als Staatsstrukturprinzip, das Bundesverfassungsgericht spricht gelegentlich auch vom „bundesstaatlichen Prinzip“24, vom „Bundesstaatsprinzip“25 oder auch von der „bundesstaatlichen Ordnung“26. Der Bundesstaat lässt sich als ein Typusbegriff verstehen27, der sich aus der Zusammenschau verschiedener Merkmale begreifen lässt. In seiner allgemeinsten Ausprägung stellt er eine Zusammenfassung mehrerer „Gliedstaaten“ und eines „Zentralstaats“ dar, wobei beide Konstruktionen aus der Binnensicht der nationalen Verfassungsordnung im staatsrechtlichen Sinne als Staat zu verstehen sind.28 Diesen typischen Wesensgehalt des Bundesstaats hat auch das Bundesverfassungsgericht erkannt: „Das Eigentümliche des Bundesstaats ist, daß der Gesamtstaat Staatsqualität und daß die Gliedstaaten Staatsqualität besitzen“29. Nach Hesse stellen ferner die Kompetenzaufteilung der staatlichen Befugnisse zwischen Glied- und Gesamtstaat, die Normierung der Einflussmöglichkeiten des Gesamtstaats auf die Gliedstaaten sowie die Gewährleistung einer gewissen Homogenität der gesamtstaatlichen und gliedstaatlichen Ordnung typische Elemente von Bundesstaatlichkeit dar.30 Allerdings kann ein umfassender und allgemeingültiger Bundesstaatsbegriff nicht einfach der Verfassungslehre entnommen werden. Auch das vorverfassungs 22
Badura, in: Bitburger Gespräche 1999/II, S. 60 ff.; Robbers, in: BK, Art. 20 Rn. 1028; Starck, in: Härtel, Handbuch Föderalismus, Bd. 1, § 1 Rn. 10; Teufel, in: Hrbek / Hüttmann, Föderalismus, S. 11 ff.; zum Verhältnis von vertikaler Gewaltenteilung und Subsidiaritätsprinzip Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 95 ff., der in der Gewaltenteilung die größtmögliche Dezentralisation und im Subsidiaritätsprinzip die bestmögliche Dezentralisation sieht. Krit. zum Leitbild des Subsidiaritätsprinzips Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 2 f., der zu Bedenken gibt, dass föderale Subsidiarität, so wie sie in der katholischen Soziallehre propagiert wird, auch durch andere Gestaltungsformen verwirklicht werden kann und somit nicht speziell den Bundesstaat fordert; krit. zur naturrechtlichen Begründung des Subsidiaritätsprinzip Herzog, Der Staat 2 (1963), 398 ff. 23 Robbers, in: BK, Art. 20 Rn. 1028. 24 BVerfGE 1, 14 (34); 43, 291 (348); 55, 274 (318, 321); 63, 1 (43); 72, 330 (398); 86, 148 (199); 87, 181 (196); 88, 203 (328, 332); 99, 1 (11); 101, 158 (233). 25 BVerfGE 56, 298 (320); 72, 330 (404); 86, 148 (213, 265); 92, 203 (230); 95, 250 (264). 26 BVerfGE 86, 148 (264). 27 Grundlegend Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 743 ff.; siehe auch Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 4; Jestaedt, in: HStR II, § 29 Rn. 9. 28 Jestaedt, in: HStR II, § 29 Rn. 9. 29 BVerfGE 36, 342 (360 f.). 30 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 217; ähnlich Stern, Staatsrecht I, § 19 III 2, S. 667.
I. Idee und Funktion des Bundesstaats
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mäßige Gesamtbild des Bundesstaats vor 1945 bietet nur geringe Anhaltspunkte für das Verständnis des Bundesstaats unter der Geltung des Grundgesetzes. Der grundgesetzliche Bundesstaat formuliert sich weniger aus der abstrakten Bundesstaatsnorm des Art. 20 Abs. 1 GG, sondern eher aus der Zusammenschau der verfassungsrechtlichen Einzelvorschriften, die den Bundesstaat betreffen.31 Diese zeichnen „den Bau- und Funktionsplan relativ genau“32 vor und stellen besondere Vorschriften zur Konfliktlösung im Bundesstaat bereit, die als speziellere Vorschriften dem allgemeinen Bundesstaatsbegriff vorgehen.33 Es ist somit das Grundgesetz selbst und keine allgemeine Theorie, das die bundesstaatliche Ordnung schafft.34 „Die Bundesrepublik Deutschland ist Bundesstaat nach Maßgabe des Grundgesetzes“35. Die Verfassung hat die Bundesrepublik als zweigliedrigen Bundesstaat konzipiert, indem es die Kompetenzen zwischen Bund (Zentralstaat) und Ländern (Gliedstaaten) aufteilt.36 Ob der Bundesstaat gedanklich aus einer dritten Größe, einem Gesamtstaat mit „Kompetenzhoheit“ besteht37, dürfte nur von theoretischem Interesse sein.38 Anerkannt ist jedenfalls, dass dem Bund die Kompetenz-Kompetenz zufällt. Ihm ist die Wahrung der Gesamtverfassung und die Fähigkeit übertragen, über die Kompetenzen von Bund und Ländern zu entscheiden und die geltende Kompetenzverteilung im Wege verfassungsändernder Gesetze neu zu bestimmen.39 31
Šarčević, Das Bundesstaatsprinzip, S. 133 ff.; Bauer, Die Bundestreue, S. 260 ff. Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 6. 33 Bauer, in: Dreier, GG, Art. 20 (Bundesstaat) Rn. 22; ähnlich auch Franzius, NVwZ 2008 492 (497); P. Kirchhof, in: HStR II, § 21 Rn. 91; a. A. Evers, in: BK, Art. 79 Abs. 3 Rn. 210. 34 Stern, Staatsrecht II, § 19 I 4, S. 652. Exemplarisch auch Scheuner, DÖV 1962, 641: „Die bewegliche und feine Struktur des Bundesstaates will verstanden und gelebt, nicht so sehr theoretisch konstruiert sein“. 35 Isensee, in: FS BVerfG, S. 719. 36 BVerfGE 13, 54 (77); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 217; Robbers, in: BK, Art. 20 Abs. 1 Rn. 1005. 37 Dies war eine vor allem in der Weimarer Republik vertretene Auffassung, vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 208; ders., in: FS Fleiner, S. 131 f.; Nawiasky, Der Bundesstaat als Rechtsbegriff, S. 21 f. Schon in der Staatstheorie der Bismarckschen Zeit finden sich Spuren des Ansatzes, rückblickend E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 792 ff. Auch heute wird diese Sichtweise verfassungstheoretisch noch begrüßt, vgl. Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 90; Jestaedt, in: HStR II, § 29 Rn. 10.; Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 43 ff.; krit. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 6; Schäfer, NJW 1961, 1281 ff.; Scheuner, DÖV 1962, 641 (642); vgl. auch in jüngerer Zeit Dörfer, Bundesverfassungsgericht und Bundesstaat, S. 27; Robbers, in: BK, Art. 20 Abs. 1 Rn. 1008. 38 Die Judikatur des BVerfG war in der Anfangszeit schwankend, vgl. BVerfGE 6, 309 (360 ff.); später dann BVerfGE 13, 54 (77 f.): „Es gibt nicht neben dem Bundesstaat als Gesamtstaat noch einen besonderen Zentralstaat, sondern nur eine zentrale Organisation, die zusammen mit den gliedstaatlichen Organisationen im Geltungsbereich des Grundgesetzes als Bundesstaat alle die staatlichen Aufgaben erfüllt, die im Einheitsstaat einer einheitlichen staatlichen Organisation zufallen“. 39 BVerfGE 13, 54 (78 f,); Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 89; Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, S. 147; Robbers, in: BK, Art. 20 Abs. 1 Rn. 1012; Stern, Staatsrecht I, § 19 I 4, S. 652; allgemein zum Streit bzgl. der einzelnen Kreise der Bundes 32
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
II. Die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaat 1. Allgemeines Im Bundesstaat sind sowohl der Bund als auch die Länder Staaten.40 Sie sind als Gebietskörperschaften mit der Bundesrepublik verbunden; sowohl ihr Staatsgebiet als auch ihr Staatsvolk sind zumindest teilweise identisch.41 Gleichwohl können heute die früheren Bundesstaatstheorien als überwunden gelten, wonach Bund und Länder zumindest teilweise mit Souveränitätsrechten ausgestattet sind.42 Auf den Begriff wurde noch im 19. Jahrhundert zurückgegriffen, um die Bundesstaaten auch nach der Geltung der Reichsverfassung 1871 noch als völkerrechtliche Souveränitätsobjekte verstehen zu können.43 Anders als in früheren Theorieansätzen ist das Verständnis des Bundesstaates nicht mehr an der Frage nach der Souveränität orientiert. Souveränität kommt aus völkerrechtlicher Perspektive der Bundesrepublik Deutschland insgesamt und in der Theorie des demokratischen Verfassungsstaates dem Volk zu. Die Verfassung konstituiert die Staatsgewalt, bindet sie an die Legitimation durch das Volk (Art. 20 Abs. 2 S. 1 und 2 GG) und organisiert sie im Bund und in den Ländern als föderal gegliederten Trägern der Staatsgewalt. Die Staatsaufgaben, deren Wahrnehmung die Staatsgewalt dient, werden hierzu durch die föderale Verfassung auf Bund und Länder verteilt und eröffnen ihnen ihr staatliches Wirkungsfeld.44 „Die Staatsgewalt, die ihrem Wesen nach ebenso unteilbar ist, wie dies von der Körperkraft eines Menschen gilt, ist im Bundesstaat nicht etwa aufgeteilt zwischen Bund und Gliedstaaten; aufgeteilt sind vielmehr nur die Aufgabengebiete, auf denen sich die (ungeteilte) Staatsgewalt des Bundes oder der Gliedstaaten betätigen darf.“45 Wenn also nicht die Souveränität, sondern die Wahrnehmung der Staatsaufgaben entscheidend ist, dann wird der Begriff der Kompetenz zentral für die bundesstaatliche Ordnung: Kompetenzen stellen die Mittel dar, mit denen eine Verfassung Bundesstaatlichkeit organisiert.46 Mithilfe republik Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 17 ff.; krit. gegenüber der Annahme, dass dem Bund die Kompetenz-Kompetenz übertragen ist Kelsen, in: FS Fleiner, S. 132. Er sieht über der Ebene des Bundes als Teilordnung die Ebene der Gesamtverfassung. 40 BVerfGE 86, 148 (264); Jestaedt, in: HStR II, § 29 Rn. 9. 41 Einzelheiten bei Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 65 ff. 42 So etwa noch Nawiasky, Der Bundesstaat als Rechtsbegriff, S. 47. Nawiasky verwies darauf, „daß Bundesstaatsgewalt und Gliedstaatsgewalt grundsätzlich auf der gleichen Höhenstufe stehen, grundsätzlich gleichgeordnet sind […] Demgemäß sind sowohl die Gliedstaaten wie der Bundesstaat souverän.“ 43 Ausführlich dazu E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 791 ff.; Kimminich, in: HStR I2, § 26 Rn. 15 ff. 44 März, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 30 Rn. 9. 45 Peters, Deutscher Föderalismus, S. 23; grundlegend bereits Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 502 ff.; Nawiasky, Der Bundesstaat als Rechtsbegriff, S. 47 f. 46 T. Weber, DÖV 2016, 671 (673). Vgl. auch Kimminich, in: HStR I2, § 26 Rn. 21: „Das Bund-Länder-Verhältnis reduziert sich damit auf Kompetenzfragen“. Siehe auch Nawiasky, Der Bundesstaat als Rechtsbegriff, S. 23: „Wenn man die positive Ordnung der Beziehungen zwischen einem Bundesstaat und seinen Gliedern betrachtet, so ist das wichtigste Stück dieser Ordnung die Aufteilung der Kompetenzen.“
II. Die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaat
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von Kompetenzen verteilt sie die Handlungsmacht des Staates auf mindestens zwei Rechtsträger.47 Eine Kompetenz ist damit die Zuweisung von Handlungspotential einer übergeordneten Einheit. Sie ist „eine Parzelle innerhalb ihres Tätigkeitsfeldes, die einem bestimmten Subjekt zur verantwortlichen Wahrnehmung zugeteilt ist“48. Durch sie wird die Innehabung und Ausübung der Staatsgewalt normativ gesteuert sowie der Bundesstaat organisiert und verwirklicht. Doch nicht nur für die Erklärung der Funktionsweise des Bundesstaats eignet sich die Kompetenz; der Begriff ermöglicht ebenso die Funktionsteilung innerhalb eines Staates. Innerhalb der Staatsorganisation werden Organe eingerichtet, denen die Aufgaben mittels von Kompetenznormen zur Erledigung übertragen werden. Dies ist der Anknüpfungspunkt für die „horizontale Gewaltenteilung“ zwischen Legislative, Exekutive und Judikative.49 2. Begriffsbestimmung a) Allgemeines Dennoch „schillert“ der Begriff der Kompetenz.50 Dies mag daran liegen, dass er im rechtswissenschaftlichen Diskurs in unterschiedlichen Zusammenhängen auftaucht. Ob es um die Prüfungskompetenzen des Bundespräsidenten, um gesellschaftliche Kompetenzen51, Verbandskompetenzen oder um Organkompetenzen im Gesellschafts- oder Verfassungsrecht geht – die Kompetenz steht für einen rechtstheoretischen Grundlagenbegriff sowohl im Öffentlichen Recht als auch im Privatrecht. Die unterschiedlichen Zusammenhänge zeigen, dass die Kompetenz auf verschiedene Rechtsgebiete übertragen werden kann, sie mitunter aber auch lediglich umgangssprachlich und weniger dogmatisch gebraucht wird. Auffällig ist auch die Austauschbarkeit des Begriffs: Synonym werden Begriffe verwendet wie „Macht“ oder „Rechtsmacht“52, „Ermächtigung“53, 47
Vgl. dazu Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 18 ff. Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 1. 49 Ausführlich dazu Zimmer, Funktion-Kompetenz-Legitimation, passim. Zur Unterscheidung von Verbands- und Organkompetenzen siehe unter Erstes Kapitel II. 2. dd). 50 So ausdrücklich Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 211 f., Fn. 154 a. E.; Bauer, Die Bundestreue, S. 286. 51 Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, S. 666; Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 153 f. 52 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 153; ders., Allgemeine Theorie der Normen, S. 82; ähnlich auch Heller, Staatslehre, S. 263 („organisierte Wirkungsmacht“); Ossenbühl, Verwaltungsvor schriften und Grundgesetz, S. 209 („Kompetenz als Machtposition“); Goerlich, „Formenmiß brauch“ und Kompetenzverständnis, S. 14 („Kompetenz als rechtlich umschriebene Handlungs macht“); in diese Richtung auch Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen, S. 103. 53 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 153 f.; ders., Allgemeine Theorie der Normen, S. 82; Korioth, in: Maunz / Dürig, Art. 30 Rn. 8; März, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 30 Rn. 10; Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 28 I, S. 237; Schilling, Rang und Geltung von Normen, S. 106. 48
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
„Befugnis“54, „Zuständigkeit“55 oder „Gestaltungsrecht“56.57 Auch das Grundgesetz reiht sich hier ein: Es spricht in Art. 70 Abs. 1 GG von einem „Recht der Gesetzgebung“, in Abs. 2 hingegen von „Zuständigkeit“. Anschließend fährt es mit der „Befugnis zur Gesetzgebung“ fort. An einer anderen prominenten Stelle, nämlich in Art. 30 GG, nutzt das Grundgesetz ebenfalls den Begriff der „Befugnis“ und stellt diesem dem der „Erfüllung staatlicher Aufgaben“ gegenüber. Das Kapitel zum Finanzwesen greift diese Semantik auf und spricht in Art. 105 Abs. 2a GG von der „Befugnis zur Gesetzgebung“. Nur an einer Stelle verwendet das Grundgesetz den Begriff der Kompetenz, nämlich in Art. 109 Abs. 3 S. 5 GG. Das „Begriffswirrwarr“58 zeigt die Zurückhaltung des Grundgesetzes im Umgang mit dem Begriff der Kompetenz.59 Dies ist aber auch nachvollziehbar. Die Kompetenz ist ein rechtswissenschaftlicher Grundbegriff des Organisationsrechts, ein „Rechtswesensbegriff“60 und liegt dem positiven Verfassungsrecht voraus.61 Übereilt ist es aber hieraus zu schlussfolgern, dass „auch langes Nachdenken nicht zu trennscharfen Definitionen vordringt“62 oder „auf einen Rückgriff auf verwirrende Kompetenzvorstellungen zu verzichten“63. Es ist nicht untypisch für die rechtswissenschaftliche Arbeit, dass sie es mit Begrifflichkeiten zu tun hat, die im positiven Recht nicht explizit Verwendung finden, allerdings dem positiven Recht als Bedingung seiner Möglichkeiten vorausliegen.64 Für eine Beschreibung der Kompetenz dürfte entscheidend sein, ob sie einen Beitrag leisten kann, Ordnung in die bundesstaatliche Ausgestaltung im Grund 54
Härtel, in: dies., Handbuch Föderalismus, Bd. 1, § 19 Rn. 25; Rengeling, in: HStR VI, § 135 Rn. 11; Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 70 Rn. 20; ähnlich auch Zimmer, Funktion-Kompetenz-Legitimation, S. 177: „Kompetenz als strukturierte Wirkbefugnis“. 55 Eine synonyme Verwendung schlagen vor Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 15; Jestaedt, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, GVwR I, § 14 Rn. 42; Pieroth, AöR 114 (1989), 422 (434); Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 27; Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 43; ders., in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 70 Rn. 20. 56 Adomeit, Gestaltungsrechte, S. 19 in Bezug auf die zivilrechtliche Vertragsfreiheit. 57 Vgl. auch Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 99: „Für die Zwecke der Interpretation von Art. 70 GG muss nicht streng zwischen Befugnis, Kompetenz, Recht und Zuständigkeit unterschieden werden; diese Begriffe können vielmehr als Synonyme verwendet werden“. 58 Pieroth, AöR 114 (1989), 422 (433). 59 Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 99. 60 Heintzen, Die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaatsrecht, S. 28 f. unter Verweis auf Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, S. 49 ff., 240 ff. Als Rechtswesensbegriffe versteht Heintzen im Anschluss an die neukantianische Rechtsphilosophie Rechtsbegriffe, „die weder direkt noch im Wege der Abstraktion aus einer gegebenen Rechtsordnung entnommen werden können […], sondern die vielmehr dem juristischen Denken als Bedingungen seiner Möglichkeiten vorausliegen“. 61 Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 17. 62 Pieroth, AöR 114 (1989), 422 (433). 63 Bauer, Die Bundestreue, S. 288. 64 Zur Bedeutung der Dogmatik für die Verfassungsrechtsprechung Podlech, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie II (1972), 491 ff.; Schlink, JZ 2007, 157 ff.
II. Die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaat
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gesetz zu bringen.65 Die Beschreibung der Wirkungsweise einer Kompetenzausübung verlangt ein rechtstheoretisches Vorverständnis von der Funktion einer Kompetenz im Allgemeinen. Dennoch ist hier nicht der richtige Ort, eine allgemeingültige Definition der Kompetenz zu erarbeiten. Dies ist wohl schon aufgrund der unterschiedlichen Kontexte, in denen die Terminologie verwendet wird, auch gar nicht möglich. Es soll auch nicht übersehen werden, dass nicht immer, wo von Kompetenzen die Rede ist, diese tatsächlich im Raum stehen. Im Vordergrund der folgenden Überlegungen steht deshalb der Gedanke einer Kompetenz als staatsorganisationsrechtliche Ermächtigung zum rechtlichen Können unter Ausschluss anderer Handlungseinheiten. Dieser vermag die bundesstaatliche Kompetenz zutreffend zu beschreiben, er kann aber – gewiss mit einigen Modifizierungen – auf sonstige Kompetenzen im Verfassungs- und Verwaltungsrecht übertragen werden. b) Kompetenz als rechtliches Können Das Wort Kompetenz ist lateinischen Ursprungs (competentia) und bedeutet „Eignung“ und „Befugnis“. Sein Verb competere kann mit „zusammentreffen“, „ausreichen“, zu etwas fähig sein“ oder „zustehen“ übersetzt werden.66 Geht es um organisationsrechtliche Kompetenzen, so ist keine qualitative Aussage im Sinne von Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung, sondern ein Zustand (Status67) gemeint. Im rechtstheoretischen Sinne kann dieser Zustand allgemein als ein rechtliches Können beschrieben werden.68 Ist ein Subjekt Inhaber einer Kompetenz, so kann es durch bestimmte Handlungen die rechtliche Situation verändern.69 Kompetenzen verleihen einem Rechtssubjekt eine Fähigkeit, die dieses ohne die Kompetenz nicht hätte. Kompetenzen beruhen auf Ermächtigungen70; sie fügen dem Rechtssubjekt etwas hinzu, was es von Natur aus nicht besitzt71, aber für die Anerkennung seiner Handlungen in der Rechtsordnung notwendig ist. 65
Heintzen, Die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaatsrecht, S. 25. Duden, Das große Fremdwörterbuch, Mannheim u. a. 1984, S. 746. 67 Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 83 f. umschreibt den Status als „eine das Individuum qualifizierende Beziehung zum Staate“. Diese Relation soll ein „Zustand“ sein. Der Gedanke ist auch auf Kompetenzen des Staates übertragbar. Es geht auch hier um eine Beziehung zum Staat, nämlich um die Beziehung der Verbände zueinander und im Hinblick auf die gesamtstaatliche Aufgabenwahrnehmung. Folgerichtig beschreibt Jellinek sowohl subjektive Rechte der Staatsorgane (S. 223 ff.) als auch der Mitglieder von Staatenverbindungen (S. 294). 68 Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 47 f.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 214. 69 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 212; ähnlich auch Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, S. 82: „Ermächtigen: Die Macht verleihen, Normen zu setzen und anzuwenden“; Hart, The Concept of Law, S. 27; ähnlich auch Lassar, in: Anschütz / T homa, HDStR, Bd. 1, § 27 S. 304: „Zuständigkeit ist die rechtliche Fähigkeit eines öffentlichen Verbandes zum Handeln“. 70 In diese Richtung etwa Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 153; ders., Allgemeine Theorie der Normen, S. 82. 71 Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 47. 66
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
Die Fähigkeit, die rechtliche Situation verändern zu können, wird durch eine Kompetenznorm zugewiesen. Kompetenzausübungen stellen vor diesem Hintergrund institutionelle Handlungen dar. Hierunter sind Handlungen zu verstehen, die nicht allein aufgrund natürlicher Fähigkeiten vorgenommen werden können, sondern Regeln voraussetzen, die für sie konstitutiv sind.72 Diese Regeln sind Ermächtigungen.73 Sie ermächtigen eine Handlungseinheit, verbindliche Rechtsakte zu erlassen und die Rechtsordnung zu verändern. Dies unterscheidet Kompetenzen auch von Erlaubnissen, die nicht zu Handlungen ermächtigen, sondern im Sinne eines „Dürfens“ aussagen, dass eine Handlung im Einklang mit der Rechtsordnung steht.74 Wird eine Handlung ohne eine Erlaubnis ausgeübt oder gibt es sogar eine entsprechende Verbotsnorm, so ist diese Handlung nicht im Einklang mit der Rechtsordnung und somit rechtswidrig. Betreibt ein Gewerbetreibender eine Gaststätte für Raucher, obwohl das Landesrecht ein Rauchverbot normiert, so ist dessen gewerbliche Tätigkeit rechtswidrig. Bei Kompetenzen ist das anders: Handlungen ohne entsprechende Kompetenz sind in der Regel nicht rechtswidrig, sondern von vornherein kein Teil der Rechtsordnung. Sie sind nichtig.75 Dies wird besonders deutlich, wenn ein Geschäftsunfähiger einen Vertrag schließen möchte. Georg Jellinek hat darauf aufmerksam gemacht, es sei nicht richtig zu sagen, ein Geschäftsunfähiger „dürfe“ keinen Vertrag abschließen, er kann es vielmehr nicht, weil dessen Willenserklärung von vornherein nichtig ist (§ 105 Abs. 1 BGB).76 Ähnlich gestalten sich die Rechtsfolgen, wenn der Bund oder die Länder ein Gesetz ohne entsprechende Gesetzgebungszuständigkeit beschließen: Beschließt der Bund ein Gesetz, das in die ausschließliche Zuständigkeit der Länder fällt, so ist dieses Gesetz nicht nur verfassungswidrig77, es ist vielmehr formell nicht zustande gekommen und somit nichtig.78 Allerdings ist einzuräumen: 72
Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 215. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, S. 82 f. 74 Sprachlich eher ungenau deshalb BVerfGE 69, 1 (60) – abweichende Meinung der Richter Mahrenholz und Böckenförde: „Ihr normativer Gehalt [gemeint sind bundesstaatliche Kompetenzvorschriften, F. S.] liegt darin, daß in den von ihnen bezeichneten Bereichen das Handeln der Staatsgewalt des Bundes – gegebenenfalls unter näher festgelegten einschränkenden Bedingungen – erlaubt ist.“ 75 Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 212 ff.; Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, S. 82. 76 Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 47. 77 Missverständlich deshalb Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 18: „in toto verfassungswidrig […] es kann vom Bundesverfassungsgericht […] für nichtig erklärt werden“. Selbstverständlich ist, dass es der Feststellung des BVerfG bedarf, ob ein Gesetz nichtig ist. Dennoch sind verfassungswidrige Gesetze ipso iure nichtig. Das konkrete Normkontrollverfahren zeigt, dass die Nichtigkeit eines Gesetzes grundsätzlich nicht vom Richterspruch des BVerfG abhängt. Art. 100 GG setzt als Prämisse voraus, dass der Richter die konkrete Normenkontrolle beantragt, weil er die fragliche Norm nicht nur nicht anwenden würde, sondern er sie aufgrund der Nichtigkeit nicht anwenden kann, vgl. hierzu Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 134 ff., 379 ff. 78 BVerfGE 36, 342 (364); Badura, in: Starck, Rangordnung der Gesetze, S. 113; Degenhart, Staatsrecht, Rn. 198; Huber, in: Sachs, GG, Art. 31 Rn. 15; Korioth, in: Maunz / Dürig, Art. 31 Rn. 10 f. 73
II. Die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaat
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Nicht jeder kompetenzwidrige Akt muss nichtig sein. Der Gesetzgeber kann an die Nicht-Kompetenz auch andere Rechtsfolgen knüpfen. Für kompetenzwidrige Verwaltungsakte gilt beispielsweise die Nichtigkeitsfolge nur unter der Voraussetzung des § 44 VwVfG. Während das Fehlen der örtlichen Zuständigkeit nach § 44 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG i. V. m. § 3 VwVfG nichtig ist, wird eine Verletzung der sachlichen Zuständigkeit nach gängiger Meinung nur dann zur Nichtigkeit führen, wenn die mit dem Verwaltungsakt geregelte Angelegenheit unter keinerlei sachlichen Gesichtspunkten einen Bezug zum Aufgabenbereich der handelnden Behörde hat und dies auch offensichtlich ist.79 Auch im Grundgesetz finden sich Bestimmungen für den Fall, dass kompetenzgemäß erlassenes Bundesrecht, das aufgrund einer verfassungsrechtlichen Kompetenzverschiebung so nicht mehr erlassen werden könnte, unter Bedingungen fortgilt (Art. 72 Abs. 4 GG; Art. 123–125c GG).80 c) Ermächtigungs- und Ausgrenzungsfunktion Kompetenznormen stellen Ermächtigungen zum rechtlichen Können dar. Dieses Können bezieht sich auf zwei Aspekte: einen formell-zuweisenden und einen formell-sachlichen Gehalt.81 Durch Kompetenzen wird formell-zuweisend bestimmt, wer für eine bestimmte Handlung zuständig ist. Organisationsrechtlich kann dieser Gehalt zwei Funktionen erfüllen: Es kann die Verbandskompetenz regeln, also die Frage beantworten, welcher Rechtsträger (z. B. Bund oder Länder) befugt ist; andererseits kann auch eine Organkompetenz innerhalb eines Rechtsträgers angesprochen sein. In formell-sachlicher Hinsicht wird der sachliche Kompetenzbereich bestimmt. Dieser regelt den sachlichen Befugnisbereich82, also den Teilausschnitt der Staatsgewalt, den die zuständige Einheit wahrnehmen darf. Der sachliche Befugnisbereich bestimmt, welche jeweilige Staatsaufgabe eigenverantwortlich wahrgenommen werden kann. Ist einer Handlungseinheit diese Aufgabe zugewiesen, so besitzt diese die Kompetenz. Der Kern einer Kompetenz ist also nicht die Aufgabe83, sondern die Zuweisung der Aufgabe an einen Kompetenzträger.84 Doch nicht nur die Ermächtigung zum Tätigwerden markiert die Funktionsweise einer Kompetenz. Zugleich schließen Kompetenzen andere Kompetenzträger von 79
Vgl. BVerwG DVBl 1974; Peuker, in: Knack / Henneke, VwVfG, § 44 Rn. 18. Dazu H. A. Wolff, in: Heintzen / Uhle, Neuere Entwicklungen im Kompetenzrecht, S. 257 ff. 81 Unterscheidung nach Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 117 f. 82 Dazu auch Pieroth, AöR 114 (1989), 422 (434 f.). 83 Während Staatsaufgaben das Verhältnis des Staates zur Gesellschaft in den Blick nehmen, betreffen Kompetenzen das Verhältnis zwischen Handlungseinheiten, also das staatsorganisationsrechtliche Innenverhältnis. 84 So auch Jestaedt, in: GVwR I, § 14 Rn. 52: „Zuständigkeit als Aufgabenzuweisung“; ähnlich Erbguth, DVBl 1988, 317; Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 19: „rechtlich umschriebene[r] Ausschnitt eines Handlungsbereichs, der einem bestimmten Adressaten zu eigenverantwortlicher Wahrnehmung rechtlich zugewiesen ist“. 80
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
der Befassung mit der Aufgabe aus.85 Dort, wo bestimmte Staatsorgane mit der Vornahme einer Aufgabe betraut sind, sind andere hiervon ausgeschlossen. Kompetenzüberschreitungen verletzen nicht bloße organisatorische Handlungsschranken, sondern brechen in einen fremden geschlossenen Kompetenzbereich einer anderen Handlungseinheit ein. Außerhalb der ihm zustehenden Kompetenzen ist sein Wirken mitsamt seiner für ihn handelnden Organe ohne Legitimation.86 Ermächtigung und Ausgrenzung sind somit Grundelemente einer organisationsrechtlichen Kompetenznorm. Als Ermächtigungsnorm weisen Kompetenznormen einer Handlungseinheit (Hoheitsträger oder Organ) eine Staatsaufgabe positiv zu, während sie zugleich in negativer Hinsicht andere in Betracht kommende Einheiten von der Befassung ausschließen.87 Dabei können Kompetenzen sowohl vertikal wirken, indem sie Staatsaufgaben auf Bund und Länder als Hoheitsträger verteilen. Sie können ferner horizontal wirken, indem sie Kompetenzen, die einem Hoheitsträger zugeordnet sind, auf verschiedene Organe verteilen.88 d) Verhältnis zu anderen Rechtsfiguren und Begriffen Dennoch sorgt die Abgrenzung zwischen „Kompetenz“, „Zuständigkeit“, „Aufgaben“, und „Befugnis“ für Schwierigkeiten. Unklar ist vor allem die Unterscheidung zu anderen verfassungsdogmatischen Grundbegriffen, die zwar mit dem Feld der Kompetenzen im Zusammenhang stehen, nicht aber zum Kern des Begriffs der Kompetenz gehören. aa) Das Verhältnis von Kompetenz und Staatsaufgabe Vor allem in Bezug auf Staatsaufgaben ist eine Abgrenzung notwendig. Nach Wolff ist zwischen Kompetenzen und Zuständigkeiten zu unterscheiden.89 Organisationsrechtliche Wahrnehmungszuständigkeit bedeute, „die durch organisatorische Rechtssätze und sie ergänzende Rechtsakte begründete Verpflichtung und Berechtigung, bestimmte Angelegenheiten einer organisatorischen Einheit in idR bestimmten Arten, Weisen und Formen wahrzunehmen“90. Dagegen sei eine 85
Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 109; Heintzen, Die Kategorie der Kompetenz im Bundes staatsrecht, S. 36; ders., in BK Art. 70 Rn. 100; Berger, Die Ordnung der Aufgaben im Staat, S. 40. 86 Vgl. hierzu Oldiges, DÖV 1989, 873 (874 und 877) zur Funktionsweise von Verbandskompetenzen. 87 Heintzen, Die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaatsrecht, S. 36 ff.; Berger, Die Ordnung der Aufgaben im Staat, S. 38. 88 H. J. Vogel, in: Benda / Maihofer / Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, § 22 Rn. 36. Vgl. zum Verständnis von „horizontal“ wirkenden Befugnissen Zimmer, Funktion-Kompetenz- Legitimation, S. 38 ff., 177 ff. 89 Zum synonymen Gebrauch der beiden Begriffe siehe sogleich. 90 Wolff, Verwaltungsrecht II, 3. Aufl., § 72 I. S. 14; Kluth, in: Wolff / Bachof / Stober / K luth, Verwaltungsrecht II, § 83 Rn. 5 ff.; ähnlich auch Oldiges, DÖV 1989, 873 (874 f.).
II. Die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaat
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Kompetenz der „Gegenstand der Wahrnehmungsverpflichtung, also die wahrzunehmende Aufgabe“91. Diese begriffliche Einteilung unterscheidet also zwischen Kompetenzen und Zuständigkeiten einerseits und rückt andererseits Kompetenzen in die Nähe der Staatsaufgabenlehre.92 Andere sehen in der Kompetenz wiederum den Oberbegriff für „Aufgaben“ und „Befugnisse“ im Sinne von Art. 30 GG.93 Teilweise werden Kompetenz und Staatsaufgabe sogar gleichgesetzt.94 Aus der Perspektive des Öffentlichen Rechts sind Aufgaben öffentliche Aufgaben. Hierunter versteht man diejenigen Sachbereiche, deren Wahrnehmung der unmittelbaren Förderung des Allgemeininteresses durch Befriedigung kollektiver Bedürfnisse dient.95 Nimmt sich der Staat bzw. dessen zugeordnete Hoheitsträger oder zwischenstaatliche Einrichtungen einer öffentlichen Aufgaben an, so handelt es sich um Staatsaufgaben.96 Ungeachtet der Schwierigkeiten, den Begriff der Staatsaufgaben begrifflich zu fassen97, herrscht Einigkeit darüber, dass Staatsaufgaben auf das Verhältnis von Staat und nichtstaatlichem Bereich Bezug nehmen.98 Sie messen staatliche Handlungsspielräume ab, indem sie darüber Aufschluss geben, ob sich der Staat zulässigerweise mit Aufgaben, die im öffentlichen Interesse liegen, befassen darf.99 Demgegenüber ordnen Kompetenzen (staats-)organisationsrechtliche Innenbeziehungen. In diesem Zusammenhang hat Bull deutlich gemacht, dass Kompetenzen Aufgaben voraussetzen. Erst wenn feststeht, ob der Staat überhaupt in Erfüllung öffentlicher Aufgaben tätig wird, stellt sich die Frage, welcher Handlungseinheit die Befähigung zugewiesen ist, die Aufgabe wahrzunehmen.100 Diese Frage wird durch Kompetenzen gelöst; sie sind aber nach den Aufgaben immer der logisch zweite Schritt.101 Nach welchen Kriterien Staatsaufgaben zugeschnitten 91 Ibid.; ähnlich auch Berger, Die Ordnung der Aufgaben im Staat, S. 38, wonach die staatliche Aufgabe „der jeweilige verfassungs- und verwaltungsrechtliche Entscheidungsmaßstab bezeichnet, der einem bestimmten staatlichen Aufgabenträger zugeordnet ist.“ 92 So auch die (kritische) Beobachtung von Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 36 f. 93 Pieroth, AöR 114 (1989), 422 (434); Wittreck, in: Dreier, GG, Art. 30 Rn. 17; ähnlich auch Schlink, Die Amtshilfe, S. 142 f.; Bauer, Die Bundestreue, S. 286 f. 94 Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, S. 98 Fn. 28. 95 Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 3. Kap. Rn. 79, S. 154. 96 Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 3. Kap. Rn. 79, S. 154; Isensee, in: HStR IV, § 73 Rn. 13; Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, S. 47 ff. 97 Vgl. hierzu Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 3. Kap. Rn. 79, S. 155; vgl. auch BVerfGE 98, 218 zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibreform in den Schulen. 98 Grimm, in: ders., Staatsaufgaben, S. 772; Isensee, in: HStR IV, § 73 Rn. 2; Korioth, in: Maunz / Dürig, Art. 30 Rn. 8. 99 Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, S. 44; Isensee, in: HStR IV, § 73 Rn.13; Ossenbühl, VVDStRL 29 (1971), 137 (154 Anm. 76). 100 So auch Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 39; Korioth, in: Maunz / Dürig, Art. 30 Rn. 8; Zimmer, Funktion-Kompetenz-Legitimation, S. 177. 101 Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, S. 52 f.; Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 39; Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 37 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BVerfG, insbesondere auf das 1. Rundfunkurteil in BVerfGE 12, 205 (243 f.).
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
werden oder welche Maßstäbe eine Aufgabe zu einer öffentlichen Aufgabe machen, gehört nicht in den Gehalt einer Kompetenz. Auf die bundesstaatliche Kompetenzordnung übertragen, haben Kompetenzen lediglich die Funktion, bereits feststehende Aufgaben entweder auf den Bund oder auf die Länder zu übertragen und den jeweils anderen von der Befassung auszuschließen. Welche Aufgaben das Grund gesetz aber als Staatsaufgaben anerkennt, ist kein Begriffsmerkmal einer Kompetenz. Vielmehr verhält sich die Kompetenz hinsichtlich der Frage indifferent, welche Aufgaben zulässigerweise wahrgenommen werden können.102 Die Ausübung von Kompetenzen durch staatliche Handlungseinheiten verbleibt also innerhalb des dem Staat eröffneten Betätigungsfeldes.103 Umgekehrt ist es durchaus möglich, aus Kompetenzen Rückschlüsse für mögliche Staatsaufgaben zu ziehen.104 Weist das Grundgesetz einem Kompetenzträger eine Zuständigkeit zu, so geht es stillschweigend davon aus, dass auch eine entsprechende Staatsaufgabe vorhanden ist.105 Kompetenznormen wirken vor diesem Hintergrund nicht absolut, sondern relativ zwischen Handlungseinheiten – sie sind Relationsbegriffe.106 Im Bundesstaatsrecht betreffen Kompetenzen lediglich das Verhältnis von Bund und Ländern. Zu weiteren Problemen, die die Beziehung zu anderen Subjekten und insbesondere zur Gesellschaft betreffen, äußern sich Kompetenzen nicht. bb) Kompetenz und Befugnis Im Verwaltungsrecht sind Aufgaben und Zuständigkeiten voneinander abzugrenzen. Das Gleiche gilt für Zuständigkeiten und Befugnisse. Es gilt der Grundsatz, dass weder die Aufgabe an sich noch die Aufgabenzuweisung die Mittel einschließen, die zur Erfüllung der Aufgabe eingesetzt werden dürfen. Möchte eine Einheit zur Erfüllung einer Aufgabe mit Wirkung auf ein subjektives Recht im Außenrechtsverhältnis tätig werden, so bedarf es gemäß dem Vorbehalt des Gesetzes einer weiteren Norm, die hierzu ermächtigt, die sog. Befugnisnorm (oder auch Ermächtigungsgrundlage).107 Voraussetzung für die rechtmäßige Inanspruchnahme der Befugnisnorm ist dabei, dass die jeweilige Einheit zuständig ist. Im Verwaltungsrecht bezeichnet die Befugnis die Ermächtigung zum Handeln nach außen, 102
Den Unterschied von Staatsgewalt und Kompetenz hat bereits Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 503 beschrieben: Es werde der Fehler begangen, „aus dem Dasein der Staatsgewalt auf den notwendigen Umfang ihrer Kompetenz zu schließen […] Zwischen Bundes- und Gliedstaat ist daher weder die Souveränität noch die Staatsgewalt geteilt. Geteilt sind die Objekte auf welche die Staatstätigkeit gerichtet ist, nicht die subjektive Tätigkeit, die sich auf diese Objektie bezieht.“ 103 Korioth, in: Maunz / Dürig, Art. 30 Rn. 8. 104 Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, S. 152 ff. 105 Isensee, in: HStR IV, § 73 Rn. 20. 106 Heintzen, Die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaatsrecht, S. 99. 107 Einzelheiten bei Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rn. 3 ff.; Isensee, in: HStR IV, § 73 Rn. 21.
II. Die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaat
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während die Zuständigkeit (Kompetenz) sich als die Zuordnung von Aufgaben zu einer Organisation und die für sie handelnden Organe beschreiben lässt.108 Im Verfassungsrecht taucht die Unterscheidung von Aufgabe, Kompetenz und Befugnis ebenfalls auf. So unterscheidet Art. 30 GG zwischen der „Sache der Länder“ als Kompetenz sowie den „Aufgaben“ und „Befugnissen“. Auch sonst spricht das Grundgesetz gelegentlich von der „Befugnis zur Gesetzgebung“ (Art. 71, 72 Abs. 1 und 105 Abs. 2a GG). Da Kompetenzen nach dem bereits Gesagten notwendigerweise eine Aufgabe voraussetzen, stellt sich die Frage, ob die staatliche Tätigkeit ebenfalls eine Befugnisnorm voraussetzen muss. In diese Richtung zielt unter anderem Ehmke. Danach habe eine Kompetenzzuweisung zwei Funktionen. Gegenüber den Gliedstaaten sei eine Kompetenz eine Zuständigkeitsverteilung und gegenüber dem Bürger zugleich eine Kompetenzzuweisung. Hierdurch würden ihm bestimmte Aufgaben und die zur Durchführung dieser Aufgaben erforderliche Gewalt, d. h. die Befugnis, zugewiesen.109 Allerdings sollte beachtet werden, dass sich die Unterscheidung von Aufgabenerfüllung und Befugnisnorm lediglich auf das Verhältnis von Legislative und Exekutive beschränkt.110 Die Befugnisnorm gegenüber dem Bürger folgt aus dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes und ist somit – wenn auch nicht ausschließlich111 – vor allem auf die Eingriffsverwaltung bezogen. In Befugnissen wird die Aufgabenerfüllung auf bestimmte Maßnahmen zugeschnitten, die von bestimmten Organen ausgeführt werden.112 Auf die Tätigkeit des Gesetzgebers kann die Notwendigkeit einer „Befugnis zur Gesetzgebung“ hingegen nicht übertragen werden. Dies würde verkennen, dass sich die Gesetzgebungszuständigkeiten der Art. 70 ff. GG auf das Verhältnis von Bund und Ländern beschränken. Eine positive Zuweisung einer Ermächtigung, in Grundrechte eingreifen zu können, benötigt der Gesetzgeber nicht. Der Gesetzgeber hat diese Ermächtigung in den Grenzen der einzelnen Grundrechtsnormen ohnehin. Eine separate Einräumung einer „Befugnis zur Gesetzgebung“ gegenüber dem Bürger würde vielmehr den Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes gegen den Gesetzgeber kehren.113 Wenn das Grundgesetz also gelegentlich von der „Befugnis zur Gesetzgebung“ spricht, so meint das Grundgesetz hier nicht die Befugnis im Sinne von Art. 30 GG als eine Form der Mittelzuweisung; es versteht hierunter vielmehr die Kompetenz zur Gesetzgebung. In bundesstaatlicher Hinsicht kann die Befugnis also synonym zur Gesetzgebungskompetenz gebraucht werden.114 108
Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 13 Rn. 19. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), 53 (90); zustimmend Pestalozza, Der Staat 2 (1963), 425 (439). 110 Ossenbühl, in: HStR V, § 101 Rn. 11. 111 Dazu ausführlich Ossenbühl, in: HStR V, § 101 Rn. 22 ff. 112 Korioth, in: Maunz / Dürig, Art. 30 Rn. 8. 113 Heintzen, Die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaatsrecht, S. 42. 114 So auch Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 99; Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 70 Rn. 2.
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
cc) Kompetenz und Zuständigkeit als synonyme Begriffe Synonym gebraucht werden in der Regel auch Kompetenzen und Zuständigkeiten, gelegentlich wird aber auch zwischen den beiden Begriffen differenziert. Die Kompetenz wird mitunter als die Befugnis beschrieben, sich einer Angelegenheit anzunehmen und so eine Zuständigkeit zu begründen.115 Für Wolff ist die Kompetenz wiederum der „Gegenstand der wahrzunehmenden Aufgabe“ und Zuständigkeit „die Bezogenheit auf ein Subjekt“.116 In eine ähnliche Richtung weist der Vorschlag von Ehmke. Im Verhältnis zwischen Gliedstaaten, also staatsorganisationsrechtlichen Innenbeziehungen, sei von Zuständigkeiten auszugehen. Dagegen sei das Verhältnis zwischen dem Staat und den Bürgern eine Frage der Kompetenzzuweisung: „Der Bund, der nicht über eine ‚komplette‘ Staatsgewalt verfügt, erhält hier Kompetenzen gegenüber den Bürgern übertragen, d. h. ihm werden bestimmte Aufgaben und die zur Durchführung dieser Aufgaben erforderliche Gewalt zugewiesen“117. Es wurde bereits ausgeführt, dass zwischen Staatsaufgaben und Kompetenzen getrennt werden sollte. Deshalb eignen sich Aussagen nicht, die darauf abzielen, die Kompetenz zur Grenzziehung zwischen Staat und Gesellschaft heranzuziehen. Aber auch darüber hinaus erscheint eine Differenzierung zwischen Zuständigkeit und Kompetenzen gekünstelt. Beide Begriffe beschreiben den gleichen Vorgang. Ist jemand zuständig bzw. ist er kompetent, eine bestimmte Aufgabe ausführen zu können, so wurde ihm diese „Befähigung“ durch eine Ermächtigungsnorm (Kompetenznorm) zugewiesen. In diesem Zuweisungsakt, liegt – wie bereits erläutert – der Grundgedanke der Kompetenz. Der allgemeine Sprachgebrauch gebietet es, beide Begriffe synonym zu verwenden.118 Auch unter dogmatischen Gesichtspunkten sind keine Gründe ersichtlich, zwischen Kompetenzen und Zuständigkeiten zu differenzieren. Es ist vielmehr anzunehmen, dass der Versuch, hier Unterschiede zu finden, das ansonsten relativ klare Kompetenzverständnis unnötig und ohne Mehrwert verkompliziert.
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Härtel, in: Handbuch Föderalismus, Bd. 1, § 19 Rn. 25 mit Verweis auf März, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 5. Aufl., Art. 30 Rn. 10; synonymer Gebrauch auch schon bei M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 125. 116 Wolff, Verwaltungsrecht II, 3. Aufl., § 72 I. S. 14; ähnlich auch Oldiges, DÖV 1989, 873 (874 f.); differenzierend aber weitgehend zustimmend Schlink, Die Amtshilfe, S. 142 f. 117 Ehmke, VVDStRL 20 (1965), 53 (90). 118 So auch Berger, Die Ordnung der Aufgaben im Staat, S. 41; Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 15; Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs nach dem Grundgesetz, 27. Ausführlich dazu Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 35 ff.
II. Die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaat
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dd) Anschlussbegriffe (1) Kompetenznormen, Kompetenztitel und Kompetenzausübung Im Hinblick auf Kompetenzen können noch weitere Differenzierungen vorgenommen werden. Eine Kompetenz als Ermächtigung zum rechtlichen Können unter Ausschluss anderer Handlungseinheiten setzt eine Zuweisungsnorm voraus. In diesem Zusammenhang werden Kompetenznormen relevant. Kompetenznormen weisen einer Handlungseinheit eine Zuständigkeit zu; sie verleihen also die Ermächtigung zum rechtlichen Können. Während eine Kompetenz ein Status ist, wird mit der Kompetenznorm die damit verbundene Rechts- und Gestaltungsmacht aktiv zugewiesen. Ein Teilaspekt von Kompetenznormen sind Kompetenztitel. Diese betreffen den Gegenstand der Kompetenz119, d. h. den sachlichen Befugnisbereich (z. B. „Bürgerliches Recht“, „Strafrecht“ etc.). Von der Kompetenz als Rechtsgrundlage zu unterscheiden ist die tatsächliche Kompetenzausübung. Sie ist zunächst eine faktische Handlung.120 Allerdings wird sie nicht aufgrund natürlicher Fähigkeiten vorgenommen, sondern bedarf Regeln, die für sie konstitutiv sind. Kompetenzausübungen stellen somit institutionelle Handlungen dar.121 Darüber hinaus steuern Kompetenzausübungsregelungen die Wirkungen der Kompetenzausübung (z. B. Art. 71 GG; Art. 72 Abs. 1 und Art. 72 Abs. 3 S. 2 GG). Kompetenzausübungsschranken sind vor allem die gesteigerten Anforderungen an die Ausübung von Erforderlichkeitskompetenzen (Art. 72 Abs. 2 GG) und die rechtlich umschriebenen Einwirkungsrechte des Bundes in die Landesverwaltung (Art. 84, 85 GG). Daneben gilt als ungeschriebene Kompetenzausübungsschranke das Gebot bundesfreundlichen Verhaltens.122 (2) Verbands- und Organkompetenz Verbandskompetenzen123 oder auch Rechtsträgerkompetenzen124 stellen Zuständigkeiten innerhalb dezentraler Staatsorganisationen dar.125 Zu ihnen gehören 119
Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 20. Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 20. 121 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 215. 122 Dazu ausführlich Bauer, in: Dreier, GG, Art. 20 Rn. 45 ff.; ders., Bundestreue, passim; Bleckmann, JZ 1991, 900 ff.; Grzeszick, in: Maunz / Dürig, Art. 20 Rn. 118 ff.; G. Müller, in: FS Kiesinger, 213 ff.; Stern, Staatsrecht I, S. 699 ff. Vgl. zur Bundestreue auch Viertes Kapitel II. 3. c) bb) und III. 4. 123 Die Kategorie der Verbandskompetenz wurde vor allem von Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht II, S. 716 ff. dogmatisch erfasst. Er ordnet die Verbandskompetenz unter der Frage ein, ob „unter der Vielheit öffentlicher Verbände, die Träger öffentlicher Gewalt sind, ein bestimmter Verband handeln darf oder ob nicht ein anderer Verband den Akt vorzunehmen hat.“ 124 Funk, Das System der Kompetenzverteilung, S. 46 mit Fn. 74. 125 Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 22. 120
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
auch die Kompetenzen von Bund und Ländern.126 Neben der binären Zuordnung von Verbandskompetenzen an Bund und Länder127 erlaubt das Verwaltungsorganisationsrecht, die Verbandszuständigkeiten innerhalb der Bund- und Länderorganisation weiter auszugestalten. Neben der unmittelbaren Staatsverwaltung lassen sich sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene weitere Formen der mittelbaren Staatsverwaltung, etwa in Form der Anstalten, Körperschaften und Stiftungen einsortieren, die ebenfalls mit Verbandskompetenzen ausgestattet sind. Zwar ermöglicht ihnen die rechtliche Verselbstständigung eine eigenverantwortliche Aufgabenwahrnehmung, sie bleiben aber an den Staat angebunden und von ihm abhängig.128 Für ihre Existenz ist auch die bundesstaatliche Kompetenzordnung entscheidend: Nur, wenn ihre Gründung dem dafür zuständigen Staat (Bund oder Land) entspringt, kann ihre Existenz rechtmäßig sein. „Das Grundgesetz zieht also einen kompetenzrechtlichen Äquator quer durch das gesamtstaatliche Wirkungsfeld.“129 Während Verbandskompetenzen dem Verband als Rechtsträger Aufgaben übertragen, betreffen Organkompetenzen die verbandsinterne Organisation.130 Sie dekonzentrieren die einzelnen Aufgaben und Befugnisse, die von der Verbandskompetenz als relevant in Bezug genommen werden, und teilen die Kompetenz in sachlicher, örtlicher, instanzieller und funktioneller Hinsicht auf unterschiedliche Organe des Verbandes auf. Im Verfassungsrecht lassen sich diese Kompetenzen als Funktionskompetenzen beschreiben.131 Diese betreffen die Frage, welcher Funktionsträger, also Legislative, Exekutive oder Judikative für die Erfüllung einer Aufgabe zuständig ist. Organ- oder Funktionskompetenzen bleiben stets von Verbandskompetenzen abhängig. Eine Organkompetenz kann also nicht zu mehr ermächtigen, als die Verbandskompetenz umfasst. Auch umgekehrt besteht ein Abhängigkeitsverhältnis: Die praktische Handlungsfähigkeit eines Verbandes setzt voraus, dass eine Norm einzelnen Organen Aufgaben zur Wahrnehmung überträgt. Dies geschieht mittels Organkompetenzen.132 (3) Sach- und Wahrnehmungskompetenz Wahrnehmungskompetenzen betreffen die Zuständigkeit einer Stelle „nach außen“, d. h. gegenüber dem Bürger und anderen staatlichen Stellen zu handeln 126
März, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 30 Rn. 11; Jestaedt, in: Aulehner u. a., Föderalismus, S. 315; im Hinblick auf die österreichische Kompetenzordnung vgl. auch Pernthaler, Kompetenzverteilung in der Krise, S. 36 f. 127 Jestaedt, in: Hofmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, GVwR I, § 14 Rn. 43. 128 Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 21 Rn. 8. 129 Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 23. 130 Oldiges, DÖV 1989, 873 (877). 131 Achterberg, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, § 13 Rn. 22; Zimmer, Funktion-KompetenzLegitimation, S. 38. 132 Jestaedt, in: Hofmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, GVwR I, § 14 Rn. 44.
II. Die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaat
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und so verbindliche Rechtsakte zu erlassen.133 Von der Wahrnehmungskompetenz ist die Sachkompetenz zu unterscheiden. Diese bestimmt, wer in sachlich-inhaltlicher Hinsicht über die Art und Weise der Kompetenzwahrnehmung entscheidet. Die Sachkompetenz begründet eine Leitungsmacht über die Wahrnehmung der Zuständigkeit.134 Im Regelfall betreffen die Sach- und Wahrnehmungskompetenz ein und dieselbe Stelle bzw. denselben Rechtsträger. Vor allem kann bei Gesetzgebungszuständigkeiten auf diese Unterscheidung verzichtet werden; hier sind keine Fälle denkbar, wo Sach- und die Wahrnehmungszuständigkeit auseinanderfallen könnten. Dennoch kennt das Grundgesetz im Bereich der Auftragsverwaltung diese Unterscheidung. Während dem Bund bei der landeseigenen Ausführung der Bundesgesetze Kontrollbefugnisse nur als Rechtsaufsicht zukommt (Art. 84 Abs. 3 und 4 GG), hat er bei der Auftragsverwaltung stärkere Einwirkungsrechte. Seine Aufsicht erstreckt sich auf die Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der Gesetzesausführung. Außerdem unterliegen die Landesbehörden von vornherein den Weisungen der obersten Bundesbehörden. Im Bereich der Landesverwaltung ist also die Verwaltungskompetenz eine eingeschränkte: Die Länder haben die Wahrnehmungskompetenz, also die Verantwortlichkeit nach außen; die Sachkompetenz steht den Ländern demgegenüber nur unter dem Vorbehalt ihrer Inanspruchnahme durch den Bund zu.135 Die Sachkompetenz wird damit als konkurrierend ins Verhältnis gerückt und durch einen grundsätzlichen Vorrang des Bundes festgelegt. Werden die Länder in diesem Sinne im Bundesauftrag tätig, so bringen sie nicht ihren, sondern den bundesstaatlichen Willen zur Vollziehung.136 Ihnen kommt eine Gehorsamspflicht zu.137 Ein Auseinanderfallen von Sach- und Wahrnehmungskompetenz ist nicht nur zwischen Verbänden, sondern auch zwischen Organen und anderen Stellen möglich. Für alle Aufsichtsverhältnisse im übertragenen Wirkungskreis gilt, dass dem weisungsunterworfenen, nach außen mit der Wahrnehmungskompetenz ausgestatten Verband oder Organ die Sachkompetenzen nur unter Vorbehalt des Zugriffs durch die Aufsichtsbehörde zusteht.138 Dort, wo der Verband oder das Organ im eigenen Wirkungskreis tätig wird, fallen Wahrnehmungs- und Sachkompetenz stets zusammen.
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BVerfGE 81, 310 (331 ff.); Jestaedt, in: GVwR I, § 14 Rn. 45. Kluth, in: Wolff / Bachof / Stober / K luth, Verwaltungsrecht II, § 83 Rn. 7 f. unterscheidet zwischen organisationsrechtlichen und materiellrechtlichen Wahrnehmungszuständigkeiten. Differenzierungskriterium dieser Begriffsbildung ist, ob die Stelle Träger der Kompetenz „nach außen“ oder „nach innen“ ist. Kritisch zur Unterscheidung von Sach- und Wahrnehmungskompetenzen vor allem Ossenbühl, in: FS Badura, S. 983, der statt von „Sachkompetenz“ von einer „Sachentscheidungsbefugnis“ sprechen möchte. 134 Kluth, in: Wolff / Bachof / Stober / K luth, Verwaltungsrecht II, § 83 Rn. 8. 135 BVerfGE 81, 310 (331 f.). 136 Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 296. 137 Jellinek, a. a. O. 138 Jestaedt, in: GVwR I, § 14 Rn. 45.
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
e) Ergebnis Der Begriff Kompetenz ist ein Organisationsbegriff und meint die Zuweisung einer Aufgabenwahrnehmung an Träger öffentlicher Gewalt. Die Zuweisung erfüllt zwei Funktionen: Durch die Kompetenz wird ein Rechtssubjekt ermächtigt, während andere von der Aufgabenwahrnehmung ausgeschlossen werden. Im Hinblick auf die Wirkung ist eine Kompetenz ein rechtliches Können. Durch die Aufgabenzuweisung erhält der Kompetenzträger die Fähigkeit, die Rechtsordnung im Rahmen des zugewiesenen Befugnisbereichs nach seinem politischen Willen zu gestalten. Bei Fragen der Gesetzgebungskompetenz können die Wörter Kompetenz, Befugnis und Zuständigkeit synonym gebraucht werden. 3. Der Gehalt der Kompetenzzuweisung a) Formeller Gehalt Eine Kompetenz wurde als die Möglichkeit eines Kompetenzträgers beschrieben, einen Ausschnitt der Staatsgewalt eigenverantwortlich und unter Ausschluss des jeweils anderen wahrnehmen zu können. Der Gegenstand der Kompetenz, also der zugewiesene Ausschnitt der Staatsgewalt, ist der Kompetenzbereich, der in Form von Kompetenztiteln im Grundgesetz normativiert ist. Dabei bestehen die Gesetzgebungszuständigkeiten des Grundgesetzes regelmäßig aus einem formell- zuweisenden Gehalt und einem formell-sachlichen Gehalt.139 Einerseits bestimmen Kompetenznormen, welcher Kompetenzträger, also Bund oder Länder, zum Erlass einer bestimmten Regelung ermächtigt ist (formell-zuweisend). Daneben legen Kompetenznormen auch den sachlichen Kompetenzbereich (Befugnisbereich) fest.140 Dieser bestimmt, für welchen Teilausschnitt der Staatsgewalt die Ermächtigung gilt. Der sachliche Kompetenzbereich kann unterschiedliche Strukturen aufweisen. Er kann einen Wirklichkeitsausschnitt (z. B. Telekommunikation gem. Art. 73 Abs. 1 Nr. 7 GG) oder eine Rechtsmaterie betreffen (z. B. Aufenthalts- und Niederlassungsrecht der Ausländer gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 4 GG) bezeichnen. Teilweise werden aus der Formulierungsweise des sachlichen Befugnisbereichs methodische Schlussfolgerungen für die Art der Auslegung gezogen.141 Kompetenzen, die einen Wirklichkeitsausschnitt beschreiben, werden als faktisch-deskriptive Kompetenzzuweisungen verstanden und sollen nach dem Sach- und Lebensbereich ausgelegt werden, während Kompetenzen, die auf eine Rechtsmaterie abstellen, als normativ-rezeptive Kompetenzzuweisung an eine Rechts- und Verfassungstradition anknüpfen sollen. Mitunter definieren sich Kompetenzen auch weniger über ihren 139
Unterscheidung nach Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 117 f. Dazu auch Pieroth, AöR 114 (1989), 422 (434 f.). 141 Dazu ausführlich unter Zweites Kapitel V. 4. c). 140
II. Die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaat
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Gegenstand, sondern über ihre Zielrichtung.142 Dies gilt etwa für den Kompetenztitel zur „wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 19a GG). Sie können als final programmierte Kompetenznormen beschrieben werden. Unterschiede gibt es auch in Bezug auf die Reichweite der Tatbestände. Der sachliche Befugnisbereich kann generalklauselartig143 einen Globalausschnitt eines Handlungsbereichs betreffen oder auch stichpunktartig144 formuliert sein und sich somit auf einen eng begrenzten Bereich fokussieren. Die unterschiedlichen Strukturen der sachlichen Befugnisbereiche der einzelnen Kompetenznormen machen deutlich, dass die Vorstellung, dass die auf Sachmaterien abzielenden Kompetenznormen eine punktgenaue Abgrenzung zueinander gewährleisten, unhaltbar ist. Die unterschiedlichen Zuweisungsgehalte, ob sie nun final wirken, faktisch-deskriptiv, normativ-rezeptiv oder auch punktuell oder generalklauselartig formuliert sind, zeigen vielmehr auf, dass sich die einzelnen Kompetenztitel gegenseitig berühren und überlagern können.145 Dies dürfte ein Grund sein, weshalb eine rational ablaufende Kompetenzinterpretation insgesamt eine methodisch anspruchsvolle Aufgabe darstellt. Die damit verbundenen Unsicherheiten sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zahlreich dokumentiert. Gleichwohl wurde bereits angedeutet, dass die ausgrenzende Struktur der Kompetenzordnung die Existenz von Doppelkompetenzen ausschließt. b) Keine Verpflichtung zum Tätigwerden Aus jeder Kompetenz als objektivem Recht folgt die Verpflichtung, über den Gebrauch der Kompetenz Verantwortung zu übernehmen, sei es durch eine Regelung oder durch den Verzicht auf eine Regelung nach eigenem gesetzgeberischen Ermessen. Umstritten ist jedoch, ob aus einer Kompetenznorm zusätzlich auch 142 Sie bezeichnen entweder Aspekte der Gefahrenabwehr und der Landesverteidigung oder den Schutz oder die Förderung sonstiger Rechtsgüter. Kompetenztitel, die auf die Gefahrenabwehr programmiert sind sind unter anderem Art. 73 I Nr. 1 GG („Schutz der Zivilbevölkerung“); Art. 73 I Nr. 9a GG („Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus“); Art. 74 I Nr. 19 GG („Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten“); Art. 74 I Nr. 24 GG („Schutz vor verhaltensbezogenen Lärm“); vgl. ferner auch Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 b) und c); Art. 73 Abs. 1 Nr. 14 GG. Der Schutz sonstiger Rechtsgüter wird unter anderem bestimmt in Art. 73 I Nr. 5a GG („den Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung ins Ausland“); Art. 73 I Nr. 13 GG („Förderung der wissenschaftlichen Forschung“); Art. 74 I Nr. 16 GG („die Verhütung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung“); Art. 74 I Nr. 17 GG („die Förderung der land- und forstwirtschaftlichen Erzeugung“); Art. 74 I Nr. 19a GG („die wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser“); Art. 74 I Nr. 20 GG („Schutz der Pflanzen gegen Krankheiten und Schädlinge sowie den Tierschutz“); vgl. schon Bleckmann, DÖV 1986, 125 (129). 143 Etwa Art. 74 I Nr. 7 GG (Öffentliche Fürsorge); Art. 74 I Nr. 11 (Recht der Wirtschaft); Art. 74 I Nr. 12 (Arbeitsrecht und Sozialversicherung). 144 Etwa Art. 74 Abs. 1 Nr. 2 (Personenstandswesen); Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 (Vereinsrecht); Art. 73 Abs. 1 Nr. 5a (Schutz deutschen Kulturguts gegen Abwanderung ins Ausland). 145 Schubert, in: Sachs, GG, Art. 30 Rn. 18 f.
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
die Verpflichtung folgt, von der Zuständigkeit durch Rechtsetzung Gebrauch zu machen. Dabei ist zunächst noch unstreitig, dass das Grundgesetz in Form von Verfassungsaufträgen (Art. 6 Abs. 5, Art. 33 Abs. 5 GG), grundrechtlichen Schutzpflichten oder auch Wesentlichkeitsvorbehalten die Existenz von Gesetzgebungspflichten anerkennt. Daneben begründen auch europäische Richtlinien Gesetzgebungspflichten, die entsprechend der Art. 70 ff. Bund oder Länder treffen.146 Diesen Pflichten ist gemeinsam, dass sie jeweils den Staat als solchen adressieren und indifferent gegenüber der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung sind. Darüber hinaus wird mitunter vertreten, dass auch aus der Bundestreue Gesetzgebungspflichten unter bestimmten Umständen folgen sollen.147 Demgegenüber ist fraglich, ob einer zugewiesenen Kompetenz ebenfalls die Verpflichtung zur Kompetenzausübung entnommen werden kann. Grundsätzlich haben Kompetenzen lediglich hypothetischen Charakter: Sie ermächtigen einen Kompetenzträger zur Wahrnehmung einer Aufgabe, ohne ihn hierzu zu zwingen.148 Teilweise wurde dies auch anders gesehen. So ist für Wolff die Wahrnehmungszuständigkeit „die durch organisatorische Rechtssätze und sie ergänzende Rechtsakte begründete Verpflichtung und Berechtigung, bestimmte Angelegenheiten […] wahrzunehmen“149. Es wäre ein Fehlschluss, wollte man aus einem theoretischen Verständnis von Kompetenznormen rechtsdogmatische Ableitungen treffen. Die theoretische Etikettierung, es handele sich bei einer Norm um eine „Kompetenznorm“ darf nicht die Erkenntnis verschließen, dass sie nur über eine wissenschaftlich-theoretische Beschreibung verfügt, das Etikett selbst aber keinen normativen Gehalt besitzt. Die Frage des Verpflichtungsgehalts lässt sich daher nicht allein auf Grundlage eines theoretischen Vorverständnisses, sondern nur danach beantworten, wie der 146
Die Europäisierung der Rechtsetzung lässt die innerstaatliche Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern unberührt; vgl. nur Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 25; Uhle, in: Maunz / Dürig, Art. 70 Rn. 28; für eine analoge Anwendung der Art. 70 ff Haslach, DÖV 2004, 12 (15). 147 Bauer, Die Bundestreue, S. 328 ff., der als Beispiel allerdings nur den Finanzausgleich benennt, der in der Tat nach Art. 107 I 2 und II 1 GG bereits vorgeschrieben wird. Ob aus dieser Verfassungsnorm bereits der Rückschluss gezogen werden kann, das Grundgesetz gehe generell von einer bundesfreundlichen Treuepflicht zur Gesetzgebung aus, dürfte eher zu verneinen sein. 148 Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 56; Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 100; Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 19. 149 Wolff, Verwaltungsrecht II, 3. Aufl., § 72 I. S. 14; Kluth, in: Wolff / Bachof / Stober / K luth, Verwaltungsrecht II, § 83 Rn. 5 ff.; ähnlich auch Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 111; Oldiges, DÖV 1989, 873 (874 f.). In einer etwas anderen, aber vergleichbaren Konstellation, nämlich im Hinblick auf die Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinden nahm das BVerwG NVwZ 2009, 1305 ff. ein „Verbot der vollständigen Entledigung von kommunalen Aufgaben“ und somit mittelbar eine Pflicht zum Tätigwerden an. Das Urteil wurde überwiegend kritisch besprochen, vgl. Schoch, DVBl 2009, 1533 ff.; ähnlich auch M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 125, 551 („sachlich abgegrenzte[r] Bereich von Leistungspflichten“; „amtlicher Pflichten“).
II. Die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaat
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Verfassungsgeber die einzelnen Normen verstanden wissen wollte. Es steht dem Verfassungsgeber frei, in ein und derselben Norm Gehalte zusammenzufassen, die vor einem theoretischen Blickwinkel vielleicht besser zu trennen wären.150 Bereits der Wortlaut zwingt aber dazu, einen Verpflichtungsgehalt zumindest von Gesetzgebungszuständigkeiten151 abzulehnen, da die relevanten Kompetenzvorschriften lediglich vom „Recht zur Gesetzgebung“ oder von der „Befugnis zur Gesetzgebung“ sprechen.152 Es entspräche auch nicht der Staatspraxis, wenn man bedenkt, dass der Gesetzgeber nicht von allen ihm zur Verfügung stehenden Kompetenznormen Gebrauch gemacht hat.153 Lässt man die im Grundgesetz anerkannten Gesetzgebungsaufträge und Gesetzgebungspflichten außer Betracht, so gilt, dass ansonsten Politik nicht zum Verfassungsvollzug denaturiert werden darf.154 Insbesondere regeln Kompetenzen lediglich das Innenverhältnis zwischen Bund und Ländern, ohne die Wahrnehmung der Kompetenzen im Verhältnis zum Bürger in den Blick zu nehmen. Solange die Untätigkeit des Bundes nicht Belange der Länder beeinträchtigt, gibt es keinen Grund, eine Pflichtigkeit gegenüber den Ländern anzunehmen. Und selbst eine solche Verpflichtung des Bundes zum gesetzlichen Handeln würde in diesem Fall nicht unmittelbar aus der Kompetenznorm, sondern allenfalls aus dem Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens folgen.155 Gleichwohl gehen manche Autoren davon aus, dass einigen, aber nicht allen Kompetenznormen durchaus Verpflichtungsgehalt zukämen. Heintzen verweist auf Kompetenztitel, die aufgrund ihrer programmatischen oder funktionalen Ausrichtung eine gesetzgeberische Tätigkeit erwarten lassen.156 Hierzu gehören etwa Art. 73 I Nr. 5a GG („Schutz deutschen Kulturgutes“); Art. 73 Abs. 1 Nr. 9a GG („die Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus“)157; Art. 74 Abs. 1 Nr. 16 („Verhütung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Machstellung“); Art. 74 Abs. 1 Nr. 18 („die Förderung der land- und forstwirtschaftlichen Erzeugung“), Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 („Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren“); Art. 74 Abs. Nr. 19a („die wirtschaftliche Siche 150
Jestaedt, in: Aulehner u. a., Föderalismus, S. 320 f.; Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 68. Eine andere Bewertung verdienen einige Verwaltungszuständigkeiten. So sind Art. 87 I und II GG obligatorische Normen. Sie schließen aus, dass sich der Bund diesen Aufgaben durch Privatisierung entziehen kann. Die Normen haben eine aufgabenbezogene verpflichtende Wirkung (Hermes, in: Dreier, GG, Art. 87 Rn. 16). 152 Vgl. nur Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 99; Rengeling, in: HStR VI, § 135 Rn. 12; Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, Art. 70 Abs. 1 Rn. 18 f. 153 Etwa von Art. 74 I Nr. 15 GG, das bis heute „ruhendes Recht“ geblieben ist, vgl. Kunig, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 74 Rn. 61. 154 Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 330. 155 Dazu Bauer, Die Bundestreue, S. 329. 156 Heintzen, Die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaatsrecht, S. 79; ders., in: BK, Art. 70 Rn. 89; in diese Richtung wohl auch Stern, Staatsrecht I, S. 118; Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 60 ff. 157 Vgl. hierzu auch Heintzen, in: ders. / U hle, Neuere Entwicklungen im Kompetenzrecht, S. 62. 151
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
rung der Krankenhäuser“)158 oder auch Art. 74 Abs. 1 Nr. 24 („Abfallwirtschaft, Luftreinhaltung, Lärmbekämpfung“). Richtig ist zwar, dass das Grundgesetz die von der Kompetenz in Bezug genommenen Handlungsbereiche als mögliche Staatsaufgaben anerkennt und mittels der Kompetenztitel auf diese Bezug nimmt.159 Aber auch sie verpflichten den Gesetzgeber nicht, sondern sagen lediglich aus, dass eine Zuständigkeit besteht für den Fall, dass der Bund oder die Länder zur Erreichung dieser Zwecke tätig werden wollen. Zwar weist das Grundgesetz darauf hin, dass ein staatliches Tätigwerden erwartet wird, es erteilt aber keine bindende Anweisung, die möglicherweise auch gerichtlich durchsetzbar wäre.160 Kompetenzbestimmungen haben daher fakultativen Charakter.161 Schon die fehlende Verpflichtung, von einer Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch zu machen, genügt, um den Verpflichtungsgehalt als konstitutives Element von Kompetenzen auszuschließen. Dennoch fragt sich, ob andere Kompetenzen außerhalb der Art. 70 ff. GG Wahrnehmungsverpflichtungen begründen. Es bleibt dem Verfassungsgeber unbenommen, einer Kompetenznorm auch Verpflichtungsgehalt beizumessen und ein zwingendes Gebot zum Tätigwerden festzuschreiben.162 Das Grundgesetz verwendet hierzu Formulierungen wie „sind durch Bundesgesetz zu regeln“ (Art. 98 Abs. 1, Art. 131 Abs. 1 S. 1 GG)163 oder „Das Nähere regelt ein Bundesgesetz“ (vgl. Art. 4 Abs. 3 S. 2; Art. 21 Abs. 3; Art. 38 Abs. 3 GG, Art. 91c Abs. 4 S. 2 GG). Diese ausschließlichen Kompetenzen des Bundes verpflichten zwar zur gesetzlichen Tätigkeit („Ob“), sie beinhalten aber keine inhaltlichen Direktiven im Hinblick auf das „Wie“ der Ausführung.164 Mitunter finden sich aber auch Handlungspflichten, die das „Wie“ der Gesetzgebung bestimmen 158
Vgl. zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser Burgi, NVwZ 2010, 601 (602) als Verpflichtungsgrund für eine stationäre Krankenversorgung mit der Begründung, der Kompetenztitel habe „aufgabenrechtlichen Gehalt“. Der Autor verkennt aber, dass der Kompetenztitel nicht die Aufgabe begründet, die wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser zu gewährleisten. Diese Aufgabe ist vielmehr bereits als Staatsaufgabe anerkannt und wird lediglich als konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit zugeordnet. Art. 74 I Nr. 19a GG kann allenfalls als systematischer Hinweis verstanden werden, dass das Grundgesetz diese Aufgabe als Staatsaufgabe anerkannt hat. Eine Pflicht zum Tätigwerden folgt aus der Schutzpflicht für Leben und Gesundheit der Patienten sowie aus dem Sozialstaatsprinzip, nicht aber aus dem Kompetenztitel; richtig deshalb Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Bd. 8, Art. 74 Abs. 1 Nr. 19a Rn. 1407: „Nr. 19a allein begründet aber weder eine Regelungsnoch eine Finanzierungsverpflichtung, sei es des Bundes, sei es der Länder. Beide ergeben sich ggf. aus anderen Teilen der Verfassung, insbesondere dem Sozialstaatsgebot.“ 159 Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, S. 154; Heintzen, Die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaat, S. 79. 160 Scheuner, in: FS Scupin, S. 331. 161 Pieroth, AöR 114 (1989), 422 (436); Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 70 Rn. 26; vom tischen Charakter sprechen Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 56; Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 68. 162 Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 332. 163 Ähnlich auch Art. 91c V GG; dazu Berger, DÖV 2018, 799 ff. 164 Pieroth, AöR 114 (1989), 422 (437); Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 150 f.; Herzog, in: HStR IV, § 72 Rn. 29.
II. Die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaat
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(z. B. Art. 107 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 S. 1 GG). Im Grunde fallen bei diesen Normen zwei Funktionen zusammen: Verfassungsrechtlicher Gestaltungsauftrag und Kompetenzzuweisung. c) Materieller Gehalt? Von der Frage des Verpflichtungsgehalts ist die Frage abzugrenzen, ob über die formale Wirkungsweise der Kompetenz hinaus ein weiterer materiell-rechtlicher Gehalt hinzutritt. Es geht insbesondere um die Frage, ob aus der Existenz einer Gesetzgebungskompetenz zugleich auch die Rechtfertigung einer Grundrechtsbeschränkung folgen kann.165 Es geht also gewissermaßen um sekundäre Funktionen.166 Eine solche sekundäre Funktion wurde in Bezug auf den Verpflichtungsgehalt abgelehnt. Aber wie schon die Frage, ob eine Kompetenznorm zum Tätigwerden verpflichtet, nicht alleine aus der Perspektive der Rechtstheorie entschieden werden kann, so sollte auch bei der Frage des materiell-rechtlichen Gehalts berücksichtigt werden, dass der Verfassungsgeber über den formal-zuweisenden Gehalt hinaus einer Kompetenz selbstverständlich auch materielle Funktionen zuweisen kann. Er ist nicht daran gehindert, sich von einem rechtstheoretischen Vorverständnis zu lösen. Die Frage des materiell-rechtlichen Gehalts von Kompetenznormen muss hier nicht abschließend entschieden werden. Die Bedeutung der Thematik liegt auch eher im grundrechtsdogmatischen Bereich. Als zumindest konsensfähig dürfte aber die Antwort von Pestalozza gelten, der in der Kompetenznorm zumindest einen Garantiegehalt sieht. Die Existenz einer Gesetzgebungskompetenz schließe danach die Garantie ein, dass die „sich in ihrem Rahmen haltende gesetzliche Regelung nicht von Hause aus verfassungswidrig sein wird. Die Verfassung ermächtigt nicht zum Verfassungswidrigem“.167 In diesem Zusammenhang hat Butzer deutlich gemacht, dass aus einer Kompetenznorm zumindest folgt, dass die vom sachlichen Befugnisbereich erfassten Einrichtungen und Institutionen nicht per se und schlechthin verfassungswidrig sind.168 Ob das „legislatorische Produkt“, so wie es der Gesetzgeber ausgestaltet hat, gegen Grundrechte verstößt, ergibt sich aber nicht aus der formalen Ermächtigung, sondern aus den Grundsätzen des Gesetzesvorbehalts und der Verhältnismäßigkeit.169 Aus bundesstaatlichen Kompetenzvor 165
Dazu etwa Becker, DÖV 2002, 397 ff.; Eckertz, Die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen, S. 33 ff; Pestalozza, Der Staat 11 (1972), 161 ff.; Pieroth, AöR 114 (1989), 422 ff. 166 So Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 143. 167 Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 125; vgl. auch Pestalozza, Der Staat 11 (1972), 161 ff.; ähnlich auch Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 54. 168 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 126 ff. 169 BVerwG NJW 2006, 77 (104 f.) unter Verweis auf Eckertz, Die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen, S. 36.
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
schriften folgen keine Wertentscheidungen in Form von Handlungsaufträgen oder „verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen“, die die Bedeutung immanenter Grundrechtsschranken erlangen.170 4. Zusammenfassung: Die Kompetenz als Relationsbegriff Eingangs wurden die Zweifel an einer Begriffsbildung beschrieben. Von der empfundenen Unmöglichkeit einer trennscharfen Definition der Kompetenz171 bis hin zum Verzicht auf den „unklaren Begriff“172 hat das verfassungsrechtliche Schrifttum Schwierigkeiten, eine theoretisch fundierte und praxistaugliche Bestimmung der Kompetenz zu finden. Dabei wird das Bemühen um eine Begriffsfindung auch dadurch erschwert, dass sich im Kontext (bundesstaatlicher) Kompetenzen eine ganze Reihe von anderen nicht minder komplexen Verfassungsbegriffen tummeln, deren Funktionsweisen sich teilweise überschneiden. Die Schwierigkeit reduziert sich aber dann, wenn man anerkennt, dass der Begriff der Kompetenz ein vielfach voraussetzungsabhängiger Begriff ist. Abhängig ist er von einer Bestimmung von Staatsaufgaben, einer Theorie der Bundesstaatlichkeit sowie eines Konzepts von Staatlichkeit.173 Eine Theorie der Kompetenz kann hierzu keine Antworten finden; all diese Fragen gehen einer Kompetenzlehre voraus. Für diese ist im Grunde nur die Wirkung einer Kompetenz entscheidend. Kompetenzen sind Relationsbegriffe.174 Sie wirken zwischen mindestens zwei Handlungseinheiten; Ermächtigung einerseits und Ausgrenzung andererseits spiegeln den janusköpfigen Charakter einer Kompetenz wider. Dieses Verständnis erhärtet sich, berücksichtigt man die Funktionen von Kompetenzen im gewaltenteilenden Verfassungsstaat. Diese sollen Aspekte der Staatsgewalt in ein Mosaik von Verbands- und Organkompetenzen übersetzen. Der Sinn hinter der Auftrennung staatlicher Aufgaben und Funktionen ist es, staatliche Macht angemessen zu verteilen und durch eine vertikale und horizontale Gewaltenteilung einen Beitrag zur Mäßigung und Wohlverteilung staatlicher Macht zu leisten.175 Kompetenzen sind folglich Organisationsbegriffe; durch eine Kompetenzordnung wird eine funktionell richtige staatliche Machtausübung gewährleistet. Sie dürfen deshalb nicht losgelöst vom staatlichen Ganzen gesehen werden; sie sind vielmehr hiervon abhängig.
170 BVerfGE 69, 1 (60) – abweichende Meinung der Richter Mahrenholz und Böckenförde; zust. Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 54. 171 Pieroth, AöR 114 (1989), 422 (433). 172 Bauer, Die Bundestreue, S. 288. 173 Heintzen, Die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaat, S. 99. 174 Heintzen, Die Kategorie der Kompetenz im Verfassungsstaat, S. 99. 175 Grundlegend Lerche, VVDStRL 21 (1964), 66 (83); vgl. auch Heitsch, Ausführung der Bundesgesetze, S. 8 ff.; Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 196.
III. Funktionen der Kompetenzordnung
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Kompetenzen sind die Folge von Aufgabenzuweisungen.176 Sie regeln lediglich das Innenverhältnis zwischen Bund und Ländern, ohne die Wahrnehmung der Kompetenzen im Verhältnis zum Bürger in den Blick zu nehmen. Eine Kompetenz ist das Ergebnis der Zuweisung einer Staatsaufgabe an eine Organisation bzw. an ein Organ mit der Folge der Ermächtigung, im zugewiesenen Bereich unter Ausschluss anderer Einheiten verbindliche Rechtsakte zu erlassen. In bundesstaatlicher Hinsicht bedeutet Kompetenz die Möglichkeit eines Kompetenzträgers (Bund oder Länder), einen Ausschnitt der Staatsgewalt eigenverantwortlich und unter Ausschluss des jeweils anderen wahrnehmen zu können. Die Kompetenz besteht aus zwei Elementen, einem formell-zuweisenden Gehalt und einem formell-sachlichen Gehalt. Während der formell-zuweisende Gehalt die zuständige Handlungseinheit benennt, bezeichnet letzteres den sachlichen Befugnisbereich, der den Rahmen für den möglichen Inhalt der Regelungen festlegt. Aus der Kompetenz folgt kein Handlungsauftrag. Zwar ist es möglich, dass aus einer Kompetenznorm auch eine Verpflichtung zum Handeln folgt, diese entspringt aber nicht der Kompetenz, sondern allenfalls der Interpretation der jeweiligen Norm. Handlungsaufträge und auch sonstige materielle Gehalte können zwar zur Kompetenz hinzukommen, sie sind aber kein charakterisierender Bestandteil hiervon.
III. Funktionen der Kompetenzordnung Unter einer Funktion im rechtswissenschaftlichen Sinne ist die Normintention zu verstehen. Möchte man einzelnen Normen Funktionen entnehmen, so geht es darum, die der Norm zugrundeliegenden Zwecke sowie die Aufgaben, denen sie sich stellt und gerecht werden will, zu bestimmen.177 Kompetenzen wurden bislang vor allem als Organisationsbegriffe beschrieben, prägend können folglich nur ihre formalen Funktionen sein. Andere Normintentionen (Integration, Vielfalt, Innovation) können zwar hinzukommen, haben aber keine vergleichbare dogmatische Kraft.178 Im Kontext bundesstaatlicher Kompetenzen betont das Bundesverfassungsgericht seit je her deren formale Funktionen und hat dabei vor allem die Ordnungssowie die Schutz- und Begrenzungsfunktion im Blick. In dem Beschluss zum Kernbrennstoffsteuergesetz hat das Gericht dies näher erläutert. Die Ausführungen beziehen sich zwar auf die finanzverfassungsrechtliche Kompetenzordnung, sie lassen sich aber ohne Weiteres auf die Verteilung von Gesetzgebungskompetenzen verallgemeinern.179 Der strikten Beachtung der finanzverfassungsrechtlichen 176
Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, S. 152. Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 302; Zimmer, Funktion – Kompetenz – Legitimation, S. 139 f. 178 Zu weiteren Funktionen Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 303 ff. 179 Anders Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 102. 177
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
Zuständigkeitsbereiche von Bund und Ländern komme eine überragende Bedeutung für die Stabilität der bundesstaatlichen Verfassung zu. Bei der Ertragsverteilung der Steuern handele es sich gemeinsam mit den Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen um eine zentrale Frage der politischen Machtverteilung in der Bundesrepublik Deutschland. Unsicherheiten in der Ertragszuordnung würden zu erheblichen Verwerfungen im Bereich der Befriedungsfunktion der Finanzverfassung führen. Über diese Ordnungsfunktion hinaus entfalte die Finanzverfassung aber auch eine Schutz- und Begrenzungsfunktion, die es dem einfachen Gesetzgeber untersage, die ihm gesetzten Grenzen zu überschreiten. Diese Schutzwirkung entfalte die Kompetenzordnung auch im Verhältnis zum Bürger, der darauf vertrauen könne, nur innerhalb des vorgegebenen Rahmens belastet zu werden.180 Deutlich wird das formale Verständnis, das das Bundesverfassungsgericht von der Kompetenzordnung zu haben scheint. Die Zuständigkeitsordnung bilde eine geschlossene Rahmen- und Verfahrensordnung und sei auf Formenklarheit und Formenbindung angelegt.181 Sie soll politische Sachbereiche ordnen und politische Prozesse entlasten, indem sie der politischen Aufgabenverteilung einen festen Rahmen vorgibt. Die Ordnungsfunktion der Kompetenzen dient dem Zweck, mithilfe von handhabbaren und relativ eindeutigen Regeln politische Konflikte im Vorfeld zu vermeiden und so Rechtssicherheit und Verantwortlichkeit zu schaffen. Diese stabilisierende Wirkung wird traditionell als ein Moment der vertikalen Gewaltenteilung umschrieben, die die horizontale Gewaltenteilung ergänzt und verstärkt.182 Durch die Ordnungsfunktion der Kompetenzen wird die Rationalität des „Modernen Staates“183 gewährleistet, Kompetenzen sind gerichtet auf „dauerhafte, verstehund durchschaubare Zuweisung von Aufgaben und Hoheitsmitteln an bestimmte, ausgesuchte und beauftragte Stellen […], die dann auch die Verantwortung für die Ausführung ihres Auftrags übernehmen“.184 Wie das Bundesverfassungsgericht zugleich deutlich macht, entfaltet die Kompetenzordnung auch Schutzwirkung zugunsten des Bürgers.185 Der Bürger darf darauf vertrauen, dass er nur in dem von der Kompetenzordnung vorgegebenen Rahmen belastet wird. Seit der Elfes-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts führt die formelle Verfassungswidrigkeit und somit auch die Nichtbeachtung der Kompetenzverteilung strikt zu einem Grundrechtsverstoß.186 Als Kehrseite dieser Schutzwirkung hat die Kompetenzordnung also nicht nur eine ordnende, sondern 180
Vgl. insgesamt BVerfGE 145, 171 (191 Rn. 59 f.). BVerfGE 145, 171 (191 Rn. 58). 182 Grundlegend Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 26 ff. 183 Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 1 ff.; dieser Gedanke findet sich schon bei M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 394. 184 Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 306. Auf den Zusammenhang von Kompetenz und Verantwortung hat auch Pestalozzza, NJW 1981, 2081 (2081 f.) hingewiesen. 185 Auch auf diesen Zusammenhang wies schon früh Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 32 hin. 186 BVerfGE 6, 32 (36). 181
IV. Typologie der Gesetzgebungszuständigkeiten
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auch eine begrenzende Funktion. Hier verdeutlicht sich die vertikal gewaltenteilende Kraft der Kompetenzordnung. Zugleich begrenzt sie die staatliche Macht des Zentralstaats. Für den Bürger hat diese Begrenzungsfunktion also auch eine freiheitsschützende Wirkung.187 Auf die damit einhergehenden Folgerungen einer Kompetenz als Relationsbegriff wurde bereits hingewiesen. Wichtig ist aber, dass diese Begrenzungsfunktion aus dem System der Kompetenzordnung, nicht aus der isolierten Betrachtung einer Kompetenz generiert wird. Es ist die Zuständigkeitsverteilung als solche, die eine Doppelbelastung des Bürgers verhindert. Einen Schutz vor einer übermäßigen Belastung des Bürgers bieten Kompetenznormen mithin nicht; der Schutz wird vielmehr durch die prozeduralen und materiellen Garantiegehalte der Grundrechte sichergestellt.188 Kompetenznormen sind deshalb nicht pauschal „eng“ auszulegen.189 Nicht von dieser Begrenzungsfunktion umfasst ist deshalb die isolierte Betrachtung einer einzelnen Kompetenznorm. Ob ein Kompetenztitel für einen bestimmten Kompetenzbereich extensiv oder restriktiv zu verstehen ist, ergibt sich aus der Interpretation seines Normzwecks.
IV. Typologie der Gesetzgebungszuständigkeiten Das Grundgesetz unterscheidet zwischen der ausschließlichen Gesetzgebung und der konkurrierenden Gesetzgebung. Doch ist allein mit dieser Unterscheidung die Komplexität der Kompetenzordnung noch nicht hinreichend wiedergegeben. In Wirklichkeit leiten wesentlich mehr Kriterien die Bestimmung der einzelnen Kompetenzen, auch wenn sie im Text des Grundgesetzes nicht ausdrücklich abgebildet sind. Sie lassen sich typologisch in Begriffspaaren gliedern, die im Folgenden vorgestellt werden. 1. Titulierte Kompetenzen und Residualkompetenzen Von besonderer Bedeutung ist die Unterscheidung von titulierten Kompetenzen und Residualkompetenzen. Entsprechend der Verteilungsregel des Art. 70 Abs. 1 GG umfassen die titulierten Kompetenzen alle Kompetenzen, die dem Bund als ausschließliche oder konkurrierende Zuständigkeiten zugewiesen sind. Hingegen sind Residualkompetenzen im Grundgesetz nicht tituliert, sondern weisen den Ländern gemäß der Verteilungsregel die ausschließliche Zuständigkeit für bestimmte Materien zu.190 Trotzdem sind sie keine „amorphe Rechtsmasse“191; 187
Dazu Gärditz, Strafprozeß und Prävention, S. 239 f. BVerfGE 145, 230 (244 Rn. 34) – Abweichende Meinung der Richter Huber und Müller. 189 Dazu unter Zweites Kapitel II. 3. 190 Hillgruber, in: BK, Art. 30 Rn. 46 m. w. N.; März, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 30 Rn. 21; ablehnend zur Begrifflichkeit der Residualkompetenz Heintzen, DVBl1 1997, 689 ff. 191 Isensee, HStR VI, § 133 Rn. 25. 188
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
Residualkompetenzen sind vielmehr – auch wenn sie nicht einzeln im Grundgesetz aufgelistet sind – durchaus definierbar. Zu ihnen gehören etwa das Sicherheits- und Ordnungsrecht, das Bauordnungsrecht, das Kommunalrecht sowie das Presserecht.192 Geht man von dem Grundsatz aus, dass mithilfe der Kompetenzordnung die gesamte Staatstätigkeit ausdifferenziert und dann auf die einzelnen Kompetenzträger verteilt wird, dann wird die Janusköpfigkeit der Kompetenzordnung deutlich. Denn das Gegenstück der titulierten Kompetenzen bilden die Residualkompetenzen, die zwar im Grundgesetz nicht ausdrücklich bezeichnet werden, aber entsprechend dem Verteilungsprinzip vom positiven Verfassungsrecht umfasst sind. Da Staatsaufgaben nicht von vornherein festgelegt sind, fallen neue Aufgaben zugleich in die Residualkompetenzen. Der Kompetenzstamm der Länder wächst somit mit der Zeit der Geltung des Grundgesetzes an.193 2. Ausschließliche und konkurrierende Zuständigkeiten Das Grundgesetz unterscheidet zwischen ausschließlichen und konkurrierenden Zuständigkeiten. Während die ausdrücklichen Bundeskompetenzen vor allem den Art. 71, 73 GG entspringen und somit den titulierten Kompetenzen zuzuordnen sind, leiten sich die ausschließlichen Länderkompetenzen aus Art. 70 Abs. 1 GG her (Residualkompetenzen). Die ausschließliche Gesetzgebung bezeichnet eine verfassungsrechtlich unbedingte Zuordnung der Gesetzgebungskompetenz.194 Im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes sind Regelungsmöglichkeiten der Länder bis auf den Fall einer ausdrücklich bundesgesetzlichen Ermächtigung ausgeschlossen (Art. 71 GG). Konkurrierende Zuständigkeiten weisen sowohl dem Bund als auch den Ländern die Kompetenz hinsichtlich eines Kompetenzbereichs zu. Die damit einhergehende Konkurrenzlage zwischen Bund und Ländern wird durch zwei Regeln aufgelöst: durch die lex-posterior-Regel und die lex-superior-Regel.195 Die lex-superior-Regel betrifft die eintretende Sperrwirkung, wenn der Bund von seiner konkurrierenden Zuständigkeit Gebrauch macht. Mit dieser Regel ist in diesem Zusammenhang nicht gemeint, dass das Bundesrecht Landesrecht derogiert. Vielmehr beendet Art. 72 Abs. 1 GG, soweit der Bund von seiner Zuständigkeit Gebrauch gemacht hat, die konkurrierende Kompetenz der Länder. Die Kompetenzausübung ist also im Sinne einer alternativ-ausschließlichen Zuständigkeit tatbestandlich bedingt.196 Dieser Vorrang des Bundes kann als eine Kernkompetenz ausgestaltet sein oder im Sinne einer Bedarfskompetenz unter Subsidiaritätsvorbehalt stehen (Art. 72 Abs. 2 GG). 192
Eine vertiefende Auflistung findet sich bei Uhle, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 70 Rn. 86 ff. Hillgruber, in: BK, Art. 30 Rn. 45. 194 Germann, in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 84, 85 GG Rn. 34. 195 Dazu und zum Folgenden Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 27 ff. 196 März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 144; Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 314; anders Schilling, Rang und Geltung von Normen, S. 251 („alternativ-konkurrierend“). 193
IV. Typologie der Gesetzgebungszuständigkeiten
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Mit der Föderalismusreform im Jahr 2006 ist in Art. 72 Abs. 3 GG die Möglichkeit der Abweichungsgesetzgebung als lex-posterior-Regel hinzugekommen.197 Dies betrifft die Macht der Länder, abweichende Regelungen zu treffen, wenn der Bund von seiner konkurrierenden Gesetzgebung Gebrauch gemacht hat. Möglich ist es auch, den Ländern die Abweichungskompetenz durch ein Bundesgesetz freizugeben (Art. 72 Abs. 4, 125a Abs. 2 S. 2 GG). 3. Kompetenzeinschlüsse und Kompetenzausschlüsse Im Grundgesetz finden sich Kompetenzausschlüsse (sog. „Unzuständigkeiten“) und Kompetenzeinschlüsse.198 Letztere bezeichnen eine Kompetenz des Bundes für einen Ausschnitt eines größeren Kompetenzbereichs, der den Ländern zugewiesen ist. So ist beispielsweise das Hochschul- und sonstige Wissenschaftsrecht Sache der Länder.199 Gleichwohl statuiert das Grundgesetz für einen Ausschnitt des Hochschulrechts, nämlich für das Recht der Hochschulzulassung und der Hochschulabschlüsse eine konkurrierende Kompetenz (Art. 74 Abs. 1 Nr. 33 GG). Bei einem Kompetenzeinschluss wird also ein Ausschnitt aus einem Kompetenz bereich herausgenommen und als ein eigenständiger Kompetenztitel gefasst. Spiegelbildlich dazu drücken Kompetenzausschlüsse Unzuständigkeiten des Bundes für einen Ausschnitt einer Bundeskompetenz aus. Sie werden oft mit den Worten „ohne das“ oder „mit Ausnahme“ eingeleitet.200 So hat der Bund für das Recht der Wirtschaft eine konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit; ausgenommen davon sind aber das Recht des Ladenschlusses, der Gaststätten, der Spielhallen, der Schaustellung von Personen der Messen, der Ausstellung und der Märkte (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG). Ebenso ist dem Bund die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für das Recht der Fürsorge mit Ausnahme des Heimrechts zugewiesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG).201 Ein Kompetenzausschluss ist zwar keine „positiv ausgewiesene Zuständigkeit der Länder“202; die Herauslösung aus dem Kompetenztitel bewirkt aber eine Unzuständigkeit des Bundes und zugleich 197
Dazu Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen; Krapp, Die Abweichungskompetenz der Länder. Ausführlich hierzu Viertes Kapitel II. 3. 198 Isensee, HStR VI, § 133 Rn. 91. 199 Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 137. 200 Vgl. etwa Art. 74 I Nr. 1 GG („ohne das Recht des Untersuchungshaftvollzuges“); Art. 74 I Nr. 7 GG („ohne das Heimrecht“); Art. 74 I Nr. 11 GG („ohne das Recht des Ladenschlusses, der Gaststätten, der Spielhallen, der Schaustellung von Personen, der Messen, der Ausstellungen und der Märkte“); Art. 74 I Nr. 17 GG („ohne das Recht der Flurbereinigung“); Art. 74 I Nr. 18 GG („ohne das Recht der Erschließungsbeiträge“); Art. 74 I Nr. 3 („mit Ausnahme der Bergbahnen“); Art. 74 I Nr. 27 GG („mit Ausnahme der Laufbahnen, Besoldung und Versor gung“); nicht aber Art. 74 I Nr. 74 I Nr. 24 GG („ohne Schutz vor verhaltensbezogenem Lärm“), da Art. 74 I Nr. 24 GG sich auf anlagenbezogene Immissionen beschränkt. Die Ausklammerung dient damit nur der Klarstellung, vgl. Wittreck, in: Dreier, GG, Art. 74 Rn. 120. 201 Weitere Beispiele finden sich bei Isensee, HStR VI, § 133 Rn. 91 ff. 202 Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 91.
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
eine Zuweisung der Thematik an die Residualkompetenz der Länder gem. Art. 70 Abs. 1 GG.203 Kompetenzausschlüsse sind insofern Kompetenztitelausschlüsse. 4. Geschriebene und ungeschriebene Kompetenzen Geschriebene Kompetenzen umfassen die titulierten Kompetenzen sowie die Residualkompetenzen. Sie sind geschrieben, weil sie auf der Ebene des positiven Verfassungsrechts liegen.204 Auch die Residualkompetenzen sind in diesem Sinne geschrieben, da die Kompetenzen der Länder aus der Verteilungsregel aus Art. 70 Abs. 1 GG folgen. Während die titulierten Kompetenzen und die Residualkompetenzen auf der Ebene des positiven Verfassungsrechts liegen, stehen nach einer verbreiteten Ansicht die sogenannten ungeschriebenen Kompetenzen außerhalb der geschriebenen Verfassung. Das Bundesverfassungsgericht lässt drei Fallgruppen zu: die Kompetenz kraft Natur der Sache, die Kompetenz kraft Sachzusammenhangs und die Annexkompetenz. Die Existenz ungeschriebener Kompetenzen ist begründungsbedürftig. Nach Art. 30 und 70 GG sind die Länder zuständig, wenn eine Kompetenz nicht ausdrücklich dem Bund zugeordnet ist. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass das Grundgesetz alle Kompetenzen lückenlos auf Bund und Länder verteilen möchte. Folgerichtig müsste man annehmen, dass für die Annahme ungeschriebener Kompetenzen kein Raum verbleibt. Auch eine analoge Herleitung scheidet aus, da wegen Art. 30 GG und Art. 70 Abs. 1 GG keine Lücke ausfindig zu machen ist. Deshalb lassen sich ungeschriebene Kompetenzen nur konstruieren, wenn man sie angelehnt an die amerikanische Verfassungslehre205 als „stillschweigend mitgeschrieben“206 bzw. als „implizit zugewiesen“207 betrachtet. Die Rechtsfiguren wurden bereits nach 1871 aus der Perspektive des Reichs entwickelt.208 Dies hatte den Grund, dass 203
So BVerfGE 145, 20 (58 Rn. 97) zum Recht der Spielhallen, „das gemäß Art. 74 I Nr. 11 GG ausdrücklich aus der konkurrierenden Kompetenz des Bundes herausgenommen wurde und damit nach Art. 70 Abs. 1 GG der Gesetzgebungszuständigkeit der Länder unterfällt“. 204 Residualkompetenzen sind aufgrund von Art. 70 I GG ebenfalls vom geschriebenen Verfassungsrecht umfasst. 205 So Chief Justice John Marshall in dem leading case des amerikanischen Supreme Court zur implied-powers-Lehre: „Let the end be legitimate, let it be within the scope of constitution, and al means which are appropriate, which are plainly adapted tot hat end, which are not prohibited, but consist with the letter and spirit oft the constitution, are constitutional“ (McCulloch v. Maryland, 17 U. S. 316 (1819), 405 f. (421); vgl. dazu ausführlich Hanschel, Konfliktlösung im Bundesstaat, S. 372 ff.; Bothe, Die Kompetenzstruktur des modernen Bundesstaats, S. 144 f. Die vom U. S. Supreme Court entwickelte „doctrine of implied powers“ hat auch die deutsche Verfassungslehre beeinflusst, grundlegend Triepel, in: FG Laband, Bd. 2, S. 254 ff.; vgl. ferner Bullinger, AöR 96 (1971), 237 (239) m. w. N. 206 Küchenhoff, DVBl 1951, 617 (619); ders., AöR 82 (1957), 413 (418); Mutius, Jura 1986, 498 (499); Achterberg, AöR 86 (1961), 63 ff. 207 Ehlers, Jura 2000, 323; Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 28 f. 208 Grundlegend Triepel, in: FG Laband, Bd. 2, S. 254 ff.
IV. Typologie der Gesetzgebungszuständigkeiten
59
Kompetenzen vorrangig aus den titulierten Kompetenzen bestimmt wurden und die Kompetenzen der Länder danach, welche im Wege der Subtraktion übrig blieben.209 Auch wenn sich das Bundesverfassungsgericht auch heute noch maßgeblich an den titulierten Kompetenzen des Bundes orientiert210 und in einigen Fällen bereits ungeschriebene Kompetenzen des Bundes zugelassen hat211, so hat es dennoch die Kompetenzen kraft Sachzusammenhangs und die Annexkompetenz ausdrücklich für die Länder geöffnet.212 Beide Figuren wirken akzessorisch, d. h. sie stehen in einem spezifischen Zusammenhang zu einer selbstständigen Sachkompetenz.213 Anders wirkt die Kompetenz kraft Natur der Sache. Das BVerfG nimmt sie im Anschluss an Anschütz an, wenn „gewisse Sachgebiete, weil sie ihrer Natur nach eine eigenste, der partikularen Gesetzgebungszuständigkeit a priori entrückte Angelegenheit des Bundes darstellen, vom Bund und nur von ihm geregelt werden können“.214 Schlussfolgerungen müssen danach „begriffsnotwendig sein und eine bestimmte Lösung unter Ausschluss anderer Möglichkeiten sachgerechter Möglichkeiten zwingend fordern“215. Das Bundesverfassungsgericht hat solche Zuständigkeiten nur in wenigen Fällen angenommen, etwa für den Sitz der Verfassungsorgane216, für die „eindeutig überregionale Jugendhilfe“217, für die Raumplanung des Gesamtstaates218 sowie für Aspekte des Einigungsvertragsgesetzes219. Anerkannt ist eine Kompetenz kraft Natur der Sache weiterhin für die Festlegung nationaler Feiertage220, für die Einzelheiten der Bundesflagge und für sonstige Bundessymbole221, für die Planung der Bundesfernstraßen222, nicht aber für die Reinhaltung der Bundeswasserstraßen223, für das Baurecht224, für Urlaubsregelun 209
Triepel, in: FG Laband, Bd. 2, S. 247 f. Vgl. zur Entwicklung Bullinger, AöR 96, (1971), 237 ff. 210 Das wird deutlich deutlich in BVerfGE 135, 155 (196, Rn. 103): „Nach der Systematik der grundgesetzlichen Kompetenzordnung wird grundsätzlich der Kompetenzbereich der Länder durch die Reichweite der Bundeskompetenzen bestimmt, nicht umgekehrt“. 211 Für die Kompetenz kraft Natur der Sache: BVerfGE 22, 180 (217); 84, 133 (148); 85, 360 (374); 95, 243 (248). Für die Kompetenz kraft Sachzusammenhangs: BVerfGE 95, 265; 106, 62 (115 ff.); 110, 33 (48); 125, 260 (314 f.). Für die Annexkompetenz: BVerfGE 3, 407 (428); 8, 104 (118 f.). 212 BVerfGE 7, 29 (43); 28, 119 (145 ff.); 138, 261 (274 Rn. 30). 213 Dazu ausführlich Zweites Kapitel VI. 3. 214 BVerfGE 26, 246 (257); so auch schon BVerfGE 11, 89 (98 f.); im Baurechtsgutachten stellte das BVerfG noch vage auf das Wesen und der verfassungsmäßigen Organisation des Bundes ab (BVerfGE 3, 407 [422]). Zur Würdigung der Rechtsprechung des BVerfG Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 260 ff. 215 BVerfGE 11, 89 (98 f.). 216 BVerfGE 3, 407 (422). 217 BVerfGE 22, 180 (217). 218 BVerfGE 3, 407 (427). 219 BVerfGE 84, 133 (148). 220 BayVerfGHE 35, 10 (18 f.); Kunig, in: v. Münch / Kunig, Art. 70 Rn. 27. 221 Stettner, in: Liber Amicorum Häberle, S. 699. 222 BVerwG NuR 1982, 16 (17). 223 BVerfGE 15, 1 (24). 224 BVerfGE 3, 407 (422).
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
gen für Postbeschäftige225, die Veranstaltung des Rundfunks226, für die Regelung von Berufsbezeichnungen227 sowie für Rechtschreibreformen228. 5. Sonderkompetenz, konstitutive Kompetenz und deklaratorische Kompetenz Eine sehr große Anzahl von Kompetenzen findet sich in dem VII. Abschnitt des Grundgesetzes über die Gesetzgebung im Bunde wieder. Aber auch außerhalb dieses Abschnitts tummeln sich ausschließliche Zuständigkeiten des Bundes und konkurrierende Zuständigkeiten.229 Eine Sonderstellung nimmt dabei Art. 105 GG ein. Die Festlegung der Gesetzgebungskompetenz lässt sich aus zwei Gründen als eine „Sonderkompetenz“ betrachten.230 Erstens weist die Norm abweichend von dem in Art. 70 Abs. 1 GG festgelegten Regel-Ausnahme-Verhältnis Kompetenzen an Bund und Länder zu. Und zweitens wird die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 105 Abs. 2 GG) unter modifizierte Kompetenzausübungsschranken gestellt. Art. 105 GG stellt daher für Steuern eine abschließende Spezialregelung dar und geht insoweit den in Art. 70 ff. GG geregelten Gesetz gebungszuständigkeiten vor.231 Weitere Sonderkompetenzen sieht das Grundgesetz für den Verteidigungsfall vor (Art. 115c GG). Sonderfälle232 anderer Art sind wiederum solche Zuständigkeiten, denen man zwar mittelbar eine ausdrückliche Kompetenzzuweisung entnehmen kann, die aber unmittelbar vor allem als Staatsaufgabe wirken (z. B. Art. 21 Abs. 5 GG, 38 Abs. 3 GG). Bei diesen Normen treffen mehrere Normgehalte aufeinander. Für die Frage der Kompetenzinterpretation gilt es zu berücksichtigen, dass wegen Art. 70 Abs. 2 GG die Abgrenzung der Zuständigkeiten nach dem Modell der ausschließlichen und konkurrierenden Zuständigkeiten zu verlaufen haben. Viele der außerhalb des Grundgesetzes festgelegten Kompetenzen sind im Zweifel ausschließliche Zuständigkeiten des Bundes.233 Näheren Aufschluss gibt die vertiefte Auslegung der jeweiligen Norm, wobei der Fall unproblematisch liegt, wenn das Grundgesetz 225
BVerfGE 11, 89 (98 f.). BVerfGE 12, 205 (242). 227 BVerfGE 26, 246 (257). 228 BVerfGE 98, 218 (248 ff.). 229 Eine Auflistung findet sich bei Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 164, der gut 90 solcher Einträge gefunden hat; vgl. auch die Auflistung in BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 80. 230 Krit. Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 163. Dieser geht zwar von einer „Sonderstellung“ aus, lehnt aber unter Verweis auf Art. 70 II GG die Bestimmung als Sonderkompetenz ab. 231 Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, Art. 105 Rn. 22. 232 Um „Sonderzuweisungen“ handelt es sich indes nicht. Da nach dem Wortlaut von Art. 70 I GG sich die Zuständigkeiten nach dem „Grundgesetz“ ergeben, müssen diese nicht notwendigerweise in Art. 73 GG oder Art. 74 GG tituliert sein. 233 Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 167. 226
IV. Typologie der Gesetzgebungszuständigkeiten
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ausdrücklich auf „Bundesgesetze“ verweist.234 Andere Normen gehen wiederum von konkurrierenden Zuständigkeiten aus (Art. 84 Abs. 1 S. 2–6 GG235; Art. 108 Abs. 2 S. 2 GG236). Bei anderen Kompetenzen, wie beispielsweise der Vertragsabschlusskompetenz der Länder in auswärtigen Angelegenheiten (Art. 32 Abs. 3 GG), ist wiederum streitig, ob sie ausschließlich oder konkurrierend zu verstehen sind.237 Einige der außerhalb des VII. Abschnitts genannten Normen sind deklaratorisch, d. h., dass auch ohne ihre Erwähnung für den Sachbereich eine Gesetz gebungskompetenz besteht.238 Diese Vorschriften, die eine bereits bestehende Kompetenzzuweisung lediglich wiederholen bzw. an eine solche anknüpfen, haben also keinen eigenen Kompetenzgehalt, weisen aber möglicherweise sonstige Funktionen auf. So folgt beispielsweise die Gesetzgebungskompetenz für Regelungen zur Wehrpflicht und zur Kriegsdienstverweigerung aus Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG.239 Art. 4 Abs. 3 S. 2 GG hat somit eine für den Bundesstaat deklaratorische Wirkung, in materieller Hinsicht folgt aus ihr aber die grundrechtliche Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung und die Möglichkeit der gesetzlichen Ausgestaltung dieser Freiheit. Bei anderen deklaratorischen Kompetenznormen (z. B. Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG) erschöpft sich die Bedeutung darauf, dass sie die Tätigkeit des Staates auf die Rechtsform des Gesetzes begrenzen.240 Einige Vorschriften sind wiederum konstitutiver Natur und regeln lege speciali einen bestimmten Sachbereich.241 Ob Normen wie Art. 38 Abs. 3 GG konstitutiv oder deklaratorisch wirken, ist kaum von Bedeutung, da derartige Rechte und Pflichten des Bundes jedenfalls aus einer Kompetenz kraft Natur der Sache folgen.242 Für die Betrachtung im Sinne einer konstitutiven Funktion spricht, dass es zumindest dann keinen Anlass gibt, auf eine „ungeschriebene“ Bundeskompetenz zurückzugreifen, wenn sich eine ausdrückliche Aussage aus dem Verfassungstext ergibt.
234
Etwa Art. 21 V; Art. 23 I 2, III 3, VII GG; Art. 24 I GG; Art. 26 II 2 GG; Art. 38 III GG; 91c V GG etc. 235 Ob Art. 84 Abs. 1 GG eine Kompetenzzuweisung an den Bund begründet, ist umstritten, muss hier aber nicht näher erörtert werden. Näher dazu unter Zweites Kapitel VI. 3. d) cc) (2). 236 Kemmler, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, Art 108 Rn. 12; Seer, in: BK, Art. 108 Rn. 90. 237 Zum Streitstand Streinz, in: Sachs, GG, Art. 32 Rn. 31 ff. m. w. N. 238 Kunig, in: v. Münch / Kunig, Art. 70 Rn. 19; Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 168. 239 BVerfGE 12, 45 (50); BVerwG NJW 2006, 77 (103 f.); a. A. Pestalozza, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 71 Rn. 18. 240 Kunig, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 70 Rn. 19. 241 Zum Beispiel ist Art. 21 V GG gegenüber Art. 74 I Nr. 3 GG spezieller. 242 Dazu ausführlich Zweites Kapitel VI. 3. b) cc) (4).
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
V. Prinzipien der Kompetenzzuordnung So wie die Verfassung insgesamt „Ordocharakter“243 besitzt, folgt auch die Kompetenzverteilung einem Ordnungsanspruch. Die Kompetenzen werden nicht wahllos einem Träger zugeteilt, sondern folgen einem System, das aus bestimmten Prinzipien folgt.244 Es kommt darauf an, dieses „System einer Kompetenzzuordnung“ zu beschreiben. Die Hauptaufgabe besteht darin, die wertungsmäßige Folgerichtigkeit und innere Einheit darzustellen und zu verwirklichen.245 Auf dieser Grundlage können Rückschlüsse für ein Kompetenzverständnis gezogen werden, auf dessen Basis eine funktionsgerechte Auslegung von Kompetenznormen erarbeitet werden kann. Zur Beschreibung der Prinzipien der Kompetenzordnung ist es hilfreich, sich die wesentliche Funktionsweise einer Kompetenz im gewaltenteilenden Verfassungsstaat zu vergegenwärtigen.246 Diese wurden vor allem in ihrem Ermächtigungs- und Ausgrenzungsgehalt beschrieben, während materielle Gehalte nicht zur elementaren Beschaffenheit einer Kompetenz gehören. Kompetenzen haben vorrangig einen formalen und eher technischen Charakter. Sie sind in ihrer Zielrichtung auch funktional zu betrachten: Sie kanalisieren Staatsaufgaben auf Bund und Länder, ohne dass damit ein Wert verbunden ist. Was hieraus genau folgt, wird im folgenden Abschnitt auszuführen sein. 1. Das Verteilungsprinzip: Ermächtigung und Ausgrenzung Wie bereits dargestellt, haben Kompetenzen vorrangig die Funktion, Aspekte der Staatsgewalt als Staatsaufgaben einem Kompetenzträger zuzuteilen. Die Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeit beruht auf dem Konzept, dass dem Bund und den Ländern einzelne Handlungsbereiche zugewiesen sind, die sie eigenverantwortlich wahrnehmen können.247 Dahinter steht der Gedanke einer vertikalen Gewaltenteilung: Die Staatsgewalt wird zwar nicht gesprengt, sie wird aber dezentralisiert und wohl dosiert auf unterschiedliche Staaten (Bund oder Länder) als Teile der Bundesrepublik verteilt.248 Andere Funktionen des Bundesstaats (Subsidiarität, 243
Stern, Staatsrecht I, S. 127 f.; Leisner, DÖV 1961, 641 (646). Zur Ordnungsidee der Kompetenzordnung Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 57 ff. Einen „einheitlichen, systemorientierten Plan, der hinter den Kompetenzkatalogen steckt“, vermisst hingegen März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 128. 245 Grundlegend Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, passim, besonders ab S. 19 ff. 246 Erstes Kapitel II. und III. 247 Grawert, Verwaltungsabkommen zwischen Bund und Ländern, S. 195; Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 124; vgl. auch BVerfGE 63, 1 (41). 248 Idee der duplex regimen, vgl. Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 88 ff. Zur Unteilbarkeit der Staatsgewalt bereits Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 496 ff. und speziell zur Staatsgewalt im Bundesstaat S. 502 ff. („Teilung der Kompetenzen ist nicht Teilung der Staatsgewalt.“). 244
V. Prinzipien der Kompetenzzuordnung
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Vielfalt, Integration) können zwar auf Kompetenzen einwirken, aber nicht deren Wirkungsweise rechtlich prägen. Kompetenznormen beruhen auf Staatsaufgaben; sie teilen hiervon bestimmte Handlungsbereiche auf und weisen sie einzelnen Kompetenzträgern zu. Kompetenzen wirken somit in zwei Richtungen: Sie ermächtigen den einen, und schließen den anderen von der Befassung aus.249 Eine Zuständigkeitsordnung ist somit zugleich immer auch eine Abgrenzungsordnung.250 Grundsätzlich sind verschiedene Verteilungsregeln für die Abgrenzung von Gesetzgebungskompetenzen denkbar.251 Erstens wäre eine Katalogisierung möglich, bei der die einzelnen Materien einzeln benannt und auf den Bund oder die Länder zugeordnet werden. Diese Regelungstechnik hätte jedoch den gewichtigen Nachteil, dass eine Zuordnung schwierig wird, wenn einzelne Materien nicht katalogisiert sind. Um diesem Problem zu entgehen, bietet sich die Verknüpfung einer Generalklausel mit Ausnahmeregelungen an. So kann entweder der Bund zuständig sein, sofern nicht den Ländern Kompetenzen zugewiesen sind.252 Ebenso können grundsätzlich die Länder zur Gesetzgebung befugt sein, wenn nicht dem Bund Gesetzgebungsbefugnisse verliehen sind.253 Denkbar ist sogar eine Kompetenzverteilung nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung.254 Das Grundgesetz schließt sich der vorletzten Möglichkeit an. Art. 70 Abs. 1 GG regelt, dass die Länder das Recht der Gesetzgebung haben, soweit das Grundgesetz nicht dem Bunde Gesetzgebungsbefugnisse verleiht. Mit diesem Verteilungsprinzip ist Art. 70 Abs. 1 GG der Ausgangspunkt für die Bestimmung der Gesetzgebungskompetenzen. Dieses Schema ist bereits aus Art. 30 GG bekannt; es wird jedoch in den Art. 70 ff. GG für die Gesetzgebung konkretisiert. Die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen auf titulierte Kompetenzen und auf Residualkompetenzen der Länder macht zugleich deutlich, dass es keine Aufgaben gibt, die nicht durch einen Kompetenzträger wahrgenommen werden können. Können nämlich für einzelne Aufgaben nach den Art. 70 ff. GG keine ausschließlichen Kompetenzen des Bundes und auch keine konkurrierenden Kompetenzen ausfindig gemacht werden, so sind nach Art. 70 Abs. 1 GG 249
Erstes Kapitel II. 4. Berger, Die Ordnung der Aufgaben im Staat, S. 40. 251 Zu den unterschiedlichen Modellen im Verfassungsvergleich umfassend Bothe, Die Kompetenzstruktur des modernen Bundesstaates, S. 137 ff. Zum Vergleich zwischen Deutschland, den USA und der Schweiz Hanschel, Konfliktlösung im Bundesstaat, passim. Ein guter Überblick zu den unterschiedlichen bundesstaatlichen Ausgestaltungen findet sich ferner in Härtel, Handbuch Föderalismus, Bd. 4. 252 So im kanadischen Verfassungsrecht, vgl. Sec. 91 des British North America Act von 1867; vgl. aber auch Brühl-Moser, in: Härtel, Handbuch Föderalismus, Bd. 4, § 97 Rn. 33 ff.; v. Danwitz, AöR 131 (2006), 510 (545 ff., 552), die darauf hinweisen, dass sich durch eine schleichende Verfassungspraxis die ursprünglichen Elemente der provinzialen Unterordnung allmählich abgebaut haben und die kanadische Verfassung weniger zentralistisch erscheint als andere Verfassungen. 253 So etwa in Österreich (Art. 15 I B-VG) und in den USA (U. S. CONST. amend. X). 254 So in der Schweiz (Art. 42 und Art. 43 BV); dazu Hanschel, Konfliktlösung im Bundesstaat, S. 471; Brühl-Moser, in: Härtel, Handbuch Föderalismus, Bd. 4, § 99 Rn. 30. 250
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
die Länder zuständig. Das Verteilungsprinzip verhindert, dass einzelne Aufgaben durchs Raster fallen. Das Grundgesetz regelt die Gesetzgebungskompetenzen abschließend und lückenlos255, es ist auf Vollständigkeit ausgelegt.256 2. Trennung und Alternativität a) Allgemeines Auf der Grundlage eines Verteilungsprinzips beruht die bundesstaatliche Kompetenzordnung auf der Trennung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern. Das Handlungspotential der Staatsgewalt ist durch Kompetenznormen entweder auf Bund oder auf die Länder verteilt. Die Kompetenzordnung ist eine Abgrenzungsordnung, es gilt das Prinzip der Trennung und Alternativität: Entweder handelt der Bund oder das Land.257 Die Kompetenzen ermächtigen zum selbstständigen eigenverantwortlichen Handeln des Kompetenzträgers; eine gemeinsame Wahrnehmung von Kompetenzen sieht das Grundgesetz grundsätzlich nicht vor.258 Die einzigen Ausnahmen, in denen das Grundgesetz Misch- und Mitwirkungskompetenzen zulässt, stellen die Fälle des kooperativen Föderalismus dar, etwa bei den Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91a ff. GG) oder den Finanzhilfen (Art. 104b f. GG). b) Die Nichtexistenz von Doppelkompetenzen Die herrschende Lehre schlussfolgert hieraus, dass dem Grundgesetz Doppelzuständigkeiten, auf deren Grundlage Bund und Länder denselben Gegenstand in unterschiedlicher Weise regeln könnten, fremd sind.259 Diese (nicht unumstrit-
255 Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 108; Bullinger, Mineralölfernleitungen, S. 55; ders., AöR 96 (1971), 237 (239); Scholz, in: FG BVerfG, S. 255 f. 256 BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 81; Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 78. 257 Grundlegend Nawiasky, Der Bundesstaat als Rechtsbegriff, S. 22: „Daraus folgt, daß die im Bereiche des Ganzen sichtbar werdende Herrschaft stets alternativ ist, entweder Herrschaft des Bundes oder Herrschaft der Glieder. In dem gesamten Bereiche der bundesstaatlichen Rechtsordnung kann an keiner Stelle die Herrschaft beider Teile zusammen auftreten, an keiner Stelle die Herrschaft eines der beiden Teile fehlen.“ Siehe auch Isensee, HStR VI, § 133 Rn. 95 ff.; Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 76; Rengeling, HStR VI, § 135 Rn. 41; Schilling, Rang und Geltung von Normen, S. 193. 258 Vgl. auch Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 108: „Eine durch einen bestimmten Grund sachlich festgelegte Zuständigkeit darf im System des Staates nur einmal vorkommen.“ 259 BVerfGE 36, 193 (202 f.); 61, 149 (204); 106, 62 (114); BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 81; Degenhart, in: Sachs, GG; Art. 70 Rn. 62; Dreier, in: ders., GG, Art. 31 Rn. 58; Schubert, in: Sachs, GG, Art. 30 Rn. 15; Heintzen, in: BK, GG, Art. 70 Rn. 77; Isensee, HStR VI, § 133 Rn. 98; F. Müller / Pieroth / Rottmann, Strafverfolgung und Rundfunkfreiheit, S. 51 ff.; Pietzcker, in: HStR VI, § 134 Rn. 51; Rengeling, HStR VI, § 135 Rn. 41; Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 310 ff.
V. Prinzipien der Kompetenzzuordnung
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tene260) Schlussfolgerung ist nicht nur eine regelungstechnische Folge des Verteilungsprinzips, sondern auch eine rechtsstaatliche Notwendigkeit.261 Denn das Konzept einer vertikalen Gewaltenteilung durch Kompetenzen trägt nur, wenn die Staatsgewalt, die in Staatsaufgaben übersetzt ist, tatsächlich aufgeteilt und auf mehrere Kompetenzträger verteilt ist. Dies schützt mittelbar auch den Bürger vor einer Zentralisierung der staatlichen Macht.262 Demgegenüber ist der Bundesstaat und somit auch die Kompetenzordnung kein Instrument zur Verstärkung der Staatsgewalt. Dieser Effekt träte aber auf, wenn Bund und Länder von den Staatsaufgaben gemeinsamen Gebrauch machen könnten und der Bürger sowohl von Bund und Länder im Hinblick auf gleiche Regelungen und gleiche Ziele in Anspruch genommen werden könnte. Zu einer Verdoppelung der Staatsgewalt ermächtigt die Kompetenzordnung des Bundesstaates nicht. Mit der Trennung und Alternativität der Kompetenzordnung geht damit auch die Ablehnung von Doppelzuständigkeiten einher. Allerdings erweckt Art. 31 GG den Anschein, als ob in der Rechtsordnung solche Doppelkompetenzen auftreten könnten, die nach der Regel „Bundesrecht bricht Landesrecht“ aufzulösen sind.263 Auf den Anwendungsbereich von Art. 31 GG wird später noch einzugehen sein.264 An dieser Stelle genügt es aber festzuhalten, dass die bundesstaatliche Kompetenzordnung Vorkehrungen getroffen hat, um die Kollision von Bundes- und Landesgesetzen zu vermeiden. Denn die Systematik der Art. 70 ff. GG ist darauf ausgelegt, alle Staatsaufgaben überschneidungsfrei zuzuordnen. So ist es im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit von vornherein unmöglich, dass Doppelkompetenzen auftreten. Bei der ausschließlichen Zuständigkeit des Bundes haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung nur, wenn und soweit sie hierzu in einem Bundesgesetz ausdrücklich ermächtigt werden (Art. 71 2. Hs. GG). Art. 31 GG setzt das Aufeinandertreffen von zwei gültigen Normen voraus. Beschlössen die Länder auf dem Gebiet der ausschließlichen Zuständigkeit ein Gesetz, ohne hierzu vom Bund ermächtigt zu sein, so sind diese Regelungen von vornherein verfassungswidrig und somit als ungültige Normen nicht mehr von Art. 31 GG erfasst. Auch im Falle der Ermächtigung sind die Länder sachlich
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Mit zum Teil unterschiedlichen Begründungen Bothe, in: AK-GG, Art. 70 Rn. 21; Lerche, JZ 1972, 468 (471); März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 132 ff.; Pestalozza, DÖV 1972, 181 (190); ders., in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Bd. 8, Art. 70 Abs. 1 Rn. 75 f.; Scholz, in: FG BVerfG, S. 256; Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, S. 132 ff.; skeptisch auch Jestaedt, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, GVwR I, § 14 Rn. 50. Grundlegend Merkl, Zum rechtstechnischen Problem der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung, S. 1309 ff. 261 Grundlegend Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 108 f. 262 Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 96. 263 Für diese Lösung insbesondere Pestalozza, DÖV 1972, 181 (188 ff.); krit. F. Müller / Pieroth / Rothmann, Strafverfolgung und Rundfunkfreiheit, S. 49 ff., Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 334 ff. 264 Viertes Kapitel I. 2. b) sowie III. 5.
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
und zeitlich an die Ermächtigung gebunden. Sie müssen die dem Land gezogenen Grenzen beachten, zum anderen sind die Landesgesetze vom Fortbestand der Ermächtigung abhängig. Nimmt der Bund seine Ermächtigung zurück, so entzieht er dem Land die eingeräumte Kompetenz. Getroffene Regelungen der Länder sind dann ungültig, Doppelkompetenzen treten also nicht auf.265 Nichts anderes gilt für konkurrierende Zuständigkeiten. Zwar betreffen die Kataloge der konkurrierenden Zuständigkeit Felder, auf denen sowohl Bund und Länder tätig werden können. Allerdings wird die Kompetenzausübung durch Art. 72 GG gesteuert. Vorausgesetzt der Bund beachtet die durch Art. 72 Abs. 2 GG gesteckten Grenzen, so kann er durch sein Tätigwerden das Nebeneinander von Gesetzgebungskompetenzen unterbinden. Deshalb haben nach Art. 72 Abs. 1 GG die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung nur, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz (abschließenden) Gebrauch gemacht hat. Die zeitliche („solange“) und inhaltliche („soweit“) Staffelung macht das Auftreten von Doppelkompetenzen unmöglich. Mit Recht handelt es sich bei der „konkurrierenden Gesetzgebung“ in Wirklichkeit nicht um eine kumulativkonkurrierende, sondern um eine alternativ-ausschließliche Kompetenz.266 In Frage gestellt wird dieses Konzept auch nicht durch die Einführung „paralleler Gesetzgebungskompetenzen“267. Teilweise wird Art. 72 Abs. 3 GG als lex specialis zu Art. 72 Abs. 1 GG und somit als Durchbrechung des Grundsatzes von Art. 31 GG verstanden.268 Indes setzt Art. 31 GG zwischen Bundesrecht und Landesrecht eine Normkollision voraus. Hierzu müssen Bundes- oder Landesgesetze auf denselben Sachverhalt anwendbar sein und zu unterschiedlichen Rechtsfolgen führen.269 Im Falle der Abweichungsgesetzgebung ist aber wegen Art. 72 Abs. 3 GG immer nur Bundes- oder Landesrecht anwendbar. Die abweichenden Landesregelungen bewirken zwar keinen Geltungsvorrang vor dem Bundesrecht; vielmehr gehen die Landesgesetze den Bundesregelungen im Sinne eines Anwendungsvorrangs vor.270 Vorzugswürdig erscheint es deshalb, Art. 72 Abs. 3 GG als eine Sperre für den abschließenden Gebrauch einer Bundeskompetenz nach Art. 72 Abs. 1 GG zu verstehen.271 Anders wirkt Art. 31 GG. Die Norm setzt eine Kollision voraus, die im Falle der Abweichungsgesetzgebung nicht auftritt. Abweichende Landesgesetze berühren damit tatbestandlich nicht den Fall einer Normkollision, der zu 265
Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 312. März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 144; Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 314; anders Schilling, Rang und Geltung von Normen, S. 251 („alternativ-konkurrierend“). 267 Dazu Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, passim, besonders ab S. 352 ff. 268 Meyer, Die Föderalismusreform 2006, S. 166 f.; Nierhaus / Rademacher, LKV 2006, 385 (389); Trute, in: Starck, Föderalismusreform, Rn. 160; ähnlich auch Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 72 Rn. 40; Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, Art. 84 Rn. 7. 269 BVerfGE 26, 116 (135 f.); 36, 342 (363); 98, 145 (159); weiterführend Pietzcker, in: HStR VI, § 134 Rn. 54 ff. 270 Meyer, Die Föderalismusreform 2006, S. 166; Oeter, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 72 Rn. 127. 271 Germann, in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 84, 85 Rn. 38 ff. 266
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Art. 31 GG führen würde.272 Deshalb ist Art. 72 Abs. 3 GG auch keine Ausnahme vom Grundsatz „Bundesrecht bricht Landesrecht“. Sind theoretisch Doppelkompetenzen unmöglich, so zeigt die Gesetzgebungspraxis allerdings zahlreiche Beispiele auf, wonach Regelungsthemen sowohl vom Bund als auch von den Ländern wahrgenommen werden können und insoweit Doppelungen auftreten. Die Gründe für solche Überschneidungen sind vielfältig, im Kern geht es aber darum, dass Bund und Länder ihre Ziele aufgrund unterschiedlicher Kompetenztitel verwirklichen können. Für das Phänomen der Doppelzuständigkeit können drei unterschiedliche Konstellationen unterschieden werden. Ihre Behandlung wird im Laufe dieser Untersuchung erfolgen: Erstens werden Doppelzuständigkeiten mitunter wahrgenommen, wenn ein Kompetenzträger seine eigenen Zuständigkeiten überschreitet. Es ist dann oft von Doppelzuständigkeiten die Rede. In Wirklichkeit entstehen diese Überschneidungen nur, weil Kompetenznormen nicht hinreichend voneinander abgegrenzt werden und ein Kompetenzträger dadurch seine eigenen Zuständigkeiten überschreitet. Bei näherer Betrachtung ist dies lediglich eine verfassungswidrige Praxis. Insofern kann eine möglichst konkrete Interpretation der einzelnen Kompetenztitel dazu beitragen, das Auftreten von Doppelzuständigkeiten zu vermeiden. Zweitens werden janusköpfige Gesetze273, also solche Gesetze, die verschiedene Kompetenzmaterien berühren, bisweilen als Doppelzuständigkeiten bezeichnet. Es handelt sich hierbei nicht um ein Interpretations-, sondern um ein Zuordnungsproblem. Nach einer Auffassung sei es möglich, dass eine bestimmte Regelung auch mehreren Kompetenztiteln zugeordnet werden kann. Hierdurch werde idealkonkurrierendes Sonderrecht begründet, das gegebenenfalls nach dem Grundsatz „Bundesrecht bricht Landesrecht“ (Art. 31 GG) aufzulösen sei.274 Diese Auffassung fordert die Vorstellung einer auf Trennung und Alternativität beruhenden Kompetenzordnung deutlich heraus. An dieser Stelle sei folgender Vorgriff gestattet275: Die These idealkonkurrierenden Sonderrechts ist abzulehnen. Doppelzuständigkeiten lassen sich vermeiden, wenn die Kompetenzzuordnung konse 272
Germann, in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 84, 85 Rn. 38 ff.; Klein / Schneider, DVBl 2006, 1549 (1552); Papier, NJW 2007, 2145 (2147); krit. Krapp, Die Abweichungskompetenzen, S. 321 ff. 273 Begriff nach Cremer, ZG 2005, 29 (31). 274 Pestalozza, DÖV 1972, 181 (187 ff.); ders., in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 75; zust. Bothe, in: AK-GG, Bd. 2, Art. 70 Rn. 21 ff.; Brohm, DÖV 1983, 525 (528); Lerche, JZ 1972, 468 (471); Scholz, in: FG BVerfG, S. 256; Wolfrum, DÖV 1982, 676; Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen, S. 120 ff. Eine andere Auffassung vertritt Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 133 ff; ders., in: Berliner Kommentar, Art. 70 Rn. 45. Herbst geht einerseits von Kompetenzkonkurrenzen aus, er möchte aber zugleich die Auflösung der Konkurrenz nicht über Art. 31 GG vornehmen, sondern nach dem von ihm entwickelten Kriterium des Ordnungsschwerpunktes (S. 137 ff.); anders auch März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 136, der vorschlägt, Doppelzuständigkeiten entlang der Vermutungswirkung des Art. 70 I GG aufzulösen. 275 Umfassend dazu Drittes Kapitel II., besonders II. 3. a).
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
quent nach dem objektivierten Willen des Gesetzgebers fragt und in Zweifelsfällen der Schwerpunkt der Regelung den Ausschlag gibt. Nur wer seine Bemühungen um eine gegenstandsadäquate Normkonkretisierung vorzeitig abbricht, wird zur Schlussfolgerung kommen, es gäbe Doppelkompetenzen. Im Ergebnis ist dies unbefriedigend, weil der Gang über Art. 31 GG den Bundesstaat weiter unitarisiert. Drittens können zwei auf Kompetenzen beruhende Regelungen zu Wertungsoder zu Normwidersprüchen führen. Der klassische Anwendungsfall ist eine Kompetenzausübung, die auf einem Sachzusammenhang beruht.276 Ebenso kann der Steuergesetzgeber mithilfe von Lenkungssteuern Ziele umsetzen, die ansonsten einer Sachkompetenz bedürfen.277 Während die ersten beiden Konstellationen auf Normkonkretisierungskonflikte hindeuten, sind die Konflikte der dritten Konstellation Normkonflikte, und knüpfen an Kompetenzausübungsschranken an.278 Das Bundesverfassungsgericht hat in einigen Entscheidungen auf das Gebot einer widerspruchsfreien Rechtsordnung verwiesen.279 Es wird zu klären sein, ob diese Rechtsprechung überzeugen kann.280 An dieser Stelle genügt der Hinweis, dass es sich bei dieser Konstellation abermals nicht um Doppelzuständigkeiten handelt. Doppelzuständigkeiten wären nur anzunehmen, wenn der Normkonflikt auf der gleichen Kompetenznorm beruhen würde. Die hier relevanten Konflikte sind aber dadurch geprägt, dass widersprüchliche Regelungen auf zwei unterschiedlichen Kompetenztiteln beruhen. Dieser Problemkreis knüpft an die Einheit der Rechtsordnung an. 3. Beidseitigkeit der Kompetenzordnung Die Kompetenzordnung des Grundgesetzes ist beidseitig ausgestaltet.281 Bund und Länder verfügen über eigene bestimmbare Gesetzgebungskompetenzen.282 Die terminologische Unterscheidung von titulierten Kompetenzen und Residualkompetenzen könnte jedoch den Schluss zulassen, dass allein dem Bund Zuständigkeiten verfassungsrechtlich zugewiesen sind und den Ländern nur die Residualkompetenzen als eine bloße „amorphe Restmasse“283 verbleiben. Mitunter
276
Zum Beispiel BVerfGE 98, 265 (299 ff.). BVerfGE 98, 83 (97 ff.); 106 (117 ff.). 278 Auf diesen Unterschied weist zutreffend Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 375 hin. 279 BVerfGE 98, 83 (98); 98, 106 (118 f.); 98, 265 (301). 280 Viertes Kapitel III. 281 Heintzen, DVBl 1997, 689 ff.; ders., in: Heintzen / U hle, Neuere Entwicklungen im Kompetenzrecht, S.49 ff.; ders., in. BK, Art. 70 Rn. 84 ff.; Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 88 ff.; Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, S. 33 ff.; siehe auch Nawiasky, Der Bundesstaat als Rechtsbegriff, S. 38. 282 Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 84. 283 Formulierung nach Heintzen, DVBl 1997, 689 (690). 277
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wird hieraus geschlussfolgert, es gebe keine ausschließlichen Zuständigkeiten der Länder, die Länder besäßen lediglich eine Auffangzuständigkeit.284 Dies scheint auch die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zu sein: „Nach der Systematik der grundgesetzlichen Kompetenzordnung wird grundsätzlich der Kompetenz bereich der Länder durch die Reichweite der Bundeskompetenzen bestimmt, nicht umgekehrt“.285 Dies ist durchaus nachvollziehbar. Während die Kompetenzen des Bundes einzeln aufgelistet sind, ergeben sich die Zuständigkeiten lediglich aus der Subtraktion der dem Bund nicht zugewiesenen Bereiche. Während schon der Wortlaut der tituliert aufgelisteten Kompetenzen einen ersten Anhaltspunkt für die Begriffsbestimmung der Normen darstellt, fehlt es bei den Länderzuständigkeiten an einem begrifflich fixierten Wortlaut. Es ist anzunehmen, dass andere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls auf dieser Linie liegen, zumal das Gericht diese Rechtsprechung im Beschluss zum Berliner Mietendeckel bekräftigt hat.286 In der Betreuungsgeldentscheidung musste das Bundesverfassungsgericht entscheiden, ob das Institut des Betreuungsgeldes der konkurrierenden Zuständigkeit für die öffentliche Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) oder der ausschließlichen Zuständigkeit der Länder für den Bereich der Familienförderung unterfällt. Statt zwischen diesen Gegenständen abzugrenzen, geht das Bundesverfassungsgericht nur auf die öffentliche Fürsorge ein, andere Kompetenztitel kämen „nicht in Betracht“.287 Anschließend legt das Gericht die öffentliche Fürsorge explizit nicht eng aus und orientiert sich bei der anschließenden Subsumtion nur an der öffentlichen Fürsorge, ohne die möglicherweise auch in Betracht kommenden Länderzuständigkeiten in die Argumentation einzubeziehen.288 Ähnlich ging das Bundesverfassungsgericht in der Filmförderungsentscheidung vor. Zwar sah das Bundesverfassungsgericht zutreffend, dass eine Filmförderung neben dem Recht der Wirtschaft (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) auch eine Kulturförderung betrifft, gleichwohl endeten die „dem Bund zugewiesenen Gesetzgebungskompetenzen […] nicht ohne Weiteres dort, wo Institutionen, Güter oder Akteure des Kulturbereichs betroffen sind“.289 In der Folge stellt das Bundesverfassungsgericht vielfältige Überlegungen an, den Normbereich des Rechts der Wirtschaft auf kulturelle Aspekte auszudehnen. Das spiegelbildlich 284
So etwa Lenksi, Öffentliches Kulturrecht, S. 96 im Hinblick auf die „Kulturhoheit der Länder“; ähnlich auch F. Müller / Pieroth / Rottmann, Strafverfolgung und Rundfunkfreiheit, S. 51; Pietzcker, in: HStR VI, § 134 Rn. 9; Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 423; Wolfrum, DÖV 1982, 674 (676); ähnlich auch März, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 30 Rn. 22 („diffus“; „Beidseitigkeit […] nur unvollkommen erreicht“). 285 BVerfGE 135, 155 (196 Rn. 103). Allerdings hat das Gericht zugleich deutlich gemacht, dass anhand der Verfassungsentwicklung Sachmaterien identifiziert werden können, die nach dem Willen des Verfassungsgebers „zumindest in wesentlichen Hinsichten in die Gesetzgebungskompetenz der Länder fallen können“ (a. a. O.). 286 BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 82 und 97. 287 BVerfGE 140, 65 (78 Rn. 28). 288 BVerfGE 140, 65 (79 Rn. 29 f.); krit. dazu auch Henneke, DVBl 2015, 1187 (1190); Rixen, NJW 2015, 3136 (3137). 289 BVerfGE 135, 155 (196 Rn. 105); zust. Waldhoff, JZ 2014, 407.
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
dazu ebenfalls schutzwürdige Interesse der Länder, von ihren Kulturzuständigkeiten ebenfalls effektiven Gebrauch machen zu können, lässt das Gericht außer Acht.290 So richtig es auch ist, dass das Recht der Wirtschaft durchaus auch kulturelle Sektoren betreffen kann, so sehr wäre es wünschenswert gewesen, dass das Bundesverfassungsgericht die sich überschneidenden Interessen von Bund und Ländern beidseitig und gleichwertig gewürdigt hätte.291 Die hier geforderte beidseitige und gleichwertige Berücksichtigung wird nämlich spätestens dann relevant, wenn die Länder entscheiden würden, der bundeseinheitlichen wirtschaftlichen Filmförderung eine kulturell motivierte Filmförderung an die Seite zu stellen. Dürften die Länder dann mithilfe ihrer Kompetenz zur Kulturförderung auch wirtschaftliche Aspekte einbeziehen, sofern sie im Schwerpunkt nicht überwiegen? Die einseitige Interpretation führt dazu, dass die Länder eher bedroht sind, durch Bundeskompetenzen in ihrem Normbereich eingeschränkt zu werden, als umgekehrt. Die Interpretation läuft Gefahr, Bundeskompetenzen tendenziell zu weit und Landeskompetenzen tendenziell zu eng auszulegen. Interpretiert man Kompetenzen stets nur aus der Perspektive des Bundes, so hat dies zwar den Vorteil, dass Kompetenzkollisionen und Kompetenzkonflikte nur noch selten auftauchen dürften.292 Dieser Vorteil ginge aber zu Lasten der Länder, vor allem dann, wenn für die Auslegung die Effektivität der Kompetenzzuweisung an den Bund in die Betrachtung einbezogen würde.293 Noch weiter – aber im Falle der Leugnung einer beidseitigen Kompetenzverteilung folgerichtig zu Ende gedacht – ging die herrschende Rechtsauffassung zur Zeit der Weimarer Republik. Danach hatte nur das Reich, nicht aber die Länder die Befugnis, Sachzusammenhänge geltend machen zu können mit dem Ergebnis, dass das Reich seine Kompetenzen immer weiter ausdehnen konnte.294 Demgegenüber gilt es, die Beidseitigkeit der Kompetenzordnung zu verteidigen. Zwar kann auch unter der Geltung des Grundgesetzes sicherlich von einem 290
BVerfGE 135, 155 (Rn. 106 ff.). Vgl. dazu auch Pres, DÖV 2009, 155 ff., der zutreffend zwischen Kulturförderung und Wirtschaftsförderung abgrenzt. 292 So auch der Ansatz von F. Müller / Pieroth / Rottmann, Strafverfolgung und Rundfunkfreiheit, S. 51 f., wonach es nur darauf ankomme, ob dem Bund eine Zuständigkeit „verliehen“ sei; zust. Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre S. 423. 293 Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 88. 294 Exemplarisch Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 95 f.; Lassar, in: Anschütz / T homa, HDStR Bd. 1, § 27, S. 310 f. Auch in jüngerer Zeit wird das alte Kompetenzverständnis noch vertreten, vgl. stellvertretend Pietzcker, in: HStR VI, § 134 Rn. 8: „Vor allem kann eine solche Klausel [gemeint ist Art. 30 GG, F. S.] nicht verhindern, daß mit Hilfe verschiedener dogmatischer Figuren wie der Lehre von den ‚implied powers‘ oder ‚resulting powers‘, der Annexkompetenz oder der Kompetenz kraft Sachzusammenhangs die unvermeidlich wenig randscharfen einzelnen Kompetenzzuweisungen an den Bund weit ausgelegt werden“. Auch wenn die Existenz von Sachzusammenhängen und Annexkompetenzen nicht zu leugnen ist, wird doch deutlich, dass eine gänzlich einseitige Betrachtung der Bundeszuständigkeiten geeignet ist, Länderzuständigkeiten schrittweise auszuhöhlen. Dass dies wünschenswert ist, darf bezweifelt werden. 291
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faktischen Übergewicht des Bundes bei der Gesetzgebung gesprochen werden295, daraus folgt aber noch nicht, dass die dem Bund zugewiesenen Kompetenzen gegenüber den Ländern qualitativ anderes Gewicht haben. Im Gegenteil: Die Art. 30 und 70 GG weisen darauf hin, dass den Ländern ein gleichwertiger Anteil an der Gesetzgebung zukommen soll.296 Eine andere Deutung wäre im Übrigen auch mit dem Bundesstaatsprinzip unvereinbar, weil auch die Länder mit Staatsqualität ausgestattet sind.297 Wenn nämlich das Bundesstaatsprinzip als „Moment einer vertikalen Gewaltenteilung“298 der Begrenzung der staatlichen Macht dient und in diesem Zusammenhang die gesamtstaatliche Staatsgewalt ausdifferenziert und anschließend dem jeweiligen Kompetenzträger zugeteilt wird299, dann kann schlechthin nicht die Rede davon sein, dass den Ländern nur ein „Krümel“ verbleiben soll. In diesem Sinne hat die Aufteilung gemäß dem Verteilungsprinzip nur eine rechtstechnische Funktion: Art. 70 Abs. 1 GG gewährleistet, dass Befugnisbereiche, die nicht im Grundgesetz tituliert sind, gleichwohl einem Kompetenzträger – nämlich den Ländern – zugewiesen sind. Es ist aber ein Kategorienfehler daraus zu schlussfolgern, dass dem Bund qualitativ höherwertige Kompetenzen zukommen. Denn die Verteilungsregel des Art. 70 Abs. 1 GG sagt gerade nichts darüber aus, dass nur dem Bund abgrenzbare Kompetenzen zugeordnet sind und demnach nur den Ländern eine unbestimmbare Kompetenzmasse verbleibt.300 Das Grundgesetz versucht, die Bundeszuständigkeiten vollständig aufzulisten. Dadurch soll es ihm verwehrt werden, unter Ausnutzung von Lücken oder unklaren Gesetzesmarkierungen in die Gesetzgebungsreservate der Länder einzudringen.301 Die positive Enumeration der Art. 70–74 GG verdeutlicht also die begrenzte Macht des Bundes und sichert umgekehrt den Ländern einen festen Kompetenzbereich zu. Auch wenn die Residualkompetenzen der Länder nicht im Grundgesetz ausdrücklich tituliert sind und ihre Interpretation auch nicht die gleiche Präzision erreicht wie bei titulierten Kompetenzen302, so stellen diese dennoch keine vollkommen unbestimmbare (Rest-)Masse dar. Viele der den Ländern zugewiesenen Bereiche (Kultur, Gefahrenabwehr und Polizeirecht, Kommunalrecht, Schulrecht) sind historisch entstandene Rechtsgebiete. Da nach dem Gesichtspunkt der historischen Auslegung dem Merkmal des Traditionellen und Herkömmlichen wesentliche Bedeutung zukommt, lässt sich an die Entstehungsgeschichte und Staatspraxis anknüpfen, die durchaus geeignet ist, den Begriffen hinreichende Konturen zu 295
Eiselstein, NVwZ 1989, 323 ff.; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 7. Zur Diskussion vor der Föderalismusreform von 2006 exemplarisch P. M. Huber, Gutachten D 65. DJT, D 33. 296 Heintzen, DVBl 1997, 689 (690 f.); Isensee, HStR VI, § 133 Rn. 89; Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, S. 34. 297 Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 86. 298 Isensee, HStR VI, § 133 Rn. 4. 299 Dazu unter Erstes Kapitel II. 4. 300 Isensee, HStR VI, § 133 Rn. 89. 301 Bullinger, AöR 96 (1971), 237 (239); ders., Die Mineralölfernleitungen, S. 55 ff. 302 Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 128. Zu den Schwierigkeiten auch Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern, S. 33.
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verleihen.303 Im Übrigen spricht Art. 23 Abs. 6 S. 1 GG inzwischen selbst von ausschließlichen Zuständigkeiten der Länder und führt hierfür die schulische Bildung, die Kultur und den Rundfunk auf. Wenn im Folgenden also von Residualkompetenzen gesprochen wird, so wird darunter nicht verstanden, dass den Ländern nur eine „Restmasse“ nach Abzug der Bundeskompetenzen verbleibt, sondern diese Restmasse ausschließlich zugewiesen und bestimmbar ist. Diese These wird auch durch die Föderalismusreform bestätigt. Bekanntlich haben die Länder infolge der Verfassungsreform neue Zuständigkeiten erhalten.304 Mit welcher Technik der verfassungsändernde Gesetzgeber vorging, lässt sich anhand von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG verdeutlichen. Bis zur Föderalismusreform gehörten sowohl der Strafvollzug als auch der Untersuchungshaftvollzug zur konkurrierenden Zuständigkeit. War der Strafvollzug bis 2006 ausdrücklich in Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG tituliert, hat der verfassungsändernde Gesetzgeber diese Zuständigkeit aus dem Katalog gestrichen und somit die Überführung an die Residualkompetenzen der Länder deutlich gemacht. Zugleich hat er den Untersuchungshaftvollzug ausdrücklich von seinem übergeordneten Sachgegenstand, dem gerichtlichen Verfahren, getrennt.305 Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat also zwei Techniken der Kompetenzzuweisung genutzt, um die Überführung ehemaliger konkurrierender Zuständigkeiten in die ausschließliche Zuständigkeit der Länder deutlich zu machen: – Transferierung ehemaliger konkurrierenden Zuständigkeiten in die Residualkompetenzen der Länder gem. Art. 70 Abs. 1 GG durch Streichung der bisherigen Kompetenzzuweisung sowie – Kompetenztitelausschluss: Ausschluss eines Handlungsbereichs aus dem Tatbestand der Kompetenznorm.306 Die Technik der Streichung ehemaliger titulierter Zuständigkeiten hat der verfassungsändernde Gesetzgeber neben dem Strafvollzug auch für das Versammlungsrecht (Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG a. F.) und für das Presserecht (Art. 75 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GG a. F.) verwendet. Da die überführten Zuständigkeiten früher zum titulierten Katalog des Grundgesetzes gehörten, wird die positiv bestimmbare Qualität von Residualkompetenzen deutlich, da ihr Sinngehalt weiterhin in Art. 70 Abs. 1 GG bestehen bleibt. Noch deutlicher wird der positive Gehalt bei Kompetenztitelausschlüssen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7, Nr. 11, 17, Nr. 18, Nr. 24, Nr. 27, Nr. 33 GG). Kompetenztitelausschlüsse fixieren einen Kompetenzbereich oder zumindest einen Ausschnitt von diesem, begründen eine Unzuständigkeit des Bundes
303
Heintzen, DVBl 1997, 689 (691); Hillgruber, in: BK, Art. 30 Rn. 55. Dazu vertiefend Zweites Kapitel V. 304 Überblick bei Huber / Uhle, in: Heintzen / U hle, Neuere Entwicklungen im Kompetenzrecht, S. 83 ff.; Oeter, in: Starck, Föderalismusreform, Rn. 35 ff. 305 BT-Drs. 16/813, S. 12; vgl. dazu Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 20. 306 Erster Teil IV. 3. [Kompetenzeinschlüsse].
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und weisen den Sachgegenstand zugleich der ausschließlichen Zuständigkeit der Länder zu. Kompetenztitelausschlüsse erweitern also den Gehalt der Residualkompetenzen der Länder.307 Sie zeigen, dass Residualkompetenzen durchaus positiv bestimmbar sein können. Der Grundsatz der Beidseitigkeit der Kompetenzordnung bringt eine weitere Erkenntnis mit sich: Jede Zuweisung von Kompetenzen an einen Kompetenzträger definiert zugleich mittelbar die Kompetenzen des anderen Kompetenzträgers mit. Weist das Grundgesetz dem Bund bestimmte Kompetenzen positiv zu, dann enthält das Grundgesetz zugleich die Aussage, dass den Ländern in negativer Hinsicht die Kompetenz zur Wahrnehmung dieses Titels nicht zugewiesen sein kann.308 Anders als es das Bundesverfassungsgericht meint309, muss die Reichweite der Kompetenzen der Länder bei der Auslegung und Zuordnung von Bundeskompetenzen mitberücksichtigt werden. Die Beidseitigkeit der Kompetenzordnung verhindert somit eine praktische Aushöhlung der Regelungsbefugnisse der Länder durch eine ausdehnende Auslegung der Bundeszuständigkeiten.310 Damit dies gelingt, ist es erforderlich, die Residualkompetenzen nicht negativ („nach Abzug der Bundeskompetenzen“), sondern mit einem positiven und eigenständigen Inhalt zu deuten.311 4. Relativität des Kompetenzrechts Der Bundesstaat ist zweigliedrig ausgestaltet. Er nimmt nur auf diese zwei staatlichen Ebenen Bezug312 und weist ansonsten nur geringe Bezüge zum sonstigen Verfassungsrecht auf. Die Kompetenzvorschriften erlauben zwar vereinzelte Querbezüge, führen aber grundsätzlich eher ein „Inseldasein“.313 Im Hinblick auf die Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten beziehen sich die Art. 70 ff. GG nur auf den bundesstaatlichen Rechtskreis, während andere Kreise für die Strukturierung der bundesstaatlichen Ordnung ausgeblendet werden.
307
Huber / Uhle, in: Heintzen / U hle, Neuere Entwicklungen im Kompetenzrecht, S. 90; a. A. Rengeling / Szczekalla, in: BK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 Rn. 16. 308 Zur Ermächtigungs- und Ausgrenzungsfunktion von Kompetenzen siehe unter Erstes Kapitel II. 2. c). 309 BVerfGE 135, 155 (196, Rn. 103). 310 Dazu schon Bullinger, Die Mineralölfernleitungen, S. 55. Ähnlich auch Hillgruber, in: BK, Art. 30 Rn. 54: „Gesetzgebungskompetenzen des Bundes dürfen nicht in einer Weise ausgelegt werden, dass die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern unterlaufen wird.“ 311 Mitunter berücksichtigt der Zweite Senat diese Beidseitigkeit, vgl. etwa BVerfGE 137, 108 (165 Rn. 135): „Bei der Bestimmung der Reichweite der aus Art. 74 I Nr. 7 GG folgenden Gesetzgebungskompetenz, ist jedoch Zurückhaltung geboten, wenn mit ihr Regelungen gerechtfertigt werden sollen, von denen nach dem Grundgedanken der Art. 70 ff. GG anzunehmen ist, dass der Regelungsgegenstand im Wesentlichen oder weitgehend in der Kompetenz der Länder verbleiben“. 312 Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 170; Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 61. 313 Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 27.
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Demzufolge sind die Kompetenzen der Europäischen Union im Verhältnis zur innerstaatlichen Rechtsordnung für die Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten ohne Belang, denn aus der Perspektive des Kompetenzrechts ist die Europäische Union eine externe Größe.314 Beide Rechtsbeziehungen, die Beziehung zwischen Bund und Ländern sowie die Beziehung der Europäischen Union zu den Mitgliedstaaten existieren nebeneinander.315 Diese Relativität wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Kompetenzen der Europäischen Union auf Übertragungsakten nach Art. 23 Abs. 1 GG beruhen. Denn die Delegation von Zuständigkeiten an die Europäische Union hat keinen Einfluss auf die innerstaatliche Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern.316 Vielmehr setzt der in Art. 23 Abs. 1 GG normierte Verfassungsauftrag zur Verwirklichung eines vereinten Europas die innerstaatliche Kompetenzverteilung voraus, was nicht zuletzt durch die Regelungen in Art. 23 Abs. 2–7 GG deutlich wird.317 Auch werden die einzelnen Zuständigkeiten, die Bund und Länder inne haben, durch europäisches Recht nicht derogiert. Nationale Gesetze, die in den Bereich ausschließlicher Zuständigkeiten der Europäische Union (Art. 2 und 3 AEUV) fallen, sind nicht unwirksam, sondern lediglich unanwendbar.318 Zwar kann die Wirkung des Anwendungsvorrangs dazu führen, dass einzelne Gesetze ganz oder teilweise leerlaufen319 oder einzelne Kompetenzen bisweilen sogar faktisch überflüssig werden320. Aber auch dieser Umstand verändert nicht die innerstaatliche Kompetenzbeziehung zwischen Bund und Länder. Aus der Perspektive des Unionsrechts treten Bundesstaaten gegenüber der Europäischen Union als eine Einheit auf. Die bundesstaatliche Kompetenzordnung ist erst im Innenverhältnis bedeutsam. Zwar ist die Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon nicht mehr völlig mit „Landes-Blindheit“321 geschlagen (was unter anderem die Verweise auf die regionale und lokale Selbstverwaltung in Art. 4 Abs. 2 S. 1 und Art. 5 Abs. 3 EUV deutlich machen), gleichwohl ist es weiterhin aus der Perspektive des Unionsrechts unerheblich, welcher Kompetenzträger europäische Richtlinien umsetzt und Unionsrecht durchführt. Die Zuständigkeit zur Umsetzung von Unionsrecht ergibt sich ausschließlich aus der innerstaatlichen Kompetenzverteilung. Keinesfalls darf ein Vorrang von Bundesrecht angenommen werden, nur, weil dieses vermeintlich in der Lage ist, Unionsrecht effektiver umzusetzen.322 314
Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 216. Querbezüge sind aber selbstverständlich denkbar. Die Europäische Union kann innerstaatlich die Rechtsverhältnisse von Bund und Ländern beeinflussen, etwa für die Mitwirkungsrechte bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäischen Union. 316 Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 61. 317 Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Rn. 10. 318 Herbst, in: Berliner Kommentar, Art. 70 Rn. 109. 319 Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Rn. 10. 320 So für den Fall der Zollkompetenz des Bundes aus Art. 105 I GG. 321 H. P. Ipsen, in: FS Hallstein, S. 256. 322 Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 216; Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Stack, GG, Art. 70 Rn. 10. 315
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Auch aus den Geboten der Kohärenz und Konvergenz ergeben sich keine Rückschlüsse auf die bundesstaatliche Kompetenzordnung.323 Blind ist die Kompetenzordnung auch für das organisatorische Innengefüge innerhalb eines Kompetenzträgers. Alle staatlichen Einheiten müssen sich in die bundesstaatliche Dichotomie von Bund und Länder einfügen. Das gilt sowohl für die unmittelbare, aber auch für die mittelbare Staatsverwaltung (Kommunen, Kammern, Hochschulen, gesetzliche Krankenkassen etc.). Aus der Perspektive des Bundesstaats ist die verwaltungsorganisatorische Ausgestaltung von Bund und Ländern unbeachtlich. Wird beispielsweise eine Kommune auf Grundlage ihrer Satzungsautonomie tätig, so ist die Satzung zwar kein formelles Gesetz und somit nicht Bezugsobjekt der Art. 70 ff. GG, allerdings ergeben sich die Rechtsgrundlagen für die Satzung aus Gesetzen im Sinne von Art. 70 GG. Somit müssen die bundesstaatlichen Grenzen bei der Ausgestaltung des Selbstgestaltungsrechts berücksichtigt werden. Die Länder können also keine Satzungsbefugnisse für Angelegenheiten an sich ziehen, für die sie nicht zuständig sind.324 Mittelbar ist deshalb die bundesstaatliche Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen auch für die kommunale Rechtssetzung relevant. Überschreitet die Kommune die Grenzen der Gesetzgebungskompetenz der Länder, so ist die Satzung rechtswidrig und unwirksam.325 „Das Grundgesetz zieht also einen kompetenzrechtlichen Äquator quer durch das gesamtstaatliche Wirkungsfeld.“326 Auch ist es eine Konsequenz der Blindheit der Kompetenzordnung gegenüber der Organisation innerhalb eines Landes, dass der Bund den Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht übertragen kann (Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG). Weder die Europäische Union noch die Binnenorganisation innerhalb eines Verbandes werden also von der Kompetenzordnung erfasst. Auch die Beziehungen zwischen den Ländern werden nicht von den Art. 70 ff. GG gesteuert. Insbesondere ist es den Ländern nicht verwehrt, ihre Gesetze durch Staatsverträge aufeinander abzustimmen. Die Ausschließlichkeit der den Ländern zugewiesenen Residualkompetenzen richtet sich gegen den Bund, nicht gegen die Länder.327 Ebenfalls ein von der bundesstaatlichen Rechtsbeziehung abzugrenzender Rechtskreis ist das Staat-Bürger-Verhältnis. Die bundesstaatliche Ordnung kann zwar mittelbar auch grundrechtlich relevant werden, etwa für den Fall, dass ein 323 Unionsrechtliche Prinzipien sind aber auch nicht unbedeutend, denn sie begründen materiell-rechtliche Schranken für die Kompetenzausübung. So fordert das aus Art. 13 I EUV und Art. 7 AEUV folgende Kohärenzgebot die widerspruchsfreie, folgerichtige und stimmige Ausgestaltung eines rechtlichen Systems. Da aus der Perspektive des Unionsrechts die innerstaatliche Kompetenzverteilung nicht entscheidend ist, dürfte das Kohärenzgebot auch fordern, die Regularien im Bundes- und Landesrecht unionskonform aufeinander abzustimmen. 324 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 20; Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Rn. 30. 325 Vgl. etwa BVerfGE 98, 106 im Hinblick auf eine kommunale Verpackungssteuer. 326 Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 23. 327 Heintzen, Die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaatsrecht, S. 315.
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
Grundrechtsträger sich im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde auf die Unzuständigkeit der föderalen Einheit beruft.328 Grundrechtliche Schutzpflichten und andere Staatsaufgaben gegenüber dem Bürger führen aber niemals zur Zuständigkeit einer bestimmten Einheit. Wie bereits festgestellt wurde, ist die Kategorie der Staatsaufgabe der Kompetenzordnung vorgelagert.329 Erst wenn feststeht, dass der Staat zur Wahrnehmung einer Staatsaufgabe befugt ist, stellt sich die Frage, wer zuständig ist. Ebenso begründen grundrechtliche Schutzpflichten keine Kompetenzen, weil sowohl Bund als auch Länder an die Grundrechte gebunden sind und ihre Schutzpflichten nur nach Maßgabe der bundestaatlichen Kompetenzordnung wahrnehmen. Weder grundrechtliche Schutzpflichten noch der allgemeine Gleichheitssatz haben demnach tendenzbegründende Auswirkungen auf die Auslegung von Kompetenznormen.330 Das Bundesverfassungsgericht hat die Unabhängigkeit der bundesstaatlichen Kompetenzordnung vor grundrechtlichen Einflüssen in der Kalkar-II-Entscheidung hervorgehoben: „Die Länder haben also dem Bund gegenüber kein einforderbares Recht, daß dieser einen Verstoß gegen Grundrechtsbestimmungen unterläßt. Die Länder sind nicht Träger von Grundrechten. Sie können auch nicht deshalb, weil sie Aufgaben im Interesse der Allgemeinheit wahrnehmen, ‚Sachwalter‘ des Einzelnen bei der Wahrnehmung seiner Grundrechte sein (vgl. BVerfGE 61, 82 [103 f.]). Schließlich verschafft ihnen die objektivrechtliche Dimension der Grundrechte keine Garantenstellung für die Einhaltung dieser Wirkungsweise der Grundrechte. In der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes, in der die Wahrnehmung der staatlichen Aufgaben und Befugnisse zwischen Bund und Ländern kompetentiell aufgeteilt ist, binden die Grundrechte bei der Wahrnehmung bestehender Kompetenzen, begründen jedoch nicht selbst Kompetenzen.“331
Grundrechte sind also nicht in der Lage, die bundesstaatliche Kompetenzordnung zu überspielen. Vor allem kann es kein Auslegungsinstrument geben, dass zur Effektuierung der Grundrechtssicherung generell ein bestimmter Kompetenzträger zuständig ist.332 Grundrechte können nur dann für die Auslegung von Kompetenznormen eine Rolle spielen, wenn der Kompetenztitel das jeweilige Grundrecht in Bezug nimmt und beide Normen von einem einheitlichen Sprachgebrauch ausgehen. Beispielsweise ist ein Gesetz, das die Freizügigkeit im Inland im Sinne von Art. 11 Abs. 2 GG einschränkt, auch vom Kompetenztitel des Art. 73 Abs. 1 Nr. 3 GG gedeckt.333 Oft unterscheiden sich aber die Tatbestände der Kompetenztitel von ihren jeweiligen grundrechtlichen Pendants. Viele wirtschaftsregulierende Regelungen betreffen zum Beispiel die Berufsfreiheit; Eingriffe in die Berufsfreiheit sind aber umgekehrt nicht immer Recht der Wirtschaft (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG). Besonders 328
Ständige Rspr. seit BVerfGE 6, 32 (41). Erstes Kapitel II. 2. d) aa). 330 Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 63 ff. 331 BVerfGE 81, 310 (334). 332 So auch Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 67 f. 333 Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, Art. 73 Rn. 30. 329
V. Prinzipien der Kompetenzzuordnung
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deutlich wird diese Relativität am Beispiel der Zuständigkeit für das Presserecht. Diese hat einen engeren Tatbestand als der Schutzbereich der Pressefreiheit. Das Bundesverfassungsgericht hat es insbesondere abgelehnt, das Gebiet des Presserechts materiell von den Bedürfnissen der Presse, insbesondere ihrer institutionellen Stellung her zu bestimmen.334 So hat es ausgeführt, das Zeugnisverweigerungsrecht für Journalisten könne zwar auf die „verfassungsrechtliche Garantie einer freien, institutionell eigenständigen und funktionsfähigen Presse“ zurückgeführt werden. Jedoch seien dieser „Sinn und Zweck des Zeugnisverweigerungsrechts […] für die kompetenzrechtliche Einordnung nicht entscheidend“335. Damit entkoppelt das Bundesverfassungsgericht die kompetenzrechtliche Beurteilung des Presserechts von seinen materiell-grundrechtlichen Grundlagen.336 Deshalb dienen die Regelungen für das Zeugnisverweigerungsrecht für Presseangehörige im Strafverfahren zwar der Ausgestaltung der Pressefreiheit, sie fallen aber dennoch in die Zuständigkeit für das gerichtliche Verfahren aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG.337 Dies ist auch einsichtig: Während die Tatbestände (Schutzbereiche) von Grundrechten tendenziell weit zu bestimmen sind, weil sie dem Ziel dienen, ein hohes Maß an Freiheit zu gewährleisten338, besteht diese Notwendigkeit bei Kompetenznormen nicht. Kann eine Regelung nicht unter eine Kompetenznorm subsumiert werden, dann geht aus Art. 70 Abs. 1 GG hervor, dass lediglich der andere Kompetenzträger zuständig ist. Nicht alles, was die Pressefreiheit berührt, ist folglich eine presserechtliche Regelung (vgl. etwa zivilrechtliche Schadensersatzansprüche, Werbeverbote nach dem UWG etc.). Um einen Grenzbereich handelt es sich bei der Begründung des Sachzusammenhangs. So hat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zum bayerischen Schwangerenhilfeergänzungsgesetz aus der grundrechtlichen Schutzpflicht zugunsten eines wirksamen Schutzkonzepts für das ungeborene Leben einen Sachzusammenhang des Bundes aus dem Kompetenztitel für das Strafrecht angenommen.339 Ob dies überzeugen kann, soll an anderer Stelle nachgegangen werden.340
334
Cornils, in: Löffler, Presserecht, Einl Rn. 45. BVerfGE 36, 193 (204 f.). 336 Cornils, in: Löffler, Presserecht Einl Rn. 45. 337 BVerfGE 36, 193 (202). 338 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 290 ff. 339 BVerfGE 98, 265 (302 ff.) m. abw. Sondervotum der Richter Papier, Graßhof und Haas in: BVerfGE 98, 329 (346 ff.); ausführlich zur Entscheidung Rüfner, ZG 1999, 366 ff.; Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 182 ff. 340 Zweites Kapitel VI. 3. c) dd) (2). 335
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
5. Statik, Rigidität und Unverfügbarkeit der Kompetenzzuweisung Ein weiteres charakteristisches Merkmal der Kompetenzordnung betrifft ihre Statik, Rigidität und Unverfügbarkeit. Kompetenzen stellen die „Spielregeln“341 dar, nach denen die Gesetzgebung im Bundesstaat abläuft. Damit die Spielregeln eingehalten werden, muss gewährleistet sein, dass sie auch von den Beteiligten verstanden werden können. Kompetenznormen sind deshalb in besonderem Maße „auf Klarheit, Eindeutigkeit und damit eine gewisse Starrheit“ angelegt, „sowohl um die Sphäre der Länder zu sichern als auch im Interesse rechtsstaatlicher Übersichtlichkeit“342. Auf das daraus folgende Gebot, Kompetenzen bestimmbar auszulegen, wird noch einzugehen sein.343 Damit die Regeln eingehalten werden, müssen sie unverfügbare und verbindliche Geltung beanspruchen.344 In einem abweichenden Votum zur Biblis-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts haben die Richter Di Fabio und Mellinghoff dies wie folgt ausgedrückt: „Die grundsätzlich streng abgrenzende Kompetenzordnung des Grundgesetzes ist die Grundlage der föderalen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Sie gewährleistet die Selbstständigkeit des Bundes und der Länder im Verhältnis zueinander als Merkmal der vertikalen Gewaltenteilung, wobei eine klare Abgrenzung der Kompetenzen, ungeachtet der verfassungsrechtlich zugelassenen Möglichkeiten des Zusammenwirkens, auch die Voraussetzung für eine klare Zurechnung von Verantwortung darstellt. Weder der Bund noch die Länder können deshalb über die im Grundgesetz festgelegten Kompetenzen verfügen; Kompetenzverschiebungen zwischen Bund und Ländern sind selbst mit Zustimmung der Beteiligten nicht zulässig“345.
Dementsprechend gilt, dass weder der Bund noch die Länder über ihre im Grundgesetz festgelegten Kompetenzen verfügen können; Kompetenzverschiebungen zwischen Bund und Länder sind auch mit Zustimmung der Beteiligten nicht zulässig.346 In einer anderen Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, die Ordnungsfunktion von Kompetenznormen verbiete es, die Normen als Recht von minderer Geltungskraft anzusehen, das etwa abweichenden Kompromissen und Handhabungen zugänglich ist.347 Mit Blick auf die Finanzverfassung hat es aufgezeigt, dass sonst dem bundesstaatlichen Verfassungsverhältnis in einem zentralen Punkt seine Stabilität und die Sicherheit genommen wird. Das Grundgesetz habe auch in diesem Bereich, der nicht nur das Verhältnis des Bürgers zum Staat, sondern das Verhältnis zwischen Bund und Ländern sowie der Länder untereinander betrifft, rechtliche Positionen und Handlungsrahmen festgelegt, die 341
Forsthoff, in: Frey, Rechtsstaat im Wandel, S. 144. Pietzcker, in: HStR VI, § 134 Rn. 10. 343 Zweites Kapitel II. 1. 344 Dazu auch Hillgruber, JÖR 54 (2006), 57 (67 f.); ferner auch Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 67. 345 BVerfGE 104, 249 (274 f.). 346 BVerfGE 63, 1 (39 f.); 108, 169 (182); BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 84; vgl. zum Grundsatz der eigenverantwortlichen Aufgabenwahrnehmung Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 111; Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 49. 347 BVerfGE 72, 330 (388). März, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 30 Rn. 26 und Hillgruber, in: BK, Art. 30 Rn. 59 sprechen von „übertragungsfeindlich“. 342
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Verbindlichkeit beanspruchen. Dadurch erhalten politische Kooperation und Auseinandersetzung der Glieder des föderativen Staatsverbandes Regeln und Form.348 Unumstritten sind diese Aussagen freilich nicht. So stellt beispielweise Fehling das Dogma der Unverfügbarkeit von Kompetenzen in Frage und möchte zugleich die Möglichkeit konstitutionaler vertraglicher Abgrenzungen zulassen.349 In eine ähnliche Richtung gehen auch Ansätze, die eine flexible und rechtsschöpferische Interpretation und Zuordnung von Kompetenzen befürworten.350 So hat vor allem Stettner kritisiert, das BVerfG habe sich „selbst durch zu starre und untaugliche Argumentationsfiguren die Hände gebunden und dadurch die Verfassung auf kompetentiellem Sektor zu wenig weiterentwickelt, vielmehr diese Last […] dem verfassungsändernden Gesetzgeber überlassen“351. Dahinter steht der Gedanke von der Natur der staatlichen Kompetenzordnung als „eines auf Herstellung staatlicher Einheit abzielenden funktionellen Gesamtzusammenhangs und damit eines Konstituierungs- und Integrationsfaktors“352. Kompetenzen seien nicht statisch zu verstehen, sie würden sich erst in ihrem Gebrauch dynamisch begreifen lassen.353 Sowohl der Staatspraxis354 als auch dem Gesichtspunkt der Effizienz355 kämen deshalb Bedeutung für die Interpretation von Kompetenznormen zu. Demgegenüber wird in dieser Arbeit das formale Verständnis von Kompetenzen betont. Die auf Ermächtigung und Ausgrenzung angelegten Zuständigkeiten356 haben das Ziel, den „Fluss des staatlichen Lebens zu kanalisieren“357. Das formale Verständnis der Kompetenzordnung und die damit verbundene Statik und Rigidität trägt dazu bei, den Vorrang der Verfassung zu wahren. Nicht die Adressaten der Verfassung, sondern der Verfassungsgeber (bzw. der verfassungsändernde Gesetzgeber) bestimmt über den Inhalt der Verfassung.358 Bestrebungen, der Kompetenzordnung materielle und integrierende Gesichtspunkte entnehmen zu wollen, laufen 348
BVerfGE 72, 330 (389). Fehling, in: Auerbach u. a., Föderalismus, S. 54; ähnlich wohl auch Kotzur, JZ 2003, 73 (80), der in verfassungsgerichtlichen Kompetenzstreitigkeiten ein Beispiel für einen gütlichen Ausgleich sieht: „Bei Kompetenzstreitigkeiten gibt es einen gewissen Ausgestaltungsspielraum, solange nicht die Gewaltenteilung und das föderale Gleichgewicht in seinen Grundsätzen erschüttert werden.“ 350 Etwa Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 397 ff., besonders ab S. 409 ff. 351 Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 410. 352 Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 303. 353 Ibid., S. 303. 354 Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 394 f. Für die Einbeziehung der Staatspraxis auch BVerfGE 33, 125 (152 f.); 61, 149 (175 f.); 68, 319 (329). 355 Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 407 ff. 356 Siehe Erstes Kapitel II. 2. c). 357 Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 66. 358 Das Grundgesetz billigt aber politische Übereinkünfte, die zu einer wechselseitigen Verantwortung führen können. Art. 71 GG erlaubt den Ländern die Gesetzgebung im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeiten des Bundes, „wenn und soweit sie hierzu in einem Bundesgesetze ausdrücklich ermächtigt werden.“ Auch Art. 72 I GG räumt die Möglichkeit ein, Regelungsvorbehalt zugunsten der Länder zu schaffen. Gleichwohl durchbrechen diese grundgesetzlich eingeräumten Möglichkeiten nicht die Inhaberschaft der Kompetenz. 349
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
Gefahr, die „Spielregeln der Gesetzgebung“ zugunsten kaum handhabbarer Maßstäbe aufzugeben. Es verkennt auch den Organisationscharakter von Kompetenzen. Kompetenzen allein begründen – anders als Grundrechte – keine Gerechtigkeitspostulate. Vielmehr schafft erst die Zusammenschau aller Kompetenzen mit ihren klaren und verbindlichen Zuweisungen von Staatsaufgaben an Bund und Länder eine Kompetenzordnung. Die durch sie vermittelten Ordnungs-, Begrenzungs- und Schutzfunktionen359 sind Werte für sich und bedürfen keinen weiteren dynamischen Integrationsfaktoren. Die Konsequenzen für dieses Verständnis werden an geeigneter Stelle weiter auszuführen sein.360 6. Subsidiarität als Kompetenzverteilungsmaxime? a) Allgemeines Häufig wird angenommen, dem System der Kompetenzverteilung liege ein Subsidiaritätsprinzip zugrunde. Deshalb erlange das Prinzip als „Balancekriterium“361 Bedeutung im Wege funktionaler Auslegung.362 Es ist nicht ganz klar, was hieraus folgen soll. Man könnte annehmen, dass das Subsidiaritätsprinzip sowohl für die Auslegung und Zuordnung einzelner Kompetenzvorschriften Bedeutung erlangen könnte, zum anderen könnte man das Subsidiaritätsprinzip als Abwägungsgesichtspunkt im Falle von Normkonflikten363 ansehen.364 Die folgenden Ausführungen werden der Frage nachgehen, ob das Subsidiaritätsprinzip als allgemeines Prinzip der Kompetenzordnung verstanden werden kann und ob sich daraus Folgerungen 359
Erstes Kapitel III. Etwa unter den Gliederungspunkten Zweites Kapitel II. 1. und Zweites Kapitel V. 361 Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 367 ff. 362 Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 375 f.; Härtel, in: dies., Handbuch Föderalismus, Bd. 1, § 19 Rn. 105; ähnlich auch Lahne, Die Entwicklung der bundesstaatlichen Ordnung, S. 87 ff.; Kuttenkeuler, Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz, S. 60 ff., S. 229 ff.; Seiler, Der souveräne Verfassungsstaat, S. 157 f.; ähnlich für die bundesstaatliche Kompetenzverteilung in Österreich Pernthaler, Kompetenzverteilung in der Krise, S. 83; differenzierend Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 565 (besonders S. 572 f.), der dem Subsidiaritätsprinzip einerseits positiven Gehalt beimisst, andererseits darauf hinweist, dass eine strenge Orientierung am Subsidiaritätsprinzip die Verfassungsdogmatik überstrapazieren würde. In den frühen Jahren der Bundesrepublik wurde das Subsidiaritätsprinzip mitunter naturrechtlich konstruiert, vgl. Süsterhenn, in: FS Nawiasky, S. 149 f. 363 Diese werden im vierten Kapitel näher dargestellt. 364 Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 367 unterscheidet mehrere Dimensionen des Prinzips. Das Prinzip erlange im Rahmen des Politischen sowohl bei der Zuordnung von Kompetenzen als auch bei Interpretation und Handhabung im politischen Raum (Erstinterpretation) Bedeutung. Aber auch die gerichtliche Interpretation (Zweitinterpretation) sei vom Prinzip geleitet: „In diesen drei Anwendungsfeldern fallen gewichtete Abwägungsentscheidungen, deren Gesamtbild eine aus Optimierungsentscheidungen bestehende, sich organisch entwickelnde Gesamtbalance ergibt“. Auf Seite 375 heißt es: „Subsidiarität ist jedenfalls ein durchgehendes methodisches Verfassungsprinzip und beeinflusst die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, wie sie in Kompetenzvorschriften auftreten.“ 360
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für die Zuordnung, Interpretation und Ausübung von Kompetenznormen ergeben. Nicht zu klären wird sein, ob einzelne Kompetenznormen inhaltlich teilweise an das Subsidiaritätsprinzip anknüpfen. Die Ausführungen beschränken sich auf die Frage, ob es ein spezifisch bundesstaatliches Subsidiaritätsprinzip gibt, das generell die Kompetenzanwendung dirigiert. b) Das Subsidiaritätsprinzip als politische Klugheitsregel Das Subsidiaritätsprinzip betrifft den Autonomievorrang der kleineren vor der größeren Einheit. Die größere Einheit darf eine Aufgabe nur dann an sich ziehen, wenn die kleinere Einheit zur Erfüllung der Aufgabe nicht in der Lage ist. Die Spuren des Subsidiaritätsgebotes lassen sich bis in die Staatsphilosophie von Platon zurückverfolgen.365 Bekannt geworden ist es aber durch die katholische Soziallehre. So heißt es in der Enzyklika, Quadragesimo anno (Pius XI., 1931), 79, 80: „Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen werden und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; […] je besser durch strenge Beobachtung des Prinzips der Subsidiarität die Stufenordnung der verschiedenen Vergesellschaftungen innegehalten wird, um so stärker stehen gesellschaftliche Autorität und gesellschaftliche Wirkkraft da, um so besser und glücklicher ist es auch um den Staat bestellt“366.
Findet ein Gemeinwesen seine Rechtfertigung darin, dass es die Entfaltung der Persönlichkeit ermöglicht, dann ist es sinnvoll, dass es eine Struktur aufweist, die ein Optimum an Persönlichkeitsentfaltung gewährleistet.367 Da der relative Anteil des Einzelnen an demokratischen Entscheidungen umso kleiner wird, je größer eine Gemeinschaft ist, sprechen gute Gründe für eine demokratische Dezentralisation. Sie kann durch die Einrichtung von Selbstverwaltungsträgern (Gemeinden, Kammern etc.) als auch durch eine föderale Gliederung des Staates erreicht werden. Das Subsidiaritätsprinzip lässt sich somit auf folgende Formel verdichten: „Übergeordnete Gemeinschaften sollten nur solche Aufgaben wahrnehmen, die nachgeordnete kleinere Gemeinschaften oder die Einzelnen nicht eben so gut oder besser erfüllen“ können.368 So verstanden beansprucht das Subsidiaritätsprinzip durchaus Überzeugungskraft; es erscheint geeignet, in einem demokratischen System Akzeptanz und Bürgernähe zu schaffen. Das Subsidiaritätsprinzip hat aber 365 Platon, Politeia, II, 369–374; Artistoteles, Politik II, 5 (1261 b, 1263 b); zum Konzept der gestuften Kooperation nach Aristoteles weiterführend Höffe, Swiss Political Science Review 3 (1997), 1 (13 ff.). 366 Ausführlich zur Staats- und Sozialphilosophie von Papst Pius XI Süsterhenn, in: FS Nawiasky, S. 141 ff.; sowie zu den staatsphilosophischen Grundlagen Höffe, in: Nörr / Oppermann, Subsidiarität, S. 49 ff. 367 Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 17 I 3. 368 Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 17 I 3.
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zunächst nur einen ethischen Wert369; es lässt sich darüber hinaus auch als politische Klugheitsregel verwenden, die Staat und Verwaltung anleitet, wie eine gut geordnete Staats- und Verwaltungstätigkeit organisiert sein könnte. c) Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz Daraus folgt aber noch nicht, dass das Subsidiaritätsprinzip eine spezifisch verfassungsdogmatische Aussage trifft. Das Prinzip stammt aus der christlichen Soziallehre und hat zunächst nur eine politikwissenschaftliche und moralphilosophische Relevanz.370 Wie bei allen Theorien artfremder Wissenschaften sollte aber beachtet werden, dass diese nicht unbesehen in die Rechtswissenschaft übertragen werden können.371 Es genügt auch nicht, festzustellen, dass der Gesetzgeber gewisse Leitgedanken des Subsidiaritätsgebotes in das Grundgesetz positiviert hat. Entscheidend ist, wie der Verfassungsgeber die Verfassung ausgestaltet hat und ob sich hierin das Subsidiaritätsprinzip als Verfassungsprinzip wiederfindet. Nicht ausreichend ist es aber, wollte man das Subsidiaritätsprinzip schon deshalb ausschließen, weil es – bis auf Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG – nicht ausdrücklich im Normtext des Grundgesetzes erwähnt ist. Schließlich können sich auch aus den Leitgedanken des Grundgesetzes rechtsethische Prinzipien ergeben, aus denen weitere Rückschlüsse gezogen werden können.372 Entscheidend ist, ob die textlichen Hinweise des Grundgesetzes auf die Verankerung eines Subsidiaritätsprinzips hindeuten.373 Es ist vor allem das Verdienst von Isensee, das Subsidiaritätsprinzip für das Verfassungsrecht fruchtbar gemacht zu haben.374 Dieser hat sich in seiner Studie zwar vorrangig auf das Verhältnis von Staat und Gesellschaft bezogen, spätestens aber in seinem Nachtrag in der zweiten Auflage weiterführende Überlegungen zu weiteren Subsidiaritätskonstellationen im geltenden Recht angestellt.375 Für die Staat-Bürger-Beziehung entspricht das Subsidiaritätsprinzip dem christlichen Menschenbild sowie der Geltung der Grundrechte, dass dem Einzelnen Vorrang vor dem Zugriff des Staates gewährt. Im Staat-Bürger-Verhältnis entfaltet sich der 369
Darauf verweist Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 337 ff. Umfassend zu den rechtsethischen, sozialphilosophischen und rechtspolitischen Wurzeln Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 18 ff., 35 ff., 44 ff. 371 So erklärte Peter Lerche bei der Tagung der Vereinigten Staatsrechtslehrer in Münster 1962: „Entgegenzutreten ist aber die Auffüllung dieses Gedankens aus dem gesellschaftsorganischen Ideengut, etwa in Gestalt des Subsidiaritätsprinzips, oder aus sonstigen Vorstellungen des Primats der kleineren Einheit […] Die Prinzipien des gesellschaftsföderalen Denkens haben gewiß eine erstklassige ideengeschichtliche Mächtigkeit erlangt, aber sie sind auf staatlichen Föderalismus nicht übertragbar“, vgl. dazu Lerche, VVDStRL 21 (1964), 66 (74 f.). 372 Zu rechtsethischen Prinzipien Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 240 ff.; vgl. auch Larenz, Richtiges Recht, passim. 373 Šarčević, Das Bundesstaatsprinzip, S. 183. 374 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, passim. 375 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 355 ff. Überlegungen zur Übertragung auf den Bundesstaat finden sich schon auf S. 224 ff. 370
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Subsidiaritätsgedanke als Ausdruck eines Individualprinzips, das die Stärkung der Eigenverantwortung und Eigeninitiative im privaten und wirtschaftlichen Bereich bezweckt.376 Insbesondere in diesem Punkt trifft sich das Subsidiaritätsprinzip mit dem Übermaßverbot.377 Es ist jedoch fraglich, ob das Subsidiaritätsprinzip darüber hinaus als Leitprinzip für das Verfassungsrecht und insbesondere für die Staatsorganisation herangezogen werden kann. Sprechen noch gute Gründe für den Vorrang der Gemeinden vor der unmittelbaren Staatsverwaltung378, so erscheint dies für die Beziehung von Staaten zueinander eher zweifelhaft.379 Das Subsidiaritätsgebot wird vor allem einer Kette von Grundgesetznormen entnommen, die den Schutz und Vorrang „kleinerer Einheiten“ andeuten. Das gilt für die Grundrechte Einzelner (Art. 1 ff. GG), den Schutz der Ehe und Familie (Art. 6 GG), den privaten Vereinigungen (Art. 9 GG), den Schutz von juristischen Personen (Art. 19 Abs. 3 GG), die Anerkennung von Gemeinden und Gemeindeverbänden (Art. 28 Abs. 2 GG) sowie der Kirchen (Art. 140 GG). In neuerer Zeit wird zudem auf das in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 5 Abs. 3 EUV verankerte Subsidiaritätsprinzip verwiesen380, dabei aber nicht hinreichend gewürdigt, dass die Verankerung des Prinzips im Rahmen der Beziehung der Europäischen Union zu den Mitgliedstaaten lediglich verdeutlichen soll, dass die Europäische Union mangels einer voll ausgestatteten eigenen „souveränen“ Staatsqualität nur nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung tätig wird und die Mitgliedstaaten weiterhin über die Verträge herrschen. Der Subsidiaritätsvorbehalt europäischen Handelns ist Ausfluss des politischen Willens der einzelnen Mitgliedstaaten, ihre eigenen Hoheitsrechte nicht unbeschränkt an die Europäische Union abzugeben.381 Die Ableitung des in Art. 23 GG verankerten Subsidiaritätsprinzips resultiert daher nicht auf einem Individualprinzip, sondern aus dem noch nicht erfolgten europäischen Einigungsprozess. Es kann deshalb nicht ohne Weiteres auf das Bund-Länder-Verhältnis übertragen werden. Schon gar nicht rechtfertigt Art. 23 GG die Schlussfolgerung, es gäbe ein generelles Subsidiaritätsprinzip als ein das Grundgesetz prägender Grundsatz.
376
Stober, Handbuch des Wirtschaftsverwaltungs- und Umweltrechts, § 15 I, S. 287. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 17 I 3. Zum Verhältnis von Subsidiarität und Übermaßverbot Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 376. 378 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 364, der hinter der institutionellen Garantie der Selbstverwaltung das Leitbild der Subsidiarität erblickt. 379 So aber wohl Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 368 f.; Scholz, in: FS Isensee, S. 296: „Andererseits findet sich das Subsidiaritätsprinzip – zumindest indirekt – auch in verschiedene Grundformen des Bundesstaatsprinzips sowie etwa auch im Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung im Sinne des Art. 28 II GG wieder“. 380 Oppermann, in: Nörr / Oppermann, Subsidiarität, S. 221 f.; Kuttenkeuler, Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz, S. 169; Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, Art. 70 Rn. 5; Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 45 II 2 b), S. 393. 381 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 355 ff. 377
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d) Insbesondere: Normtextliche Hinweise auf ein Subsidiaritätsgebot im Bundesstaat Ob das Subsidiaritätsprinzip ein für die bundesstaatliche Kompetenzordnung relevantes Prinzip darstellt, ist damit der Auslegung der entsprechenden kompetenzrechtlichen Vorschriften zu entnehmen. Für die Annahme eines Subsidiaritätsprinzips wird häufig darauf verwiesen, dass die grundgesetzlichen Kompetenzen stark von der Idee der Subsidiarität geprägt seien. Dies belegten Art. 30 GG mit seiner Ausgangsvermutung zugunsten der Länder, die Erforderlichkeitsklausel in Art. 72 Abs. 2 GG sowie das starke Gewicht der Länder im Rahmen der Verwaltungskompetenzen nach Art. 83 ff. GG.382 aa) Art. 30 GG Als ersten Anknüpfungspunkt könnte der in Art. 30, 70 und 83 GG normierte Grundsatz der Länderzuständigkeit in Betracht gezogen werden. So könnte argumentiert werden, dass die Verteilungsregel grundsätzlich den Ländern die Kompetenzhoheit verleiht und der Bund nur ausnahmsweise Kompetenzen besitzt. So hat Isensee in seiner Dissertation ausgeführt, dass die Ausgangsvermutung zugunsten der Länder die These bestätige, dass die Staatlichkeit bei den Ländern verblieben sei, soweit diese nicht ausdrücklich auf einen Teil ihrer Staatshoheit verzichtet hätten. Durch Art. 30 GG erlange das Prinzip des Staatsaufbaus „von unten nach oben“ als Form der bundesstaatlichen Legitimation Bedeutung. Deshalb herrsche zwischen Bund und Ländern das Verhältnis der Subsidiarität.383 Bemerkenswert ist aber, dass Isensee diese These von der Frage der konkreten positivrechtlichen Ausgestaltung unterscheidet. Er stellt nämlich zugleich fest: „Ob die Bundeskompetenzen, die das Grundgesetz in seinen einzelnen Bestimmungen aufführt, jeweils ‚notwendig‘ und subsidiaritätsgemäß sind, kann nicht von einem archimedischen Punkt außerhalb der Verfassungsurkunde her beurteilt werden, etwa aus der Sicht des Naturrechts oder der Staatsökonomie. Für die positivrechtliche Betrachtung ist allein bedeutsam, welche Lösungen der Verfassungsgeber getroffen, was er als zentralisierungsbedürftig erkannt und entschieden hat“384.
Für eine positiv-juristische Betrachtung müssen also die Entscheidungen des Verfassungsgebers in den Blick genommen werden. Das Subsidiaritätsprinzip kann nur insoweit Relevanz beanspruchen, wie der Verfassungsgeber die bundesstaatliche Kompetenzordnung verstanden wissen wollte. Insbesondere ist zu be 382
Stellvertretend Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 365 ff.; Jarass, NVwZ 1996, 1041 (1042); Kuttenkeuler, Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Grund gesetz, S. 159 ff. und S. 210 ff.; Oppermann, in: Nörr / Oppermann, Subsidiarität, S. 221; mit weiteren Differenzierungen auch Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 358 ff. 383 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 225 ff. So auch Kuttenkeuler, Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz, S. 77 f. 384 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 227.
V. Prinzipien der Kompetenzzuordnung
85
denken, dass der Grundsatz der Länderzuständigkeit in Art. 30 GG noch nichts über die tatsächliche und rechtliche Verteilung der Kompetenzen aussagt. Wäre in Art. 30 GG tatsächlich ein juristisch relevantes Subsidiaritätsgebot verankert, müsste sich dies auch auf die Verteilung der Kompetenzen in den Art. 70 ff. GG auswirken. Allerdings spricht die Zusammenschau der den Bund zugewiesenen Kompetenzen eher für ein Übergewicht des Bundes, zumal sich auch der Parlamentarische Rat im Rahmen der Diskussionen um die Verteilung der Kompetenzen nicht von Subsidiaritätserwägungen leiten ließ.385 Darüber hinaus ist zu betonen, dass der in Art. 30, 70 und 83 GG normierte Grundsatz der Länderzuständigkeit lediglich eine rechtstechnische Verteilungsregel darstellt. Die Zuweisung von Residualkompetenzen an die Länder dient dem Zweck, die Vollständigkeit der Kompetenzordnung zu gewährleisten. Es soll sichergestellt werden, dass es keine Staatsaufgaben und keine Materien gibt, die von der Kompetenzordnung nicht erfasst werden.386 Weder hat der Bund, noch haben die Länder einen rechtlichen Vorrang, bestimmte Kompetenzen wahrzunehmen; vielmehr ist die Kompetenzordnung eine beidseitige.387 Ist ein Kompetenzträger ermächtigt, dann darf er – und nur er – die Kompetenz auch wahrnehmen. Seine Kompetenzausübung unterliegt keinem weiteren Begründungszwang und muss sich somit auch keinem Subsidiaritätsprinzip rechtfertigen.388 Teilweise wird das anders gesehen. So möchte Hahn-Lorber das Subsidiaritätsprinzip als „Balancekriterium“ für die Interpretation von Kompetenznormen nutzen. Die Autonomieinteressen der Länder, die durch die Kompetenztitel erfasst würden, seien anhand des Subsidiaritätsprinzips zu konkretisieren. Unter der „Balance zwischen Autonomie einzelner Räume und gesamtstaatlichem Interesse [erfolge] ein Rückgriff auf politisch-ökonomische Überlegungen sowie eine möglichst effiziente Verwirklichung von Grundrechten und Staatszielen, die eine bundeseinheitliche Regelung rechtfertigen“389. Nicht nur die Erforderlichkeitsklausel sei balancierenden Argumenten zugänglich, sondern „auch die Würdigung von Tatbestand und Grenzen von Gesetzgebungskompetenzen“.390 In eine ähnliche Richtung zielen auch andere Stellungnahmen, die im Rahmen einer funktionalen Auslegung das Subsidiaritätsprinzip berücksichtigen möchten.391 Diese Aussagen widersprechen aber den Grundsätzen der statischen, rigiden und vollständigen Kompetenzzuweisung.392 Sie führen dazu, dass bei der Auslegung 385 Grundlegende Referenz für die Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten war im Parlamentarischen Rat nicht ein abstraktes Subsidiaritätsprinzip, sondern vielmehr die Regelungen der Weimarer Verfassung, vgl. Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 122. 386 Šarčević, Das Bundesstaatsprinzip, S. 190; Stern, Staatsrecht I, S. 673. 387 Gliederungspunkt Erstes Kapitel V. 3., 5. 388 Šarčević, Das Bundesstaatsprinzip, S. 189. 389 Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 376 f. 390 Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 369. 391 Härtel, in: dies., Handbuch Föderalismus, Bd. 1, § 19 Rn. 105; Kuttenkeuler, Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz, S. 81 f. und S. 157. 392 Siehe unter Erstes Kapitel V. 5.
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
ständig abgewogen werden müsste, auf welcher Ebene der Subsumtionsgegenstand besser verwirklicht werden könnte und ob die derzeit bestehende und für Rechtssicherheit sorgende Auslegung eines Kompetenztitels dem Gebot der Subsidiarität (noch) gerecht wird.393 Dies hätte zur Konsequenz, dass die Ermächtigung eben nicht statisch und unverfügbar an einen Kompetenzträger übertragen wird, sondern unter ständigem Subsidiaritätsvorbehalt stünde. Hierfür gibt es aber erstens keinen textlichen Nachweis im Grundgesetz. Zweitens spricht gegen die Orientierung am Subsidiaritätsprinzip seine inhaltliche Unbestimmtheit.394 Auch Isensee hat in seiner Studie eingeräumt, dass das Prinzip Modifikationen und Durchbrechungen vertrage.395 Das Prinzip setzt auf derart hoher Abstraktionsebene an, dass hieraus noch keine subsumtionsfähigen Aussagen getroffen werden können. Es kann deshalb zwar als regulatives Leitbild für eine föderale Ausgestaltung des Bundesstaates, nicht aber zur Lösung konkreter Einzelprobleme herangezogen werden.396 Wollte man dem Subsidiaritätsprinzip Vorrang vor der konkreten Entscheidung des Verfassungsgebers einräumen, so geriete dies mit dem Demokratieprinzip in Konflikt. Herzog hat in einer Stellungnahme treffend darauf hingewiesen, dass eine Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz dem Demokratieprinzip widerspräche, weil dann die Regeln über die Staatsorganisation nicht vom verfassungsändernden Gesetzgeber und mittelbar durch ihn vom souveränen Volk getragen würden, sondern die Regeln von einem Subsidiaritätsprinzip abhingen.397 Es ist demgegenüber deutlich zu machen, dass die Frage, welche Staatsaufgaben welchem Kompetenzträger zugewiesen werden, ausschließlich vom politischen Willen des Verfassungsgebers (bzw. verfassungsändernden Gesetzgebers) abhängen. Er kann frei darüber disponieren, welche Materien er wem zuteilt und welche er als derart notwendig erachtet, dass nur eine gesamtstaatliche Lösung möglich ist. Der verfassungsändernde Gesetzgeber könnte aber auch gänzlich unabhängig von Subsidiaritätsgesichtspunkten entscheiden. Er könnte sich stattdessen auch an ökonomischen Effizienzerwägungen orientieren und mittels der Zuweisung entsprechender Kompetenzen eine grenzüberschreitende Mobilität befördern.398
393
Šarčević, Das Bundesstaatsprinzip, S. 191. Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 572. 395 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 362. 396 Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 17 I 3 („Es gibt nur einen Richtpunkt für die Suche nach einer Lösung an, ist mit Kant zu sprechen, nur eine ‚regulative‘, richtungsweisende Idee, aber keinen sicheren Weg zu eindeutigen Lösungen“). 397 Herzog, Der Staat 2 (1963), 399 (416 ff.). 398 So waren die Materien Ladenschluss, Gaststätte, Schaustellung von Personen, Messe, der Ausstellung und Markt trotz des eher regionalen Bezugs bis zur Föderalismusreform 2006 „Recht der Wirtschaft“ und somit bundesgesetzlich geregelt. Andererseits lässt sich bestreiten, ob das Recht der Spielhallen ebenfalls regional geprägt ist. Indem der verfassungsändernde Gesetzgeber das Recht der Spielhallen als regional betrachtet und es ebenfalls in die ausschließliche Zuständigkeit der Länder transferiert hat, stellt sich die Frage der Subsidiarität auch in diesem Falle nicht. Diese Beispiele verdeutlichen, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber das Subsidiaritätsprinzip verfassungsrechtlich nicht umsetzen muss, es aber umsetzen kann. 394
V. Prinzipien der Kompetenzzuordnung
87
Es lässt sich also festhalten: Es hängt vom politischen Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers ab, welche Materien er welchem Kompetenzträger zuweisen möchte.399 Dass das Subsidiaritätsprinzip dem verfassungsändernden Gesetzgeber kein zwingendes Regulativ für die Kompetenzzuweisung vorgibt, geht auch aus Art. 79 Abs. 3 GG hervor, das gerade nicht auf ein Subsidiaritätsprinzip Bezug nimmt. Seine Entscheidungen werden vielmehr nur von den tragenden Staatsstrukturprinzipien, insbesondere dem Bundesstaatsprinzip begrenzt. Hierzu gehören neben der gesicherten Gliederung der Länder und der grundsätzlichen Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung des Bundes nach herrschender und zutreffender Ansicht auch die Erhaltung einer Grundsubstanz der Eigenstaatlichkeit der Länder, wozu die grundlegende Verfassungshoheit und ein angemessener Bestand an Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungskompetenzen sowie gesicherter Einnahmequellen zugeordnet werden.400 Die in Art. 79 Abs. 3 GG eingebaute Grenze macht im Umkehrschluss deutlich, dass ansonsten dem verfassungsändernden Gesetzgeber keine anderweitigen Beschränkungen gesetzt sind. Für eine weitere verfassungsimmanente Kompetenzzuweisungsschranke ist mithin kein Platz. Das Subsidiaritätsprinzip könnte allenfalls – dann aber in einer weniger strengen Formulierung – verwendet werden, um mit seiner Hilfe das „Hausgut“ der Länder zu beschreiben und so den Grundsatz der Eigenstaatlichkeit näher zu konkretisieren.401 In dieser Lesart hätte das Subsidiaritätsprinzip lediglich als „Minimalprinzip“ verfassungsrechtliche Relevanz, denn es würde nur den absolut unantastbaren Kern an Eigenstaatlichkeit ausformen.
399 Vgl. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 227 („Für die positivrechtliche Betrachtung ist allein entscheidend, was er als zentralisierungsbedürftig erkannt und entschieden hat“). Dies verkennt durchweg Kuttenkeuler, Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz, S. 70, 74 f., 82, 98, 100, 103 f., 112 ff. der sowohl die Verteilung der Zuständigkeiten im Grundgesetz als auch die Auslegungspraxis des BVerfG vor dem Hintergrund des Subsidiaritätsprinzips bewertet; ähnlich unterzieht auch Härtel, in: dies., Handbuch Föderalismus, Bd. 1, § 19 Rn. 85 ff. den Normen des Grundgesetzes einer Subsidiaritäts kontrolle. 400 Weiterführend bei Dreier, in: ders., GG, Art. 79 III Rn. 47 f.; Pieroth, ZRP 2008, 90 (91 f.); a. A. aber Jestaedt, in: HStR II, § 29 Rn. 48 ff., der ausschließlich die in Art. 79 III GG genannten Rechte der Länder als revisionsfest betrachtet. 401 So wohl die Auffassung von Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 362 f. („vor allem wirkt es sich zugunsten der Länder aus […] vor allem, auf den primär ihnen zukommenden Felde der Kultur, und gewährleistet ihr ‚Hausgut‘ an Kompetenzen, auf das sie angewiesen sind, um sich in ihrer Eigenstaatlichkeit zu behaupten“); ähnlich auch Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, S. 568; W. G. Leisner, Föderalismus, S. 21 sieht demgegenüber in dem „Hausgut der Länder“ ein „nahezu bedeutungsloses Begründungsbedürfnis“.
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
bb) Art. 72 Abs. 2 GG Auch Art. 72 Abs. 2 GG spricht nicht für ein generelles Subsidiaritätsgebot im Grundgesetz. Dies anzunehmen würde den Ausnahmecharakter der Vorschrift im systematischen Zusammenhang zu Art. 72 Abs. 1 GG verkennen. Denn die Erforderlichkeitsklausel ist nur eine erschwerende Voraussetzung für die Inanspruchnahme einer konkurrierenden Kompetenz durch den Bund. Von den in Art. 72 Abs. 2 GG normierten Kompetenztiteln abgesehen, gilt vielmehr der Grundsatz des vorrangigen Zugriffs des Bundes bei Bedarf und der damit einhergehenden Sperrwirkung des Bundesrechts (Art. 72 Abs. 1 GG). Viele Stellungnahmen hatten indes nach der Verfassungsreform von 1994 in Art. 72 Abs. 2 GG a. F. eine Verankerung des Subsidiaritätsprinzips ableiten wollen.402 Seinerzeit sollte durch die Neuformulierung der Bedürfnisklausel zu einer Erforderlichkeitsklausel die Positionen der Länder gestärkt werden.403 In der alten Fassung von 1994 galt die Klausel allerdings für alle Gebiete der konkurrierenden Gesetzgebung, während sie im Zuge der Föderalismusreform von 2006 auf ausgewählte Bereiche beschränkt wurde.404 Spätestens seit der aktuellen Fassung kann die Klausel also nicht mehr als Hinweis auf eine allgemeingültige Verankerung des Subsidiaritätsgedankens verstanden werden. Ihre historische Entwicklung macht zugleich deutlich, dass nicht ein übergreifendes Subsidiaritätsprinzip die konkrete Verteilung der Kompetenzen vorprägt, sondern es vom politischen Gestaltungs- und Kompromisswillen des verfassungsändernden Gesetzgebers abhängt, wie das Spannungsverhältnis von Rechtseinheit und Subsidiarität aufgelöst wird.405 Wenn auch das Subsidiaritätsprinzip kein Prinzip ist, das die Kompetenzordnung generell dirigiert, so kann dieses dennoch für die Interpretation einzelner Kompetenznormen eine Rolle spielen. Zwar folgt aus Art. 72 Abs. 2 GG kein Beweis für die Existenz eines generellen verfassungsimmanenten Subsidiaritätsprinzips, dennoch ist die Norm dem Gedanken des Subsidiaritätsgebots nachempfunden.406 402
Jarass, NVwZ 1996, 1041 (1042); Kuttenkeuler, Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz, S. 210; Oppermann, in: Nörr / Oppermann, Subsidiarität, S. 221; vgl. ferner zum Spannungsverhältnis zwischen Subsidiarität und ökonomischer Effizienz innerhalb von Art. 72 II GG Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 576 ff. 403 BT-Drs. 12/7109, S. 9; Ausführlich zur historischen Entwicklung von Art. 72 II GG BVerfGE 106, 62 (135 ff.). 404 Gesetz v. 28. 8. 2006, BGBl. I, S. 2034; siehe auch BT-Drs. 16/813, S. 7 f. 405 Umfassende Darstellung der Entwicklung des Bundesstaats bei Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 143 ff. und S. 411 ff. (spezifisch zur Historie von Art. 72 II G). 406 Hanschel, Konfliktlösung im Bundesstaat, S. 79 f.; Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 576 ff. Zur Konkretisierung des Art. 72 Abs. 2 GG anhand der „Unterprinzipien“ des Subsidiaritätsgebotes Würtenberger, in: Blickle / Hüglin / Wyduckel, Subsidiarität, S. 209 f.; ders., Art. 72 II GG, S. 129 ff. Dagegen beschränkt sich Isensee auf die Feststellung, Art. 72 II GG sei ein „Prototyp einer positivrechtlichen Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips“ (Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 358). Weitergehende Schlussfolgerungen leitet dieser hieraus aber nicht ab. Insbesondere bestimmt er im Folgenden die Voraussetzungen der Kompetenzausübungsdirektive anhand der positiv normierten Voraussetzungen der Norm und vermeidet zugleich eine Aufladung mit abstrakten Subsidiaritätspostulaten.
VI. Zusammenfassung des ersten Kapitels
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Weitere Schlussfolgerungen ergeben sich hieraus nicht. Wie das Bundesverfassungsgericht in der Altenpflege-Entscheidung407 sowie in den nachfolgenden Entscheidungen408 bewiesen hat, können die einzelnen Tatbestandsmerkmale von Art. 72 Abs. 2 GG konkretisiert werden, ohne dass es einer Bezugnahme auf das Subsidiaritätsprinzip bedarf. e) Zusammenfassung Das Subsidiaritätsprinzip mag auch für die bundesstaatliche Kompetenzordnung Relevanz beanspruchen. Allerdings beschränkt es sich darauf, den Grundsatz der Länderzuständigkeit (Art. 30 GG) und den Staatsaufbau „von unten nach oben“ zu verdeutlichen. Darüber hinausgehende Folgerungen ergeben sich nicht. Die konkrete Verteilung der Kompetenzen wird durch den Verfassungsgeber bzw. durch den verfassungsändernden Gesetzgeber vorgegeben. Nach der grundgesetzlichen Ausgestaltung kann das Subsidiaritätsprinzip kein übergeordnetes und juristisch maßgebliches Leitprinzip beanspruchen. Dagegen spricht bereits die Tendenz der Verfassung, viele Materien als zentralisierungsbedürftig einzustufen und sie in der Folge dem Bund zuzuordnen. Unerheblich ist das Subsidiaritätsprinzip allerdings auch nicht. Denn der verfassungsändernde Gesetzgeber kann sich bei der Ausgestaltung der Kompetenzordnung durchaus am Subsidiaritätsprinzip orientieren. So hat er etwa die Wertungen der Subsidiarität für die Ausgestaltung der Erforderlichkeitsklausel übernommen. Durch Art. 72 Abs. 2 GG hat das Prinzip also auch Eingang in die positive Verfassung genommen – auch wenn der handwerkliche Umgang mit Art. 72 Abs. 2 GG an den tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm anknüpft und nicht am abstrakten Gebot der Subsidiarität. Für die Relevanz des Subsidiaritätsprinzips gilt es also unterschiedliche Ebenen zu unterscheiden. Als politische Klugheitsregel überzeugt das Subsidiaritätsgebot durchaus. Auch als Leitprinzip mag es der föderalen Ausgestaltung des Bundesstaates zugrunde liegen. Als allgemeines „Balancekriterium“ für die Interpretation und Ausübung von Kompetenznormen eignet es sich jedoch nicht.
VI. Zusammenfassung des ersten Kapitels Das erste Kapitel galt dem Ziel, die Kompetenz als formale Kategorie zu etablieren. Es wurde gezeigt, dass Kompetenznormen im Bundesstaat kaum materiellen Wertgehalt haben, sondern vorrangig organisationsrechtliche Relationsbegriffe sind: Sie wirken zwischen mindestens zwei Handlungseinheiten; Ermächtigung 407 408
BVerfGE 106, 62 (135 ff.). BVerfGE 110, 141 (175); 111, 226 (253); 125, 141 (153); 138, 136 (177); 140, 65 (79 Rn. 31 ff.).
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1. Kap.: Die Kompetenz als formale Kategorie
einerseits und Ausgrenzung andererseits spiegeln den janusköpfigen Charakter einer Kompetenz wider.409 In bundesstaatlicher Hinsicht bedeutet Kompetenz die Möglichkeit eines Kompetenzträgers (Bund oder Länder), einen Ausschnitt der Staatsgewalt eigenverantwortlich und unter Ausschluss des jeweils anderen wahrnehmen zu können410. Die Kompetenz besteht aus zwei Elementen, einem formell-zuweisenden Gehalt und einem formell-sachlichen Gehalt. Während der formell-zuweisende Gehalt die zuständige Handlungseinheit benennt, bezeichnet letzteres den sachlichen Befugnisbereich, der den Rahmen für den möglichen Inhalt der Regelungen festlegt.411 Handlungsaufträge und sonstige materielle Gehalte können zwar zur Kompetenz hinzukommen, sie sind aber kein charakterisierender Bestandteil hiervon.412 Der Sinn hinter der Auftrennung staatlicher Aufgaben ist es, staatliche Macht angemessen zu verteilen und durch eine vertikale und horizontale Gewaltenteilung einen Beitrag zur Mäßigung und Wohlverteilung staatlicher Macht zu leisten.413 Der Kompetenzordnung kommt vorrangig eine Ordnungs-, Schutz- und Begrenzungsfunktion zu.414 Aus diesen formalen Funktionen konnten die wesentlichen Prinzipien abgeleitet werden, die die Handhabung von Kompetenznormen leiten. Die Prinzipien Verteilungsprinzip, Trennung und Alternativität, Beidseitigkeit, Relativität sowie Statik, Unverfügbarkeit und Rigidität sind allesamt auf diese formalen Funktionen beschränkt.415 Bestrebungen, der Kompetenzordnung weitere materielle und integrierende Gesichtspunkte entnehmen zu wollen, laufen demgegenüber Gefahr, die „Spielregeln der Gesetzgebung“ zugunsten kaum handhabbarer Maßstäbe aufzugeben. Es verkennt auch den Organisationscharakter von Kompetenzen, die als solche selbst noch keine Gerechtigkeitspostulate schaffen. Vielmehr schafft erst die Zusammenschau aller Kompetenzen mit ihrer klaren und verbindlichen Zuweisung von Staatsaufgaben an Bund und Länder eine Kompetenzordnung, die aufgrund ihrer formalen Funktionen der Rechtssicherheit und somit einem wesentlichen Gerechtigkeitsanliegen dienen.416 Abwägende Prinzipien, wie das Subsidiaritätsprinzip, sind der Kompetenzordnung nicht als generell leitende Maßstäbe zu entnehmen.417
409
Erstes Kapitel II. 4. Erstes Kapitel II. 2. und 4. 411 Erstes Kapitel II. 3. 412 Erstes Kapitel II. 3. c). 413 Grundlegend Lerche, VVDStRL 21 (1964), 66 (83); vgl. auch Heitsch, Ausführung der Bundesgesetze, S. 8 ff.; Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 196. 414 Erstes Kapitel III. 415 Erstes Kapitel V. 416 Zum Zusammenhang von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit Larenz, Richtiges Recht, S. 136 ff., insbesondere S. 156. 417 Erstes Kapitel V. 6. 410
Zweites Kapitel
Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen I. Methodische Vorüberlegungen 1. Zusammenspiel von Auslegung und Subsumtion Möchte der Rechtsanwender Gesetzgebungskompetenzen dem Bund oder den Ländern zuweisen, dann muss dieser die richtige Kompetenznorm auffinden. Dieser Prozess entspricht dem bereits verdeutlichten Verteilungsprinzip. So ist der Bund zur Gesetzgebung befugt, wenn das fragliche Gesetz einem Lebenssachverhalt der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes oder der konkurrierenden Gesetzgebung entspricht. Dafür muss der Rechtsanwender den richtigen Kompetenztitel ausfindig machen. Findet sich ein solcher Titel, dann ist der Bund zuständig; ist dies nicht der Fall, sind die Länder zuständig. Der Rechtsanwender muss in zwei Schritten vorgehen: Zuerst muss er die in Frage kommende Kompetenznorm auslegen. Ist dieser Vorgang abgeschlossen, folgt als zweiter Schritt die Subsumtion, d. h. der Rechtsanwender überprüft, ob der Lebenssachverhalt der ausgelegten Kompetenznorm zugewiesen werden kann. Das Besondere bei der Subsumtion von Kompetenznormen ist, dass der Sachverhalt selbst eine Norm darstellt; der Sachverhalt ist die einfachgesetzliche Rechtslage, die einem Kompetenztitel zugeordnet werden soll. Entsprechend dieser Besonderheit wird die Subsumtion – ohne, dass sich in der Sache etwas ändert – mitunter auch anders genannt, etwa „kompetenzrechtliche Zuordnung“1 oder „kompetentielle Qualifikation“2. Im Wesentlichen ist damit aber die Subsumtion gemeint, so dass dieser Begriff im Folgenden verwendet wird. Die Vorgehensweise erweckt den Anschein, als ob strikt zwischen Auslegung und Subsumtion zu unterscheiden ist. Von der hermeneutischen Philosophie3 weiß man aber inzwischen, dass eine solche Trennung kaum durchführbar ist, vielmehr 1
Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 57. Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 412; Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 109 ff.; ders., in: Berliner Kommentar, Art. 70 Rn. 37; ähnlich auch März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 123. 3 Grundlegend Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 250 ff. Zur rechtsmethodischen Rezeption etwa Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung; Kaufmann, in: ders., Beiträge zur Juristischen Hermeneutik, S. 65 ff.; Kaufmann, in: ders. / Hassemer / Neumann, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 132 ff.; Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 27 ff.; krit. dazu Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser, S. 231 ff. 2
92
2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
verwebt der Verständnisprozess die Auslegung der Kompetenznorm mit dem zu beurteilenden Sachverhalt.4 Am Beginn des Prozesses steht eine (vage) Sinnerwartung, also ein Vorverständnis, das die Erwartung von der auszulegenden Norm mit dem konkreten Sachverhalt verknüpft. Die Auslegung der Norm vollzieht sich nicht in eine lineare Richtung, sondern in eine wechselseitige: Die jeweilige Norm wird mit Blick auf den Sachverhalt ausgelegt, aber der Sachverhalt wiederum mit Blick auf die jeweilige Norm interpretiert. Der Ablauf des Verständnisprozesses folgt also einem Zirkel.5 Dies gilt auch für die Interpretation von Kompetenznormen6: Der Rechtsanwender will die Kompetenznorm auslegen, um anschließend das einfache Recht der ausgelegten Kompetenznorm zuzuordnen. Dafür muss er jedoch schon vorher antizipieren, welche Sachbereiche der Kompetenznorm für die Auslegung des einfachen Rechts überhaupt relevant sind. Hierfür bedarf es seines juristischen Vorverständnisses. Ebenfalls erfolgt schon die Wahl der auszulegenden Kompetenznorm in Erwartung der sich anschließenden kompetenziellen Qualifikation. Denn um zu wissen, welche Kompetenznormen überhaupt für die Zuordnung relevant sind, muss sich der Interpret vorher ein Bild von dem Gegenstand und von der Zielsetzung des einfachen Rechts machen. Auch hierfür muss er auf sein Vorverständnis zurückgreifen, das ihm sagt, welche Kompetenznormen mit den jeweiligen Normen des einfachen Rechts in einen Zusammenhang gebracht werden können. Die Bestimmung von Gesetzgebungskompetenzen erfolgt also in einem „Hin- und Herwandern des Blickes“.7 An diesem methodologischen Stand ist festzuhalten. Daraus folgt, dass es keine scharfe Trennung zwischen sachverhaltsunabhängiger Auslegung der Kompetenznorm und der sich daran anschließenden Subsumtion geben kann.8 Ungeachtet dieser Besonderheit müssen die Auslegung eines Kompetenztitels und die sich daran anschließende Subsumtion auseinandergehalten werden. Nicht vertretbar wäre es vor allem, den Prozess der Auslegung gänzlich zu übersprin 4
Das ist in der Hermeneutik ein vertrautes Phänomen, vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 32, S. 150 ff.; Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 250 ff. 5 Das Phänomen wird verstanden als „hermeneutischer Zirkel“; dazu Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 27 ff.; Kaufmann, in: ders., Beiträge zur Juristischen Hermeneutik, S. 72. 6 So auch zur Kompetenzauslegung im österreichischen Verfassungsrecht Wiederin, in: FS Winkler, S. 1244. 7 Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 10; Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 49; Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 70 Rn. 28. Zum Begriff Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, S. 15; Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 29; Pavčnik, Rechtstheorie 39 (2008), 557 ff.; Schroth, in: Kaufmann / Hassemer / Neumann, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, S. 270 ff. 8 Kaufmann, in: ders., Beiträge zur juristischen Hermeneutik, S. 75 hat in diesem Zusammenhang deutlich gemacht, dass Rechtsfindung ein Prozess des „In-die-Entsprechung-Bringen[s]“ ist, der nicht nacheinander abläuft, sondern in Wirklichkeit als ein „Zugleich“ zu verstehen sei.
I. Methodische Vorüberlegungen
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gen und sofort das einfache Gesetzesrecht der jeweiligen Kompetenznorm zuzuordnen. So fordert Pestalozza von einer „allzu intensiven Analyse der einzelnen Kompetenzmaterien“ abzusehen und sich vielmehr der „Relation zwischen Gesetz und Materie, dem Untersatz also“ zuzuwenden.9 Eine solche Vorgehensweise läuft Gefahr, die verfassungsrechtliche Kompetenznorm aus Sicht des einfachen Rechts zu definieren – Verfassungsnormen würden leerlaufen, was dem „Selbststand der Verfassung“ widerspräche.10 Ohnehin ist mit dem „Hin- und Herwandern des Blickes“ nicht gemeint, dass eine rationale Bestimmung des Obersatzes gar nicht möglich ist. Die Beschreibung der Zirkelbewegung des Verstehensprozesses darf vor allem nicht mit einem Zirkelschluss gleichgesetzt werden11: Ein Zirkelschluss liegt nur vor, wenn bereits das Vorverständnis das Auslegungsergebnis determinieren würde, also der Sachverhalt (bei Kompetenznormen regelmäßig das niederrangige Recht, das der Kompetenznorm zugrunde gelegt wird) mit der auszulegenden Norm gleichgesetzt wird. Aber gerade so wird der Auslegungsprozess nicht gedacht: Der „hermeneutische Zirkel“ beschreibt lediglich die Bedeutung des Vorverständnisses für das Verstehen von Texten. Das Vorverständnis wird nur als Hypothese ins Spiel gebracht12, das gegebenenfalls auch revidiert werden muss.13 Die Lehre vom Vorverständnis begründet zugleich, dass Rechtsanwendung durchaus eine schöpferische Leistung darstellt und eben nicht auf einen bloßen „Subsumtionsvorgang“ reduziert werden kann.14 Dementsprechend vergleicht Hassemer den Prozess der Textinterpretation nicht mit einem Kreis, sondern mit einer Spirale.15 Damit ist gemeint, dass die Textinterpretation am Ende nicht tautologisch an ihren Ausgangspunkt zurückkehrt, sondern das „Hin- und Herwandern“ Schritt für Schritt zu einer höheren Rechtserkenntnis führt.16 Dass Auslegung aber ein zu vernachlässigender Prozess ist, kann und darf der hermeneutischen Forschung nicht entnommen werden. 9
Pestalozza, DÖV 1972, 181 (182). Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 49; Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 70 Rn. 28. 11 Dies verkennt etwa Schröder, Kriterien und Grenzen, S. 87 f. 12 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 204 („Normhypothese“). 13 Auch Gadamer hat aus dem Vorverständnis nicht geschlussfolgert, schon die Sinnerwartung bestimme das Interpretationsergebnis: „Wer verstehen will, wird sich von vornherein nicht der Zufälligkeit der eigenen Vormeinung überlassen dürfen, um an der Meinung des Textes so konsequent und hartnäckig wie möglich vorbeizuhören – bis diese unüberhörbar wird und das vermeintliche Verständnis umstößt. Wer einen Text verstehen will, ist vielmehr bereit, sich von ihm etwas sagen zu lassen. Daher muss ein hermeneutisch geschultes Bewußtsein für die Andersheit des Textes von vornherein empfänglich sein“ (Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 273). 14 Dazu besonders Hassemer, in: Kaufmann / Hassemer / Neumann, Einführung in die Rechts philosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 252; Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 29. Zum schöpferischen Element der Verfassungsauslegung Starck, in: HStR XII, § 271 Rn. 17. 15 Hassemer, Tatbestand und Typus, S. 107. 16 Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 28; Kaufmann, in: ders., Beiträge zur juristischen Hermeneutik, S. 75 f. 10
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Freilich besteht die Gefahr, den Verfassungstext zu überspannen und ihm Konfliktlösungen zu entnehmen, die weder vom Wortlaut noch vom Zweck der Kompetenznormen umfasst sind.17 Eine Kompetenzlehre muss dieser Gefahr Rechnung tragen. Sie muss einerseits darauf achten, nicht zu viel in die Kompetenznormen hineinzulesen, um anschließend das Hineingelesene auszulegen; sie muss andererseits aber auch den Selbststand der Verfassung wahren. Auch wenn verfassungsrechtliche Begriffe einfachrechtlich vorgeprägt sind, entfalten sie gleichwohl einen eigenständigen Inhalt.18 Das Vorverständnis darf nicht dazu verleiten, im Sinne eines „Vor-Urteils“ dem Prozess der Auslegung jegliche Bedeutung abzusprechen. Im Folgenden soll die Unterscheidung von Auslegung und Subsumtion beibehalten werden. Dieses zweite Kapitel wird sich mit der Auslegung von Kompetenzvorschriften befassen. Im daran anschließenden dritten Kapitel werden die Maßgaben einer gegenstandsadäquaten Kompetenzzuordnung untersucht. 2. Das Auslegungsziel: Wille des Kompetenznormsetzers oder Wille des Gesetzes? Bei der Interpretation von Kompetenznormen stößt der Verfassungsinterpret regelmäßig auf ein schwieriges Spannungsverhältnis. Einerseits sind Kompetenzen „mit Blick auf die Vergangenheit“ formuliert. Denn ohne Zweifel schwebte dem Parlamentarischen Rat, um ein Beispiel zu nennen, bei der Formulierung des „Bürgerlichen Rechts“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) das historisch gewachsene Privatrechtssystem seit der Kodifikation des BGB vor Augen.19 Vor diesem Hintergrund scheint es untauglich, dem heutigen Gesetzgeber die völlige Definitionsgewalt über das Bürgerliche Recht einzuräumen. Andererseits sind Kompetenznormen zukunftsorientiert. Sie sollen dem heutigen Gesetzgeber die Möglichkeit geben, auf dem Gebiet des Bürgerlichen Rechts politische Antworten auf Zeitfragen zu finden. Kompetenzen ermächtigen den Gesetzgeber zur politischen Weiterentwicklung. Deshalb darf die Anwendung der Kompetenzvorschriften nicht dazu führen, dass frühere Rechtszustände verewigt werden. Dies wirft die methodische Grundsatzfrage auf, ob das Bundesverfassungs gericht auf den „Willen des Gesetzgebers“ oder auf den „Willen des Gesetzes“ abstellen sollte. Bei der Auslegung von Kompetenznormen orientiert sich das Gericht üblicherweise an den herkömmlichen Auslegungskriterien. Für die Zuweisung einer Gesetzgebungsmaterie an Bund oder Länder sei der in Betracht kommende Kompetenztitel anhand des Wortlauts, historisch, systematisch und mit Blick auf 17
Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 70 Rn. 28. Isensee, HStR VI, § 133 Rn. 59; Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 7 I.1., S. 53. 19 Dazu explizit BVerfGE 61, 149 (174 f.): „Die Kompetenzbestimmung des Art. 74 Nr. 1 GG ist im Rückblick auf die Befugnis des Reiches zur konkurrierenden Gesetzgebung über ‚das bürgerliche Recht‘ gemäß Art. 7 Nr. 1 der Weimarer Reichsverfassung formuliert worden“. 18
I. Methodische Vorüberlegungen
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den Normzweck auszulegen.20 Das Bundesverfassungsgericht nutzt den gesamten Auslegungskanon, weist aber der historischen Auslegung in der Rechtsprechung eine deutlich herausgehobene Stellung zu.21 Dass das Bundesverfassungsgericht der historischen Auslegung eine wesentliche Bedeutung zuspricht, erstaunt zunächst, denn eine derartige Stellung räumt das Gericht ihr sonst nicht ein. Vielmehr hat es immer wieder beteuert, dass ihr eine bloß ergänzende Funktion zukommt. So geht das Bundesverfassungsgericht seit der Entscheidung zur Wohnungsbauförderung22 in ständiger Rechtsprechung von einer Auslegung nach Maßgabe des objektivierten Willens des Gesetzgebers aus: „Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kommt für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen ermittelten Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden können.“23
Das Bundesverfassungsgericht weist der historischen Auslegung nur eine untergeordnete Rolle für die Interpretation zu. Damit lehnt es eine subjektive Auslegung ab. Nach dieser Position muss es das Ziel des Rechtsanwenders sein, die Vorstellungen des historischen Normsetzers bestmöglich zu ermitteln.24 Dennoch fragt sich, inwiefern es zu vereinbaren ist, dass das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich eine objektivierte Auslegungstheorie vertritt, es aber zugleich historischgenetische Erwägungen bei der Auslegung von Kompetenznormen mit entscheidendem Gewicht nutzt. Dieser vermeintliche Widerspruch trägt allerdings nur auf den ersten Blick: Auch die objektive Theorie ist heute keinesfalls als herrschend anzusehen.25 Vielmehr dominieren eher vermittelnde Theorien, die teilweise aus 20
BVerfGE 138, 261 (273 Rn. 29). Vgl. BVerfGE 68, 319 (328); 97, 198 (218 ff.); 106, 62 (105); 109, 190 (213). In jüngerer Zeit hat das BVerfG die besondere Bedeutung der historischen Auslegung von Kompetenznorm erneut klargestellt: „Bei der Auslegung der Kompetenzbestimmungen gelten die allgemeinen Regeln, wobei der historischen Interpretation besonderes Gewicht beizumessen ist“, vgl. BVerfGE 134, 33 (55 Rn. 55). 22 BVerfGE 1, 299. 23 BVerfGE 1, 299 (312); ebenso BVerfGE 10, 234 (244); 35, 263 (278); 105, 135 (157); 133, 168 (205 Rn. 66); 144, 20 (213 Rn. 555). 24 Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 53 ff.; Hillgruber, in: Maunz / Dürig, Art. 97 Rn. 57; Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 176 ff., 210 ff.; Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, Rn. 726; Rüthers, JZ 2006, 53 (57 f.); ders., JZ 2008, 446 ff. Einführend zur Unterscheidung zwischen „subjektiver“ und „objektiver“ Theorie etwa Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 121 ff. 25 Anders aber Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, Rn. 798: „Die herrschende Lehre in Rechtsprechung und Literatur bekennt sich überwiegend zur objektiven Auslegungstheorie“. 21
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
dem Lager der subjektiven26, teilweise aus dem Lager der objektiven Theorien27 konzipiert werden.28 Eine rein objektive Theorie, die den Rückgriff auf historische und genetische Kompetenzen kategorisch verbietet, kann heute nicht mehr ausgemacht werden. Der mit viel Pathos geführte Streit zwischen objektiver und subjektiver Methode muss deshalb an dieser Stelle nicht entschieden werden.29 Vor diesem Hintergrund muss die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht überbewertet werden. Auch wenn es grundsätzlich der objektiven Theorie zustimmt, so lässt es historische Erwägungen keineswegs unberücksichtigt.30 Alle Auslegungsmethoden seien erlaubt, um den objektivierten Willen des Gesetzgebers zu erfassen. Sie schlössen einander nicht aus, sondern ergänzten sich wechselseitig. Dies gelte auch für Gesetzesmaterialien, die dann herangezogen werden dürften, wenn sie auf den objektiven Gesetzesinhalt schließen lassen.31 Bei jüngeren Gesetzen wird den Regelungsabsichten des Gesetzgebers sogar das entscheidende Gewicht eingeräumt: „Zumal bei zeitlich neuen und sachlich neuartigen Regelungen kommt den anhand des Gesetzgebungsverfahrens deutlich werdenden Regelungsabsichten des Gesetzgebers erhebliches Gewicht bei der Auslegung zu, sofern Wortlaut und Sinnzusammenhang der Norm Zweifel offen lassen. Über die erkennbare Regelungsabsicht darf die Auslegung in solcher Lage nicht hinweggehen.“32 Dass bei der Interpretation von Kompetenznormen besonders die historische Auslegung bedeutendes Gewicht zukommt, zeigt sich nicht zuletzt am Umfang entsprechender Ausführungen.33 Da sich beide Theorien inzwischen angenähert haben, ist im Ergebnis eine vermittelnde Lösung geboten, die 26
Exemplarisch wiederum Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, Rn. 820: „Das juristische Methodenproblem lässt sich nicht auf die Alternative entstehungszeitliche oder geltungszeitliche Gesetzesanwendung reduzieren. Die ‚subjektive‘ wie die ‚objektive‘ Auslegungstheorie erfassen zutreffende Teilaspekte.“ Vgl. ebenso Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 79 III., S. 620: „Subjektive und objektive Auslegung sind keine Alternativen.“ 27 Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 137: „Jede der beiden Theorien liegt eine Teilwahrheit zugrunde; daher kann keine ohne Einschränkung akzeptiert werden.“ 28 So auch der Befund von Fleischer, in: Mysterium „Gesetzesmaterialien“, S. 10. 29 Für eine subjektive Auslegung Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, passim; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 340; Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, Rn. 717 ff.; die subjektive Theorie wird in etwas modifizierter Form anhand der Ermittlung des Willens des gegenwärtigen Gesetzgebers etwa vertreten von Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, S. 130; Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 3c, 486. Für eine objektive Theorie stritten vor allem frühere Stellungnahmen, etwa Binding, Handbuch des Strafrechts, Bd. 1, S. 450 ff. Die Debatte zwischen objektiver, subjektiver und „vermittelnder“ Auslegung wurde in jüngerer Zeit vor allem von Rüthers fortgeführt: Rüthers, JZ 2006, 53 ff.; ders., JZ 2008, 446 ff.; dagegen Canaris, in: Grundmann / Riesenhuber, Deutsche Zivilrechtslehrer, S. 296 ff.; Hassemer, ZRP 2007, 213 (214). 30 Vgl. dazu auch Roellecke, in: FG BVerfG, S. 24 ff. 31 BVerfGE 11, 126 (130). Diese Formulierung findet sich auch im NPD-Urteil: BVerfGE 144, 20 (212 f. Rn. 555). 32 BVerfGE 54, 277 (297). 33 Etwa BVerfGE 12, 205 (230 ff.); 26, 338 (370 ff.); 36, 193 (206 ff.); 42, 20 (29); 61, 149 (174 ff.); 67, 299 (314 ff.); 68, 319 (328 ff.); 106, 62 (105 ff.); 109, 190 (213 ff.); 134, 33 (55 ff.); 145, 171 (195 Rn. 72 ff.).
I. Methodische Vorüberlegungen
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sowohl subjektive (also genetische und historische) als auch objektiv-teleologische Kriterien zulässt und miteinander verknüpft. Letztlich geht es also nicht um die Frage, ob subjektive oder objektiv-teleologische Argumente überhaupt verwendet werden dürfen; bedeutender ist vielmehr die Frage, welches Gewicht diesen Argumenten zukommt.34 Diese Frage kann nicht pauschal beantwortet werden, sondern muss anhand des konkreten Falles entschieden werden. Larenz hat die Frage nach dem Gewicht der jeweiligen Auslegungskriterien pragmatisch, aber zutreffend beschrieben: „Das jeweilige Gewicht der verschiedenen Kriterien hängt nicht zuletzt davon ab, was sie im einzelnen Fall hergeben“35. Dieser Satz darf nicht im Sinne einer methodischen Beliebigkeit aufgefasst werden. Er beschreibt vielmehr die Notwendigkeit, dass die einzelnen Kriterien der Gewichtung bedürfen.36 Die Heranziehung von bestimmten Auslegungsgesichtspunkten erscheint so als ein „Teil des Spiels um Legitimation und Überzeugungskraft im Diskurs der Interpretationsgemeinschaft“37. Dies spiegelt sich auch in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts zur Auslegung von Kompetenznormen wider. Denn wie zu zeigen sein wird, sind Wortlaut, Systematik und Telos zur Bestimmung von Kompetenzen oft wenig ergiebig. Da jedoch die jeweiligen Materialien zu den Kompetenznormen allgemein zugänglich sind und überhaupt die Kompetenznormen nicht im „Niemandsland“ geschaffen wurden, sondern nur im historischen Kontext verstanden werden können, ist die historische Auslegung zwangsläufig für die Auslegung aufschlussreich – jedenfalls ist eine auf sie bezogene Argumentation für den kritischen Beobachter nachvollziehbar. Daraus erklärt sich auch die Aussage, der historischen Interpretation sei für die Auslegung von Kompetenznormen besonderes Gewicht beizumessen.38
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Eine weitgehend objektive Theorie der Kompetenzauslegung vertritt demgegenüber Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 35 ff., der die historische Auslegung lediglich als sekundäre Rationalitätsquelle nutzen möchte. Allerdings ist für das praktische Ergebnis zu bezweifeln, dass Herbst insofern zu anderen Ergebnissen kommt: Seine Unterscheidung zwischen primären und sekundären Quellen liegt wohl eher in der Gewichtung der einzelnen Auslegungsinstrumente. Aber auch Herbst erkennt an, dass der historischen Auslegung bei Kompetenznormen eine besondere Bedeutung zukommt, vgl. etwa S. 43 ff. 35 Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 166. Eine ähnlich pragmatische Haltung vertritt Waldhoff, in: Mysterium „Gesetzesmaterialien“, S. 92: „Es kommt ganz darauf an“. 36 Dazu ausführlich Canaris, in: FS Medicus, S. 58 ff. Das entspricht auch der Auffassung des BVerfG: „Für die Erfassung des objektivierten Willens des Gesetzgebers sind vielmehr alle anerkannten Auslegungsmethoden heranzuziehen, die sich gegenseitig ergänzen […] und nicht in einem Rangverhältnis zueinander stehen“ (BVerfGE 144, 20 [213 Rn. 555]). 37 Heun, AöR 116 (1991), 185 (205) unter Verweis auf Busse, Was ist die Bedeutung eines Gesetzestextes?, in: Müller, Untersuchungen zur Rechtslinguistik, S. 130. 38 BVerfGE 33, 125 (152); 61, 149 (175); 68, 319 (328); 106, 62 (105); 109, 190 (213); 134, 33 (55); pointiert in BVerfGE 67, 299 (315): „Der Wortlaut und die systematische Stellung des Art. 74 Nr. 22 GG […] ergeben für sich allein keine zwingenden Anhaltspunkte für diese Zuordnung. In einem solchen Fall kommt dem geschichtlichen Zusammenhang in der deutschen Gesetzgebung […] besondere Bedeutung zu“.
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
II. Besonderheiten bei der Auslegung von Kompetenznormen Bei der Auslegung von Kompetenznormen sind die allgemeinen Auslegungsregeln anzuwenden. Für die Zuweisung einer Gesetzgebungsmaterie an Bund oder Länder ist also der in Betracht kommende Kompetenztitel anhand des Wortlauts, historisch, systematisch und mit Blick auf den Normzweck auszulegen.39 Zugleich haben die auf Trennung und Alternativität ausgerichteten Kompetenznormen einen weitgehend formalen und insbesondere einen statisch-rigiden Charakter.40 Aus diesem Grund stellt sich die Frage, ob die Interpretation von Kompetenznormen Besonderheiten aufweist, auf die Rücksicht zu nehmen ist. Dieser Frage wird im Folgenden nachgegangen. 1. Die Notwendigkeit einer hinreichenden Bestimmtheit der Kompetenzordnung Kompetenznormen sind Organisationsvorschriften. Sie bestimmen die Zuständigkeitsgrenzen zwischen Bund und Ländern und definieren die Spielregeln für die hoheitliche Tätigkeit im Verhältnis zueinander. Um zu gewährleisten, dass die Spielregeln von allen Akteuren richtig verstanden werden und angewendet werden, bedarf die bundesstaatliche Kompetenzordnung in hohem Maße der inhaltlichen Bestimmtheit.41 Kompetenznormen sind auf Klarheit, Eindeutigkeit und auf Starrheit angewiesen.42 Die Forderung nach Kompetenzklarheit richtet sich aber zunächst an den Verfassungs(gesetz)geber. Dieser ist aufgerufen, eine möglichst bestimmbare Kompetenzordnung auszugestalten.43 Davon abgesehen trügt das Bild einer besonders klaren Kompetenzordnung ohnehin.44 Die Kompetenztitel sowohl der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes als auch der konkurrierenden Gesetzgebung zählen zwar die einzelnen Sachbereiche, die unter eine Gesetzgebungskompetenz fallen, auf. Die meisten von ihnen sind aber so abstrakt formuliert, dass eine klare Zuordnung von Kompetenzen nicht immer ohne weiteres möglich ist. Diese Uneindeutigkeit ist bereits im System der Kompetenzordnung angelegt. Vor allem die Technik des Grundgesetzes, einzelne Kompetenztitel nach Handlungsbereichen aufzulisten, ohne dass die Begriffe im Grundgesetz definiert oder zumindest durch 39
BVerfGE 138, 261 (273 (Rn. 29); vgl. ebenfalls Rengeling, HStR VI, § 135 Rn. 3; Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 11 ff.; Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 48; Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 70 Rn. 26. 40 Erstes Kapitel V. 5. 41 BVerfGE 61, 149 (175); Goerlich, „Formenmißbrauch“ und Kompetenzverständnis, S. 14 f.; Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 16. 42 Pietzcker, in: HStR VI, § 134 Rn. 10. Dazu auch schon unter Gliederungspunkt Erstes Kapitel V. 5. 43 Lerche, in: FS Maurer, S. 211. 44 Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 379.
II. Besonderheiten bei der Auslegung von Kompetenznormen
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Querbezüge im Grundgesetz näher konturiert werden45, trägt zu Unsicherheiten bei. Darüber hinaus sind die Residualkompetenzen der Länder im Grundgesetz nicht benannt, was den Vorgang der Normkonkretisierung weiter erschwert. Der Vorgang der Kompetenzauslegung kann aber dafür Sorge tragen, dass die Klarheit und Bestimmtheit der Kompetenzordnung nicht ohne Not (noch mehr) aufgeweicht wird. Folglich verbleibt auf dem Feld der Kompetenzen weniger Raum für gestaltende Konkretisierungen als im Bereich der Grundrechte und Staatsstrukturprinzipien.46 Eine gegenstandsadäquate Kompetenzinterpretation und Kompetenzzuordnung hat dafür Sorge zu tragen, Kompetenznormen möglichst vorhersehbar anzuwenden. In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht, dass die Zuständigkeitsgrenzen zwischen Bund und Ländern in hohem Maße der Festigkeit und Berechenbarkeit bedürfen und dieses Gebot als Grundsatz der Kompetenzauslegung herangezogen.47 Dafür spricht, dass eine strikte Kompetenzordnung auch aus rechtsstaatlicher Sicht gefordert werden muss. Denn die klare Trennung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern gewährleistet die Verantwortung und Rationalität staatlichen Handelns und ermöglicht zugleich deren Kontrolle.48 Eine strikte und klare Kompetenzverteilung stellt sicher, dass der Bürger nicht doppelt durch den Bund und durch die Länder in Anspruch genommen wird.49 Mit der auf Trennung und Alternativität ausgelegten Kompetenzordnung50 ist es unvereinbar, wenn unklar wäre, welcher Kompetenzträger für eine Materie zuständig ist und sowohl Bund und Länder in den gleichen Themenbereichen mit zum Teil unterschiedlichen Rechtsfolgen legiferieren könnten. Insbesondere träfe dem Bürger das Interpretationsrisiko: Er müsste entscheiden, ob er sich dem Bundesrecht oder dem Landesrecht unterordnet. Darüber hinaus darf der Bürger darauf vertrauen, dass – abgesehen von den in Art. 72 Abs. 1 und Art. 72 Abs. 3 GG festgelegten Ausnahmen – Gesetze, die einmal kompetenzgemäß erlassen worden sind, auch in Zukunft mit der Kompetenzordnung vereinbar sind und gültig bleiben. Dass die „Spielregeln“ für alle Beteiligten klar sein müssen, ergibt sich auch aus den Folgen, die resultieren, wenn das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz für kompetenzwidrig und somit für verfassungswidrig erklärt. Denn vor allem dann, wenn ein Gesetz in seinem Kernbestand mit den Art. 70 ff. GG unvereinbar ist, erklärt das Gericht das ganze Gesetz in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren oder in einer (konkreten oder abstrakten) Normenkontrolle üblicherweise für nichtig.51 45
Vgl. Erstes Kapitel V. 4. Lerche, in: FS Maurer, S. 211; teilweise wird aber auch eine flexiblere Auslegung von Kompetenznormen gefordert, vgl. etwa Fehling, in: Auerbach u. a., Föderalismus, S. 50 ff.; Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 409 ff. 47 BVerfGE 61, 149 (175); 138, 261 (273 Rn. 28). 48 Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 96. 49 Vgl. Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 96. 50 Erstes Kapitel V. 2. 51 So für ein Staatshaftungsgesetz des Bundes BVerfGE 61, 149 (208); vgl. auch für ein Betreuungsgeld durch den Bund BVerfGE 140, 65 (98 Rn. 72); für Abgabengesetze und kommunalrechtliche Satzungen BVerfGE 98, 83 und 106. 46
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Die Folgen sind weitreichend, wenn man bedenkt, dass bei einer Normenkontrolle das Gesetz lange Zeit nach Erlass des Gesetzes noch aufgehoben werden kann.52 Auch kann der Aufwand von Rückabwicklungen immens sein. Deshalb ist eine hinreichend bestimmte und für alle berechenbare Kompetenzzuordnung notwendig, um etwaige Kompetenzkonflikte schon im Ansatz zu vermeiden. 2. Strikte Interpretation von Kompetenznormen Einen Beitrag zur Bestimmbarkeit der Kompetenzordnung soll der Topos der strikten Interpretation von Kompetenznormen liefern. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fordert die Systematik des Grundgesetzes im Sinne einer möglichst eindeutigen vertikalen Gewaltenteilung eine strikte, dem Sinn der Kompetenznorm gerecht werdende Auslegung der Art. 70 ff.53 Die Begründung für die strikte Interpretation der Kompetenzen findet sich in der Ersten Rundfunkentscheidung. Danach gehe das Grundgesetz bei der Ordnung der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern vom Grundsatz der Länderkompetenz aus. Der Bund habe die Gesetzgebungsbefugnisse nur, soweit das Grundgesetz sie ihm verleiht. In der Regel können daher Gesetzgebungsbefugnisse nur auf eine ausdrückliche Verleihung durch das Grundgesetz gestützt werden. Jedenfalls spreche keine Vermutung zugunsten einer Bundeskompetenz bei Zweifeln über die Zuständigkeit des Bundes.54 Soweit das Bundesverfassungsgericht eine Vermutung für eine Bundeskompetenz ablehnt, ist dem zuzustimmen. Aus der Beidseitigkeit der Kompetenzordnung folgt die lückenlose Verteilung von Gesetzgebungskompetenzen. Möchte der Bund handeln, dann muss er sich auf eine grundgesetzliche Zuweisungsnorm stützen; kann er das nicht, so sind gem. Art. 70 Abs. 1 GG die Länder zuständig.55 Es verbleibt deshalb kein Raum für eine pauschale „weite“ Auslegung zugunsten des Bundes.56 Ebenfalls folgt aus der Beidseitigkeit der Kompetenzordnung, dass Kompetenznormen ernst zu nehmen sind. Denn jede Zuweisung von Kompetenzen an einen Kompetenzträger definiert die Kompetenzen des anderen Trägers automatisch mit.57 Die Auslegung von Kompetenzvorschriften zugunsten des Bundes darf deshalb nicht so großzügig erfolgen, dass am Ende des Qualifikationsvorgangs kein effektiver Raum für die Länder übrig bleibt.58 In der Tat spricht deshalb keine Vermutung für Bundeskompetenzen; diese müssen vielmehr im Einzelnen 52
Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 18. BVerfGE 12, 205 (228 f.); 15, 1 (17); 61, 149 (174); 106, 62 (36); 138, 261 (273 Rn. 28). 54 BVerfGE 12, 205 (228); 15, 1 (17). 55 Lerche, in: FS Maurer, S. 206. 56 Ähnlich Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 71. 57 Dazu schon unter Erstes Kapitel V. 3. 58 In diese Richtung wohl auch Bullinger, Die Mineralölfernleitungen, S. 55; ders., DÖV 1970, 797 (798 f.). 53
II. Besonderheiten bei der Auslegung von Kompetenznormen
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nachgewiesen werden.59 Mit der Rede von einer strikten Auslegung ist also gemeint, dass im Einzelnen begründet werden muss, warum eine Regelung unter einen Kompetenztitel fällt. Ebenso wird man dem Gebot entnehmen können, dass Abwägungen im Sinne eines „Mehr“ oder „Weniger“ mit dem Gehalt von Kompetenz normen unvereinbar sind. Entweder eine Norm fällt unter eine Kompetenznorm oder nicht. Zu beachten ist aber, dass das Gebot einer „strikten Auslegung“ keine Besonderheit nur von Kompetenznormen ist. In Wirklichkeit müssen alle Normen des Verfassungsrechts sach- und funktionsgerecht ausgelegt werden.60 Die Aussage, Kompetenznormen seien strikt auszulegen, ist zwar grundsätzlich zutreffend, sie kann aber auch in die Irre führen, nämlich dann, wenn hieraus weitere methodische Besonderheiten abgeleitet werden. 3. Keine Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Länder Besonders irreführend ist das Postulat von der strikten Auslegung, wenn hieraus eine Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Länder abgeleitet wird.61 So sprach das Bundesverfassungsgericht gelegentlich davon, es streite eine Vermutung zugunsten der Gesetzgebungszuständigkeit der Länder, nicht aber zugunsten einer Bundeskompetenz.62 Soweit das Bundesverfassungsgericht eine solche „Auslegungsvermutung“ aus dem Verteilungsprinzip schlussfolgert, kann dem nicht gefolgt werden. Art. 70 Abs. 1 GG bestimmt nur die grundsätzliche Verteilung der Kompetenzen. Es stellt sicher, dass es keine kompetenzfreien Räume gibt. Damit ist aber nicht gesagt, dass zugunsten der Länder eine Zuständigkeitsvermutung im Sinne einer Beweislastregel spricht. Denn Beweislastregeln betreffen Tatsachen, nicht aber die Auslegung von Normen.63 „Auslegungszweifel sind zu beseitigen, nicht so oder so zu überbrücken“64. Sollten Kompetenztitel unklar for 59
Kunig, in: v. Münch / Kunig, Art. 70 Rn. 20. Rinck, in: FS Müller, S. 300; Scholz, in: FG BVerfG. 61 So Grewe, in: Weinheimer Tagung, Bundesrecht und Bundesgesetzgebung, 27 (47 f.); Hillgruber, in: BK, Art. 30 Rn. 58; Jarass, in: Kartellrecht und Landesrundfunkrecht, S. 21; Krause / Schmitz, NVwZ 1982, 281 (284); Maunz, in: Maunz / Dürig (1982), Art. 70 Rn. 29 f.; H. J. Vogel, in: Benda / Maihofer / Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, § 22 Rn. 76; Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 45 II.; ähnlich Bothe, in: AK-GG, Art. 30 Rn. 11; Schubert, in: Sachs, GG, Art. 30 Rn. 9 („länderfreundliche Auslegungsrichtlinie“); März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 138 („Topos einer verfassungsrechtlich gebotenen Zurückhaltung“); vgl. auch Lahne, Die Entwicklung der bundesstaatlichen Ordnung, S. 63 f. unter Rückgriff auf das Subsidiaritätsprinzip. 62 BVerfGE 26, 281 (297); 41, 205 (220); 42, 20 (28); wohl auch BVerfGE 111, 226 (247); BVerwG NVwZ 2008, 311 (312 Rn. 12); a. A. nun ausdrücklich BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 82 und Rn. 102. 63 Bothe, in: AK-GG, Art. 30 Rn. 11; Gärditz, Strafprozeß und Prävention, S. 225 f.; Lerche, in: FS Maurer, S. 207; Rinck, in: FS Müller, S. 291 f. 64 Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Bd. 8, Art. 70 Abs. 1 Rn. 78. 60
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
muliert sein und fehlt ihnen die notwendige Bestimmtheit, dann sind die Begriffe so zu konkretisieren, dass sie handhabbar werden.65 Das Grundgesetz geht vom Grundsatz der Lückenlosigkeit und Vollständigkeit der Kompetenzordnung aus.66 Die Länder haben die Zuständigkeit zur Gesetz gebung nach Art. 70 Abs. 1 GG nur, wenn nicht das Grundgesetz dem Bund Befugnisse zuweist. Dieses Verfahren einer enumerativen Abgrenzung von Zuständigkeiten hat lediglich eine rechtstechnische Bedeutung.67 Für diese Rechtstechnik entschied man sich schon bei den Verhandlungen zum Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee. Zwar war man sich einig, dass es eine Zuständigkeitsvermutung der Länder gebe. Diese wurde aber nur in einem rechtstechnischen Sinne verstanden. So zog Drexelius in den Beratungen die Formulierung heran: „Der Bund hat diejenigen Aufgaben und Zuständigkeiten, welche ihm durch dieses Grundgesetz zugewiesen sind. Alle übrigen Aufgaben und Zuständigkeiten sind Sache der Länder.68 Die Zuständigkeitsvermutung beschränkte sich also schon bei den Beratungen zum Grundgesetz auf das Verteilungsprinzip zugunsten der Länder und nicht auf eine methodische Zweifelsregel.69 Eng verbunden mit der Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Länder ist auch die irrige Annahme, dass sämtliche Kompetenzzuweisungen „eng“ auszulegen seien.70 Die bundesstaatliche Ordnung setzt die Bundes- und Landesgesetzgebung als prinzipiell gleichwertige Möglichkeiten der Rechtssetzung voraus.71 In diesem Zusammenhang hat Rinck das Gebot einer sach- und funktionsgerechten Auslegung
65 Gärditz, Strafprozeß und Prävention, S. 226. Zum Vorgang der Normkonkretisierung F. Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, Rn. 263 ff. 66 Rengeling, HStR VI, § 135 Rn. 34; Rinck, in: FS Müller, S. 290; Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 390. 67 Scholz, FG BVerfG, S. 256. 68 Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, Unterausschuß II: Zuständigkeitsfragen, Prot. der 1. Sitzung vom 13. 08. 1948, S. 1, 5–6, 16–18. 69 So antwortete etwa Hoch in Bezug auf die Vermutungsregel zugunsten der Länder: „Wenn wir uns schon entschließen, ein in gewissem Maße föderalistisches Grundgesetz zu schaffen, so müssen wir auch sagen, daß der Bund nur die Zuständigkeit hat, die in diesem Katalog vorgesehen ist. Wenn nichts vorgesehen ist, so liegt die Zuständigkeit beim Land“ (PR Zuständigkeitsausschuß, StenProt. Der 2. Sitzung vom 22. 09. 1948, S. 22). An der Bemerkung wird deutlich, dass die Frage einer Vermutungsregel zugunsten der Länder sich auf die Formulierung des später beschlossenen Art. 70 Abs. 1 GG bezog. Ob auch eine Auslegungsregel zugunsten der Länder streitet, wurde weder im Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee noch im Parlamentarischen Rat diskutiert. 70 BVerfGE 26, 246 (254); Jarass, Kartellrecht und Landesrundfunkrecht, S. 21 f. In eine ähnliche Richtung gehen solche Stimmen, die von einem „Interpretationspostulat für eine länderfreundliche Auslegung“ ausgehen, vgl. Weber, Kriterien des Bundesstaates, S. 97; Bothe, in: AK-GG, Art. 30 Rn. 11; Schubert, in: Sachs, GG, Art. 30 Rn. 9; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 136 ff.; Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 391; ähnlich auch Hillgruber, in: BK, Art. 30 Rn. 54 ff. 71 Rinck, in: FS Müller, S. 300; Scholz, in: FG BVerfG, S. 255. So auch schon unter Erstes Kapitel V. 3.
II. Besonderheiten bei der Auslegung von Kompetenznormen
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der Kompetenzvorschriften herausgearbeitet.72 Hieraus folgt, dass Kompetenzvorschriften strikt, aber nicht notwendig restriktiv auszulegen sind.73 Ohnehin täuscht der Satz, „Ausnahmevorschriften seien eng auszulegen“, eine nicht existierende methodische Regel vor.74 Auch Ausnahmevorschriften sind so weit zu interpretieren, wie es dem erkennbaren Gesetzeszweck entspricht.75 So weist Friedrich Müller zurecht daraufhin, dass die Argumentation mit Regel und Ausnahme nicht als ein „Auslegungsgrundsatz“ isoliert werden dürfe. Die Frage, ob es sich überhaupt um eine Ausnahmevorschrift handele, setze eine „mit allen verfügbaren Konkretisierungselementen erarbeitete Vorklärung darüber voraus, welche normative Wirkung die Rechtsnorm als ‚Ausnahmevorschrift‘ kennzeichnen solle“.76 Doch gerade an dieser Vorklärung fehlt es, wenn pauschal eine Zuständigkeitsvermutung aus Art. 70 Abs. 1 GG abgeleitet wird. Eine solche Zuständigkeitsvermutung würde auch zu praktisch unbefriedigenden Ergebnissen führen, nämlich dann, würde man die Auslegung einer einzelnen Kompetenzvorschrift vorab unter Berufung auf eine nicht handhabbare und zirkelhafte Zuständigkeitsvermutung abbrechen. Folgerichtig vermeidet das Bundesverfassungsgericht in jüngeren Entscheidungen die Rede von der Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Länder.77 Dabei fällt auf, dass das Gericht mitunter auch explizit weit, jedenfalls aber nicht eng auslegen möchte. Das gilt etwa für die öffentliche Fürsorge78, für das Recht der Wirtschaft79 oder für die Gentechnik.80 Entscheidend ist, ob der Kompetenztitel im Verhältnis zu anderen Titeln einen eher engeren (dann „enge Auslegung“) oder einen weiteren Anwendungsbereich (dann „weite Auslegung“) hat. Die Adjektive „eng“ und „weit“ bezeichnen auch keine gegensätzlichen Paare, sondern lediglich eine vereinfachende Charakterisierung insgesamt unterschiedlich abstufbarer Anwendungsbereiche.
72
Rinck, in: FS Müller, S. 300. Zu dieser Forderung hat sich auch das BVerfG bekannt, vgl. BVerfGE 39, 193 (209). Letztlich verweist das Gebot einer sachgemäßen und funktionsgerechten Auslegung aber auch nur zurück auf die Verwendung selbstverständlicher Auslegungsprinzipien, vgl. Lerche, in: FS Maurer, S. 209. 73 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 7; Isensee, HStR VI, § 133 Rn. 47; Lerche, in: FS Maurer, S. 206; Wittreck, in: Dreier, GG, Art. 30 Rn. 29. 74 Dazu und zum Folgenden F. Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Rn. 370; Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 174 ff. 75 Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, S. 135 f.; Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 175 f.; vgl. dazu auch Achterberg, AöR 86 (1961), 63 (82); Bullinger, Die Mineralölfernleitungen, S. 55 f. 76 F. Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Rn. 370. 77 Etwa BVerfGE 106, 62 (104 ff.); 107, 62 (104 ff.); 109, 190 (211 ff.); 138, 261 (273 Rn. 28); BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 102. In BVerfGE 111, 226 (247) heißt es zwar noch Art. 70 I GG lege ein „Regel-Ausnahme-Verhältnis zu Gunsten der Länder fest“. Daraus kann aber nicht geschlussfolgert werden, dass das Gericht weiterhin von einer Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Länder ausgeht, so aber H. H. Klein, in: Härtel, Handbuch Föderalismus, Bd. 1, § 17 Rn. 21. 78 BVerfGE 88 203 (329 f.); 97, 332 (331); 140, 65 (78 Rn. 29). 79 BVerfGE 68, 319 (330); 116, 202 (215); 135, 155 (196, Rn 101). 80 BVerfGE 128, 1 (33 f.).
104
2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
4. Unterschiede zur herkömmlichen Verfassungsinterpretation, insbesondere zur Grundrechtsinterpretation Die insgesamt sehr starke Fixierung auf die klassischen Auslegungsmethoden (grammatikalisch, systematisch, historisch, teleologisch) erweckt den Anschein, man könne schon durch Auslegung und anschließende Subsumtion rational und nachprüfbar bestimmen, ob ein einfaches Gesetz einem Kompetenztitel zugeordnet werden kann. Eine solche klassisch-hermeneutische Methode81 wäre aber nur möglich, wenn man die Ansicht verträte, die Interpretation von Kompetenznormen folge denselben Regeln wie die der einfachen Gesetze. Damit wird die Frage bedeutsam, ob Kompetenznormen in qualitativer Hinsicht mit sonstigem niederrangigen Recht vergleichbar sind. Anknüpfend an Ernst-Wolfgang Böckenförde setzt eine solche Vergleichbarkeit voraus, dass die Norm „ein relativ hohes Maß an inhaltlicher Bestimmtheit, Sinnentschiedenheit und normativ-begrifflicher Durchbildung der Gesetzesregeln“ aufweist. Sie müsste sich durch eine „inhaltsgewisse Verbindung von Tatbestand und Rechtsfolge, nicht [durch] eine bloße Zielprogrammierung“ auszeichnen. Ferner benötige sie „einen Kosmos schon bestehender strukturgleicher Regelungen“.82 Notwendig ist damit ein Zusammenhang ausgeformter Regelungen; die Kompetenznormen müssen in eine begrifflich ausdifferenzierte Systematik eingebettet sein, die in der Lage ist, die einzelne Norm inhaltlich genau zu fixieren und weiter auszuformen. Böckenförde hat in diesem Zusammenhang scharfsinnig begründet, dass die Verfassung im Gegensatz zu dieser Charakterisierung fragmentarisch und bruchstückhaft ist. Die Verfassung als Rahmenordnung schließe es aus, sie mithilfe der klassischen Auslegungsmethoden zu interpretieren. Die Verfassungsinterpretation setze zusätzliche Auslegungsmittel voraus, sie blieben aber bei der klassisch-hermeneutischen Methode unreflektiert und unkontrolliert und somit eine Einbruchstelle für interpretatorische Beliebigkeit.83 Böckenförde weist in diesem Zusammenhang aber auch darauf hin, dass im Kompetenzbereich durchaus detaillierte Regelungen vorhanden sind.84 Und in der Tat lässt sich die bundesstaatliche Zuständigkeitsverteilung auf eine bestehende systematische Struktur und Ordnung zurückführen. Sie beruht auf einem einheitlichen Begriff der Kompetenz und enthält eigenständige Funktionen, Prinzipien und Typologien.85 Kompetenznormen als Ordnungsvorschriften lassen sich deshalb auch von den wertgebundenen Verfassungsnormen, wie den Staatsstrukturprinzipien und Grundrechten, unterscheiden.86 81
Begriff nach Böckenförde, NJW 1976, 2089 (2090). Böckenförde, NJW 1976, 2089 (2091). 83 Böckenförde, NJW 1976, 2089 (2091). 84 Böckenförde, NJW 1976, 2089 (2091). 85 Hierzu bereits Erstes Kapitel. 86 Nach Forsthoff, in: Frey, Rechtsstaat im Wandel, S. 144 lässt sich die starke Fixierung auf die klassischen Methoden der Auslegung darauf zurückführen, dass bei Abgrenzungsfragen zwischen Bund und Ländern, anders als bei der Interpretation von Grundrechten, die „soziale 82
III. Wortlautauslegung
105
Während diese als Optimierungsgebote und somit prinzipienhaft formuliert sind, stellen Kompetenzen Musterbeispiele für regelgeleitete Normen dar.87 Bei der Kompetenzinterpretation stellen sich deshalb auch keine Abwägungsfragen. Wo dem Bundesverfassungsgericht bei der Grundrechtsinterpretation ein größerer Raum für Güterabwägungen eingeräumt wird, ist es bei der Kompetenznormkonkretisierung weitgehend auf die herkömmlichen Auslegungskriterien angewiesen.88 Auch Balancekriterien wie die Subsidiarität oder das Gebot der Bundestreue eignen sich nicht als Leitlinien der Zuständigkeitsverteilung.89 Insbesondere enthält die Kompetenzordnung, wie noch zu zeigen sein wird, spezifische Auslegungsinstrumente (Typusbegriff, Sachzusammenhänge, Annexkompetenzen), die der Offenheit der Verfassungsordnung hinreichend Rechnung tragen.
III. Wortlautauslegung Grundsätzlich gibt es keine allgemeinverbindliche Reihenfolge der einzelnen Interpretationsarten. Zwar wird jede Auslegung mit dem Wortlaut beginnen90, dabei sollte aber nicht unbesehen bleiben, dass auch die Bestimmung des Wortlauts von anderen Auslegungsfaktoren abhängig ist und ein grammatikalisches Verständnis nur im Verbund gedacht werden kann.91 Denn auch das Verstehen des Wortlauts setzt den gedanklichen Rückgriff auf die mit den betreffenden Zeichen (Wort, Text) verbundenen systematischen und finalen Dimensionen voraus.92 Auch das Bundesverfassungsgericht verwendet die Wortlautauslegung in der Regel nur als Startpunkt für die Normkonkretisierung, ohne die Norm isoliert von anderen Auslegungsvarianten abschließend anwenden zu wollen.93
Komponente“ fehle, die sozialstaatlichen Erwägungen zugänglich sei. Außerdem stünden sich „Spieler und Gegenspieler gegenüber, zwischen denen eine wesentliche Modifikation der ‚Spielregeln‘ […] zu erheblichen juristischen und politischen Komplikationen führen müßte.“ Ähnlich auch Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 60 ff.; ders.; in: Berliner Kommentar, Art. 70 Rn. 26. 87 Zur Unterscheidung von Regeln und Prinzipien vor allem Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 71 ff.; ders., Begriff und Geltung des Rechts, S. 117 ff.; grundlegend auch Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 22 ff. 88 Ähnlich schon Roellecke, in: FG BVerfG, S. 46. 89 Andere Ansicht Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 375 ff.; Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, S. 201 ff.; Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 405 f. Zur hier vertretenen Ansicht Erster Teil.V.6. Die Bundestreue kann aber als Kompetenzausübungsschranke Anwendung finden; dazu Viertes Kapitel III. 4. 90 Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 141; speziell zur Interpretation von Kompetenznormen Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 70 Rn. 29. 91 F. Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, Rn. 359. 92 Funk, Das System der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung, S. 67 f. 93 Zum Beispiel für die Bestimmung von Begriffen wie Fernmeldewesen (BVerfGE 12, 205 [226]), Seewasserstraßen und allgemeiner Verkehr (BVerfGE 15, 1 [9]) oder Strafrecht (BVerfGE 109, 190 [212]).
106
2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Die Wortinterpretation eignet sich dazu, völlig fernliegende Deutungen, die mit dem offensichtlich Gemeinten unvereinbar sind, bereits im Vorfeld auszuschließen und beschränkt sich darauf, den Bedeutungsspielraum der Norm auszuloten.94 Davon abgesehen ist sie verhältnismäßig unergiebig.95 Dies hängt damit zusammen, dass Wörter in unterschiedlichen sachlichen und zeitlichen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen zukommen können.96 Zum anderen stehen auch die einzelnen Kompetenztitel der Art. 73 und Art. 74 GG nicht für sich allein. Ihr scheinbar eindeutiger Wortlaut kann mit anderen Kompetenztiteln im Widerspruch stehen oder durch sie eingeschränkt werden. So erweckt Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG bei isolierter Betrachtung den Anschein, das Recht der Wirtschaft umfasse alle Rechtsvorschriften, die wirtschaftliche Aspekte betreffen. Dass dem nicht so ist, zeigen die vielen anderen Kompetenztitel, die auf spezielle wirtschaftliche Sachverhalte Bezug nehmen.97 Die Bedeutung der Wortlautauslegung beschränkt sich also in positiver Hinsicht auf ihre Indizwirkung, in negativer Hinsicht auf ihre Grenzwirkung.98 Die Schwierigkeiten einer grammatikalischen Interpretation von Kompetenztitel erhöhen sich darüber hinaus dadurch, dass die Residualkompetenzen der Länder nicht wörtlich benannt werden. Die einzelnen Bereiche der Länderhoheiten, wie Gefahrenabwehr, Kultur und Religion sind mangels Titulierung nur unkonturierte Rechtsbegriffe. Die Wortlautauslegung gilt somit nur für Bundeskompetenzen, allerdings mit der Folge, dass sich die argumentative Auseinandersetzung auf die titulierten Zuständigkeiten beschränkt.
IV. Systematische Auslegung Da die Kompetenztitel nicht für sich alleine stehen, sondern zu einer Kompetenzordnung gehören, ergibt sich ihr Inhalt aus der Stellung im Zusammenhang der Art. 70 ff. GG. Das Ermitteln des Bedeutungszusammenhangs der Norm betrifft die systematische Auslegung. Es geht darum, die zu subsumierenden Kompetenznormen möglichst widerspruchsfrei in den Kontext der einzelnen Kompetenzvorschriften einzufügen.
94
Zippelius, Juristische Methodenlehre, § 9 II a), S. 46; Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft; krit. zur Behauptung, der Wortlaut sei die absolute Grenze einer möglichen Interpretation Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, passim. 95 F. Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, Rn. 356. Speziell zur Auslegung von Kompetenznormen Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 25. 96 Zur Relativität der Sprache Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 38 ff. insbesondere unter Berufung auf Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. 97 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit Art. 73 I Nr. 4, 5, 5a, 7, 9, 14 GG sowie Art. 74 I Nr. 12, 13, 15, 16, 17, 190, 19a, 20, 24 GG; im Bereich der Länderzuständigkeiten etwa die Kommunalwirtschaft. 98 F. Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, Rn. 480.
IV. Systematische Auslegung
107
Zum System99 gehören vor allem die in Art. 73 und Art. 74 GG genannten und die weiteren im Grundgesetz verstreuten Kompetenztitel als auch das Verhältnis dieser titulierten Zuständigkeiten zu den Residualkompetenzen der Länder.100 Der Blick auf das System der Zuständigkeitsverteilung zeigt nicht selten, dass vermeintlich klare Begriffe enger ausgelegt werden müssen, als der erste Eindruck es vermuten lassen würde. So wird ein allgemein gehaltener Begriff in der Regel dann einschränkend ausgelegt, wenn ein Kompetenztitel eine Materie eines allgemeinen Begriffs aufgreift und für diesen eine spezielle Ermächtigung schafft. Der Bereich der Kultur ist etwa den Ländern zur Gesetzgebung unterstellt. Diese allgemein gehaltene Residualkompetenz bedeutet aber nicht, dass dem Bund nicht auch eine Reihe spezifisch kulturbezogener Gesetzgebungskompetenzen ausdrücklich zugewiesen sind (gegenwärtig etwa Art. 73 Abs. 1 Nr. 5a, Art. 74 Abs. 1 Nr. 10 und Nr. 13 GG).101 Die Reichweite der allgemeinen Kulturhoheit der Länder endet jedenfalls da, wo dem Bund ausschließliche oder konkurrierende Zuständigkeiten zur Regelung spezieller Kulturangelegenheiten zustehen. Auch die öffentliche Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG), die vom Bundesverfassungsgericht explizit nicht eng ausgelegt wird102, erfährt eine Einschränkung durch spezielle fürsorgerische Bereiche (etwa Art. 74 Abs. 1 Nr. 10, Nr. 12, Nr. 13 GG). Auch das tendenziell weit verstandene Recht der Wirtschaft103 ist durch die Zusammenschau mit anderen Kompetenztiteln begrenzt. In dem Bundeswasserstraßen-Urteil des Bundesverfassungsgerichts versagte das Gericht beispielsweise den Rekurs auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG mit dem Hinweis auf die Rahmengesetzgebungskompetenz für den Wasserhaushalt aus Art. 75 Nr. 4 GG a. F. (heute Art. 74 Abs. 1 Nr. 32 GG).104 Insgesamt sieht das BVerfG in dem Kompetenztitel für das Recht der Wirtschaft nur einen subsidiären Auffangtatbestand gegenüber kompetentiellen Spezialregelungen.105 Ein weiterer systematischer Aspekt ist die Berücksichtigung der beidseitigen Kompetenzverteilung.106 Nicht nur dem Bund, sondern auch den Ländern sind eigene bestimmbare Kompetenzen zugeordnet. So haben die Länder unter anderem Zuständigkeiten für die Bereiche der Kultur und Presse, der allgemeinen Gefahrenabwehr, für das Kommunalrecht oder für die Religionsgesetzgebung. Da die einzelnen Kompetenzzuweisungen im Querschnitt zueinander stehen, einen wechselseitigen Bezug haben und sich gegenseitig ergänzen, ist es angezeigt, bei der Auslegung eines Kompetenztitels auch die Reichweite des anderen Kompetenz
99
Zur Frage, in welchem Umfang sich Recht als System begreifen lässt Peine, Das Recht als System, passim. 100 Zu den einzelnen Kompetenztypen Erstes Kapitel IV. 101 BVerfGE 135, 155 (197, Rn. 104); ausführlich dazu Lenski, Öffentliches Kulturrecht, S. 100 ff. 102 BVerfGE 88, 203 (329); 97, 332 (341); 137, 108 (165 Rn. 135); 140, 65 (78 Rn. 29). 103 BVerfGE 28, 119 (146); 68, 319 (330); krit. zum weiten Verständnis Kunig, JR 1986, 491 ff. 104 BVerfGE 15, 1 (24). 105 BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 177. 106 Erstes Kapitel V. 3.
108
2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
trägers mit im Auge zu behalten. Das ist umso mehr geboten, weil es in der Verfassungspraxis nicht unüblich ist, dass sich Bundes- und Länderzuständigkeiten partiell berühren. Dies ist für die Bereiche Presse und Strafrecht107, Recht der Wirtschaft und Gefahrenabwehr108 oder Kultur109, öffentliche Fürsorge und bildungsbezogene Fürsorge110, Steuerkompetenz und Sachkompetenz111 und in zahlreichen anderen Fällen hinlänglich dokumentiert. In solchen Fällen ist es angezeigt, sowohl die Bundes- als auch die Landeskompetenzen konkret zu bestimmen. Jede Zuweisung von Kompetenzen an einen Kompetenzträger definiert zugleich den „Kompetenzgehalt“ des anderen Kompetenzträgers mit. Am Beispiel der öffentlichen Fürsorge lässt sich diese Beidseitigkeit demonstrieren. Anders als noch in der Weimarer Verfassung besteht keine konkurrierende Zuständigkeit für die gesamte „Wohlfahrtspflege“. Diese konnte das Reich noch gem. Art. 9 Abs. 1 WRV wahrnehmen. Nach dem Grundgesetz beschränkt sich die konkurrierende Zuständigkeit aber lediglich auf die öffentliche Fürsorge. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts setzt Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG voraus, „dass eine besondere Situation zumindest potenzieller Bedürftigkeit besteht, auf die der Gesetzgeber reagiert“112. Die öffentliche Fürsorge umfasst somit nicht die gesamte Wohlfahrtspflege, sondern reagiert auf eine Lage konkreter Hilfsbedürftigkeit und ist somit auf Fürsorgefälle begrenzt. Wenngleich das Bundesverfassungsgericht den Anwendungsbereich der öffentlichen Fürsorge in der Entscheidung zum Betreuungsgeldgesetz sehr weit interpretiert113, zeigt die Rechtsprechung jedenfalls, dass nicht jede Betreuung durch den Staat genügt. Daraus folgt zugleich, dass die Zuständigkeit für die allgemeine Wohlfahrtspflege, die keiner titulierten Zuständigkeit subsumiert werden kann, der Residualkompetenz der Länder angehört. Will man nun also eine bestimmte Regelung subsumieren, so gilt es, die sich überschneidenden Kompetenzen gleichwertig zu berücksichtigen.114 Noch stärker hält sich das Bundesverfassungsgericht bei der öffentlichen Fürsorge zurück, wenn eine kommunalrechtliche Materie berührt wird: „Bei der Bestimmung der Reichweite der aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG folgenden Gesetz gebungskompetenz ist jedoch Zurückhaltung geboten, wenn mit ihr Regelungen gerechtfertigt werden sollen, von denen nach dem Grundgedanken der Art. 70 ff. GG anzunehmen ist, dass der Regelungsgegenstand im Wesentlichen oder weitgehend in der Kompetenz der Länder verbleiben soll. Das gilt insbesondere mit Blick auf das Kommunalrecht, das nicht nur zum ‚Hausgut‘ jener Zuständigkeiten zählen dürfte, das die Organisationshoheit der Länder 107
BVerfGE 7, 29 (Pressedelikte); 36, 193 (Zeugnisverweigerungsrecht für Journalisten); die letztere Entscheidung betraf allerdings das gerichtliche Verfahren (Art. 74 I Nr. 1 Var. 4 GG). 108 BVerfGE 8, 143 (Beschussgesetz); 28, 119 (Spielbank); 41, 344 (§ 24 GewO). 109 BVerfGE 45, 1; 135, 155 (Filmförderungsgesetz). 110 BVerfGE 97, 332 (Kindergartenbeiträge). 111 BVerfGE 98, 83 (Landesrechtliche Abfallabgabe); 98, 106 (Kommunale Verpackungssteuer). 112 BVerfGE 140, 65 (78 Rn. 29). 113 Rixen, NJW 2015, 3136 (3137) spricht sogar von einer „Entgrenzungstendenz“. 114 So auch Kunig, JR 1986, 191 (496) in Bezug auf das Recht der Wirtschaft (Art. 74 I Nr. 11 GG).
IV. Systematische Auslegung
109
prägt und den Ländern daher unentziehbar verbleiben muss, sondern das der verfassungsändernde Gesetzgeber im Jahre 2006 auch noch mit einem generellen Durchgriffsverbot gegen Zugriffe des Bundes abgesichert hat (Art. 84 Abs. 1 Satz 7, Art. 85 Abs. 1 Satz 2 GG).“115
Ähnlich agiert das Bundesverfassungsgericht bei der Auslegung der auswärtigen Gewalt (Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG).116 Dem Gericht ist bewusst, dass eine zu weite Erstreckung der auswärtigen Gewalt auf jeden Auslandsbezug die Zuständigkeiten der Länder untergräbt: „Der Begriff der auswärtigen Angelegenheiten in Art. 73 Nr. 1 GG kann nicht ohne Rücksicht auf die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen im übrigen bestimmt werden. Zum einen darf er nicht in einer Weise ausgelegt werden, daß die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern unterlaufen wird. Zum anderen muß er sich in die verschiedenen Kompetenzzuweisungen an den Bund einfügen. Unter beiden Gesichtspunkten verbietet sich ein Verständnis des Begriffs, nach dem alle Tatbestände mit Auslandsbezug zu den auswärtigen Angelegenheiten zählen. Andernfalls ließe sich weder die Grenze zwischen Bundes- und Landeskompetenzen aufrechterhalten noch ergäben diejenigen Titel in den Katalogen der Bundeskompetenzen einen Sinn, die – wie etwa Art. 73 Nr. 3, 5 und 10 oder Art. 74 Abs. 1 Nr. 4 GG – ebenfalls Materien mit Auslandsbezug zum Gegenstand haben.“117
Eine völlig einseitige Auslegung, die es dem Bund ermöglicht, unter Ausnutzungen der Lücken in die Gesetzgebungsreservate der Länder einzudringen, ist somit aus systematischen Gründen gesperrt. Gesetzgebungszuständigkeiten dürfen nicht so ausdehnend interpretiert werden, dass die Zuständigkeiten der Länder rechtlich und faktisch ausgehöhlt werden.118 Nicht weiter zielführend ist es aber wiederum, wenn einige Stimmen von einer Schutztendenz der Verfassung zugunsten der Ländergesetzgebung ausgehen.119 Diese Annahme ähnelt dem Gedanken des Subsidiaritätsprinzips und teilt dessen Bedenken.120 Schwierige Auslegungs- und Abgrenzungsfragen würden mithilfe derartiger Postulate abgekürzt und mit subjektiven Funktionserwägungen ersetzt, welche Einheit eine Kompetenz effektiver wahrnehmen könne bzw. wie „viele Länderkompetenzen noch verbleiben“. Das Postulat „Schutz der Ländergesetzgebung“ führt darüber hinaus zu einem Zirkelschluss, denn es setzt etwas voraus, was interpretatorisch erst zu beweisen gilt: Die Länderzuständigkeit ergibt sich schließlich erst nach erfolgter Auslegung. Erst wenn die Reichweite der Länderhoheiten feststeht, kann man von einem Schutz dieser Hoheiten sprechen. 115
BVerfGE 137, 106 (165). Zu Kompetenzfragen der auswärtigen Gewalt am Beispiel des Auslandsrundfunks Stephan, ZAR 2016, 292 ff. 117 BVerfGE 100, 313 (368) im Hinblick auf die Tätigkeit des Bundesnachrichtendienstes. 118 Dazu schon früh BVerfGE 13, 367 (373); 61, 149 (205) allerdings als Gesichtspunkt der Bundestreue; vgl. ferner Bullinger, DÖV 1970, 797 ff.; ders., Die Mineralölfernleitungen, S. 55. 119 Bullinger, DÖV 1970, 797 (799); ders., AöR 96 (1971), 237 (253); ders., Die Mineralölfernleitungen, S. 55; Scholz, in: FG BVerfG S. 270 f.; Wipfelder, DVBl 1982, 477 (482); ähnlich auch Schubert, in: Sachs, GG, Art. 30 Rn. 9; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 138; Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 391. 120 Erstes Kapitel V. 6. 116
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Deshalb gilt festzuhalten: Dem Schutz der Länderzuständigkeit wird vor allem dann Rechnung getragen, wenn in systematischer Hinsicht die Beidseitigkeit der Kompetenzordnung respektiert wird und sowohl die Bundes- als auch die Länderkompetenzen gleichwertig berücksichtigt werden. Insgesamt lassen sich aus der systematischen Stellung der Kompetenznormen oft hilfreiche Rückschlüsse ziehen. Eine rein isolierte Betrachtung der Systematik dürfte aber nur selten ergiebig sein. Das liegt daran, dass das Grundgesetz die einzelnen Kompetenztitel lediglich auflistet, ohne dass die Auflistung einer spezifischen Ordnung folgt. Dies bietet nicht viele Anhaltspunkte für zwingende systematische Argumente.121 Die systematische Auslegung kann zwar wertvolle Indizien vermitteln, darüber hinaus versagt sie aber, wenn es darum geht, ausschließlich aus ihr entscheidende Erkenntnisse zu ziehen. Das wird vor allem in den Grenzfällen deutlich: Ob das Zeugnisverweigerungsrecht für Presseangehörige dem Presserecht oder dem gerichtlichen Verfahren angehört122, die nachträgliche Sicherungsverwahrung dem Strafrecht oder dem Gefahrenabwehrrecht unterfällt123 oder Kindergartenbeiträge zur öffentlichen Fürsorge oder zur Kompetenz für das Bildungswesen zählen124, wird man kaum mit systematischen Erwägungen abschließend beurteilen können.
V. Kompetenz, Typus, Tradition – Methodische Leitlinien einer entstehungszeitlichen Kompetenzinterpretation 1. Die historische Auslegung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Mithilfe der historischen Auslegung wird anhand von historischen Dokumenten auf die Vorstellung des Verfassungsgebers bzw. des verfassungsändernden Verfassungsgebers geschlossen. Von den sonstigen Auslegungsinstrumenten unterscheidet sich die historische durch die Einbeziehung von Texten und Ideen, die außerhalb des geltenden Rechts stehen.125 Während die historische Auslegung mit außer Kraft gesetzten Normtexten arbeitet, arbeitet die genetische mit Nicht-Normtexten.126 So greift sie als genetische Auslegung (historische Auslegung im engeren Sinne) auf 121
Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 28. BVerfGE 36, 193. 123 BVerfGE 109, 190. 124 BVerfGE 97, 332. 125 F. Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, Rn. 360. 126 Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, S. 44; F. Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Rn. 360; H.-P. Schneider, in: FS Stern, S. 905. Auf die Unterscheidung von genetischer und historischer Auslegung verzichten Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III, S. 674 ff.; Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 149 ff.; Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 30; Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, S. 68 ff. 122
V. Kompetenz, Typus, Tradition
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Gesetzesmaterialien (Vorarbeiten, Entwürfe, Motive, Verhandlungen im Rahmen der Gesetzgebung) zurück. Als historische Auslegung (im weiteren Sinne) bezieht sie die gesamte historische Entwicklung mit ein und ermittelt zugleich den „Rechtssatz in seiner Geschichtlichkeit, seiner historischen Verwurzelung.“127 Es geht also darum, mithilfe des Blickes auf das damalige Recht Rückschlüsse auf das richtige Verständnis des heutigen Rechts zu ziehen. In Bezug auf Kompetenznormen befasst sich die historische Auslegung mit der Kompetenzverteilung zwischen Reich und Ländern zur Zeit der Weimarer Reichsverfassung oder sogar der Reichsverfassung von 1871. Obgleich das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung auf den „objektivierten Willen des Gesetzgebers“ abstellt und von der historischen Auslegung nur affirmativen Gebrauch machen will128, hat es diese Position, wie bereits gezeigt, nie rigide vertreten.129 Besonders bei der Kompetenzrechtsprechung kann von einem bloß affirmativen Charakter der historischen Auslegung keine Rede sein.130 Zwar gälten auch hier die allgemeinen Regeln, dennoch sei der historischen Interpretation besonderes Gewicht beizumessen.131 In diesem Zusammenhang betont das Bundesverfassungsgericht, den Merkmalen des „Traditionellen“ oder „Herkömmlichen“ sowie der Entstehungsgeschichte und Staatspraxis komme eine wesentliche Bedeutung zu.132 Auch in jüngeren Entscheidungen greift es immer wieder auf diese Formulierung zurück. So heißt es beispielsweise in der Altenpflege-Entscheidung: „Bei der Bestimmung der einzelnen Materien, die Art. 74 GG aufzählt, verdienen der Grundsatz des Art. 30 GG und der historische Zusammenhang in der deutschen Gesetzgebung besondere Aufmerksamkeit; dem Merkmal des ‚Traditionellen‘ oder ‚Herkömmlichen‘ kommt dabei wesentliche Bedeutung zu (BVerfGE 7, 29 [44]; 28, 21 [32]; 33, 125 [152 f.]). Aus diesem Grunde gewinnen Entstehungsgeschichte des Art. 74 GG und Staatspraxis für die Auslegung besonderes Gewicht (vgl. BVerfGE 33, 125 [152]; 61, 149 [175]; 68, 319 [328]).“133
Die Bedeutung der historischen Auslegung für die Kompetenzbestimmung drückt sich daneben häufig in dem Umfang entsprechender Ausführungen sowie in 127
Stern, Staatsrecht, Bd. 1, S. 126; anders aber Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 58: „Es [das BVerfG, F.S] ist über den Kanon der als maßgeblich angesehenen Auslegungsmethoden hinausgegangen, indem es z. B. auf weiter zurückliegende Entwicklungen als die unmittelbare Entstehungsgeschichte der Norm zurückgegriffen hat“. 128 BVerfGE 1, 299 (312); 10, 234 (244); 35, 263 (278); 105, 135 (157); 133, 168 (205 Rn. 66); 144, 20 (213 Rn. 555). 129 Zweites Kapitel I. 2. 130 Zu dieser Beobachtung auch Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 35; Jarass, NVwZ 2000, 1089; Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 73. 131 BVerfGE 138, 261 (273 Rn. 29). 132 BVerfGE 33, 125 (152 f.); 40, 20 (29); 41, 205 (220); 48, 367 (373); 67, 299 (315); 68, 319 (328); 97, 198 (218 f.); 106, 62 (105); 133, 34 (55 Rn. 55); BVerfGE 145, 171 (193 Rn. 66); BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 110. 133 BVerfGE 106, 62 (105).
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
der Bedeutung für das Auslegungsergebnis aus.134 Das ist nur auf den ersten Blick verblüffend: In Wirklichkeit macht das Bundesverfassungsgericht nicht nur bei Kompetenznormen, sondern bei allen Normen des Staatsorganisationsrechts von der Entstehungsgeschichte großzügigen Gebrauch. So hat Blankenagel die vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten der historischen Auslegung typologisiert. Er hat herausgearbeitet, dass das Bundesverfassungsgericht die Entstehungsgeschichte „als Darstellung verfassungsmäßiger Motive des Gesetzgebers“, „als Darstellung eines einwandfreien Verfahrens“, als „Entstehungsgeschichte der Unklarheit“ oder auch als „Entstehungsgeschichte der Verfassungswidrigkeit“ nutzt.135 Bei der Auslegung von Kompetenznormen kommt ein weiterer Punkt hinzu: Der Stellenwert einer Methode hängt im Wesentlichen davon ab, was sie im einzelnen Fall hergibt.136 Grammatikalische, systematische und teleologische Erwägungen sind bei der Auslegung von Kompetenznormen oft wenig ergiebig.137 Die Berücksichtigung der historischen Auslegung und somit des Willens des Verfassungsgebers (bzw. des verfassungsändernden Gesetzgebers) kommt deshalb bei der Auslegung von Kompetenznormen naturgemäß eine besondere Bedeutung zu. Diese Bedeutung wurde vom Bundesverfassungsgericht138 in dem Urteil zum Staatshaftungsgesetz deutlich und pointiert beschrieben: „Die Zuständigkeitsgrenzen zwischen Bund und Ländern bilden den formalen Rahmen der Gesetzgebung im Bundesstaat und bedürfen als solche in hohem Maße der Festigkeit und Berechenbarkeit. Darin liegt die Bedeutung, die der herkömmlichen Staatspraxis zukommt: Sie vermittelt nicht nur die im allgemeinen bestmögliche Gewißheit über die hergebrachten Grenzen des Sachbereichs, sondern zeigt auch an, ob und wie der historische Gesetzgeber eine Kompetenz genutzt hat und wieweit sich dadurch unter dem übergeordneten Gesichtspunkt der Kontinuität der Kompetenzordnung eine Bestandsgarantie herausgebildet hat.“139
Das Bundesverfassungsgericht verknüpft in dieser Entscheidung die Notwendigkeit einer festen und berechenbaren Auslegung der Kompetenzordnung140 mit der besonderen Bedeutung der historischen Auslegung. Zuständigkeitsnormen müssen möglichst klar und bestimmbar ausgelegt werden. Da die Intentionen des Verfassungsgebers in der Regel relativ gut nachprüfbar sind, ist es folgerichtig, 134 Die besondere Berücksichtigung der historischen Interpretation wird vor allem deutlich, wenn das BVerfG an Vorschriften der WRV anknüpft (BVerfGE 7, 29 [38]; 15, 1 [7]; 26, 338 (370]; 33, 52 (61 ff.); 42, 20 [29 ff.]; 61, 149 [195 ff.]; 67, 299 (315 ff.); 68, 319 [328]; 97, 198 [219 ff.]; 109, 190 [213 ff.]; BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 116 ff.) oder sich an Begrifflichkeiten orientiert, die dem verfassungsändernden Gesetzgeber vor Augen standen (BVerfGE 96, 288 [301] am Beispiel des Begriffs der Behinderung nach Art. 3 III 2 GG). Eine besondere Berücksichtigung der genetischen Auslegung findet sich etwa in BVerfGE 110, 141 (170 ff.); 145, 171 (195 Rn. 72 ff.). 135 Blankenagel, Tradition und Verfassung, S. 122 f. 136 So zutreffend Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 166. 137 Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 23 ff. Anders aber Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Bd. 8, 3. Aufl., Art. 70 Rn. 65: „Systematische Erwägungen spielen bei der Ermittlung des Sinnes der Worte eine erhebliche Rolle“. 138 BVerfGE 61, 149. 139 BVerfGE 61, 149 (175 f.). 140 Zweites Kapitel II. 1.
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der historischen und genetischen Auslegung ein besonderes Gewicht zuzuschreiben. Denn dort, „wo der Wortlaut lapidar, die Querbezüge zum übrigen Verfassungsrecht spärlich und ein bestimmter mit einer Kompetenzzuordnung verfolgter Zweck nur schwer erkennbar ist, erweist sich die historische Auslegung nicht selten als die ergiebigste Quelle nachvollziehbarer Auslegungsargumente.“141 Die in der Entscheidung zur Staatshaftung anklingende Betonung einer „kompetenziellen Kontinuität“ und die daraus hervorgehende Berücksichtigung historischer Erwägungen findet somit ihren Grund in den inhaltlich und materiell relativ unbestimmten Kompetenznormen. 2. Wille des Gesetzgebers als Chimäre? Gegen die Heranziehung der historischen und genetischen Auslegung wird häufig eingewandt, in der parlamentarischen Demokratie gebe es gar keinen willensfähigen Gesetzgeber. Zweifellos steht die Vorstellung eines einheitlichen Willens des Gesetzgebers in einem strukturellen Spannungsverhältnis zur Staatspraxis, die auf dem freien Mandat der Abgeordneten, der faktischen Macht der Regierungskoalition sowie auf parlamentarische Kompromissentscheidungen beruhen.142 Die Konstruktion einer homogenen Willensentscheidung des Parlaments kann somit immer nur eine relative sein.143 Deshalb wird darauf hingewiesen, die Vorstellung eines „Willens“ vereinfache komplexe gruppenbezogene Vorgänge; insbesondere sei der Gesetzgeber in der demokratischen Ordnung der Gesetzgeber keine Einzelperson. Die Rede vom „Willen des Gesetzgebers“ sei nur eine sprachliche Redewendung und trage zur Methodik nichts bei.144 Zwar erkennt die Kritik zutreffend die bloße metaphorische Bedeutung vom „Willen des Gesetzgebers“145, dennoch geht sie an der Sache vorbei: Das „Willensdogma“ bezeichnet keinen natürlichen Willen, sondern dient der Lösung von 141
Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 44. Frühere Abhandlungen sahen in der Berücksichtigung des Willens des Gesetzgebers ein Überbleibsel „absolutistischer Staatsdoktrin“, wonach im Wege der authentischen Interpretation der Wille des Königs zu entfalten sei. Diese Form der Auslegung könne im konstitutionellen Staate nicht übernommen werden, da der Wille des Gesetzgebers nur noch fiktiven Charakter habe; lehrreich dazu Lukas, in: FG Laband, Bd. 1, S. 387 ff., insbesondere S. 405–407; vgl. auch Rosanvallon, Die gute Regierung, S. 35 ff. Rosanvallon beschreibt anhand der französischen Revolution, dass der Gedanke der Allgemeinheit des Gesetzes ursprünglich mit einem „Kult der Unpersönlichkeit“ (S. 47) verbunden war. Es liegt auf der Hand, dass bei einem solchen Gesetzesverständnis der individuelle Wille der gesetzgebenden Personen keine Berücksichtigung finden konnte. 143 Kluth, in: ders. / K rings, Gesetzgebung, § 1 Rn. 4. 144 F. Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, S. 96. Die Autoren sprechen weiter davon, der Versuch, die Metapher vom Willen des Gesetzgebers wörtlich zu nehmen, ähnele dem Versuch, „eine Motorhaube als Kopfbedeckung zu verwenden“. Diese Kritik findet sich schon bei Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 169 ff.; ferner auch Heun, AöR 116 (1991), 185 (200 ff.). 145 K. F. Röhl / H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 627 f. 142
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Zurechnungsfragen.146 Zwar ist der Gesetzgeber keine realpsychologische Größe. Dies darf aber nicht den Blick darauf verstellen, dass sich hinter dem Bild vom Willen des Gesetzgebers „sehr wohl Handlungen, Absichten, Interessen und Willen natürlicher Menschen verbergen“147. Zwar hat Heun beobachtet, dass verschiedene Gerichte – so auch das Bundesverfassungsgericht – mitunter den Willen des historischen Verfassungsgebers instrumentalisieren und damit die „erforderliche objektiv-neutrale Distanz und Unparteilichkeit eklatant vermissen [lassen, F. S.], die für eine überzeugende Feststellung des wahren Willens des Verfassungsgebers notwendig wäre“148. Diese Beobachtung spricht aber nur gegen einen allzu sorglosen Umgang mit Gesetzesmaterialien, nicht aber gegen die Heranziehung historischen Materials an sich.149 Zieht der Interpret Gesetzesmaterialien oder Normvorläufer heran, so muss er zweierlei beachten: Er muss sich erstens der bloßen Indizfunktion für die Auslegung bewusst sein.150 Zweitens muss er reflektieren, warum er welches Material hinzuzieht und weshalb gerade dieses für die Auslegung bedeutsam sein soll. Ohnehin muss die Gefahr der bewussten oder unbewussten Instrumentalisierung des Willens des Gesetzgebers nicht überbewertet werden. Schon gar nicht rechtfertigt es ein Verbot des Rückgriffs auf die Entstehungsgeschichte, weil die Gefahr auch bei anderen Methoden besteht. Vermeiden lässt sich die Instrumentalisierung, wenn man die einzelnen Auslegungsgruppen nicht voneinander isoliert, sondern im Kontext betrachtet. Das Argument von der Schwierigkeit eines Nachweises eines eindeutigen Willens greift nur dann, wenn man dem Wortlaut sowie der Systematik keine Bedeutung schenkte.151 Des Weiteren muss auch bestritten werden, dass eine normative Annäherung an die Figur des historischen Gesetzgebers überhaupt nicht möglich erscheint. Wischmeyer hat anhand seines Konzepts der Rechtssetzung als kollektiv intentionale Aktivität überzeugend herausgearbeitet, dass es unter Umständen durchaus möglich erscheint, gruppenbezogene Entscheidungsverfahren als Willensbildungsprozesse zu konstruieren. Es komme darauf an, ob Einzeläußerungen und andere Materialien im Gesetzgebungsverfahren dem Parlament als Kollektiv zugerechnet werden können.152 Es ist prinzipiell möglich, den Vorgang der Willensbildung im Parlament, so wie er in den Materialien dokumentiert ist, jedenfalls in dem Umfang bei der Rechtsanwendung zu berücksichtigen, in dem sich darin ein gesetzgeberischer Plan zeigt. Deshalb ist nicht einzusehen, warum die so herausgearbeiteten legislativen Konzepte bei der Auslegung nicht verwendet werden sollten. Letztlich bezieht sich der Umgang mit Quellen also nicht auf die 146
Fleischer, AcP 211 (2011), 317 (323); Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 355. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 355. 148 Heun, AöR 116 (1991), 185 (200). So wohl auch Somek, JRP 6 (1998), 41 (56 ff.). 149 So auch Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 355. 150 Wischmeyer, JZ 2015, 957 (964). 151 Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 356. 152 Wischmeyer, Zwecke im Recht des Verfassungsstaates, S. 385; ders., JZ 2015, 957; vgl. aber auch Fleischer, AcP 211 (2011), 317 (323); ders., NJW 2012, 2087. 147
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Frage, ob diese genutzt werden dürfen, sondern darauf, welche Quellen in welchem Umfang auf die subjektiven Zwecke des Parlaments als Kollektiv zurückverweisen. 3. Die Berücksichtigung der Genese Mithilfe der genetischen Konkretisierung lässt sich anhand von Gesetzesmaterialien im Gesetzgebungs- bzw. Verfassungsgesetzgebungsverfahren auf den objektivierten Willen des Verfassungsgebers schließen. Das Auffinden von relevanten Gesetzesmaterialien ist zunächst eine Tatsachenermittlung.153 Erst in einem zweiten Schritt kommt die Schwierigkeit hinzu, die Quelle zu interpretieren und zu begründen, inwiefern die festgestellten Tatsachen auf den „objektivierten Willen des Verfassungsgebers“ zurückverweisen. Bei diesem Schritt muss beachtet werden, dass die zu interpretierenden Gesetzesmaterialien sprachliche Äußerungen sind und deshalb ihre Verwendung hermeneutischer Konkretisierung bedarf. Der Umgang mit Quellen ist in der Regel nicht nur die bloße Nachzeichnung eines Gesetzgebungsverfahrens zur Erforschung des „Willens des Gesetzgebers“. Vielmehr entwickelt der Interpret, bezogen auf den zu konkretisierenden Normtext, seine eigene Vorstellung über das legislatorische Konzept, das letztlich für die parlamentarische Willensbildung wesentlich gewesen ist. Die genetische Auslegung ist deshalb nur scheinbar eine besonders rationale Textinterpretation; sie ist vielmehr auch ein Akt individueller Schöpfung. Es geht im Sinne von Paul Grice154 um kommunikative Interpretation: Der Interpret bildet lediglich Hypothesen darüber, welche kommunikativen Intentionen dem Urheber des Materials zugeschrieben werden können.155 Der Erkenntnisgewinn genetischer Auslegung ist deshalb von vornherein begrenzt. Die genetische Auslegung kann nur deutlich machen, welches Bild der Interpret vom Gesetzgebungsverlauf gehabt hat. Hierin liegt im Übrigen ein wesentliches Argument gegen eine ausschließlich subjektive Auslegung. Die Verwendung von Gesetzesmaterialien ist nicht mit der „Erforschung des subjektiven Willens des Gesetzgebers“ gleichzusetzen. Allerdings wäre es kurzschlüssig, zu schlussfolgern, dass die genetische Auslegung deshalb keinen Platz im Kanon der Auslegung hat. Hieraus folgt lediglich, dass die genetische Auslegung – so wie die anderen Auslegungsinstrumente auch – nur eine begrenzte Steuerungskraft hat und der Gewichtung bedarf. Insbesondere reicht das bloße Auffinden einer Quelle im Gesetzgebungsverfahren nicht aus, um daraus ein Indiz für den Normgehalt herzuleiten.156 153
Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 294; zur Überzeugungskraft genetischer Argumente vgl. auch Jacobi, Methodenlehre der Normwirkung, S. 130. 154 Grice Studies in the Way of Words, S. 22 ff.; zu Grice etwa Kemmerling, Grice, in: NidaRümelin, Philosophie der Gegenwart, S. 199 ff. 155 Vgl. dazu auch Poscher, in: FS Schlink, S. 206. 156 Deshalb geht das BVerfG in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die in den Gesetzesmaterialien dokumentierten Vorstellungen der gesetzgebenden Instanzen „nicht mit dem objektiven Gesetzesinhalt gleichgesetzt werden“ können, vgl. BVerfGE 11, 126 (130); 62, 1 (45); 144, 20 (213 Rn. 555).
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Entscheidend ist vielmehr, ob es dem Interpreten gelingt, seine Vorstellung vom Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens sorgfältig anhand der Materialien zu begründen und so eine schlüssige Geschichte vom legislatorischen Konzept zu entwickeln.157 Er muss deutlich machen können, dass bestimmte parlamentarische Willensäußerungen tatsächlichen Einfluss auf die endgültige Fassung der Norm gehabt haben. Dazu muss sich die Genese erstens im abschließenden Wortlaut niederschlagen.158 Zweitens können genetische Erwägungen durch systematische und sonstige teleologische Aspekte begrenzt werden. Die Gesetzesmaterialien haben eine Informations- und Kontrollfunktion159, ohne dass ihnen die Autorität eines Gesetzestextes zukommt.160 Und drittens geben nicht alle Bemerkungen ein gleich geeignetes Bild vom abschließenden Normtext ab. Vielmehr können nur solche Materialien beachtet werden, die „Schlüsselmomente innerhalb der Entscheidungsstruktur des Gesetzgebungsverfahrens festhalten“.161 Maßgeblich sind nur solche Inhalte, aus denen sich umfassend ableiten lässt, dass sie eine Vorstufe der parlamentarischen Entscheidung waren und eben deshalb „dem Gesetzgeber“ zuzurechnen sind. Als methodisch fehlerhaft erweisen sich deshalb solche Versuche, mithilfe von willkürlich ausgewählten Einzeläußerungen den vorgeblichen Willen des Gesetzgebers auszuformen. Die methodische Zulässigkeit des Umgangs mit Materialien hängt davon ab, ob die heranzuziehende Quelle tatsächlich einen Entscheidungsvorgangsvorgang dokumentiert, der für die Entstehung eines „objektivierten Willens des Gesetzgebers“ zumindest mitursächlich ist. Ein Beispiel dafür, dass aus Materialien im Vorfeld des verfassungsändernden Gesetzgebungsverfahrens nicht immer Rückschlüsse gezogen werden können, liefert der Spielhallen-Beschluss des Ersten Senats.162 In der Verfassungsbeschwerde musste der Senat zur Verfassungsmäßigkeit einiger landesgesetzlicher Vorschriften in Berlin, Bayern und Saarland Stellung beziehen, die die Anforderungen an die Genehmigung und den Betrieb von Spielhallen verschärft haben. Es ging in dieser Entscheidung insbesondere um die Verfassungsmäßigkeit eines Verbots mehrerer Spielhallen an einem Standort, um Abstandsgebote, die Reduzierung der Gerätehöchstzahl und weiteren Maßnahmen zur Regulierung des Spielhallenbetriebs.163 Bis zur Föderalismusreform I des Jahres 2006 wurden spielhallenrechtliche Regelungen auf Grundlage des Rechts der Wirtschaft (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) bundesgesetzlich in den §§ 33c bis 33i GewO und der auf Grundlage von § 33f GewO erlassenen SpielV erlassen. Im Zuge der Föderalismusreform wurde das Recht der Spielhallen aus der konkurrierenden Kompetenz für das Recht der Wirtschaft he 157
Vgl. Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S.150. Vgl. etwa Gast, Juristische Rhetorik, Rn. 793. 159 H.-P. Schneider, in: FS Stern, S. 917. 160 Wischmeyer, JZ 2015, 957 (964) in Anlehnung an Schroth, Subjektive Auslegung, S. 78 ff. 161 Wischmeyer, JZ 2015, 957 (963). 162 BVerfGE 145, 20. 163 Die aktuelle Rechtslage des Spielhallenrechts wird durch den Ersten Glücksspieländerungsstaatsvertrag bestimmt (Staatsvertrag zum Glücksspielwesen in Deutschland vom 15. Dezember 2011). Die relevanten Vorschriften für Spielhalen finden sich in den §§ 24–26, 29 IV GlüStV. 158
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rausgenommen und in die ausschließliche Zuständigkeit der Länder überführt.164 Streitpunkt der anschließenden Diskussionen war insbesondere die Reichweite der Kompetenz der Länder für das Recht der Spielhallen. Viele Autoren haben in den Stellungnahmen zu den verschiedenen Spielhallengesetzen der Länder ausgeführt, die Zuweisung der Kompetenz für das Recht der Spielhallen an die Länder sei normativ-rezeptiv geprägt. Der verfassungsändernde Gesetzgeber habe vor allem die in § 33i GewO geregelte Erlaubnispflicht für den Betrieb einer Spielhalle vorgefunden und wollte diese einfachgesetzliche Regelung zum verfassungsrechtlichen Maßstab machen.165 Folglich müsse sich die Auslegung des Rechts der Spielhallen an der Reichweite von § 33i GewO orientieren.166 Nur herkömmliche Zulässigkeitskriterien und Anforderungen an die konkrete Lage oder Beschaffenheit der Betriebsräume bzw. sonstigen konkreten Gefahren, nicht aber Abstandsgebote oder Verbundverbote seien nach dieser Argumentation von der Kompetenz umfasst.167 Begründet wurde diese Ansicht unter anderem mit der Entstehungsgeschichte.168 Der Kompetenztitel wurde erstmals in der Projektgruppe 5 („Regionale Themen“) im Vorfeld der Föderalismusreform beraten. Als Gegenvorschlag zur anfänglichen Position der Länder, die eine komplette Überführung des Gewerberechts in die ausschließliche Zuständigkeit der Länder forderten169, zählte das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit einzelne in der Gewerbeordnung 164 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 2006, BGBl. I, S. 2034. Umfassend zur Neuverteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten Kluth, in: ders., Föderalismusreformgesetz, Art. 73 und Art. 74 GG; Oeter, in: Starck, Föderalismusreform, S. 9 ff. Speziell zu den Sachbereichen der Landesgesetzgebung nach der Föderalismusreform Huber / Uhle, in: Heintzen / U hle, Neuere Entwicklungen im Kompetenzrecht, S. 83 ff. 165 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 47: ders., Spielhallen und Geldspielgeräte in der Kompetenzordnung des Grundgesetzes, S. 63; Huber / Uhle, in: Heintzen / U hle, Neuere Entwicklungen im Kompetenzrecht, S. 121; Kluth, Die Gesetzgebungskompetenz für das Recht der Spielhallen, S. 59; Lammers, GewArch 2015, 54 (57); Pieroth / L ammers, GewArch 2012, 1 (2 f.); Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, Art. 74 Rn. 139; H.-P. Schneider, Das Recht der Spielhallen nach der Föderalismusreform, S. 34; ders., GewArch 2013, 137; Uhle, Normativ-rezeptive Kompetenzzuweisung und Grundgesetz, S. 25; a. A. Beaucamp, DVBl 2015, 1473 (1474); Dietlein, ZfWG 2014, 261 (264 ff.); ders., in: FS Bethge, S. 6 ff.; ders., ZfWG 2008, 12 f. 166 Dabei wird teilweise verkannt, dass das Recht der Spielhallen nicht nur auf § 33i GewO, sondern auch auf § 3 SpielV beruhte, das auf Grundlage des § 33f GewO regelte, wie viele Automa ten speziell in einer Spielhalle aufgestellt werden dürfen, dazu Dietlein, ZfWG 2008, 12 (13 f.). 167 Vgl. exemplarisch Degenhart, DVB 2014, 416 (422); Uhle, Normativ-rezeptive Kompetenzzuweisung und Grundgesetz, S. 131 ff. 168 Eine andere gängige Argumentation war darüber hinaus, das Recht der Spielhallen sei normativ-rezeptiv geprägt, so dass sich die Ausgestaltung des Spielhallenrechts am traditionell überlieferten Bestand bis zur Föderalismusreform orientieren müsse, vgl. unter anderem Uhle, Normativ-rezeptive Kompetenzzuweisung, S. 55. Zur Gegenüberstellung von normativrezeptiven und faktisch-deskriptiven Kompetenzzuweisungen Zweites Kapitel V. 4. c). 169 Projektgruppe 5 (Regionale Themen), PAU-5–0002, S. 3, enthalten in: Deutscher Bundestag / Bundesrat, Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, 2005.
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regulierte Bereiche auf, für die eine Kompetenzverlagerung in Frage kämen. Hierzu zählten die „Gewinn- und Geldspielgeräte (§§ 33c bis § 33h GewO)“ sowie die „Spielhallen (§ 33i GewO)“.170 Die Beschränkung des Rechts der Spielhallen auf § 33i GewO ergebe sich nun nach Ansicht vieler Autoren aus diesem in der Vorbereitungsphase geäußerten Vorschlag – auch deshalb, weil in der Endfassung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG nur noch auf das Recht der Spielhallen, nicht aber auf die Gewinn- und Geldspielgeräte Bezug genommen wurde.171 Diese Argumentation wurde hingegen vom BVerwG172 und ihm folgend vom BVerfG173 abgelehnt. Die Zuständigkeit für das Recht der Spielhallen könne nicht in erster Linie unter Rückgriff auf § 33i GewO bestimmt werden; vielmehr sei an den Lebenssachverhalt des Betriebs von Spielhallen anzuknüpfen.174 Dabei weist das Bundesverfassungsgericht vor allem die Interpretation der Entstehungsgeschichte zurück. Der Erste Senat merkt zutreffend an, dass in späteren Beratungen und Entwürfen ein Bezug auf § 33i GewO fehlt.175 Lediglich sei ein Konsens erzielt worden, dass unter dem Gesichtspunkt der örtlichen Radizierung Teile des Gewerberechts übergehen sollten. Zur Beschränkung auf § 33i GewO führt es aus: „Der lediglich in einem frühen Verhandlungsstadium im Zusammenhang mit der Bereichsausnahme für die Landeskompetenz für die Spielhallen vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit geäußerte Verweis auf § 33 i GewO, der keinen Eingang in den Wortlaut gefunden hat, bietet keinen tragfähigen Anhaltspunkt für ein restriktives Verständnis der Reichweite der durch die Föderalismuskommission I in Aussicht genommenen Kompetenzübertragung.“176
Die Diskussion um die Reichweite des Rechts der Spielhallen ist – neben der Frage, wann eine Kompetenzzuweisung faktisch-deskriptiv oder normativ-rezeptiv 170
Projektgruppe 5 (Regionale Themen), PAU-5–0020, S. 4, enthalten in: Deutscher Bundestag / Bundesrat, Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, 2005. 171 Degenhart, Spielhallen und Geldspielgeräte in der Kompetenzordnung des Grundgesetzes, S. 64 ff.; H.-P. Schneider, Das Recht der Spielhallen nach der Föderalismusreform, S. 23 f.; Uhle, Normativ-rezeptive Kompetenzzuweisung und Grundgesetz, S. 55 f. H.-P. Schneider hat in einer Urteilsanmerkung darauf hingewiesen, dass die Länder dieses Verständnis in einer späteren Gesetzesbegründung bestätigt hätten, Schneider, NVwZ 2017, 1073 (1076). Diese Argumentation ist indes keine genetische, sondern ein Aspekt der „nachkonstitutionellen Staatspraxis“ und – wenn überhaupt – der teleologisch-dynamischen Auslegung zuzuordnen, vgl. zu solchen Argumenten Zweites Kapitel VI. 2. 172 BVerwG NVwZ 2017, 791 (792 Rn. 21 ff.). 173 BVerfGE 145, 20 (58 Rn. 97 ff.). 174 BVerfGE 145, 20 (59 Rn. 100); BVerwG NVwZ 2017, 791 (793 Rn. 24); so bereits auch Dietlein, ZfWG 2008, 12 (16). 175 Sprechzettel der Vorsitzenden zur Erweiterten Obleuterunde am 10. 11. 2004, S. 3; Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, Vorentwurf für Vorschlag der Vorsitzenden, AU 104, S. 5, jeweils enthalten in: Deutscher Bundestag / Bundesrat, Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, 2005. 176 BVerfGE 145, 20 (60 Rn. 103); krit. dazu H.-P. Schneider, NVwZ 2017, 1073 (1075).
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zu verstehen ist177 – ein Musterbeispiel für die Tücken einer an der Entstehungsgeschichte orientierten Auslegung. Es zeigt sich, dass es nicht genügt, einzelne Materialien im Frühstadium des Vorbereitungs- und Gesetzgebungsverfahren aufzufinden und hieraus Schlussfolgerungen für das „richtige“ Verständnis eines Begriffs zu ziehen. Immer muss der Nachweis geführt werden, dass sich mithilfe der aufgefundenen Quelle die gesetzgeberische Willensbildung rekonstruieren lässt. Am Beispiel der Entstehungsgeschichte der Zuständigkeit für das Recht der Spielhallen wird dies deutlich. Die bloße Auflistung des § 33i GewO in einer Projektgruppe178 deutet noch nicht darauf hin, dass das Bundeswirtschaftsministerium für Wirtschaft und Arbeit tatsächlich nur den Normbestand von § 33i GewO überführen wollte, die Auflistung könnte genauso gut als ein Hinweis auf überführbare Regelungsmöglichkeiten verstanden werden, ohne dass eine Einengung auf die Norm gewollt war.179 Und ohnehin genügt ein bloßer Vorschlag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit im langwierigen Prozess der Föderalismusreform nicht, um auf den „Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers“ schließen zu können. Ihm fehlt die Verbindlichkeit und somit die Repräsentativität, um als „Wille des Parlaments“ zu gelten.180 Deutlich wird dies auch im Gegensatz zu den Gesetzesvorlagen und Gesetzesbegründungen. Diese werden zwar in der Regel durch die Ministerialbürokratie oder durch den Bundesrat ausgearbeitet, doch macht sich der Bundestag im Verlaufe des Gesetzgebungsverfahrens die Texte zu eigen.181 Sie sind Grundlage und Bezugspunkt des gesamten parlamentarischen Prozesses und vermitteln deshalb eine repräsentative Schlüsselstellung im Gesetzgebungsverfahren. Wenn in den Materialien zur Föderalismusreform beispielsweise der besondere Regionalbezug als Motiv der Kompetenzzuweisung ausgemacht wurde182, so ist dieser Gesichtspunkt auch für die Auslegung der Kompetenztitel bedeutsam. Der Regionalbezug wurde nicht nur in der Vorbereitungs- und Beratungsphase angesprochen, er ist durch 177
Dazu später unter Zweites Kapitel V. 4. c). Projektgruppe 5 (Regionale Themen), PAU-5–0002, S. 3, enthalten in: Deutscher Bundestag / Bundesrat, Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, 2005. 179 Das geht so auch aus der Stellungnahme des Bundeswirtschaftsministeriums für Wirtschaft und Arbeit hervor. Mit dem Verweis auf die erlaubnispflichtigen stehenden Gewerbe nach der GewO sollte lediglich der bestehende Inhalt darstellend aufgelistet werden (BVerwG NVwZ 2017, 791 (793, Rn. 22)). Das Ministerium ging sodann davon aus: „Bei einzelnen dieser Bereiche käme eine Verlagerung auf Länderebene in Betracht, soweit ein lokaler Bezug vorhanden ist“. Die Reichweite einer etwaigen Kompetenzverlagerung im Bereich des Spielhallenwesens wurde vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit gerade nicht erörtert. 180 Zum Erfordernis der Repräsentativität Wischmeyer, JZ 2015, 957 (964). 181 Wischmeyer, JZ 2015, 957 (965). 182 ZS-1–2005, S. 449; Ergebnisvermerk der 6. Sitzung der Projektgruppe 5 am 29. 9. 2004, S. 2; Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, Vorentwurf für Vorschlag der Vorsitzenden, AU 104, S. 6, jeweils enthalten in: Deutscher Bundestag / Bundesrat, Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, 2005. 178
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Aufnahme in die Gesetzesbegründung183 eine historische und teleologische Leitlinie zum Umfang der überführten Kompetenzvorschriften.184 Die Interpretation der in der Föderalismusreform von 2006 eingefügten Kompetenztitelausschlüsse muss somit der Intention des verfassungsändernden Gesetzgebers gerecht werden. Eine ausdehnende Interpretation dieser Kompetenzen findet jedenfalls dort ihre Grenze, wo die neuen Regelungen keinen regionalen Bezug mehr aufweisen.185 4. Tradition als historische Auslegung a) Allgemeines Das Bundesverfassungsgericht nutzt in seiner Kompetenzrechtsprechung die historische Auslegung, wenn es darum geht, aus früheren Rechtszuständen (etwa nach der Weimarer Verfassung oder der Reichsverfassung von 1871) Rückschlüsse auf die heutige Verfassungsinterpretation zu ziehen. Seit der Föderalismusreform erfreut sich diese Methodik auch dann der Beliebtheit, wenn es um die Auslegung der Kompetenzausschlüsse geht, die im Zuge der Föderalismusreform im Grundgesetz verankert wurden und den Ländern ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse für bestimmte Kompetenzmaterien überlassen, die früher durch Bundesgesetze geregelt wurden.186 Dann – so die verbreitete Annahme – müsse jedenfalls bei normativ-rezeptiven Kompetenznormen das frühere einfache Recht zur Auslegung der Kompetenznorm zumindest in seinen Grundstrukturen herangezogen werden.187 Dass nur der Verfassungstext, nicht aber die dem Text zugrunde liegenden historischen Entwicklungen normativen Anspruch haben, ist unbestritten.188 Der Wert der historischen Auslegung erschöpft sich vor allem in seiner Informations- und Kontrollfunktion.189 Ihr kommt insofern eine Informationsfunktion zu, als ihre He 183
BT-Drs. 16/813, S. 9. Dazu Zweites Kapitel VI. 1. b) bb). 185 Höfling / Rixen, GewArch 2008, 1 (5); Kluth, in: ders., Föderalismusreformgesetz, Art. 74 Rn. 3. 186 Vgl. zu diesen Sachbereichen P. M. Huber / Uhle, in: Heintzen / U hle, Neuere Entwicklungen im Kompetenzrecht, S. 84 ff.; Oeter, in: Starck, Föderalismusreform, S. 33 ff. 187 Exemplarisch etwa Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 47; P. M. Huber / Uhle, in: Heintzen / U hle, Neuere Entwicklungen im Kompetenzrecht, S. 109; 113, 121, 126; Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, Art. 74 Rn. 139; Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum Art. 74 Rn. 64; Uhle, Normativ-rezeptive Kompetenzzuweisung, S. 34 ff. 188 Exemplarisch H.-P. Schneider, in: FS Stern, S. 913: „Freilich muß in bezug [sic] auf die Verpflichtungswirkung solchen solchen ‚Schriftguts‘ äußerst sorgfältig und präzise unterschieden werden zwischen dem eigentlichen ‚Normtext‘ der Verfassung, der allein rechtliche Verbindlichkeit für sich in Anspruch nehmen kann, und weiteren Materialien oder Dokumenten, denen als solchen formaliter keinerlei normative Kraft zukommt“. 189 Dazu und zum Folgenden H.-P. Schneider, in: FS Stern, S. 917. Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 44 spricht von der historischen Auslegung als „sekundäre Rationalitätsquelle“. 184
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ranziehung einen zusätzlichen Hinweis enthält, welche ursprünglichen Absichten der Verfassungsgeber gehabt haben könnte. Zur Kontrolle eignet sich die historische Auslegung, wenn sie ein gefundenes Auslegungsergebnis bestätigt, absichert und es ggf. auch modifiziert. Demgegenüber macht das Bundesverfassungsgericht von der historischen Auslegung recht intensiven Gebrauch, die Erschließung von Kompetenznormen unter Berücksichtigung früherer Rechtszustände hat in der Rechtsprechung sogar teilweise überragende Bedeutung gewonnen.190 Soweit das Grundgesetz Materien aus der Weimarer Reichsverfassung übernommen hat, müsse angenommen werden, dass sie in demselben Sinne zu verstehen seien, wie dies in der Weimarer Reichsverfassung der Fall war.191 Bei der Bestimmung der einzelnen Kompetenzmaterien verdiene der historische Zusammenhang in der deutschen Gesetzgebung und insbesondere der historisch gewachsene Kompetenzbestand192 besondere Aufmerksamkeit; dem Merkmal des „Traditionellen“ oder „Herkömmlichen“ komme wesentliche Bedeutung zu.193 Deshalb habe sowohl die Entstehungsgeschichte als auch die Staatspraxis für die Auslegung besonderes Gewicht.194 Die Staatspraxis nutzt das Bundesverfassungsgericht in zwei unterschiedlichen Zusammenhängen: Entweder untersucht es die jeweiligen Vorläufernormen einer Kompetenznorm und die dazu ergangene Rechtsprechung (Staatspraxis als Interpretation der Vergangenheit) oder es untersucht, die Vorstellungen der Verfassungsorgane und der Behörden von der geltenden Kompetenznorm (Staatspraxis als Interpretation der Gegenwart). Auch diese könne relevant sein, da sie zeigen, „ob und inwieweit der historische Gesetzgeber eine Kompetenz genutzt hat und inwieweit sich dadurch unter dem übergeordneten Gesichtspunkt der Kontinuität der Kompetenzordnung eine Bestandsgarantie herausgebildet hat“.195 Während sich die Berücksichtigung der vorkonstitutionellen Staatspraxis innerhalb des Horizonts der historisch-genetischen Auslegung bewegt196, kommt bei einer nachkonstitutionellen Staatspraxis die Rückbindung an historische Erwägungen nicht in Betracht. Es geht hierbei nicht um historisch-statische, sondern um dynamischevolutive Elemente. Berücksichtigt man die Staatspraxis unter der Geltung des Grundgesetzes, so geht es darum, Norm und Wirklichkeit, also Sein und Sollen 190 Dies wird vor allem deutlich, wenn das BVerfG an Vorschriften der WRV anknüpft, vgl. BVerfGE 26, 338 (373 ff.); 42, 20 (29 ff.); 61, 149 (195 ff.); 97, 198 (219 ff.); 109, 190 (213 ff.); vgl. dazu auch Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 384; Wittreck, in: Dreier, GG, Vorb. Art. 70–74 Rn. 51. 191 BVerfGE 3, 407 (415); 26, 338 (373); 33, 52 (61); 42, 20 (29); 61, 149 (175); 67, 229 (320). 192 Formulierung nach BVerfGE 97, 198 (219). 193 BVerfGE 7, 299 (44); 28, 21 (32); 33, 125 (152 f.); 48, 367 (373); 97, 198 (219); 106, 62 (105). 194 BVerfGE 33, 125 (152); 61, 149 (175); 68, 319 (328); 106, 62 (105); 109, 190 (213). 195 BVerfGE 77, 308 (331) unter Verweis auf BVerfGE 61, 149 (175 f.); 68, 319 (328). Krit. dazu aber Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 54; Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Bd. 8, 3. Aufl., Art. 70 Abs. 1 Rn. 63. 196 Müller-Franken, in: FS Isensee, S. 242; Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, S. 55 f.
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
miteinander zu verbinden. Dies sind Aspekte, die als Gesichtspunkte der Teleologie zu betrachten sind.197 b) Im Vergleich: Die Versteinerungstheorie des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs Wenn das Bundesverfassungsgericht darauf abstellt, das Herkömmliche und Traditionelle habe eine besondere Bedeutung für die Kompetenzinterpretation, so scheinen sich Parallelen zur Versteinerungstheorie des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs198 zu ergeben. Ein Vergleich mit der Methode des österreichischen Verfassungsgerichtshofs bietet sich auch deshalb an, weil die Ausgangsbedingungen in der österreichischen Verfassung (die vorrangig im B-VG geregelt sind199) durchaus mit denen des deutschen Grundgesetzes vergleichbar sind.200 Auch hier gilt ein strenges Trennungsprinzip zwischen den Kompetenzen des Bundes und der Länder. Die Kompetenzen zwischen Bund und Ländern werden ebenfalls mithilfe von Kompetenztiteln aufgelistet (Art. 9–15 B-VG). Ferner haben die Länder Allgemeinkompetenzen (so der österreichische Sprachgebrauch) für solche Bereiche, die in der Bundesverfassung nicht aufgeführt sind: „Soweit eine Angelegenheit nicht ausdrücklich durch die Bundesverfassung der Gesetzgebung oder auch der Vollziehung des Bundes übertragen ist, verbleibt sie im selbstständigen Wirkungsbereich der Länder“ (Art. 15 Abs. 1 B-VG). Die Kompetenzinterpretation im österreichischen Recht steht damit vor vergleichbaren Herausforderungen, zumal auch dort die Verfassung nur wenige grammatikalische und systematische Hinweise zur näheren Ausdeutung von Begriffen liefert. aa) Der Zusammenhang zwischen Versteinerungstheorie und historischer Interpretation Der österreichische Verfassungsgerichtshof hat hieraus die Schlussfolgerung gezogen, dass dort, wo der Wortlaut nicht ausreicht, der Inhalt der Kompetenzvorschriften nach dem Prinzip der historischen Auslegung zu ermitteln sei.201 In stän 197
Dazu unter Zweites Kapitel VI. 2. Nach Ermacora, Der Verfassungsgerichtshof, S. 148. Dabei ist zu beachten, dass die sog. Versteinerungstheorie eigentlich keine Theorie im wissenschaftlichen Sinne, sondern lediglich ein Auslegungsargument ist. 199 Aber nicht ausschließlich; es existieren zahlreiche weitere Verfassungsbestimmungen außerhalb des B-VG; dazu Wiederin, ZÖR 2011, 215 ff. 200 Vgl. dazu die rechtsvergleichende Studie von Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, besonders ab S. 399 ff. Zur österreichischen Kompetenzverteilung Adamovich / Funk / Holzinger / Frank, Österreichisches Staatsrecht, Bd. 1, Rn. 19.001 ff.; Öhlinger / Eberhard, Verfassungsrecht, Rn. 235 ff.; Storr, in: Härtel, Handbuch Föderalismus, Bd. 4, § 98 Rn. 20 ff. 201 VfSlg 5679/1968; ähnlich 5019/1965; 7709/1975. 198
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diger Rechtsprechung versteht er „Begriffe, die in der Verfassung nicht näher umschrieben sind, in dem Sinne […], der ihnen zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens der den jeweiligen verfassungsrechtlichen Begriff enthaltenden Verfassungsnormen nach dem Stand und der Systematik der Rechtsordnung zugekommen ist“202. Die Argumentation ist auch hier eine historische: Zur Ermittlung des Sinns von Verfassungsvorschriften wird eine vorgefundene unterverfassungsgesetzliche Rechtslage rekonstruiert und anschließend fingiert, der Verfassungsgeber habe diesen Normbereich auch zum Maßstab des Kompetenztatbestandes erhoben.203 Häufig verweist der Gerichtshof als Versteinerungszeitpunkt auf den 1. Oktober 1925204, also jenen Tag, an dem die Kompetenzverteilung als Gesamtwerk erstmals in Kraft trat.205 Was etwa „Angelegenheiten des Gewerbes“ (Art. 10 Abs. 1 Z. 8 B-VG) sind, ergebe sich vor allem historisch aus der geltenden Gewerbeordnung von 1859 sowie dem Kundmachungspatent zur Gewerbeordnung von 1859.206 Die Angelegenheiten, die damals das Gewerberecht ausmachten, seien somit auch vom Verfassungsgesetzgeber Art. 10 Abs. 1 Z. 8 B-VG zugewiesen. Selbst wenn es zum Versteinerungszeitpunkt noch keine einschlägigen gesetzlichen Regelungen gab, so stellt der Verfassungsgerichtshof auf die zum damaligen Zeitpunkt herrschenden tatsächlichen Verhältnisse ab.207 Teilweise wendet der österreichische Verfassungsgerichtshof die Versteinerungstheorie auch auf die Allgemeinzuständigkeit der Länder (Art. 15 Abs. 1 B-VG) an.208 Dies wird aber im österreichischen Schrifttum mit Verweis auf die rechtstechnische Verteilungsfunktion überwiegend abgelehnt.209 Eine „versteinernde“ Auslegung sei nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofs geboten, weil „der rechtliche Gehalt dieser Grundpfeiler des gesamten staat 202
VfSlg 2721/1954; 4680/1964; 5019/1965; 6137/1970; 7709/1975; 9337/1982; 9543/1982; 10.292/1984; 4680/1964; 5019/1965; 17.000/2003; 17.160/2004. 203 Wiederin, in: FS Winkler, S. 1235 f.; ähnlich auch Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 448, 596; Ermacora, Österreichische Verfassungslehre, S. 96; Gamper, Regeln der Verfassungsinterpretation, S. 173; dies., in: Gamper / Bußjäger / Karlhofer u. a., Föderale Kompetenzverteilung in Europa, S. 587 f.; Pernthaler, Kompetenzverteilung in der Krise, S. 79, die zusätzlich auf den systematischen Einschlag der Versteinerungstheorie hinweisen. Von einem eher objektiv-teleologischen Ursprung gehen etwa aus Öhlinger / Eberhard, Verfassungsrecht, Rn. 275 („objektiv-historische Interpretation“). Demgegenüber betrachtet Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 52, 85, 91 die Versteinerungstheorie zusätzlich als Form der Wortlautauslegung und als Methode zur Verwirklichung der „Einheit der Rechtssprache“. Krit. zu diesen Ansätzen Wiederin, in: FS Winkler, S. 1233 ff. 204 Exemplarisch VfSlg 14.266/1995. 205 Bundes-Verfassungsnovelle vom 1. 10. 1925, BGBl. Nr. 268/1925, S. 927. 206 VfSlg 17000/2003. 207 VfSlg 1642/1948; 8539/1979. 208 VfSlg 5375/1966; 7838/1976; 8539/1979. 209 Adamovich / Funk / Holzinger / Frank, Österreichisches Staatsrecht, Bd. 1, Rn. 19.091; Ermacora, Der Verfassungsgerichtshof, S. 148; Öhlinger / Eberhard, Verfassungsrecht, Rn. 278; Pernthaler, Kompetenzverteilung in der Krise, S. 80 f.; Storr, in: Härtel, Handbuch Föderalismus, Bd. 4, § 98 Rn. 42.
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
lichen Aufbaues bildenden verfassungsrechtlichen Begriffe einer Änderung im Wege der Auslegung nach jeweils herrschenden Anschauungen entrückt bleiben soll, die Abänderung eines solchen einmal festgelegten Begriffes vielmehr ausschließlich einer besonderen Maßnahme des Verfassungsgesetzgebers vorbehalten bleiben muß“210. Der Sinn der Versteinerungstheorie liegt damit darin, mittels einer historisch-statischen Auslegung den Inhalt zu fixieren und so die Stabilität der Kompetenzordnung zu gewährleisten. Eine dynamisch-wandelnde Kompetenzverteilung wird damit bewusst ausgeschlossen.211 Hintergründig offenbart sich mit dieser weitgehend apolitischen Kompetenzinterpretation die Einschätzung des Gerichtshofs, der demokratischen Legitimation entspreche es am ehesten, wenn auf den historischen Bundesverfassungsgesetzgeber abgestellt werde.212 bb) Die ergänzende Anwendung der „intrasystematischen Interpretationsmethode“ Der Versteinerungstheorie wird oft vorgeworfen, sie führe zu einer Erstarrung des Rechts und könne auf die Fragen der Gegenwart keine Antworten liefern.213 Der Einwand ist nur in Teilen berechtigt. Eine versteinernde Kompetenzordnung führt wegen der Allgemeinzuständigkeit der Länder (Art. 15 Abs. 1 B-VG) nicht zu einer inhaltlichen Erstarrung, sondern führt lediglich dazu, dass der Bund als Kompetenzträger nicht zuständig ist. Darüber hinaus ist das Problem einer erstarrten Kompetenzordnung ohnehin dann weniger gravierend, wenn der verfassungsändernde Gesetzgeber flexibel auf eine Versteinerung reagieren kann. Ist eine Verfassung relativ leicht abänderbar, so bleibt es dem verfassungsändernden Gesetzgeber möglich, die Rechtslage durch ein verfassungsänderndes Gesetz nachträglich – gegebenenfalls auch vorsorglich – zu korrigieren. Zu solchen flexiblen Verfassungen gehören sowohl das Grundgesetz als auch das B-VG.214 Eher starr sind demgegen 210
VfSlg 2319/1952, S. 164 f. Pernthaler, Kompetenzverteilung in der Krise, S. 80; Funk, Das System der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung, S. 70. 212 Gamper, in: Gamper / Bußjäger / Karlhofer, Föderale Kompetenzverteilung in Europa, S. 591 f.; dies., Regeln der Verfassungsinterpretation, S. 174. 213 Dies wird vor allem im Schrifttum hierzulande deutlich, welches die Versteinerungstheorie eher negativ konnotiert, vgl. Bullinger, Die Mineralölfernleitungen, S. 53; Fehling, in: Aulehner u. a., Föderalismus, S. 53 f.; Hanschel, Konfliktlösung im Bundesstaat, S. 203; Rengeling, HStR VI, § 135 Rn. 35 ff.; Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 49; Scholz, in: FG BVerfG, S. 265; Schoenenbroicher, Bundesverwaltung unter Landesgewalt, S. 70; Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 412; Wipfelder, DVBl 1982, 477 (482). Vgl. stattdessen Isensee, HStR VI, § 133 Rn. 68, der die Versteinerungstheorie des österreichischen Gerichtshofs als „hilfreiche Faustregel“ verstehen möchte. 214 Die österreichischen Verfassungsgesetze können mit qualifizierter Mehrheit von zwei Dritteln der Abgeordneten des Nationalrats bei Anwesenheit mindestens der Hälfte der Abgeordneten geschlossen und geändert werden (Art. 44 B-VG). Sowohl in Österreich als auch in Deutschland zeigt die Verfassungspraxis und -geschichte, dass Änderungen der Kompetenzverteilungen durchaus häufig vorkamen und vorkommen. 211
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über die amerikanische und australische Verfassung, die folgerichtig keine versteinernde, sondern eine tendenziell dynamische Kompetenzauslegung verlangen.215 Gleichwohl kann die Versteinerung zu einer „sinnlosen Verengung von Bundeskompetenzen“ führen und sich somit für eine praxisgerechte Kompetenzinterpretation als untauglich erweisen.216 Der Gefahr, dass sich eine versteinernde Kompetenzinterpretation der „Wirklichkeit“ verschließt, ist sich – anders als teilweise behauptet – auch der österreichische Verfassungsgerichtshof bewusst. Hieran setzt seine intrasystematische Interpretationsmethode an. Sie soll den Nachteil der Versteinerungstheorie, die Unmöglichkeit der Weiterentwicklung von Lebenssachverhalten, ausgleichen. Zwar sei der Inhalt der Kompetenzartikel des B-VG nach dem Stande der einfachen Gesetze im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Kompetenzverteilung zu ermitteln. Das bedeute aber nicht, „dass sich der Inhalt des Kompetenzartikels in der Gesamtheit der am Tage seines Wirksamwerdens geltenden Gesetzes erschöpft, denn es sind auch Neuregelungen zulässig, sofern sie nur nach ihrem Inhalt systematisch dem Kompetenzgrund angehören“217. Die Versteinerungstheorie schließe „nicht aus, auf einem durch den Stand der Gesetzgebung am 1. Oktober 1925 inhaltlich bestimmten Rechtsgebiet Neuregelung[en] zu erlassen; diese müssen allerdings nach ihrem Inhalt dem betreffenden Rechtsgebiet angehören“218. Ergeben sich Materien, die zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens einer Verfassungsnorm noch nicht geregelt wurden, so sei der versteinerte Begriff intrasystematisch weiterzuentwickeln.219 Dies soll gewährleisten, dass sich neuartige Lebenswirklichkeiten adäquat in die Kompetenzordnung einfügen. Hierdurch erhält die Interpretation des Verfassungsgerichtshofs ein zusätzliches dynamisches Element.220 Beispielsweise erlaubt das intrasystematische Interpretationsprinzip die Weiterentwicklung des Sozialversicherungsrechts (Art. 10 Abs. 1 Z. 11 B-VG) über den Stand der Sozialversicherungsgesetzgebung vom 1. Oktober 1925 hinaus, so dass neue Leistungen eingeführt und neue Gruppen als Versicherte, Beitragspflichtige und Leistungsempfänger in den Kreis der Versicherungsgemeinschaft eingeführt werden können.221 Die Weiterentwicklung sei aber auf das System beschränkt, das das zur Versteinerung führende Material hergibt. Wenn sich die entsprechenden Neuregelungen innerhalb des Systems hielten, so sei dies kompetenzrechtlich gedeckt. Unter 215
Gamper, Regeln der Verfassungsinterpretation, S. 175 ff. Vgl. zu den unterschiedlichen Verfassungstypen aus rechtsvergleichender Sicht Bothe, Die Kompetenzstruktur des modernen Bundesstaats, S. 117 ff. Ausführlich zum US-amerikanischen Bundesstaat Hanschel, Konfliktlösung im Bundesstaat, S. 332 ff.; v. Danwitz, AöR 131 (2006), 510 (532 ff.). 216 Vgl. dazu etwa Pernthaler, Kompetenzverteilung in der Krise, S. 82 f. 217 VfSlg 3670/1960. 218 VfSlg 14.266/1995. 219 VfSlg 2500/1953; 12.966/1992; 18.032/2006. 220 Funk, Das System der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung, S. 77; Adamovich / Funk / Holzinger / Frank, Österreichisches Staatsrecht, Bd. 1, Rn. 19.092. 221 VfSlg 17786/2006 in Bezug auf das Pflegegeld.
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
System versteht der Verfassungsgerichtshof vor allem das System der betreffenden historischen Rechtsmaterie. Die intrasystematische Fortentwicklung setzt also auf den Versteinerungszeitpunkt an. Wenn das versteinerte Recht im Ansatz mit der neuartigen Materie vergleichbar ist, so kann die neuartige Materie auch dem versteinerten Rechtsbereich zugerechnet werden.222 Die Methode der intrasystematischen Fortentwicklung dient also einerseits der Bestätigung der historischen Methode, sie dient aber zugleich auch als Korrektiv der Schwäche der Versteinerungstheorie, nämlich des absoluten Erstarrens des auszulegenden Verfassungsbegriffs.223 Die intrasystematische Fortentwicklung „wahrt die grundsätzliche Vorherrschaft der historischen Auslegung, erweitert diese aber behutsam dort, wo angenommen werden kann, dass der historische Verfassungsgesetzgeber, hätte er von einer neuen Regelungsmaterie Kenntnis erlangt, sie zweifellos unter dieselbe Kompetenz subsumiert hätte.“224 Dabei hängt der Grad der Weiterentwicklung vom Grad der Abstraktionshöhe ab. Je größer sie ist, desto größer ist der Entwicklungsspielraum und die damit verbundene Möglichkeit, neue Regelungen und Institutionen zu schaffen.225 Dies wird beispielhaft in der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs zur Bewährungshilfe für jugendliche Rechtsbrecher deutlich.226 Die Regelung wurde im Jahr 1961 in das Jugendgerichtsgesetz (JGG a. F.)227 aufgenommen. Im Raum stand eine Subsumtion dieser Regelung unter die Bundesgesetzgebungskompetenz für das Strafrechtswesen (Art. 10 Abs. 1 Z. 6 B-VG), erwogen wurde aber auch eine Kompetenz für die Jugendfürsorge (Art. 12 Abs. 1 Z. 1 B-VG) oder die Einschlägigkeit der Allgemeinzuständigkeit der Länder (Art. 15 Abs. 1 B-VG). Zum maßgeblichen Versteinerungszeitpunkt vom 1. Oktober 1925 gab es eine identische Regelung noch nicht. Gleichwohl interpretiert der Verfassungsgerichtshof das Jugendgerichtsgesetz vom 23. Juli 1920228 sowie die damit verbundene Jugendgerichtsverordnung229: „Die damals vorgesehenen Maßnahmen gehören zu dem Bereiche des Strafrechts. In ihnen kommt die gewandelte Auffassung von den Aufgaben des Strafrechts zum Ausdruck. Es soll nicht mehr nur die Angst vor einer neuerlichen Bestrafung vor einem Rückfall bewahren, sondern die Gesellschaft unternimmt es, der Gefahr eines Rückfalls durch aktives Handeln entgegenzuwirken“230.
222
Gamper, Regeln der Verfassungsinterpretation, S. 180. Gamper, Regeln der Verfassungsinterpretation, S. 180. 224 Gamper, Regeln der Verfassungsinterpretation, S. 180. 225 Funk, Das System der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung, S. 78; Adamovich / Funk / Holzinger / Frank, Österreichisches Staatsrecht, Bd. 1, Rn. 19.094. 226 VfSlg 5679/1968. 227 BGBl. Nr. 278/1961, inzwischen aufgehoben und durch das Jugendgerichtsgesetz vom 20. 10. 1988 ersetzt, BGBl. Nr. 599/1988. 228 StGBl. Nr. 373. 229 StGBl. Nr. 439/1920. 230 VfSlg 5679/1968, S. 132. 223
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Anstatt also die historische Auslegung derart streng anzuwenden und nur zwischen den damaligen sowie heutigen Vorschriften „abzugleichen“, entwickelt der Verfassungsgerichtshof ein auf den Gesichtspunkt der Spezialprävention abstellendes „System“, das als ein Gesichtspunkt des Strafrechtswesen dienen soll. Die Einrichtung der Bewährungshilfe nach dem Jugendgerichtsgesetz von 1961 sei in diesem Sinne „von gleicher Art“ und somit ebenfalls „Strafrechtswesen“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Z. 6 B-VG. Die Entscheidung verdeutlicht, dass die Abstraktionen, die der Verfassungsgerichtshof anstellt, von Wertungen abhängig sind. Das historische Material wird nicht als etwas Gegebenes hingenommen, aus den einzelnen Regelungszwecken wird vielmehr ein Typus abstrahiert. Dementsprechend beschränkt sich die Subsumtion auf einen Typenvergleich.231 Dem entspricht es, dass der Gerichtshof sich in seiner Prüfung darauf beschränkt, die Gleichartigkeit der Regelungen festzustellen. Diese Abstraktionsmethode führt freilich dazu, dass der ansonsten versteinert ausgelegte Kompetenzbereich einer Bundeskompetenz zu Lasten der Länder dynamisiert und somit ausgeweitet wird.232 Die Grenze der Dynamisierung erblickt der Verfassungsgerichtshof deshalb in der „Intrasystematik“. Der geforderte inhaltlich-systematische Zusammenhang verwehrt es, Kompetenztatbestände beliebig mit Inhalten zu füllen. Im Ansatz verbleibt das Gebot der intrasystematischen Fortentwicklung auf dem Boden der Versteinerungstheorie. Eine Fortentwicklung ist damit nur möglich, wenn sich annehmen lässt, dass der Bundesverfassungsgesetzgeber, hätte er von der neuen Regelungsmaterie oder einer neuen Lebenswirklichkeit Kenntnis gehabt, auch unter das Begriffsbild des Kompetenztatbestandes subsumiert hätte.233 Versteinert ist also genau genommen nicht die unterverfassungsrechtliche Norm, sondern sein abstraktes Begriffsbild, das dem Kompetenztitel zugewiesen worden ist.234 cc) Versteinerungstheorie als Leitlinie der Kompetenzinterpretation nach dem Grundgesetz? Die Versteinerungstheorie findet im österreichischen Schrifttum weitgehend Zustimmung, nur vereinzelt wird sie kritisiert. Hinter der Versteinerungstheorie liegt ein vor allem an die reine Rechtslehre von Kelsen angelehntes positivistisches
231
So auch Öhlinger / Eberhard, Verfassungsrecht, Rn. 276. Gamper, in: Gamper / Bußjäger / Karlhofer, Föderale Kompetenzverteilung in Europa, S. 593; vgl. auch Funk, Das System der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung, S. 77 ff. mit weiteren Beispielen aus der Rechtsprechung des österreichischen Verfassungsgerichtshofes. Pernthaler, Kompetenzverteilung in der Krise, S. 82 spricht gar von „begrifflich kaum nachvollziehbaren Systemsprüngen“. 233 Gamper, Regeln der Verfassungsinterpretation, S. 180. 234 Öhlinger / Eberhard, Verfassungsrecht, Rn. 276. 232
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Verständnis der bundesstaatlichen Kompetenzordnung.235 Die Kompetenzordnung als normative Ordnung konkretisiert danach den Stufenbau der Rechtsordnung. Gesetzgebungsbefugnisse schaffen die Ermächtigung, einzelne Aspekte der Staatsgewalt regeln zu können; Staatsaufgabe und Gesetzgebungskompetenz werden theoretisch und praktisch getrennt.236 In der österreichischen Verfassungstradition kanalisiert die Kompetenzordnung den Fluss der Gesetzgebung als Aspekt der Staatsgewalt. Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses erscheint die Versteinerungstheorie mit ihrer entpolitisierenden Wirkung schlüssig. Vor allem trägt sie der positivistischen Vorstellung Rechnung, dass es auf den Moment der Zuweisung der Staatsaufgabe ankommt. Wollte man die Gesetzgebungskompetenzen geltungszeitlich-dynamisch statt historisch-statisch auslegen, so würde dies der Vorstellung einer bereits vorab verfassungsrechtlich festgelegten Aufgabenverteilung nicht gerecht. Auch die intrasystematische Interpretationsmethode bleibt vor diesem Hintergrund auf dem Boden einer entstehungszeitlich-statischen Auslegung, indem sie die Weiterentwicklung von Begriffsbildern von dem durch die Versteinerungstheorie fixierten Begriffsbild abhängig macht. Die intrasystematische Interpretationsmethode soll aber immerhin gewährleisten, dass die Rechtsprechung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs flexibel und konsensfähig bleibt. Der Ansatz des österreichischen Verfassungsgerichtshofs weist im Ansatz durchaus Parallelen zu dem hier vertretenen Begriff der Kompetenz auf. Zwar ist der Verfassungstheorie hierzulande das Denken nach dem Vorbild der Reinen Rechtslehre Kelsens eher fremd237, dennoch können gewisse Gemeinsamkeiten nicht geleugnet werden. Wenn in dieser Schrift die Kompetenz als Relationsbegriff verstanden wird, und seine Wirkung vor allem im Ermächtigungs- und Ausgrenzungsgehalt gesehen wird, so kommt dies dem österreichischen Modell durchaus nahe. Eine Kompetenz wird in dieser Arbeit definiert als das Ergebnis einer Zuweisung einer Staatsaufgabe an eine Organisation bzw. Organ mit der Folge der Ermächtigung, im zugewiesenen Bereich unter Ausschluss anderer Einheiten verbindliche Rechtsakte zu erlassen. In bundesstaatlicher Hinsicht bedeutet Kompetenz die Möglichkeit eines Kompetenzträgers (Bund oder Länder), Aspekte der Staatsgewalt eigenverantwortlich und unter Ausschluss des jeweiligen anderen wahrnehmen zu können. Indem bundesstaatliche Kompetenzen sich auf die Beantwortung der Frage beschränken, welcher Kompetenzträger (Bund oder Land) zur Bewältigung einer Staatsaufgabe befugt ist, ist ihr Wertgehalt relativ gering. Sie sind vielmehr durch ihren formalen und technischen Charakter geprägt und 235 Kelsen, in: FS Fleiner, S. 130; Merkl, Zum rechtstechnischen Problem der bundesstaat lichen Kompetenzverteilung, S. 1305 ff.; zu Kelsens Begriffen des Bundesstaates Wiederin, in: Paulson / Stolleis, Hans Kelsen, S. 222 ff.; vgl. aber auch Ermacora, Österreichische Verfassungslehre, S. 251, der die Elemente der Kooperation und Koordination betont, die im Denken von Kelsen keine Rolle spielten. 236 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 228 f.; ders., Allgemeine Staatslehre, S. 216 ff. und S. 251. 237 Achterberg, DÖV 1974, 445 ff.
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entfalten nur Wirkungen innerhalb des Rechtsverhältnisses zwischen Bund und Ländern.238 Vor diesem Hintergrund mag für das deutsche Bundesstaatsverständnis eine vorwiegend entstehungszeitlich-statische Interpretation gegenstandsadäquat sein. Eine grenzenlos geltungszeitlich verstandene Auslegung würde Gefahr laufen, die formale Ermächtigungs- und Ausgrenzungswirkung unzulässig zu dynamisieren und die Ordnungsfunktion der Kompetenzverteilung zu beeinträchtigen. In ihren Grundzügen könnte die Versteinerungstheorie mit ihrer modifizierend wirkenden intrasystematischen Fortentwicklung problemlos in die Interpretation der Art. 70 ff. GG integriert werden. Es fragt sich somit, inwieweit das Bundesverfassungsgericht mit seiner Rechtsprechung nicht auch eine versteinernde Kompetenzauslegung vertritt bzw. inwieweit das Konzept des Verfassungsgerichtshofs auf die grundgesetzliche Kompetenzinterpretation – gegebenenfalls mit gewissen Modifikationen – übernommen werden kann. c) Interpretation nach Art des Zuweisungsgehalts: Die Unterscheidung faktisch-deskriptiv und normativ-rezeptiv aa) Allgemeines Das Bundesverfassungsgericht wendet nicht explizit eine Versteinerungstheorie zur Sinnbestimmung von Kompetenznormen an. Die Bedeutung der historischen Auslegung und somit die Möglichkeit der „Versteinerung“ hängt nach seiner Auffassung von der Struktur und Ausformung des Kompetenztitels ab. Dies wurde in der Entscheidung zur nachträglichen Sicherungsverwahrung239 deutlich. In dieser musste der Erste Senat über die Verfassungsmäßigkeit der Straftäterunterbringungsgesetze der Länder Bayern und Sachsen-Anhalt entscheiden. Das Gericht führte aus, dem Bund komme zur Regelung der nachträglichen Sicherungsverwahrung die konkurrierende Gesetzgebung für das Strafrecht (Art. 74 I Nr. 1 GG) zu, von der er abschließenden Gebrauch gemacht habe. In Bezug auf die Auslegung von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 Var. 2 GG führt der Erste Senat in Anlehnung an die Terminologie von Degenhart240 eine Differenzierung ein, die über das Gewicht der historischen Auslegung entscheiden soll. Danach sei die Bedeutung der historischen Auslegung von der Struktur und Ausformung des jeweiligen Kompetenztitels abhängig. Je stärker die Kompetenz normativ-rezeptiven Ursprungs ist, desto eher wird die historische Auslegung Berücksichtigung finden: „Das Grundgesetz verfolgt mit den Zuständigkeitskatalogen der Art. 70 ff. GG den Zweck, eine vollständige Verteilung der staatlichen Aufgaben und Befugnisse zwischen Bund und Ländern zu erreichen. Die jeweilige Kompetenzmaterie wird dabei entweder faktischdeskriptiv durch Benennung der zu regelnden Lebenssachverhalte oder normativ-rezeptiv 238
Erstes Kapitel II. 4. und Erstes Kapitel V. 4. BVerfGE 109, 190. 240 Seit Degenhart, in: Sachs, GG, 5. Aufl., Art. 70 Rn. 54. 239
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
durch Aufnahme eines vorgefundenen Normbereichs als zu regelnde Materie der Kompetenznorm zugeordnet. Hat der Verfassungsgeber eine normativ ausgeformte Materie vorgefunden und sie als solche gleichsam nachvollziehend benannt, so ist davon auszugehen, dass die einfachgesetzliche Ausformung in der Regel den Zuweisungsgehalt auch der Kompetenznorm bestimmt (Degenhart, in: Sachs, GG, 3. Aufl., Art. 70 Rn. 44, 47). Sinn und Zweck der Umschreibung eines vom Verfassungsgeber bereits vorgefundenen Normenbereichs in der Kompetenzvorschrift sprechen dafür, dass der vorgefundene Normenbereich von ihr erfasst werden soll.“241
Diese Formulierung hat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zum Therapieunterbringungsgesetz242 sowie in dem Beschluss zur Verfassungsmäßigkeit des thüringischen Ladenöffnungsgesetzes243 aufgegriffen und vor allem in dem Spielhallen-Beschluss näher vertieft.244 Es ist nicht ganz klar, ob das Bundesverfassungsgericht seine Maßstäbe tatsächlich als historische Interpretation verstanden wissen möchte. In der Entscheidung zur nachträglichen Sicherungsverwahrung tauchen die Ausführungen nach der Bezugnahme auf Entstehungsgeschichte und Staatspraxis245 sowie nach systematischen Überlegungen auf246; in dem Spielhallen-Beschluss wird das Gewicht der historischen Interpretation von der Struktur und Ausformung und somit „systematischen Erwägungen“247 abhängig gemacht. Gleichwohl argumentiert das Gericht in der Sache historisch: Das BVerfG knüpft entweder an eine vor-verfassungsrechtliche Tradition im Sinne einer „verfassungshistorische[n] Abstammungskette bis zur Paulskirchenversammlung“248 an249 oder es zieht das frühere Bundesrecht vor dem Inkrafttreten der entsprechenden Grundgesetznorm heran. Unabhängig davon, ob es auf Vorgängerverfassungen oder auf einfaches Recht verweist, die Argumentation des Gerichts ist in beiden Fällen die gleiche: Ergibt der historische Zusammenhang, dass der Verfassungsgeber eine schon existierende Norm einer bestimmten Materie vorfand und der Verfassungsgeber diese Materie in einer Kompetenznorm unter Verwendung von Begriffen aus dem vorgefundenen einfachen Recht benannte, dann müsse auch davon ausgegangen werden, dass er die Kompetenznorm anhand der einfachgesetz-
241
BVerfGE 109, 190 (218). BVerfGE 134, 33 (55). 243 BVerfGE 138, 261 (273 Rn. 29). Der Hinweis auf die normativ-rezeptive Kompetenzzuweisung findet sich allerdings nur im Obersatz; für die Urteilsbegründung hat die Formel allerdings keine übergeordnete Bedeutung. Eine entscheidungserhebliche Berücksichtigung der Argumentation findet sich allerdings beim SächsVerfGH NVwZ-RR 2012, 873 (875). Die Argumen tation wird allerdings vom BVerfG nicht aufgegriffen, vgl. BVerfGE 138, 261 (274 Rn. 31 ff.). 244 BVerfGE 145, 20 (62 Rn. 105). Das BVerfG lehnte in der Entscheidung eine normativrezeptive Kompetenzinterpretation für das Recht der Spielhallen aus Art. 74 I Nr. 11 GG ab. 245 BVerfGE 109, 190 (213 f.). 246 BVerfGE 109, 190 (215 ff.). 247 BVerfGE 145, 20 (62 Rn. 105). 248 Wittreck, in: Dreier, GG, Vorb. Art. 70–74 Rn. 51. 249 So z. B. in BVerfGE 12, 205 (226); 27, 18 (32); 106, 62 (106 ff.); 109, 190 (213 ff.); BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 117 ff. 242
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lichen Norm fixieren wollte.250 Die geltende Kompetenznorm wird dann im Lichte der früheren Kompetenzvorschrift und der zu ihr ergangenen Gesetzgebungs- und ggf. auch Rechtsprechungspraxis interpretiert.251 Die Bestimmung als „normativ- rezeptive Kompetenzzuweisung“ ist vor diesem Hintergrund eine Spielart der historischen Auslegung.252 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts setzt die Berücksichtigung der historischen Normvorläufer voraus, dass die Kompetenzmaterie normativ-rezeptiv zugewiesen ist. Darunter soll die Aufnahme eines vorgefundenen Normbereichs als zu regelnde Kompetenznorm verstanden werden.253 Der Normbereich ist hierbei das zu regelnde Rechtsgebiet, so wie es sich traditionell entwickelt hat.254 Normativ-rezeptiv seien beispielsweise folgende Titel: gewerblicher Rechtsschutz, Urheber- und Verlagsrecht (Art. 73 I Nr. 9 GG), Bürgerliches Recht sowie das Strafrecht (Art. 74 I Nr. 1 GG). Die faktisch-deskriptive Kompetenzbezeichnung zeichne sich hingegen dadurch aus, dass bei ihr der zu regelnde Lebenssachverhalt nach faktischen Kriterien benannt wird.255 Als Beispiele werden etwa folgende Materien genannt: Luftverkehr (Art. 73 I Nr. 6 GG); Kriegsschäden und Wiedergutmachung (Art. 74 I Nr. 9 GG); Erzeugung und Nutzung von Kernenergie (Art. 73 I Nr. 14 GG); Abfallwirtschaft, Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung (Art. 74 I Nr. 24 GG).256 Das Bundesverfassungsgericht hat seine Rechtsprechung in dem SpielhallenBeschluss konkretisiert.257 Danach sei das Recht der Spielhallen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) nicht normativ-rezeptiv258, sondern faktisch-deskriptiv zu beurteilen.259 250
Uhle, Normativ-rezeptive Kompetenzzuweisung und Grundgesetz, S. 30 ff.; Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 51; Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 70 Rn. 29. 251 Scholz, in: FG BVerfG, S. 266. Ein Beispiel für eine Interpretation anhand der Rechtsprechungspraxis ist etwa die Altenpflege-Entscheidung in BVerfGE 106, 62 (106 f.). 252 Degenhart, DVBl 2014, 416 (419 f.); Uhle, Normativ-rezeptive Kompetenzzuweisung und Grundgesetz, S. 34 ff. 253 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 51. 254 Vgl. Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 52. Der Normbereich hat hier also eine andere Bedeutung als die „Normbereichsanalyse“, die F. Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, Rn. 397 ff. als Konkretisierungselement vorschlagen. 255 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 51; Uhle, Normativ-rezeptive Kompetenzzuweisung und Grundgesetz, S. 13. 256 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 52. 257 BVerfGE 145, 20. 258 So aber die überwiegende Auffassung im Schrifttum: Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 47: ders., Spielhallen und Geldspielgeräte in der Kompetenzordnung des Grundgesetzes, S. 63; Kluth, Die Gesetzgebungskompetenz für das Recht der Spielhallen, S. 59; Lammers, GewArch 2015, 54 (57); Pieroth / L ammers, GewArch 2012, 1 (2 f.); Sannwald, in: SchmidtBleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, Art. 74 Rn. 139; H.-P. Schneider, Das Recht der Spielhallen nach der Föderalismusreform, S. 34; ders., GewArch 2013, 137; Uhle, Normativ-rezeptive Kompetenzzuweisung und Grundgesetz, S. 25; a. A. Beaucamp, DVBl 2015, 1473 (1474); Dietlein, ZfWG 2014, 261 (264 ff.); ders., in: FS Bethge, S. 6 ff.; ders., ZfWG 2008, 12 f. 259 BVerfGE 145, 20 (62 Rn. 105 f.).
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Im Zuge der Föderalismusreform I übertrug der verfassungsändernde Gesetzgeber das Recht der Spielhallen in die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit der Länder.260 Fraglich war, ob die neu geschaffene Zuständigkeit nur den Erlaubnistatbestand des § 33i GewO für die einzelnen Spielhallen erfasst oder an den Lebenssachverhalt des Betriebs von Spielhallen anknüpft. Der Senat nahm das Problem zum Anlass, die Voraussetzungen einer normativ-rezeptiven Kompetenzzuweisung näher zu konturieren. Insbesondere deute die Formulierung der Kompetenzzuweisung als „Recht des“ nicht auf eine normative Rezeption hin. Eine Beschränkung auf bestimmte Aspekte des Spielhallenrechts, insbesondere auf die in § 33i GewO geregelte Erlaubnispflicht, entspreche nicht dem Wortlaut von Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG, denn die Kompetenz werde nicht als „Recht der Spielhallenerlaubnisse“ bezeichnet.261 Eine normative Rezeption setze das Vorliegen eines entwicklungsmäßig oder ordnungspolitisch weitgehend abgeschlossenen Normkomplexes wie etwa beim Strafrecht voraus. Nur dann könne auf die normativen Strukturen der Kompetenzmaterie, wie sie sich in der Tradition des jeweiligen Rechtsgebiets entwickelt haben, zurückgegriffen werden.262 Das „Recht der Spielhallen“, das bis zur Föderalismusreform 2006 galt und vorwiegend in § 33i GewO verankert war, sei kein in sich abgeschlossenes, historisch gewachsenes Rechtsgebiet.263 Eine Begrenzung der Zuständigkeit der Länder für das Recht der Spielhallen könne deshalb nicht unter Rückgriff auf § 33i GewO bestimmt werden; vielmehr sei an den Lebenssachverhalt des Betriebs von Spielhallen anzuknüpfen.264 Mit diesen Ausführungen knüpft das Bundesverfassungsgericht an das Urteil zur nachträglichen Sicherungsverwahrung an und setzt diese Rechtsprechung kasuistisch fort. Wo aber die Maßstäbe in der Entscheidung zur nachträglichen Sicherungsverwahrung zur Betonung der historischen Auslegung führen, geht mit dem Spielhallen-Beschluss die Ablehnung eben dieser einher. Die Maßstäbe einer normativen Rezeption sollen hier verdeutlichen, dass die Auslegung nach Maßgabe des einfachen Rechts nur unter strengen Anforderungen zulässig ist. Welche das aber genau sind, bleibt unklar. Eine normative Rezeption gelte zwar für das Strafrecht265, im Hinblick auf weitere Rechtsgebiete fehlt aber eine Rechtsprechung zu den tatsächlichen Voraussetzungen einer normativen Rezeption. Der Verweis, es müsse sich um einen entwicklungsmäßig oder ordnungspolitisch weitgehend abgeschlossenen Normkomplex handeln, lässt vor diesem Hintergrund viel Raum zur Spekulation. Im Ergebnis verlangt das Gericht einen abgrenzbaren und langjährig gefestigten einfachgesetzlichen Normbestand266; einen solchen wird man aber nur selten finden können. Sicherlich wird man dies für das Bürgerliche Recht anneh 260
Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 28. 8. 2006, BGBl. I, S. 2035. BVerfGE 145, 20 (59 Rn. 101). 262 BVerfGE 145, 20 (62 Rn. 105). 263 BVerfGE 145, 20 (62 Rn. 106). 264 BVerfGE 145, 20 (59 Rn. 100); krit. dazu H.-P. Schneider, NVwZ 2017, 1073 (1074 ff.). 265 So in den Entscheidungen BVerfGE 109, 190; 134, 33. 266 So explizit BVerwG NVwZ 2017, 791 (793). 261
V. Kompetenz, Typus, Tradition
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men. Beispielsweise hat das Bundesverfassungsgericht das öffentliche Sachenrecht (etwa Rechtsverhältnisse an den öffentlichen Straßen) aus dem Kompetenzbereich des Bürgerlichen Rechts ausgeschlossen.267 Auch ein Staatshaftungsgesetz des Bundes sei unter Berufung auf die Tradition ausdrücklich nicht als Bürgerliches Recht zu subsumieren.268 bb) Kritik des Interpretationsansatzes Interessanterweise verzichtet das BVerfG in einigen Entscheidungen gänzlich auf die Unterscheidung von faktisch-deskriptiven und normativ-rezeptiven Kompetenzzuweisungen. Mitunter legt es vermeintlich faktisch-deskriptive Begriffe wie die „Bundeseisenbahnen“ (Art. 73 Nr. 6 GG a. F.) explizit anhand des Weimarer Verständnisses von Eisenbahnen im Sinne von Art. 7 Nr. 19 WRV aus.269 Auch die Sozialversicherung wird vom Bundesverfassungsgericht als Gattungsbegriff verstanden.270 Damit bestätigt das Gericht einerseits die Relevanz von Begriffsbildern zum verfassungsgebenden Zeitpunkt, andererseits wird aber klargestellt, dass die Begriffe entwicklungsoffen sind und legislatorische Interventionen im Hinblick auf neue Lebenssachverhalte nicht unmöglich gemacht werden sollen.271 In der Altenpflege-Entscheidung verweist das BVerfG zur Konkretisierung des Begriffs des Heilberufs (Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG) auf das Heilpraktikergesetz vom 17. Februar 1939 und zieht die in § 1 Abs. 2 HeilprG enthaltene Definition der Heilkunde heran. Es geht somit in der Sache von einer normativen Rezeption aus. Allerdings distanziert sich das Gericht zugleich von einer absolut verstandenen „versteinernden“ Auslegung insoweit, als dass § 1 Abs. 2 HeilprG „entsprechend dem Gesetzeszweck, möglichen Gesundheitsgefahren vorzubeugen, dynamisch und nicht statisch auszulegen“ sei.272 In anderen Entscheidungen legt das Gericht auch unabhängig von der historischen Entstehung Begriffe dynamisch und tendenziell eher weit aus.273 Dieser Befund lässt die These zu, dass die Unterscheidung von faktisch-deskriptiven und normativ-rezeptiven Kompetenzzuweisungen nicht wirklich die Methode des Bundesverfassungsgerichts prägt. Aus methodischer Sicht ist ohnehin zu bezweifeln, dass deskriptive Begriffe trennscharf normativen Begriffen gegenüberstehen. Deskriptive Begriffe sind Anschauungsbegriffe („Tag“, „Nacht“, „blau“, „grün“), während ein normativer Begriff seinen „normativen“ Charakter dadurch erhält, dass er Bestandteil eines 267
BVerfGE 42, 20 (28 ff.). BVerfGE 61, 149 (174 ff.); dazu Krause / Schmitz, NVwZ 1982, 281 ff. 269 BVerfGE 26, 281 (299); 26, 338 (370). 270 Für die Sozialversicherung: BVerfGE 88, 203 (313); 114, 196 (221); teilweise auch für die öffentliche Fürsorge: BVerfGE 81, 156 (186) unter Verweis auf BVerfGE 75, 106 (146). 271 Rixen, DVBl 2012, 1393 (1394). 272 BVerfGE 106, 62 (107). 273 So etwa das Recht der Wirtschaft BVerfGE 135, 155 (196, Rn. 101) oder die öffentliche Fürsorge BVerfGE 140, 65 (78, Rn. 29). 268
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Normsatzes ist.274 Seine Bedeutung folgt nicht aus der bloßen Wortsemantik, sondern muss teleologisch interpretiert werden. Das heißt, dass die Bedeutung einer Aussage mit Blick auf den mit der Norm verbundenen Zweck zu interpretieren ist. Zwar ist es grundsätzlich sinnvoll, zwischen deskriptiven und normativen Sätzen zu unterscheiden; ihre Unterscheidungskraft kann aber nur gradueller Natur sein, da der Normbereich, den der Kompetenznormsetzer vorfindet, sowohl normative als auch faktische Elemente enthält.275 Von einem rein deskriptiven Begriff kann letztlich nur ausgegangen werden, wenn sich der Wortsinn schon aus sich selbst heraus erklären lässt. Solche deskriptiven Sätze lassen sich im Recht aber nur selten finden und bei Kompetenznormen ist dies erst recht unmöglich, da sie ihren Tatbestand lediglich etikettieren und sich unter der Ermächtigung eine Vielzahl einfachgesetzlicher Regelungen und Regelungsmöglichkeiten verbergen. Auch vermeintlich „deskriptive“ Kompetenztitel müssen folglich im Hinblick auf ihre Randbereiche ausgelotet werden; ausschließlich „deskriptiv“ können sie also nicht sein. Es gilt deshalb der Grundsatz: „Innerhalb eines Normsatzes ist jeder auslegungsbedürftige Begriff normativ“276. Aus diesem Grund bringt die Unterscheidung zwischen faktisch-deskriptiven und normativ-rezeptiven Begriffen keinen Mehrwert. Sie verschleiert, dass es weniger um ein binäres Verhältnis, sondern vielmehr um eine gleitende Skala geht, wie stark das vorgefundene Recht in den Verständnishorizont des Grundgesetzes übernommen werden sollte. Dies ist eine Frage der Ergiebigkeit der historischen Auslegung, die nicht mithilfe einer vorstrukturierenden Unterscheidung überspielt werden darf. Anderenfalls birgt die Argumentation die Gefahr einer petitio principii. In diesem Zusammenhang haben Höfling und Rixen zutreffend darauf hingewiesen, dass „normtextliche Ausgestaltungen nicht gleichsam als ‚Selbstläufer‘ fungieren, also nicht zwingend einen bestimmten normativen Sinn intendieren müssen. Die normtextliche Gestalt kann immer nur im Verein mit anderen Auslegungskriterien Auskunft über den maßgeblichen Normsinn geben.“277 Deshalb lassen sich aus der bloßen Formulierung eines Kompetenztitels (z. B. „Recht des …“) noch keine Anhaltspunkte für den normativ-rezeptiven Charakter ableiten.278 Aus diesen Gründen sollte weniger die Unterscheidung von faktisch-deskriptiven und normativ-rezeptiven Begriffen im Fokus stehen, sondern vielmehr die Frage, ob und in welchem Umfang ein historisches Begriffsbild zur Sinnermittlung 274
Zu den Begriffen normativ und deskriptiv Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 6, S. 59 f. Vgl. Pernthaler, Kompetenzverteilung in der Krise, S. 81 in Bezug auf das österreichische Verfassungsrecht. 276 Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 6, S. 59. 277 Höfling / Rixen, GewArch 2008, 1 (3). 278 Auch vermeintlich faktisch-deskriptive Begriffe wie Sozialversicherung können sehr wohl historisch geprägt sein, vgl. nur Axer, in: BK, Art. 74 Nr. 12 Rn. 26 ff.; Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 109 ff. Das BVerfG hat auch vermeintlich deskriptive Begriffe wie die „Eisenbahnen“ Art. 73 I Nr. 6a GG) historisch anhand des Weimarer Verständnisses interpretiert, vgl. BVerfGE 26, 338 (370). 275
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eines Kompetenztitels taugt. Soll ein Kompetenztitel auch für neuartige legislatorische Konzepte offenbleiben, so wird das vorgefundene Recht nur auf einen Begriffskern des Kompetenzbegriffs hindeuten.279 Worin dieser besteht, dazu liefert die Unterscheidung keinen Beitrag. Auf dieses Begriffspaar sollte zukünftig verzichtet werden. d) Mutmaßung der inhaltsgleichen Übernahme: Das „Schweigen“ des Verfassungsgebers aa) Konzept Wenn also eine Unterscheidung zwischen normativ-rezeptiv und faktisch- deskriptiv begrifflich nicht geboten ist, so kann grundsätzlich jeder Kompetenztitel der historischen Auslegung zugänglich sein; dies freilich nur, wenn Vorläufernormen als rechtlich relevant ausgemacht werden können. Entscheidend ist damit, inwieweit davon ausgegangen werden kann, dass der Verfassungsgeber (bzw. der verfassungsändernde Normsetzer) eine vorgefundene Rechtslage tatsächlich auch zum verfassungsrechtlichen Maßstab erheben wollte. Dabei kann unterschieden werden: Ergibt sich unmittelbar aus den Gesetzesmaterialien im Sinne einer kollektiven Intention der Wille des Kompetenznormsetzers, dass das Vorgefundene zugleich den Inhalt der Kompetenznorm bestimmen sollte, so spricht bereits die genetische Auslegung für die Übernahme des früheren Rechts. Genauso kann auf die Gesetzesmaterialien zurückgegriffen werden, wenn aus ihnen zu entnehmen ist, dass die frühere Kompetenzordnung und die dazu ergangene Staatspraxis gerade nicht Gegenstand der heutigen Kompetenzordnung sein sollte. Schwieriger sind aber die Kompetenztitel zu bestimmen, die ohne Anhaltspunkte aus der Entstehungsgeschichte auskommen. Möchte der Rechtsanwender nun mit dem historischen Zusammenhang argumentieren, so kann er sich kaum darauf stützen, dass der Kompetenznormsetzer die Norm so und nicht anders verstanden wissen wollte, denn auf ergiebiges Quellenmaterial kann er gerade nicht zurückgreifen. Er muss deshalb mutmaßen oder vielmehr fingieren, dass der Verfassungsgeber von dem vorgefundenen Sprachgebrauch nicht abrücken wollte. Das überzeugt auch. Denn das niederrangige Recht, das der Kompetenznormsetzer vorfand, bildete jedenfalls auf normativer Ebene den herkömmlichen Sprachgebrauch der Zeit ab. Um die Absichten des historischen Verfassungsgebers zu rekonstruieren, ist es hilfreich zu wissen, auf welche Traditionen und sprachliche Konventionen er aufgebaut hatte.280 In aller Regel wird der Normerzeuger, „schon um nicht mißverstanden zu werden und auch deswegen, weil er nicht ohne weiteres außerhalb der Kommunikationsprozesse seiner Umwelt gedacht werden darf, sich an die allgemeingülti 279
Pestalozza, JZ 2004, 605 (607). So auch zum Hintergrund der Versteinerungstheorie des österreichischen Verfassungsgerichtshofs Wiederin, in: FS Winkler, S. 1236. 280
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
gen Kommunikationsregeln halten“.281 Das Bundesverfassungsgericht sprach sogar in einer Entscheidung vom „allgemeinen Auslegungsgrundsatz, daß, soweit das Grundgesetz Materien aus der Weimarer Reichsverfassung übernommen hat, diese in demselben Sinne zu verstehen sind wie unter der Weimarer Reichsverfassung“282. Die Beratungen im Parlamentarischen Rat machen deutlich, dass die Debatten um die Zuweisung von Kompetenzen sich eng an das vorgefundene rechtliche Umfeld, insbesondere an die Kompetenzkataloge der Weimarer Reichsverfassung hielten.283 Dies lag vor allem daran, dass es, so wie es der Herrenchiemsee-Entwurf vorsah, darum ging, „möglichst klare Verhältnisse für die Zuständigkeitsabgrenzung zu schaffen“284. Dem Ziel des Herrenchiemsee-Konvents wie auch des Parlamentarischen Rates, eine möglichst eindeutige und bestimmbare Kompetenzordnung zu schaffen, kann nur Rechnung getragen werden, wenn davon ausgegangen wird, dass – sollte es keine gegenteiligen Anhaltspunkte geben – sich der Kompetenznormsetzer an den herkömmlichen Sprachgebrauch orientierte und diesen stillschweigend übernahm. Dass der Parlamentarische Rat sich an einfachgesetzlichen Sprachvorstellungen orientierte, zeigt sich anschaulich in der Gegenüberstellung von Privatversicherung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) und Sozialversicherung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG). Der Verfassungsgeber orientierte sich an der sich seit der Reichsversicherungsordnung (1911) entwickelnden einfachgesetzlichen Unterscheidung von Sozialversicherung und Privatversicherung.285 Dem Parlamentarischen Rat war diese Sprachentwicklung bewusst. Was er unter „Sozialversicherung“ verstand, ist somit der Gesamtheit der 1949 vorhandenen Rechtsnormen und der durch sie geformten Strukturen der Materie zu entnehmen.286 Auch der Titel für das „bürgerliche Recht“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) sei in diesem Sinne inhaltsgleich übernommen. Die stetige Verwendung und beinahe wörtliche Übernahme des Begriffs in den Kompetenzordnungen der neueren deutschen Verfassungsgeschichte gebe „einen Fingerzeig, daß dieser Begriff grundsätzlich in demselben Sinne wie früher verstanden werden will“287. Folgerichtig hat das Bundesverfassungsgericht auf das Konzept einer „Mutmaßung der inhaltsgleichen Übernahme“ in vielen Urteilen und Beschlüssen entschei 281
Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 353. BVerfGE 67, 299 (320) unter Verweis auf BVerfGE 3, 407 (415); 33, 52 (61); 42, 20 (29). 283 Umfassend zu den Beratungen im Parlamentarischen Rat Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 121 ff. 284 Herrenchiemsee, Unterausschuss II: Zuständigkeitsfragen, Bericht über die Zuständigkeit des Bundes zur Rechtsetzung, Anlage 2 zum Prot. der 10. Sitzung, undat. [19. August 1948], S. 352–358, 370. 285 Interessanterweise handelt es sich bei der Herausbildung der Sozialversicherung um eine ausschließlich einfachgesetzliche Entwicklung. Verfassungsrechtlich existierte bis dahin nur ein einheitlicher Kompetenztitel für die „Versicherung“. Dies wird nachgezeichnet bei Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 113 ff. 286 Das BVerfG bezeichnet die Sozialversicherung als Gattungsbegriff, der an sein traditionelles Bild anknüpft, vgl. BVerfGE 11, 105 (112); 75, 108 (146); 113, 167 (196); 114, 196 (221); dazu umfassend Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 115. 287 BVerfGE 61, 149 (175). 282
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dungserheblich abgestellt. Die folgende exemplarische und nicht abschließende Auflistung macht deutlich, welche besondere Bedeutung das Bundesverfassungsgericht der vorkonstitutionellen Staatspraxis und dem herkömmlichen Begriffsverständnis einräumt: – Presserechtliche Verjährungsvorschriften als Presserecht im Sinne des früheren Presserechts, insbesondere § 22 RPresseG vom 7. Mai 1874288, – das Gesetz über Fernmeldeanlagen von 1928 zur Abgrenzung von Fernmeldewesen (Art. 73 Nr. 7 GG a. F.) und Rundfunk289, – Traditionelles Verständnis von Strafrecht290, – Begriff der Bundeseisenbahn (Art. 73 Nr. 6 GG a. F.) in Anlehnung an die Staatspraxis unter Art. 7 Nr. 19 WRV291, – Bestimmung des Begriffs des Straßenverkehrs in Abgrenzung zum Straßen- und Wegerecht in Anlehnung an Art. 7 Nr. 19 WRV292, – Abgrenzung des Bürgerlichen Rechts vom Recht des öffentlichen Wegeeigentums293 sowie der Staatshaftung294, – Auslegung des Warenverkehrs (Art. 73 Nr. 5 GG) in Übereinstimmung mit Art. 6 Nr. 6 WRV295 und – Zuordnung eines badischen Gebäudeversicherungsmonopols zum Recht der Wirtschaft296. Die Ermittlung des Normumfeldes, das der Kompetenznormsetzer vorfand, ist damit ein wichtiger, oft sogar der entscheidende Aspekt der Normkonkretisierung.297 Die historische Auslegung rekonstruiert den Willen des Gesetzgebers und 288 BVerfGE 7, 29 (43). Zur besonderen Bedeutung der Tradition für die Auslegung des Presserechts ausführlich Cornils, in: Löffler, Presserecht, Einl Rn. 38 ff. 289 BVerfGE 12, 205 (225 f.). 290 BVerfGE 23, 113 (123 f.): „Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, daß der Parlamentarische Rat dem Begriff ‚Strafrecht‘ einen anderen Sinn beigemessen hat als die herrschende Lehre der Weimarer Zeit.“ (S. 124); ebenso BVerfGE 109, 190 (213 ff.); 134, 33 (5f ff.). 291 BVerfGE 26, 338 (370 ff.); bestätigt in BVerfGE 97, 198 (219). Vgl. vor allem die Formulierung in BVerfGE 26, 338 (374): „Trotz des Umstandes, daß die Befugnisse des Bundes nach dem Grundgesetz in vieler Hinsicht beschränkter sind als die des Reichs nach der Weimarer Reichsverfassung […], fehlt es an jeglichem Anhaltspunkt dafür, daß die Kompetenzen des Bundes für die Bundeseisenbahnen hinsichtlich der Planfeststellung geringer sind als die entsprechenden Befugnisse des Reichs und daß die formelle und materielle ‚Konzentrationswirkung‘ dieser Planfeststellung heute eine geringere ist als früher […]“. 292 BVerfGE 67, 299 (315 ff.). 293 BVerfGE 42, 20 (28 ff.). 294 BVerfGE 61, 149 (174 ff.). 295 BVerfGE 33, 52 (62 f.). 296 BVerfGE 41, 205 (220). 297 Vgl. auch BVerfGE 98, 288 (301). Die Entscheidung betrifft zwar nicht die Auslegung einer Kompetenznorm, sondern das Verständnis des Begriffs der Behinderung aus Art. 3 III
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
beruht auf einer Vermutung aufgrund konkreter Anhaltspunkte. Zu beachten ist zugleich, dass eine Vermutung nicht unumstößlich, sondern widerlegbar ist. bb) Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung? Die Heranziehung der historischen Entwicklung einer Kompetenz ist nicht unumstritten. Ein naheliegendes Gegenargument ist die Maßstabsumkehr.298 Vor allem Walter Leisner hat in der Schrift „Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung“299 vor der Gefahr einer unkontrollierten Ausdehnung niederrangigen Rechts in das Verfassungsrecht gewarnt. Durch den induktiven Schluss „von unten nach oben“ drohe „das Ende selbständigen Verfassungsrechts und selbständiger Verfassungsmethode“.300 Diese Problematik beschreibt Leisner auch anhand der Kompetenzabgrenzung. Gerade bei Kompetenznormen, die sich eher durch ihre Elastizität als ihre Technizität auszeichnen würden, könne ein unkritischer Verweis auf niederrangige Inhalte fatale Folgen haben. Denn ein solcher Rückgriff bedeute „glatte Verweisung auf den gesamten niederrangigen Normbestand.“ Damit würde das Bund-Länder-Verhältnis weitgehend der Bundesgesetzgebung überantwortet und der Gesamtraum der Kompetenzregeln zur „Verfassung nach Gesetz“.301 Ähnlich argumentierten auch Müller, Pieroth und Rottman. Es dürfe wegen der Rangüberlegenheit des Verfassungsrechts nicht das „vorverfassungsmäßige Gesamtbild“ auf der Ebene einfachen Rechts für die Konkretisierung des Grundgesetzes, sondern nur umgekehrt dieses für die Beurteilung des Gesetzesrechts verbindlich sein.302 Die Kompetenzfrage sei eine verfassungsrechtliche Frage und dürfe nicht mit niederrangiger Methodik und Dogmatik gelöst werden. Insbesondere rechtfertige „das Schweigen des Grundgesetzes“ keine Argumentation, „die das Verfassungsrecht zugunsten von 2 GG. Der gedankliche Schritt kann aber gleichwertig auch auf Kompetenznormen übertragen werden: „Was unter Behinderung zu verstehen ist, läßt sich den Gesetzesmaterialien […] nicht unmittelbar entnehmen. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat aber erkennbar an das Begriffsverständnis angeknüpft, das im Zeitpunkt der Verfassungsänderung gebräuchlich war. Dieses hat vor allem in § 3 Abs. 1 S. 1 des Schwerbehindertengesetzes Ausdruck gefunden“. 298 Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammengangs, S. 73 f.; Rengeling, HStR VI, § 135 Rn. 35 ff; Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Abs.1 Rn. 52; Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, S. 39 f.; ähnlich auch Dietlein, ZfWG 2008, 12 (13); ders., in: FS Bethge, S. 7. 299 Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung sowie schon ders., JZ 1964, 201. 300 Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, S. 21. 301 Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, S. 36; vgl. auch Sanden, Die Weiterentwicklung der föderalen Strukturen, S. 320, der die Kriterien der historischen Auslegung „wegen der drohenden Beliebigkeit der Entscheidung“ kritisiert. Bedenken auch bei März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 124 ff. 302 F. Müller / Pieroth / Rottmann, Strafverfolgung und Rundfunkfreiheit, S. 34.
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vorkonstitutionellem Gesetzesrecht in den Hintergrund drängt. Sowenig wie die materielle Verfassungsmäßigkeit von Gesetzesrecht verbürgt ein solches ‚Schweigen‘ des Grundgesetzes seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten traditionellen Rechtsmaterie. Diese Frage ist nur anhand der Kompetenzregeln und Materie- Umschreibungen des Grundgesetzes zu lösen“303. Statt Kompetenznormen statisch-entstehungszeitlich auszulegen, sucht Stettner die Lösung in einer flexiblen Auslegung. Er gibt zu bedenken, „daß auch das Grundgesetz Produkt einer nicht wiederholbaren Verfassungssituation ist, daß es zunächst aus dieser heraus zu verstehen ist und eine übermäßige Betonung früherer Verfassungszustände der Positivität der Verfassung und der Flexibilität ihrer Kompetenzkataloge nicht gerecht wird.“304 Gerade die Berufung auf die Historie könne dazu führen, „frühere Rechtszustände einer anders gearteten Verfassungswelt aufzustülpen und die Kompetenzkataloge den stürmisch anbrandenden Gegenwartsanforderungen zu verschließen“.305 Das BVerfG habe sich „selbst durch zu starre und untaugliche Argumentationsfiguren die Hände gebunden und dadurch die Verfassung auf kompetentiellem Sektor zu wenig weiterentwickelt, vielmehr diese Last […] im wesentlichen dem verfassungsändernden Gesetzgeber überlassen“.306 Da Kompetenzen vor allem ein Instrument der Integration und Kooperation darstellten, sei eine großzügige, dem Wandel des sozialen Substrats gerecht werdende Verfassungsauslegung geboten, die unter anderem auch das Hilfsmittel der Analogie mit einbeziehe.307 cc) Stellungnahme Der Vorwurf der Maßstabsumkehr ist ernst zu nehmen. Griffe man vorschnell auf das einfache Recht zurück, um den Gehalt der Verfassung zu interpretieren, so würde verkannt, dass nicht die Gesetze die Verfassung bestimmen, sondern umgekehrt die Verfassung die Gesetze. Bei der Auslegung von Kompetenznormen ist nicht nur der Vorrang, sondern auch der Selbststand der Verfassung zu bewahren: Kompetenznormen müssen in ihrem Inhalt unabhängig sein von den Rechtsmaterien, die sie zuteilen.308 Die einfachgesetzliche Rechtslage kann nicht die Verfas 303
F. Müller / Pieroth / Rottmann, Strafverfolgung und Rundfunkfreiheit, S. 34. Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 70 Rn. 31. 305 Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 410. 306 Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 410. 307 Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 412; ähnlich auch Fehling, in: Aulehner u. a., Föderalismus, S. 53 ff.; Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. S. 72 ff.; vgl. schon vorher Bullinger, DÖV 1970, 797 (799); ders., Die Mineralölfernleitungen, S. 53 f. 308 Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 59. Vgl. auch Rengeling, in: HStR VI, § 135 Rn. 36 fordert „Größte Vorsicht […] bei der Rezeption einfachen Rechts in das Verfassungsrecht; ähnlich auch Rengeling / Szczekella, in: BK (2007), Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 Rn. 146 zur Auslegung des Begriffs Gaststätte: „[…] weil es sich mittlerweile um einen verfassungsrechtlichen Begriff handelt, der als solcher aus sich heraus zu interpretieren ist, will man nicht einer Gesetzmäßigkeit der Verfassung das Wort reden.“ 304
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sung selbst bestimmen – die Kompetenzmäßigkeit der Gesetze verträgt nicht die Gesetzmäßigkeit der Kompetenznormen.309 Allerdings droht diese Gefahr dann nicht, wenn der Interpret sorgfältig auf die Perspektive des Kompetenznormsetzers achtet.310 „Der historische Verfassungsgesetzgeber hat sich in einer Welt bewegt, in der manches selbstverständlich war, was uns heute fremd und unklar erscheint.“311 Um seine Intentionen zu ermitteln, muss man sich die Tradition in Erinnerung rufen, auf die er aufgebaut hat und die seine Entscheidungen bestimmten. Die historischen Materialien und somit das vorgefundene einfache Recht werden auch nicht zum Kompetenzinhalt gemacht, die hinzugezogenen Materialien sollen lediglich argumentative Hinweise für den Begriffsinhalt der Verfassungsnorm liefern.312 Die (historische) Auslegung muss deshalb die Sicht des Verfassungsgesetzgebers bei der Schaffung des Kompetenztitels berücksichtigen.313 Nimmt der verfassungsändernde Gesetzgeber nachvollziehend auf eine bestehende einfachgesetzliche Rechtslage Bezug und möchte er gerade diese Rechtslage als Kompetenzbereich verstanden wissen, dann wird er gerade diese Rechtslage für die Zukunft zum verfassungsrechtlichen Maßstab erheben wollen. Darin liegt keine Bindung an das einfache Recht, sondern umgekehrt die Übernahme dieses Rechts aufgrund seines verfassungsautonomen Willens.314 Dass eine traditionell zu verstehende Kompetenznorm auch im Rahmen der historischen Auslegung berücksichtigt werden muss, ist vor diesem Hintergrund „Ausdruck des interpretatorischen Respekts vor dem Willen des Verfassungsgebers“315. Diesen Willen nicht zu berücksichtigen hieße, der historischen Auslegung für die Auslegung von Kompetenznormen insgesamt keinen Stellenwert einzuräumen – dies wäre die Position einer objektiven Theorie, die in dieser Absolutheit nicht mehr vertreten wird.316 Ohnehin ist die Nutzung der historischen Auslegung oft schon deshalb eine Notwendigkeit, weil andere Argumente – etwa aus dem Wortlaut oder aus der Systematik – oft nicht in der Lage sind, die Kompetenzen eindeutig und endgültig zu definieren. Gerade dort, wo der Normtext unklar ist und die Querbezüge zum sonstigen Verfassungsrecht spärlich sind, bleibt dem Interpreten oft gar nichts anderes 309
Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 59 im Anschluss an Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, S. 26 ff. 310 Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 52. 311 Wiederin, in: FS Winkler, S. 1236. 312 Vgl. dazu auch zur Versteinerungstheorie Pernthaler, Kompetenzverteilung in der Krise, S. 81. 313 Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 60; Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Bd. 8, 3. Aufl., Art. 70 Abs. 1 Rn. 60. Dies ist auch der Anknüpfungspunkt der Versteinerungstheorie, die der Österreichische Verfassungsgerichtshof vertritt, vgl. dazu Wiederin, in: FS Winkler, S. 1235 f. 314 Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 52; Uhle, Normativ-rezeptive Kompetenzzuweisung und Grundgesetz, S. 35. 315 Uhle, Normativ-rezeptive Kompetenzzuweisung und Grundgesetz, S. 35. 316 Zweites Kapitel I. 2.
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übrig, als auf die historische Auslegung zurückzugreifen.317 Zwar ist richtig, dass die historische Auslegung in dem hier verstandenen Sinne nur mit Mutmaßungen arbeitet und somit kein optimales Maß an rationaler Argumentation bietet; der Vorteil der historischen Auslegung liegt aber darin, dass sie es ermöglicht, zusätzliches Material für die Auslegung heranzuziehen. Die historische Auslegung vergrößert die Palette diskutierbarer Argumentationsmöglichkeiten.318 Vor allem muss man die Konsequenzen bedenken, die entstünden, verzichtete man auf die historische Auslegung: Wie sollte man die teils so unbestimmten Kompetenzbegriffe konkretisieren, wenn nicht unter Berücksichtigung historischer Elemente? In diesem Zusammenhang stellt Heintzen gelassen fest: „Bei allem Beharren auf Autonomie muss der Verfassungsinterpret aber letztlich zugeben, dass er ratlos wäre, sollte er z. B. die Begriffe ‚gewerblicher Rechtsschutz‘, ‚Urheberrecht‘ und ‚Verlagsrecht‘ (Art. 73 Nr. 9 GG) allein aus dem Grundgesetz bestimmen“319. Der Ansatz, statt historisch-statisch vorzugsweise flexibel und rechtsschöpferisch auszulegen320, verlagert demgegenüber das Interpretationsproblem nur auf eine andere Ebene. Gerade in der Unbestimmtheit liegt nämlich die grundlegende Schwierigkeit der Kompetenzanwendung.321 Hier die historische Auslegung zu vernachlässigen und stattdessen „flexibel“ oder gar „rechtsschöpferisch“322 abzugrenzen, überlässt die Kompetenzauslegung der interpretatorischen Beliebigkeit. Zudem muss im Auge behalten werden, was überhaupt die Funktion der Kompetenzordnung ist: Sie hat die Aufgabe „den Fluss des staatlichen Lebens zu kanalisieren“323. Eine Kompetenz zeigt ihre Wirkung vor allem im Hinblick auf die Zukunft. Sie soll nämlich in Bezug auf ein unbestimmtes Ereignis möglichst bestimmbar eine rechtliche Aussage darüber treffen, welcher Kompetenzträger zuständig ist.324 Das Postulat einer flexiblen Auslegung verdunkelt diesen Zusammenhang. Denn offenbar möchte Stettner Kompetenzen flexibler auslegen, weil er sonst einen Verlust der normativen Kraft der Verfassung befürchtet. Leis 317 BVerfGE 67, 299 (315). Dies wird auch in der Gebäudeversicherungsmonopol-Entscheidung deutlich, vgl. BVerfGE 41, 205 (220): „Da der Wortlaut und der systematische Zusammenhang dieser Zuständigkeitsregelung keine ausreichende Bestimmung des Begriffs ‚privatrechtliches Versicherungswesen‘ ermöglicht, ist für die Ermittlung des Umfangs […] der historische Zusammenhang in der deutschen Gesetzgebung zu beachten; dem Merkmal des ‚Traditionellen‘ und ‚Herkömmlichen‘ kommt dabei wesentliche Bedeutung zu. Entstehungs geschichte und Staatspraxis gewinnen deshalb für die Auslegung von Zuständigkeitsvorschriften besonderes Gewicht“. Vgl. auch Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 44; Starck, in: HStR XII, § 271 Rn. 74. 318 Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 44. 319 Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 196. 320 Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 412; Fehling, in: Aulehner u. a., Föderalismus, S. 53 ff.; Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. S. 72 ff. 321 Dies erkennt auch Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 379, er zieht hieraus aber eine andere Schlussfolgerung. 322 So insbesondere Fehling, in: Aulehner u. a., Föderalismus, S. 53 ff. 323 Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 66. 324 Zweites Kapitel II. 1.
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tete nämlich die historische Auslegung einen Beitrag zu einer (unerwünschten) Erstarrung der Kompetenzordnung, so zöge sich das Bundesverfassungsgericht von seiner Aufgabe zurück, das Verfassungsrecht fortzuentwickeln und überließe diese Last dem verfassungsändernden Gesetzgeber.325 Doch gerade dies ist die Aufgabe des Kompetenzrechts: Es soll sowohl dem Bund als auch den Ländern eine klare Grundlage geben, was wer zu regeln hat. Eine flexiblere Auslegung, um im Hinblick auf die soziale Wirklichkeit unzweckmäßige Auslegungsergebnisse zu vermeiden, läuft der Ordnungsfunktion der Kompetenzordnung zuwider.326 Die Kompetenzordnung soll möglichst klare und eindeutige Ergebnisse liefern; die „Richtigkeit“327 des Ergebnisses – dies bemerkt Herbst zutreffend328 – steht demgegenüber eher im Hintergrund. Ferner liegt in einer „Erstarrung des Kompetenzrechts“ auch kein Verlust an Normativität. Eine etwaige Zementierung der Kompetenzordnung bedeutet nicht die Zementierung des gesellschaftlichen Lebens, sondern nur die Aussage, dass eben der andere Kompetenzträger zur Regelung befugt ist. Nimmt man das Verteilungsprinzip ernst, dann gibt es prinzipiell keine Materie, die nicht geregelt werden kann.329 Entweder kann diese einer titulierten (Bundes-)Kompetenz zugeordnet werden. Kann sie das nicht, so sind gem. Art. 70 Abs. 1 GG die Länder zuständig. Ist eine gefundene Lösung politisch unbefriedigend, so ist der verfassungsändernde Gesetzgeber aufgerufen, Abhilfe zu leisten. Gerade die Tatsache, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber sowohl 1994 als auch 2006 das Kompetenzrecht umfassend reformierte, spricht dafür, dass die Funktionsverteilung zwischen dem verfassungsändernden Gesetzgeber und dem Bundesverfassungsgericht – wenn auch langsam und schrittweise – prinzipiell funktioniert. Die Argumentation, das Bundesverfassungsgericht müsse Kompetenzen flexibel auslegen, um Verfassungsänderungen zu vermeiden, verdreht diese sinnvolle Funktionsverteilung in ihr Gegenteil. Das Bundesverfassungsgericht soll die Verfassung anwenden, nicht sie entwerfen. e) Voraussetzung der Übernahme im Einzelnen Soweit also das Bundesverfassungsgericht auf die Vorgeschichte der Kompetenznormen einschließlich der Staatspraxis zurückgreift, um Anhaltspunkte für die Perspektive des Verfassungsgebers zu finden, ist dagegen grundsätzlich nichts einzuwenden. Dass der Verfassungsgeber bzw. der verfassungsändernde Gesetzgeber die Vorgeschichte tatsächlich aufgegriffen hat und sie für das konkrete Auslegungs 325
Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 410. Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 67 fasst dieses Problem wie folgt zusammen: „Das Skelett des bundesstaatlichen Corpus löst sich auf in seine Weichteile“. 327 Im Sinne einer politischen und materiellen Zweckmäßigkeit. 328 Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 45. 329 Lutz, Vielfalt im Bundesstaat, S. 161. 326
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ergebnis auch zu beachten ist, ist damit freilich nicht gesagt. Ebenfalls ist nicht gesagt, dass der Kompetenzträger den vorverfassungsrechtlichen Rechtsrahmen nur „kopieren“ dürfe.330 All die Bedenken, die gegen die historische Auslegung ins Spiel gebracht worden sind, greifen im Ergebnis nur, wenn man erstens ausschließlich auf die historische Auslegung zurückgreift und andere Auslegungsvarianten ausblendet und zweitens das historische Material derart rigide anwendet, dass für eine Berücksichtigung des sozialen Wandels kein Raum verbleibt. Deshalb widmen sich die folgenden Überlegungen der Frage, in welchem Umfang und in welchen Grenzen das vorgefundene historische Material herangezogen werden kann. Deshalb sollen im Folgenden die weiteren Voraussetzungen für eine solche Mutmaßung ausdifferenziert werden. Es gilt zu zeigen, dass die historische Auslegung – sofern gewisse Regeln beachtet werden – durchaus flexible Lösungen zulässt. Konkret müssen die folgenden Fragen beantwortet werden: – Was ist der relevante Zeitpunkt für die Übernahme der Tradition? – Welche vorgefundene Verfassungstradition kommt als Material in Betracht? – In welchem Umfang determiniert die historische Auslegung die Begriffsbildung einer Kompetenznorm und inwiefern können neue Rechtsentwicklungen und Lebenswirklichkeiten einbezogen werden? aa) Zeitpunkt der Auslegung Die historische Auslegung knüpft an das Normverständnis des Kompetenznormsetzers zum Zeitpunkt der Schaffung der Kompetenznorm an. Es dürfen deshalb alle gesetzlichen Entwicklungen berücksichtigt werden, die Aufschluss über die Perspektive des Verfassungsgebers (bzw. verfassungsändernden Gesetzgebers) geben. Auch der Rekurs auf Entwicklungen aus der Zeit des Deutschen Kaiserreichs kann sinnvoll erscheinen, wenn er in der Lage ist, eine Kontinuität oder Diskontinuität einer Verfassungs- und Gesetzgebungsentwicklung nachzuweisen. Im Hinblick auf den maßgeblichen Zeitpunkt ist die endgültige Beschlussfassung maßgeblich, also der Tag, an dem der Kompetenznormsetzer den Inhalt einer Kompetenzmaterie endgültig fixiert hat. Bei verfassungsändernden Gesetzen ist dies der Zeitpunkt der letzten und endgültigen Beschlussfassung durch den Bundestag (Art. 77 Abs. 1 GG).331 Die Schlussabstimmung im Plenum stellt den Gesetzesinhalt mit bindender Wirkung fest.332 Da der Gesetzesbeschluss nach dem Grundsatz der „Unverrückbarkeit des Gesetzes“ nicht mehr durch den Gesetzgeber 330
So auch Kluth, Die Gesetzgebungskompetenz für das Recht der Spielhallen, S. 42. Auf die Kritik einer „Änderungssperre“ für die Zukunft mit der Folge der Versteinerung der Kompetenzordnung stellt vor allem Dietlein, ZfWG 2008, 12 (13); ders., in: FS Bethge, S. 7 ab. 331 Der letzte Zeitpunkt ist jedenfalls die endgültige Beschlussfassung nach Einberufung und abschließender Tätigkeit des Vermittlungsausschusses (Art. 77 Abs. 2 S. 5 GG). 332 Ossenbühl, HStR V, § 102 Rn. 40.
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umgestoßen werden kann333, ist mit dem Gesetzesbeschluss die parlamentarische Phase abgeschlossen. Folglich können historische Erwägungen nur bis zu diesem Stadium in die Auslegung einfließen. Entsprechendes gilt auch für die Beschlussfassung des Parlamentarischen Rats. Dieser hat das Grundgesetz am 8. Mai 1949 verabschiedet. Alle rechtlichen Entwicklungen bis zu diesem Tag können dem Parlamentarischen Rat zugerechnet werden. Dem Kompetenznormsetzer kann nur ein solches Sprachverständnis unterstellt werden, von dem er zum Zeitpunkt der Beschlussfassung Kenntnis hatte. Dies schließt es insbesondere aus, von einer späteren Staatspraxis auf das Verständnis des Kompetenznormsetzers zu schließen. Wenn das Bundesverfassungsgericht die nachträgliche Staatspraxis zur Normkonkretisierung anführt334, so ist dies keine historische Auslegung, da ihr der gegenständliche Bezug zur mutmaßlichen Willens betätigung des Kompetenznormsetzers fehlt. Eine solche Argumentation mag dann als geltungszeitliche Auslegung berechtigt sein335, eine „historische“ ist sie aber nicht. Die Beschlussfassung bildet die Zäsur zwischen einer historisch-statischen Auslegung und einer dynamisch-evolutiven Auslegung. Gegen diese Ansicht kann nicht eingewandt werden, dass eine nachträgliche Staatspraxis auch ein Indiz dafür sein kann, dass der Kompetenznormsetzer zum Zeitpunkt der Normsetzung gerade dieses Verständnis hatte.336 Der Gesetzgeber ist nicht im Sinne einer „authentischen Interpretation“337 befähigt, eine unklare oder nicht ermittelbare Willensbetätigung des Verfassungsgebers bzw. des verfassungsändernden Gesetzgebers durch eine nachträgliche Willensäußerung klarzustellen, zumal beachtet werden sollte, dass der Bundesgesetzgeber ohnehin nicht mit dem 333
Maunz, in: FS Weber, S. 299; H. Schneider, Gesetzgebung, Rn. 128. BVerfGE 33, 125 (153 f.); 41, 205 (222 f.); 68, 319 (328); 106, 62 (118 f.); BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 124 ff. 335 Dazu unter Zweites Kapitel VI. 2. 336 Das BVerfG scheint dieser Argumentation nicht abgeneigt: Gelegentlich versucht es mithilfe der nachkonstitutionellen Staatspraxis das gefundene historische Auslegungsergebnis zu bestätigen, z. B. in BVerfGE 41, 205 (222); 68, 319 (329); 106, 62 (118); BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 116 ff. 337 Anders etwa noch das allgemeine preußische Landrecht von 1794. So sahen die §§ 46 ff. ALR die Pflicht des Richters vor, bei Zweifeln über den Sinn des Gesetzes, dies der „Gesetzes commißion“ anzuzeigen „und auf deren Beurtheilung“ anzutragen. Zur authentischen Interpretation („interpretatio iuris authentica“) nach gemeinem Recht etwa v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, Erstes Buch, Kap. IV, § 32, S. 206 ff., besonders S. 210 f.; Lukas, in: FG Laband, Bd. 1, S. 405 ff. Vgl. auch aus heutiger Perspektive Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 372 ff. Eine authentische Interpretation als Sache des Gesetzgebers schreibt heute noch das österreichische Zivilrecht in § 8 ABGB vor, wobei von dieser Möglichkeit kaum noch Gebrauch gemacht wird: „Nur dem Gesetzgeber steht die Macht zu, ein Gesetz auf eine allgemein verbindliche Art zu erklären. Eine solche Erklärung muß auf alle noch zu entscheidende Rechtsfälle angewendet werden, dafern der Gesetzgeber nicht hinzufügt, daß seine Erklärung bey Entscheidung solcher Rechtsfälle, welche die vor der Erklärung unternommenen Handlungen und angesprochenen Rechte zum Gegenstande haben, nicht bezogen werden solle.“ Dagegen bezeichnet die koordinierte Verfassung des Königreichs Belgien vom 17. 2. 1994 in Art. 84 die authentische Interpretation allein als „Sache des Gesetzes“. 334
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Verfassungsgeber338 bzw. verfassungsändernden Gesetzgeber gleichgesetzt werden kann.339 Eine andere Auffassung liefe auf einen psychologischen Gleichlauf zwischen verfassungsgebender und gesetzgebender Gewalt hinaus. Wenn also das Bundesverfassungsgericht von der „Staatspraxis“ spricht, so sollte es bewusst zwischen einer vorkonstitutionellen und nachkonstitutionellen Staatspraxis trennen. bb) Objekt der Auslegung Neben der Frage des relevanten Zeitpunkts stellt sich darüber hinaus die Frage nach dem relevanten Material. Das Bundesverfassungsgericht greift auf unterschiedliche Formulierungen zurück, um das Verständnis des Kompetenznormsetzers zu beschreiben. Nach den entsprechenden Obersätzen kommt es etwa an auf das Traditionelle und Herkömmliche340, den geschichtlichen bzw. historischen Zusammenhang in der deutschen Gesetzgebungs- oder Verfassungsentwicklung341, die Entstehungsgeschichte und Staatspraxis342, auf Materien aus der Weimarer Reichsverfassung343 oder die wesensmäßige und historische Zugehörigkeit einer Materie zum einen oder anderen Bereich344. Wenn sich das Bundesverfassungsgericht auf die Staatspraxis beruft, bezieht es sich sowohl auf die vorkonstitutionelle als auch auf die nachkonstitutionelle Staatspraxis. Hier ist aber aufgrund der bereits beschriebenen Gründe345 nur die vorkonstitutionelle Staatspraxis von Interesse. Unter Staatspraxis bezeichnet es sowohl die verabschiedeten vorkonstitutionellen Gesetze als auch die dazugehörende Verwaltungs- und Rechtsprechungspraxis, wobei es mitunter auch auf ganze Normenkomplexe zurückgreift. Es scheint, dass das Bundesverfassungsgericht die Frage des relevanten Materials recht pragmatisch bewertet: Jede Quelle, die in der Lage ist, das Verständnis des Kompetenznormsetzers von einem Begriff zu beleuchten, kommt als taugliche Argumentationsgrundlage in Betracht. Und in der Tat kann es nicht darauf ankommen, welches Material herangezogen wird. Entscheidend ist vielmehr, ob das Material geeignet ist, die Vorstellung des Kompetenznormsetzers zu prägen und es als Sinnträger für den Kompetenzbegriff dient. Es kommt also auf die – wie auch immer zustande gekommene – Sicht der Auto 338 Dies ist für die Sichtweise des Parlamentarischen Rates ohne weiteres einleuchtend – schon deshalb, weil dieser sowohl in organisatorischer als auch in personeller Hinsicht anders strukturiert war als der erst später konstituierte Bundestag. 339 Das folgt insbesondere aus Art. 79 II GG. 340 BVerfGE 7, 29 (39, 43); 23, 113 (123 f.); 27, 18 (32 f.); 28, 21 (32); 33, 125 (152); 42, 20 (29); 61, 149 (75); 106, 62 (105); 138, 261 (273 Rn. 29). 341 BVerfGE 33, 125 (152); 42, 20 (29); 61, 149 (175); 68, 319 (328); 106, 62 (105). 342 BVerfGE 33, 125 (152); 42, 20 (29); 61, 149 (175); 67, 299 (319 f.); 68, 319 (328); 106, 62 (105). 343 BVerfGE 42, 20 (29); 67, 299 (315 ff.). 344 BVerfGE 36, 314 (319); 48, 367 (373); 85, 134 (144). 345 Zweites Kapitel V. 4. e) aa).
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ren an.346 Dabei ist es selbstverständlich, dass je eher der herangezogene Normtext allgemeine Bekanntheit hatte, davon ausgegangen werden kann, dass dieser Normtext dem Normsetzer vor Augen stand. Je unbekannter und weniger rechtlich ausgeformt eine Materie jedoch ist, desto weniger kann auf den mutmaßlichen Willen des Kompetenznormsetzers geschlossen werden. In dieser Hinsicht hat es das Bundesverfassungsgericht im Spielhallen-Beschluss abgelehnt, den Inhalt für das „Recht der Spielhallen“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) einem einzelnen Erlaubnistatbestand zu entnehmen.347 Der entscheidende Aspekt für die historische Auslegung ist also grundsätzlich nicht der Gegenstand des Materials, sondern die Frage, ob der Kompetenznormsetzer das heranzuziehende Material als entscheidende Sinneinheit verstehen konnte und durfte.348 cc) Insbesondere: Die Übernahme einer rechtsund verfassungswidrigen Praxis Fraglich erscheint diese Annahme bei der Übernahme einer rechts- oder verfassungswidrigen Praxis. Teilweise wird behauptet, dem Verfassungsgeber dürfe nicht unterstellt werden, er habe eine verfassungswidrige Praxis übernehmen wollen. Für Pestalozza liefe eine solche Berücksichtigung „auf die Fortschreibung verfassungswidriger Praxis hinaus. Dies gewollt zu haben, kann den Autoren des Grundgesetzes nicht unterstellt werden“349. Die einfache Gesetzgebung der Zeit könne den Kompetenztitel des Grundgesetzes nur vorprägen, wenn sie mit ihrer Verfassung übereinstimme.350 Dem ist entgegenzuhalten, dass auch eine verfassungswidrige Praxis zulässiges Auslegungsmittel sein kann: Entscheidend ist das Begriffsbild, an dem sich der Kompetenznormsetzer orientiert hat, ungeachtet, ob dieses zum damaligen Zeitpunkt verfassungsrechtlich bedenklich gewesen ist.351 Auch verfassungswidriges Recht kann aus dem Blickwinkel des Verfassungsgebers das entscheidende Sprachverständnis zur Ermittlung des Sinngehalts der Kompetenznorm formulieren. Das gilt vor allem dann, wenn sich mit der Übernahme des niederrangigen Rechts die verfassungsrechtlichen Probleme erledigt haben. In diesem Sinne legitimiert die Kompetenznormsetzung die frühere verfassungswidrige Praxis. Denn die Übernahme des früheren verfassungswidrigen Rechts schreibt die verfassungswidrige Praxis nicht fort, die Praxis wird vielmehr zum verfassungs 346
Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, 3. Aufl., Bd. 8, Art. 70 Abs. 1 Rn. 60. BVerfGE 145, 20 (59 Rn. 100 ff.). Danach könne das Recht der Spielhallen nicht ausschließlich aus § 33i GewO geschlussfolgert werden. 348 Dies entspricht der Bestimmung des Versteinerungsmaterials in der österreichischen Verfassungspraxis, vgl. Gamper, Regeln der Verfassungsinterpretation, S. 174; Wiederin, in: FS Winkler, S. 1241 f.: „Maßgeblich ist nicht die Form eines Rechtssatzes, sondern ausschließlich die Tatsache, daß er in materieller Hinsicht als prototypischer Sinnträger für einen vom Verfassungsgesetzgeber verwendeten Begriff zu betrachten ist“. 349 Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, 3. Aufl., Bd. 8, Art. 70 Ab. 1 Rn. 61. 350 Ibid., Rn. 60. 351 Wiederin, in: FS Winkler, S. 1242. 347
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rechtlichen Maßstab gemacht. Die Ansicht von Pestalozza kann deshalb in ihrer Pauschalität nicht überzeugen. Gleichwohl bleibt ein wahrer Kern enthalten: War das Material früher verfassungswidrig, so sollte der Rechtsanwender zusätzliche Argumente anführen, warum die Übernahme dieser Praxis geboten ist. Es kann jedenfalls nicht bloß vermutet bzw. behauptet werden, dass die vorgefundene verfassungswidrige Praxis auch den Inhalt der Kompetenznorm bestimmen sollte. Die Argumentationslast steigt also. Noch stärker erhöht sich die Argumentationslast, wenn sich der Rechtsanwender auf nationalsozialistische Gesetze beruft. Dass mit der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933, mit der Außerkraftsetzung der Grundrechte nach dem Reichstagsbrand und dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 nicht nur die Weimarer Verfassung abgeschafft wurde, sondern sich schrittweise auch das Staatsrecht (selbst) zerstörte, hat eindrucksvoll Stolleis dargestellt.352 Auch der Bundesstaat blieb nicht unverschont. Das „vorläufige Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“ vom 31. März 1933 sowie das endgültige Gleichschaltungsgesetz vom 7. April setzten der bundesstaatlichen Ordnung der Weimarer Republik ein faktisches Ende. Spätestens mit dem „Gesetz über den Neuaufbau des Reiches“ vom 30. Januar 1934 konnte von einer föderalen Struktur keine Rede mehr sein, da das Gesetz die – ohnehin schon längst funktionslosen – Landesparlamente aufhob und dem Bund ein unbeschränktes Verfassungsänderungsrecht verschaffte.353 Werden Gesetze nach dieser Zeit als Material herangezogen, so muss sich der Interpret bewusst sein, dass er dadurch ausschließlich die Reichweite der Bundeskompetenzen verstärkt354 Gerade weil die Nationalsozialisten in einem weitgehend rechtsund kompetenzfreien Raum agierten, können solche Reichsgesetze kaum den relevanten Maßstab für die Abgrenzung zwischen Bund- und Länderkompetenzen bilden. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht in der 1. Rundfunkentscheidung mit Recht ausgeschlossen, den Begriff des Fernmeldewesens aus Art. 74 Nr. 7 GG a. F. (heute: Telekommunikation) mit Blick auf den nationalsozialistischen „Staatsrundfunk“ auszulegen.355 Denn dem Kompetenznormsetzer kann gerade nicht unterstellt werden, er habe die durch Rundfunk betriebene Reichspropaganda des nationalsozialistischen Regimes als Verfassungstradition übernehmen wollen. Die Berücksichtigung der Staatspraxis nach 1933 wird nur möglich sein, wenn erstens ausgeschlossen ist, dass das Gesetz eine nationalsozialistische Doktrin verfolgte und zweitens ein solches Gesetz schon in der Zeit vor 1933 der Kompetenzordnung der Weimarer Reichsverfassung entsprochen hätte. 352
Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, S. 246 ff. und S. 316 ff. Kotulla, Verfassungsgeschichte, Rn. 2431. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3, S. 122 weist zugleich darauf hin, dass die Gleichschaltung der Länder bereits mit dem „Preußen-Schlag“ vom 20. 7. 1932 begann. 354 Nicht unproblematisch ist es daher, wenn das BVerfG etwa in der Altenpflege-Entscheidung zur Konkretisierung des Begriffs des Heilberufs (Art. 74 I Nr. 19 GG) auf das Heilpraktikergesetz vom 17. Februar 1939 abstellt. 355 BVerfGE 12, 205 (236): „Die Zeit von 1933 bis 1945 muß außer Betracht bleiben“. 353
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Nicht überzeugen vermag deshalb die Entscheidung des Bundesverfassungs gerichts zur nachträglichen Sicherungsverwahrung356, die hier exemplarisch kommentiert werden soll. Sie zeigt sehr deutlich, dass der Umgang mit nationalsozialistischen Materialien im Hinblick auf die Kompetenzauslegung einer stärkeren Reflexion bedarf. In der Entscheidung musste der Zweite Senat darüber befinden, ob die Länder die Möglichkeit schaffen können, Straftäter unter bestimmten Voraussetzungen auch dann über das Ende der Strafe hinaus zu verwahren, wenn das Tatgericht von einer Sicherungsverwahrung nach den Vorschriften des StGB abgesehen hatte (sog. nachträgliche Sicherungsverwahrung). Der Kern der Entscheidung lag darin, ob die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung „Strafrecht“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 Var. 2 GG ist oder vielmehr als allgemeines Gefahrenabwehrrecht zu bewerten ist mit der Folge, dass ausschließlich die Länder zuständig sind. Denn einerseits stellt die nachträgliche Sicherungsverwahrung ein sicherungsrechtliches Institut dar, da sie der Gefahrenabwehr dient und nicht früher begangenes Unrecht sanktionieren soll; andererseits hat sie aber eine Anlasstat zur Voraussetzung und kommt nur gegenüber bereits verurteilten Straftätern in Betracht.357 Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts unterfällt die nachträgliche Sicherungsverwahrung der konkurrierenden Gesetzgebung für das Strafrecht aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 Var. 2 GG. Da der Bund von dieser Kompetenz abschließenden Gebrauch machte, waren die Landesgesetze verfassungswidrig.358 Zur Begründung verweist das Bundesverfassungsgericht unter anderem auf die historische Entwicklung der Sicherungsverwahrung als Teil des Strafrechts. Es führt aus, dass die Gesetzgebungskompetenz für das Strafrecht auf Art. 4 Nr. 13 der Reichsverfassung von 1871 und auf Art. 7 Nr. 2 der Weimarer Reichsverfassung zurückgeht.359 Auf dieser Grundlage habe der Gesetzgeber ab dem Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend das zuvörderst repressive Strafsystem durch eine zweite Spur, nämlich das Maßregelsystem ergänzt. Dabei habe die strafrechtliche Kompetenz für Maßregeln außer Frage gestanden.360 Vor diesem Hintergrund habe der damalige Gesetzgeber das sog. Gewohnheitsverbrecher 356
BVerfGE 109, 190. Würtenberger / Sydow, NVwZ 2001, 1201 (1203). 358 In der Entscheidung waren die Landesgesetze nicht nichtig, da das BVerfG die Fortgeltung auf den 30. 09. 2004 befristete, krit. dazu Pestalozza, JZ 2004, 605 (609). Zur Frage des abschließenden Gebrauchs Viertes Kapitel II. 2. c). 359 BVerfGE 109, 190 (213). 360 BVerfGE 109, 190 (214), allerdings ohne Angabe einer entsprechenden Fundstelle. In der Tat ergaben sich keine Kompetenzkonflikte. Dies lag aber daran, dass dem Reich sowohl nach Art. 7 Nr. 2 WRV die Kompetenz für das Strafrecht als auch nach Art. 9 Nr. 2 WRV die Kompetenz für das Gefahrenabwehrrecht übertragen wurde, „soweit ein Bedürfnis für den Erlaß einer dieser Vorschriften vorhanden ist“. Auch wenn das Reich von der Kompetenz aus Art. 9 WRV zurückhaltenden Gebrauch machte (Boldt / Stolleis, in: Lisken / Denninger, Handbuch des Polizeirechts, A Rn. 57), stellte sich die heutige schwierige Abgrenzungsfrage zwischen Strafrecht und Gefahrenabwehrrecht in der Weimarer Republik nicht in so erheblichen Maße. 357
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149
gesetz361 vom 24. November 1933 einschließlich der Übergangsregelung aus Art. 5 Abs. 2 erlassen, das die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung ermöglichte.362 Dieses Gesetz habe der Parlamentarische Rat vorgefunden. Es gebe ferner keine Anhaltspunkte, dass der Verfassungsgeber dieses traditionell entwickelte Strafrechtssystem abschaffen wollte. Folglich, so das BVerfG, gehörten auch präventive Reaktionen auf Grund einer Straftat zum „Strafrecht“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 Var. 2 GG.363 Die Begründung des Gerichts überzeugt nicht. Richtig ist zunächst, dass 1933 die Maßregeln zur Sicherung und Besserung (als §§ 42a–42n StGB) in Kraft traten. Ungeachtet des Zeitpunkts gelten die Regelungen aus heutiger Perspektive nicht als Ausfluss nationalsozialistischer Ideen.364 So setzte sich schon vor 1933 die Auffassung durch, repressive Strafen durch eine zweite Spur, die Maßregeln, zu ergänzen. Für die Gestaltung eines zweispurigen Strafrechts war der Reichgesetzgeber auch nach Art. 7 Nr. 2 WRV kompetent.365 Dass der Verfassungsgeber die Sicherungsverwahrung als Teil des Strafrechts ansah, ist deshalb weitgehend unumstritten. Problematisch war aber nicht die herkömmliche Sicherungsverwahrung, sondern die Regelungen zur nachträglichen Sicherungsverwahrung, also solche Maßregeln, die nicht bereits im Strafurteil vorgesehen sind und erst nachträglich angeordnet werden. Denn derartige Vorschriften wurden in der Weimarer Zeit gerade nicht diskutiert und sind erst als Übergangsvorschrift in Art. 5 Nr. 2 des Gesetzes von 1933 eingeführt worden. Zu diesem Zeitpunkt waren Gesetze aber nicht mehr Maßstab der Verfassung, sondern ein Produkt der nationalsozialistischen Doktrin. Hinzu kommt, dass die Vorschrift als Übergangsvorschrift erlassen wurde und letztlich ein singuläres Phänomen unter der nationalsozialistischen Herrschaft blieb.366 Es ist deshalb bedenklich, die zeitlich ohnehin begrenzte Vorschrift als Strafrecht im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zu verstehen, das der Verfassungsgeber vorfand und als Kompetenzgegenstand zementieren wollte – zumal die nachträgliche Anordnung zu totalitären Zwecken missbraucht wurde und zum 361
Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. 11. 1933 (RGBl. I S. 995). Zum Gewohnheitsverbrechergesetz insgesamt C. Müller, Das Gewohnheitsverbrechergesetz. 362 Schon an der Stelle muss festgehalten werden, dass das Gewohnheitsverbrechergesetz unter die nationalsozialistische Herrschaft fällt – zu einer Zeit, in der die föderale Kompetenzverteilung zwischen Reich und Ländern faktisch außer Kraft gesetzt wurde (vgl. Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, Rn. 2431). Es ist mehr als fraglich, ob dem Verfassungsgeber unterstellt werden kann, dass er diese verfassungswidrige Praxis übernehmen wollte. Problematisch ist diese Annahme schon deshalb, da die in einer Übergangsvorschrift geregelte nachträgliche Sicherungsverwahrung nach 1945 nicht beibehalten wurde. 363 BVerfGE 109, 190 (214 f.); im Vorfeld der Entscheidung ebenso Kinzig, NJW 2011, 1455 f.; Pieroth, JZ 2002, 922 (923). 364 Roxin, Strafrecht AT, § 1 Rn. 4; Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 63. 365 Dazu auch Pestalozza, JZ 2004, 605 (606). 366 Gärditz, BayVbl 2006, 231 (237).
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Zeitpunkt des Inkrafttretens des Grundgesetzes bereits gegenstandslos war; im späteren Strafgesetzbuch wurde die Übergangsregelung auch nicht wieder aufgegriffen.367 Die Übergangsvorschrift war also nicht in der Lage, eine Verfassungstradition zu begründen.368 dd) Ergebnis Maßgeblich für den Zeitpunkt einer Mutmaßung der inhaltsgleichen Übernahme ist die endgültige Beschlussfassung, also der Tag, an dem der Kompetenznormsetzer den Inhalt einer Kompetenzmaterie endgültig fixiert hat. Grundsätzlich kann und darf jedes vorverfassungsrechtliche Material herangezogen werden, wenn es geeignet erscheint, den (mutmaßlichen) Willen des Verfassungsgebers näher auszuleuchten. Einschränkungen sind im Hinblick auf rechts- und verfassungswidrige Materialien anzustellen. Besonders kritisch sind nationalsozialistische Gesetze zu bewerten. Da der Bundesstaat zu diesem Zeitpunkt nicht mehr existierte, dürfen diese Gesetze nicht bedenkenlos in die Verfassungswelt des Grundgesetzes hineingelesen werden. Dies dürfte nur dann möglich sein, wenn erstens ausgeschlossen werden kann, dass das Gesetz rein nationalsozialistischen Ursprungs ist und zweitens ein solches Gesetz schon in der Zeit vor 1933 der Kompetenzordnung der Weimarer Reichsverfassung entsprochen hätte. 5. Zum Verhältnis von vergangenheitsbezogener und zukunftsbezogener Kompetenzinterpretation a) Versteinerung des Rechts? Indem das vorgefundene vorverfassungsrechtliche Material im Rahmen der historischen Auslegung für die Begriffsbestimmung eines Kompetenzbegriffs herangezogen wird, scheinen sich die Parallelen zur Methodik des österreichischen Verfassungsgerichtshofs zu bestätigen – freilich mit dem Unterschied, dass der österreichische Verfassungsgerichtshof die Versteinerungstheorie als methodische Regel anwendet, während in dieser Arbeit eher eine flexible Nutzung abhängig von der Ergiebigkeit des Materials vorgeschlagen wird. Unumstritten ist das nicht. Die historische Auslegung führt grundsätzlich dazu, dass das vorgefundene (einfachgesetzliche) Material zum Inhalt eines Kompetenztitels erhoben wird. Abermals war es Walter Leisner, der diese Vorgehensweise in der Schrift „Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit 367
Vgl. dazu die Argumentation des Bundesministeriums der Justiz, in BVerfGE 109, 190 (207). 368 Ebenso Gärditz, BayVBl 2006, 231 (237); Pestalozza, JZ 2004, 605 (606 f.). Vgl. auch die Argumentation des Bundesministeriums der Justiz, abgedruckt in: BVerfGE 109, 190 (207).
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der Verfassung“369 kritisiert hat. Seitdem hat das Schrifttum das Problem der „Versteinerung“ oder „Sklerotisierung“ des Kompetenzrechts erkannt.370 Leisner mahnte die Konsequenz einer „Sperre 1949“ und damit einer Versteinerung eines bestimmten rechtlichen Zustandes an.371 Die Verfassung dürfe nicht in großem Umfang Einzellösungen einer Epoche verewigen, „weil solche unter der Voraussetzung leichterer Abänderbarkeit geschaffen wurden und verstanden werden durften“372. Die Gefahr einer Überbetonung der Tradition bestehe nicht nur bei Grundrechten. Zu den Kompetenznormen schreibt Leisner konkret: „Hier ist die ‚resümierende Offenheit‘ am klarsten, hier vor allem muß die völlige ‚Sperre‘ des Gesetzgebungsstandes von 1949 vermieden werden“373. Die Berufung auf die Tradition widerspreche „der ideologischen Schwere und dem revolutionären Charakter allen Verfassungsrechts“.374 Bei der Auseinandersetzung mit diesen Einwänden muss beachtet werden, dass der Autor nicht grundsätzlich die Heranziehung der Tradition kritisiert.375 Wogegen sich Leisner vor allem wendet, ist die „unkontrollierte Totalrezeption“376 niederrangiger Inhalte, also wenn die historische Auslegung in eine „Globalrezeption“ mündet. Er schlägt deshalb vor, dass „im Zweifel nie [sic] Normkomplexe übernommen werden“ dürfen.377 Soweit Leisner mit der Autonomie der Verfassungsinterpretation argumentiert und der historischen Auslegung Grenzen aufzeigt, ist ihm beizupflichten. Wenn er aber mit der Offenheit und dem revolutionären Charakter argumentiert und deshalb eine Versteinerung der Verfassung verhindern 369
Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung. Fehling, in: Aulehner u. a., Föderalismus, S. 53 f.; Rengeling, HStR VI, § 135 Rn. 35 ff.; Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 4952; Scholz, in: FG BVerfG, S. 265; Schoenenbroicher, Bundesverwaltung unter Landesgewalt, S. 70; Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 70 Rn. 28, 31; ders., Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 412. Vgl. auch Isensee, HStR VI, § 133 Rn. 68, der die Versteinerungstheorie des österreichischen Gerichtshofs als „hilfreiche Faustregel“ verstehen möchte. 371 Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, S. 43. 372 Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, S. 43 f. 373 Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, S. 44 f. Neben der Gefahr der „Sklerotisierung der Kompetenzordnung“ beruft sich Leisner vor allem auf das verfassungsdogmatische Argument, eine niederrangige Tradition dürfe schon aufgrund des Rangunterschieds nicht bedenkenlos auf das Verfassungsrecht „hochgezont“ werden. 374 Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, S. 47. 375 Dies wird auf S. 47 deutlich: „Verfassungsinhalte mit Rückgriff auf niederrangige Inhalte entstandene Kategorien, Grundsätze, Theorien zu gewinnen, scheint legitim: Es liegt dann kein Einzelrückgriff vor, wohl aber die zur Anpassung erforderliche Elastizität“. 376 Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, S. 32. 377 Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, S. 6; so auch Rengeling, HStR VI, § 135 Rn. 36. 370
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
möchte, mag dies auf die Grundrechtsinterpretation zutreffen, auf die Kompetenzauslegung ist dieses Argument aber nicht ohne Weiteres übertragbar. Die Offenheit der Verfassung ist für die Auslegung von Kompetenznormen nur ein begrenzt geeignetes Kriterium: Wie bereits gezeigt, verfolgt die Kompetenzordnung nicht den Zweck, möglichst offen für sich wandelnde Umstände zu sein.378 Anders als sonstige Normen des Verfassungsrechts, die auch mit Blick auf die Zukunft offen ausgelegt werden müssen, haben Kompetenzen primär den Zweck, „den Fluß des staatlichen Lebens zu kanalisieren“.379 Mit der in Art. 70 Abs. 1 GG festgelegten Verteilungsregel sollen klare Verhältnisse hinsichtlich der Zuordnung von Kompetenzen erreicht werden. Die Absage, dass ein bestimmter Lebenssachverhalt keiner Kompetenzmaterie zuzuordnen ist, heißt nicht, dass die Materie nicht geregelt werden kann; aus der Feststellung folgt nur die Erkenntnis, dass deshalb die Länder kompetent sind.380 Wenn also von einer „Versteinerung“ die Rede ist, so ist hiermit die Versteinerung eines Kompetenztatbestands und nicht die Versteinerung des Rechts gemeint. Auch ist damit nicht gesagt, dass mit der Anwendung historischer Interpretationen die gesamte vorgefundene Rechtslage zum Inhalt der Kompetenznorm erhoben wird. Dies würde in der Tat zu einer „Sperre 1949“ führen mit der Folge, dass vor allem der Bund zukünftig nur die Gesetze von vor 1949 kopieren dürfte, während völlig neue gesetzliche Ideen immer in die Residualkompetenz der Länder fielen. Eine derartige Überhöhung der Verteilungsregel verlangt Art. 70 Abs. 1 GG nicht. Dies würde neue legislative Konzepte generell ausschließen mit der Folge, dass immer dann, wenn der Bund neue Lösungen finden möchte, ein verfassungsänderndes Gesetz erforderlich wäre. Wäre das Bürgerliche Recht aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG mit dem Gesetzgebungsstand von 1949 identisch, so wären neue rechtliche und politische Wege auf diesem Gebiet immer nur eine Sache der Länder. Das Verbraucherschutzrecht – um nur ein Beispiel zu nennen – fiele nicht in die konkurrierende Zuständigkeit. Eine Kompetenzzuweisung ergibt aber nur Sinn, wenn hiermit auch die Weiterentwicklung eines Rechtsgebiets möglich ist. Insofern hat Leisner mit der Warnung vor einer „unkontrollierten Totalrezeption“ Recht. Es würde Politik schwerfällig und ineffektiv machen381; es liefe der Funktionsweise von Kompetenzen zuwider, die darauf ausgerichtet sind, im Sinne eines rechtlichen Könnens bestimmte Aspekte der Staatsgewalt eigenverantwortlich wahrnehmen zu können und die Rechtsordnung in diesem Sinne jeweils zu verändern.382 Kompetenzen sind also stets auch mit Blick auf die Zukunft formuliert; sie bewahren das Gegenwärtige und ermöglichen das Zukünftige.
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Zweites Kapitel V. 4. d). Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 66. 380 Lutz, Vielfalt im Bundesstaat, S. 161; Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 69 ff. 381 Vgl. auch Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 61. 382 Erstes Kapitel II. 2. b). 379
V. Kompetenz, Typus, Tradition
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b) Kompetenz als Typus – Aufnahme des Zuweisungsgehalts nur in seinen Grundstrukturen Die Gefahr der Versteinerung tritt nur auf, wenn der gesamte Sach- und Regelungskomplex des vorgefundenen Normbereichs zugleich auch den Inhalt der Kompetenznorm bestimmt, wenn also das Material mit den Grenzen des Kompetenztatbestandes gleichgesetzt wird.383 Der österreichische Verfassungsgerichtshof versucht dieses Problem mit der intrasystematischen Fortbildung zu lösen. Wie bereits gezeigt, ist nicht die unterverfassungsrechtliche Norm, sondern dessen Abstraktion versteinert und dem Kompetenztitel zugewiesen.384 Es gilt nun, diese Annahme auch für die Kompetenzinterpretation nach dem Grundgesetz fruchtbar zu machen. Dies gelingt, wenn anerkannt wird, dass ein Kompetenztatbestand grundsätzlich weiter sein kann als das tatsächlich Vorgefundene. Knüpft ein Kompetenztitel an Historisches an, so will er es nicht dabei bewenden lassen, sondern er ermächtigt den Gesetzgeber, neue politische Wege zu gehen, solange sie dem überlieferten Kompetenzbegriff „entsprechen“. Die Kompetenznorm wird zwar immer noch historisch-statisch bestimmt, sie wird aber nicht durch das vorgefundene niederrangige Recht „zementiert“, sondern allenfalls begrenzt. Oder genauer: Das Herkömmliche und Traditionelle versteinert nicht den Kompetenztatbestand, es legt nur das typische Bild, das der Kompetenznormsetzer von dem Begriff hatte, fest. Zu subsumieren ist also nicht die „unkontrollierte Totalrezeption“385, sondern die Kompetenz als Typus. Hierdurch bleibt die Kompetenzinterpretation an die Sicht des Verfassungsgesetzgebers bei der Schaffung des Kompetenztitels gebunden; gleichzeitig ist sie offen für künftige Rechtsentwicklungen. Die politische Bewältigung neuer Lebenssachverhalte wird nicht ausgeschlossen.386 Zum Wesen des Typus gehört es, dass er nicht als solcher abschließend definierbar, sondern durch Verweisung auf konkrete Vorbilder und durch eine Reihe typischer Merkmale beschrieben ist.387 Der Typus lässt sich als ein „elastisches 383
Wiederin, in: FS Winkler, S. 1246. Zweites Kapitel V. 4. b). 385 Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, S. 32. 386 Wohl etwas zu weitgehend demgegenüber Rixen, DVBl 2012, 1393 (1394 f.) in Bezug auf die öffentliche Fürsorge (Art. 74 I Nr. 7 GG): „Das historisch gewordene Fürsorgesystem wirkt in einem nicht punktgenau markierten Möglichkeitsraum als variationsfreundlicher Kompass für den Gesetzgeber“. 387 Vgl. zum Typusbegriff Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 290 ff.; Leenen, Typus und Rechtsfindung, S. 25 ff.; Isensee, Die typisierende Verwaltung, S. 55 ff.; Jacobi, Methodenlehre der Normwirkung, S. 49 f.; Strahl, Die typisierende Betrachtungsweise im Steuerrecht, S. 55 ff.; Wank, Die juristische Begriffsbildung, S. 123 ff.; Wolff, Studium Generale 5 (1952), 195 ff.; krit. zur Denkart des Typus Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik, S. 136 ff.; Kokert, Der Begriff des Typus bei Karl Larenz; Kuhlen, Typuskonzeptionen in der Rechtstheorie; Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, Rn. 930 ff., deren Bedenken sich aber nur auf die Etablierung eines Typus als besondere Begriffsform, nicht aber gegen das abstrahierende Denken als solches wenden. Kritisiert wird aber die große Ausdeutungsfähigkeit des 384
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Merkmalsgefüge“388 verstehen. Die ihn konstituierenden Merkmale können mehr oder weniger ausgeprägt vorliegen. Die Elemente können von Fall zu Fall abgewandelt werden oder im Einzelfall fehlen, ohne dass die Zugehörigkeit zum Typus entfallen müsste. Die Zuordnung zum Typus hängt vielmehr davon ab, ob der Subsumtionsgegenstand in seinem Erscheinungsbild dem Typus entspricht. Ältere Typuskonzeptionen gingen davon aus, es sei zwischen scharf bestimmbaren und unbeweglichen Klassenbegriffen und „unscharfen“ Typusbegriffen zu unterscheiden.389 Diese Vorstellung ist mittlerweile überholt, da die moderne Logik durchaus Abstufungen und Disjunktionen („oder“) zulässt.390 Der Vorteil typologischen Denkens zeigt sich vielmehr darin, dass mit dessen Hilfe die Abstufbarkeit von „vagen Begriffen“391 ausgedrückt werden kann.392 Durch Zuordnung und Nichtzuordnung von Falltypen lässt sich der Begriffsumfang einer Norm präzisieren. Es wäre somit eine Übertreibung, wollte man mit der Bestimmung einer Norm als „Typus“ eine besondere Begriffsform ausdrücken. Das ist nicht der Fall: Der mit dem Typus einhergehende (typisierende) Fallvergleich soll vielmehr dazu dienen, eine rational nachprüfbare Rechtsgewinnung zu fördern, die besser kontrollierbar erscheint, als eine sonst unvermeidliche richterliche Eigenwertung.393 Wenn also typisierenden Denkens, das (besonders vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus) missbraucht werden kann, vgl. dazu insbesondere Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 302 ff., besonders ab S. 307 ff. 388 Leenen, Typus und Rechtsfindung, S. 34; Strahl, Die typisierende Betrachtungsweise im Steuerrecht, S. 199. 389 So vor allem Hempel / Oppenheim, Der Typusbegriff im Lichte der neueren Logik, passim; aus neuer Zeit auch Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 162 f.; Strahl, Die typisierende Betrachtungsweise im Steuerrecht, S. 189 ff., insbesondere S. 195. Mitunter findet sich diese Unterscheidung auch bei Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 290 ff. Danach seien Typusbegriffe von „abstrakt-allgemeinen Begriffen“ abzugrenzen. Diese erlaubten es, „Tatbestände aus abstrakten Begriffen zu bilden, unter die alle Lebensvorgänge, die die Merkmale des Begriffs aufweisen, mühelos subsumiert werden können“ (S. 267). Bei der Rezeption ist zu beachten, dass Larenz keinen Typusbegriff als neuartige Denkform und Form der Begriffsbildung konzipiert, er wendet sich vielmehr gegen den begriffsjuristischen Fehlschluss, man könne aus Sätzen und Begriffen gewissermaßen eine mathematisch genaue, widerspruchsfreie und subsumtionsfähige Begriffspyramide aufstellen, dazu instruktiv H. J. Wolff, Studium Generale 5 (1952), 195 (199). Die moderne Hermeneutik hat nachgewiesen, dass diese Art der Begriffsjurisprudenz nicht möglich ist. Der Typusbegriff ist bei Larenz also eine Alternative zum positivistischen Denken des 19. Jahr hunderts. 390 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 543 ff.; Kuhlen, Typuskonzeptionen in der Rechts theorie, S. 34 ff.; Wank, Die juristische Begriffsbildung, S. 126 f. 391 Formulierung nach Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 67 ff. 392 So meint Wank, Die juristische Begriffsbildung, S. 131, es sei sprachlich genauer, von einem „Klassenbegriff mit abstufbaren und verzichtbaren Merkmalen“ zu sprechen. 393 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 548 ff.; ähnlich Zippelius, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie II (1972), 482 ff.; ders., Methodenlehre, § 12 I. Demgegenüber wird dem Typus häufig vorgeworfen, er sei zu vage und genüge nicht rechtsstaatlichen Maßstäben. So beispielsweise gegen die Einordnung der „Sozialversicherung“ als Typus Bieback, VSSR 2003, 1 (10 f.); Schenkel, Sozialversicherung als Grundgesetz, S. 38 ff.; grundlegend
V. Kompetenz, Typus, Tradition
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hier von einem „Typus“ die Rede ist, so wird hierunter keine theoretische – und in der Tat nutzlose – Überhöhung eines Begriffs, sondern vielmehr eine Denkfigur verstanden, um zwei in Einklang zu bringende Sachverhalte miteinander in Bezug zu setzen. Ein Typenvergleich führt weiter, wenn man aus den vorgefundenen gesetzlichen Regelungen einen „Begriffskern“394 abstrahiert. Dieser ergibt sich aus den Grundstrukturen des vorgefundenen Rechts, die den Typus konkretisieren. Ausgehend von diesem Begriffskern kann man durch einen Fallvergleich nach und nach die Grenzen des Bedeutungsumfangs ausloten.395 Durch diese Vorgehensweise „öffnet“ sich der Kompetenztatbestand für neuartige Rechtserscheinungen. Die Aufgabe besteht darin, die zu subsumierenden Regelungen auf ihre größere oder geringere Nähe zum Vorbild zu bestimmen. Dabei werden die einzelnen Elemente der zu subsumierenden Regelungen im Hinblick auf ihre spezifische Nähe zu den einzelnen Elementen des Kompetenz-Typus verglichen. Der hier vorgeschlagene Typenvergleich lässt sich sowohl auf die vom Parlamentarischen Rat als auch die vom verfassungsändernden Gesetzgeber nach 1949 vorgefundenen Regelungen anwenden. Gegenüber den älteren Typuskonzeptionen hat der hier vertretene typisierende Fallvergleich den Vorteil, nicht in einen global-intuitiven Gesamtvergleich zu münden.396 Damit dürfte das typisierende Verfahren auch jenen Kritikern entgegenkommen, die dem Typus (durchaus mit Recht) seine Vagheit, Subjektivität und seine Rolle in der Methode des nationalsozialistischen Rechts vorwerfen.397 auch die Kritik von Kuhlen, Typuskonzeptionen in der Rechtstheorie, S. 120 ff. Diese Kritik ist aber nur dann berechtigt, wenn der Typus als Gegensatz zum „Klassenbegriff“ verstanden wird. Nicht berechtigt ist der Einwand, wenn er sich gegen das typologische Denken als solches richtet. Das Denken in Typisierungen soll ja gerade einen Ausweg bieten, „vage Begriffe“ möglichst rational mit Inhalt zu füllen. 394 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 549. Der „Begriffskern“ bzw. Bedeutungskern stammt aus der Interessenjurisprudenz von Philipp Heck und wird in Abgrenzung zum „Bedeutungshof“ verwendet. Bedeutungskern sei der Begriff, der von einem Sprachkundigen unzweifelhaft vom Tatbestand erfasst ist, während der Bedeutungshof nur möglicherweise noch zum Tatbestand gehört, vgl. dazu Heck, AcP 12 (1914), 1 (173). Ähnlichkeiten zum „Begriffskern“ scheint die Konzeption von Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 823 aufzuweisen. Dieser unterscheidet (mit Blick auf die Sozialversicherung) ein Begriffsmaximum vom Begriffsminimum. Allerdings sei gesagt, dass zum Begriffsminimum nach Pestalozza der gesamte Regelungsbestand des vorgefundenen Rechts gehört, während hier der Begriffskern die abstrahierten Strukturelemente eben dieses Regelungsbestands meint. Ganz vergleichbar sind Begriffskern und Begriffsminimum also nicht. 395 Zippelius, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie II (1972), 482 (485 f.); ders., Juristische Methodenlehre, § 12 I., S. 72; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 548 ff.; Wank, Die juristische Begriffsbildung, S. 127. In eine ähnliche Richtung geht auch der Ansatz von Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 825 am Beispiel der Sozialversicherung, das Vorgefundene zu abstrahieren und so das „Begriffsmaximum“ auszuloten. 396 So die Kritik von Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 550 an den älteren Typuskonzeptionen. 397 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 302 ff., besonders ab S. 307 ff.
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Die Kompetenzinterpretation und Kompetenzzuordnung beruht demnach auf drei Schritten: – Feststellung der Bedeutung der Tradition und des Herkömmlichen für den Inhalt der Kompetenznorm, – Abstrahierung der typusprägenden Grundgedanken aus der vorgefundenen einfachgesetzlichen Ausformung (Begriffskern), – Typenvergleich: Vergleich des Subsumtionsgegenstandes mit den Elementen des Begriffskerns. Im ersten Schritt muss der Nachweis geführt werden, dass eine Kompetenznorm auf einem Normvorläufer beruht und gemutmaßt werden kann, dass der Kompetenznormsetzer jedenfalls dessen Grundgedanken zum Inhalt der Kompetenznorm zementieren wollte.398 Im zweiten Schritt gilt es festzustellen, welche Merkmale für den Typusbegriff konstitutiv sind399, es müssen also die typusprägenden Grundgedanken aus der vorgefundenen einfachgesetzlichen Ausformung abstrahiert werden. Hierdurch ergibt sich die Kompetenz als Typus. Es handelt sich hierbei um rechtliche Strukturtypen, da sie die jeweils besondere Struktur rechtlicher Gebilde betreffen.400 Die Auswahl der maßgeblichen Kriterien werden dabei durch den Normzweck und den hinter den Regelungen stehenden Rechtsgedanken mitbestimmt. Diese stellen das „Gesamtbild“ des Typus dar. Typisiert wird also nicht das vorgefundene Recht bei isolierter Betrachtung, es werden vielmehr die Baupläne und Strukturen401 des vorgefundenen Rechts abstrahiert und zu einem Gesamtbild, dem Typus, zusammengefasst. Diese Strukturelemente sollen als Begriffskern bezeichnet werden. Umgrenzt ist die Bestimmung des Begriffskerns von weiteren Auslegungselementen, die die Typusbildung unterstützen, ausschließen und gegebenenfalls korrigieren und modifizieren.402 Im dritten und letzten Schritt muss die zu subsumierende Regelung bzw. das zu subsumierende Regelungssystem403 auf seine Nähe zum Typus untersucht werden. Eine erfolgreiche Zuordnung zum Kompetenztitel gelingt, je mehr der Subsumtionsgegenstand dem Gesamtbild der vorgefundenen Rechtslage entspricht. Das 398
Vgl. dazu Zweites Kapitel V. 4. d) und e). Dazu Wank, Die juristische Begriffsbildung, S. 128. 400 Dazu exemplarisch Canaris / L arenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 295. Vgl. zur Interpretation der Sozialversicherung (Art. 74 I Nr. 12 GG) auch Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 164. 401 Gedanke nach Axer, in: BK, Art. 74 Nr. 12 Rn. 26. 402 Beispielsweise könnten einzelne Sachgebiete des vorgefundenen Rechts inzwischen in einem anderen Kompetenztitel aufgegangen sein, vgl. z. B. die Herausnahme des Ladenschlussrechts aus dem Recht der Wirtschaft. 403 Die Maßstäbe zur Bestimmung des Subsumtionsgegenstandes werden im Dritten Kapitel untersucht. 399
V. Kompetenz, Typus, Tradition
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ist der Fall, wenn begründet werden kann, dass sich die wesentlichen Strukturelemente in der zu subsumierenden Regelung wiederfinden. Je mehr Übereinstimmungen auffindbar sind, desto eher wird sie Teil des Kompetenztatbestandes sein. Überprüft wird also, ob die Regelung alle oder zumindest nahezu alle Merkmale des Begriffskerns aufweist. Dieser Vergleich aller einzelnen Merkmale ist es wiederum, der im Vergleich zu einem pauschalen Gesamtbildvergleich weiterführt.404 Dass die Technik des Miteinander-Vergleichens der juristischen Denkweise geläufig ist, zeigt im Übrigen Art. 3 Abs. 1 GG, denn es schimmert ein bekanntes Argumentationsmuster durch: Wesentlich gleiches muss gleich und wesentlich ungleiches ungleich behandelt werden.405 Zu beachten ist außerdem, dass die vorgefundenen Regelungen gewissermaßen das „Begriffsminimum“ des Kompetenztatbestands bilden. Dieser Begriff wurde von Pestalozza geprägt.406 Darunter ist gemeint, dass alle Regelungen, die der Parlamentarische Rat (bzw. der heutige verfassungsändernde Gesetzgeber) zu einem Thema vorfand, vom Zuweisungsgehalt der Kompetenznorm umfasst sind. Trifft der Gesetzgeber heute eine Regelung, die mit einer bereits vorgefundenen (vorkonstitutionellen) Regelung vor der Kompetenznormsetzung identisch ist, so kann diese unter den Kompetenztitel subsumiert werden. Ein Typenvergleich muss nicht angestellt werden. Ebenso gelten die Regelungen vor 1949 auch nach Inkrafttreten des Grundgesetzes weiterhin als kompetenzgemäß. Diese eigentlich banale Aussage hat das Bundesverfassungsgericht in der Staatshaftungsentscheidung als „besitzstandswahrende Kompetenz kraft Tradition“ bezeichnet.407 Gemeint war, dass die schon vor 1949 existierende persönliche Ersatzpflicht des hoheitlich handelnden Beamten aus § 839 BGB auch heute noch zum bürgerlichen Recht im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zählt. Die Regelung habe „kompetenzrechtlichen Be 404
Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 549. Zippelius, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie II (1972), 482 (486); ders., Juristische Methodenlehre, § 12 b), S. 73 f., der den Grundsatz der Gleichbehandlung als „Seele der Hermeneutik“ bezeichnet; vgl. auch Kaufmann, in: ders., Beiträge zur Juristischen Hermeneutik, S. 75: Rechtsgewinnung sei ein „In-die-Entsprechung-Bringen“, womit Kaufmann die Bedeutung von Vergleichserwägungen deutlich macht. Im weiteren Sinne kann dieses Denken in „Analogien“ auch an das Wittgensteinsche Konzept der Familienähnlichkeit anknüpfen, vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: ders., Werkausgabe, Bd. 1, §§ 66, 67, S. 277 f.; dazu E. v. Savigny, Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“, Bd. 1, S. 115 ff. 406 Formulierung nach Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, Art. 70 Abs. 1 Rn. 64 und Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 823. Er spricht mit Blick auf die Sozialversicherung vom Begriffsminimum und Begriffsmaximum. Als Begriffsmaximum versteht er jenen abstrahierten Begriff, der „der Überlieferung“ entspricht (Rn. 825). Der Begriff kann damit wohl mit dem Typusbegriff gleichgesetzt werden. Da Pestalozza aber unter diesem Begriff alle neuartige Rechtserscheinungen aufzählt (Rn. 826 ff.), ist nicht ganz klar, ob Pestalozza das Begriffsmaximum als den Begriffskern oder schon als das Ergebnis der erfolgten Kompetenzzuordnung auffasst. Sollte letzteres zutreffen, so scheint das Begriffsmaximum wohl eher mit dem Normbereich von F. Müller zusammenzufallen, der wiederum vom „Normprogramm“ unterschieden werden soll, vgl. dazu Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, Rn. 67e, 481 ff. 407 BVerfGE 61, 149 (176). 405
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
standsschutz, so daß es dahinstehen kann, ob die persönliche Haftung […] auch heute noch zum bürgerlichen Recht zu rechnen wäre“.408 § 839 BGB ist also als Teil des Begriffsminimums von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG weiterhin als Bürgerliches Recht zu subsumieren. Neben der typisierten Abstraktion (Begriffskern) des vorgefundenen Rechts ist also auch das Begriffsminimum versteinert; allerdings nur im Hinblick auf die Garantie, dass identische Regelungen auch zukünftig kompetenzgemäß sind. „Versteinerung“ des Begriffsminimums bedeutet also nicht den Ausschluss von zukünftigen Rechtsentwicklungen. Diese Grenze wird vielmehr durch den Begriffskern gezogen, so dass jede neue gesetzliche Regelung jedenfalls die wesentlichen Strukturelemente des vorgefundenen Rechts aufweisen muss. c) Die Verfassungspraxis des Bundesverfassungsgerichts Diese Konzeption entspricht – dies wird noch zu begründen sein – auch der Grundannahme des Bundesverfassungsgerichts. Sie schimmert aber noch zu selten durch. In aller Regel beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht darauf, die Bedeutung des Herkömmlichen und Traditionellen für die Gesetzesauslegung zu betonen409 und zwischen der Art der Kompetenzzuweisung zu differenzieren.410 Die Beschränkung auf das abstrakte Begriffsbild kommt in der Maßstabsbildung des Gerichts jedoch nur selten zum Vorschein. Einzig der Aussage, die einfachgesetzliche Ausformung bestimme „in der Regel“411 den normativ-rezeptiven Zuweisungsgehalt der Kompetenznorm, lässt sich eine Reduzierung des Begriffsinhalts auf das Typische entnehmen. Deutlicher wird in diesem Zusammenhang Degenhart, der immerhin davon spricht, dass vermutet wird, dass der Verfassungsgeber die einfachgesetzliche Ausformung rezipieren wollte, „jedoch nur in ihren Grundstrukturen, so dass der Gesetzgeber an einer Fortentwicklung nicht gehindert“ sei.412 Stärker in den Vordergrund rückt die hier vertretene Methode aber, wenn man nicht die allgemeinen Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts zur Kompetenz 408
BVerfGE 61, 149 (176). BVerfGE 68, 319 (328); 97, 198 (219); 106, 62 (105); BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 110. 410 Vgl. exemplarisch den Beschluss des BVerfG zu den Ladenöffnungszeiten in Thüringen BVerfGE 138, 261 (273 f., Rn. 29): „Dabei ist insbesondere das Gewicht der historischen Interpretation von der Struktur und Ausformung des Kompetenztitels abhängig. Die Regelungsgeschichte des jeweiligen Normbestandes ist weniger relevant, wenn die Kompetenzmaterie einen Lebenssachverhalt benennt, und maßgeblicher, wenn die Regelungsmaterie normativrezeptiv einen vorgefundenen Normbereich aufgegriffen hat; dann kommt dem Gesichtspunkt des Traditionellen oder Herkömmlichen wesentliche Bedeutung zu […] Hat der Verfassungsgeber also eine normativ ausgeformte Materie vorgefunden und sie als solche nachvollziehend im Kompetenztitel benannt, ist davon auszugehen, dass die einfachgesetzliche Ausformung in der Regel den Zuweisungsgehalt auch der Kompetenznormen bestimmt […]“. 411 BVerfGE 109, 190 (218); BVerfGE 138, 261 (274 Rn. 29). 412 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn 54. 409
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interpretation, sondern dessen Maßstäbe zu einzelnen Kompetenztiteln in den Blick nimmt. aa) Sozialversicherung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) als Gattungsbegriff (1) Identität von Gattungsbegriff und Typus Strukturelle Gemeinsamkeiten zur hier vertretenen Typuskonzeption finden sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Auslegung der „Sozialversicherung“ gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Die Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung vermittelt dem Bund keine Befugnis, den gesamten Bereich des Sozialrechts zu regeln und ist insbesondere keine Generalklausel für die „soziale Sicherheit“.413 Die Zuständigkeit für die Sozialversicherung ist vielmehr vom spezifischen Modus der Zielerreichung geprägt: Für die Zuordnung zur Sozialversicherung ist entscheidend, dass der Gesetzgeber die Absicherung von Risiken in Formen der Sozialversicherung vorsieht.414 Abzugrenzen ist Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG deshalb von anderen Zuständigkeiten, die andere Formen der Versicherung und sozialen Sicherheit benennen, so etwa das privatrechtliche Versicherungswesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG), die öffentliche Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG), die Wiedergutmachung und Kriegsopfer (Art. 74 Abs. 1 Nr. 9 und 10 GG) sowie die Ausbildungsbeihilfe (Art. 74 Abs. 1 Nr. 13 GG). Maßgeblich für Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist der Begriff der Sozialversicherung. Er knüpft zwar sprachlich an einen Lebensausschnitt an, nimmt allerdings auf die historische Entwicklung des Sozialversicherungsrechts seit des Deutschen Kaiserreichs Bezug. Der Begriff liegt, folgt man der Terminologie des Bundesverfassungsgerichts415, im Grenzbereich zwischen faktisch-deskriptiven und normativ-rezeptiven Materien.416 Prägend sind die klassischen gesetzlichen Versicherungszweige gegen Krankheit, Alter, Invalidität und Unfall seit der Reichsversicherungsordnung (RVO)417. Zugleich macht der Einschluss der Arbeitslosenversicherung deutlich, dass die Sozialversicherung nicht auf diese vier Zweige beschränkt ist.418 Dies ist auch notwendig. Die Sozialversicherung als Ausschnitt des Sozialstaats ist in besonderem Maße den Änderungen der modernen (und heute sogar digitalen) Industrie- und Arbeitsgesellschaft unterworfen. Die Sozialversicherung von 413
BVerfGE 11, 105 (111 ff.); zust. Rolfs, Das Versicherungsprinzip, S. 102. Axer, in: BK, Art. 74 Nr. 12 Rn. 25; Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, S. 44. 415 Dazu schon Zweites Kapitel V. 4. c). 416 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 133. Eine ausschließlich normativ- rezeptive Ausgestaltung nimmt Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 52 und Art. 74 Rn. 56 an. 417 Gesetz v. 19. 7. 1911 (RGBl. S. 509), letzte Änderung durch Art. 7 des Gesetzes vom 23. Oktober 2012 (BGBl. I, S. 2246, 2262). 418 Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, S. 44; Maunz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 74 Rn. 170. 414
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
heute verlangt gegenwarts- und zukunftsgerechte Regelungsmodelle, die nicht notwendigerweise mit denen von vor 1949 identisch sein müssen. Am Beispiel der Sozialversicherung wird deutlich, dass sich die Kompetenzinterpretation im Spannungsverhältnis zwischen Statik und Dynamik positionieren und bewähren muss. Auch das Bundesverfassungsgericht ist sich dessen bewusst. Schon früh, nämlich in dem Kindergeldurteil, hat es die Sozialversicherung als „verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff“419 verstanden. Die Kompetenznorm ermögliche „die Einbeziehung neuer Lebenssachverhalte in das Gesamtsystem ‚Sozialversicherung‘, wenn die neuen Sozialleistungen in ihren wesentlichen Strukturelementen, insbesondere in der organisatorischen Bewältigung ihrer Durchführung dem Bild entsprechen, das durch die ‚klassische‘ Sozialversicherung geprägt ist“. Dann stellten sie der Sache nach Sozialversicherung im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG dar.420 Was diese wesentlichen Strukturelemente betrifft, so hat das Bundesverfassungsgericht den typischen begriffsprägenden Gehalt beschrieben. Es gehe um „Systeme, die das soziale Bedürfnis nach Ausgleich besonderer Lasten erfüllen und dazu selbständige Anstalten oder Körperschaften des öffentlichen Rechts als Träger vorsehen, die ihre Mittel im Wesentlichen durch Beiträge aufbringen“421. Neue Lebenssachverhalte seien deshalb als Sozialversicherung zu subsumieren, „wenn sie ihm nach dem Zweck des Lastenausgleichs und der Art und Weise der Aufgabenerledigung durch beitragserhebende selbständige Sozialversicherungsträger zuzuordnen sind“.422 Auch Regelungen zur Finanzierung der zu erledigenden Aufgaben seien vom Kompetenztitel erfasst.423 Butzer hat in diesem Sinne vier Merkmale zusammengefasst, die nach der Rechtsprechung als Mindestvoraussetzung erfüllt sein müssen, damit auch neuartige Versicherungssysteme als Sozialversicherung subsumiert werden können. Diese Merkmale stellen den Begriffskern der Sozialversicherung dar: – der Charakter als Versicherung im Sinne eines allgemeinen Vorsorgesystems, – das Prinzip des sozialen Ausgleichs, – die organisatorische Bewältigung der Aufgaben durch eigenständige Formen mittelbarer Staatsverwaltung (Körperschaften oder Anstalten des öffentlichen Rechts) und – die Finanzierungsweise durch Sozialversicherungsbeiträge der Beteiligten.424 419 Grundlegend BVerfGE 11, 105 (112). In späteren Entscheidungen ist sogar vom „weit gefassten verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff“ die Rede, vgl. BVerfGE 63, 1 (35); 75, 108 (146); 88, 203 (313). 420 BVerfGE 11, 105 (112). 421 BVerfGE 114, 196 (221). 422 BVerfGE 75, 108 (146); 87, 1 (34); 88, 203 (313); 103, 197 (215); 113, 196 (221). 423 BVerfGE 114, 196 (221). 424 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 168 ff.; vgl. auch Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, S. 45; Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 102 ff.
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Neben diesen primären Merkmalen hat Butzer weitere Kriterien aufgezeigt, die eine Sozialversicherung zwar indizieren, aber nicht notwendigerweise vorliegen müssen (sekundäre Merkmale). Hierunter gehörten „die Beschränkung auf Arbeitnehmer und auf eine Notlage“, der Charakter der Sozialversicherung als „Zwangsversicherung“ sowie die Gewährung von Zuschüssen zur Sozialversicherung, wie z. B. die Renten- und Arbeitslosenversicherung.425 Ihnen komme eine (nicht unerhebliche) Indizwirkung für die Richtigkeit des gefundenen Ergebnisses zu.426 Andere Autoren beschreiben den Begriff der Sozialversicherung teilweise anders. Vor allem das Merkmal der Zwangsmitgliedschaft wird häufig als weiteres Strukturelement genannt.427 Auf dem Wege des Strukturvergleichs hat das Bundesverfassungsgericht auch neue Rechtsinstitute wie die Einführung einer Künstlersozialversicherung428, einer privaten Pflegeversicherung429 oder weitere beitragssichernde Regelungen430 als Sozialversicherung anerkannt. Selbst die Einführung einer Bürgerversicherung, obwohl diese zum Zeitpunkt von 1949 noch undenkbar gewesen wäre, wird auf der Grundlage der Verfassungsrechtsprechung diskutiert und mitunter auch für kompetenzgemäß gehalten.431 Auch das Kassenarztrecht kann der Kompetenz zugerechnet werden, soweit die Leistungserbringung Funktionsbedingung für die Gewährung sozialversicherungsrechtlicher Leistungen ist.432 Unter dieser Voraus-
425 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 170 f. Ihm folgend Axer, in: BK, Art. 74 Nr. 12 Rn. 29. 426 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 173. 427 Vgl. auch BVerfGE 18, 257 (258): „ist im wesentlichen eine Pflichtversicherung“; ablehnend Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 269. Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 102–119 schlägt die folgenden sieben Kriterien vor: 1. Beschränkung auf Fundamentalrisiken; 2. Beschränkung auf bestimmte Bevölkerungskreise; 3. grds. Zwangs versicherung; 4. Beschränkung des Risikoausgleichs; 5. Rechtsanspruchscharakter der Sozial versicherungsleistungen; 6. Organisation durch selbstständige Körperschaften; 7. Finanzier ung und Haushaltswesen. Stattdessen sieht Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 202 das grundlegende Element darin, dass sich die Versicherungs- und Abgabeverhältnisse in einer Berechtigung niederschlagen müssen, die nach dem Eintritt des Versicherungsfalls Leistungsansprüche vermitteln. 428 BVerfGE 75, 108 (146). 429 BVerfGE 103, 197 (217). 430 BVerfGE 114, 196 (221 ff.). 431 Eine Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nehmen an Bieback, Sozial- und verfassungsrechtliche Aspekte der Bürgerversicherung, S. 70 ff.; Brandt, Bürgerversicherung, S. 17 ff.; Wittreck, in: Dreier, GG, Art. 74 Rn. 61; Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 494 f.; eine Kompetenz lehnen ab Axer, in: GS Heinze, S. 2 f.; Isensee, NZS 2004, 393 (396); F. Kirchhof, NZS 2004, 1 (6); Sodan, ZRP 2004, 217 (219); vgl. aber auch Schräder, Bürgerversicherung und Grundgesetz, S. 126 ff., der die Zuständigkeit aus Art. 74 I Nr. 7 GG herleiten möchte. Axer, in: GS Heinze, S. 3 f. weist darauf hin, dass eine Bürgerversicherung eine Steuer ist, die den Vorschriften der Finanzverfassung (Art. 104 ff. GG) unterliegt. Als Steuer könne eine Bürgerversicherungsabgabe nicht von den Sozialversicherungsträgern erhoben werden. 432 Axer, in: BK, Art. 74 Nr. 12 Rn. 43 f., der zugleich darauf aufmerksam macht, dass ansonsten Regelungen zur ärztlichen Berufsausübung in die Zuständigkeit der Länder fallen.
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setzung sollen auch Berufsausübungsregelungen für Kassenärzte von der Sozialversicherung umfasst sein.433 Selbstverständlich sei an dieser Stelle gesagt, dass die Kompetenzinterpretation der Sozialversicherung auf wesentlich mehr Probleme trifft; es würde den Rahmen sprengen, sie alle aufzuzeigen.434 Schon die Bestimmung, welche Merkmale der klassischen Sozialversicherung so maßgeblich sind, dass sie wesentliche Strukturmerkmale der Sozialversicherung im Sinne der Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG bilden, setzt eine differenzierte und ausführliche Argumentation voraus. Insbesondere müssen die einzelnen Merkmale hinreichend beschrieben werden – auch hier unterscheiden sich die Auffassungen zum Teil erheblich. Fraglich ist beispielsweise, ob neben dem Kriterium der eigenständigen Organisationsform auch die Selbstverwaltung ein begriffswesentliches Merkmal darstellt. Betrachtet man die historische Entstehung der Sozialversicherung bis 1949, so wäre dies eher abzulehnen, da die Sozialversicherung ihren vollständigen Charakter als Selbstverwaltung erst 1951 erhielt. Bis 1949 waren die meisten Träger der öffentlichen Unfall- und Arbeitslosenversicherung zwar eine Form der mittelbaren Staatsverwaltung (Staatsanstalten), aber nur mit einer allenfalls eingeschränkten Selbstverwaltungsgarantie ausgestattet.435 Folglich differenzieren im verfassungsrechtlichen Schrifttum die Auffassungen, die die Selbstverwaltung entweder als konstitutives Merkmal betrachten436, eine Selbstverwaltung nicht voraussetzen oder das Kriterium zwar als inzident gewährleistetes, aber nicht als konstitutives Merkmal voraussetzen.437 Auch die Frage, ob die Sozialversicherung strikt als Zwangsmitgliedschaft ausgestaltet ist, wird unterschiedlich beantwortet.438 Unabhängig von diesen Fragen, die eher an Detailanalysen anknüpfen, interessiert hier aber mehr die Methode des Bundesverfassungsgerichts: Einerseits abstrahiert es aus der historischen Entstehung Anhaltspunkte für konstitutive Be 433
Grundlegend BVerwG NJW 1983, 1387. Die Ausweitung des kassenarztrechtlichen Berufsrechts ist nicht unproblematisch und wird mit Blick auf die eigenständige Zuständigkeit der Länder für das ärztliche Berufsrecht kritisch betrachtet, vgl. Butzer, MedR 2004, 177 ff.; Ebsen, in: in: FS Krause, S. 97 ff.; Pestalozza, GesR 2006, 389 ff.; Prehn, MedR 2015, 560 (562 ff.); Riedel / Derpa, Kompetenzen des Bundes und der Länder im Gesundheitswesen, passim. 434 Vgl. dazu nur Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung; Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz; ferner Rolfs, Das Versicherungsprinzip, S. 101 ff. Zur Errichtung und Organisation sozialer Versicherungsträger Axer, in: FS Krause, S. 79 ff. 435 Vgl. dazu Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 247 ff. 436 Rolfs, Das Versicherungsprinzip, S. 116 f.; Schräder, Bürgerversicherung und Grund gesetz, S. 50; Wittreck, in: Dreier, GG, Art. 74 Rn. 61. 437 Axer, in: BK, Art. 74 Nr. 12 Rn. 29; Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 246 ff. Vgl. auch Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 496, der gänzlich auf das Merkmal der mittelbaren Staatsverwaltung verzichten will. 438 Das Erfordernis einer Zwangsmitgliedschaft nehmen etwa an Bieback, VSSR 2003, 1 (17); Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 822; Rolfs, Das Versicherungsprinzip, S. 110; Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 124. Die Zwangsmitgliedschaft als konstitutives Element lehnt beispielsweise ab Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 356.
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griffsmerkmale, andererseits versucht es, neuartige Rechtserscheinungen im Wege eines Strukturvergleichs auf ihre sachliche Vergleichbarkeit mit dem herkömmlichen Begriffskern zu überprüfen. Dieser Strukturvergleich, den das Bundesverfassungsgericht durchführt, kann problemlos in die hier vertretende Technik des typisierenden Fallvergleichs integriert werden. Es kommt nicht von ungefähr, dass schon Isensee439 und mit ihm ein gewichtiger Teil des wissenschaftlichen Schrifttums440 die Identität von Gattungsbegriff und Typus festgestellt haben. Die Einordnung als Typusbegriff liegt aber schon deshalb näher, weil die Einkleidung als „verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff“ nicht ganz überzeugen vermag. Eine Gattung dürfte nämlich eher die Versicherung als solche sein, während die Sozialversicherung lediglich eine „Art“ von ihr darstellt.441 Im Wege des Typenvergleichs vergleicht das Bundesverfassungsrecht die wesentlichen Strukturmerkmale der herkömmlichen Sozialversicherung mit den Merkmalen, die der Gesetzgeber neu eingeführt hat. Butzer charakterisiert diesen Typenvergleich als Vergleich zwischen Alt-Merkmalen (herkömmliche Sozialversicherung) und Neu-Merkmalen (neu eingeführte Regelungen).442 Geprüft wird, ob bei dem neuen Normkomplex die Alt-Merkmale der Sozialversicherung umfassend oder wenigstens teilweise vorliegen und ob bei typisierender Betrachtung des neuen Regelwerks noch von Sozialversicherung gesprochen werden kann.443 Dabei hat Butzer herausgearbeitet, dass die primären, unverzichtbaren Merkmale immer in den Neu-Merkmalen auftauchen müssen, während sekundäre Merkmale, etwa die Zwangsmitgliedschaft, eine „Richtigkeitsgewähr“ für die Entscheidung über die Zuordenbarkeit des neuen Normkomplexes zum Kompetenztitel der Sozialversicherung bieten, aber nicht notwendigerweise immer erfüllt sein müssen.444 Insgesamt kommen also sehr deutlich die Merkmale eines Typenvergleichs in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Ausdruck. Gegen die Einordnung als Typenvergleich spricht im Übrigen auch nicht, dass das Gericht einige Merkmale als konstitutiv für die Sozialversicherung betrachtet, da auch typisierende Begriffe aus hinreichenden und zugleich notwendigen Bedingungen bestehen können und auch sollten.445 Der vorgenommene Typenvergleich zeigt sich vielmehr 439
Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, S. 44. Axer, in: BK, Art. 74 Nr. 12 Rn. 26; Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 158; Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 201 ff.; a. A. Bieback, VSSR 2003, 1 (9 ff.); Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 38 ff. 441 Dazu schon Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 160 f.; Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 832, Fn. 1440. 442 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 173. 443 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 173. Deutlich wird dies etwa in BVerfGE 75, 108 (148 f.) zur Frage, ob das Künstlersozialversicherungsgesetz noch zum Recht der Sozialversicherung zählt. Das Gesetz betreffe ein „klassisches Risiko“ der Sozialversicherung; vgl. ferner BVerfGE 103, 197 (217 f.); 113, 167 (196). 444 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 173. 445 Vgl. dazu nur Wank, Die juristische Begriffsbildung, S. 129; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 549. 440
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vor allem darin, dass das Bundesverfassungsgericht unterschiedliche Regelsysteme aus verschiedenen Zeiten (Alt-Merkmale gegen Neu-Merkmale) miteinander in Bezug setzt und auf ihre Äquivalenz untersucht. Dies trifft genau den Kern des hier vertretenen typisierenden Fallvergleichs. (2) Abweichende Stimmen im Schrifttum Eine nur tendenziell andere Deutung hat Butzer. Da das Bundesverfassungsgericht die Merkmale „Versicherungscharakter“, „soziale Ausgleichsfunktion“, Organisation durch selbständige Träger“ und „Finanzierung durch Sozialversicherungsbeiträge“ als konstitutive Merkmale fordere, vertrete das Bundesverfassungsgericht eine Kombination von Klassenbegriffsdenken und Typusdenken.446 Die Einordnung der Sozialversicherung als Typus wird aber auch generell kritisiert. Der Haupteinwand wird in der unbestimmbaren Ausdeutungsfähigkeit von Typusbegriffen als Gegensätze zu Klassenbegriffen gesehen.447 Begriffe müssten möglichst präzise umschrieben werden. Exemplarisch kann auf die Kritik von Bieback verwiesen werden. Die Zuordnung eines Gegenstands zum Typus bleibe einer freien Gesamtschau bzw. Wertung überlassen.448 Die Orientierung an der Figur des Typus verdunkele die notwendige Aufgabe jeder juristischen Methode, die verwandten Rechtsbegriffe möglichst präzise zu umschreiben. Bieback schlägt deshalb vor, die Probleme mit der Bezeichnung eines „vagen Begriffs“ zu lösen. Bei ihm bestünden weite Spielräume bei der Beurteilung, welche einzelnen Sachverhalte und Sachverhaltsgruppen die Kriterien des Begriffs erfüllten.449 Schenkel sieht demgegenüber in der Verwendung des Typus vor allem die Gefahr, dass die Beweglichkeit, die das Typusdenken mit sich bringe, die Kompetenzgrenzen zwischen Bund und Ländern verwische. Es entstehe ein „kompetenzrechtliches Niemandsland, in dem nur noch anhand einer Sammlung und Betrachtung von ‚typischen‘ Indizien festgestellt werden kann, ob der Bund für eine bestimmte Regelung die Gesetzgebungskompetenz hat oder nicht“450. Gleichwohl sieht Schenkel die Notwendigkeit, das einfache Recht an „Veränderungen der Wirklichkeit auch für die Auslegung der Verfassung“ anzupassen. Hierfür möchte er den „Analogieschluss als Methode der Kompetenzauslegung“ [sic] fruchtbar machen, weist zugleich aber darauf hin, dass die Schwierigkeit, den sozialen Wandel angemessen zu berücksichtigen, sich „kaum auflösen“ lasse.451 446
Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 171. Pointiert vor allem Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 101, der das Typusdenken als „intellektuelles Unvermögen“ brandmarkt. Die Unbestimmtheit des Begriffs kritisieren ebenfalls Bieback, VSSR 2003, 1 (10); Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 38 ff. 448 Bieback, VSSR 2003, 1 (10). 449 Bieback, VSSR 2003, 1 (11). 450 Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 39. 451 Schenkel. Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 74. 447
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(3) Stellungnahme In der Tat mahnen die Autoren zu Recht an, dass das klassische Verständnis, der Typusbegriff sei nicht abschließend definierbar und es komme auf das Gesamtbild an, zu vage ist und rechtsstaatlichen Begründungsanforderungen nicht genügt. Allerdings bleiben die Autoren zugleich – und mit ihnen ein großer Teil im wissenschaftlichen Diskurs452 – bei der Auseinandersetzung mit dem Typusbegriff auf dem Stand der herkömmlichen Unterscheidung von Klassen- und Typusbegriffen verhaftet. Nur wenn der Typus als „besondere, nicht definierbare, sondern lediglich beschreibbare“ Begriffsform bestimmt wird, führt er zu Ungenauigkeiten. Bezogen auf dieses Typusverständnis ist die Kritik berechtigt. Die heutige Forschung hat diesen Stand aber überwunden und sucht, wie bereits gezeigt, die Vorteile eher in dem typisierenden Fallvergleich zu finden. Vor allem entbindet das Typus-Denken gerade nicht von der Aufgabe, die den Typus prägenden Merkmale möglichst vollständig zu bestimmen.453 Deshalb ist es auch nicht notwendig, die Sozialversicherung in Anlehnung an das Bundesverfassungsgericht als eine „Kombination aus Klassenbegriffen und Typusbegriffen“ zu verstehen454; vielmehr ist das Vorhandensein konstitutiver Strukturelemente selbst eine wesentliche Voraussetzung typologischen Denkens. In dieser Hinsicht verkennen die Kritiker das Anliegen, das die Beschreibung der Sozialversicherung als Typus verfolgt. Denn selbstverständlich ist mit der Einordnung der Sozialversicherung als Typus noch nicht viel gewonnen. Insbesondere entbindet er nicht von der Aufgabe, die wesentlichen Strukturelemente zu benennen. Allerdings ist auch „nur“ mit der Benennung der Strukturelemente noch nichts gewonnen. Denn im Hinblick auf neue Zukunftssysteme muss festgestellt werden, ob neue Regelungssysteme diesen Strukturelementen unterfallen. Um rational sagen zu können, diese Art der Versicherung sei „noch“ Sozialversicherung oder „nicht mehr“ Sozialversicherung, muss offen gelegt werden, mit welchen Gewichtungskriterien bzw. mit welchem „Denkkatalog“ der Verfassungsinterpret argumentiert. Nur so kann nachvollziehbar begründet werden, dass zwei gesetzliche Ausgestaltungen – die Strukturelemente der (herkömmlichen) Sozialversicherung einerseits und der (neuartige) Regelungsgegenstand andererseits – vergleichbar sind. So will Bieback die Sozialversicherung als „vagen Begriff“ deuten und die 452 Vgl. nur die zahlreichen Abhandlungen zur Sozialversicherung, die den Typusbegriff noch immer als Gegensatz zum Klassenbegriff begreifen, vgl. Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 162 ff.; Isensee, NZS 2004, 393 (395); Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 35 f.; Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 96 ff. Dies schimmert auch bei Axer, in: BK, Art. 74 Nr. 12 Rn. 26 durch. 453 Dazu vor allem Wank, Die juristische Begriffsbildung, S. 129: „Die Angabe der Merkmale erfolgt also abschließend. Demgegenüber sind auch Definitionen in Form der Implikation möglich, nach dem Schema: Jedenfalls immer dann, wenn die folgenden Merkmale vorliegen, ist der Begriff erfüllt. Die Angabe der Merkmale erfolgt zwar nicht abschließend, aber weitere Merkmale können nicht beliebig neu eingeführt werden“. 454 So aber Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 171.
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Zuordnung zum vagen Begriff der Subsumtion überlassen.455 Das ist gewiss nicht falsch, allerdings sollte zumindest zugegeben werden, dass damit das eigentliche Problem, nämlich „die Technik der Zuordnung“ weiterhin unbeantwortet bleibt. Soll der Vergleich zwischen dem vagen Begriff und dem Subsumtionsgegenstand nicht der richterlichen Beliebigkeit überlassen bleiben, so müssen zumindest methodische Leitlinien aufgestellt werden. Auf dieser nicht dogmatischen, sondern methodischen Ebene führt das Typusdenken weiter: Es beschreibt Begriffe, indem es aus den Strukturelementen einen Begriffskern definiert und anschließend einen Fallvergleich nach dem Gebot der Gleichbehandlung vornimmt. Auf diesem Weg wird ein Verfahren beschrieben, das sich nach und nach von den unproblematischen zu den problematischen Fällen vorarbeitet. Das Denken in Typusformen gibt ein Instrumentarium an die Hand, um neue gesetzliche Innovationen mit den herkömmlichen Strukturelementen der Sozialversicherung vergleichen zu können. Es geht also dem Typusdenken weniger um die konkrete Begriffsbestimmung im Einzelfall (dies bleibt weiterhin der Spezialliteratur überlassen), sondern um die methodische Reflexion der Kompetenzinterpretation. Außerdem nehmen auch diejenigen, die den Typusbegriff ablehnen, der Sache nach einen Strukturvergleich vor, der entscheiden soll, welche neuen Regelungssysteme noch Sozialversicherung darstellen. Ob neue Rechtsmodelle nun über einen Analogieschluss456, mithilfe von „Vergleichbarkeitserwägungen“457 oder im Wege des typisierenden Fallvergleichs handhabbar gemacht werden, dürfte im Ergebnis keine Rolle spielen. Obwohl einige Autoren den Typus ablehnen, nutzen sie dennoch typologische Gedankengänge. Umgekehrt scheinen sich die wenigsten Autoren, die die Sozialversicherung als Typus bestimmen, mit einem bloß intuitiven „Gesamtbildvergleich“ zu begnügen. Denn sie bestimmen sehr wohl begriffskonstitutive Strukturmerkmale.458 Selbstverständlich gibt es differenzierende Ansichten 455
Bieback, VSSR 2003, 1 (11). Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 74 f. Der Analogieschluss sei ein Vergleichsschluss, der, was er selbst anerkennt, durchaus Ähnlichkeiten mit dem Typus aufweist. Generell fragt sich aber, was aus der Perspektive der Rechtssicherheit gewonnen ist, wenn man einerseits den Typus wegen seiner Vagheit ausschließt, dann aber im zweiten Schritt eine ebenso vage Analogiebildung zulassen möchte. Unabhängig davon kommt Schenkel, so scheint es jedenfalls, zu gleichen Ergebnissen wie etwa Butzer, nur unter Ausklammerung des Typusbegriffs, vgl. Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 86; Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 168 ff. 457 Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 187. 458 Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, S. 45: „Der Typus ‚Sozialversicherung‘ wird durch einen festen (Wesens-)Kern konstituiert – einen Grundbestand von Prinzipien, welche die Identität der Kompetenzmaterie ausmachen“. Vgl. auch die Begründung von Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 167, weshalb trotz des typusmäßigen Ausgangspunkts eine hinreichend bestimmbare Definition notwendig sei: „Gelingt es nämlich nicht, wenigstens einige wenige Strukturelemente der Sozialversicherung faßbar herauszuarbeiten und mit ihrer Hilfe den rechtlichen Strukturtypus unverwechselbar festzustellen, so würde Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG definitiv zur globalen Blankettnorm“. 456
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darüber, welche Merkmale für die Sozialversicherung bedeutsam sind, aber im Ergebnis herrscht weitgehend Konsens über die grundsätzlichen Ausgangsvariablen.459 All dies lässt den Schluss zu, dass sich die Unterschiede eher in der Wortwahl und weniger in dem tatsächlichen Verfahren der Rechtsgewinnung ausdrücken. bb) Steuern und Steuerarten als Typusbegriffe Die offensichtlichste Betonung des Typusgehalts einer Kompetenznorm findet sich in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Steuergesetzgebung.460 Das Feld der Steuerkompetenzen ist ein Spezialthema der Gesetzgebungskompetenzen, weil die Steuerzuständigkeiten den Kompetenzen für die Sachgesetzgebung aus den Art. 70 ff. GG vorgehen.461 Die Gesetzgebungskompetenzen im Bereich der Steuern unterscheiden sich ferner von den Sachgesetzgebungskompetenzen, weil den Ländern im Bereich des Steuerwesens keine Residualkompetenzen zugewiesen sind, sondern neben den konkurrierenden Zuständigkeiten aus Art. 105 Abs. 2 GG die Länderzuständigkeiten ausschließlich aus Art. 105 Abs. 2a GG folgen.462 Dennoch erscheint es lohnenswert, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Steuerbegriffen näher zu beleuchten. (1) Beschluss zur Verfassungsmäßigkeit des Kernbrennstoffsteuergesetzes Besonders fruchtbar für die Entwicklung des typisierenden Denkens im Bereich des Kompetenzrechts scheint der Beschluss des Zweiten Senats zur Verfassungsmäßigkeit des Kernbrennstoffsteuergesetzes vom 13. April 2017 zu sein.463 Die im Grundgesetz aufgelisteten Steuern und Steuerarten der Art. 105 und Art. 106 GG seien Typusbegriffe. Ihre typusbildenden Unterscheidungsmerkmale seien dem traditionellen deutschen Steuerrecht zu entnehmen.464 Zur Begründung führt das Gericht schon fast lehrbuchartig aus: „a) Für die in Art. 105 und Art. 106 GG aufgeführten Steuern und Steuerarten verwendet das Grundgesetz Typusbegriffe. Zur Feststellung der Merkmale, die den betreffenden Typus kennzeichnen, ist auf den jeweiligen Normal- oder Durchschnittsfall abzustellen; Merkmale, die sich als bloße Einzelfallerscheinungen darstellen, sind bei der Typusbildung auszuscheiden. Es ist zudem nicht erforderlich, dass stets sämtliche den Typus kennzeichnende 459
So auch der Befund von Schräder, Bürgerversicherung und Grundgesetz, S. 45. BVerfGE 110, 274 (295); 123, 1 (16 f.); BVerfGE 145, 171 (192 Rn. 64 ff.). Grundlegend dazu Isensee, Die typisierende Verwaltung; Strahl, Die typisierende Betrachtungsweise im Steuerrecht, S. 257 ff. 461 BVerfGE 3, 407 (434 ff.); 4, 7 (13); 67, 256 (275 f.); 105, 185 (193 f.). 462 Vogel / Walter, in: BK, Art. 105 Rn. 56 ff.; Stern, Staatsrecht II, S. 1120; Sieckmann, in: Sachs, GG, Art. 105 Rn. 4. 463 BVerfGE 145, 171. 464 BVerfGE 145, 171 (192 Rn. 64). 460
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Merkmale vorliegen. Diese können vielmehr in unterschiedlichem Maße und verschiedener Intensität gegeben sein; je für sich genommen haben sie nur die Bedeutung von Anzeichen oder Indizien. Maßgeblich ist das durch eine wertende Betrachtung gewonnene Gesamtbild (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 20. Mai 1996 – 1 BvR 21/96 –, juris, Rn. 7 [für einfachgesetzliche Typusbegriffe]; ähnlich Wank, Die juristische Begriffsbildung, 1985, S. 123 ff.; Strahl, Die typisierende Betrachtungsweise im Steuerrecht, 1996, S. 216 ff.; Jacobi, Methodenlehre der Normwirkung, 2008, S. 45; Wernsmann, NVwZ 2011, S. 1367 [1368]).“465
Auffällig ist, dass das Bundesverfassungsgericht den Typus nicht als Gegensatz zum Klassenbegriff beschreibt, sondern ihn über seine ihn kennzeichnenden Merkmale definiert. Anschließend beschäftigt sich das Gericht mit der Frage, wie im Falle von Steuerkompetenzen der „typische Gehalt“ zu ermitteln sei. An dieser Stelle kommt der historisch-genetische Interpretationsansatz ins Spiel: „b) Bei den Einzelsteuerbegriffen der Art. 105 und Art. 106 GG kommt es für die Typusbildung auf die Sicht des traditionellen deutschen Steuerrechts an (BVerfGE 7, 244 [252]; 14, 76 [91]; 26, 302 [309]; 31, 314 [332]; 110, 274 [296]; 123, 1 [16]; vgl. auch BVerfGE 16, 306 [317]). Es sind diejenigen Merkmale zu ermitteln, die eine Steuer oder Steuerart nach dem herkömmlichen Verständnis typischerweise aufweist und – mit Blick auf die abgrenzende Funktion der Einzelsteuerbegriffe – zu ihrer Unterscheidung von anderen Steuern oder Steuerarten notwendig sind (vgl. zu letzterem Förster, Die Verbrauchsteuern, 1989, S. 22).“466
Die Typusbildung setzt nach Auffassung des Gerichts eine Vorklärung voraus, welche typischen Merkmale einer Steuer oder Steuerart dem traditionellen Steuerrecht entspringen. Indem es das „traditionelle deutsche Steuerrecht“ nach den strukturgebenden Merkmalen befragt, entwickelt das Gericht im Sinne der hier vorgeschlagenen Terminologie einen Begriffskern von typischen Steuern und Steuerarten. Allerdings lässt das Bundesverfassungsgericht außen vor, was genau es unter dem traditionellen Steuerrecht versteht, wo genau es also die zeitliche Zäsur zwischen traditionellem und modernem Steuerrecht sieht. Frühere Entscheidungen lassen aber den Schluss zu, dass es unter dem traditionellen deutschen Steuerrecht jedenfalls diejenigen Steuertatbestände versteht, die bereits bei Inkrafttreten des Grundgesetzes herkömmlich dem Steuerrecht zugeordnet waren.467 So versteht das Bundesverfassungsgericht den Begriff der Steuer im Sinne der Reichsabgabenordnung vom 22. Mai 1931468; die Vergnügungssteuer als Verbrauchs- und Verkehrssteuer (Art. 105 Abs. 2 Nr. 1 GG a. F.) im Sinne der Reichsratsbestimmungen und des Vergnügungssteuergesetzes von 1948469 oder im Sinne der Umsatzsteuergesetze von 1919 bzw. 1934470 und die „Steuern von Einkommen“ (Art. 105 Abs. 2 Nr. 2 GG a. F.) im Sinne des Einkommenssteuergesetzes 465
BVerfGE 145, 171 (193 Rn. 65). BVerfGE 145, 171 (193 Rn. 66). 467 BVerfGE 26, 303 (309); 16, 306 (317). Vgl. dazu auch Zweites Kapitel V. 4. e) aa). 468 BVerfGE 7, 244 (251). 469 BVerfGE 14, 76 (91); ähnlich auch BVerfGE 123, 1 (16). 470 BVerfGE 31, 314 (332). 466
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von 1925 und 1934471. Dieser Linie folgend zieht das Bundesverfassungsgericht in dem Kernbrennstoffsteuer-Beschluss zur Konkretisierung der Verbrauchssteuer die Gesetzesbegründung472 zum Finanzverfassungsgesetz473 vom 23. Dezember 1955 heran.474 Im Hinblick auf neue Steuern führt das Bundesverfassungsgericht einen Typenvergleich durch. Neue Steuern sind mit den typusprägenden Merkmalen der Einzelsteuerbegriffe zu vergleichen: „c) Neue Steuern sind auf ihre Kongruenz mit den aus hergebrachter Sicht typusprägenden Merkmalen der Einzelsteuerbegriffe der Art. 105 und Art. 106 GG zu prüfen. Entsprechen sie nicht allen Typusmerkmalen einer Einzelsteuer, sind Bedeutung und Gewicht der einzelnen Merkmale sowie der Grad an Abweichung zu bestimmen und danach in eine Gesamtwertung einzubeziehen; auf dieser Grundlage ist zu entscheiden, ob im Ergebnis eine Übereinstimmung mit dem Typus anzunehmen ist. d) Innerhalb der durch Art. 105 und Art. 106 GG vorgegebenen Typusbegriffe steht es dem Gesetzgeber offen, neue Steuern zu ‚erfinden‘ und bestehende Steuergesetze zu verändern (BVerfGE 31, 8 [19]; vgl. auch BVerfGE 27, 375 [383]). Änderungen bestehender Steuergesetze oder die Erschließung neuer Steuerquellen sind unter dem Blickpunkt der Zuständigkeitsverteilung zumindest so lange nicht zu beanstanden, wie sie sich im Rahmen der herkömmlichen Merkmale der jeweiligen Steuern halten (vgl. BVerfG 31, 8 [19]).“475
Das Bundesverfassungsgericht nutzt damit eine Interpretationsschablone, die ziemlich genau dem entspricht, was hier als Typenvergleich verstanden wird. Dazu gehören die folgenden Schritte: 1. Bestimmung der vorgefundenen Begriffstradition, 2. Abstrahierung eines typusprägenden Begriffskerns und 3. die Überprüfung, ob die neuen Steuern mit dem Begriffskern des Typusbegriffs im Wesentlichen übereinstimmen. Im Gegensatz zur Begriffsbestimmung der Sozialversicherung als Gattungsbegriff wird das Bundesverfassungsgericht bei Steuern also konkreter. Es legt deutlich die Maßgaben des anzustellenden Typenvergleichs offen.
471
BVerfGE 26, 302 (309). BTDrucks II/480, S. 107 f. 473 BGBl I, S. 817. 474 BVerfGE 145, 171 (211 Rn. 113). Es handelt sich hier übrigens nicht um die Berücksichtigung einer nachkonstitutionellen Staatspraxis. Die grundgesetzliche Finanzverfassung wurde mit dem Finanzreformgesetz vom 12. Mai 1969 (BGBl. I., S. 359) neu überarbeitet. Der zeitliche Anknüpfungspunkt für die Relevanz historischer Ausführungen ist somit die Zeit bis zur Beschlussfassung des verfassungsändernden Gesetzes. 475 BVerfGE 145, 171 (193 Rn. 67 f.). 472
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
(2) Übertragbarkeit des Beschlusses auf die Interpretation von Sachgesetzgebungskompetenzen? Können nun die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts auf die Interpretation von Sachgesetzgebungskompetenzen übertragen werden? Sicherlich wird man aus dem Beschluss nicht folgern können, dass das Bundesverfassungsgericht für die Auslegung von Kompetenznormen stets auf den Typus zurückgreift. Dafür sind die systematischen Unterschiede zwischen Sach- und Steuerkompetenzen zu unterschiedlich – schon deshalb, weil die Art. 105 ff. nicht von derselben Verteilungstechnik ausgehen. Gleichwohl können Gemeinsamkeiten ausgemacht werden. Um dies zu beantworten, sollte noch einmal kurz in Erinnerung gerufen werden, worum es in dem Kernbrennstoffsteuerbeschluss ging. In der Entscheidung ging es um die Frage, ob das Kernbrennstoffsteuergesetz mit dem Grundgesetz vereinbar war. Kernbrennstoff, der zur gewerblichen Erzeugung von elektrischem Strom verwendet wurde, unterlag nach dem Kernbrennstoffsteuergesetz476 vom 8. Dezember 2010 der Besteuerung. Das Kernbrennstoffsteuergesetz sollte Besteuerungsvorgänge erfassen, bei denen die sich selbsttragende Kettenreaktion vor dem 1. Januar 2017 ausgelöst wurde. Bei der Steuer handelte es sich nach Auffassung des Gesetzgebers um eine „Verbrauchsteuer im Sinn der Abgabenordnung“ (§ 1 Abs. 1 S. 2 KernbrStG). Steuerschuldner waren die Betreiber von Kernkraftwerken. Problematisch war, ob das Tatbestandsmerkmal „übrigen Steuern“ aus Art. 105 Abs. 2 GG ausschließlich auf die in Art. 106 GG aufgelisteten Steuern und Steuerarten verweist oder auch Raum für eine konkurrierende „Steuererfindungskompetenz“ lässt. Während die Entstehungsgeschichte des maßgeblichen Art. 105 GG keinen zwingenden Schluss auf das Bestehen eines allgemeinen Steuererfindungsrechts zulässt477, sprechen nach Auffassung des Gerichts vor allem systematische und teleologische Gründe dafür, dass sich das Merkmal der übrigen Steuer (Art. 105 Abs. 2 GG) auf die in Art. 106 GG aufgelisteten Steuern und Steuerarten beschränkt. Nehme man nämlich ein Steuererfindungsrecht an, so bliebe die Ertragshoheit für solche Steuern offen. Weder könne eine generelle Ertragshoheit der Länder aus Art. 30 GG überzeugen478, noch komme eine Ertragshoheit als Annex zur Gesetzgebungszuständigkeit aus Art. 105 Abs. 2 GG in Betracht. Letzteres sei deshalb ausgeschlossen, weil die Ertragshoheit im Bereich der steuerlichen Finanzverfassung nicht generell der Gesetzgebungskompetenz folge.479 Teleologisch laufe eine Steuererfindungskompetenz der Ordnungs- und Begrenzungsfunktion der finanzverfassungsrechtlichen Kompetenzordnung zuwider.480 Will der Bund 476
Kernbrennstoffsteuergesetz vom 8. Dezember 2010, BGBl. I, S. 1804. BVerfGE 145, 171 (195 Rn. 72 ff). 478 BVerfGE 145, 171 (201 Rn. 87 ff). 479 BVerfGE 145, 171 (199 Rn. 83). 480 BVerfGE 145, 171 (202 Rn. 90 ff). 477
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von seiner Steuerkompetenz für die übrigen Steuern nach Art. 105 Abs. 2 Hs. 2 GG Gebrauch machen, so müsse die Steuer einem Steuertypus des Art. 106 Abs. 1 GG entsprechen. Vor diesem Hintergrund wird für das Bundesverfassungsgericht die Frage der richtigen Zuordnung zu Steuern und Steuerarten virulent. Lehnte man ein Steuererfindungsrecht ab und legte man zusätzlich die Begriffe aus Art. 106 GG „restriktiv“ aus, so bestünde die Gefahr einer „Erstarrung der finanzverfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung“, was „mit einer hinreichend flexiblen Finanzverfassung nicht vereinbar wäre“.481 Dies scheint der Grund zu sein, weshalb das Bundesverfassungsgericht nun die typisierende Methode aufgreift. Daneben konkretisiert das Gericht den Umgang mit den Steuertypen insofern, als dass sie tendenziell weit zu interpretieren seien.482 Die Bezeichnung der Steuern und Steuerarten als Typusbegriffe hat deshalb zwei praktische Hintergründe: Einerseits sollen sie einen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers gewährleisten, damit eine hinreichend flexible und zukunftsoffene Steuergesetzgebung gewährleistet wird. Andererseits begrenzt der Typus den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, indem er ihm nur die Weiterentwicklung des traditionell Vorgefundenen ermöglicht.483 An dieser Stelle werden die Gemeinsamkeiten zu den Sachkompetenzen sichtbar. Auch die Sachkompetenzen knüpfen – wie bereits dargelegt – an eine Verfassungstradition an. Der typisierende Fallvergleich dient dem Ziel, einerseits den Inhalt von Kompetenznormen an seine traditionellen Merkmale zu binden, ihn aber zugleich für die Zukunft zu öffnen. Vergleicht man diesen Ansatz mit der Methode des Bundesverfassungsgerichts484, so ergibt sich ein vergleichbarer Denkansatz, der es rechtfertigt, die Methode des Gerichts zur Typisierung von Steuern auf die Interpretation von Kompetenznormen anzuwenden. In beiden Fällen geht es dem Gericht um die methodisch angemessene Berücksichtigung von sich wandelnden Lebensumständen. Dass das Gericht zugleich die Figur des Typus verwendet, so wie er in der rechtstheoretischen Forschung verwendet wird, zeigt zugleich, dass dem Bundesverfassungsgericht das Denken in Typenvergleichen keinesfalls unbekannt ist. Es spricht folglich nichts dagegen, die Gedanken des Bundesverfassungsgerichts auch für die Interpretation von Sachgesetzgebungskompetenzen zu übernehmen.
481
BVerfGE 145, 171 (212 Rn. 114). BVerfGE 145, 171 (212 Rn. 114). 483 Vgl. zum Zusammenhang von Tradition und Typus bei Steuerbegriffen Vogel / Walter, in: BK, Art. 105 Rn. 98. 484 BVerfGE 145, 171 (212 Rn. 114).: „Die Typusbegriffe der Art. 105 und 106 GG – und damit auch der Typus der Verbrauchsteuer – sind weit zu interpretieren. Die restriktive Auslegung des Katalogs des Art. 106 GG und seiner Typusbegriffe birgt vor dem Hintergrund der Verneinung eines allgemeinen Steuererfindungsrechts die Gefahr einer Erstarrung der finanzverfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung und ist deshalb mit einer hinreichend flexiblen Finanzverfassung nicht vereinbar […]“. 482
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
cc) Der Typus und seine Grenzen: Partielle Erweiterung einer historisch-genetisch orientierten Typusinterpretation Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Sozialversicherung sowie zu Steuerbegriffen zeigt, dass dem Bundesverfassungsgericht das typisierende Denken nicht fremd ist und es die Rechtsfigur anwendet, um Begriffe an das Traditionelle und Herkömmliche zu binden und sie zugleich für die Zukunft zu öffnen. Von diesen Fällen aber abgesehen, pflegt das Gericht eher einen zurückhaltenden Umgang mit methodischen Ausführungen. Gleichwohl sind in der Rechtsprechung weitere Beispiele zu finden, die aufzeigen, dass das Bundesverfassungsgericht, ohne dies näher methodisch zu kommentieren, vom typisierenden Denken Gebrauch macht. Gleichwohl lassen einige Entscheidungen auch erkennen, dass das Bundesverfassungsgericht nicht starr an vorgeprägten traditionellen Begriffsbildern festhält und es Kompetenzverständnisse auch über den Begriffskern hinaus erweitert, wenn das Gericht eine dynamische Anpassung für notwendig erachtet. Dies ist anhand von zwei weiteren Beispielen näher zu untersuchen: der Rechtsprechung zur öffentlichen Fürsorge und die Altenpflegeentscheidung. (1) Öffentliche Fürsorge Strukturell ähnlich zum hier vertretenen Typusdenken ist auch die Auslegung der öffentlichen Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG). Die öffentliche Fürsorge verweist auf konkrete Normvorläufer aus der Weimarer Republik. Zur klassischen öffentlichen Fürsorge gehörten vor allem das „Armenwesen und die Wanderfürsorge“ (Art. 7 Nr. 5 WRV), die „Mutterschafts-, Säuglings-, Kinder- und Jugendfürsorge“ (Art. 7 Nr. 7 WRV), der „Schutz der Arbeiter und Angestellten“ (Art. 7 Nr. 9 WRV) sowie die „Fürsorge für die Kriegsteilnehmer und ihre Hinterbliebenen“ (Art. 7 Nr. 11 WRV). Nach § 1 Abs. 1 S. 1 der Reichsgrundsätze über Voraussetzungen, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge vom 4. Dezember 1924485 unterlag die Fürsorge vor allem der Aufgabe, „dem Hilfsbedürftigen den notwendigen Lebensbedarf zu gewähren“. Auch wenn die öffentliche Fürsorge in der Weimarer Republik durchaus weit verstanden wurde, bestand doch Einigkeit, dass es keine allgemeine Fürsorgekompetenz gab.486 Dieses Verständnis lag auch dem Parlamentarischen Rat zu Grunde, der sich ersichtlich an den Normvorläufern orientierte. Die öffentliche Fürsorge verweist also auf konkrete, traditionelle Normvorbilder.487 485
RGBl I S. 765. Axer, in: BK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 2 ff.; Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 308 ff. 487 Nicht von der öffentlichen Fürsorge umfasst war hingegen die „Wohlfahrtspflege“. Der Begriff wurde in der Weimarer Republik untechnisch im Sinne der gesamten Staatstätigkeit außerhalb der polizeilichen Gefahrenabwehr genutzt; er fand im Herrenchiemseer Konvent und im Parlamentarischen Rat keine Verwendung. Im Grundgesetz ist die Wohlfahrtspflege deshalb nicht mehr als Titel verzeichnet. 486
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Dies hat das Bundesverfassungsgericht zum Anlass genommen, die öffentliche Fürsorge in Anlehnung an die Sozialversicherung als verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff zu umschreiben.488 Der Begriff der öffentlichen Fürsorge umfasse „auch neue Lebenssachverhalte, wenn sie nur in ihren wesentlichen Strukturelementen dem Bild entsprechen, das durch die ‚klassische Fürsorge‘ geprägt ist“489. Damit wird betont, dass die öffentliche Fürsorge entwicklungsoffen für neue legislatorische Innovationen sein soll490, was die Nähe zum hier vertretenen Typenvergleich unterstreicht. Ein leitender Wertungsgesichtspunkt sei, ob die zu subsumierende Vorschrift „im Interesse fürsorgerischer Ziele erforderlich ist“491. Insgesamt koppelt der Verweis auf die Strukturelemente die öffentliche Fürsorge an ihren herkömmlich geprägten Begriffskern, weshalb die in der Weimarer Republik sich herausbildenden Fürsorgeleistungen maßgeblich sind. Neue Fürsorgeinstrumente dürfen sich nicht vom klassischen Bild der Armen- und Wanderfürsorge, der Mutterschafts-, Kinder- und Jugendfürsorge entfernen. Die öffentliche Fürsorge darf sich nicht neue Felder erschließen, die mit diesen typischen Fürsorgesituationen nichts mehr gemeinsam haben. Alle möglichen neuen Formen von Fürsorgeleistungen müssen auch weiterhin an eine konkrete Unterstützungs- und Hilfsbedürftigkeit anknüpfen. Im wissenschaftlichen Schrifttum wird die öffent liche Fürsorge – angelehnt an die traditionelle Entstehung – näher konkretisiert als „Hilfe durch öffentlich-rechtliche oder öffentlich-rechtlich beliehene Rechtsträger mit öffentlichen Mitteln an Personen, die sich selbst nicht helfen können und die erforderliche Hilfe auch nicht von anderen erhalten“.492 Sie wird als „Hilfe zum Lebensunterhalt“493 bezeichnet. Begriffsprägend seien zudem die Grundsätze der Subsidiarität und der Individualisierung der staatlichen Hilfeleistung, denen – in Abgrenzung zur Sozialversicherung – keine Eigenleistung und kein Sonderopfer des Empfängers gegenüberstehe.494 Andere knüpfen ebenfalls an historisch- genetische Strukturelemente an: Die öffentliche Fürsorge sei danach geprägt von (1.) Maßnahmen zur Beseitigung oder Vermeidung von Hilfsbedürftigkeit in Form von (2.) Geld-, Sach- oder Dienstleistungen, die (3.) durch eine beitragsunabhängige, von Steuern gedeckte, Finanzierung geschehen.495 Insgesamt bleiben auch diese Näherungsversuche auf dem Terrain historischer Auslegung.
488 BVerfGE 81, 156 (186) unter Verweis auf BVerfGE 75, 106 (146). Dem Gericht folgend Axer, in: BK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 19; Rengeling, in: HStR VI, § 135 Rn. 212. 489 BVerfGE 106, 62 (133) unter Verweis auf BVerfGE 75, 106 (146); ebenso BVerfGE 108, 186 (214). 490 Rixen, DVBl 2012, 1393 (1394). 491 BVerfGE 106, 62 (134). 492 Oeter, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, Art. 74 Rn. 56; das Kindergeld wurde hingegen angenommen von BSGE 6, 213 ff.; vgl. auch zum Elterngeld BSGE 103, 291 Rn. 38. 493 Rengeling, in: HStR VI, § 135 Rn. 212. 494 Rengeling, in: HStR VI, § 135 Rn. 212. 495 Merten, in: Berliner Kommentar, Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 9 ff.
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Gleichwohl hat das Bundesverfassungsgericht die öffentliche Fürsorge schon immer entwicklungsoffen begriffen. Der Regelungsbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG umfasse auch Vorschriften organisationsrechtlicher Natur, er sei nicht auf Hilfsmaßnahmen bei wirtschaftlicher Notlage beschränkt und setze auch nicht notwendigerweise eine akute Hilfsbedürftigkeit voraus. Er sei vielmehr auch bei vorbeugenden Maßnahmen zur Verhinderung einer künftigen Hilfsbedürftigkeit einschlägig.496 Hieran setzt die Kritik an, das Gericht habe die öffentliche Fürsorge immer weiter ausgedehnt und sich immer mehr von dem Bild entfernt, das von der klassischen Fürsorge geprägt sei.497 Einen vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung bildet das Urteil zum Betreuungsgeld.498 Die Entscheidung erweckt den Anschein, dass der Erste Senat nunmehr einen eher dynamischen Zugang präferiert. Der Begriff sei – dies war bereits bekannt499 – nicht „eng auszulegen“.500 Es hat aber darüber hinaus die Vorgaben für die öffentliche Fürsorge (unauffällig501) weiterentwickelt. Weitgehend unumstritten war bis dahin, dass sich die öffentliche Fürsorge auf eine der Fürsorgesituation „entsprechende Hilfs- und Unterstützungsbedürftigkeit“ erstreckte. Von dem Vergleich mit der „typischen Fürsorgesituation“ lässt sich das Bundesverfassungsgericht aber nunmehr nicht mehr leiten. Öffentliche Fürsorge setze nämlich nur noch voraus, „dass eine besondere Situation zumindest potenzieller Bedürftigkeit besteht, auf die der Gesetzgeber reagiert. Dabei genügt es, wenn eine – sei es auch nur typisierend bezeichnete und nicht notwendig akute […] – Bedarfslage im Sinne einer mit besonderen Belastungen […] einhergehenden Lebenssituation besteht, auf deren Beseitigung oder Minderung das Gesetz zielt“502. Mit dem Verweis auf die Bedarfslage hat das Bundesverfassungsgericht in der Tat den Anwendungsbereich der öffentlichen Fürsorge erweitert. Der Subsumtion des Gerichts im nächsten Absatz zu urteilen, genügt für die Aktivierung einer öffentlichen Fürsorge bereits die wirtschaftliche Mehrbelastung, wie sie Familien mit Kleinkindern typischerweise trifft.503 Dass dies aber bereits eine „Bedarfslage“ im herkömmlichen Sinne 496
BVerfGE 106, 62 (133 f.). Für die Erstreckung auf vorbeugende Maßnahmen bereits BVerfGE 22, 180 (213); 97, 332 (341 f.); vgl. ferner Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 35 ff. 497 Axer, in: BK, Art. 74 Abs. Nr. 7 Rn. 20; Maunz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 74 Rn. 106; Merten, in: Berliner Kommentar, Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 8. Vgl. auch zuletzt Henneke, DVBl 2015, 1187 (1191 f.); Rixen, NJW 2015, 3136 (3137); vgl. auch die Kritik zur Ausdehnung der öffentlichen Fürsorge in den Bereich der Daseinsvorsorge Isensee, DVBl 1995, 1 (5 f.); Rengeling, in: HStR VI, § 135 Rn. 212, 215; vgl. auch die Kritik am Kindergeld Reimer, NJW 2012, 1927 ff. 498 BVerfGE 140, 65. 499 BVerfGE 88, 203 (329 f.); 97, 332 (341); 137, 108 (165 Rn. 135); Maunz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 74 Rn. 106. 500 BVerfGE 140, 65 (78 Rn. 29). 501 So der Befund von Rixen, NJW 2015, 3136 (3137), der nachweist, dass das Bundesverfassungsgericht die Weiterentwicklung seiner Rechtsprechung durch Verweis auf Referenzentscheidungen verdeckt. 502 BVerfGE 140, 65 (78 f. Rn. 29). 503 BVerfGE 140, 65 (79 Rn. 30) unter Verweis auf BT-Drs 17/9917, S. 8; dazu krit. Rixen, NJW 2015, 3136 (3137).
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ist, dürfte zumindest ungewöhnlich sein. Rixen scheint in diesem Zusammenhang Recht zu haben, wenn er resümiert, das Bundesverfassungsgericht habe die öffentliche Fürsorge zu einer „allgemeinen Familienförderungskompetenz“ weiterentwickelt.504 Vor dem Hintergrund, dass Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG dem Fürsorgerecht der Weimarer Republik zu Grunde liegt und dieses auf konkrete und nicht auf abstrakte Notlagen reagierte, scheint der Schluss nahe, dass sich der Erste Senat von einer historisch-genetischen Betrachtungsweise verabschiedet hat. Seit der Betreuungsgeld-Entscheidung kann nicht mehr davon ausgegangen werden, der Erste Senat orientiere sich am Bild der klassischen Fürsorge.505 Auch der Umstand, dass das Gericht auf die Formulierungen des Zweiten Senats in der Altenpflege-Entscheidung gänzlich verzichtet, lässt einerseits eine gewisse Divergenz zwischen den Senaten erkennen und andererseits vermuten, dass „Strukturvergleiche“ zwischen traditioneller und moderner Fürsorge nicht mehr zum Kanon von Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG gehören sollen. Kritisch bleibt allerdings anzumerken, dass der Verzicht auf die Anbindung an die klassische Fürsorge die Gefahr in sich trägt, die Kompetenz für die öffentliche Fürsorge auf alle möglichen abstrakten Fälle einer finanziellen Mehrbelastung zu erweitern und somit den Inhalt von Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG immer weiter zu verwässern.506 Dies scheint schon deshalb bedenklich, weil die Erweiterung der öffentlichen Fürsorge zugunsten des Bundes automatisch mit der Reduzierung ausschließlicher Regelungszuständigkeiten der Länder einhergeht.507 Umso erstaunlicher ist, dass der Zweite Senat ein Jahr zuvor mit Blick auf das Kommunalrecht einen zurückhaltenden Umgang mit der öffentlichen Fürsorge anmahnte.508 Immerhin trägt der Erste Senat in der Betreuungsgeldentscheidung dem Schutz der Ländergesetzgebung insofern Rechnung, als dass es die Erforderlichkeitsklausel mit Strenge anwendet und dem Bund nicht jegliche Verklammerungen mit fürsorgerischen Elementen gestattet.509 Gleichwohl bleibt ein fader Beigeschmack: Wie, wenn nicht durch eine Orientierung an herkömmliche Begriffsbilder, bleibt Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG weiterhin bestimmbar? Es ist sicherlich nicht im Sinne einer methodisch nachvollziehbaren Kompetenzinterpretation, den Kompetenztitel derart weit zu verstehen, dass von einem handhabbaren Kern der öffentlichen Fürsorge nichts übrig bleibt, nur um anschließend mithilfe von Art. 72 Abs. 2 GG wieder „zurückzurudern“.
504
Rixen, NJW 2015, 3136 (3137). Vgl. dazu mit Blick auf den Kindergartenbeschluss krit. Axer, in: BK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 20. 506 Vgl. dazu auch Rengeling, in: HStR VI, § 135 Rn. 212. 507 Zur Beidseitigkeit der Kompetenzordnung vgl. Erstes Kapitel V. 3. sowie zum damit einhergehenden Gebot, auch die Länderkompetenzen gleichwertig zu berücksichtigen Zweites Kapitel IV. 508 BVerfGE 137, 108 (165 Rn. 135). 509 BVerfGE 140, 65 (79 ff.). 505
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
(2) Altenpflege-Entscheidung Während bei der Betreuungsgeldentscheidung des Ersten Senats das Pendel deutlich in Richtung einer dynamisch-weiten Auslegung ausschlägt, hat der Zweite Senat in der Altenpflegeentscheidung510 eindrucksvoll aufgezeigt, dass Kompetenztitel grundsätzlich historisch-statisch bestimmt, zugleich aber auch behutsam dynamisiert werden können. In der abstrakten Normenkontrolle ging es um die Frage, ob das Altenpflegegesetz vom 17. November 2000511 kompetenzgemäß beschlossen wurde. Dabei war unter anderem fraglich, ob die in dem Altenpflegegesetz geregelten Berufe des Altenpflegers und der Altenpflegehelfer als „andere Heilberufe“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG zu subsumieren sind. Die Entscheidung gilt heute als Leiturteil für die Maßgaben des Art. 72 Abs. 2 GG, die Ausführungen des Gerichts zur Kompetenzinterpretation verdienen aber ebenfalls eine vertiefende Betrachtung. (a) Der historisch-genetische Ausgangspunkt Zunächst legt es in den gewohnten Worten die Bedeutung der historischen Auslegung dar. Bei der Bestimmung der einzelnen Materien, die Art. 74 GG aufzählt, verdienten der Grundsatz des Art. 30 GG und der historische Zusammenhang in der deutschen Gesetzgebung besondere Aufmerksamkeit; dem Merkmal des Traditionellen oder Herkömmlichen komme eine wesentliche Bedeutung zu. Entstehungsgeschichte und Staatspraxis hätten für die Auslegung besonderes Gewicht.512 Im nächsten Absatz macht das Gericht aber zugleich deutlich, dass das herkömmliche Begriffsbild, das die einzelnen Kompetenzmaterien prägt, nur den Begriffskern des Kompetenztitels ausmacht und innerhalb dieses Rahmens neuartige Berufsbilder eingeführt werden können: „Diese Regeln zur Auslegung des Art. 74 GG führen allerdings nicht dazu, den Begriff des Heilberufs als im Berufsbild unabänderlich festgelegt anzusehen. Er umschließt nicht nur die Berufe, die bereits bei Erlass des Grundgesetzes als Heilberufe galten oder die seither zu Heilberufen geworden sind (vgl. Gallwas, DöV 1993, S. 17 [18]). Vielmehr kann der Bundesgesetzgeber auch neue Heilberufe schaffen oder die Entwicklung bestehender Berufe zu Heilberufen aufnehmen, solange er sich innerhalb der Vorgaben des Kompetenztitels des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG hält.“513
Das Bundesverfassungsgericht bekennt sich also zu einer zukunftsoffenen Auslegung, indem es aber deutlich macht, dass die Schaffung neuer Berufsbilder sich „innerhalb der Vorgaben des Kompetenztitels“ halten muss, lässt es keine unbe-
510
BVerfGE 106, 62. BGBl. I, S. 1513. 512 BVerfGE 106, 62 (105). 513 BVerfGE 106, 62 (105). 511
V. Kompetenz, Typus, Tradition
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grenzte Ausdehnung von Berufsbildern zu.514 Dabei verweist das Gericht vor allem auf das 1939 erlassene Heilpraktikergesetz vom 17. Februar 1939.515 Entsprechend der in diesem Gesetz enthaltenen Legaldefinition in § 1 Abs. 2 des damaligen Heilpraktikergesetzes filtert es die wesentlichen Strukturmerkmale des Heilberufs heraus. „Die Ausübung von ‚Heilkunde‘ dient danach nicht nur der Heilung im engeren Sinn, sondern auch der Linderung körperlicher Defekte, mithin schon einer Situationsverbesserung“. Und weiter: „Das Heilpraktikergesetz diente damals wie heute der Abwehr von Gefahren, die vor allem von fachlich ungeeigneten Personen für die Gesundheit der Patienten ausgehen“.516 Zur weiteren Begriffskonkretisierung nutzt es zusätzlich die Verwaltungsgerichtsdogmatik zur Auslegung des § 1 Abs. 2 HeilprG.517 Wie auch schon bei der Auslegung von Steuern und Typusbegriffen schlussfolgert das Bundesverfassungsgericht eine tendenziell eher weite Auslegung. Der traditionelle Begriff der Heilkunde aus § 1 Abs. 2 HeilprG sei entsprechend dem Gesetzeszweck, möglichen Gesundheitsgefahren vorzubeugen, dynamisch und nicht statisch auszulegen. Ein wesentlicher Teil des Begriffskerns des Heilberufs im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG liege somit in dem Zweck, „möglichst jede nicht-ärztliche Tätigkeit auf dem Gebiet der Heilkunde zu erfassen“. Dieses gefundene Auslegungsergebnis sieht das Bundesverfassungsgericht auch in Wortlaut und Systematik bestätigt.518 Anschließend führt das Gericht aus, dass nach „dem Sinn und Zweck des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG, dem Bund insgesamt die Gesetzgebungskompetenz für die Zulassung zu Heilberufen zu eröffnen, […] die Altenpflege in einer Gesamtbetrachtung den Heilberufen zuzuordnen“ ist.519 Mit dieser Formulierung nähert sich das Bundesverfassungsgericht der hier vertretenen Methode des Strukturvergleichs an. So stellt es auf den heilkundlichen Schwerpunkt520 ab, der im Sinne eines Typenvergleichs die Nähe zum Begriffskern des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG herstellt. Wesentliche Elemente der Ausbildungsziele seien medizinisch ausgerichtet, indem sie unter anderem auf die Mitwirkung bei der Behandlung kranker Menschen (§ 3 Nr. 2 AltpflG) oder auf die Erhaltung und Wiederherstellung individueller Fähigkeiten (§ 3 Nr. 3 AltpflG) abzielen. Zutreffend habe die Bundesregierung „typische Beispiele für die heilkundlichen Tätigkeiten der Altenpfleger in diesem Bereich“ aufgezeigt.521
514
Vgl. Lutz, Vielfalt im Bundesstaat, S. 156 f. RGBl I S. 251. 516 BVerfGE 106, 62 (106). 517 Vor allem BVerwGE 35, 308 (310); 66, 367 (369 f.); 94, 269 (274 f.). Vgl. zur Bedeutung dogmatischer Elemente zur Normkonkretisierung als Rechtserkenntnisquelle F. Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, Rn. 400 ff. 518 BVerfGE 106, 62 (108). 519 BVerfGE 106, 62 (109). 520 BVerfGE 106, 62 (109 f.). 521 BVerfGE 106, 62 (112). 515
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
(b) Dynamische Elemente und kompetenzielle Verzahnungen Mit diesem Verweis auf historisch-genetische Elemente waren allerdings noch nicht alle Probleme des Altenpflegegesetzes gelöst. Neben spezifisch heilkund lichen Tätigkeiten macht der Hinweis auf die Ausbildungsziele in § 3 AltpflG auch deutlich, dass neben den medizinischen Tätigkeiten auch Beratungstätigkeiten hinzukommen.522 Dieser damit verbundene „ganzheitliche Ansatz“ umfasse nach Auffassung des Gerichts auch Tätigkeiten sozial-pflegerischer Art und somit Aspekte der ausschließlichen Zuständigkeit der Länder. Deshalb muss sich das Bundesverfassungsgericht mit dem Problem von „Doppelzuständigkeiten“ befassen. Diese seien „dem System der verfassungsrechtlichen Kompetenznorm fremd und stünde[n] mit ihrer Abgrenzungsfunktion (Art. 70 Abs. 2 GG) nicht im Einklang“523. Vor diesem Hintergrund unternimmt das Bundesverfassungsgericht den Versuch, auch die sozial-pflegerischen Tätigkeiten an die Kompetenz für die Heilberufe (Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG) zu binden. Hierzu nutzt es die Figur des Sachzusammenhangs.524 Danach dürfe der Gesetzgeber, sofern er den Schwerpunkt im Bereich der Heilkunde setzt, auch einen „ganzheitlichen Ansatz“ wählen und zum Berufsbild der Altenpflege auch Beratungstätigkeiten hinzuziehen. Bemerkenswert ist dabei, dass das Bundesverfassungsgericht die Tradition nicht als eine absolute Grenze betrachtet: „(g) Bei der Verfolgung eines solchen ‚ganzheitlichen‘ Ansatzes ist der Gesetzgeber hinsichtlich der Festlegung des Berufsbildes der Altenpflege nicht starr an bestehende, traditionelle Vorprägungen gebunden; er ist vielmehr befugt, zur Durchsetzung wichtiger Gemeinschaftsinteressen die Ausrichtung des überkommenen Berufsbildes zeitgerecht zu verändern (vgl. grundlegend BVerfGE 13, 97 [106]; vgl. auch BVerfGE 75, 246 [265 f.]).“525
An dieser Stelle wird deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht dem historisch-genetisch orientierten Typenvergleich einen wirklichkeitsorientierten dynamischen Ansatz hinzufügt. Der Gesetzgeber ist nicht strikt an traditionelle Vorprägungen gebunden, er darf Berufsbilder auch zeitgerecht an heutige (faktische) Situationen anpassen. Kompetenzfremde Materien dürfen hinzugezogen werden, „wenn die entsprechende Materie verständigerweise nicht geregelt werden kann, ohne dass zugleich eine nicht ausdrücklich zugewiesene andere Materie mitgeregelt wird, wenn also das Übergreifen unerlässliche Voraussetzung für die Regelung der zugewiesenen Materie ist.526 Dabei „müssen gesetzliche Festlegungen zum Berufsbild dem Sachverhalt, den sie erfassen sollen, und seinen realen Veränderungen gerecht werden; sie dürfen der Wirklichkeit nicht willkürlich eine Regelung aufzwingen […], etwa um die Gesetzgebungskompetenz der Länder auszuschlie 522
So vor allem § 3 Nr. 8, 9, 10 AltpflG. BVerfGE 106, 62 (114). 524 Dazu näher unter Zweites Kapitel VI. 3. c). 525 BVerfGE 106, 62 (116). 526 BVerfGE 106, 62 (115). 523
V. Kompetenz, Typus, Tradition
179
ßen“.527 Wo also der Begriffskern die Grenze des historisch-statisch fixierten Typenvergleichs markiert, findet eine wirklichkeitsbetonte dynamische Auslegung ihre Grenze in der „Kompetenz kraft Sachzusammenhangs“. Das Bundesverfassungsgericht konstruiert eine dynamische, wirklichkeitsorientierte Auslegung als eine Ausnahmeerscheinung der ansonsten historischen Kompetenzinterpretation. Insgesamt verdeutlicht das Altenpflege-Urteil den Interpretationsansatz des Bundesverfassungsgerichts: Grundsätzlich können Kompetenztitel historisch vorgeprägt sein. Ist das der Fall, dann ist der Tradition eine besondere Bedeutung beizumessen. Dies drückt sich vor allem darin aus, dass aus dem traditionell vorgefundenen Recht ein prägender Begriffskern zu abstrahieren ist, der die Strukturelemente des Kompetenzbegriffs ausmacht. Neue Rechtserscheinungen sind an diesem Begriffskern zu messen; sie müssen insbesondere seinen Elementen entsprechen. Genügt die Orientierung am Begriffskern nicht, den Subsumtionsgegenstand mit dem Kompetenztitel sinnvoll in Einklang zu bringen, so kann unter Umständen der Kompetenzbegriff im Hinblick auf die Lebenswirklichkeit behutsam dynamisiert werden, etwa unter Inanspruchnahme der Figur des Sachzusammenhangs. 6. Zusammenfassung: Der typisierende Fallvergleich als Hilfe zur Kompetenzbestimmung Die Ausführungen haben ergeben, dass der typisierende Fallvergleich, so wie er in der juristischen Methodenlehre entwickelt ist, verwendet werden kann, um Kompetenznormen möglichst rational zu bestimmen. Vor allem hat sich gezeigt, dass sich das typisierende Denken problemlos in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einfügt. Dabei ist noch einmal der Ausgangspunkt für die Notwendigkeit des „Typus“ deutlich zu machen. Mangels hinreichend ergiebiger Anhaltspunkte innerhalb der Verfassung muss die historische Auslegung in dem Sinne hinzugezogen werden, dass gemutmaßt werden kann, dass der Kompetenznormsetzer nicht von einem bereits vorhandenen Sprachgebrauch abrücken wollte.528 Greift man aber auf das traditionell und einfachgesetzlich vorgefundene Recht zur Sinnbestimmung zurück, so ergibt sich das methodische Problem, dass die Rezeption Gefahr läuft, in eine völlige Versteinerung der Kompetenzen zu münden. Kompetenznormen sollen eben nicht auf den Stand von 1949 zementiert werden, sondern das politische Gestalten für die Zukunft ermöglichen. Die Lösung soll im typisierenden Denken gefunden werden. Nicht sämtliche Regelungen des vorgefundenen Rechts bilden für alle Zeiten den Kompetenzgehalt ab, sie bilden nur das Begriffsminimum, auf dessen Grundlage die Baupläne und Strukturen abstrahiert werden können. Die maßgeblichen Regelungssysteme, die 527 528
BVerfGE 106, 62 (116 ff.). Unter Gliederungspunkt Zweites Kapitel IV. 5. e).
180
2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
die das vorgefundene Recht ausmachen, sollen den typischen Gehalt (Begriffskern) der Kompetenz ausformen. Will der Gesetzgeber auf Grundlage des Kompetenztitels neue politische Ideen verwirklichen, so müssen seine Gesetze zwar nicht bis ins kleinste Detail dem vorgefundenen Recht entsprechen, sie müssen aber zumindest in den Grundstrukturen hinreichend vergleichbar sein. Das Bundesverfassungsgericht hat in Bezug auf die Sozialversicherung sowie zu Steuerbegriffen aufgezeigt, dass Typuskonzeptionen anschlussfähig sind und ein angemessenes Maß an rationaler Begriffsbestimmung bieten. An dieser Stelle kann ein Vorschlag für die allgemeinen Leitlinien der Kompetenzinterpretation unterbreitet werden, der genauer ausfällt als der bloße Verweis auf normativ-rezeptive Kompetenzzuweisungen.529 Angelehnt an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Kernbrennstoffsteuergesetz könnte als Maßstab zur Kompetenzinterpretation formuliert werden: Die Systematik des Grundgesetzes fordert im Sinne einer möglichst eindeutigen vertikalen Gewaltenteilung eine strikte, dem Sinn der Kompetenznorm gerecht werdende Auslegung der Art. 70 ff. GG. Für die Zuweisung einer Gesetzgebungsmaterie an Bund oder Länder ist der in Betracht kommende Kompetenztitel anhand des Wortlauts, historisch, systematisch und mit Blick auf den Normzweck auszulegen. Das Gewicht der historischen Interpretation hängt insbesondere davon ab, ob der Verfassungsgeber [bzw. verfassungsändernde Normsetzer] eine vorgefundene Rechtslage zum verfassungsrechtlichen Maßstab erheben wollte. In diesem Zusammenhang kommt der Entstehungsgeschichte, der Staatspraxis und dem damaligen Sprachgebrauch besonderes Gewicht zu. Ist ein Begriff historisch vorgeprägt, so ist er als Typusbegriff zu verstehen. Zur Feststellung der Merkmale, die seinen Begriffskern kennzeichnen, kommt es auf die Sicht des traditionellen vorgefundenen Rechts an. Es sind diejenigen Merkmale zu ermitteln, die das betreffende Rechtsgebiet nach dem herkömmlichen Verständnis typischerweise aufweist und zu ihrer Unterscheidung von anderen Kompetenztiteln notwendig sind. Merkmale, die sich als bloße Einzelfallerscheinungen darstellen, sind bei der Typusbildung auszuscheiden. Es ist nicht erforderlich, dass stets sämtliche den Typus kennzeichnende Merkmale vorliegen. [Der Kompetenztitel] ermöglicht die Einbeziehung neuer Lebenssachverhalte in das Regelungssystem des Kompetenztitels. Neue Regelungen sind auf ihre Kongruenz mit den aus hergebrachter Sicht typusprägenden Merkmalen [der Art. 73 f. GG] zu prüfen. Entsprechen sie nicht allen Typusmerkmalen des Kompetenztitels, sind Bedeutung und Gewicht der einzelnen Merkmale sowie der Grad an Abweichung zu bestimmen und danach in eine Gesamtwertung einzubeziehen; auf dieser Grundlage ist zu entscheiden, ob im Ergebnis eine Übereinstimmung mit dem Typus anzunehmen ist. Neue Regelungsmodelle sind unter dem Blickpunkt der Zuständigkeitsverteilung zumindest so lange nicht zu beanstanden, wie sie sich im Rahmen der herkömmlichen Merkmale des Typusbegriffs halten.
Dieser Vorschlag greift die Maßstäbe, die das Bundesverfassungsgericht zur Bestimmung von Steuern entwickelt hat, auf und überträgt sie in die allgemeinen Re 529
Zweites Kapitel V. 4. c).
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
181
geln der Kompetenzinterpretation. Wichtig ist zweierlei: Nicht jeder Kompetenztitel bedarf eines Bezugs auf den Typus. Dort, wo ein Verweis auf vorgefundenes Recht offenkundig nicht zur rationalen Begriffsbestimmung des Kompetenzgehalts genügt, etwa weil das Recht im Vorfeld der Kompetenznormsetzung nur spärlich geregelt worden ist, sind entsprechende Ausführungen zum Typus überflüssig. Zum anderen bietet das typologische Denken keine Universalgarantie zur „eindeutigen“ Sinnermittlung. Notwendig ist immer das Wissen um die begriffsprägenden Strukturen. Diese Aufgabe ist der Kommentar- und Fachliteratur zu übergeben. Mit der hier unternommenen „Entfaltung“ des Typusdenkens soll also nur der methodische Zugang offengelegt werden, also die Technik, mit deren Hilfe die Erkenntnisse des Fachrechts und der rechtshistorischen Forschung in die Verfassungsinterpretation eingeflochten werden können. Die Denkform des Typus ist aber kein Mittel zur „unbegrenzten Auslegung“530, sondern wird als Figur verwendet, um die Grenzen der Rechtsgewinnung offen zu legen. Das hier vorgeschlagene typologische Denken gewährleistet, dass der Gesetzgeber bei der Fortentwicklung des Rechts an die Grundstrukturen des tradierten und vorgefundenen Rechts angebunden bleibt. Gleichwohl hält das Bundesverfassungsgericht diese Methode nicht immer konsequent durch. Vor allem die Entscheidung des Ersten Senats zum Betreuungsgeld lässt erahnen, dass sich das Gericht – wenn nötig – auch von einer historischen Auslegung distanziert. Leider hat es zugleich versäumt, aufzuzeigen, wie anderenfalls Kompetenznormen so auszulegen sind, dass sie einerseits bestimmbar sind und zum anderen nicht Gefahr laufen, zu Lasten der Länder entgrenzt zu werden. Ein methodisch besser begründetes Modell hat der Zweite Senat demgegenüber in der Altenpflege-Entscheidung entworfen. Das Bundesverfassungsgericht versucht, auch neue, nicht der Tradition entsprechende Merkmale in die Kompetenzinterpretation einzufügen, um der heutigen Lebenswirklichkeit Rechnung zu tragen. Diese Erweiterung versucht das Gericht mithilfe der dogmatischen Rechtsfigur der „Kompetenz kraft Sachzusammenhangs“ zu bewerkstelligen. Diese „ungeschriebene“ Kompetenz dient hier als weiteres Mosaikstück, um die Kompetenzinterpretation abzurunden. Im nächsten Abschnitt soll es deshalb um solche und ähnliche „Dynamisierungsversuche“ gehen.
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen und dynamischen Kompetenzinterpretation Im vorigen Abschnitt wurde die Bedeutung der Tradition für die verfassungsgerichtliche Kompetenzrechtsprechung unterstrichen. Es wurde verdeutlicht, dass das Bundesverfassungsgericht statisch-entstehungszeitliche Gesichtspunkte nutzt und Kompetenztatbestände anhand eines Strukturvergleichs mit dem vorgefundenen Recht (Begriffskern) vorsichtig und entlang der Tradition im Hinblick auf neue 530
Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, passim, besonders ab S. 307 ff.
182
2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Regelungssachverhalte öffnet.531 Nunmehr soll ein anderer Interpretationszugang, nämlich der evolutiv-dynamische beleuchtet werden. Diese aktuale Verfassungsauslegung lässt sich als Gegenpol zur historisch-statischen Methode auffassen.532 Eine tendenziell flexible und dynamische Verfassungsauslegung beruht auf dem Gedanken der interpretativen Fortentwicklung von Verfassungsnormen. Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass Verfassungsnormen nicht innerhalb einer systematisch geschlossenen Kodifikation stehen, sondern so konzipiert sind, dass sie eine „Antwort“ auf bestimmte Gegenwartsprobleme enthalten.533 Eine aktuale Verfassungsauslegung möchte gewährleisten, dass die Verfassungsnorm anhand ihres Telos auf geänderte gesellschaftliche Probleme angewendet werden kann. Diese Vorgehensweise setzt ein hohes Maß an teleologischer Sinnermittlung und Sinnschöpfung voraus. Entscheidend ist, ob dynamische Faktoren methodengerecht in die Interpretation von Kompetenznormen eingebaut werden können. 1. Teleologische Auslegung von Kompetenznormen a) Objektive Zwecke von Kompetenznormen Teleologische Konkretisierungselemente gehören nicht zu den klassischen Auslegungskriterien nach Savigny.534 Sie sind zusammengesetzte Argumente und setzen eine „Begründung“ des behaupteten Zwecks voraus.535 Als Ableitungs gesichtspunkte kommen historisch-genetische Argumente („subjektiv-teleologische Auslegung“) oder Argumente aus dem Wortlaut und der Systematik (dann „objektiv-teleologische Auslegung“) in Betracht. Betont man dies, so ist der oft wiederholten Kritik gegenüber der „Beliebigkeit“ und „Subjektivität“ von objektiven Zwecken hinreichend Rechnung getragen.536 Abgesehen davon lassen die meisten Kompetenztitel keine weiteren Zwecke erkennen. Sie stellen entweder auf einen Wirklichkeitsausschnitt ab oder rezipieren eine bestimmte historische Rechtslage. Diese Kompetenztitel haben im Hinblick auf das gesetzgeberische Ermessen keine Erwartungen und können die Kompetenzauslegung auch nicht in eine bestimmte Richtung leiten. Anders wirken final programmierte Kompetenznormen.537 Solche Kompetenztitel sind mit Blick auf die Erreichung eines bestimmten Zwecks formuliert und erwarten ein gesetzgeberi 531
Zweites Kapitel IV. 6. Vgl. Funk, Das System der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung, S. 70 f. 533 Grundlegend Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 121 ff. 534 v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, Erstes Buch, Kap. IV, § 33, S. 213. v. Savigny unterschied vier Elemente der Auslegung, nämlich „ein grammatikalisches, logisches, historisches und systematisches.“ Die Aufgabe der Auslegung liege danach darin, „uns den Inhalt des Gesetzes zum Bewußtseyn zu bringen“ (§ 34, S. 216 f.). 535 F. Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, Rn. 67d S. 98. 536 Vgl. zur Kritik Hillgruber, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 97 Rn. 59; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 806 ff.; Schlink, Der Staat 19 (1980), 73 (90). 537 Zu diesen schon unter Erstes Kapitel II. 3. a). 532
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
183
sches Handeln. Dies gilt beispielsweise für Aspekte der Gefahrenabwehr und der Landesverteidigung538 sowie den Schutz von Rechtsgütern539. Wenn beispielsweise Art. 74 Abs. 1 Nr. 19a GG von der „wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser“ spricht, so ist dem Kompetenztitel durchaus der Wunsch des verfassungsändernden Gesetzgebers zu entnehmen, dass die wirtschaftliche und finanzielle Funktionsfähigkeit von Krankenhäuser als eine Daueraufgabe des Sozialstaats geleistet wird. Dies entspricht auch der Entstehungsgeschichte, weil mit der Einfügung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19a GG die Finanzierung der Krankenhäuser durch ein bundeseinheitliches Gesetz verbessert werden sollte.540 Mit der Einfügung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19a GG als konkurrierende Zuständigkeit wollte der Verfassungsgeber also ein bundesgesetzliches Tätigwerden ermöglichen. Auch wenn aus dieser Kompetenznorm keine Verpflichtung zum Einschreiten abgeleitet werden kann541, so ist der Kompetenztitel dennoch auf Optimierung angelegt. Eine gesetzliche Regelung, die nach der Regelungsintention des Gesetzgebers oder nach dem objektiven Gehalt der Norm darauf ausgerichtet ist, die Aufgabe der Sicherung der Krankenhäuser zumindest zu fördern, ist unter dem Kompetenztitel zu subsumieren. b) Überregionalität versus Regionalität Bei der Frage, inwiefern die Kompetenzordnung als solche oder die einzelnen Kompetenznormen objektive Zwecke erkennen lassen, ist noch einmal an die Funktion einer Kompetenz im bundesstaatlichen Gefüge zu erinnern. Die Figur der Kompetenz ist ein Organisationsbegriff. Er lässt sich als eine limitierte Handlungsermächtigung begreifen; Kompetenzen ermächtigen den Kompetenzträger (Bund oder Länder), Aspekte der Staatsgewalt eigenverantwortlich und unter Ausschluss des jeweils anderen wahrzunehmen.542 Die Kompetenzordnung hat folglich vor allem eine formale und eher technische Funktion. Kein elementarer Bestandteil der Kompetenzordnung ist ihr materieller Gehalt. Vor allem ermächtigen Kompe 538 „Schutz der Zivilbevölkerung“ (Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG); „Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus“ (Art. 73 Abs. 1 Nr. 9a GG); „Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG); „Schutz vor verhaltensbezogenen Lärm“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 24 GG); vgl. ferner auch Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 b) und c); Art. 73 Abs. 1 Nr. 14 GG. 539 Zum Beispiel „den Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung ins Ausland“ (Art. 73 I Nr. 5a GG); „die Versorgung der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen“ (Art. 73 I Nr. 13); „die Förderung der wissenschaftlichen Forschung“ (Art. 74 I 13 GG); „die Verhütung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung“ (Art. 74 I Nr. 16 GG); „die Förderung der land- und forstwirtschaftlichen Erzeugung“ (Art. 74 I Nr. 17 GG); „die wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser“ (Art. 74 I Nr. 19a GG); „Schutz der Pflanzen gegen Krankheiten und Schädlinge sowie den Tierschutz“ (Art. 74 I Nr. 20 GG). 540 Vgl. dazu BT-Drucks V/3515, S. 6. Auf Grundlage von Art. 74 I Nr. 19a GG wurde insbesondere das Gesetz zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser und zur Regelung der Krankenhauspflegesätze (Krankenhausfinanzierungsgesetz – KHG) beschlossen. 541 Erstes Kapitel II. 3. c). 542 Erstes Kapitel II. 4.
184
2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
tenzen zwar zum Tätigwerden, sie verpflichten aber nicht. Die Kompetenzordnung will zudem auch kein generelles Subsidiaritätsprinzip verankern. Die Auslegung und Anwendung von Kompetenznormen folgt somit nicht pauschal bestimmten Subsidiaritätserwartungen, wonach die Kompetenztitel der Art. 73 f. GG möglichst schonend für die Länder ausgelegt werden müssen. In diesem Sinne führt es auch nicht weiter, einen „Schutz der Landesgesetzgebung“543 als leitenden Auslegungsgesichtspunkt zu verankern.544 aa) Rechtseinheit Macht man sich diese formalen Funktionen klar, dann verfolgen die einzelnen Kompetenztitel auch nur formale Zwecke. Primär sollen die Kompetenztitel der Art. 73 und 74 GG nämlich in dem Bereich der limitierten Handlungsermächtigung eine bundeseinheitliche Regelung ermöglichen.545 In objektiv teleologischer Hinsicht ist also stets nach den Gründen zu fragen, weshalb der Verfassungsgeber bzw. der verfassungsändernde Gesetzgeber eine bundesgesetzliche Lösung ermöglichen wollte. Es lässt sich also ein Auslegungstopos der Rechtseinheit entnehmen.546 Je mehr eine Materie aus Gründen der Rechtseinheit eine überregionale Lösung verlangt, desto eher wird die Materie als Bundeskompetenz zu subsumieren sein. Ein solcher Topos sollte allerdings in seiner Wirkung nicht überschätzt werden. Das bloße Bedürfnis nach Rechtseinheit kann für sich genommen keine Bundeskompetenz rechtfertigen. Entscheidend ist vielmehr, dass der Verfassungsgeber eine bestimmte Materie als überregional eingeschätzt und er sie deshalb für eine bundesgesetzliche Gesetzgebung geöffnet hat. Der Gesichtspunkt der Rechtseinheit ist somit von vorangegangenen Konkretisierungen abhängig. Ist nach der Zuständigkeitsverteilung eine bundesgesetzgeberische Lösung nicht möglich, so kann dies rechtspolitisch kritisiert werden, das Ergebnis ändert sich aber hierdurch nicht.547 Der Rechtseinheit als eigenständige Kategorie kommt daher lediglich die Funktion einer Indiz- und Richtigkeitsgewähr zu. In dieser abgeschwächten Form scheint auch das Bundesverfassungsgericht das Auslegungsprinzip der Rechtseinheit zu verstehen. Beispielsweise hat es das Zeugnisverweigerungsrecht für Journalisten548 auch mit Blick auf das Bedürfnis nach Rechtseinheit dem gerichtlichen Verfahren und nicht dem Presserecht zugeordnet: „c) Diese Beurteilung entspricht schließlich auch dem Bedürfnis nach Rechtseinheit. Es widerspräche dem Gebot sachgemäßer und funktionsgerechter Auslegung der Kompetenz 543
Bullinger, DÖV 1970, 797 (799); ders., Die Mineralölfernleitungen, S. 55; Scholz, in: FG BVerfG S. 270 f.; Wipfelder, DVBl 1982, 477 (482); ähnlich auch Schubert, in: Sachs, GG, Art. 30 Rn. 9; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 138. 544 Dazu bereits unter Zweites Kapitel IV. 545 So auch Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 57 f. 546 Degenhart, ZfA 1993, 409 ff. 547 Rottmann, DVBl 1974, 407 (409). 548 § 53 I Nr. 5 StPO.
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
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vorschriften […] eine Materie, die in Deutschland seit der Verfassung von 1871 Sache des Reiches war und nach 1949 eine bundeseinheitliche Regelung erfuhr, aus dem Zusammenhang des Prozeßrechts herauszulösen, den Ländern zu überantworten und damit die Gefahr einer partiellen Zersplitterung des Verfahrensrechts heraufzubeschwören, die seit Erlaß der Reichsjustizgesetze von 1877 überwunden schien. Das Aussageverweigerungsrecht eines Presseangehörigen könnte dann innerhalb ein und des selben Verfahrens allein davon abhängen, in welchem Bundesland er vernommen wird. Angesichts der Bedeutung, die auch in Strafsachen der kommissarischen Zeugenvernehmung durch einen im Rechtshilfewege ersuchten Richter zukommt (vgl. § 223 StPO), wäre dies eine sachlich nicht einleuchtende und darum unerträgliche Folge […]“549.
In dieser Passage wird deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht das Bedürfnis nach Rechtseinheit lediglich als bestätigendes Hilfsargument nutzt („Diese Beurteilung entspricht schließlich auch“). Die Aussage, vor dem Hintergrund des Bedürfnisses nach Rechtseinheit sei eine Zersplitterung des Verfahrensrechts eine unerträgliche Folge, kann das Bundesverfassungsgericht nur treffen, weil es vorher einerseits die traditionelle und historische Entwicklung der Rechtsfigur beschrieben hat550 und zugleich einen (formelfreien) Sachzusammenhang zwischen gerichtlichem Verfahren und Zeugnisverweigerungsrecht für Journalisten begründet hat.551 Das Gericht nutzte das Argument also, um sein ohnehin schon getroffenes Ergebnis einer Richtigkeitskontrolle zu unterwerfen. Das Bedürfnis nach Rechtseinheit wird vom Bundesverfassungsgericht also nicht pauschal behauptet, sondern als Ergebnis eines vorangegangenen Auslegungsergebnisses postuliert. So verstanden hat die Rechtseinheit einen gewissen Stellenwert für die Auslegung, ohne dass es in der Lage ist, das Ergebnis der Auslegung und Subsumtion selbstständig zu entscheiden. Weiterhin sollte beachtet werden, dass die Rechtseinheit als Auslegungsdirektive nicht mit der Erforderlichkeitsprüfung aus Art. 72 Abs. 2 GG gleichgesetzt werden kann. Die Interpretation eines Kompetenztitels und die sich daran anschließende Prüfung von Art. 72 Abs. 2 GG sind zwei voneinander zu unterscheidende Vorgänge. bb) Das Regionalprinzip Spiegelbildich zum Prinzip der Rechtseinheit sollen die Zuständigkeiten der Länder regionale Unterschiede erlauben. Dort, wo die Bundeskompetenzen überregionale und rechtseinheitliche Lösungen erwarten, möchte die Verfassung mit der Zuweisung von Residualkompetenzen an regionale Besonderheiten anknüpfen und Vielfalt zulassen. Deshalb ist bei der Auslegung der Residualkompetenzen nach den Gründen zu fragen, warum der verfassungsändernde Gesetzgeber eine regionale Lösung bevorzugte. Bei der Kompetenzzuordnung kann eine Regelung 549
BVerfGE 36, 193 (209 f.); krit. aber Cornils, in: Löffler, Presserecht, Einl Rn. 47 f.; Rottmann, DVBl 1974, 407 (409). 550 BVerfGE 36, 193 (206 ff.). 551 BVerfGE 36, 193 (204 ff.).
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
der Länder umso eher der Residualkompetenz der Länder zugeordnet werden, je mehr der Gegenstand der Norm und deren Zwecke regionalen Gesichtspunkten Rechnung tragen. Die bundesstaatliche Kompetenzordnung lebt also gewissermaßen von dem Spannungsverhältnis zwischen Integration und Subsidiarität552, von Überregionalität versus Regionalität. Der Wunsch des verfassungsändernden Gesetzgebers, den Ländern ausschließliche Zuständigkeiten zu übertragen, um vielfältige und regionale Lösungsmöglichkeiten zu ermöglichen, wurde vor allem in der Föderalismusreform I von 2006 deutlich. Es war das erklärte Ziel des Bundestags, die Landesgesetzgeber durch Verlagerung von „Kompetenzen mit besonderem Regionalbezug und solche[n] Materien, die eine bundesgesetzliche Regelung nicht zwingend erfordern“, zu stärken.553 Deshalb hat der verfassungsändernde Gesetzgeber die eher regional bedeutsamen Themen wie Ladenschluss, Gaststätte, Spielhalle, Schaustellung von Personen, Messe, Ausstellung und Märkte aus dem Recht der Wirtschaft (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) in die Residualkompetenzen der Länder überführt.554 Das Regionalprinzip wurde somit zum Leitthema der Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten. Gleichwohl ist damit noch nicht seine normative Relevanz bewiesen. Begreift man das Kriterium als Auswahlkriterium, mit dessen Hilfe der verfassungsändernde Gesetzgeber die Kompetenzfelder aufsuchte, für die eine Verlagerung auf die Länderzuständigkeiten in Betracht kommt, dann ist der Erkenntnisgewinn des Regionalprinzips eher gering.555 Entscheidend ist nicht, mit welchem Vorwand der verfassungsändernde Gesetzgeber die Zuständigkeiten auf die Länder überwies, sondern wie der Sachgegenstand im Grundgesetz normiert ist.556 Der Verweis auf einen fehlenden Regionalbezug oder fehlende lokale oder örtliche Radizierung557 kann weder den Wortlaut überspielen noch eine teleologische Reduktion rechtfertigen. Nicht von Bedeutung für die Kompetenzinterpretation ist insbesondere, ob die einzelnen Kompetenzbereiche – etwa das Recht der Spielhallen – tatsächlich einen „besonderen Regionalbezug“ aufweisen. Es geht ferner zu weit, wenn nur dann eine Zuständigkeit der Länder angenommen werden darf, wenn es in der Regelung „spezifisch um die Berücksichtigung 552 Womit nicht gesagt ist, dass das Grundgesetz ein generelles Subsidiaritätsprinzip anerkennt, siehe dazu unter Erstes Kapitel V. 6. Grundlegend zur Pendelbewegung zwischen Subsidiarität und Integration Oeter, Integration und Subsidiarität. 553 BT-Drs. 16/813, S. 9; zu den einzelnen Kompetenzen mit Regionalbezug Böhmler, in: Holtschneider / Schön, Die Reform des Bundesstaats, S. 271 ff. 554 Zu den Zielvorgaben umfassend H.-P. Schneider, Der neue Bundesstaat. 555 Kluth, Die Gesetzgebungskompetenz für das Recht der Spielhallen, S. 60. 556 Vgl. BVerfGE 145, 20 (59 Rn. 100 ff.); vgl. auch Huber / Uhle, in: Heintzen / U hle, Neuere Entwicklungen im Kompetenzrecht, S. 118. 557 Projektgruppe 5 (Regionale Themen), PAU-5/0020, S. 3, enthalten in: Deutscher Bundestag / Bundesrat, Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, 2005.; Protokollvermerk über die 7. Sitzung der Arbeitsgruppe „Gesetzgebungskompetenzen und Mitwirkungsrechte“ vom 6. Oktober 2004, S. 21, enthalten in: a. a. O.
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
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regionaler Besonderheiten geht“.558 So hat auch das Bundesverfassungsgericht im Spielhallen-Beschluss klargestellt, dass das Kriterium der örtlichen Radizierung nicht zu einer Beschränkung der Länderkompetenz auf Regelungen führt, „die an die Besonderheiten der Situation vor Ort und Fragen der von der einzelnen Spielhalle ausgehenden Gefahren anknüpfen“.559 Das Regionalkriterium darf deshalb nicht überstrapaziert werden; es zwingt nicht zu einer prinzipiell restriktiven Auslegung. Bedeutung kommt dem Kriterium aber jedenfalls insofern zu, als dass eine Erweiterung des Verständnisses der überwiesenen Themenfelder dann ihre Grenze findet, wo die neuen Regelungen überhaupt keinen regionalen Bezug mehr aufweisen und nur noch überörtlich wirken.560 Das Regionalprinzip kommt somit zwar nicht als leitende Auslegungsdirektive in Betracht, es ist aber in der Lage, die gefundenen Zuordnungsergebnisse zu bestätigen. Es hat somit eine Indizfunktion. Wird nämlich der Normbereich des Kompetenztitels über den „typischen Gehalt“ der Kompetenznorm ausgedehnt, spricht bereits die historische Auslegung für die Verfassungswidrigkeit des Landesgesetzes. So wäre beispielsweise eine Ausdehnung des Rechts der Spielhallen auf das Recht der Spielgeräte nicht von dem Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers umfasst.561 Die Anwendung des Regionalprinzips bestätigt diesen Befund.562 cc) Ergebnis Rechtseinheit und Regionalprinzip sind taugliche Argumente im Kanon der Kompetenzinterpretation. Allerdings sollte berücksichtigt werden, dass sie sich weniger als leitende Auslegungsdirektiven eignen; sie finden Anwendung, um bereits vorhandene Auslegungsgesichtspunkte einer weiteren Richtigkeitskontrolle zu unterwerfen. Ihnen kommt vor allem in positiver Hinsicht eine Indizfunktion, in negativer Hinsicht eine Grenzfunktion zu. 2. Staatspraxis als Interpretation der Gegenwart Als weiteres Element teleologischer Auslegung nutzt das Bundesverfassungsgericht die Staatspraxis. Die Staatspraxis taucht dabei in zwei unterschiedlichen Bedeutungen auf. Als Interpretation der Vergangenheit nutzt das Bundesverfas 558
Schönleiter, GewArch 2006, 371 (372); Höfling / Rixen, GewArch 2008, 1 (5); Kluth, in: ders., Föderalismusreformgesetz, Art. 74 Rn. 3. 559 BVerfGE 145, 20 (61 Rn. 104). 560 Kluth, Die Gesetzgebungskompetenz für das Recht der Spielhallen, S. 60. 561 Ganz herrschende Meinung vgl. Degenhart, DVBl 2014, 416 (420); Dietlein, ZfWG 2008, 12 (16); H.-P. Schneider, GewArch 2009, 265 (270); Szczekalla, in: FS Rengeling, S. 187 f. 562 So auch BVerfGE 145, 20 (61 Rn. 104): „Ein Erfordernis bundesweit einheitlicher Regelungen ist demgegenüber – im Unterschied zum Recht der Spielgeräte – nicht ersichtlich.“
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
sungsgericht die Staatspraxis, wenn es diese unter Vorgängervorschriften untersucht.563 In diesem Zusammenhang gibt sie Aufschluss, welches Verständnis der Kompetenznormsetzer von einer Kompetenznorm gehabt hat. Die Staatspraxis bewegt sich innerhalb des Horizonts historisch-genetischer Auslegung und hat insoweit auch seine Berechtigung.564 a) Das Bundesverfassungsgericht und die nachkonstitutionelle Staatspraxis Das Bundesverfassungsgericht greift aber teilweise nicht nur auf die Staatspraxis vor dem Grundgesetz, sondern auch auf die Staatspraxis unter der auszulegenden Kompetenznorm zurück.565 Die Ausführungen dienen zumeist der Unterstützung der historischen Auslegung; sie sollen zeigen, dass auch unter der Geltung des Grundgesetzes die traditionelle Kompetenzverteilung durch die Bundesorgane beibehalten wurde und sich insofern eine „Bestandsgarantie“566 im Sinne einer kompetentiellen Kontinuität herausgebildet hat.567 Die Staatspraxis als Interpretation der Gegenwart ist in diesem Zusammenhang keine historische Auslegung. Sie legt nicht das Verständnis des historischen Kompetenznormsetzers frei; vielmehr untersucht sie die Verbindung von Sein und Sollen. Die Berücksichtigung der Staatspraxis soll verhindern, dass Norm und Wirklichkeit auseinanderfallen.568 Die Untersuchung der Staatspraxis unter Geltung des Grundgesetzes hat zumeist keine tragende Bedeutung für das Auslegungsergebnis. Sie wird eher angeführt, um das gefundene Auslegungsergebnis zu bestätigen oder abzurunden. Die Ausführungen haben weitgehend affirmativen Charakter.569 Teilweise zieht das Bundesverfassungsgericht die Staatspraxis unter dem Grundgesetz aber auch heran, um zu begründen, dass der Verfassungsgeber eine historisch gewachsene Tradition übernehmen wollte. So sah es in der praktischen Handhabung durch staatliche Organe ein Argument zur Konkretisierung des Be 563
Siehe Zweites Kapitel V. 4. e) aa). Müller-Franken, in: FS Isensee, S. 242. 565 BVerfGE 33, 125 (153 ff.); 36, 193 (207 ff.); 41, 205 (220, 222 ff.); 68, 319 (328); 106, 62 (118 f.); 121, 30 (48); BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 124 ff. 566 Begriff nach BVerfGE 61, 149 (176). 567 Exemplarisch BVerfGE 31, 314 (332) am Beispiel der steuerlichen Kompetenz für die Verbrauchs- und Verkehrssteuer nach Art. 105 II Nr. 1 GG a. F.: „Das Umsatzsteuergesetz in der Fassung vom 1. September 1951 […] änderte, wie dargelegt ist, an dieser grundsätzlichen Differenzierung nichts“. 568 Isensee, HStR XII, § 268 Rn. 76; Müller-Franken, in: FS Isensee, S. 243 f. 569 So etwa in BVerfGE 33, 125 (153 ff.): „Der Bundesgesetzgeber ist bis in die jüngste Zeit dieser Auffassung gefolgt“; BVerfGE 106, 62 (118): „Die bisherige Staatspraxis in anderen neuen Berufsfeldern des Gesundheitswesens bestätigt dieses Auslegungsergebnis“. Vgl. ferner BVerfGE 77, 308 (331); BVerfGE 121, 30 (48): „Hinzu kommt, dass in der Staatspraxis die Thematik der angegriffenen Regelung nicht im Parteiengesetz aufgegriffen, sondern dem Rundfunkrecht zugeordnet worden ist“. Zu diesem Befund auch Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 54. 564
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
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griffs des Unglücksfalles in Art. 35 Abs. 2 S. 2 GG570, des Begriffs der auswärtigen Staaten i. S. v. Art. 59 Abs. 2 GG571 oder auch ein Indiz zur Bestimmung der Reichweite der Vertrauensfrage nach Art. 68 GG572. Selbst die Pflicht des Rechtsanwalts, vor Gericht eine Amtstracht zu tragen, hat das Bundesverfassungsgericht unter Berücksichtigung von nachkonstitutionellen Gesetzgebungsmotiven dem gerichtlichen Verfahren (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) zugeordnet.573 In diesem Zusammenhang hatte die Staatspraxis nicht nur eine bestätigende Funktion, sie trug vielmehr – zumindest teilweise – das Auslegungsergebnis. b) Der Beschluss des Ersten Senats zur Bundesärzteordnung (BVerfGE 68, 319) Bei der Kompetenzordnung greift das Bundesverfassungsgericht mitunter auf die Staatspraxis als wesentliche Argumentationsquelle zurück.574 Das zeigt etwa die Entscheidung zur Bundesärzteordnung575. Gegenstand der Verfassungsbeschwerde war unter anderem die Frage, ob der Bund gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG befugt ist, die Bundesregierung zu ermächtigen, die Entgelte für ärztliche Tätigkeiten durch Rechtsverordnung zu regeln. Eine entsprechende Kompetenz entnimmt das Gericht vor allem dem historischen Zusammenhang, wobei es in der Begründung lehrbuchmäßig die Entwicklung des ärztlichen Gebührenrechts seit der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund von 1869 entfaltet.576 Da der Entstehungsgeschichte allerdings nicht zu entnehmen sei, ob der parlamentarische Rat die Frage des ärztlichen Gebührenrechts aufgriff577, weicht das BVerfG auf die spätere Staatspraxis unter dem Grundgesetz aus, um seiner Auffassung Nachdruck zu verleihen: „b) Daß die Regelung der ärztlichen Gebühren unter dem Grundgesetz weiterhin als eine Materie der Bundesgesetzgebung angesehen und dem Recht der Wirtschaft zugeordnet worden ist, zeigt auch die Staatspraxis. Die Bundesregierung hatte die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes zum Erlaß von § 11 BÄO auf Art. 74 Nr. 11 GG gestützt (vgl. oben A I). 570
BVerfGE 115, 118 (144). BVerfGE 1, 351 (368). 572 BVerfGE 62, 1 (38 f., 49). Zu dieser Entscheidung ausführlich Cremer, Anwendungsorientierte Verfassungsauslegung, S. 342 ff. 573 BVerfGE 28, 21 (33). 574 BVerfGE 28, 21 (32 f.); 36, 193 (209); 106, 62 (118); 121, 30 (47 f.); BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 124 ff. 575 BVerfGE 68, 319. 576 BVerfGE 68, 319 (328 f.). 577 Die Entstehungsgeschichte stehe nach BVerfGE 68, 319 (331) dem dargelegten Ergebnis nicht entgegen: „Selbst wenn jene Aufzählung [gemeint ist die Aufzählung in Art. 74 Nr. 11 a. F., F. S.] aber als abschließend anzusehen wäre, würde sie nicht dagegen sprechen, daß die Zuständigkeit für das ärztliche Gebührenwesen unter dem gleichen verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt des ‚Gewerbes‘ ebenso wie in den Reichsverfassungen von 1871 und 1919 Sache des Bundes geblieben ist.“ 571
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Dabei berief sie sich nicht nur auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu einer weiten Auslegung des Begriffs Recht der Wirtschaft, sondern auch darauf, daß das geltende ärztliche Gebührenrecht auf das Preisrecht gestützt worden sei (vgl. BTDrucks. III/2745 S. 10). So hatte der Bundesminister für Wirtschaft die Gebührensätze der Preugo zur Angleichung an das gestiegene Lohn-Preis-Gefüge durch Verordnungen PR Nr. 74/52 vom 11. Dezember 1952 (BAnz. 1952, Nr. 243) und PR Nr. 10/57 vom 8. Juli 1957 (BAnz. 1957 Nr. 130) unter Berufung auf § 2 des Preisgesetzes (vom 10. April 1948 [WiGBl. S. 27]) erhöht. Auch der Bundesrat hat mit seiner Zustimmung zu § 11 BÄO und zu den Gebührenordnungen von 1965 und 1982 die Bundeskompetenz zum Erlaß dieser Vorschriften anerkannt.“578
Die Staatspraxis dient in der Entscheidung dazu, eine kompetentielle Kontinuität vorzutäuschen, die im konkreten Fall nicht existierte. Gegen die Beibehaltung der vorgefundenen Tradition sprechen sowohl systematische als auch historische Argumente. Das ärztliche Gebührenrecht wird durch die Besonderheiten des Arztberufs geprägt, so dass dieses dem Arztberufsrecht und nicht dem Wirtschaftsrecht unterfällt. Thematisch einschlägig ist mithin Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG.579 Dieser Kompetenztitel spricht aber gegen die Qualifikation des ärztlichen Gebührenrechts als Recht der Wirtschaft: Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG betrifft die Materie des Arztberufsrechts, allerdings nur in Bezug auf die Zulassung zum Arztberuf. Im Umkehrschluss heißt das, dass die sonstigen Materien des Arztberufsrechts der ausschließlichen Zuständigkeit der Länder überantwortet sind. Der eng auf die Zulassung begrenzte Tatbestand des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG darf deshalb nicht dadurch ausgehöhlt werden, dass Materien des Arztberufs durch das weit formulierte Recht der Wirtschaft aufgefangen werden.580 Da das ärztliche Gebührenrecht nicht die Zulassung zum Arztberuf, sondern lediglich die Berufsausübung der Ärzte betrifft, spricht die Systematik des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG für die ausschließliche Zuständigkeit der Länder.581 Daneben ist auch die historische Auslegung keinesfalls so eindeutig: Zwar ist richtig, dass das Reich bis 1945 traditionell die Kompetenz zur Regelung des Arztberufs hatte, die zunächst auf das Gewerbe (Art. 4 Reichsverfassung v. 1871 und Art. 7 Nr. 16 WRV) und später zusätzlich auf das Gesundheitswesen (Art. 7 Nr. 8 WRV) gestützt wurde. Eine Fortführung dieser Tradition kann jedoch nicht ohne weiteres angenommen werden. Denn mit Art. 74 Nr. 19 GG a. F. wurde ein neuer 578
BVerfGE 68, 319 (329 f.). In der alten Fassung Art. 74 Nr. 19 GG. 580 So auch noch BVerfGE 4, 74 (85) zum Verhältnis von Art. 74 Nr. 1 GG a. F. und Art. 74 Nr. 19 GG a. F.: „Es geht nicht an, dem Bunde durch eine weite Auslegung des Art. 74 Nr. 1 GG eine Kompetenz zuzuweisen, die ihm nach der klaren Formulierung der Nr. 19 des gleichen Artikels vorenthalten ist. Insoweit stellt Art. 74 GG eine Einheit dar.“ 581 Hagedorn, NJW 1985, 2177 (2178); Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Bd. 8, 3. Aufl., Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 Rn. 543. So auch noch BVerfGE 17, 287 (292): „Während der Bund für Rechtsanwaltschaft, Notariat und Rechtsberatung nicht nur die Zulassung zum Beruf, sondern auch die Berufsausübung einschließlich Gebührenwesen usw. regeln kann, ist er bei den ärztlichen und anderen Heilberufen auf den Erlaß von Vorschriften über die Zulassung zum Beruf beschränkt.“ 579
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
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Kompetenztitel für das Arztberufsrecht eingeführt, der als „Kennzeichen einer inhaltlich verschiedenen Abgrenzung der Gesetzgebungszuständigkeiten“582 verstanden werden muss. Schon die geänderte sprachliche Fassung steht einer Fortführung der historischen Tradition entgegen. Diese Schlussfolgerung möchte der Erste Senat allerdings nicht ziehen. Er muss deshalb auch mühsam begründen, weshalb das Gebührenrecht als wirtschaftslenkende und wirtschaftsregulierende Regelung dennoch dem Recht der Wirtschaft unterfällt.583 In diesem Zusammenhang zieht das Gericht neben dem Topos der weiten (und nahezu entgrenzten584) Auslegung des Rechts der Wirtschaft auch die Staatspraxis heran. Die Staatspraxis war vor diesem Hintergrund tragender Bestandteil der Argumentation. c) Die Berücksichtigung der nachkonstitutionellen Staatspraxis als Deaktivierung des Verfassungsgebers Die Berücksichtigung der nachkonstitutionellen Staatspraxis scheint eine gewisse Parallele zur Figur des Verfassungswandels aufzuweisen. Lässt man die bis heute bestehenden terminologischen Unklarheiten über die exakte Definition des Verfassungswandels außer Acht585, so dient der Verfassungswandel auch heute noch der Legitimierung einer Norminterpretation, die über den Wortlaut und über den festgestellten „historischen Willen“ des Verfassungsgebers hinausgeht. Schaffen die Staatsorgane durch ihr Handeln neue Lebenswirklichkeiten und werden diese bei der Kompetenzinterpretation berücksichtigt, so strömt das Faktische in das Normative hinein. Derartige Verfassungswandlungen waren aber schon in der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik nur schwerfällig begründbar und lediglich als Phänomen von verschiedenen Verfassungsdurchbrechungen und Verfassungsentwicklungen beschreibbar.586 Dass die Verfassungswandlung aber unter der Geltung des Grundgesetzes kaum noch dogmatisch begründet und al 582
BVerfGE 4, 74 (83). BVerfGE 68, 319 (330 f.). 584 Dazu Kunig, JR 1986, 491 ff. Insbesondere blendet das BVerfG die Klammerzusätze als Auslegungshinweise aus; krit. dazu Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 Rn. 520, 542 ff. 585 Vgl. nur Böckenförde, in: FS Lerche, S. 3 ff.; Hesse, in: FS Scheuner, S. 126 ff.; Voßkuhle, Der Staat 43 (2004), 450 ff.; Volkmann, JZ 2018, 265 ff. Einen erweiterten Blick auf das Phänomen bietet Bryde, Verfassungsentwicklungen, passim. In seiner Habilitationsschrift beschrieb er verschiedene Formen der Verfassungsdynamik unter der Überschrift der Verfassungsentwicklung. Eine methodisch sehr ausgereifte Einbindung von faktischen Einflüssen auf die Normkonkretisierung hat auch Friedrich Müller vorgelegt (Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, Rn. 482). 586 Laband, Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, passim; Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 337 ff.; ders., Verfassungsänderung und Verfassungswandel, S. 72; Bilfinger, AöR 11 (1926), 163 (173 ff.); Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 241 f.; Heller, Staatslehre, S. 292 ff.; diff. Hsü Dai-Lin, Die Verfassungswandlung, passim, besonders S. 116 ff. und S. 158 ff.; rückblickend zur Dogmatik des Verfassungswandels in der Zeit der Reichsverfassung Hesse, in: FS Scheuner, S. 128 ff. 583
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
lenfalls als Interpretationsproblem begriffen werden kann587, zeigt hingegen schon Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG. Verfassungsänderungen ohne Verfassungstextänderungen sind danach ausdrücklich verboten.588 Die Heranziehung der nachkonstitutionellen Staatspraxis ist ebenfalls strikt abzulehnen.589 Auch hier droht die Gefahr, dass die Normativität der Verfassung zugunsten von „Verfassungsentwicklungen“ aufgegeben wird. Darüber hinaus wird die Problematik der „Deaktivierung des Verfassungsgesetzgebers“590 noch um eine zusätzliche Dimension verschärft: Die Normativität der Verfassung wird nicht nur durch das Verfassungsgericht, sondern zusätzlich durch die handelnden Staatsorgane bzw. durch den einfachen Gesetzgeber gefährdet. Die Berücksichtigung der Staatspraxis unter dem Grundgesetz erhebt die Vorstellung der Bundesorgane (Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat) zum verfassungsmäßigen Maßstab. Denkt man diese Argumentation zu Ende, so kommt sie Leisners Vorwurf der „Gesetzmäßigkeit der Verfassung“591 nahe. Nicht die Kompetenznorm bestimmt, ob das einfache Recht verfassungsgemäß ist, sondern die Staatspraxis und somit die Vorstellung der an der Gesetzgebung beteiligten Organe. Auf dem Standpunkt der Logik handelt es sich bei dem Argument der Staatspraxis um einen naturalistischen Fehlschluss, weil Sein (Verfassungswirklichkeit) und Sollen (Normprogramm) kurzgeschlossen wird.592 Die Berücksichtigung der Staatspraxis ist deshalb nur zulässig, soweit sie auf die Perspektive des Kompetenznormsetzers abzielt – und diese beschränkt sich auf die Zeit vor dem Inkrafttreten der Kompetenznorm.593 587
Dazu tendiert BVerfGE 142, 25 (65 Rn. 110). In der Entscheidung zu den Minderheiten- und Oppositionsrechten hat das BVerfG unter Berufung auf Häberle die Grenzen eines Verfassungswandels festgelegt (BVerfGE 142, 25 [65 Rn. 110]): Einerseits setzt die Norm einen hinreichenden Auslegungsspielraum voraus, woran es scheitert, wenn der Wortlaut klar ist. Selbst wenn man aber den Wortlaut als Grenze nicht anerkennen möchte, könne ein Verfassungswandel allenfalls dann vorliegen, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse im Laufe der Zeit derart geändert hätten, dass die bestehenden Regelungen ihren Sinn verloren hätten. Eine derartige Änderung der tatsächlichen Verhältnisse erscheint bei Kompetenznormen allerdings eher unwahrscheinlich. Gerade wegen der Verteilungsregel (Art. 70 Abs. 1 GG) gibt es keine Sachmaterien, die nicht durch das Gemeinwesen geregelt werden könnten. Zwar mögen tatsächliche Erscheinungen eine bestehende Interpretation unzweckmäßig erscheinen lassen, dennoch haben die Regelungen dadurch ihren Sinn nicht verloren. Denn der Sinn der Kompetenzordnung liegt vor allem darin, die Voraussetzungen für eine klare Zurechnung von Verantwortung zu schaffen und zugleich die Selbstständigkeit der Hoheitsträger zu gewährleisten. Aber auch darüber hinaus erscheint die Annahme eines Verfassungswandels eher zweifelhaft. Denn selbst wenn man anerkennt, dass eine derartige Einwirkung des Faktischen auf das Normative möglich ist, vermag die vom BVerfG angestellte Überlegung nicht zu begründen, wie stark sich die tatsächlichen Verhältnisse geändert haben müssten. 589 So auch Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 54; Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, Bd. 8, 3. Aufl., Art. 70 Abs. 1 Rn. 63.; a. A. Rahe, Begriff und Bedeutung der Staatspraxis, S. 90. 590 Jestaedt, in: FS Isensee, S. 204. 591 Dazu schon unter Zweites Kapitel V. 4. d) bb). 592 Vgl. dazu auch Jestaedt, in: FS Isensee, S. 203. 593 Dazu bereits Erstes Kapitel V. 4. e) aa). 588
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
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Denkbar wäre allenfalls eine verfassungsgewohnheitsrechtliche Anerkennung der nachkonstitutionellen Staatspraxis.594 Gewohnheitsrecht entsteht durch eine längere tatsächliche, gleichmäßige und dauernde Übung, die von den Beteiligten als verbindliche Rechtsnorm anerkannt wird.595 An einer (zulässigen) Übereinkunft aller Beteiligten fehlt es jedoch. Weder Bund noch Länder können über ihre im Grundgesetz festgelegten Kompetenzen verfügen; Kompetenzverschiebungen zwischen Bund und Ländern sind auch mit Zustimmung der Beteiligten nicht zulässig.596 Zudem erweckt das Argument des Bundesverfassungsgerichts, der Bundesrat habe die Bundeskompetenz anerkannt597, den Anschein, als könne er im Namen der Länder auf zugewiesene Länderkompetenzen verzichten. Auch dies ist nicht richtig.598 Nicht zuletzt sollte betont werden, dass auch der Bürger befugt ist, Änderungen der Zuständigkeitsordnungen im Wege der Verfassungsbeschwerde zu rügen. Kompetenzen können somit nicht allein zwischen Bund und Ländern ausgehandelt werden.599 Dies lässt erkennen, dass die Ziehung von Zuständigkeitsgrenzen nicht allein die Angelegenheit der unmittelbar beteiligten Kompetenzträger ist. Ähnlich kann es nicht überzeugen, wenn das Bundesverfassungsgericht „bei Zweifeln über den Sinn einer Norm der Staatspraxis Rechnung“ tragen möchte.600 Gegen eine solche Zuständigkeitsvermutung spricht insbesondere das Gebot einer strikten und bestimmbaren Kompetenzordnung. Dieses zwingt dazu, die Kompetenzbereiche von Bund und Ländern trennscharf voneinander abzugrenzen. Insofern gilt, dass Zweifel durch Auslegung auszuräumen sind. Nicht zuletzt würden Zweifelsregeln stets den gerade handelnden Akteur begünstigen. Da die Mehrzahl der Gesetze vom Bund beschlossen werden, käme dies einer Zentralisierung der Kompetenzordnung gleich. Da jede Zuordnung von Kompetenzen den Umfang des anderen Kompetenzträgers mittelbar mitbestimmt601, ist es wenig einleuchtend, die Staatspraxis des einen Kompetenzträgers für die Auslegung besonders zu berücksichtigen, die des anderen aber nicht. 594
Vgl. Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, S. 133 ff.; Walter, AöR 125 (2000), 517 (522 f.). 595 Zu den Voraussetzungen BVerfGE 34, 293 (303 f.). 596 BVerfGE 63, 1 (39 f.); vgl. zum Prinzip der Unverfügbarkeit der Kompetenzzuweisung Erstes Kapitel V. 5. 597 BVerfGE 68, 319 (329 f.): „Auch der Bundesrat hat mit seiner Zustimmung zu § 11 BÄO und zu den Gebührenordnungen von 1965 und 1982 die Bundeskompetenz zum Erlaß dieser Vorschriften anerkannt.“ 598 Der Bundesrat fasst seine Beschlüsse nach dem Mehrheitsprinzip; eine Einstimmigkeit aller Länder wird nicht vorausgesetzt. 599 Bullinger, DÖV 1970, 761 (774, 776); ebenso Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, S. 98; st. Rechtsprechung seit BVerfGE 6, 32 (36). 600 BVerfGE 91, 148 (172). Noch in BVerfGE 61, 149 (190) hat das Gericht offengelassen, in welchen Grenzen die Staatspraxis die Rechtserkenntnis beeinflusst: „Ob einer eindeutigen Staatspraxis gegenüber jedem anderen Ergebnis juristischer Meinungsbildung ausnahmslos der Vorzug gebührt oder ihr jedenfalls dann die Anerkennung zu versagen ist, wenn sie die Tragweite der Verfassung offenkundig verkannt hat, ist hier nicht zu klären.“ 601 Dies wurde schon unter Gliederungspunkt Zweites Kapitel IV. beschrieben.
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
d) Staatspraxis als Argumentationslastregel Doch heißt das, dass der Staatspraxis für die Auslegung von Kompetenznormen im Prozess der Verfassungsinterpretation gar keine Bedeutung zukommt? Nach dem oben Gesagten kann die Staatspraxis keine verfassungswidrige Praxis legitimieren. „Die Staatspraxis ist Gegenstand, nicht Maßstab verfassungsrecht licher Beurteilung von Akten der öffentlichen Gewalt“602. Doch ist zur Kenntnis zu nehmen, dass nicht nur das Bundesverfassungsgericht und die Staatsrechtswissenschaften befugt sind, die Verfassung zu interpretieren, sondern auch die politische Praxis und damit auch die handelnden Staatsorgane.603 In diesem Sinne präjudiziert die Praxis, also die Legislative und die Exekutive, mit ihrem ersten Zugriff auf die Verfassungsnorm die weitere Interpretation.604 Dieser erste Zugriff ist sowohl für die Staatswissenschaft als auch für die Gerichte der Anknüpfungspunkt für die Interpretation. Die Staatspraxis begründet eine „Berücksichtigungspflicht“605, die dazu zwingt, sich mit den bisherigen Interpretationsversuchen auseinanderzusetzen. Diesem Gebot kommt das Bundesverfassungsgericht nach, insbesondere, wenn es die Staatsorgane im Verfassungsprozess anhört und die Stellungnahmen in der Entscheidung aufnimmt und verarbeitet. In diesem Sinne kann Lerche zugestimmt werden, wenn er behauptet, die „Vermutung“ spreche immer für den jeweils Handelnden, sei es Land oder Bund.606 Die Staatspraxis kann deshalb die Argumentationslast des Gerichts erhöhen: Möchte es nämlich von einer geübten und gefestigten Staatspraxis abweichen und diese als verfassungswidrig verwerfen, so sollte es hierfür überzeugende Gründe anführen.607 Wenn aber demgegenüber Stettner meint, dass deshalb die Staatspraxis zu einer gewichtigen Stimme im „Konzert der Verfassungsinterpretation“608 werde, stimmt dies nur in faktischer, nicht aber in normativer Hinsicht. Die (nachkonstitutionelle) Staatspraxis hat nur eine prozedurale Bedeutung.609 Das Bundesverfassungsgericht muss die Staatspraxis als Ausgangsgröße aufnehmen und sich mit den bisherigen Interpretationsmethoden auseinandersetzen. Die Rechtfertigungslast nimmt mit der Dauer der Staatspraxis zu, weil auch sie Vertrauenstatbestände begründen kann. Je anerkannter diese Praxis ist, desto überzeugender sollte das das Gericht begründen, warum es von einer gefestigten Tradition abweichen möchte.610 Dennoch vermag eine verfas 602
So zutreffend BVerfGE 91, 148 (171). Vgl. auch Müller-Franken, in: FS Isensee, S. 249. Isensee, in: HStR XII, § 268 Rn. 82; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 377. 604 Isensee, in: HStR XII, § 268 Rn. 85; Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, S. 141. 605 Müller-Franken, in: FS Isensee, S. 249. 606 Lerche, VVDStRL 21 (1962), 66 (72); ähnlich auch ders., in: FS BVerfG, S. 358 f.: „Bei unklaren Kompetenzsituationen etwa fällt dem jeweils Handelnden ein Plus zu. Andererseits zählt es zur genuinen Funktion eines Gerichts, sich von vorhandenen Praktiken nicht schlicht beirren zu lassen“. 607 In diesem Sinne auch Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 257, freilich aber lediglich zur Bindung des Richters an richterliche Präjudizien. 608 Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 395. 609 Isensee, HStR XII, § 268 Rn. 87. 610 Depenheuer, in: HStR XII, § 269 Rn. 41. 603
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
195
sungswidrige Praxis weder die normative Kraft der Verfassung aufzuweichen, noch kann sie ein über der Kompetenzordnung stehendes Verfassungsgewohnheitsrecht schaffen.611 Die Staatspraxis kann die Kompetenzauslegung weder als eigenständiges Verfassungsgewohnheitsrecht noch als Rechtserkenntnisquelle beeinflussen. e) Ergebnis Greift das Bundesverfassungsgericht auf eine vorkonstitutionelle Staatspraxis zurück, so kann sie als Bestandteil historisch-genetischer Auslegung verwendet werden. Die Staatspraxis nach der Kompetenznormsetzung scheidet hingegen aus. Würde man die exekutive oder legislative Praxis der Bundes- oder Landesorgane als bindend für die Auslegung ansehen, so erhielten diese die Macht, die bundesstaatliche Kompetenzerteilung durch eine unterverfassungsrechtliche Praxis zu ändern, der Vorrang der Verfassung würde verkannt. Folglich darf die Staatspraxis nicht zur Ermittlung des Sinngehalts eines Kompetenztitels genutzt werden. Davon abzugrenzen ist die praktische Bedeutsamkeit der Staatspraxis. Der Staatspraxis kommt die Funktion der Erstinterpretation der Verfassung zu. Sie ist bei der Auslegung von Verfassungsrecht zu berücksichtigen, ohne dass ihr eine bindende Wirkung zukommt. 3. Stillschweigend mitgeschriebene Kompetenzen als Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation Ungeschriebene Kompetenzen sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die wohl wichtigsten Elemente der teleologischen Auslegung. Hierzu gehören die Kompetenz kraft Sachzusammenhangs, die Annexkompetenz und die Kompetenz kraft Natur der Sache. Während die Kompetenz kraft Natur der Sache aus ihrer Begriffsnotwendigkeit hergeleitet wird612, scheint mit der Annexkompetenz, aber vor allem mit der Kompetenz kraft Sachzusammenhangs die Vorstellung verbunden zu sein, der Kompetenzträger könne unter Rückgriff auf eine ungeschriebene Kompetenz seinen eigenen Handlungsspielraum erweitern und auf fremde Kompetenzbereiche übergreifen. Sie scheinen Kompetenznormen zu dynamisieren, indem sie ihnen etwas hinzufügen, was sich – jedenfalls auf dem ersten Blick – nicht ohne weiteres aus der Verfassung ergibt. Es gilt deshalb, das Phänomen der ungeschriebenen Kompetenzen näher zu untersuchen.
611
Depenheuer, in: HStR XII, § 269 Rn. 42; Isensee, in: HStR XII, § 268 Rn. 86; MüllerFranken, in: FS Isensee, S. 249. Zur Relation von Staatspraxis und Gewohnheitsrecht vor allem Rahe, Begriff und Bedeutung der Staatspraxis, S. 74 ff.; Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, S. 133 ff., die sich ebenfalls gegen eine gewohnheitsrechtliche Bindung an die Staatspraxis aussprechen. 612 BVerfGE 11, 89 (99); 22, 180 (217).
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
a) Begriff und Herleitung Die Existenz ungeschriebener Kompetenzen ist in hohem Maße begründungsbedürftig. Grundsätzlich folgt die Kompetenzverteilung dem Verteilungsprinzip, wonach die Länder nach Art. 30 und Art. 70 Abs. 1 GG zur Gesetzgebung zuständig sind, sofern das Grundgesetz nicht dem Bund Gesetzgebungsbefugnisse verliehen hat. Die Zuweisung setzt geschriebene, im Grundgesetz einzeln aufgelistete titulierte Kompetenzen voraus. Kann ein Regelungsgegenstand nicht unter eine der aufgelisteten Kompetenzen subsumiert werden, so entspricht es der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung, dass die Länder zur Gesetzgebung zuständig sind. Aus diesem Grund sind auch Analogien im Kompetenzrecht nicht durchführbar: Sie setzen eine Lücke voraus, an der es fehlt, weil die Verteilungstechnik alle in Frage kommenden titulierten Bundeskompetenzen aufzählt, um im Gegenzug den Ländern einen festen Kompetenzbereich zu sichern.613 Das Schema der Gesetzgebungskompetenzen eröffnet keinen Spielraum für analoge Rechtsanwendungen. Es ist somit unrichtig, wollte man etwa die Kompetenz kraft Sachzusammenhangs als „ungeschriebene“ und neben der positiven Kompetenzordnung liegende „Zusatzzuständigkeit“ begründen. Sie muss vielmehr ihre Grundlage im positiven Verfassungsrecht finden und aus ihr ableitbar sein. Folglich müssen die ungeschriebenen Kompetenzen stillschweigend mitgeschrieben sein614, sie sind kompetenzintern wirkende Begründungstatbestände für Zuständigkeiten.615 Wenn es also richtig ist, dass die ungeschriebenen Kompetenzen in den geschriebenen Kompetenzen stillschweigend mitgeschrieben sind, so ist der Gehalt dieser impliziten Zuweisung zu befragen. Mitgeschriebene Kompetenzen sind keine selbstständigen Kompetenzen, die zwischen den titulierten Bundeskompetenzen und den Residualkompetenzen der Länder liegen; sie sind vielmehr Elemente teleologischer Auslegung. Den Gesetzgebungszuständigkeiten sind also weitere Zwecke stillschweigend zugewiesen. Es gilt, diese Zwecke aufzuspüren, um die ungeschriebenen Kompetenzen in ihrer Wirkung zu verstehen und sie möglichst „richtig“ anzuwenden. Nur so handelt es sich bei ihrer Verwendung nicht um eine unzulässige Verfassungsergänzung616, sondern um das Resultat einer – wenn auch weiten – Auslegung des zu subsumierenden Kompetenztatbestands. 613
Ehlers, Jura 2000, 323; Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 282. Grundlegend Küchenhoff, AöR 82 (1957), 413 (416); Achterberg, AöR 86 (1961), 63 (64 f.); ders., DÖV 1966, 695 (696); Bullinger, AöR 96 (1971), 237 (270); vgl. ferner Bothe, in: AK-GG, Art. 30 Rn. 13; Ehlers, Jura 2000, 323; Harms, Der Staat 33 (1994), 409 (412); Stern, Staatsrecht II, § 37 II 5, S. 610; Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 70 Rn. 65; Uhle, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 70 Rn. 63. Die Terminologie „stillschweigend“ wurde in BVerfGE 11, 6 (17) verwendet. 615 Stern, Staatsrecht II, § 37 II 5, S. 611. 616 Kritisch gegenüber der Kompetenz kraft Sachzusammenhangs und der Annexkompetenz Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 109 ff. Die Existenz ungeschriebener Zuständigkeiten ist heute weitgehend anerkannt. Die Diskussion um ihre Zulässigkeit wurde vor allem in den ersten Jahren der Bundesrepublik geführt, vgl. unter anderem 614
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
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Ein Vorbild könnte zunächst die amerikanische Verfassungslehre sein. Auf Grundlage von Art. I Sec. 8 cl. 18 der amerikanischen Verfassung (necessary and proper clause)617 werden dort Kompetenzen kraft Sachzusammenhangs als implied powers und Kompetenzen kraft Natur der Sache als resulting powers bezeichnet.618 Doch darf aus zwei Gründen nicht verkannt werden, dass die Unterschiede zwischen der bundesstaatlichen und der amerikanischen Kompetenzverteilung zu groß sind, als dass die amerikanische Lehre von den impliziten Zuständigkeiten verlustfrei übernommen werden kann: Erstens fehlt es hierzulande an einem Bedürfnis für ausdehnende Interpretationen. Die amerikanische Verfassung ist aufgrund ihrer starren und nur schwer abänderbaren Verfassungsurkunde619 in wesentlich höherem Maße von einer dynamischen Erweiterung der Kompetenzstrukturen abhängig als die bundesstaatliche Verfassung, die – das haben unter anderem auch die Föderalismusreformen der letzten Jahre gezeigt – bei entsprechender verfassungsändernder Mehrheit großzügig angepasst werden kann.620 Zweitens liegt das Schwergewicht der Gesetzgebungsbefugnisse gemäß der amerikanischen Verfassung bei den Einzelstaaten, während das Grundgesetz dem Bund den Großteil der Gesetzgebungszuständigkeiten zuweist.621 Eine großzügige Ausdehnung impliziter Zuständigkeiten würde das ohnehin schon bestehende Ungleichgewicht weiter verstärken und die Ländergesetzgebungskompetenzen zugunsten einer Zentralisierung aushöhlen.622 Das Grundgesetz hat die Aussage getroffen, dass ein Regelungsgegenstand nicht notwendigerweise als Bundeskompetenz subsumiert werden muss, vielmehr Achterberg, AöR 86 (1961), 63 (79 ff.); Grewe, in: Weinheimer Tagung, Bundesrecht und Bundesgesetzgebung, 27 (39 ff.); Küchenhoff, DVBl 1951, 617 ff.; ders., AöR 82 (1957), 413 (420 ff.). 617 Dort heißt es: „The Congress shall have Power […] To make all Laws which shall be necessary and proper for carrying into Execution the foregoing Powers, and all other Powers vested by this Constitution in the Government of the United States, or in any Department or Officer thereof.“ Die weite Auslegung der Klausel ist seit McCulloch v. Maryland, 17 U. S. (4 Wheat) 316 (1819) anerkannt; dazu Hanschel, Konfliktlösung im Bundesstaat, S. 371 ff.; Joswig, Die implied powers-Lehre im amerikanischen Verfassungsrecht. 618 Die Konstruktion des Sachzusammenhangs im Kaiserreich und der Weimarer Republik beruhte auf dem Vorbild der amerikanischen Verfassungsauslegung; grundlegend Triepel, in: FG Laband, Bd. 2, S. 254 ff.; näher dazu Achterberg, AöR 86 (1961), 63 (71 ff.). 619 Zu den unterschiedlichen Typen der Verfassungen und ihren Möglichkeiten zur Verfassungsänderung Bothe, Die Kompetenzstruktur des modernen Bundesstaates, S. 117 ff. Schon Triepel, in: FG Laband, Bd. 2, S. 278 räumte im Jahr 1908 ein, dass die Verfassung der Vereinigten Staaten sehr viel starrer formuliert ist als die Verfassung des deutschen Kaiserreichs von 1871. Darüber hinaus hat v. Danwitz, AöR 131 (2006), 510 (540 f.) darauf aufmerksam gemacht, dass der Supreme Court aufgrund der starren Verfassungsurkunde die Kompetenzauslegung auch auf Grundlage einer verfassungspolitischen Aufgabe der bundesstaatlichen Integration zu bewältigen hat. Die damit einhergehende dynamische Auslegung des amerikanischen Verfassungsrechts entziehe sich weitgehend einer vergleichenden Betrachtung. 620 Bullinger, AöR 96 (1971), 237 (239); ders., Die Mineralölfernleitungen, S. 55. 621 Zur Kompetenzverteilung im US-amerikanischen Bundesstaat Hanschel, Konfliktlösung im Bundesstaat, S. 344 ff., der darauf hinweist, dass seit der Zeit des New Deal gewisse Zentralisierungserscheinungen zu beobachten sind (Ibid., S. 444 f.); zu dieser Entwicklung auch Currie, JÖR n. F. 46 (1998), 511 (512 f.); v. Danwitz, AöR 131 (2006), 510 (536 ff.). 622 Ehlers, Jura 2000, 323 (324).
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
hat es die Länderkompetenzen als prinzipiell gleichwertig zu berücksichtigende Zuständigkeiten konstruiert.623 Aus den gleichen Gründen kann auch die Dogmatik ungeschriebener Kompetenzen aus der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik nicht ohne Weiteres für die heutige Kompetenzinterpretation fruchtbar gemacht werden.624 Die Ableitung ungeschriebener Kompetenzen ging vom Primat der Reichskompetenzen aus, während die Hoheiten der Länder nicht gleichsam geschützt waren.625 Dies lag einerseits daran, dass Kompetenzdurchbrechungen nur selten über ein Verfassungsgericht angegriffen wurden.626 Zum anderen waren Verfassungsänderungen ohne Verfassungstextänderungen möglich.627 Wenn also der Gesetzgeber die Verfassung durch einfaches Recht ändern konnte, die Verfassungsentwicklung sich aber nicht im Verfassungstext niederschlagen musste, war dem Reich von vornherein ein sehr viel größerer Spielraum zur Kompetenzausübung überlassen.628 Ob Kompetenzen kraft Natur der Sache und Sachzusammenhänge noch als legitime Kompetenzauslegung oder schon als verfassungsdurchbrechende Kompetenzerweiterung zu verstehen waren, war deshalb kaum von entscheidendem Gewicht. Nicht umsonst waren auch die Diskussionen um die dogmatische Begründung und Eingrenzung von Verfassungswandlungen von Jellinek, der von der normativen Kraft des Faktischen sprach629, bis Smend630 und Hsü-Dai Lin631 kaum von dogmatischem Mehrwert. Dieser Spielraum, den das Reich zur damaligen Zeit hatte, ist heute schon 623
Dazu unter Erstes Kapitel V. 3. und Zweites Kapitel IV. So noch Voigt, VVDStRL 10 (1952), 33 (41 ff.). 625 Triepel, in: FG Laband, Bd. 2, S. 285 ff.; Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 95 f.; Lassar, in: Anschütz / T homa, HDStR, Bd. 1, § 27, S. 310. Das weite Verständnis des Sachzusammenhangs wird in folgender Formulierung von Triepel, in: FG Laband, Bd. 2, S. 293 deutlich: Das Reich habe danach das Recht, „unter den an sich möglichen Mitteln zur Ausübung einer Zuständigkeit dasjenige zu wählen, das ihr bei vernünftiger Prüfung als das zur sicheren Erreichung des erlaubten Zwecks geeignetste erscheint“. Der Sachzusammenhang konnte danach schon bei Zweckmäßigkeitserwägungen möglich sein. Andererseits hat Bullinger, Die Mineralölfernleitungen, S. 66 darauf hingewiesen, dass der Sachzusammenhang in der Lesart von Triepel nicht als Mittel zur Kompetenzdurchbrechung konzipiert war, sondern dem Reich lediglich ermöglichen sollte, „die ihm ausdrücklich verliehenen Kompetenzen bis zur Grenze des Zwecks der Kompetenzbestimmungen auszuschöpfen.“ 626 Vgl. aber StGH, in: RGZ 107, Anh. 7 ff.; 109, Anh. 17 ff.; 112, Anh. 13 ff.; 112, Anh. 33 ff.; RGZ 118, Anh. 41 ff.; 129, Anh. 9 ff.; 138, Anh. 1 ff. 627 Zur Diskussion um die Zulässigkeit von Verfassungsdurchbrechungen Triepel, in: Verhandlungen des 33. DJT (1924), 1925, S. 53; Bilfinger, AöR 11 (1926), 163 (173 ff.). Rückblickend zur damaligen Praxis Schmidt-de Caluwe, in: Neuhaus, Verfassungsänderungen, S. 143 ff. 628 Nach der zur damaligen Zeit herrschenden Auffassung war es noch nicht einmal notwendig, dass dem Gesetzgeber der verfassungsändernde Charakter bewusst gewesen ist, auch die Zulässigkeit der unbewussten Verfassungsänderung war anerkannt, vgl. nur E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 422. 629 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 338; ders., Verfassungsänderung und Verfassungswandel, S. 72; vgl. auch schon Laband, Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, S. 3: „Gegensatz zwischen Verfassungszustand und Verfassungsgesetz“. 630 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 241. 631 Hsü Dai-Lin, Die Verfassungswandlung. 624
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wegen Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG eng begrenzt, da jedenfalls Verfassungsänderungen ohne Verfassungstextänderungen als Verfassungsdurchbrechung verfassungswidrig sind.632 Art. 79 Abs. 2 GG weist mit seiner den Bundesrat (und somit mittelbar die Länder) schützenden Wirkung in dieselbe Richtung. Deshalb ist es notwendig, ungeschriebene Kompetenzen als stillschweigend mitgeschriebene Kompetenzen zu betrachten; sie müssen unmittelbar aus der Verfassung folgen. Stillschweigend mitgeschriebene Gesetzgebungskompetenzen finden somit nicht nur ihre Begründung im Grundgesetz, sondern auch ihre Begrenzung. Sie dienen nicht dazu, umfassend in die Kompetenzen der Länder überzugreifen, sie auszuhöhlen und somit die Kompetenzordnung schrittweise zugunsten des Bundes zu verschieben.633 Gewisse Dynamisierungen scheinen mit der Kompetenz kraft Sachzusammenhangs und mit der Annexkompetenz einherzugehen. Von diesen beiden Aspekten hat das Bundesverfassungsgericht recht vielfältigen Gebrauch gemacht. Sie sind unselbstständige Gesichtspunkte einer Kompetenznorm, die im Wege der Interpretation zu ermitteln sind.634 Sachzusammenhänge und Annexe müssen also nicht mit dem Etikett des Besonderen versehen werden; sie sind lediglich Hilfsgesichtspunkte, um die Grenze (den Randbereich635) des Kompetenzbereichs einer Kompetenznorm zu bestimmen. Umgekehrt erschöpft sich die Bedeutung der mitgeschriebenen Kompetenzen aber auch nicht als bloßes Momentum einer teleologischen (und systematischen) Auslegung. Sachzusammenhänge und Annexe liegen stets im Grenzbereich zwischen zwei in Frage kommenden Zuständigkeiten. Der besondere Begründungsaufwand, der um die Figuren betrieben wird, rechtfertigt es, den Sachzusammenhang und die Annexkompetenz weiterhin als eigenständige Rechtsfiguren zu betrachten. Dafür spricht, dass die Besonderheiten ihrer Ableitungen und die damit verbundenen Voraussetzungen im Bewusstsein bleiben. Zum anderen würde eine terminologische Abkehr auch sprachliche Verwirrung stiften, ohne in der Sache einen Fortschritt zu erzielen.636 Damit ist über die Existenz von stillschweigend mitgeschriebenen Kompetenzen noch nicht alles gesagt. Dort, wo Sachzusammenhänge und Annexe gewissermaßen zwischen zwei in Betracht kommenden Kompetenznormen (quer) liegen, folgt die Kompetenz kraft Natur der Sache nicht aus einer bestimmten Kompetenznorm,
632
Dazu Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 264 ff. Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu / K lein / Hofmann / Henneke, GG, Vorb. v. Art. 70 Rn. 29; Uhle, in: Maunz / Dürig, Art. 70 Rn. 64. 634 Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 70 Rn. 21. 635 Bullinger, Die Mineralölfernleitungen, S. 66. 636 Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 179; Pabel, Grundfragen der Kompetenzordnung im Bereich der Kunst, S. 58 f. Für einen Verzicht auf die Formel des Sachzusammenhangs Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 430 mit dem Argument, der Sachzusammenhang sei „zu ersetzen durch eine ausgefeilte Methodik der Kompetenzauslegung“. Hierzu zählt er insbesondere Effizienzerwägungen. Es ist demgegenüber aber schon zu hinterfragen, ob der Rückgriff auf die „Effizienz der jeweiligen Zuständigkeitseinweisung“ (S. 430) in der Sache einen Rationalitätsgewinn verspricht. 633
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
sondern wird aus der Gesamtschau der Kompetenzordnung gewonnen.637 Unter dem Stichwort ungeschriebener Kompetenzen finden sich somit unterschiedliche Ableitungsmethoden.638 b) Sonderfall: Die Kompetenz kraft Natur der Sache Eine Gesetzgebungszuständigkeit, die tatsächlich „ungeschrieben“ ist, ist die Kompetenz kraft Natur der Sache. Anders als Sachzusammenhänge und Annexkompetenzen knüpft sie nicht an eine geschriebene Zuständigkeit an, sondern nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts an das „Wesen der Dinge“639. Diese Rechtsfigur wurde erstmals im Baugutachten verwendet. Die Kompetenz kraft Natur der Sache betreffe „natürliche Bundesaufgaben“.640 Später hat das Bundesverfassungsgericht die Zuständigkeit in Anlehnung an das von Anschütz641 geprägte Weimarer Verständnis definiert: „Eine Kompetenz aus der Natur der Sache ist begründet nach dem ‚ungeschriebenen‘, im Wesen der Dinge begründeten, mithin einer ausdrücklichen Anerkennung durch die Reichsverfassung nicht bedürftigen Rechtssatz, wonach gewisse Sachgebiete, weil sie ihrer Natur nach eigenste, der partikularen Gesetzgebungszuständigkeit a priori entrückte Angelegenheiten des Reichs darstellen, vom Reiche und nur von ihm geregelt werden können.“642
Die Natur der Sache ist kein verfassungsspezifisches Argument643, ihre Wurzeln reichen bis in die antike Philosophie von Platon und Aristoteles zurück.644 Gleichwohl ist diese methodische Figur im rechtstheoretischen Diskurs umstritten, wobei sich der Haupteinwand vor allem auf die Studie von Ralf Dreier bezieht, der nachgewiesen hat, dass das Argument der Natur der Sache der wissenschaftstheoretisch kaum nachvollziehbare Versuch sei, ein konkretes Sollen aus dem Sein 637
Vgl. jeweils mit unterschiedlichen Begründungen Achterberg, AöR 86 (1961), 63 (66 ff.); Bullinger, AöR 96 (1971), 237 (270); Küchenhoff, AöR 82 (1957), 413 (472); Bothe, in: AKGG, Art. 30 Rn. 15; Harms, Der Staat 333 (1994), 409 (411 ff., 418, 427); Ehlers, Jura 2000, 323 (325); Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Rn. 41. 638 Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 122. 639 BVerfGE 11, 89 (98). 640 BVerfGE 3, 407 (422). 641 Anschütz, in: Anschütz / T homa, HDStR, Bd. 1, § 32, S. 367. 642 BVerfGE 11, 89 (98 f.). Die Formulierung wurde aufgegriffen in: BVerfGE 12, 205 (250 f.); 22, 180 (218); 26, 246 (257). 643 In der Rechtswissenschaft wird die Natur der Sache auch zur Begründung von Rechtsfortbildung verwendet, vgl. Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 236 ff. m. w. N. 644 Dreier, Zum Begriff der „Natur der Sache“, S. 9 ff. Während Platon von unveränderlichen und der Erkenntnis vorausgehenden „Ideen“ ausging, war der Naturbegriff für Aristoteles in wesentlich höherem Maße von Beobachtung und Erfahrung geprägt. Einen anschaulichen Überblick zu den Erkenntnistheorien der beiden großen Philosophen bietet Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 72 ff. (Platon) und S. 101 ff. (Aristoteles).
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abzuleiten.645 Bisweilen findet sich die Kritik auch im verfassungsrechtlichen Kompetenzrecht wieder.646 So möchte etwa Hahn-Lorber die Kompetenz kraft Natur der Sache „als rein ontologische Begründung von Recht“ verwerfen.647 Zu dieser Kritik hat das Bundesverfassungsgericht mit dem Verweis auf die Anschütz-Formel erheblich beigetragen. Das „Wesen der Dinge“ verweist auf eine zeitlos gültige Bundesstaatsverfassung, die mit der strikt abgezirkelten grundgesetzlichen Kompetenzordnung nicht zwingend vereinbar sein muss.648 Von den Fallgruppen der „ungeschriebenen“ Zuständigkeiten ist die Natur der Sache deshalb mit Sicherheit die gefährlichste.649 Sie dient nicht wie der Sachzusammenhang und der Annex dazu, den Grenzbereich einer Kompetenznorm teleologisch auszuloten, sondern durch die Kompetenz kraft Natur der Sache wird ein selbstständiger Ermächtigungs- und Ausgrenzungsgehalt geschaffen, der gewissermaßen quer zu den geschriebenen Befugnissen im Grundgesetz liegt. Immerhin gilt als Leitprinzip, dass die Länder zuständig sind, „soweit dieses Grundgesetz nicht dem Bunde Gesetzgebungsbefugnisse zuweist“ (Art. 70 Abs. 1 GG). Andererseits muss auch der Kritiker zugestehen, dass es bestimmte Materien gibt, die schlechthin nicht von den Ländern wahrgenommen werden können. Es ist leicht, die Natur der Sache als Kryptoargument abzulehnen650, ungleich schwerer ist es aber, sie zu ersetzen. Wer eine Zuständigkeit des Bundes aus der Natur der Sache von vornherein ablehnt, nimmt teilweise die partielle Handlungsunfähigkeit nicht nur des Bundes, sondern der gesamten Bundesrepublik in Kauf.651 Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, kann die Kompetenz kraft Natur der Sache durchaus juristisch begründet werden, ohne sich dem Vorwurf von Metaphysik auszusetzen. aa) Überblick über die Voraussetzungen einer Kompetenz kraft Natur der Sache nach dem Bundesverfassungsgericht Das Bundesverfassungsgericht hat es nicht bei der Anschütz-Formel belassen, sondern die Voraussetzungen der Natur der Sache weiter konkretisiert. Schlussfolgerungen müssten „begriffsnotwendig sein und eine bestimmte Lösung unter
645
Dreier, Zum Begriff der „Natur der Sache“, passim, Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, Rn. 924; Scheuerle, AcP 163 (1964), 429 ff. 646 Vgl. Stern, Staatsrecht II, § 37 II 5, S. 612; Pabel, Grundfragen der Kompetenzordnung im Bereich der Kunst, S. 82 ff. 647 Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 181 und weiter: „Sie [die Natur der Sache, F. S.] läuft auf eine Hilfskonstruktion hinaus, die sich in ‚Sachangemessenheit‘ übersetzen lässt. Es geht um die angemessene Verarbeitung der faktischen und normativen Umwelt des Rechts und ihrer Informationen“. 648 Bullinger, AöR 96 (1971), 237 (269); Stettner, in: Liber Amicorum, S. 694 ff. 649 Stettner, in: Liber Amicorum, S. 694; vgl. auch Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 182. 650 Scheuerle, AcP 163 (1964), 429 (470). 651 Erbguth, DVBl 1988, 317 (324) bezeichnet die „Natur der Sache“ deshalb auch als „(notwendiges) Element der bundesstaatlichen Kompetenzordnung“.
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Ausschluß anderer Möglichkeiten sachgerechter Lösung zwingend fordern“.652 In der Folge hat das Bundesverfassungsgericht die Kompetenz kraft Natur der Sache mit Rücksicht auf die Länder stets als eine Ausnahmezuständigkeit konstruiert. Lasse sich eine andere Lösung mit beachtlichen Gründen rechtfertigen, so versage das Argument aus der Natur der Sache.653 Ergebe sich bereits aus dem Grundgesetz eine Kompetenz der Länder, so komme die Zuständigkeit kraft Natur der Sache nicht in Betracht. Die bloße Zweckmäßigkeit einer Bundeskompetenz genüge nicht654, auch der Verweis auf die bloße Überregionalität der Aufgabe führe nicht zu einer Natur der Sache.655 Es bedürfe vielmehr einer nicht hinnehmbaren und unerträglichen Uneinheitlichkeit im Bundesgebiet.656 Die Tatsache der gemeinsamen oder koordinierten Erfüllung einer Aufgabe durch die Länder sei für sich genommen kein Grund, die eine natürliche Bundeszuständigkeit rechtfertigen könnte.657 Insbesondere scheitere das Argument aus der Natur der Sache, wenn die Länder die Möglichkeit der Selbstkoordinierung (etwa durch Staatsverträge) wahrnehmen können.658 Auf dieser Basis hat das Bundesverfassungsgericht eine Zuständigkeit angenommen für den Sitz der Bundesregierung, für Bundessymbole659, für die Raumordnung des Gesamtstaates660, für die „eindeutig überregionale Jugendhilfe“661 und für diverse Angelegenheiten des Bundes in Bezug auf die Wiedervereinigung sowie für die Abwicklung der ehemaligen DDR.662 Zusätzlich hat das Bundesverfassungsgericht in einem obiter dictum die Frage aufgeworfen, ob nicht auch der Auslandsrundfunk (z. B. die Deutsche Welle) auf Grundlage der Kompetenz kraft Natur der Sache bundesgesetzlich geregelt werden kann.663 Darüber hinaus haben andere Gerichte eine Kompetenz für die Festlegung nationaler Feiertage664 sowie für die Planung der Bundesfernstraßen665 anerkannt. Abgelehnt wurde die Zustän 652
BVerfGE 11, 89 (99); 22, 180 (217). BVerfGE 11, 89 (99). 654 BVerfGE 11, 6 (18); 22, 180 (217); 26, 246 (257). 655 BVerfGE 12, 205 (251). 656 v. Arnim, in: HStR VI, § 138 Rn. 72. Deshalb sei nach BVerfGE 22, 180 (217) die eindeutig überregionale Jugendhilfe kraft Natur der Sache eine Kompetenz des Bundes. 657 BVerfGE 12, 205 (252). 658 BVerfGE 98, 218 (249); ähnlich 33, 303 (357). 659 BVerfGE 3, 407 (422). 660 BVerfGE 3, 407 (427 f.). 661 BVerfGE 22, 180 (217 f.); allerdings fehlt eine überzeugende Begründung; krit. Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 70 Rn. 67; ausführlich ders., in: Liber Amicorum Häberle, S. 696. 662 BVerfGE 84, 11; 85, 360 (374); 95, 243. 663 BVerfGE 12, 205 (241); bejahend BVerwGE 75, 79 (81), allerdings in Bezug auf den damaligen Deutschlandfunk und ohne nähere Begründung; ebenfalls für eine Kompetenz kraft Natur der Sache Seiler, in: BeckOK GG, Art. 73 Rn. 2.1; Streinz, in: Sachs, GG, Art. 32 Rn. 26; dagegen Stephan, ZAR 2016, 292 (293). 664 BayVerfGHE 35, 10 (18 f.). 665 BVerwG NuR 1982, 16 (17). 653
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digkeit für das Baurecht666, für das Urlaubsrecht der Postarbeiter667, für eine generelle innerstaatliche Repräsentation, Selbstdarstellung und einer Bundeskompetenz kraft „physikalischer Überregionalität“668, für die Reinhaltung der Bundeswasserstraßen669, für den Schutz der Berufsbezeichnung des Ingenieurs670, für Fördermaßnahmen im Rahmen des Art. 104a Abs. 1 GG671 sowie für die Rechtschreibung672. bb) Typologie und Voraussetzung der Kompetenz kraft Natur der Sache Die Entscheidungen lassen eine Tendenz erkennen, für welche Anwendungsfälle eine Kompetenz kraft Natur der Sache in Betracht kommt. Anders als beim Sachzusammenhang und bei der Annexkompetenz eröffnet die Kompetenz kraft Natur der Sache keinen erweiterten Handlungsspielraum für die Wahrnehmung einer bereits bestehenden (Sach-)Zuständigkeit, vielmehr handelt es sich bei der Natur der Sache um „natürliche Zuständigkeiten“, die von vornherein den Ländern entrückt sind.673 Würde also der Verfassungsgeber die entsprechende Materie regeln, dann könnte er diese Zuständigkeit nur dem Bund verleihen, weil eine Regelung der entsprechenden Materie durch den Bund schlicht alternativlos ist.674 In dem Jugendhilfe-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht drei Fälle einer Kompetenz kraft Natur der Sache beschrieben. Eine Zuständigkeit könne angenommen werden bei „zentralen Einrichtungen, deren Wirkungsbereich sich auf das Bundesgebiet als Ganzes erstreckt, bei gesamtdeutschen Aufgaben und bei internationalen Aufgaben“.675 Zur ersten Kategorien gehört die Selbstorganisation des Bundes676, also solche Regelungen, die sich mit der Organisation und der Einrichtung der Bundesorgane beschäftigen. In dieser Hinsicht ist anerkannt, dass der Sitz der Bundesverfassungsorgane aus der Natur der Sache folgt. Der zweite Aspekt betrifft die gesamtdeutschen Aufgaben. In diese Kategorie wird man die Bundessymbole, die Regelung der Hauptstadt sowie die Festlegung von Nationalfeiertagen einordnen können. Da das Bundesverfassungsgericht auch die Raumplanung für den Gesamtstaat kraft Natur der Sache dem Bund zuordnet, wird man auch diesen Aspekt hinzuzählen 666
BVerfGE 3, 407 (422). BVerfGE 11, 89 (99). 668 BVerfGE 12, 205 (251 f.). 669 BVerfGE 15, 1 (24). 670 BVerfGE 26, 246 (257). 671 BVerfGE 41, 291 (312). 672 BVerfGE 98, 218 (234). 673 So die Formulierung in BVerfGE 12, 205 (252). 674 Ehlers, Jura 2000, 323 (325); Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, 2014, S. 27. 675 BVerfGE 22, 180 (217). 676 Uhle, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 70 Rn. 78. 667
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
können. Es geht also um zwei Elemente gesamtdeutscher Aufgaben: bestimmte repräsentative Aufgaben des Gesamtstaates sowie raumbedeutsame Aufgaben. Zum Schluss sollen auch internationale Aufgaben unter die Zuständigkeit kraft Natur der Sache fallen. Die meisten dieser Zuständigkeiten sind jedoch unter dem Aspekt der auswärtigen Angelegenheiten ohnehin schon kodifiziert.677 Auch enthält bereits Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG eine ausschließliche Zuständigkeit des Bundes für die „auswärtigen Angelegenheiten“, was deutlich macht, dass Zuständigkeiten kraft Natur der Sache nicht zwingend „ungeschrieben“ sein müssen, sondern auch vom Verfassungsgeber kodifiziert werden können. Zugleich zeigt Art. 32 Abs. 3 GG, dass es keine übergreifende Repräsentationskompetenz des Bundes gibt. Über die Systematisierung der einzelnen Anwendungsfälle einer Kompetenz kraft Natur der Sache herrscht weitgehend Einigkeit.678 Auch dürften die Voraussetzungen als geklärt gelten. Erstens dürfe eine Regelungsbefugnis nicht bereits ausdrücklich geregelt sein. Der Bund hat also keine „Reserve-Kompetenz“. Haben die Länder eine ausschließliche Zuständigkeit, so kommt die Kompetenz kraft Natur der Sache nicht in Frage. Zweitens muss die Kompetenz zwingend dem Bund zustehen.679 Dabei wird zu Recht darauf hingewiesen, dass die Anschütz-Formel mit ihrem Verweis auf „das Wesen der Dinge“ kaum weiterhilft. Weiterführend sei vielmehr der Rückgriff auf die (verfassungs)rechtliche Unmöglichkeit eines Tätigwerdens der Länder. Wenn selbst der grenzüberschreitende Bezug nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht für eine Natur der Sache genügt, so bedeutet das, dass die Regelung durch den Bund alternativlos sein muss.680 Könnten also die Länder durch eine koordinierte Gesetzgebung mit den Ländern und gegebenenfalls mit dem Bund die Materien ebenfalls ordnen, so scheidet die Bundeszuständigkeit als einzig denkbare Lösungsmöglichkeit aus. Dieser Aspekt führt zum dritten Punkt: Statt von einem „Wesen der Dinge“ zu sprechen, wird zutreffend betont, dass die Zuständigkeit des Bundes im Grundgesetz selbst angelegt sein muss.681 Welche Alternativen in der Bundesrepublik tatsächlich rechtlich durchsetzbar sind, kann nur mit Blick auf die Verfassungsordnung des Grundgesetzes und nicht mit einem vorpositiven Rechtsverständnis im Sinne der Anschütz-Formel bestimmt werden. Dieser Hinweis ist richtig. Grundsätzlich zeigen die historischen Erfahrungen682, aber auch rechtsvergleichende Stu-
677 Vgl. Art. 23 I 2 GG; Art. 23 Ia 3 GG; Art. 23 III 3 GG; Art. 23 VII GG; Art. 24 I GG; Art. 32 I GG; Art. 59 II 1 GG. 678 Rengeling, in: HStR VI, § 135 Rn. 79; Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, Vorb. v. Art. 70 Rn. 32 ff.; Uhle, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 70 Rn. 78. 679 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 34; Uhle, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 70 Rn. 76. 680 Bullinger, AöR 96 (1971), 237 (285); Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 272. 681 Bullinger, AöR 96 (1971), 237 (269 f.); Ehlers, Jura 2000, 323 (325); Rozek, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 70 Rn. 41. 682 Zur Entwicklung des Bundesstaates Oeter, Integration und Subsidiarität.
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
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dien683, dass es nicht den einen Bundesstaat, sondern viele unterschiedliche Bundesstaatsmodelle gibt.684 Welche Angelegenheiten den Ländern „entrückt“ sind, kann nicht a priori begründet werden, sondern lässt sich nur mit Verweis auf die geltende Ausgestaltung des Bundesstaats im Grundgesetz feststellen. Insbesondere liefe die Annahme eines zeitlosen „Wesens“ des Bundesstaats dem demokratischen Recht des verfassungsändernden Gesetzgebers zuwider, die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern jederzeit unter den Voraussetzungen des Art. 79 GG ändern zu können.685 Folglich wird mit Recht angemahnt, dass die Natur der Sache nur im Wege einer systematischen Auslegung unter bundesstaatlichen Aspekten zu bestimmen ist.686 Entscheidend ist der Rückgriff auf die konkrete Gestalt des derzeitigen Bundesstaats. cc) Die leitenden Gesichtspunkte zur Begründung der Kompetenz kraft Natur der Sache: Staatsnotwendigkeit und Funktionsnotwendigkeit (1) Unerträgliche Uneinheitlichkeit und Evidenz der Natur der Sache Was also sind die leitenden Gesichtspunkte zur Begründung einer Kompetenz kraft Natur der Sache? Interessanterweise herrscht im Schrifttum zwar relative Einigkeit in Bezug auf die Anwendungsfälle, aber eine theoretische Begründung für die Existenz einer Kompetenz kraft Natur der Sache wird oft nicht geliefert. Der Verweis, die Natur der Sache müsse systematisch aus dem Grundgesetz abgeleitet werden, ist noch zu unklar, um abschließende Gewissheit über die Begründung der Natur der Sache zu erhalten. Nicht weiter hilft zudem der Hinweis, es bedürfe einer „unerträglichen Uneinheitlichkeit“ im Bundesstaat687. Diese Voraussetzung beschreibt zwar das Symptom einer fehlenden Zuständigkeit des Bundes, sie ist aber als Evidenzkriterium nicht geeignet, hinreichend sicher zwischen Bundes- und Landeszuständigkeiten abzugrenzen. Mitunter wird die Evidenz auch unverblümt zum Maßstab erhoben. Das Erfordernis einer gesamtstaatlichen Regelung durch den Bund müsse im Grundgesetz mit hinreichender Evidenz angelegt sein.688 Die bloße Offensichtlichkeit des Ergebnisses kann aber für sich genommen ebenfalls keine Kompetenz begründen. Insbesondere wird zu Recht darauf hingewiesen, dass die bloße Zweckmäßigkeit eines Ergebnisses eine Natur der Sache nicht 683
Bothe, Die Kompetenzstruktur des modernen Bundesstaates; Hanschel, Konfliktlösung im Bundesstaat. 684 Dazu Erstes Kapitel I. 2. 685 Bullinger, AöR 96 (1971), 237 (269); März, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 30 Rn. 64. 686 Bothe, in: AK-GG, Art. 30 Rn. 15; Harms, Der Staat 333 (1994), 409 (411 ff., 418, 427); Ehlers, Jura 2000, 323 (325); Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Rn. 41. 687 v. Arnim, in: HStR VI, § 138 Rn. 72. 688 Achterberg, AöR 86 (1961), 63 (93); Küchenhoff, AöR 82 (1957), 413 (460); Harms, Der Staat 33 (1994), 409 (426); Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, Art. 70 Rn. 39.
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
rechtfertigen kann. Ist ein Ergebnis offensichtlich „unzweckmäßig“ oder wird es als politisch verfehlt wahrgenommen, so stellt das Grundgesetz die Möglichkeit der Verfassungsänderung in Aussicht.689 Wenn also die Evidenz des Ergebnisses nicht genügt, so bedarf es zusätzlicher (normativer) Argumente, um eine Kompetenz kraft Natur der Sache rechtfertigen zu können. (2) Natur der Sache aus der Organisationshoheit des Bundes In diesem Zusammenhang hat Herbst gezeigt, dass viele Zuständigkeiten des Bundes für die Regelung der Organisation seiner Einrichtungen deshalb aus einer Kompetenz kraft Natur der Sache folgen, weil nach der Ordnung der Verwaltungskompetenzen nach Art. 83 ff. GG die Länder nicht in der Lage sind, das Organisationsrecht und das Verwaltungsverfahren für den Bund zu regeln und den Bund zum Vollzug von Landesgesetzen zu verpflichten und es deshalb zur Bundesgesetzgebung keine Alternative gibt.690 Für eine Vielzahl von natürlichen Bundeszuständigkeiten wird mit diesem Gedanken die richtige Antwort geliefert. So hat das Bundesverfassungsgericht im Baurechtsgutachten ohne nähere Begründung eine Raumplanung für den Gesamtstaat als Kompetenz kraft Natur der Sache anerkannt.691 Aber nicht alle Zuständigkeiten aus der Natur der Sache folgen notwendigerweise aus dem Verhältnis von Gesetzgebung und Verwaltungsverfahren, zumal die Verwaltungskompetenzen den Gesetzgebungskompetenzen folgen und nicht umgekehrt. Auch bedarf es im Bereich der gesamtdeutschen Aufgaben (z. B. Festlegung der Hauptstadt oder der Bundessymbole) überhaupt keines Verwaltungsvollzugs. Statt, dass derartige Regelungen vollzogen werden, müssen sie lediglich beachtet werden, was mit der Kompetenzordnung grundsätzlich vereinbar ist. Es scheint nicht von vornherein alternativlos zu sein, dass die Länder sich im Wege kooperativer Abstimmung über die Bundeshauptstadt einigen oder allgemeine Regelungen über Bundessymbole treffen. Auch wenn die Natur der Sache im Ergebnis naheliegt, kann sie noch nicht mit dem Verweis auf ihre Alternativlosigkeit abgelehnt werden. (3) Funktionsnotwendigkeit und Staatsnotwendigkeit Aus diesen Gründen soll eine weitere Differenzierung vorgenommen werden, die ein näheres, weniger formales, sondern an ein materielles, an die Staatslehre anknüpfendes Verständnis von der „Kompetenz kraft Natur der Sache“ offenlegen soll. Um an die Argumentation heranzuführen, soll in einem ersten Schritt der Blick für diese „Ausnahmezuständigkeit“ geweitet werden. Dafür soll angenom 689
So auch Pabel, Grundfragen der Kompetenzordnung im Bereich der Kunst, S. 73 f. Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 279. 691 BVerfGE 3, 407 (427 f.). 690
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
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men werden, dass viele titulierte ausschließliche Bundeskompetenzen dem Grunde nach bereits in der „Natur der Sache“ begründet sind. Dies gilt insbesondere für die „auswärtigen Angelegenheiten“692, die „Staatsangehörigkeit im Bunde“693, „das Währungs-, Geld- und Münzwesen“694, „die Rechtsverhältnisse der im Dienste des Bundes stehenden Personen“695 sowie für einige ausschließliche Zuständigkeiten, die außerhalb des VII. Abschnitts geregelt sind, wie die Zuständigkeit für das Parteienrecht696, das Wahlrecht697 oder die Zuständigkeiten im Bereich der auswärtigen Gewalt und Angelegenheiten698. Viele der „natürlichen“ Bundeskompetenzen sind bereits grundgesetzlich geregelt. Besonders Art. 22 GG verdeutlicht das. In der Ursprungsfassung enthielt die Norm keine Bundeskompetenz für die Regelung der Bundeshauptstadt sowie der Repräsentation des Bundes in dieser, gleichwohl wurde sie aus der Natur der Sache hergeleitet.699 Seit der Föderalismusreform von 2006 bedarf es dieser „ungeschriebenen“ Kompetenz nicht mehr700, gedanklich setzt sich der Gedanke der Natur der Sache aber fort. Wenn es also richtig ist, dass im Grundgesetz bereits viele natürliche Bundeszuständigkeiten tituliert sind, so weitet sich der Blickwinkel. Aus diesem Grund erscheint es in einem zweiten Schritt angebracht, die Kompetenz kraft Natur der Sache erneut in ihre Anwendungsfälle zu untergliedern. Betrachtet man die Fälle der „ungeschriebenen“, aber auch der „geschriebenen“ Zuständigkeiten, so lässt sich ein einheitliches Muster erkennen. Statt von einer Begriffsnotwendigkeit zu sprechen, sollte zwischen der Staatsnotwendigkeit und einer Funktionsnotwendigkeit differenziert werden.701 Von einer Kompetenz kraft Natur der Sache kann immer dann gesprochen werden, wenn eine bestimmte Angelegenheit einen spezifischen Bezug nicht nur zum Bund, sondern zur Bundesrepublik in seiner Staatlichkeit oder Gesamteinheit aufweist. Hierzu ist noch einmal in Erinnerung zu rufen, dass das Grundgesetz grundsätzlich nicht von einem dreigliedrigen Bundesstaat ausgeht, sondern einen zweigliedrigen Bundesstaat konzipiert hat, indem es die Kompetenzen zwischen dem Bund und den Ländern aufgeteilt hat.702 Das Bundesverfassungsgericht hat im Neugliederungsurteil betont, dass es nicht neben dem „Bundesstaat als Gesamtstaat noch 692
Art. 73 I Nr. 1 GG. Art. 73 I Nr. 2 GG. 694 Art. 73 I Nr. 4 GG. 695 Art. 73 I Nr. 8 GG. 696 Art. 21 V GG. 697 Art. 38 III GG. 698 Vgl. Art. 23 I I 2 GG; Art. 23 Ia 3 GG; Art. 23 III 3 GG; Art. 23 VII GG; Art. 24 I GG; Art. 32 I GG; Art. 59 II 1 GG. 699 BVerfGE 3, 407 (427). 700 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. 6. 2006, BGBl. I, S. 2034 ff.; ausführlich dazu Heintzen, LKV 2007, 49 ff.; Lenski, Öffentliches Kulturrecht, S. 104 ff. 701 Zum Zusammenhang von „Wesensargumenten“ und „Funktionsargumenten“ Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 7 V, S. 74 f. 702 Erstes Kapitel I. 2. 693
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
einen besonderen Zentralstaat [gebe], sondern nur eine zentrale Organisation, die zusammen mit den gliedstaatlichen Organisationen im Geltungsbereich des Grundgesetzes als Bundesstaat alle die staatlichen Aufgaben erfüllt, die im Einheitsstaat einer einheitlichen staatlichen Organisation zufallen“703. Andererseits ist zugleich anerkannt, dass dem Bund die Kompetenz-Kompetenz zufällt. Nach dem Grundgesetz ist den Organen des Bundes die Wahrung der Gesamtverfassung alleine übertragen.704 Der Bund ist Sachwalter aller Angelegenheiten, die die Bundes republik in seiner Gesamtheit betreffen; er nimmt also eine Doppelfunktion wahr, er ist „Gesamtstaat“ und ein „Teilstaat“, der den Ländern gegenübergestellt wird.705 (4) Staatsnotwendigkeit Dem Gedanken, dass dem Bund die Kompetenz-Kompetenz zur Wahrung und Änderung der Verfassung zusteht, wird man weiter entnehmen können, dass nicht alle Belange, die die Gesamtverfassung zum Gegenstand haben, notwendigerweise im Grundgesetz geregelt werden müssen. So ist – um den Bogen zur Kompetenz kraft Natur der Sache zu schlagen – die endgültige Bestimmung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und somit „Deutscher“ im Sinne des Grundgesetzes ist, nicht selbst im Grundgesetz abschließend festgelegt, sondern dem Bund zur näheren Konkretisierung als ausschließliche Zuständigkeit (Art. 73 Abs. 1 Nr. 2 GG) übertragen. Gleichwohl besteht kein Zweifel, dass die Festlegung der Staatsangehörigkeit für das Verfassungsgeschehen und für die Staatlichkeit der Bundesrepublik von konstitutiver Bedeutung ist. Die Staatsangehörigkeit legt fest, welche Personen zum Staatsvolk gehören, was wiederum Voraussetzung für demokratische Staatlichkeit ist.706 Für das Verfassungsrecht ist das Staatsangehörigkeitsrecht auch deshalb von Bedeutung, weil über die Staatsangehörigkeit das aktive und passive Wahlrecht vermittelt wird und Bürgerrechte subjektiviert werden. In diesem Sinne wird man jedenfalls solche Angelegenheiten als Natur der Sache (ob geschrieben oder ungeschrieben) anerkennen müssen, die den Bund als Staat und Bundesrepublik konstituieren und deshalb „begriffsnotwendig“ sind.707 Das bloße Bedürfnis nach Selbstdarstellung und Repräsentation kann für sich genommen noch keine Natur der Sache begründen. 703
BVerfGE 13, 54 (77). Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 224 ff.; zur Kompetenz-Kompetenz ausführlich Schmitt, Verfassungslehre, S. 386 ff.; zur hist. Entwicklung des Begriffs E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 795. 705 Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 88 ff. 706 BVerfGE 83, 37 (51); vgl. zur Relation von Staatsangehörigkeit und Staatsvolk Wallraben stein, Das Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit, S. 159 ff.; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 11 IV, S. 70 ff. 707 Das bedeutet aber nicht, dass der Bund von seiner Zuständigkeit Gebrauch machen muss. Die Kompetenz kraft Natur der Sache kann nur ermächtigen, nicht aber verpflichten. Eine Verpflichtung zum staatlichen Handeln kann sich aber aus anderen Normen ergeben, vgl. dazu Erstes Kapitel II. 3. b). 704
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
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Zu solchen Materien wird man zählen können: – Staatsangehörigkeit im Bunde (Art. 73 Abs. 1 Nr. 2 GG), – Bundeswahlrecht (Art. 38 Abs. 3 GG), – Neugliederung des Bundesgebietes (Art. 29 Abs. 2 S. 1 GG), – Einrichtung der Bundesverfassungsorgane (Bundestag, Bundesregierung, Bundesrat, Bundespräsident etc. sowie das jeweilige Geschäftsordnungsrecht) sowie Regelungen zum Sitz der Verfassungsorgane, – Einrichtung der „anderen Beteiligten“ im Verfassungsleben des Bundes im Sinne von Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, insbesondere das Recht der Abgeordneten (Art. 48 Abs. 3 S. 3 GG) und das Parteienrecht (Art. 21 Abs. 3 GG), – Nationale Symbole, unter anderem die Benennung der Hauptstadt, Repräsentation in der Hauptstadt (Art. 22 Abs. 1 GG), Bundesflaggen (Art. 22 Abs. 2 GG) sowie Nationalfeiertage und die Nationalhymne. Die Gemeinsamkeit dieser Angelegenheiten liegt darin, dass ihre Regelungen auf bundesgesetzlicher Ebene für das Funktionieren des Verfassungsstaats unentbehrlich sind.708 Hätte der verfassungsändernde Gesetzgeber auf die Zuweisung als titulierte Kompetenzen verzichtet und würde man zugleich die Regelung aus Art. 70 Abs. 1 GG stur anwenden, so würde der Rechtsanwender in Kauf nehmen, dass sechzehn Bundesländer sechzehn unterschiedliche Gesetze etwa zur Staatsangehörigkeit oder zum Bundeswahlrecht beschließen könnten. Dass dies undenkbar ist, erscheint logisch; dieses argumentum ad absurdum illustriert aber, dass die sture Anwendung des Art. 70 Abs. 1 GG nicht nur undurchführbar wäre, sondern auch den Bestand der Bundesrepublik in seiner Staatlichkeit gefährden würde. Es ist deshalb kraft Natur der Sache notwendig, dass die Bundesrepublik bei diesen sie selbst betreffenden Angelegenheiten „mit einer eigenen Stimme“ spricht. Folglich ergibt sich etwa für den Sitz der Bundesorgane (hierzu gibt es keine selbstständige Zuweisung im Grundgesetz), dass die Zuständigkeit des Bundes aufgrund der Staatsnotwendigkeit kraft Natur der Sache folgt.709 Nicht zuletzt dürfte man auch die Kompetenz-Kompetenz des Bundes, also die Kompetenz, die Verfassung zu ändern und Kompetenzen zu begründen, zu ändern, aufzuheben oder zu übertragen, in bundesstaatlicher Hinsicht ebenfalls zur Kompetenz kraft Natur der Sache zählen. 708
Das Kriterium der Staatsnotwendigkeit lässt sogar eine Anknüpfung an die Bundesstaatskonzeption von Kelsen, in: FS Fleiner, S. 130 ff. zu. Kelsen vertritt eine „Drei-Kreise-Theorie“ (dazu Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 43 ff.). Der Bund als Oberstaat und die Länder als Gliedstaaten seien aufgrund von Kompetenzen in zwei Teilordnungen aufgeteilt und unterlägen dem Überbau der Gesamtverfassung (Ibid., S. 130 f.). Die Kompetenzhoheit könne aus diesem Grund nur bei der Gesamtverfassung ruhen (Ibid., S. 132). Das Kriterium der Staatsnotwendigkeit deckt diesen Zusammenhang auf. Die Kompetenz kraft Natur der Sache besteht, weil die Gesetzgebung auf Angelegenheiten beruht, die einen tatbestandlich verankerten Zusammenhang zur Gesamtverfassung aufweisen. 709 Im Ergebnis auch Stettner, in: Liber Amicorum, S. 699, der die Natur der Sache aber eher aus einer Gesamtanalogie aus Art. 22 GG begründen möchte.
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Auch die Zuständigkeiten des Bundes für Fallgruppen, die der Obergruppe der Nationalsymbole unterzuordnen sind, folgen aus dem Aspekt der Staatsnotwendigkeit.710 Die Nationalsymbole versinnbildlichen die Bundesrepublik als Staat, unterscheiden ihn im Völkerrechtsverkehr von anderen Völkerrechtssubjekten und sind für ein Mindestmaß an nationaler Identität unentbehrlich.711 Mit der Bundesrepublik als Gesamtstaat wäre es nicht vereinbar, wenn die Länder die Kompetenz und somit die politische Macht hätten, wahllos eigenständige Bundessymbole zu benennen. Fraglich ist aber, ob es über die Bereiche der Bundessymbole hinaus eine Kompetenz kraft Natur der Sache für eine nationale Kultur gibt.712 So stellt der Bund über den Kulturhaushalt jedes Jahr mehrere Milliarden Euro für verschiedene nationale Kulturförderungsprojekte bereit. Soweit sich der Bund auf einen eigenen Titel berufen kann, ist dies unproblematisch. So kann er beispielsweise die Deutsche Welle als Auslandsrundfunk auf Grundlage der ausschließlichen Zuständigkeit für die auswärtigen Angelegenheiten nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG ausgestalten und finanzieren713, die Filmwirtschaft als Recht der Wirtschaft finanziell begünstigen714 oder die Deutsche Nationalbibliothek auf Grundlage von Art. 74 Abs. 1 Nr. 13 GG fördern. Soweit sich die nationale Repräsentation auf das Stadtgebiet Berlin als Hauptstadt bezieht, ermächtigt Art. 22 Abs. 1 S. 2 GG ebenfalls zur Gründung eigener Kultureinrichtungen.715 Die Kulturkompetenzen der Länder stehen diesen Tätigkeiten nicht entgegen, solange sich der Bund auf eine eigene Zuständigkeit berufen kann.716 Nur für den Fall, dass er dies nicht kann, stellt sich die Frage einer Kompetenz kraft Natur der Sache. Das Bundesverfassungsgericht steht einer solchen Kulturkompetenz kraft Natur der Sache eher skeptisch gegenüber, hat es doch für den schwergewichtigen Bereich des Rundfunks sowie auch für die Rechtschreibreform eine Bundeskompetenz abgelehnt.717 Für die weiteren Fälle einer Kulturhoheit des Bundes, etwa für die Museumsförderung oder Gedenkstättenpflege, dürfte eine Natur der Sache ebenfalls zu verneinen sein. Legt man den Maßstab der Staatsnotwendigkeit an, so ist es eben nicht notwendig, dass zwingend der Bund für den Gesamtstaat eine einheitliche Kultur vorgibt. Denn Kultur ist ein 710 Davon unberührt ist die Zuständigkeit der Länder, die eigenen Landessymbole zu regeln, vgl. dazu Murswiek, in: FS Quaritsch, S. 324. 711 Ausführlich dazu E. Klein, in: HStR II, § 19. 712 Zu diesen Fragen ausführlich Köstlin, Die Kulturhoheit des Bundes, passim; Pabel, Grundfragen der Kompetenzordnung im Bereich der Kunst, passim; Stettner, in: Liber Amicorum Häberle, S. 681 ff. 713 Dazu Stephan, ZAR 2016, 292 ff. 714 BVerfGE 135, 155. 715 Lenski, Öffentliches Kulturrecht, S. 104 ff. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz verdient wegen Art. 135 Abs. 4 GG eine andere Beurteilung. 716 Vgl. dazu BVerfGE 135, 155 (194 Rn. 104): „Die Kulturhoheit der Länder kann daher nicht als eine Grenze der Bundeskompetenzen in dem Sinne verstanden werden, dass der Bund bei der Wahrnehmung der ihm zugewiesenen Gesetzgebungskompetenzen kulturelle Aspekte unberücksichtigt zu lassen hätte und durch sie nicht motiviert sein dürfte.“ 717 BVerfGE 12, 205 (251 ff.); 98, 218 (248 ff.).
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
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vielfältig pluralistischer Rechtsbegriff und ein vorrangig gesellschaftliches Phänomen und muss nicht notwendigerweise durch einen überparteilichen Treuhänder für den Gesamtstaat einheitlich vorgegeben werden. Während Bundessymbole und ähnliche Regelungen die Bundesrepublik konstituieren, können auch die Länder verschiedene Kulturregelungen treffen sowie Vielfalt und Wettbewerb bewirken, ohne dass dies den Bestand der Bundesrepublik betrifft.718 Erst recht kann es für die Zuständigkeit kraft Natur der Sache noch nicht genügen, dass der Bund Modellvorhaben fördert, um die Länder zur Nachahmung anzuregen.719 Gerade Art. 22 Abs. 1 S. 2 GG verdeutlicht in diesem Zusammenhang, dass dem Bund außerhalb des Hauptstadtgebiets keine Ermächtigung zum gesetzgeberischen Tätigwerden zustehen kann. Würde man alle weiteren Akte der Selbstdarstellung und Repräsentation auch außerhalb der Hauptstadt schon kraft Natur der Sache anerkennen, so verlöre Art. 22 Abs. 1 S. 2 GG seine spezifische Bedeutung als ausschließliche Zuständigkeit. Aus diesen Gründen dürften viele Einrichtungen, die auf Grundlage einer Repräsentation des Gesamtstaates gegründet wurden, wie etwa das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland oder die Akademie der Künste in eine Länderzuständigkeit fallen.720 (5) Funktionsnotwendigkeit Aus der These, dass es in der Bundesrepublik bestimmte Notwendigkeiten gibt, die alternativlos durch den Bund wahrgenommen werden müssen, kann man nun weitere Fälle hinzurechnen, die mit einer vergleichbaren Funktionslogik operieren. Unter dem Gesichtspunkt der Funktionsnotwendigkeit sind solche Fallgestaltungen zu zählen, die es notwendig erscheinen lassen, dass die Bundesrepublik als Gesamtstaat durch den Bund „mit einer einheitlichen Stimme“ spricht oder sich durch den Bund „mit einer einheitlichen Stimme“ vertreten lässt. Im Übrigen heißt Funktionsnotwendigkeit nicht, dass der Bund zum Tätigwerden verpflichtet ist. Ein Verpflichtungsgehalt gehört, wie bereits gezeigt, grundsätzlich nicht zu den Rechtsfolgen einer Kompetenz.721 Funktionsnotwendig heißt vielmehr: Will der Staat sich dieser Angelegenheit als Staatsaufgabe annehmen, dann kann sie nur durch den Bund geregelt werden.
718 Im Ergebnis ebenso, aber mit jeweils anderer Begründung Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 278 ff.; Pabel, Grundfragen der Kompetenzordnung im Bereich der Kunst, S. 84 ff.; Stettner, in: Liber Amicorum Häberle, S. 700 ff. 719 So aber Berggreen-Merkel, in: Härtel, Handbuch Föderalismus, Bd. 3, § 57 Rn. 15. 720 Anders Lenski, Öffentliches Kulturrecht, S. 116 f., die eine Bundeszuständigkeit für die Akademie der Künste ablehnt, für das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland jedoch eine Zuständigkeit annimmt. 721 Erstes Kapitel II. 3. b).
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
(a) Vertretung der Bundesrepublik Dies gilt insbesondere für alle auswärtigen Angelegenheiten, die die Bundesrepublik als solche betreffen und wo die Bundesrepublik mit rechtsförmlichen Mitteln außenwirksame Willensklärungen und Maßnahmen vornimmt. In der völkerrechtlichen Außenansicht werden Länder und Bund als eine Verantwortungseinheit wahrgenommen; die bundesstaatliche Kompetenzordnung ist aus der völkerrechtlichen Perspektive eine innere Angelegenheit.722 Ebenso ist auch die Europäische Union mit „Landesblindheit“723 geschlagen. Treten innerstaatliche Rechtsverletzungen auf, so macht die Europäische Union ihre Forderungen nur gegenüber dem Bund geltend, unabhängig, welche bundesstaatliche Einheit im innerstaatlichem Verhältnis verantwortlich ist, während die Lastentragung im Innern nach der innerstaatlichen Zuständigkeits- und Aufgabenverteilung erfolgt (vgl. Art. 104a Abs. 6 GG). Auswärtige Angelegenheiten binden die Bundesrepu blik somit als Gesamtstaat und bedürfen daher zwingend (im Sinne von funktionsnotwendig) der Vertretung durch den Bund, der überparteilich und zugleich als Treuhänder aller Länderinteressen die Bundesrepublik vertritt. Vor diesem Hintergrund sind die Fälle der auswärtigen Angelegenheiten als ausschließliche Zuständigkeit des Bundes kraft Natur der Sache auch überwiegend grundgesetzlich positiviert (Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG724; Art. 23 GG; Art. 24 Abs. 1 GG; Art. 32 GG; Art. 59 GG). Eine Monopolisierung der auswärtigen Angelegenheiten als eine „Repräsentationszuständigkeit kraft Natur der Sache“ ist damit aber nicht verbunden. Art. 32 Abs. 3 GG macht deutlich, dass, soweit die Länder für die Gesetzgebung zuständig sind, sie selbst mit auswärtigen Staaten Verträge abschließen dürfen. Vor dem Hintergrund des Funktionsarguments ist das auch konsequent, weil es im Anwendungsbereich des Art. 32 Abs. 3 GG nicht um die Interessen des Gesamtstaates, sondern (lediglich) um partikulare Länderinteressen geht. Kraft des Zustimmungsvorbehalts ist die Bundesregierung aber berechtigt, die gesamtstaatlichen Interessen zur Geltung zu bringen. Aufgrund dieser Funktionslogik wird auch klar, weshalb der Bund befugt gewesen ist, die Angelegenheiten der ehemaligen DDR sowie der Wiedervereinigung zu regeln.725 Die Abwicklung der DDR und die Integration der neuen Bundesländer 722
Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 241. H. P. Ipsen, in: FS Hallstein, S. 256. Die Europäische Union achtet jedoch die nationale Identität, insbesondere auch die regionale und lokale Selbstverwaltung (Art. 4 Abs. 2 S. 1 und Art. 5 Abs. 3 EUV). 724 Im Rahmen der auswärtigen Gewalt wird nicht umsonst häufig auf die „gesamtstaat liche Repräsentation“ als Teil von Art. 73 I Nr. 1 GG verwiesen, vgl. unter anderem Funke, in: BK, Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 18; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 73 Rn. 3; Thiel, in Berliner Kommentar, Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 8; Wittreck, in: Dreier, GG, Art. 73 Rn. 12. Dass dieses Kriterium aber nicht zur entgrenzten Ausdehnung aller Tätigkeiten des Bundes im Ausland führen darf, wurde in einer anderen Untersuchung bereits nachgewiesen, vgl. Stephan, ZAR, 2016, 292 (294). 725 BVerfGE 84, 133 (148); 85, 360 (374); 95, 243 (248). 723
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in das Staatsgefüge der Bundesrepublik (Art. 23 S. 2 GG a. F.) war eine natürliche Folge des verfassungsrechtlichen Wiedervereinigungsgebotes726. Deshalb fielen die gesetzgeberischen Aufgaben im Zusammenhang mit dem Beitritt der neuen Bundesländer funktionsnotwendig in die Zuständigkeit des Bundes. Auch hier konnte der Bund nur mit „einer Stimme sprechen“, weil die Wiedervereinigung die Rechtsverhältnisse der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik als Gesamtstaat betraf und deshalb nicht partikular durch die Länder geregelt werden konnte. (b) Raumbedeutsamkeit Ein weiterer Aspekt, der funktionsnotwendig durch den Bund bewältigt werden muss, sind raumbedeutsame Entscheidungen. Hierunter fallen überregionale Angelegenheiten, die nicht durch die Länder, sondern nur einheitlich durch den Bund geregelt werden können. Einen solchen Fall einer raumbedeutsamen Angelegenheit hat das Bundesverfassungsgericht im Baurechtsgutachten für die Bundesraumordnung angenommen.727 Raumordnung könne nicht an den Grenzen der Länder haltmachen, so dass es über die Regional- und Landesplanung hinaus eine „Raumplanung für den Gesamtstaat“ geben müsse.728 Für diese Ansicht spricht, dass die Länder dieses Anliegen nicht selbst – auch nicht durch koordinierende Abstimmung – übernehmen können, weil ihre Regelungszuständigkeiten nur für das Landesgebiet, nicht aber für das Bundesgebiet gelten. Sollen raumordnungsrelevante Regelungen für das gesamte Bundesgebiet getroffen werden, so muss diese Aufgabe funktionsnotwendig durch den Bund getroffen werden. Eine Zuständigkeit kraft Natur der Sache ist also anzunehmen. Entsprechendes dürfte auch für die Zuständigkeit des Bundes für Raumordnungspläne in der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) gelten.729 Dies ergibt sich aus der Erwägung, dass die deutsche AWZ nicht zum Territorium der Landesstaatsgewalt gehört und die Gebiete der AWZ somit funktionsnotwendig nur durch den Bund wahrgenommen werden können. Gegen die Annahme einer ausschließlichen Zuständigkeit des Bundes für die Gesamtplanung könnte Art. 74 Abs. 1 Nr. 31 GG sprechen. Im Zuge der Föderalismusreform hat der verfassungsändernde Gesetzgeber die Rahmenkompetenz für die Raumordnung (Art. 75 Abs. 1 Nr. 4 GG a. F.) in den Katalog der konkur 726
BVerfGE 36, 1 (17 ff.). BVerfGE 3, 407 (427). 728 BVerfGE 3, 407 (427); bestätigt in BVerfGE 15, 1(16): „Raumordnung im Sinne des Art. 75 Nr. 4 GG ist nur die Planung im Bereich eines Landes; die Vollkompetenz dagegen betrifft die Raumplanung in ihren über die Länder hinausgreifenden Zusammenhängen“. Zum Kompetenzstreit Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 75 Abs. 1 Nr. 4 Rn. 553 m. w. N. 729 Hangst, Regionalplanung im Bundesstaat, S. 92 f.; Runkel, in: Spannowsky / Runkel / Goppel, ROG, § 17 Rn. 10; a. A. Erbguth, in: FS Rengeling, S. 46 ff.; ders., DÖV 2011, 373 (380 f.); Schubert, Maritimes Infrastrukturrecht, S. 344 ff. 727
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
rierenden Zuständigkeit transferiert und die Raumordnung als Abweichungsgesetzgebung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 31, 72 Abs. 3 Nr. 4 GG) ausgestaltet. Deshalb wird vertreten, der verfassungsändernde Gesetzgeber habe nunmehr die prinzipielle Gleichwertigkeit der Raumordnung ausdrücklich anerkannt.730 Die wohl überwiegende Ansicht geht indessen weiterhin davon aus, dass es über die konkurrierende Zuständigkeit für die Raumordnung hinaus eine ausschließliche Zuständigkeit des Bundes für die Raumordnung des Gesamtstaats kraft Natur der Sache gibt.731 Mitunter findet sich auch der Vorschlag, den Gedanken der Natur der Sache zur Begründung eines abweichungsfesten Kerns innerhalb des Art. 72 Abs. 3 Nr. 4 GG fruchtbar zu machen.732 Grundsätzlich steht es dem verfassungsändernden Gesetzgeber frei, eine „ungeschriebene Kompetenz“ in eine „geschriebene“ zu übersetzen. Zugleich ist es ihm vorbehalten, ob die neue Zuständigkeit ausschließlich oder konkurrierend wirken soll. Ob der verfassungsändernde Gesetzgeber weiterhin über Art. 74 Abs. 1 Nr. 31 GG hinaus von einer Zuständigkeit kraft Natur der Sache ausgehen wollte, ist eine Frage, die durch Auslegung entschieden werden muss. Der Wortlaut des Art. 74 Abs. 1 Nr. 31 GG spricht weder dafür noch dagegen, dass sich die Raumordnung auch auf die Raumordnung „des Bundes“ erstreckt.733 Aus historischer Perspektive ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Ermächtigung der Länder, auf dem Gebiet der Raumordnung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 31, 72 Abs. 3 Nr. 4 GG) abweichende Gesetze erlassen zu dürfen, auf die frühere Rahmengesetzgebung nach Art. 75 Abs. 1 Nr. 4 GG a. F. verweist. Diese bezog sich ebenfalls auf die Raumordnung und ließ tatbestandlich die nähere Konkretisierung des Begriffs offen. Weit überwiegend wurde der damalige Titel jedoch auf die überörtliche Planung „im Bereich eines Landes“ begrenzt.734 An der Formulierung des Wortlauts „Raumordnung“ hat sich somit auch nach der Föderalismusreform nichts geändert. Die 730
Erbguth, in: FS Rengeling, S. 46 ff.; Hoppe, DVBl 2007, 144 ff.; Kotulla, NVwZ 2007, 489 (494 f.); Kment, NuR 2006, 217 (220 f.). 731 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 78; Durner, DVBl 2008, 69 (75 f.); ders., NuR 2009, 373 (374); Hendler, in: Handbuch Föderalismus, Bd. 3, § 69 Rn. 7 f.; Meyer, Die Föderalismusreform 2006, S. 180; Oeter, in: Heintzen / U hle, Neuere Entwicklungen im Kompetenzrecht, S. 172; Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, Art. 74 Rn. 371; Wittreck, in: Dreier, Art. 74 Rn. 147. Zum gleichen Ergebnis gelangt auch Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 181 ff., der indes die Begründung anhand der „Natur der Sache“ ablehnt, und die Zuständigkeit als „das Ergebnis systematischer Verfassungsauslegung und hierdurch geleisteter Verarbeitung normativer und faktischer Informationen der Umwelt des Kompetenztitels in Art. 72 Abs. 3 Nr. 4 GG“ begründet. Hierzu verweist er insbesondere auf die „Gemeinwohlaufgabe des Bundes, eine rechtsstaatsgemäße, kontinuierliche länderübergreifende Planung […] sicherzustellen.“ Gegen diese Annahme spricht jedoch, dass der Gemeinwohlbelang einer Aufgabe selbst keine Kompetenzzuweisung begründet, dazu Erstes Kapitel II. 2. d) aa). 732 Battis / Kersten, DVBl 2007, 152 (158). 733 Anders aber Hoppe, DVBl 2007, 144 (145); Kotulla, NVwZ 2007, 489 (495) „eindeutiger Wortlaut“. 734 BVerfGE 15, 1 (16); ebenso Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 75 Rn. 136.
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
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Entstehungsgeschichte deutet somit eher auf ein restriktives Begriffsverständnis des Art. 74 Abs. 1 Nr. 31 GG hin, das die Bundesraumordnung nicht erfasst.735 Deshalb ist auch weiterhin von einer Kompetenz kraft Natur der Sache auszugehen. Dagegen dürfte der Vorschlag, Art. 72 Abs. 3 Nr. 4 GG teleologisch zu reduzieren und abweichungsfeste Kerne zuzulassen736, aufgrund der bereits textlich fixierten Ausschlüsse in Art. 72 Abs. 3 Nr. 1, 2 und 5 GG systematisch versperrt sein.737 Gerade die Existenz dieser Ausschlüsse weist vielmehr auf die Kompetenz kraft Natur der Sache für die Raumordnung auf Bundesebene hin: Die abweichungsfesten Kerne und Sektoren in Art. 72 Abs. 3 GG verdeutlichen, dass sich der verfassungsändernde Gesetzgeber der Gefahr einer unbegrenzten Abweichungsgesetzgebung bewusst gewesen ist und er diejenigen Teilmaterien, die aus seiner Perspektive eines Vorrangs des Bundes bedürfen, als Bereichsausnahmen kenntlich gemacht hat. Angenommen, der verfassungsändernde Gesetzgeber hätte gewollt, alle Ebenen der Raumordnung in die konkurrierende Gesetzgebung einzufügen, so wäre angesichts der inhaltlichen Auswirkungen, die eine Abweichungskompetenz der Länder (auch) auf dem Gebiet der Bundesraumordnung mit sich brächte, eine ausführliche rechtspolitische Diskussion über die Festlegung eines abweichungsfesten Kerns zu erwarten gewesen. Zwar gab es Vorschläge zur (teils deklaratorischen) Festlegung abweichungsfester Kerne738, diese konnten sich im Verlaufe des Gesetzgebungsverfahrens aber gerade nicht durchsetzen. Vielmehr wiesen die Erklärungen der Koalitionsfraktionen im Rechtsausschuss des Bundestags im Vorfeld der Verfassungsänderung darauf hin, dass die Ausklammerung der Bundesraumordnung beibehalten werden sollte.739 Für die Anerkennung einer Zuständigkeit für die Bundesraumordnung kraft Natur der Sache spricht deshalb insbesondere auch die Mutmaßung der inhaltsgleichen Übernahme.740 Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat im Zuge der Föderalismusreform dieselbe Begrifflichkeit wie in Art. 75 Abs. 1 Nr. 4 Alt. 2 GG a. F. genutzt. Es sind keine Indizien ersichtlich, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber vom bisherigen Begriffsverständnis abweichen wollte; auch wurde ein anderer Wille im Verfassungstext nicht kenntlich gemacht. Es ist deshalb weiterhin von der Existenz einer Kompetenz kraft Natur der Sache für die Raumordnung des Bundes auszugehen.
735
So auch Durner, NuR 2009, 373 (374). Battis / Kersten, DVBl 2007, 152 (158). 737 Hendler, in: Handbuch Föderalismus, Bd. 3, § 69 Rn. 8. 738 Dazu Battis / Kersten, DVBl 2007, 152 (157 f.) m. w. N. Da die Vorschläge nicht aufgegriffen wurden, sind sie nicht geeignet, den Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers zu repräsentieren, vgl. dazu Zweites Kapitel V. 3. 739 Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags, BT-Drs. 16/2069 v. 29. 6. 2006, S. 13: „Die Regierungsfraktionen erklärten, sie gingen davon aus, dass […] es sich bei der Raumordnung nach Artikel 72 Abs. 3 Nr. 4 GG neu wie bisher um die Raumordnung der Länder handelt“. Vgl. zu dieser Interpretation der Entstehungsgeschichte auch Durner, DVBl 2008, 69 (76). 740 Zweites Kapitel V. 4. d). 736
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
(6) Mögliche Einwände und andere Ansätze (a) „Metaphysische Scheinbegründung“? Gegen die Kriterien der Staats- und Funktionsnotwendigkeiten könnte der Einwand erhoben werden, es handele sich um eine metaphysische Scheinbegründung, weil die Argumente auf eine kaum definierbare Staatlichkeit abstellen, die im Grundgesetz nicht positiviert ist. Der Ansatzpunkt der hier begründeten Ansicht liegt darin, dass es gewisse Angelegenheiten gibt, die notwendigerweise nur durch den Bund geregelt werden können, weil diese die Bundesrepublik als Gesamtstaat betreffen und die Länder keine Möglichkeit haben, die Interessen der Bundesrepublik mit bundeseinheitlicher Rechtsverbindlichkeit wahrzunehmen. An dieser Stelle könnte gefragt werden, ob nicht auch die Länder etwa im Wege der Koordinierung durch Staatsverträge diese Aufgaben erfüllen könnten. Beispielsweise lehnte das Bundesverfassungsgericht eine Kompetenz des Bundes kraft Natur der Sache für eine Bundesrundfunkanstalt ab, weil die Länder durch den Abschluss von Rundfunkstaatsverträgen ebenfalls ein gewisses Maß an Einheitlichkeit im Bundesgebiet erreichen können.741 Das Argument ist schlüssig, aber jedenfalls nach der hier vertretenen Ansicht nicht das entscheidende. Der Rundfunkbereich ist von vornherein keine staats- oder funktionsnotwendige Materie für die Bundesrepublik. Der Rundfunk betrifft einen Teilaspekt der Kultur, der zwar bedeutsam, aber für das Funktionieren der Bundesrepublik als Gesamtstaat nicht notwendig ist. Partikulare oder gar fehlende Regelungen zum Rundfunkwesen würden die Bundesrepublik nicht in ihrer Staatlichkeit gefährden.742 Indem der unmittelbare Bezug zum Gesamtstaat fehlt, scheidet eine Kompetenz kraft Natur der Sache aus. Der Verweis auf alternativ in Betracht kommende Staatsverträge ist für die Begründung nicht entscheidend. Die Möglichkeit, Staatsverträge abzuschließen, ist in den staats- und funktionsnotwendigen Fällen aus zwei Gründen keine hinreichende Alternativmaßnahme. Erstens sollte berücksichtigt werden, dass es um solche Materien geht, die die Bundesrepublik als Gesamtstaat betreffen. Es wäre geradezu ein Übergriff in fremde Zuständigkeiten, wenn die Länder über die Staatlichkeit (Verfassungsorgane, Bundessymbole, Hauptstadt etc.) des Bundes disponieren könnten. Auch die gesamtstaatliche Raumplanung betrifft das Bundesgebiet und nicht die partikularen Landesrauminteressen, so dass hierüber nur der Bund entscheiden kann.
741
BVerfGE 12, 205 (252). Sehr wohl würde aber der Verzicht auf eine gesetzliche Begründung gegen die in Art. 5 I 2 GG verankerte Institutsgarantie der normgeprägten Rundfunkfreiheit verstoßen. Da aber nicht nur der Bund, sondern auch die Länder grundrechtsverpflichtet sind, besteht ohnehin eine wirksame Pflicht zum Tätigwerden, so dass auch dieses Argument nicht für eine Natur der Sache ins Feld geführt werden kann. 742
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
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Zweitens wäre bei den Angelegenheiten, die als staats- oder funktionsnotwendig beschrieben wurden, eine koordinierende Landesgesetzgebung von vornherein nicht in der Lage, die Bundesrepublik als solche rechtswirksam zu repräsentieren. Nach der derzeitigen Ausgestaltung des Grundgesetzes ist den Ländern kein Rechtsrahmen zugewiesen, bundeseinheitliche Gesetze mit Wirkung für das Bundesgebiet zu beschließen. Vielmehr endet die Staatlichkeit jedes Bundeslandes an der Grenze des eigenen Landesstaatsgebiets. Die Länder können zwar ihre Gesetze durch eine Länderkoordination mittels Staatsverträge aufeinander abstimmen, die Staatsverträge wirken aber nicht unmittelbar, sondern bedürfen der Umsetzung in Landesrecht, das wiederum nur innerhalb des Landes gilt. Staatsverträge können somit nicht gewährleisten, dass die staats- oder funktionsnotwendigen Aufgaben für die Bundesrepublik als Gesamtstaat geregelt werden können. Die Fallgruppen der Staats- und Funktionsnotwendigkeit sind deshalb den Ländern von vornherein entrückt. (b) Kompetenz kraft Analogie Teilweise wird das Konzept der Kompetenz kraft Natur der Sache auch generell abgelehnt. Stattdessen sei die Analogie neben der Auslegung aus dem Sachzusammenhang die einzig legitime Form der Ableitung von ungeschriebenen Kompetenzen.743 Beispielsweise wird vertreten, die Zuständigkeit für nationale Bundessymbole aus einer Gesamtanalogie aus Art. 22 GG herzuleiten.744 Andererseits setzt eine Analogie eine Lücke voraus, die jedoch wegen Art. 70 Abs. 1 GG fehlt.745 Darüber hinaus beruht eine Analogie auf einer Wertung im Hinblick auf die gleichartige Interessenlage, was wiederum mit dem formalen Bundesstaatsverständnis kaum zu vereinbaren ist. Für die Kompetenz kraft Natur der Sache spricht immerhin, dass sie die in Betracht kommenden Fallgruppen typologisch systematisiert und für sie einheitliche dogmatische Lösungsmöglichkeiten anbietet. dd) Zusammenfassung Die Gesetzgebungskompetenz kraft Natur der Sache ist eine „ungeschriebene“ Kompetenz. Sie ist im Grundgesetz nicht ausdrücklich geregelt, sondern findet ihren Grund in bestimmten Staats- oder Funktionsnotwendigkeiten, die es erforderlich machen, dass nur der Bund unter Ausschluss der Länder die Angelegenheiten wahrnimmt. 743
Grundlegend Triepel, in: FG Laband, Bd. 2, S. 309 f.; vgl. ferner Küchenhoff, AöR 82 (1957), 413 (460, 472); Bullinger, AöR 96 (1971), 237 (281); Stettner, in: Liber Amicorum, S. 699. 744 Stettner, in: Liber Amicorum, S. 696. 745 Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 282; Köstlin, Die Kulturhoheit des Bundes, S.56; Pabel, Grundfragen der Kompetenzordnung im Bereich der Kunst, S. 82.
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Das Bundesverfassungsgericht leitet die Zuständigkeit in Anlehnung an Anschütz aus dem „Wesen der Dinge“ ab. Soweit hiermit gemeint ist, es gäbe eine dem Grundgesetz vorgelagerte Aufgabenverteilung zwischen Bund und Länder, ist dem zu widersprechen. Die Aufgabenverteilung bemisst sich danach, wie der Verfassungsgeber die Kompetenzen zwischen Bund und Länder im Grundgesetz verteilt hat. Eine „im Wesen der Dinge“ liegende Verfassungsordnung ist abzulehnen. Mit diesen Gründen sind auch die entwickelten Voraussetzungen der Kompetenz kraft Natur der Sache nur in Anlehnung an die geschriebene Verfassung herzuleiten. Nach dem Kriterium der Staatsnotwendigkeit gehören solche Angelegenheiten „kraft Natur der Sache“ in die Zuständigkeit des Bundes, deren Regelungen auf bundesgesetzlicher Ebene für das Funktionieren des Verfassungsstaats unentbehrlich sind, weil sie die Staatlichkeit der Bundesrepublik ausformen und die Länder keine Zuständigkeit haben, über die verfassungsrechtliche Staatlichkeit zu bestimmen. Das bloße Bedürfnis nach Selbstdarstellung genügt noch nicht zur Begründung der Natur der Sache. Viele dieser staatsnotwendigen Angelegenheiten sind heute schon im Grundgesetz ausdrücklich geregelt, so dass sich die Bedeutung dieses Kriteriums weitgehend auf die Fälle der Bundessymbole erschöpft. Es gilt weiter zu berücksichtigen, dass es keine Zuständigkeit kraft Natur der Sache für eine nationale Kultur gibt. Einige Kulturförderungsprojekte, die der Bund betreibt, sollten deshalb eher in die Zuständigkeit der Länder fallen. Unter dem Gesichtspunkt der Funktionsnotwendigkeit sind solche Angelegenheiten zu zählen, die zwar nicht über die Staatlichkeit der Bundesrepublik Auskunft geben, die es aber dennoch notwendig erscheinen lassen, dass die Bundesrepublik als Gesamtstaat durch den Bund „mit einer einheitlichen Stimme“ spricht oder sich vertreten lässt. Der entscheidende Gesichtspunkt ist, dass die Wirkung einer bestimmten Angelegenheit sich auf das gesamte Bundesgebiet erstreckt und sie nicht nur aus Effektivitätsgesichtspunkten, sondern aus Gründen der rechtlichen Notwendigkeit nur durch den Bundesgesetzgeber geregelt werden kann. Hierzu zählen insbesondere die Außenvertretungsbefugnis des Bundes sowie die Zuständigkeit, für den Gesamtstaat raumbedeutsame Planungen vorzunehmen. c) Die Kompetenz kraft Sachzusammenhangs aa) Grundgedanke des Sachzusammenhangs als Instrument zur Zielerreichung Will man sich der Figur des Sachzusammenhangs nähern, so ist es ratsam, sich zunächst den Grund seiner Existenz klarzumachen. Eine Kompetenz ist eine limitierte Handlungsermächtigung und soll den Kompetenzträger ermächtigen, die ihm zugewiesenen Staatsaufgaben eigenverantwortlich und unter Ausschluss des jeweils anderen wahrzunehmen.746 Ist einem Kompetenzträger eine Kompetenz 746
Erstes Kapitel II. 4.
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
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eingeräumt, so wird ihm implizit die Ermächtigung verliehen, seine ihm zustehenden Aufgaben auch sinnvoll und effektiv regeln zu können. Aus teleologischer Perspektive lässt sich der Sachzusammenhang als Instrument zur Zielerreichung begreifen.747 Der mit ihm verbundene partielle Übergriff auf an und für sich fremde Kompetenzmaterien soll dem Gesetzgeber erlauben, seine ihm zufallenden Staatsaufgaben bewältigen zu können. Der Sachzusammenhang verhindert legislative Handlungsunfähigkeit. Das setzt aber voraus, dass ohne die Zuhilfenahme des Sachzusammenhangs auch tatsächlich eine Handlungsunfähigkeit drohen würde; die Rechtsfigur ist somit an enge Grenzen gebunden.748 Nach der klassischen Formulierung des Bundesverfassungsgerichts im Baurechtsgutachten kann ein Sachzusammenhang angenommen werden, „wenn eine dem Bund ausdrücklich zugewiesene Materie verständigerweise nicht geregelt werden kann, ohne daß zugleich eine nicht ausdrücklich zugewiesene Materie mitgeregelt wird, also ein Übergreifen in nicht ausdrücklich zugewiesene Materien unerläßliche Voraussetzung für die Regelung einer der Bundesgesetzgebung zugewiesenen Materie“ ist.749 Diese Formulierung hat das Bundesverfassungsgericht in vielen folgenden Entscheidungen wiederholt.750 Erschien es noch in den Anfangsjahren der Bundesrepublik so, das Bundesverfassungsgericht verwende den Sachzusammenhang jedenfalls nur dann, wenn es gilt, einen Sachzusammenhang abzulehnen751, so hat das Bundesverfassungsgericht in den letzten zwanzig Jahren wiederholt eine Kompetenz kraft Sachzusammenhangs angenommen.752 Dabei wird deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht immer dann einen Sachzusammenhang bejaht hat, wenn es darum ging, von einer zugewiesenen Bundeskompetenz punktuell eine Materie in Anspruch zu nehmen, für die eigentlich die Länder zuständig sind. Das wird etwa in dem Zollkriminalamt-Beschluss753 des Ersten Senats deutlich. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts beruht die Regulierung des 747
Ähnlich schon Stern, Staatsrecht II, § 37 II 5 a, S. 611; Scholz, in: FG BVerfG, S. 272 f.; Rüfner, ZG 1999, 166 (368): Kompetenz als Interpretationsmittel zur „zweckgerechten und effektiven Entfaltung von Kompetenzmaterien“. 748 Maunz, in: ders. / Dürig, GG, Art. 70 Rn. 48 sprach deshalb auch von eng auszulegenden Ausnahmen; krit. Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 123, 127. Vgl. aber auch BVerfGE 98, 265 (299): „Ungeschriebene Gesetzgebungskompetenzen des Bundes sind dagegen nur in äußerst engen Grenzen anerkannt“. 749 BVerfGE 3, 407 (421) unter Hinweis auf die Ergebnisse der Weinheimer Tagung von 1949, vgl. Bundesrecht und Bundesgesetzgebung, Bericht über die Weinheimer Tagung, S. 192. 750 Zuletzt BVerfGE 107, 62 (115); 98, 265 (299); 110, 33 (48); 138, 261 (274 Rn. 30). 751 BVerfGE 3, 407 (421 f.); 4, 74 (83 f.); 12, 205 (237 f.); 15, 1 (20 ff.); 26, 246 (256 f.); 26, 281 (300). 752 BVerfGE 97, 332 (342); 98, 265 (301 ff.); 106, 62 (115 ff.); 110, 33 (48 ff.); ein Sachzusammenhang wurde bereits bejaht in BVerfGE 11, 192 (199); 12, 205 (240 f.); 22, 180 (212 f.). 753 BVerfGE 110, 33. Das Normenkontrollverfahren betraf die Befugnisse des Zollkriminalamts gem. §§ 39–41 AWG a. F. (Gesetz v. 7. 7. 1992, BGBl. I, S. 1222), Sendungen, die dem Brief-, Post- oder Fernmeldegeheimnis unterliegen, zu öffnen und einzusehen sowie die Telekommunikation zu überwachen und aufzuzeichnen. Dabei stand unter anderem die Frage im
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Außenwirtschaftsrechts auf Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 GG. Der Kompetenztitel bezieht sich aber nur auf „den Waren- und Zahlungsverkehr mit dem Auslande einschließlich des Zoll- und Grenzschutzes“. Dennoch enthält das Außenwirtschaftsgesetz Vorgaben, die auch den Dienstleistungsverkehr beschränken (z. B. § 1 Abs. 1 i. V. m. § 18 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AWG). Wegen „der Einheitlichkeit der Lebensvorgänge ergebe sich jedoch nach Auffassung des Gerichts auch für den Dienstleistungsverkehr eine Zuständigkeit des Bundes unter dem Gesichtspunkt des Sachzusammenhangs.754 Zur Begründung führt der Senat aus, der Waren-, der Dienstleistungs- und der Kapitalverkehr seien „im Bereich der Außenwirtschaft so vielfältig miteinander verknüpft, dass eine getrennte Regelung zur Erfüllung solcher Ziele, wie sie das Außenwirtschaftsgesetz verfolge, nicht sachgerecht wäre“755. Und weiter: „Nach § 7 Abs. 1 AWG dienen die gesetzlich erlaubten Beschränkungen der Rechtsgeschäfte und Handlungen im Außenwirtschaftsverkehr insbesondere der Gewährleistung der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland sowie der Verhütung einer Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker und der Störung der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland. Darauf bezogene Maßnahmen können nicht ohne erheblichen Effektivitätsverlust nach unterschiedlichen Regelungen von unterschiedlichen Behörden einerseits für den Warenverkehr und andererseits für den Dienstleistungsverkehr vorgenommen werden.“756
Das Bundesverfassungsgericht erblickt demnach einen Sachzusammenhang aus zwei Gründen: Erstens wegen der sich aus der (außen-)wirtschaftlich engen Verknüpfung der drei Wirtschaftsvorgänge. Und zweitens wegen des erheblichen Effektivitätsverlustes im Bereich der öffentlichen Sicherheit und der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik, der einträte, würde man den Dienstleistungsverkehr durch unterschiedliche Regelsysteme reglementieren und die Aufsicht auf mehrere Behörden verteilen. An dieser Stelle verdeutlicht sich der Unterschied zur hier vorgeschlagenen Betonung der historisch-genetischen Auslegung. Nach dieser Interpretation wäre der Dienstleistungsverkehr nicht von der Kompetenzzuweisung des Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 GG umfasst.757 Das Bundesverfassungsgericht nutzt also die Figur des Sachzusammenhangs, um die Zuweisung dynamisch auf Dienstleistungsvorgänge auszudehnen. Mit dem Sachzusammenhang erweitert sich der Kompetenzgehalt des Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 GG auf weitere Anwendungen, die bei herkömmlicher Auslegung nicht umfasst sind. Der Sachzusammenhang verbreitert die Kompetenz und dynamisiert seine Verwendungsmöglichkeiten.
Vordergrund, ob eine Zuständigkeitsübertragung an das Zollkriminalamt nach Art. 87 Abs. 3 S. 1 GG möglich ist. Die Norm setzt voraus, dass für das entsprechende Sachgebiet eine Gesetzgebungskompetenz besteht. Das BVerfG nimmt für die Vorschriften des Außenwirtschaftsrechts Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 GG als einschlägige Gesetzgebungsbefugnis an. 754 BVerfGE 110, 33 (47 f.). 755 BVerfGE 110, 33 (48). 756 BVerfGE 110, 33 (48). 757 Zu diesem Ergebnis kommt Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Art. 73 Rn. 292.
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
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Im Hinblick auf die nun folgenden vertiefenden Ausführungen zum Sachzusammenhang sollen vorab zwei Bemerkungen getroffen werden: Erstens wird zur sprachlichen Vereinfachung zwischen einer Sachmaterie und einer Fremdmaterie unterschieden. Unter der Sachmaterie wird die „Stamm-Kompetenz“ verstanden. Es geht hierbei um den typischen Kompetenzbereich, den der zuständige Kompetenzträger unter Ausnutzung seiner Kompetenz regeln kann. Die Fremdmaterie ist hingegen diejenige Kompetenzmaterie, die grundsätzlich nicht in die Kompetenz des jeweiligen Gesetzgebers fällt und auf die er kraft Sachzusammenhangs übergreift, um seine Sachmaterie regeln zu können. Zweitens wird nicht verkannt, dass auch eine Kompetenz der Länder kraft Sachzusammenhangs möglich ist.758 Gleichwohl gehen die überwiegenden Fälle in der Rechtsprechung, bei denen ein Sachzusammenhang erwogen wurde, immer von dem umgekehrten Fall aus, dass der Bund den Sachzusammenhang für sich nutzte. Aus diesem Grund wird im Folgenden zur Vereinfachung von der Bundesperspektive ausgegangen. Damit wird aber nicht implizit verneint, dass eine Länderkompetenz kraft Sachzusammenhangs nicht auch möglich sein könnte. bb) Formelhafter und nicht formelgebundener Sachzusammenhang Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Sachzusammenhang kann nicht als geschlossenes System betrachtet werden. Schon in einer frühen Abhandlung über die Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs wies Bullinger im Jahr 1971 darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht den Sachzusammenhang in unterschiedlichen Weisen verwendet.759 Nur in wenigen Urteilen griff das Bundesverfassungsgericht auf die Formel des Baurechtsgutachtens zurück, dies waren bis zum damaligen Zeitpunkt ausschließlich Urteile, in denen das Gericht einen Sachzusammenhang ablehnte. Dies galt für Kompetenzen auf dem Gebiet des Bauwesens760, für die Verneinung eines Sachzusammenhangs für den überörtlichen Rundfunk auf Grundlage des Fernmeldewesens761, für die Ablehnung einer Regelungsbefugnis für die Wasserreinhaltung der Bundeswasserstraßen auf Grundlage eines Sachzusammenhangs mit der Kompetenz für die dem allgemei-
758
Inzwischen unstreitig, vgl. nur BVerfGE 7, 29 (38 ff.); 28, 119 (145 ff.); Rengeling, in: HStR VI, § 135 Rn. 72. 759 Bullinger, AöR 96 (1971), 237 (241 ff.); ähnlich auch Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 177 ff. und S. 245 ff., der zwischen einem spezifischen und unspezifischen Sachzusammenhangsbegriff differenziert. Der spezifische Sachzusammenhang sei der Formel des Baurechtsgutachtens zu entnehmen und bedeute vor allem eine „Relation zwischen Regelungen“ (S. 181 ff.). Der unspezifische Sachzusammenhang sei dagegen eine „Evidenzformel ohne eigenen Gehalt“, den das BVerfG für die Frage der Zuordnung zu einer Kompetenznorm mitunter verwende, aber gegenüber seinem Modell des „Ordnungsschwerpunkts“ (S. 137 ff.) zurückzutreten habe (S. 245 ff.). 760 BVerfGE 3, 407 (421). 761 BVerfGE 12, 205 (237).
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
nen Verkehr dienenden Binnenwasserstraßen762 sowie für die Verneinung eines Sachzusammenhangs zwischen der Errichtung von Bundespost und Bundeseisenbahn und einer Regelung, die die Gebührenfreiheit für die Behörden anordnete.763 Ferner hat Bullinger darauf aufmerksam gemacht, dass das Bundesverfassungsgericht wesentlich häufiger einen formelfreien Sachzusammenhang verwendete. Wenn das Bundesverfassungsgericht einen Sachzusammenhang annahm, dann nur unter Außerachtlassung der Sachzusammenhangsformel.764 So wurde insbesondere das Kriterium der Unerlässlichkeit explizit nicht zur Voraussetzung des Sachzusammenhangs erhoben, teilweise aber auch zur nicht näher definierten „Notwendigkeit“765 abgeschwächt. Mitunter sollte es auch nur auf die Eigenart des Regelungsgebiets, etwa der herkömmlichen Entwicklung766 ankommen oder das Gericht ließ bereits eine enge Verzahnung767 genügen.768 Insgesamt – worauf noch einzugehen sein wird – verwendet das Bundesverfassungsgericht den formelfreien Sachzusammenhang als Hilfskriterium, wenn es Zweifelsfragen mithilfe von Schwerpunktformeln auflösen muss.769 Das Schulbeispiel ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verjährung von Pressedelikten.770 Verjährungsvorschriften für pressespezifische Straftaten sind entweder dem Presserecht771 oder dem Strafrecht zuzuordnen. Vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung des Presserechts ordnete das Bundesverfassungsgericht diese Frage dem Presse recht zu und stützte das Ergebnis neben einer historischen Auslegung auf einen Sachzusammenhang. Dabei ging es dem Bundesverfassungsgericht aber nicht darum, dass auf eine eigentlich fremde, in das Strafrecht (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) fallende Materie übergegriffen wird, sondern dass besondere Verjährungsvorschriften für pressespezifische Straftaten einen stärkeren Sachzusammenhang zum Presserecht aufweisen und somit im Schwerpunkt dem Presserecht unterliegen: „Da das Presserecht herkömmlich und kraft Sachzusammenhangs die Bestimmungen über die Verjährung von Pressedelikten umfaßt, ist mit der Kompetenz zur Gesetzgebung auf diesem Gebiet auch die Kompetenz zur Regelung der Verjährung der durch die Presse begangenen Verbrechen gegeben […]“772.
762
BVerfGE 15, 1 (20 f.). BVerfGE 26, 281 (300). 764 So in BVerfGE 7, 29 (38 f.); 22, 181 (212 f.); 23, 113 (125). 765 BVerfGE 4, 74 (84) unter Bezugnahme auf einen „engen Zusammenhang“; einen „notwendigen Zusammenhang“ forderte später BVerfGE 109, 190 (215). 766 So BVerfGE 7, 29 (43) bei der Verjährung von Pressedelikten, die im Schwerpunkt eher zum Presserecht und nicht zum Strafrecht zählen sollen. 767 BVerfGE 22, 180 (213). 768 Dazu auch Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 428 f. 769 Drittes Kapitel II. 2. e) sowie III. 770 BVerfGE 7, 29. 771 Das Presserecht war von der Rahmengesetzgebungskompetenz nach Art. 75 Abs. 1 Nr. 3 GG erfasst. Der Bund hatte bis zur Abschaffung von dieser Kompetenz keinen Gebrauch gemacht, so dass die Länder selbstständige presserechtliche Regelungen getroffen haben. 772 BVerfGE 7, 29 (43). 763
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Das Bundesverfassungsgericht nutzt hier den Sachzusammenhang also nicht, um einen punktuellen Übergriff auf fremde Strafrechtsmaterien zu rechtfertigen, sondern als Subsumtionsgesichtspunkt. Mit dem formellosen Sachzusammenhang ist also keine Dynamisierung des Kompetenztatbestands im Wege einer teleo logischen Auslegung verbunden, sondern es wird als Hilfskriterium für die Kompetenzzuordnung eines bereits ausgelegten Kompetenztatbestands verwendet.773 In jüngerer Zeit fasst das Bundesverfassungsgericht diese Art der Argumentation unter den Begriff des Regelungszusammenhangs: „Eine Teilregelung, die bei isolierter Betrachtung einer Materie zuzurechnen wäre, für die der Kompetenzträger nicht zuständig ist, kann nur dann gleichwohl in seine Kompetenz fallen, wenn sie mit dem kompetenzbegründenden Schwerpunkt der Gesamtregelung derart eng verzahnt ist, dass sie als Teil dieser Gesamtregelung erscheint“.774 Hiermit macht das Gericht deutlich, dass es sich beim Regelungszusammenhang nicht um ein Interpretations-, sondern um ein Zuordnungsproblem handelt.775 Eine Regelung zur Verjährung einer Strafbarkeit ist bei isolierter Betrachtung eine Strafrechtsnorm; betrachtet man aber den (historischen) Zusammenhang, in dem die Regelung steht, dann liegt der Schwerpunkt beim Presserecht. Die Verjährungsvorschrift soll sonderrechtlich die Rechte der Presseangehörigen regeln und für sie spezielle Regelungen formulieren. Der Sachzusammenhang der Regelung (Regelungszusammenhang) liegt somit beim Presserecht, nicht beim Strafrecht. Diese Art der Argumentation ist folglich von dem hier vertretenen Verständnis des formelgebundenen Sachzusammenhangs zu unterscheiden. Ferner führte Bullinger in seiner Abhandlung über ungeschriebene Kompetenzen noch Fälle eines unbenannten Sachzusammenhangs an, bei denen unklar sei, ob das Bundesverfassungsgericht den Gesichtspunkt einer Kompetenz kraft Sachzusammenhangs überhaupt gesehen und geprüft habe.776 Nach der ersten Frühphase der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur, in welcher Sachzusammenhänge öfters thematisiert wurden, war es einige Jahre 773
Bullinger, AöR 96 (1971), 237 (265) hingegen sieht die Entscheidung als Schulbeispiel für eine „Zuständigkeit zur Spezialregelung“. Das ist im Ergebnis gewiss richtig: Die Kompetenz für das Presserecht enthält die Befugnis, auch Verjährungsvorschriften für pressespezifische Straftaten zu regeln und ist somit eine gegenüber dem allgemeinen Strafrecht speziellere Kompetenzzuweisung. Das Ergebnis, das Presserecht ist „spezieller“, folgt aber in erster Linie nicht aus dem Sachzusammenhang, sondern zuvörderst aus der herkömmlichen Entwicklung des Presserechts, also aus der historischen Auslegung. Der Sachzusammenhang wird in der Entscheidung lediglich genutzt, um deutlich zu machen, dass im Sinne der historischen Entwicklung der Schwerpunkt eher beim Presserecht und nicht beim Strafrecht liegt. Folgerichtig misst das BVerfG historischen Erwägungen in der Entscheidung den größten Raum bei (BVerfGE 7, 29 [36–43]), so auch später Bullinger, in: Löffler, Presserecht, 4. Aufl., Einl Rn. 66. 774 Grundlegend: BVerfGE 97, 228 (251 f.); vgl. auch BVerfGE 97, 332 (342); 98, 145 (158); 98, 265 (299); 121, 30 (47 f.); 138, 261 (274 Rn. 30). 775 Dazu Drittes Kapitel II. 2. e). 776 Bullinger, AöR 96 (1971), 237 (244 ff.) unter Verweis auf BVerfGE 3, 407 (428); 8, 104 (118 f.); 13, 181 (196); 15, 1 (22); 24, 300 (353 f.); 28, 119 (145 ff.).
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
still um die Konstruktion, bis das Bundesverfassungsgericht der Diskussion ab Mitte der 90er Jahre neuen Auftrieb gab. Seitdem füllen wieder einige Passagen zum Sachzusammenhang die Entscheidungsbände des Bundesverfassungsgerichts.777 Dabei fällt auf, dass das Bundesverfassungsgericht nunmehr verstärkt auf die Formel des Baurechtsgutachtens zurückgreift.778 Einen Sachzusammenhang nahm das Bundesverfassungsgericht seitdem für Einzelregelungen an, die zur Verwirklichung eines alternativen Schutzkonzepts für das ungeborene Leben notwendig sind779; für einen ganzheitlichen Ansatz im Bereich der Altenpflege, der medizinisch-pflegerische mit sozial-pflegerischen Tätigkeiten verbindet780; für die Einbeziehung von Beschränkungen des Dienstleistungsverkehrs im Außenwirtschaftsrecht781 sowie für datenschutzrechtliche Regelungen, die an technische Übermittlungsvorgänge anknüpfen782. Verneint wurde ein Sachzusammenhang unter anderem für Arbeitszeitregelungen im Ladenöffnungsrecht783 sowie für die Verknüpfung des Betreuungsgeldes mit den Instrumenten des Kinderförderungsgesetzes als Erweiterung der Erforderlichkeit im Sinne von Art. 72 Abs. 2 GG.784 cc) Das Kriterium der Unerlässlichkeit als Voraussetzung des Sachzusammenhangs Der Ausgangspunkt eines Sachzusammenhangs liegt darin, dass der Bundesgesetzgeber ein Konzept verwirklichen will, er dafür aber Materien mitregeln muss, die in die Zuständigkeiten der Länder fallen. Der Sachzusammenhang verbindet die Fremdregelung mit den ihm zustehenden Sachmaterien. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Sachzusammenhang auch als eine Konzept-Kompetenz beschreiben. Allerdings ist einschränkend zu betonen, dass die bloße konzeptionelle Verbindung alleine nicht genügt, den Sachzusammenhang zu begründen; maßgebend ist die objektive Untrennbarkeit der Regelungen. Auf einen Sachzusammenhang darf nur geschlossen werden, wenn anderenfalls das auf einer Sachmaterie beruhende Konzept nicht hinreichend verwirklicht würde.
777
BVerfGE 88, 203 (329 f.); 97, 332 (342); 98, 265 (301 ff.); 106, 62 (115 ff.); 109, 190 (215 ff.); 110, 33 (47 ff.); 138, 261 (274, 279). 778 BVerfGE 98, 265 (301); 106, 62 (115 ff.); 110, 33 (47 ff.); 138, 261 (274, 279); nicht formelgebunden sind hingegen die Ausführungen in BVerfGE 88, 203 (329 f.); 97, 332 (342); 109, 190 (215 ff.). 779 BVerfGE 98, 265 (299 ff.). 780 BVerfGE 106, 62 (104 ff.). 781 BVerfGE 110, 33 (48). 782 BVerfGE 125, 260 (314 f.). 783 BVerfGE 138, 261 (279 Rn. 40). 784 BVerfGE 140, 65 (92 f. Rn. 60 ff.).
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(1) Die Sachzusammenhangsformel des Bundesverfassungsgerichts Die Kompetenz kraft Sachzusammenhangs ergibt sich nach der Formel des Baurechtsgutachtens, wenn „eine dem Bund ausdrücklich zugewiesene Materie verständigerweise nicht geregelt werden kann, ohne daß zugleich eine nicht ausdrücklich zugewiesene andere Materie mitgeregelt wird, wenn also ein Übergreifen in nicht ausdrücklich zugewiesene Materien unerläßliche Voraussetzung ist für die Regelung einer der Bundesgesetzgebung zugewiesenen Materie“.785 Das Kriterium der Unerlässlichkeit soll deutlich machen, dass der Sachzusammenhang eine Ausnahmeerscheinung im Rahmen der Kompetenzbegründung darstellt und keinesfalls als Regelfall zu behandeln ist.786 Unerlässlichkeit bedeutet zunächst, dass eine Fremdmaterie, die eigentlich in die Kompetenz der Länder fällt, vom Bund übernommen wird, weil sie notwendige Bedingung für den Erfolg der sachgesetzlichen Regelungskonzeption ist. Folglich besteht zwischen der Regelung der Sachmaterie und der Fremdmaterie ein Abhängigkeitsverhältnis. Indem das Bundesverfassungsgericht explizit nur vom Übergriff auf „nicht ausdrücklich zugewiesene Materien“, nicht aber vom Übergriff auf „fremde Kompetenzen“ spricht, macht das Bundesverfassungsgericht zugleich deutlich, dass der Sachzusammenhang – richtig angewendet – nicht in die Kompetenzen des anderen Verbandes eingreift und dass grundsätzlich auch keine Doppelkompetenzen entstehen. Der Übergriff findet also nicht zwischen Kompetenzen, sondern zwischen Materien statt. Der Grund hierfür ist darin zu sehen, dass der Tatbestand einer Kompetenz weiter reicht, als die von ihr erfasste Materie.787 Aber auch nach dieser Konkretisierung bleibt die Formel des Bundesverfassungsgerichts weiterhin missverständlich. Mit der Unerlässlichkeit, die das Bundesverfassungsgericht fordert, könnte zweierlei gemeint sein: Zunächst könnte gemeint sein, dass die Sachmaterie als solche defizitär sein muss und es deshalb un 785
BVerfGE 3, 407 (421). Maunz, in: ders. / Dürig, GG, Art. 70 Rn. 48 spricht deshalb von einer eng auszulegenden Ausnahme; vgl. auch BVerfGE 98, 265 (299), wo von „äußerst engen Grenzen“ die Rede ist; krit. aber Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 123 und S. 127, der die Annahme von Maunz vor dem Hintergrund, dass aus Art. 70 I GG keine „Zuständigkeitsvermutung“ spricht, in Frage stellt. Dem wird man aber entgegenhalten müssen, dass – grob ausgedrückt – der Sachzusammenhang mit einem Übergriff in fremde Hoheitsbereiche verbunden ist. Schon weil die Kompetenzordnung beidseitig ausgelegt ist und somit auch die Länder über eigene, feste Zuständigkeiten verfügen, also nicht von einem „Primat des Bundes“ auszugehen ist, erscheint der Sachzusammenhang notwendigerweise als ein „Fremdkörper“ der an sich klaren Zuständigkeitsverteilung. Um die Kompetenzordnung nicht aus den Angeln zu heben, ist ein vorsichtiger Umgang mit dem Sachzusammenhang anzuraten. Das Bundesverfassungsgericht trifft an dieser Stelle den richtigen Ton, indem es den Sachzusammenhang auf Fälle der „Unerlässlichkeit“ beschränkt. 787 Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 125. 786
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
erlässlich ist, auf eine Fremdmaterie zuzugreifen.788 Ob ein Sachzusammenhang in dieser Lesart überhaupt begründet werden könnte, ist allerdings fraglich.789 Wenn ein Kompetenztitel derart defizitär formuliert wäre, dass die vom Kompetenztitel in Bezug genommenen Materien nicht sinnvoll geregelt werden könnten, so wäre der verfassungsändernde Gesetzgeber zur Nachbesserung aufgerufen. Dagegen spricht, dass alle Kompetenztitel in der Erwartung formuliert worden sind, dass sie sinnvolle Regelungen unter der Geltung der Kompetenz ermöglichen.790 Einen Sachzusammenhang zur Erweiterung des Strafrechts wird man also nur schwerlich annehmen können. Das Bundesverfassungsgericht, das sich in seinen frühen Entscheidungen auch von dieser Lesart leiten ließ, lehnte folglich einen Sachzusammenhang auch immer ab. Nicht zuletzt wäre ein so verstandener Sachzusammenhang ohnehin verfassungswidrig: Nutzte man den Sachzusammenhang, um die Kompetenzbereiche der Kompetenztitel pauschal zu erweitern, so käme dies einer Verfassungsdurchbrechung gleich.791 Wenn also das Bundesverfassungsgericht von der Unerlässlichkeit spricht, so kann es nur etwas anderes meinen: Nicht die Materie muss defizitär sein, das wäre, wie bereits erörtert, kaum begründbar. Der Sachzusammenhang betrifft vielmehr die Möglichkeit, eine bestimmte Regelung unter der Materie regeln zu können. Der Sachzusammenhang greift ein, wenn der Gesetzgeber Elemente der Materie regeln möchte, sein legislatives Konzept allerdings voraussetzt, dass auf eine fremde Materie übergegriffen wird, weil nur so die Tragfähigkeit seines Konzepts gewährleistet ist.792 Es geht also nicht um das Defizit der Materie bzw. des Kompetenzbereichs an sich, sondern um das Defizit der gesetzgeberischen Konzeption. Zur Verhinderung legislativer Handlungsunfähigkeit enthält eine Kompetenznorm implizit die Ermächtigung in Gestalt des Sachzusammenhangs, unter gewissen Voraussetzungen auf fremde Materien zuzugreifen, damit die Konzepte effektiv und wirksam umgesetzt werden können. Ob man nun, wie Herbst, den Sachzusammenhang als Relation zwischen Regelungen begreifen möchte mit der Folge, dass er „nicht als Mittel zur Auslegung von Kompetenznormen, sondern als Mittel zur Festlegung eines als kompetenzrechtliche Einheit verstandenen Subsumtionsgegenstandes“793 verwendet wird, 788 So das Verständnis Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 111; ähnlich schon die Lesart von Achterberg, AöR 86 (1961), 63 (90). 789 Rüfner, ZG 1999, 366 (367). Vgl. auch Bullinger, Die Mineralölfernleitungen, S. 65 („Mundraub“). 790 So dürfte unstreitig sein, dass die Materien des Strafrechts (Art. 74 I Nr. 1 GG) grundsätzlich sinnvolle Strafgesetze ermöglichen. 791 Folgerichtig im Sinne dieser Lesart Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 111, der von einem „kompetenzergänzenden Sachzusammenhang“ spricht; zust. Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 98 f. 792 Ähnlich zunächst auch Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 182. 793 Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 182; vgl. auch ders., in: Berliner Kommentar, Art. 70 Rn 64 ff.
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dürfte nicht von praktischem Gewicht sein. Dahinter steht die Auffassung, dass der Sachzusammenhang nicht definierbar, sondern nur in der Zuordnung konkreter Regelungen erfassbar sei. Andererseits scheint es nicht von vornherein undenkbar, den Sachzusammenhang als eine der Kompetenznorm bereits mitgeschriebene Befugnis mit eigenen Voraussetzungen zu interpretieren und das Vorliegen anhand der jeweils zu subsumierenden Regelung zu entscheiden. Von dem hier vertretenen Vorgehen unterscheidet sich die Auffassung von Herbst wohl nur dadurch, dass er zwei in Relation stehende Regelungen zu einer Subsumtionseinheit zusammenschließen und diese dann in einer Globalbetrachtung zuordnen möchte.794 Aber auch dieses Vorgehen kommt nicht ohne einen leitenden Maßstab zur Bestimmung der jeweiligen Obersätze eines Sachzusammenhangs aus. (2) Der Sachzusammenhang als Junktim: Die Unerlässlichkeit der Fremdmaterie für die Regelung der Sachmaterie Damit kommt es darauf an, was Unerlässlichkeit im Einzelnen bedeutet. Unumstritten ist zunächst nur, dass bloße Zweckmäßigkeitserwägungen nicht genügen.795 Es reicht also nicht aus, dass es lediglich politisch wünschenswert ist, für die Regelung der Sachmaterie auf eine fremde Materie zuzugreifen. Dies war noch die Auffassung der Staatsrechtslehre im Kaiserreich und der Weimarer Republik.796 Zu dieser Zeit sollte das Reich die Befugnis haben, mithilfe des Sachzusammenhangs seine Kompetenzen erschöpfend auszulegen. Dem lag die Vorstellung vom Primat des Reiches zugrunde; die Kompetenzen der Länder als ebenbürtig anzusehen, wurde überwiegend abgelehnt.797 Vor dem Hintergrund der klaren und beid 794
Das wird deutlich in Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 183 f. Vgl. nur BVerfGE 4, 407 (421); 140, 65 (93 Rn. 60); Ehlers, Jura 2000, 323 (324); Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 185; Uhle, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 70 Rn. 67. Nach Achterberg, AöR 86 (1961), 63 (90 ff.) müsse Art. 72 II GG als analoge Voraussetzung des Sachzusammenhangs angewendet werden. Ungeachtet der Tatsache, dass das BVerfG die Norm bis zur Altenpflegeentscheidung (BVerfGE 106, 62) lediglich als lockere Bedürfnisklausel verstanden hat, dürfte die analoge Verwendung des Art. 72 II GG auch als justitiable Erforderlichkeitsklausel dem Ausnahmecharakter des Sachzusammenhangs nicht gerecht werden. 796 Triepel, in: FG Laband, Bd. 2, S. 293; Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 95. Vgl. dazu auch Achterberg, AöR 86, 63 (75 ff.); Bullinger, AöR 96 (1971), 237 (250 f.). 797 Triepel, in: FG Laband, Bd. 2, S. 289 ff.; Lassar, in: Anschütz / T homa, HDStR, Bd. 1, § 27, S. 310. Es lag nicht zuletzt auch an dem weiten Verständnis der Reichskompetenzen, dass Lassar zwischen der verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsverteilung und einem gegenwärtigen Stand der Aufgabenverteilung unterscheiden musste, vgl. Lassar, in: Anschütz / T homa, HDStR, Bd. 1, § 28, S. 312: „Durch Ausübung der verfassungsmäßigen Zuständigkeiten und Bildung ungeschriebenen Verfassungsrechts sind im laufe des letzten Jahrzehnts Reichsgesetzgebung und Reichsverwaltung auf allen Lebensgebieten vorwärts gedrungen […] Die gesteigerte Notwendigkeit der Selbstbehauptung im Innern und nach außen wurde zufolge der politischen Gesamtlage in einem nicht vorhergesehenen Maße zur Sache des Reichs und führte zu einer weitgehenden Betätigung in der bisherigen Ländersphäre.“ 795
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
seitigen Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern und dem Gebot der strikten Interpretation ist eine solche Auslegung heute nicht mehr vertretbar. Vor allem hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass auch den Ländern Kompetenzen kraft Sachzusammenhangs zustehen können.798 Der Sachzusammenhang wird in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts also nicht nur genutzt, einerseits dem einen Kompetenzträger den Übergriff auf fremde Materien zu ermöglichen. Indem das Gericht den Sachzusammenhang an das strenge Kriterium der Unerlässlichkeit bindet, schützt es zugleich den anderen Kompetenzträger vor dem Übergriff durch den jeweils anderen. Wann der Übergriff auf eine Fremdmaterie nun aber unerlässlich sein soll, hat das Bundesverfassungsgericht bisher aber mehr angedeutet als abschließend definiert. Das Bundesverfassungsgericht verwendet neben den Begriffen „Unerlässlichkeit des Übergriffs“ auch „untrennbare Verbindung“799, „zwingender Konnex“800 und „enge Verzahnung“801. Mitunter soll auch nur der „enge Zusammenhang“ genügen.802 All diese Wortpaare können synonym verwendet werden, ohne dass die Handhabung dadurch klarer wird. In der Entscheidung zum bayerischen Schwangerenhilfegesetz hat es die Voraussetzungen wie folgt beschrieben: Eine ungeschriebene Kompetenz gebe dem Bund nicht das Recht, die gesamte den Ländern vorbehaltene Materie an sich zu ziehen. Er dürfe vielmehr nur solche Einzelregelungen treffen, ohne die er seine ausdrücklich zugewiesene Kompetenz nicht sinnvoll nutzen könnte. Die umfassende Regelung eines den Ländern vorbehaltenen Bereichs sei ihm nicht eröffnet.803 Wann aber ein solch zwingender Konnex zwischen der Wahrnehmung der Sachmaterie und der Inanspruchnahme der Fremdmaterie besteht, lasse sich nicht generell und abstrakt bestimmen und könne „nur unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Regelungsgegenstandes beantwortet werden“.804 Der Verzicht auf konkretisierende Kriterien ist unbefriedigend. Ohne subsumierbare Kriterien wird dem Gesetzgeber ein zu großer Gestaltungsspielraum zugestanden mit der Folge, dass das Vorliegen eines Sachzusammenhangs eher nach Gefühl, nicht aber nach verfassungsdogmatischen Kriterien beurteilt wird. Dies führt zu einer erheblichen Unsicherheit im Umgang mit der Sachzusammenhangsformel: Wenn nur der jeweilige Regelungsgegenstand über den Sachzusammenhang entscheidet, dann hat es der Gesetzgeber selbst in der Hand, durch die entsprechende Formulierung seiner „Konzept-Kompetenz“ den Sachzusammen 798
BVerfGE 7, 29 (38 ff.); 28, 119 (145 ff.); zuletzt erwogen in BVerfGE 138, 261 (274 Rn. 30). BVerfGE 97, 332 (342). 800 BVerfGE 98, 265 (300); so übrigens schon Anschütz, in: Anschütz / Thoma, HDStR, Bd. 1, § 32, S. 367 („Konnexität“). 801 BVerfGE 22, 180 (212 f.); 97, 228 (252); 98, 265 (299). 802 BVerfGE 125, 260 (314). In BVerfGE 109, 190 (215) spricht es von einem „notwendigen Zusammenhang“. 803 BVerfGE 98, 265 (300). 804 BVerfGE 98, 265 (300); 106, 62 (115). 799
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hang nach seinem Belieben auszuweiten. Die vom Ansatz her sicherlich richtig gemeinte Aussage des Gerichts, der Bund dürfe nicht die gesamten Materien der Länder an sich ziehen, scheint den Bund nur in sehr schwachem Ausmaß daran zu hindern, seine eigenen Kompetenzen beliebig aufzufüllen. Weiter reichen die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts in der Betreuungsgeldentscheidung.805 Zwar musste das Gericht in dieser Entscheidung vor allem über die Reichweite von Art. 72 Abs. 2 GG befinden, doch hat es dabei nicht verkannt, dass auch auf der Ebene der Erforderlichkeitsprüfung der Gedanke des Sachzusammenhangs eine Rolle spielen kann. In der Betreuungsgeldentscheidung stand das Gericht vor der Frage, ob das Betreuungsgeld, das also solches nicht im Sinne von Art. 72 Abs. 2 GG erforderlich ist, als Teil eines schon dem Kinderförderungsgesetz zugrundeliegenden Gesamtkonzepts zur Bewältigung der Lebenssituation von Familien mit kleinen Kindern dennoch nach Art. 72 Abs. 2 GG zulässig ist. Das Gericht verneint eine solche Verknüpfung. Will der Bundesgesetzgeber verschiedene Arten von Leistungen der öffentlichen Fürsorge begründen, so müsse jede Fürsorgeleistung für sich genommen den Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG genügen.806 Eine Erstreckung der Erforderlichkeit von der einen Regelung auf die andere auf Grundlage eines „untrennbaren Konzepts“ lehnt das Bundesverfassungsgericht ab. Das Bundesverfassungsgericht lässt offen, ob solche Fälle auf dem Gebiet der öffentlichen Fürsorge überhaupt denkbar wären. Jedenfalls benennt das Bundesverfassungsgericht die spezifischen Voraussetzungen für eine solche Erstreckung und sieht darin strukturelle Parallelen zum Sachzusammenhang: „Jedenfalls müssten die Instrumente dafür objektiv in einem sachlichen Unteilbarkeitsverhältnis stehen, so dass das für sich genommen nach Art. 72 Abs. 2 GG nicht erforderliche Instrument integraler Bestandteil des Gesamtkonzepts wäre und sein Herausbrechen die Tragfähigkeit der Gesamtkonstruktion gefährdete (vgl. BVerfGE 106, 62 ; 113, 167 ). Insofern kann mit Blick auf die Erforderlichkeit bundesgesetzlicher Regelung nach Art. 72 Abs. 2 GG nichts anderes gelten als für die ungeschriebene Bundeskompetenz kraft Sachzusammenhangs.“807
Aus diesem Grund führt das Gericht aus, dass bloße Zweckmäßigkeitserwägungen nicht genügten, um einen Zusammenhang herzustellen.808 Eine Erstreckung im Sinne von Art. 72 Abs. 2 GG auf eine Regelung der öffentlichen Fürsorge „wäre danach allenfalls dann denkbar, wenn diese unabtrennbarer Bestandteil einer Regelung wäre, die ihrerseits die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG erfüllt.809 Mit diesen Ausführungen konkretisiert das Bundesverfassungsgericht nicht nur die Reichweite der Erforderlichkeitsklausel, sondern zugleich auch die Voraus 805
BVerfGE 140, 65 (92 f. Rn. 60). BVerfGE 140, 65 (91 f. Rn. 58). 807 BVerfGE 140, 65 (92 f. Rn. 60). 808 Das entspricht der ständigen Rechtsprechung seit BVerfGE 3, 407 (421). 809 BVerfGE 140, 65 (92 Rn. 60). 806
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
setzungen des Sachzusammenhangs. Unerlässlichkeit setzt danach voraus, dass die fremde Materie integraler Bestandteil des Gesamtkonzepts ist und sein Herausbrechen die Tragfähigkeit der Gesamtkonzeption gefährden würde. Mit dieser Umschreibung kommt das Bundesverfassungsgericht der Sache näher. Unerlässlichkeit setzt also insofern einen zwingenden Konnex voraus, dass die Regelung der Fremdmaterie notwendige Bedingung ist, damit der Gesetzgeber zumindest einen Ausschnitt seiner ihm zugewiesenen Kompetenz effektiv regeln kann.810 Der Sachzusammenhang wird anhand des Konzepts des Gesetzgebers bewertet und nur dann bejaht, wenn ohne die Fremdregelung das Konzept des Gesetzgebers nicht sinnvoll und wirksam umgesetzt werden könnte. Der Sachzusammenhang ist somit ein Mittel zur konzeptionellen Zielerreichung. Der Sachzusammenhang verknüpft somit die Fremdregelung mit der Sachregelung in einem Junktim („ohne das eine geht das ganze andere nicht“). Die Unerlässlichkeit lässt sich anhand folgender Kriterien näher konkretisieren: – Unerlässlichkeit liegt vor, wenn das Herausbrechen der Fremdmaterie die Gesamtkonstruktion des legislativen Konzepts als solches gefährden würde. – Das ist insbesondere der Fall, wenn das Konzept seine Tragfähigkeit verlöre, wenn die Regelung der Fremdmaterie entfiele. Der Sachzusammenhang lässt sich somit über eine Negativerwägung feststellen: Angenommen, die Fremdmaterie entfiele, wären die Sachregelungen ohne die Fremdregelungen im Hinblick auf das Ziel des Gesetzgebers noch wirksam und effektiv? (3) Akzessorietät und punktueller Bezug Allerdings kann es mit dem Verweis auf die Junktimfunktion des Sachzusammenhangs nicht sein Bewenden haben. Das Kriterium des Junktims beleuchtet zunächst nur die Perspektive desjenigen Kompetenzträgers, der sein legislatives Konzept durchsetzen möchte. Reduzierte man das Kriterium der Unerlässlichkeit aber ausschließlich auf dessen Konzeptverwirklichung, so könnte er seine Konzepte beliebig weit fassen und unter Begründung der Notwendigkeit des Übergriffs seine Kompetenzen übermäßig ausdehnen; vielleicht wäre ihm sogar der Weg zu einer vollständigen „Kompetenz-Kompetenz“ geebnet.811 Der Sachzusammenhang darf deshalb nicht einseitig aus der Perspektive des handelnden Kompetenzträgers bestimmt werden, es müssen zugleich weitere Schutzvorkehrungen getroffen werden, 810 Wipfelder, DVBL 1982, 477 (482) weist treffend darauf hin, dass eine wesensmäßige Abhängigkeit erforderlich ist. 811 So der Vorwurf der abweichenden Meinung der Richter Papier, Graßhof und Haas zum Urteil des Ersten Senats zum bayerischen Schwangerenhilfeergänzungsgesetz in: BVerfGE 98, 265 (347).
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um zu verhindern, dass die Zuständigkeiten des anderen Verbands ausgehöhlt werden. Deshalb müssen der Junktimfunktion weitere Sub-Kriterien für die Begriffsbestimmung der Unerlässlichkeit an die Seite gestellt werden. Dazu empfehlen sich die Kriterien der Akzessorietät (1) sowie des punktuellen Bezugs (2): (1) Mit dem Kriterium der Akzessorietät des Sachzusammenhangs812 ist die Abhängigkeit der Fremdregelung vom Bestehen der Sachregelung gemeint. Die über den Sachzusammenhang zuzuordnende Fremdregelung bedarf zwingend einer an sich wirksamen Sachregelung; sie ist in ihrem Bestand auch von dem Schicksal der Sachregelung abhängig.813 Wird also beispielsweise die Sachregelung aufgehoben, so entfällt auch der Konnex zur Sachmaterie. Auch kann kein Sachzusammenhang begründet werden, wenn die Sachregelung bzw. Sachmaterie noch gar nicht beschlossen, sondern nur in Aussicht gestellt wurde. (2) Indem der Sachzusammenhang nur zu einer akzessorischen Inanspruchnahme der Fremdregelung ermächtigt, verdeutlicht sich eine weitere Voraussetzung, die vor allem den Sachzusammenhang in seinen Auswirkungen begrenzt: der punktuelle Bezug. Auch vor dem Hintergrund, dass es dem Bundesverfassungsgericht um die Schonung der Länderzuständigkeiten geht, ist das Erfordernis der Unerlässlichkeit ernst zu nehmen. Ein Sachzusammenhang ist daher nur zu rechtfertigen, wenn der Bundesgesetzgeber punktuell Materien mitregelt, die eigentlich in die Länderzuständigkeiten fallen.814 Die Konstruktion findet ihre Grenze, wenn die Fremdregelung für die Tragfähigkeit der Bundesregelung nicht (mehr) notwendig ist. Außerdem bedeutet punktuell, dass die Fremdregelung im Rahmen des Konzepts des Bundesgesetzgebers keine völlig von der Sachregelung losgelöste eigenständige Bedeutung erlangen darf. Die Fremdregelung dient nur der Absicherung der Wirksamkeit der Sachregelung. Daraus folgt, dass die Sachregelungen den qualitativen (nicht notwendigerweise quantitativen) Schwerpunkt des Konzepts steuern815, während die Fremdmaterien nur unterstützend wirken und sich darauf beschränken, die Wirksamkeit des sachgesetzlichen Konzepts abzusichern. Der punktuelle Bezug des Sachzusammenhangs verwehrt es dem Bundesgesetzgeber, über die Ausdehnung seiner Konzepte versteckte Ländergesetzgebung zu verfolgen und somit die Zuständigkeiten der Länder auszuhöhlen. Aus diesem Grund hat das Bundesverfassungsgericht dem Bund etwa auch die Gründung eines eigenen Rundfunkunternehmens versagt, weil die gesetzlichen 812
Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 33. BVerfGE 26, 246 (257). 814 BVerfGE 98, 265 (347); vgl. auch Butzer, NZS 2005, 344 (348); Rozek, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG Art. 70 Abs. 1 Rn. 45; Uhle, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 70 Rn. 68. 815 BVerfGE 106, 62 (119). Das klingt auch an bei Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 45; ähnlich auch Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 46: „keine substanzielle Erweiterung der Hauptmaterie“; Ehlers, Jura 2000, 323 (324): „ihr Gewicht nach nicht bestimmend sein“; den Gedanken des Schwerpunkts als Kriterium für den Sachzusammenhang stellt Cremer, ZG 2005, 29 (35 ff.) in Frage. Ausführlich zum Kriterium des Schwerpunkts Drittes Kapitel II. 2. sowie Drittes Kapitel III. 813
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Regelungen im Schwerpunkt nicht das Fernmeldewesen (Art. 73 Nr. 7 GG a. F.), sondern die programmatische Seite der Rundfunksendungen betreffen würden, die jedoch in die Zuständigkeit der Länder fällt.816 Außerdem wird der Sachzusammenhang auch dann nicht mehr punktuell wirken, wenn die Fremdregelungen generell genutzt werden, um aus der Addition von Sachregelung und Fremdregelung eine gänzlich neue „Gesamtmaterie“ herzuleiten. Hätte der Verfassungsgeber eine derartige Neubegründung eines Rechtsgebiets gewollt, so hätte er die entsprechende Materie in den Kompetenzkatalog aufgenommen.817 Versteht man den Sachzusammenhang nur als punktuelle Inanspruchnahme, dann minimieren sich auch die Konflikte zu den Ländern, weil ihnen auch künftig ein weiter Spielraum verbleibt, ihre eigenen ausschließlichen Zuständigkeiten eigenverantwortlich zu regeln. Allenfalls dann, wenn die Länder auf Grundlage ihrer eigenen Zuständigkeiten die Konzepte des Bundesgesetzgebers berichtigen, modifizieren oder gar vereiteln wollen, könnten sich Normkonflikte ergeben.818 dd) Gründe der Unerlässlichkeit Der Sachzusammenhang geht davon aus, dass der Gesetzgeber ein gesetzgeberisches Konzept verwirklichen möchte, wofür er zur Umsetzung verschiedene Kompetenznormen benötigt. Seine Regelungen liegen somit quer zwischen verschiedenen Kompetenztiteln. Grundsätzlich verbietet der Modus der Kompetenzverteilung eine Ausdehnung auf fremde Kompetenztitel. Allerdings erlaubt der Sachzusammenhang zumindest eine punktuelle Ausdehnung auf fremde Materien, wenn dies zur Verwirklichung seines Konzepts unerlässlich ist. Die Gründe für diese Unerlässlichkeit können vielfältiger Natur sein. Praktisch dürften sich drei Argumentationsmöglichkeiten herauskristallisieren, die eine Berufung auf den Sachzusammenhang für möglich erscheinen lassen. – Übergriff unerlässlich, um an eine (neue) Lebenswirklichkeit anzuknüpfen, – Übergriff unerlässlich, weil sonst das Konzept „nicht aufgeht“, also nicht effektiv geregelt werden kann819, – Übergriff unerlässlich, weil anderenfalls das Konzept des Gesetzgebers nicht verfassungsgemäß, insbesondere grundrechtskonform ausgestaltet werden kann.
816 BVerfGE 12, 205 (237). Darüber hinaus scheiterte das Vorhaben des Bundes auch am Kriterium der Unerlässlichkeit, weil „Sendetechnik und Veranstaltung von Rundfunksendungen Sachbereiche sind, die sich trennen und gesondert regeln lassen“. 817 In diesem Zusammenhang Erbguth, DVBl 1988, 317 (322). 818 Dazu Viertes Kapitel III. 819 Auf diesen Gesichtspunkt weist Hanschel, Konfliktlösung im Bundesstaat, S. 191 hin: „Die Begründung verdeutlicht, dass es letztlich um Effektivitätsfragen geht“; so auch schon Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 430.
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
233
Die hier aufgezeigten Möglichkeiten sind nur typologisch zu verstehen. Sie sind lediglich die Motive eines Sachzusammenhangs, nicht aber ihre Legitimationen. Dass etwa das Ziel einer effektiven Regelung der politische Hintergrund für einen Sachzusammenhang sein kann, sagt noch nichts über seine Zulässigkeit aus. Zu subsumieren sind die Merkmale der Unerlässlichkeit; die bloße Effektivität genügt nicht zur Begründung eines Sachzusammenhangs. Oft legitimiert nicht ein einziger Argumentationstopos den Sachzusammenhang; nicht selten ergibt erst die Zusammenschau mehrerer Argumente die Unerlässlichkeit. Dennoch ist es sinnvoll, die Tragfähigkeit derartiger Argumente näher zu untersuchen. (1) Rückanknüpfung an Lebenswirklichkeit Ein Sachzusammenhang kann sich ergeben, wenn der Gesetzgeber auf eine Veränderung der Lebenswirklichkeit reagieren möchte, sich diese Lebenswirklichkeit aber nicht passgenau in das bestehende Kompetenzschema einfügt. Der Sachzusammenhang ermöglicht es dem Gesetzgeber, auf faktische Veränderungen unter Einbeziehung einer an und für sich fremden Materie zu antworten. Einen solchen Sachzusammenhang nahm das Bundesverfassungsgericht in der Altenpflege-Entscheidung für die ganzheitliche Tätigkeit des Altenpflegers an. Der Gesetzgeber wollte im Altenpflegegesetz ein ganzheitliches Konzept verwirklichen, das medizinisch-pflegerische und sozial-pflegerische Tätigkeiten verbinden sollte. Für die Festlegung des Berufsbildes des Altenpflegers konnte sich der Bundesgesetzgeber auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG berufen, der ihm neben der Zuständigkeit für die Zulassung zu einem Heilberuf auch die Befugnis vermittelt, die Ausrichtung des Berufs des Altenpflegers gesetzgeberisch festzulegen. Dazu verwies das Bundesverfassungsgericht vor allem auf die in § 3 AltPflG niedergelegten Ausbildungsziele. Das Problem war nun, dass Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG entsprechend der historischen Herkunft der Norm820 nur solche Tätigkeiten umfasst, die medizinisch-pflegerischer Herkunft sind und somit einen heilkundlichen Schwerpunkt aufweisen. Sozial-pflegerische Elemente (z. B. betreuende und beratende Tätigkeiten) sind hingegen nicht von Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG erfasst. Das Bundesverfassungsgericht stellte jedoch fest, dass sich der Gesetzgeber bei der Fassung des Altenpflegegesetzes für einen ganzheitlichen Ansatz entschieden hatte, weil die „Unterscheidung von sozial-pflegerischen und medizinisch-pflegerischen Tätigkeiten zunehmend durch ein ganzheitliches Pflegeverständnis verdrängt [werde] und sich die Berufsbilder zwangsläufig aufeinander zu beweg[t]en“821. Dieses ganzheitliche Konzept legitimiert das Bundesverfassungsgericht im Wege eines Sachzusammenhangs und nutzt dazu die schon im Baurechtsgutachten822 formulierten Kriterien. Auf 820
Dazu schon unter Zweiter Teil V. 5. c) (cc) (2). BVerfGE 106, 62 (114). 822 BVerfGE 3, 407 (421). 821
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
sehr ausführliche Art und Weise begründet das Bundesverfassungsgericht, weshalb es für das Konzept des Gesetzgebers zwingend notwendig ist, auch sozialpflegerische Elemente zu integrieren. Dabei nimmt das Bundesverfassungsgericht eine Unerlässlichkeit an, indem es für das Berufsbild des Altenpflegers einen untrennbaren Zusammenhang zwischen heilkundlichen und sozial-pflegerischen Aufgaben erblickt823 und zugleich die Abgrenzung nach dem Schwerpunkt vornimmt.824 Das Bundesverfassungsgericht sieht darüber hinaus, dass nur punktuelle, den ganzheitlichen Ansatz stützende Regelungen einen Sachzusammenhang ermöglichen. Ferner führt das Bundesverfassungsgericht eine weitere Anforderung für den Sachzusammenhang ein. Neben einigen vor allem grundrechtlichen Determinanten, die an dieser Stelle nicht weiter interessieren sollen, stellt das Bundesverfassungsgericht vor allem eine qualifizierte Willkürgrenze auf. Gesetzliche Festlegungen zum Berufsbild müssen danach dem Sachverhalt, den sie erfassen sollen, und seinen relevanten Veränderungen gerecht werden; „sie dürfen der Wirklichkeit nicht willkürlich eine Regelung aufzwingen […], etwa um die Gesetzgebungskompetenz der Länder auszuschließen“.825 Hierzu verweist das Bundesverfassungsgericht unter anderem auf die Erkenntnisse der Altersforschung sowie auf die faktische Situation der Altenpflege.826 Aufgrund der Veränderung der Altersstruktur in der Gesellschaft könne eine Altenpflege nicht mehr von der Krankenpflege unterschieden werden. Zwar sei es theoretisch denkbar, den Beruf einerseits in eine bundeseinheitliche Altenkrankenpflege und in eine länderbefugte Altensozialpflege zu trennen, dies würde aber dem Stand der Wissenschaft sowie dem Ziel des Gesetzgebers, in gleicher Weise qualifiziertes Personal für alle Bereiche der Altenpflege zu erlangen, zuwiderlaufen.827 Diese Grenze, die das Bundesverfassungsgericht für die Festlegung neuer Berufsbilder festsetzt, lässt sich ohne Weiteres verallgemeinern. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts genügt es nicht, dass der Gesetzgeber sein Konzept möglichst weit fasst und den Übergriff auf die Zuständigkeiten der Länder dadurch zu legitimieren versucht, dass die hinzugezogenen Fremdregelungen notwendig sind, um das weit verstandene Konzept des Gesetzgebers zu stützen. Es geht ihm also nicht um eine subjektiv empfundene Unerlässlichkeit, sondern um normative Unerlässlichkeit. Eine übergreifende Kompetenzausdehnung mittels einer „Konzept-Kompetenz“ findet somit ihren Grund, aber auch ihre Grenze in den Anforderungen der Wirklichkeit. Ein vom Gesetzgeber verfolgter ganzheitlicher Ansatz darf nur punktuell in die Zuständigkeiten der Länder übergreifen, wenn der Übergriff selbst unerlässlich ist, um die Regelungen an „veränderte Umstände 823
BVerfGE 106, 62 (115). BVerfGE 106, 62 (119). 825 BVerfGE 106, 62 (116). 826 BVerfGE 106, 62 (116 f.). 827 BVerfGE 106, 62 (117 f.). 824
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
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anzupassen“828. Damit der Sachzusammenhang gelingt, muss der Gesetzgeber das Vorliegen dieser Umstände hinreichend deutlich machen können. Diese Vorgehensweise scheint Ähnlichkeiten zur Konstruktion des Verfassungswandels aufzuweisen.829 Auch beim Verfassungswandel erfolgt eine Normerweiterung aufgrund faktisch geänderter Situationen, die ebenso wie der Sachzusammenhang zur Erweiterung eines herkömmlichen Rechtsverständnisses führt. Der Sachzusammenhang lässt sich somit durchaus als ein Unterfall des Verfassungswandels beschreiben, er teilt aber nicht dessen verfassungsrechtliche Bedenken. Dort wo der Verfassungswandel zu einem ungefilterten Hineinströmen des Faktischen in das Normative führt830, ist der Sachzusammenhang auf enge Voraussetzungen begrenzt und in seiner Anwendung begründungsbedürftig. Das Bundesverfassungsgericht unterwirft dem Sachzusammenhang eine qualifizierte Kontrolle. Gesetzgeberische Konzeptionen dürfen nur dann auf Fremdmaterien übergreifen, wenn Lebenswirklichkeiten dies fordern. Ausgeschlossen ist somit die missbräuchliche Ausnutzung des Sachzusammenhangs, etwa damit der Bund seine eigenen Befugnisse erweitern oder – in Umgehung einer Verfassungsänderung – landesgesetzliche Regelungen korrigieren und eigene anstelle der Länder treffen kann. Diese „Wirklichkeitskontrolle“ fließt damit in das Prüfprogramm des Sachzusammenhangs ein. Es muss für den Gesetzgeber unerlässlich sein, die Entwicklungen der Lebenswirklichkeit aufzugreifen, weil nur so die entsprechende Materie unter der Kompetenznorm sinnvoll geregelt werden kann. Verweigerte man dem zuständigen Kompetenzträger die Berufung auf den Sachzusammenhang, so könnte er das Konzept, das er umzusetzen versucht, nicht verwirklichen. Das Herausbrechen der Fremdmaterie würde die Tragfähigkeit des Konzepts und somit der Regelung der Sachmaterie insgesamt gefährden. Dies ist ein zulässiger Grund, der die für den Sachzusammenhang erforderliche Unerlässlichkeit begründet. Kritisch erscheint allenfalls die Annahme des Bundesverfassungsgerichts, dass es lediglich um eine „Willkürkontrolle“ geht. Der Ausnahmecharakter des Sachzusammenhangs in der Kompetenzsystematik spricht gegen eine Beschränkung auf die bloße „Willkür“. Würde das Bundesverfassungsgericht sich auf eine Willkür 828
BVerfGE 106, 62 (117). Zuletzt Becker / Kersten, AöR 141 (2016) 1 ff.; Kirste, in: Bruger / Gröschner / Lemncke, Faktizität und Normativität, S. 209 ff.; vgl. auch Blankenagel, Tradition und Verfassung, S. 196 ff.; Böckenförde, in: FS Lerche, 3 ff.; Bryde, Verfassungsentwicklung, passim, besonders S. 254 ff.; Hesse, in FS Scheuner, S. 123 ff.; Jestaedt in: FS Isensee, S. 192 ff.; Schenke, AöR 103 (1978), 566 (585 ff.); Voßkuhle, Der Staat 43 (2004), 450 ff.; Walter, AöR 125 (2000), 517 ff. 830 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 338; ders., Verfassungsänderung und Verfassungswandel, S. 72; dazu Kirste, in: Brugger / Gröschner / Lembcke, Faktizität und Normativität, S. 227 ff. Die Rechtfertigung der Figur des Verfassungswandels ist im Übrigen davon abhängig, welche Erscheinungsformen man hierunter fasst, dazu grundlegend Böckenförde, in: FS Lerche, 3 ff. Das Bundesverfassungsgericht tendiert in jüngerer Zeit eher dazu, den Verfassungswandel nur noch als Interpretationsproblem zu begreifen, so dass Durchbrechungen des Wortlauts nicht möglich sind, vgl. BVerfGE 142, 25 (65 Rn. 110). 829
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
kontrolle beschränken, so überließe es dem Gesetzgeber einen zu weitgehenden Gestaltungsspielraum bei der Ausgestaltung seiner Konzepte. Er könnte Sachzusammenhänge „erfinden“, solange sie nur nicht willkürlich sind. Mit Rücksicht auf die betroffenen Zuständigkeiten des jeweils anderen Kompetenzträgers ist stattdessen zu fordern, dass die Lebenswirklichkeiten, die zum Anlass des Sachzusammenhangs erklärt werden, auch empirisch erfassbar sind. Ob sich die Lebenswirklichkeiten tatsächlich verändert haben, unterliegt deshalb der vollen Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht. Es findet somit keine „Missbrauchskontrolle“, sondern eine „Wirklichkeitskontrolle“ statt. Lediglich die Entscheidung, welches Konzept der Gesetzgeber wählt, um seine Staatsaufgaben zu erfüllen, unterliegt dem Einschätzungsspielraum und somit einer Willkürgrenze. Für die Festlegung neuer Berufsbilder wie der Altenpflege entfällt die Unerlässlichkeit jedenfalls dann, wenn der Gesetzgeber neue Berufsbilder „erfindet“, die sachlich und faktisch nicht begründbar sind. Anderenfalls könnte er mithilfe des Sachzusammenhangs ständig neue Berufsbilder festlegen und sich so Zutritt zu Bereichen verschaffen, die den Ländern vorbehalten sind.831 Vor diesem Hintergrund durfte der Bundesgesetzgeber den Beruf des Altenpflegers ganzheitlich ausgestalten. Eine Einbeziehung des Altenpflegehelfers sei ihm nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts hingegen verwehrt, auch deshalb, weil die „Berufe in der Altenpflege und der Altenpflegehilfe nicht sachnotwendig zusammengehören“.832 (2) Grundrechtsschutz und Unerlässlichkeit: Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum bayerischen Schwangerenhilfeergänzungsgesetz (BVerfGE 98, 265) (a) Grundrechtliche Unerlässlichkeit und Relativität des Kompetenzrechts In anderen Entscheidungen griff das Bundesverfassungsgericht auf eine andere Argumentation zurück. Ein Sachzusammenhang könne angenommen werden, wenn die Regelung einer Fremdmaterie notwendig ist, um die Grundrechtskonformität einer gesetzlichen Konzeption sicherzustellen. An eine solche Argumentation knüpfte das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zur nachträglichen Sicherungsverwahrung833 und in der Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung834 an. Eine besonders starke Betonung einer grundrechtlichen Unerlässlichkeit findet sich vor allem in dem Urteil des Ersten Senats zum bayerischen Schwangerenhilfeergänzungsgesetz wieder.835 Unter Berücksichtigung dieses Urteils soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, inwieweit grundrechtliche Erwägungen einen Sachzusammenhang begründen können. 831
Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 187. BVerfGE 106, 62 (124). 833 BVerfGE 109, 190 (224); krit. Gärditz, BayVbl 2006, 231 (234). 834 BVerfGE 125, 260 (314 f.). 835 BVerfGE 98, 265 (300 ff.). 832
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
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Vor dem Hintergrund der Relativität des Kompetenzrechts scheint es unangebracht zu sein, wollte man Grundrechte für die Kompetenzbegründung heranziehen.836 Die Kompetenzordnung des Grundgesetzes befasst sich nur mit der Innenwirkung zwischen Bundes- und Länderkompetenzen. Davon ist das StaatBürger-Verhältnis abzugrenzen. Wenn es darum geht, eine Staatsaufgabe zu bewältigen, dann stellt sich zunächst die Frage, welcher Kompetenzträger hierfür zuständig ist. Erst anschließend muss geklärt werden, ob die Regelung materiell verfassungskonform und insbesondere grundrechtskonform ist. Mit anderen Worten: „Selbst für eine unverhältnismäßige Regelung gibt es zunächst einen zuständigen Gesetzgeber.“837 Dies gilt im Übrigen auch für die Wahrnehmung von Schutzpflichten. Wer Adressat des Untermaßverbotes ist, bestimmt sich danach, wer nach den Art. 30, 70 ff. und 83 ff. GG für die schutzbegründenden Maßnahmen zuständig ist. Diese Relativität hat das Bundesverfassungsgericht in den KalkarEntscheidungen bestätigt.838 Insbesondere haben auch die Länder gegenüber dem Bund kein einforderbares Recht, dass dieser einen Verstoß gegen Grundrechtsbestimmungen unterlässt. Die Grundrechte – dies wurde schon dargestellt839 – können die Auslegung von Kompetenztiteln nicht in eine bestimmte Richtung lenken. Unzulässig sind deshalb solche Argumente, die aus der Notwendigkeit, ein bestimmtes grundrechtliches Schutzniveau zu erreichen, Schlussfolgerungen für die Kompetenzinterpretation ziehen. Dies liegt auch darin begründet, dass die Kompetenzordnung mit ihrer vertikal gewaltenteilenden Wirkung auch der Mäßigung der staatlichen Gewalt und somit mittelbar dem Grundrechtsschutz selbst zu dienen bestimmt ist.840 Dieser mäßigende Effekt verlöre seine Wirkung, erlaubte man es dem Bundesgesetzgeber, übergreifende Konzepte zu entwerfen und auf fremde Kompetenzbereiche überzugreifen. (b) Der Sachverhalt Aus diesen Gründen erscheint ein Sachzusammenhang aus Gründen des Grundrechtsschutzes zunächst zweifelhaft. Gleichwohl nahm das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zum bayerischen Schwangerenhilfeergänzungsgesetz einen solchen Sachzusammenhang an. Das Urteil des Senats betraf verschiedene Gesetzesverfassungsbeschwerden einiger bayerischer Ärzte gegen Regelungen des bayerischen Schwangerenhilfeergänzungsgesetzes (BaySchwHEG).841 Es ging unter anderem um Einrichtungen, in 836
Erstes Kapitel V. 4. Gärditz, BayVBl 2006, 231 (234). 838 BVerfGE 61, 82 (103). Vgl. auch zum Verhältnis von Wahrnehmungskompetenz und Sachkompetenz BVerfGE 81, 310 (333 f.). 839 Erstes Kapitel V. 4. 840 Schröder, Kriterien und Grenzen einer Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 179. 841 Bayerisches Gesetz vom 9. August 1996 (BayGVBl. S. 328). 837
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
denen Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden, sowie die Voraussetzungen der Erlaubniserteilung (Art. 2, 3 BaySchwHEG). Art. 5 Abs. 1 BaySchwHEG normierte, dass Schwangerschaftsabbrüche nur von Ärzten mit fachärztlicher Anerkennung auf dem Gebiet der Frauenheilkunde und Gynakologie oder unter deren Aufsicht vorgenommen werden dürfen, die sich in Weiterbildung auf diesem Fach befinden. Der Abs. 2 des Artikels bestimmte eine einnahmebezogene Quotenregelung. Danach durften die Einnahmen der Einrichtung aus Schwangerschaftsabbrüchen, für die keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung besteht, ein Viertel der aus der gesamten Tätigkeit der Einrichtung erzielten Einnahmen nicht übersteigen. Absichernd statuierte das BaySchwHEG Straftatbestände. Nach Art. 9 Abs. 1 BaySchwHEG war der Schwangerschaftsabbruch ohne Erlaubnis strafbar, soweit die Tat nicht schon nach § 218 StGB strafbar ist. Art. 9 Abs. 2 BaySchwHEG bestrafte auch den Verstoß gegen den Facharztvorbehalt nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 BaySchwHEG. Der Gesetzesentwurf verwies darauf, der Bundesgesetzgeber sei der grundrechtlichen Schutzpflicht für das ungeborene Leben nicht umfassend nachgekommen, so dass der Landesgesetzgeber habe tätig werden müssen.842 Das Abtreibungsrecht novellierte der Bundesgesetzgeber im Jahr 1995 neu, wobei er Änderungen im StGB, im Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG)843, in der Approbationsordnung für Ärzte, der Gebührenordnung für Ärzte sowie im SGB V vornahm. Das Konzept des Gesetzgebers war dadurch geprägt, unter bestimmten Voraussetzungen die Straffreiheit eines Schwangerschaftsabbruchs nach § 218a StGB festzulegen. Nach den Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts bestand indessen die Verpflichtung des Staates aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, das ungeborene Leben wirksam zu schützen. Der Bundesgesetzgeber musste deshalb zur Gewährung von Straffreiheit ein Konzept wählen, das den strafrecht lichen Schutz durch ein Konzept des Schutzes durch Beratung ergänzt.844 Voraussetzung war nach § 218a StGB, dass seit der Empfängnis nicht mehr als 12 Wochen vergangen sein mussten, der Abbruch von einem Arzt vorgenommen wurde, die Schwangere den Abbruch verlangt und eine Beratung sowie eine Bescheinigung nach (§ 219 StGB) vorlag.845 Die Beratungsregelung aus § 219 wurde ferner durch § 5 SchKG ergänzt, der weitere berufsrechtliche Regelungen enthielt. Zusätzlich sah das SchKG in den §§ 13 und 14 Vorgaben zu den zulässigen stationären Einrichtungen sowie begleitende Bußgeldvorschriften vor. Das Bundesverfassungsgericht ging bezüglich dieser Vorschriften von einer konkurrierenden Kompetenz für das Strafrecht aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG aus, 842
LTDrucks 13/4961, S. 1, 11. Schwangeren- und Familienhilfegesetz (SFHÄndG) vom 21. August 1995 (BGBl. I, S. 1050). Davor trug das Gesetz die Bezeichnung Gesetz über Aufklärung, Verhütung, Familienplanung und Beratung, Gesetz vom 28. Juli 1992 (BGBl. I, S. 1398). 844 BVerfGE 39, 1; 88, 203 (251 ff.). 845 Außerdem war der Straftatbestand nach § 218a II und III auch bei einer medizinischen oder kriminologischen Indikation nicht verwirklicht. 843
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
239
wobei aufgrund des grundrechtlichen Lebensschutzes „punktuell die Befugnis zur bundesgesetzlichen Regelung kraft Sachzusammenhangs“ hinzutrete.846 Die interessante Konstellation der Entscheidung lag aber nicht darin, die Verfassungsmäßigkeit der Bundesregelungen zu bestätigen. Gegenstand der Entscheidung waren vielmehr die ergänzenden bayerischen Regelungen, die vor allem die ausschließliche Kompetenz zur Regelung des ärztlichen Berufsrechts sowie teilweise auch die konkurrierende Zuständigkeit für das Strafrecht betrafen. Einige der bayerischen Regelungen seien nämlich schon deshalb formell verfassungswidrig, weil der Bund abschließend und teilweise auch stillschweigend („absichtsvolles Unterlassen einer Regelung“847) von seiner Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs Gebrauch gemacht hatte. Der Sachzusammenhang wurde in dieser Konstellation also nicht nur zur Begründung einer Kompetenz, sondern vielmehr zur Begründung einer Sperrwirkung zu Lasten der Länder im Sinne von Art. 72 Abs. 1 GG genutzt.848 Die Entscheidung wirft drei Fragen auf: Darf der Bundesgesetzgeber mittels des Sachzusammenhangs und wegen grundrechtlichen Anforderungen seine Konzepte auf fremde Materien ausdehnen? Begründet schon der absichtsvolle Regelungsverzicht einen Sachzusammenhang? Und drittens: Unter welchen Voraussetzungen führt der Gebrauch des Sachzusammenhangs zu einer Sperrwirkung gegenüber den Zuständigkeiten der Länder? Diese letzte Frage soll an dieser Stelle nicht beantwortet werden, sondern wird erst im Zusammenhang mit der Bewältigung von Normkonflikten einer näheren Prüfung unterzogen.849 (c) Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts Um zu begründen, dass einige der bayerischen Regelungen aufgrund einer bundesrechtlichen Sperrwirkung formell verfassungswidrig waren, musste das Bundesverfassungsgericht in einem ersten Schritt die Kompetenz des Bundes für das gewählte Abtreibungsrecht bestimmen. Zunächst erkennt das Bundesverfassungsgericht, dass die Beratungsregelungen sowie die Vorgaben zu den stationären Einrichtungen grundsätzlich das ärztliche Berufsrecht betreffen, das in die ausschließliche Zuständigkeit der Länder fällt.850 Gleichwohl verknüpft das Bundesverfassungsgericht diese Regelungen über die Figur des Sachzusammenhangs mit der Kompetenz für das Strafrecht. Eine Unerlässlichkeit sei vor dem Hintergrund des Konzepts des Bundesgesetzgebers anzuerkennen, weil er auf ein strafrechtlich abgesichertes Konzept des Schutzes durch Beratung setze. Da auch die partielle 846 BVerfGE 98, 265 (301). Ergänzend stellte das Bundesverfassungsgericht auf Art. 74 I Nr. 7, 11, 12 und 19 GG ab, ohne die Tatbestandsvoraussetzungen näher zu subsumieren. 847 BVerfGE 98, 265 (300). 848 Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 205 spricht von einer „NichtKompetenz“. 849 Viertes Kapitel III. 4. d). 850 BVerfGE 98, 265 (303).
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Abschaffung der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs der Schutzpflicht des Staates gegenüber dem ungeborenen Leben aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG standhalten muss, müsse der Bundesgesetzgeber eine „umfassende Lösung verwirklichen, da anderenfalls die bundeseinheitliche Rücknahme strafrechtlichen Schutzes verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen“851 sei. Ausgehend von diesem Konzept führt der Erste Senat aus: „Ein derartiges Konzept und damit die partielle Ersetzung des Strafrechts ließ sich aber nur verwirklichen, wenn dabei punktuell Gesetzgebungskompetenzen in Anspruch genommen werden, die an sich den Ländern zustehen. Denn die Zweckbestimmung dieser Regelungen, den strafrechtlichen Lebensschutz teilweise zu ersetzen, macht sie nicht selber zu Normen des Strafrechts. Dieses aus der Verfassung abgeleitete Junktim zwischen der Zulässigkeit der Aufhebung strafrechtlicher Vorschriften und der gleichzeitigen Normierung eines alternativen Schutzkonzepts für das ungeborene Leben begründet daher eine Bundeskompetenz kraft Sachzusammenhangs für solche Einzelregelungen, die zur Verwirklichung seines Konzepts unerläßlich sind und bei denen auf eine gemeinsame Regelung der Länder nicht gewartet werden kann (BVerfGE 88, 203 [304 f.]).“852
Die Unerlässlichkeit erkennt das Bundesverfassungsgericht darin, dass für die Tragfähigkeit des Konzepts des Bundesgesetzgebers das Absehen von Strafe und die anderweitige Sicherstellung des gebotenen Lebensschutzes sich gegenseitig bedingen.853 Aus der grundrechtlichen Schutzpflicht wird somit die Notwendigkeit von Regelungen im Sachzusammenhang hergeleitet. Der Ausgangspunkt des Arguments ist, dass der Gesetzgeber ein Konzept des Abtreibungsrechts vor Augen hat. Damit er dieses grundrechtskonform umsetzen kann, ist er darauf angewiesen, auf Materien des ärztlichen Berufsrechts zurückzugreifen. Gegen diese Art der Ableitung ist zunächst nichts einzuwenden. Insbesondere wird man noch keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Relativität des Kompetenzrechts annehmen können. Nicht Grundrechte leiten hier die Auslegung in eine bestimmte Richtung, die Schutzpflicht des Staates gegenüber dem ungeborenen Leben wird vielmehr nur genutzt, um die Unerlässlichkeit im Sinne der Sachzusammenhangsformel zu begründen. Der entscheidende Maßstab bestimmt sich weiterhin durch das Kriterium der Unerlässlichkeit, der Grundrechtsschutz wird lediglich als Subsumtionsgesichtspunkt zur Begründung der Unerlässlichkeit verwendet. Insbesondere wäre auch nicht einzusehen, dass einerseits Aspekte der Lebenswirklichkeit, also faktische Gründe, eine Unerlässlichkeit begründen können, andererseits aber eine normative Unerlässlichkeit von vornherein unmöglich erscheinen soll. Ob eine Unerlässlichkeit tatsächlich bestand, ist damit freilich noch nicht gesagt.
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BVerfGE 98, 265 (303). BVerfGE 98, 265 (301 f.). 853 BVerfGE 98, 265 (304). 852
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
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(d) Stellungnahme: Rückführung des Sachzusammenhangs auf seinen punktuellen und akzessorischen Bezug Bei der Diskussion um den Sachzusammenhang sollte nach den einzelnen Regelungen differenziert werden. Weder sollte pauschal ein Sachzusammenhang wegen normativer Unerlässlichkeit abgelehnt, noch darf er pauschal angenommen werden. Das Bundesverfassungsgericht verläuft sich demgegenüber in einer etwas zu einseitigen und fast schon oberflächlichen Subsumtion, indem es einen generellen Sachzusammenhang annimmt und somit alle bundesrechtlichen Regelungen vor dem Hintergrund des Konzepts, das Abtreibungsrecht verfassungskonform auszugestalten, pauschal dem Bundesgesetzgeber zuordnet.854 Der Fehlschluss des Bundesverfassungsgerichts liegt darin, dass es sämtliche Regelungen gesondert auf ihre Unerlässlichkeit hätte überprüfen müssen. Diese Kritik hat der Erste Senat im Grunde selbst provoziert, indem es ungeschriebene Kompetenzen nur in „äußerst engen Grenzen“ anerkennt855, den Sachzusammenhang nur im Hinblick auf ein punktuelles Mitregeln von Fremdmaterien zulässt856 und jedenfalls die „umfassende Regelung eines den Ländern vorbehaltenen Bereichs“ verbietet857. Mit diesen Maßstäben ist es unvereinbar, den Sachzusammenhang nur anhand eines Globalkonzepts auszurichten. Die abweichende Meinung der Richter Di Fabio, Graßhof und Haas kritisiert in diesem Zusammenhang mit Recht, die Senatsmehrheit habe es „offenbar der beliebigen Disposition des Bundesgesetzgebers [überlassen], wie weit er nach seiner konzeptionellen Entscheidung eine Mitregelung anderer Kompetenzbereiche für ‚sinnvoll‘ und unerläßlich hält“858. Die Senatsmehrheit gestehe dem Bundesgesetzgeber eine faktische Kompetenz-Kompetenz zu, die es ihm erlaube, die Grenzen des Sachzusammenhangs zu seinen Gunsten zu versetzen.859 Die akzessorische, absichernde und punktuelle Funktion des Sachzusammenhangs lässt es vielmehr notwendig erscheinen, alle Regelungen gesondert auf ihre Unerlässlichkeit im Sinne der hier entwickelten Maßstäbe zu überprüfen. In dogmatischer Hinsicht ist noch ein weiterer Punkt zu kritisieren: Dass die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts Gefahr läuft, in eine Kompetenz-Kompetenz zu münden, ist schon in der dogmatischen Verortung des Sachzusammenhangs vorprogrammiert. Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass sich der Gesetzgeber bei der Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs „auf die Gesetzgebungszuständigkeit aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 und ergänzend auf die Nummern 7, 11, 12 und 19 GG berufen konnte. Dazu trete „punktuell die Befugnis zur bundesgesetzlichen Regelung kraft Sachzusammenhangs“.860 Diese Aussage ist aus zwei Gründen ungenau: Erstens fehlt eine präzise Abgrenzung zwischen den einzelnen Kompe 854
Krit. auch Rüfner, ZG 1999, 366 (369 f.). BVerfGE 98, 265 (299). 856 BVerfGE 98, 265 (302). 857 BVerfGE 98, 265 (300). 858 BVerfGE 98, 265 (349) – abweichende Meinung. 859 BVerfGE 98, 265 (347). 860 BVerfGE 98, 265 (301). 855
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
tenztiteln und eine Aussage über das Verhältnis der Kompetenztitel zueinander. Zweitens wird der Sachzusammenhang nicht klar verortet. Wenn eine Kompetenz kraft Sachzusammenhangs lediglich „hinzutrete“, dann versteht das Bundesverfassungsgericht den Sachzusammenhang nicht als dynamische und teleologische Erweiterung des Strafrechts, sondern als selbstständige Kompetenznorm. Im Gegensatz zur hier vertretenen Auffassung, wonach der Sachzusammenhang akzessorisch zur Regelung einer vom Kompetenztitel umfassten Sachmaterie wirkt, lässt sich der Sachzusammenhang nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts konsequent weiter ausdehnen, weil dieser nicht mehr an einen spezifischen Kompetenztitel anknüpfen muss. Es kommt nicht von ungefähr, dass die eigentlich dem Bund zustehenden Kompetenznormen (vor allem Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) in der Entscheidung zurücktreten und der Sachzusammenhang nur noch aus einem generellen Abtreibungskonzept, nicht aber zur Regelung einer spezifisch strafrechtlichen Materie entwickelt wird. Dieser so weit verstandene Sachzusammenhang ist verfassungswidrig. Der Sachzusammenhang lässt sich – dies wurde bereits begründet – nur als eine der Kompetenznorm stillschweigend mitgeschriebene Befugnis verstehen.861 Deshalb ist es notwendig, jede einzelne Regelung im Hinblick auf das Konzept, ein wirksames Abtreibungsrecht als Strafrecht zu schaffen, gesondert zu prüfen. (aa) Beratungsregelungen Zunächst sind die normierten Beratungsregelungen auf ihre Unerlässlichkeit zu überprüfen. Dies ist für die Pflicht zur Beratung als negatives Tatbestandsmerkmal der Strafbarkeit in § 218a StGB noch nicht notwendig, da diese die Voraussetzung der Strafbarkeit und Straffreiheit eines Schwangerschaftsabbruchs festlegt. Dies zählt zum Begriffskern des Strafrechts.862 Etwas schwieriger zu bestimmen sind die in § 219 StGB und § 5 SchKG normierten Vorgaben zum Ziel, Gegenstand und Ablauf der Beratung. Die Normen adressieren die Tätigkeit des Arztes; ärztliche Berufsregelungen fallen zunächst aber in die ausschließliche Zuständigkeit der Länder. Gleichwohl kann ein Sachzusammenhang angenommen werden. Knüpft man die Rechtsfolge der Straffreiheit an eine Beratung, so wird es in einem zweiten Schritt notwendig, den Ablauf der Beratung zu konkretisieren. Vor dem Hintergrund der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Schutzpflicht für das ungeborene Leben, war dies auch zwingend notwendig. Anderenfalls würde die Nichtregelung der Beratung zu einem grundrechtswidrigen Zustand führen; die Verfassungswidrigkeit würde dann aber die Wirksamkeit des Konzepts des Bundesgesetzgebers insgesamt gefährden. Insofern ist die Mitregelung tatsächlich unerlässlich: Ohne die gleichzeitige Regelung vor allem der Beratungspflichten in § 219 StGB und § 5 SchKG wäre das Konzept, 861
Zweites Kapitel VI. 3. a). So auch Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 188. 862
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
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eine differenzierte Lösung für die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs zu finden, nicht tragfähig gewesen. Indem der Bundesgesetzgeber die Strafbarkeit bzw. die Bedingungen der Straffreiheit tatbestandlich an das Beratungskonzept geknüpft hat, besteht vor dem Hintergrund dieses Konzepts ein Sachzusammenhang.863 Die Beratungsregelungen können somit mit den bereits entwickelten Kriterien zum Sachzusammenhang dem Strafrecht zugeordnet werden. Verallgemeinernd lässt sich also folgende Definition formulieren: Gestaltet eine Regelung, die bei isolierter Betrachtung nicht in den Sachkompetenzbereich fällt (Fremdregelung), einen Tatbestand näher aus, der für den Eintritt einer in den Kompetenzbereich fallenden Rechtsfolge (Sachregelung) integraler Bestandteil ist, dann ist auch diese Fremdregelung unerlässliche Voraussetzung für die Konzeption des Gesetzgebers und fällt per Sachzusammenhang in denselben Kompetenztitel wie die Sachregelung. (bb) Einrichtung zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen Schwieriger zu bestimmen sind aber die Vorgaben zur Zulässigkeit von Einrichtungen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen (§ 13 SchKG). Diese Norm stellt keine weitere tatbestandlich verknüpfte Bedingung für die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs (§ 218a StGB), sondern begründet lediglich ergänzende verwaltungsrechtliche Anforderungen an das Abtreibungsrecht. Hier kann das Erfordernis der Unerlässlichkeit nicht ohne Weiteres angenommen werden. Für die Gewährung der Straffreiheit nach § 218a StGB kommt es nicht darauf an, in welcher Einrichtung der Schwangerschaftsabbruch vorgenommen werden soll. Die Regelung aus § 13 SchKG, die nur solche Einrichtungen zulässt, in der auch die notwendige Nachbehandlung gewährleistet ist, ist somit an und für sich kein integraler Bestandteil für die Gewährung der Straffreiheit. Der Zweite Senat hat jedoch in der zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch deutlich gemacht, dass Regelungen zur Beratung der Schwangeren in einer Not- und Konfliktlage nur dann mit Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG vereinbar sind, wenn die Beratung durch ausreichende staatliche Befugnisse zur Organisation und Beaufsichtigung der Beratungseinrichtungen sichergestellt ist.864 863 Das ist gewissermaßen „typisch“ für die Begründung von Sachzusammenhängen. Wenn beispielsweise die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis (Recht auf Grundlage von Art. 74 I Nr. 4 GG) an die Erfüllung bestimmter Integrationsanforderungen anknüpft (§§ 8 III; § 9 II 1 Nr. 7, 8; 9a II1 Nr. 3, 4 AufenthG), dann ist es in einem zweiten Schritt unerlässlich, zugleich die Voraussetzungen für die Integrationsanforderungen näher zu konkretisieren (§§ 43–45 AufenthG). 864 BVerfGE 88, 203 (302): „Die Regelung der Beratung der Schwangeren in einer Not- und Konfliktlage (§ 219 StGB n. F.) ist schon deshalb verfassungsrechtlich nicht zureichend, weil die nach dem Schutzkonzept erforderliche, auf den Lebensschutz ausgerichtete Beratung nicht durch ausreichende staatliche Befugnisse und Pflichten zur Organisation und Beaufsichtigung der Beratungseinrichtungen sichergestellt ist […]“. Ob diese Annahme zutrifft, kann dahinstehen.
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Umso mehr kommt es an dieser Stelle darauf an, ob das grundrechtliche Untermaßverbot im Hinblick auf den Lebensschutz zusätzliche absichernde (Fremd-) Regelungen erlaubt (ggf. sogar notwendig macht), damit das Konzept des Bundesgesetzgebers, das Abtreibungsrecht verfassungskonform auszugestalten, gelingt. Das für das Bundesverfassungsgericht entscheidende Argument ist dabei, dass der Bund nicht auf das Tätigwerden der Länder warten und vertrauen durfte: „Würde der Bundesgesetzgeber es den Ländern überlassen, die weiteren Bestimmungen des Schutzkonzepts zu treffen, so müsste er das Inkrafttreten der Gesamtregelung davon abhängig machen, dass in allen Ländern die Regelungen ergangen sind.“865 Würde der Bundesgesetzgeber den Strafrechtsschutz einfach aufheben und den Schutz des ungeborenen Lebens einfach den Ländern überlassen, so würde zunächst ein verfassungswidriger Zustand eintreten. (cc) Voraussetzungen und Begründung der Annahme einer „grundrechtlichen Unerlässlichkeit“ im Sinne des Sachzusammenhangs Zunächst ist zu betonen, dass die Pflicht, das grundrechtliche Untermaßverbot zu beachten, keine vorrangige Aufgabe des Bundes, sondern eine Aufgabe ist, die Bund und Länder gemeinsam zu erfüllen haben.866 Eine grundrechtliche Schutzpflicht trifft deshalb nicht den Bund, sondern nur denjenigen Gesetzgeber, der nach den Art. 30, 70 ff. und 83 ff. GG für die entsprechende Materie zuständig ist. Im Hinblick auf einrichtungsbezogene Berufspflichten wären dies die Länder gewesen. Der Erste Senat ließ sich von der Annahme leiten, der Bund habe nicht auf eine gemeinsame Regelung der Länder warten können.867 An dieser Stelle fragt man sich jedoch, weshalb der Bund nicht warten konnte oder vielleicht sogar nicht warten durfte? Das Bundesverfassungsgericht verweist zwar auf die zweite Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch868, um aus der Begründung des Zweiten Senats ein Autoritätsargument zugunsten der grundrechtlichen Unerlässlichkeit abzuleiten. Auf den Zweiten Senat durfte sich der Erste Senat aber gerade nicht berufen, weil der Zweite Senat tatsächlich auf die Option hinwies, dass auch die Länder die erforderlichen gesetzlichen Regelungen treffen können.869 Denkbar wäre nämlich 865
BVerfGE 98, 265 (302). Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 83; vgl. auch BVerfGE 88, 203, LS 1 und LS 2, wonach der Staat Adressat der grundrechtlichen Schutzpflicht ist und nicht nur der Bund. Umfassend zu staatlichen Schutzpflichten Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, passim, besonders S. 252 f.; Stern, Staatsrecht, III/1, S. 728 ff.; 931 ff.; Stern, DÖV 2010, 241 ff. 867 Vgl. BVerfGE 98, 265 (303): „Konzeptionell mußte [Hervorhebung, F. S.], der Bundesgesetzgeber jedoch eine umfassende Lösung verwirklichen, da anderenfalls die bundeseinheitliche Rücknahme strafrechtlichen Schutzes verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen gewesen wäre“. 868 BVerfGE 98, 265 (302) unter Verweis auf BVerfGE 88, 203 (304 f.). 869 BVerfGE 88, 203 (304 f.). Wörtlich hieß es: „Würde es der Bundesgesetzgeber den Ländern überlassen, die organisationsrechtlichen Bestimmungen des Schutzkonzeptes zu treffen, 866
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auch folgende Erwägung: Auch die Länder könnten kraft ihrer eigenen Zuständigkeiten tätig werden, nachdem der Bund angekündigt hat, das Abtreibungsrecht zu reformieren. Durch die gemeinsame Regelung des Komplexes kommt der Staat insgesamt seiner Schutzpflicht für das ungeborene Leben nach. Das Bundesverfassungsgericht meint zwar, es könne nicht auf eine gemeinsame Regelung der Länder gewartet werden870, doch ist das nicht zwingend: Die Länder wirken über den Bundesrat bei der Gesetzgebung im Bund (Art. 76 Abs. 2, 77, 78 GG) mit, so dass sie rechtzeitig über die Konzepte des Bundes informiert werden. Selbst bundeseinheitliche Lösungsmodelle sind mithilfe von länderübergreifenden Kooperationen und insbesondere durch staatsvertragliche Übereinkünfte nicht von vornherein ausgeschlossen. Der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist daher entgegenzuhalten, dass aus einer grundrechtlichen Schutzpflicht nicht zwingend ein Sachzusammenhang folgt. Eine normative Unerlässlichkeit besteht nur, wenn die Fremdregelung integraler Bestandteil für die Tragfähigkeit der Sachregelungen ist, sie akzessorisch und punktuell wirkt und ein rechtzeitiges Tätigwerden der Länder ausgeschlossen ist. Ausgeschlossen ist ein Tätigwerden in zwei Fällen: Entweder der Bund kann wegen der unbedingten Eilbedürftigkeit des Gesetzes nicht auf ein zeitnahes Tätigwerden der Länder warten (1) oder mindestens ein Land hat die Bereitschaft verneint, grundrechtskonform tätig zu werden (2). (1) Im Hinblick auf das bayerische Schwangerenhilfeergänzungsgesetz wäre allenfalls an den Fall der Eilbedürftigkeit zu denken gewesen. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht nicht näher begründet, weshalb aufgrund einer besonderen Eilbedürftigkeit ein bundesgesetzliches „Einschreiten“ notwendig war. Es dürfte sich (wenn überhaupt) nur um zeitlich eilbedürftige Notfallgesetze handeln. In diesem Sinne lag die Annahme eher fern. Bedenkt man, dass zwischen dem zweiten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch871 und dem Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz (SFHÄndG) etwas mehr als zwei Jahre lagen, ist es schon seltsam, dass das Bundesverfassungsgericht eine Einbeziehung der Länder in das Schutzkonzept des Bundes nicht einmal erwogen hatte. Das Gesetz beruhte auf der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.872 Dem Gesetzgebungsverfahren gingen so müßte er das Inkrafttreten der Gesamtregelung davon abhängig machen, daß in allen Ländern die erforderlichen gesetzlichen Vorschriften ergangen sind. Diesen letztgenannten Weg hat der Gesetzgeber ersichtlich nicht beschritten“. Diese Passage macht deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung noch von der Möglichkeit ausging, dass grundrechtliche Schutzkonzepte durch das arbeitsteilige Zusammenwirken von Bund und Ländern gemeinsam verwirklicht werden können. Der Entscheidung ist jedenfalls nicht zu entnehmen, dass der Bund nicht auf eine Regelung durch die Länder warten durfte. Auf BVerfGE 88, 203 (304 f.) darf somit nicht verwiesen werden, will man eine grundrechtliche Unerlässlichkeit begründen. 870 BVerfGE 98, 265 (302). 871 BVerfGE 88, 203. 872 BT-Drs. 13/1850.
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
mehrere Gesetzesentwürfe unterschiedlicher Fraktionen voraus.873 Ein zeitlich unmögliches Tätigwerden der Länder war folglich nicht anzunehmen. (2) Anders läge der Fall sicherlich, wenn einige Länder sich bereits im Vorfeld oder während des Prozesses der Gesetzgebung weigern, bei der Erarbeitung einer insgesamt grundrechtskonformen Lösung mitzuwirken oder wenn die Länder ankündigen, Regelungen zu treffen, die den Zielen des Bundesgesetzgebers zuwiderlaufen und auch dadurch die Tragfähigkeit der bundesgesetzlichen Sachregelungen nicht gewährleistet sind. Würde dann das Projekt des Bundes scheitern, weil einige Länder sich „quer stellen“, so lägen die Voraussetzungen für eine Unerlässlichkeit vor, weil dann tatsächlich angenommen werden muss, dass nur durch eine gesamteinheitliche Lösung durch den Bundesgesetzgeber das gesetzliche Konzept wirksam beschlossen werden kann. Werden die Länder hingegen aktiv, so schließt ihr Tätigwerden einen bundesgesetzlichen Sachzusammenhang aus, wenn die landesgesetzlichen Lösungen erstens grundrechtskonform sind, also insbesondere nicht gegen das grundrechtliche Untermaßverbot verstoßen und zweitens die Gesetze nicht den Zielen des Bundesgesetzgebers zuwiderlaufen. Innerhalb dieses Rahmens haben die Länder weiterhin die selbständige Entscheidungsgewalt im Hinblick auf das „Wie“ der Gesetzgebung. Sicherlich liegt die Frage auf der Hand, ob ein derartiger Sachzusammenhang vertretbar ist. Immerhin wurde bereits gesagt, dass die föderale Kompetenzverteilung auch der Mäßigung der Staatsgewalt und dem Grundrechtsschutz zu dienen bestimmt ist. Wäre dann nicht ein grundrechtlich begründeter Sachzusammenhang ein systematischer Fremdkörper?874 Diese Frage ist zu verneinen: Der Sachzusammenhang mit seiner übergreifenden Wirkung wird nicht zur Verstärkung der Kompetenz genutzt, sondern zur Wahrung der Verfassungsmäßigkeit, also auch zur Wahrung des Grundrechtsschutzes. Die Thematik des Schwangerschaftsabbruchs verdeutlicht dieses Anliegen. Es wurde gesagt, dass vor allem die Anforderungen an medizinische Einrichtungen nicht auf einen Sachzusammenhang begründet werden können, weil grundsätzlich auch die Länder durch eigene Regelungen das erforderliche Schutzniveau hätten ausgestalten können.875 In diesem Sinne kommt auch Rüfner zum Ergebnis, dass für den anderweitigen Schutz des Rechtsguts der Landesgesetzgeber sorgen müsse.876 873
Gesetzesentwürfe der Fraktionen CDU / CSU (BT-Drs. 13/185); SPD (BT-Drs. 13/27); FDP (BT-Drs. 13/268); Bündnis 90/DIE GRÜNEN (BT-Drs. 13/402); vgl. ferner die Gesetzesentwürfe von weiteren Abgeordneten (BT-Drs. 13/395; BT-Drs. 13/397) sowie die Erkenntnisse des Sonderausschusses „Schutz des ungeborenen Lebens“ (BT-Drs. 12/6643; 12/6669; 12/6944; 12/7660; 12/8609). 874 Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 189; vgl. auch Rüfner, ZG 1999, 366 (370). 875 Das gilt nicht für die Beratungsregelungen, die aufgrund der tatbestandlichen Verknüpfung mit der Frage der Straffreiheit unerlässlich sind, den Schwangerschaftsabbruch strafrechtlich zu regeln. 876 Rüfner, ZG 1999, 366 (370).
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In der Absolutheit führt aber auch dieses Ergebnis zu problematischen Konsequenzen. Folgende hypothetische Hilfserwägung verdeutlicht das: Angenommen, einige Länder würden eine Mitwirkung am Schutzkonzept ablehnen, etwa weil sie der Auffassung sind, dass die Strafbarkeit nicht gelockert werden darf und auch die (über den Sachzusammenhang verknüpften) getroffenen Beratungsregelungen des Bundes nicht ausreichten, das ungeborene Leben zu schützen. Als Folge der strengen Anforderungen der zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch wäre dem Bund die Möglichkeit genommen, weitere Regelungen zur Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs zu treffen.877 Über die Weigerungshaltung der Länder dürfte der Bundesgesetzgeber nicht hinweggehen, da hierdurch ein verfassungswidriger Zustand eintreten würde. Er könnte eine Ländergesetzgebung auch nicht auf Grundlage der Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten erzwingen. Die Weigerungshaltung der Länder ist weder missbräuchlich, noch begründet die Bundestreue eine Gesetzgebungspflicht der Länder im Bereich der eigenen Zuständigkeiten. Der Bundesgesetzgeber wäre also daran gehindert, auf dem Gebiet seiner eigenen Kompetenzen (Strafrecht), das Abtreibungsrecht umfassend ordnen zu können. Die hier geschilderte Situation ist im Übrigen kein spezifisch grundrechtliches Problem, es ist vielmehr ein ausschließlich föderales, weil nicht die Grundrechte, sondern erst die hinzutretende bundesstaatliche Kompetenzordnung verhindert, grundrechtskonforme Gesetze beschließen zu können. Ein solcher Stillstand, der zu einer Versteinerung der Kompetenzausübung führen würde, ist nicht hinnehmbar. Der Grund liegt darin, dass Kompetenzen grundsätzlich zum effektiven Gebrauch einer Kompetenznorm ermächtigen. Als Handlungsalternative käme zwar eine Verfassungsänderung in Betracht, doch würde auch sie das Problem nicht beseitigen. Denn es fehlt dem Bundesgesetzgeber ja nicht an der notwendigen (Sach-)Gesetzgebungskompetenz. Im Falle der Regelung der Strafbarkeit bzw. Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs kann der Bund sich nämlich auf die Kompetenz für das Strafrecht berufen – es geht vielmehr um die kleinteiligere Frage, ob der Bund zur Regelung des Strafrechts punktuell auf Regelungen übergreifen darf, die eigentlich in die ausschließliche Zuständigkeit der Länder fallen. Dieses „mikrokompetenzrechtliche Dilemma“ lässt sich nur schwer mit dem groben Hebel der Verfassungsänderung beseitigen. Dies wäre im Übrigen auch für die Länder eine noch stärkere Beeinträchtigung ihrer Zuständigkeiten: Eine Verfassungsänderung würde die in Frage stehende Materie (berufsrechtliche Regelungen auf dem Gebiet der Abtreibung) generell in die Zuständigkeit des Bundes verlagern, während der Sachzusammenhang nur unter der Voraussetzung der Unerlässlichkeit akzessorisch und punktuell wirken würde. Die gesamte Materie für das ärztliche Berufsrecht verbleibt hingegen weiterhin in der Zuständigkeit der 877 BVerfGE 88, 203 (302): „Die Regelung der Beratung der Schwangeren in einer Not- und Konfliktlage (§ 219 StGB n. F.) ist schon deshalb verfassungsrechtlich nicht zureichend, weil die nach dem Schutzkonzept erforderliche, auf den Lebensschutz ausgerichtete Beratung nicht durch ausreichende staatliche Befugnisse und Pflichten zur Organisation und Beaufsichtigung der Beratungseinrichtungen sichergestellt ist […]“.
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Länder. Nimmt man also einen Sachzusammenhang unter den hier entwickelten und restriktiv zu verstehenden Bedingungen an, so sichert man dem Bund einerseits das Recht zu, seine ihm zustehende Kompetenz effektiv zu nutzen, zugleich schützt man die Länder vor noch stärkeren „Eingriffen“ in ihre Zuständigkeiten. Uneingeschränkt darf der Bund aber auch in diesem Fall von seinem Sachzusammenhang nicht Gebrauch machen, seine Kompetenzausübung wird vielmehr durch das Prinzip der Bundestreue eingeschränkt, das zu bundesfreundlichem bzw. länderfreundlichem Verhalten zwingt. Wie später noch zu zeigen sein wird, wird eine in fremde Kompetenzen übergreifende Kompetenzausübung durch einen Missbrauchstatbestand eingeschränkt. Unzulässig sind übergreifende Regelungen, wenn sie in ein abgeschlossenes Ordnungsmodell des anderen Gesetzgebers eingreifen und seine Gestaltungsmöglichkeiten nachhaltig stören oder vereiteln.878 ee) Zusammenfassung Ein Sachzusammenhang ist ein implizit zugewiesener teleologischer Bestandteil einer Kompetenznorm. Da aufgrund der Beidseitigkeit der Kompetenzordnung kein Unterschied zwischen titulierten Kompetenzen und Residualkompetenzen der Länder besteht, können sich auch die Länder auf den Sachzusammenhang berufen. Der Sachzusammenhang ist ein Instrument zur Zielerreichung. Er dient dazu, dem Kompetenzträger zu ermöglichen, seine ihm zustehenden Aufgaben sinnvoll und effektiv bewältigen zu können. Eine zugewiesene Zuständigkeit wird durch den Sachzusammenhang ergänzt und gestützt, wenn die entsprechende Materie nicht geregelt werden kann, ohne dass zugleich eine nicht ausdrücklich zugewiesene andere Materie mitgeregelt wird, wenn also das Übergreifen in nicht ausdrücklich zugewiesene Materien unerlässliche Voraussetzung ist für die Regelung einer der Bundesgesetzgebung zugewiesenen Materie. Durch den Sachzusammenhang wird ein Junktim zwischen den Sachregelungen und den Fremdregelungen begründet. Die bloße Zweckmäßigkeit genügt nicht. Unerlässlichkeit liegt vielmehr vor, wenn das Herausbrechen der Fremdmaterie die Gesamtkonstruktion des legislativen Konzepts als solches gefährden würde. Voraussetzung ist, dass die Sachmaterie ihre Tragfähigkeit verlöre, wenn die Regelung der Fremdmaterie entfiele. Außerdem sind die Fremdregelungen akzessorischer Bestandteil der Sachregelungen. Die Fremdregelungen sind zwingend an das Schicksal der Sachregelungen gebunden. Des Weiteren verlangt das Merkmal der Unerlässlichkeit, dass der Sachzusammenhang nur punktuell wirken darf. Der punktuelle Bezug des Sachzusammenhangs verbietet es dem Bundesgesetzgeber, über die Ausdehnung seiner Konzepte versteckte Ländergesetzgebung zu verfolgen und somit die Zuständigkeiten der 878
Dazu unter Viertes Kapitel III. 4.
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
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Länder auszuhöhlen. In qualitativer Hinsicht müssen die Sachregelungen das Hauptziel des Konzepts darstellen. Die Fremdregelungen dürfen innerhalb des Konzepts keine völlig von der Sachregelung abgelöste eigenständige Bedeutung erlangen. Sie dienen nur der Absicherung der Wirksamkeit der Sachregelung. Der Sachzusammenhang gibt dem Bund nicht das Recht, die gesamte den Ländern vorbehaltene Materie an sich zu ziehen. Die umfassende Regelung eines den Ländern vorbehaltenen Bereichs ist ihm nicht eröffnet. Die Gründe, die für eine Unerlässlichkeit sprechen, können vielfältig sein. Möglich sind faktische, aber auch normative Gründe. Ordnet der Gesetzgeber Lebenswirklichkeiten, so verlangt der Sachzusammenhang, dass die gesetzlichen Festlegungen dem Sachverhalt, den sie erfassen sollen, und seinen relevanten Veränderungen gerecht werden müssen. Der Sachzusammenhang dient lediglich der Anpassung an veränderte Umstände, er darf nicht der Wirklichkeit willkürlich eine Regelung aufzwingen. Die Anpassung der veränderten Lebenswirklichkeiten unterliegt einer „Wirklichkeitskontrolle“: Dem Bundesverfassungsgericht obliegt die Prüfung, ob die Lebenswirklichkeiten, die zum Anlass des Sachzusammenhangs erklärt werden, auch empirisch erfassbar sind. Ob sich die Lebenswirklichkeiten tatsächlich verändert haben, unterliegt der vollen Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht. Lediglich die Entscheidung, welches Konzept der Gesetzgeber wählt, um seine Staatsaufgaben zu erfüllen, unterliegt dem Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers und somit einer Willkürgrenze. Ein Übergreifen auf Materien der Länder mit der Begründung, dass die bundesgesetzlichen Regelungen nur so grundrechtskonform möglich sind, genügt grundsätzlich nicht zur Begründung einer Unerlässlichkeit im Sinne der Sachzusammenhangsformel. Es ist der Staat insgesamt, der Adressat der grundrecht lichen Schutzpflicht ist. Bund und Länder sind im Rahmen ihrer Zuständigkeiten gemeinsam verpflichtet, das Untermaßverbot zu beachten. Grundrechtskonforme Lösungen sind somit auch im Wege der Addition von Bundes- und Landesgesetzen möglich. Eine Unerlässlichkeit im Sinne der Sachzusammenhangsformel liegt im Hinblick auf den gebotenen Grundrechtsschutz nur dann vor, wenn die Fremdregelung integraler Bestandteil für die Tragfähigkeit der Sachregelungen ist, sie akzessorisch und punktuell wirkt und ein rechtzeitiges Tätigwerden der Länder ausgeschlossen ist. Ausgeschlossen ist ein rechtzeitiges Tätigwerden, wenn der Bund wegen der unbedingten Eilbedürftigkeit des Gesetzes nicht auf ein zeitnahes Tätigwerden der Länder warten kann oder mindestens ein Land die Bereitschaft verneint hat, grundrechtskonform tätig zu werden. Werden die Länder hingegen selbst aktiv, so ist es ihnen überlassen, „wie“ sie den grundrechtskonformen Zustand erreichen wollen, solange die Lösungen nicht dem Konzept des Bundesgesetzgebers zuwiderlaufen.
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
d) Annexkompetenz aa) Die Wirkung der Annexkompetenz in Abgrenzung zum Sachzusammenhang Daneben verwendet das Bundesverfassungsgericht mitunter die Figur der Annexkompetenz, wobei bis heute nicht geklärt ist, in welchem Verhältnis der Annex zum Sachzusammenhang steht. Häufig wird vertreten, der Annex sei allenfalls ein Unterfall des Sachzusammenhangs.879 Nach Bullinger sei kein Grund ersichtlich, zwischen den beiden Figuren zu unterscheiden.880 Andere verweisen darauf, der Sachzusammenhang wirke in die „Breite“, der Annex in die „Tiefe“ des Zuständigkeitsbereichs.881 Die richtige dogmatische Verortung ist keineswegs nur eine Frage terminologischer Art882, sondern stellt eine wichtige Weichenstellung für die Maßstäbe der Annexkompetenz dar. Hinter der Abgrenzung zum Sachzusammenhang verbirgt sich die Frage, ob die strengen Voraussetzungen der Sachzusammenhangsformel auch auf die „Annexkompetenz“ Anwendung finden. Da weder die Kompetenz kraft Sachzusammenhangs noch die Annexkompetenz im Grundgesetz ausdrücklich normiert sind, ist es zunächst nur eine Frage der sprachlichen Verständigung, welches Verhältnis die Figuren zueinander haben sollen. Um den Diskurs nicht unnötig zu verkomplizieren und um rezeptionsfähig zu sein, sollte das Verhältnis in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entschieden werden. Wenngleich das Bundesverfassungsgericht gelegentlich schwankt und den Annex mitunter auch nur als Unterfall des Sachzusammenhangs betrachtet883, lassen sich dennoch zwischen dem Sachzusammen 879
Bullinger, AöR 96 (1971), 237 (243); ders, Die Mineralölfernleitungen, S. 68 f.; Bäumerich, JuS 2018, 123 (127); Erichsen, Jura 1993, 385 (387); Fehling, Jura 2016, 498 (501); Jarass, NVwZ 2000, 1089 (1090); Kment, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 70 Rn. 12; Rengeling, in: HStR VI, § 135 Rn. 74; Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 44; Seiler, in: BeckOK GG, Art. 70 Rn. 23; Stern, Staatsrecht II, § 37 II 5 a, S. 611; Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, S. 83 ff.; Wipfelder, DVBl 1982, 477 (481); ähnlich Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 236, der die Annexkompetenz als „Sonderfall“ des Sachzusammenhangs betrachtet; vgl. auch Cornils, DÖV 2013, 657 (660): „ohnehin kaum scharf voneinander abzugrenzenden Varianten“. 880 Bullinger, AöR 96 (1971), 237 (243); ders., Die Mineralölfernleitungen, S. 68 f. So meint auch Rengeling, in: HStR VI, § 135 Rn. 74, Sachzusammenhang und Annex seien das Gleiche. 881 Nach Maunz, in: ders. / Dürig, Art. 70 Rn. 49; vgl. auch Achterberg, DÖV 1966, 695 (696, 698); Cremer, ZG 2005, S. 31; Ehlers, Jura 2000, 323 (325); Hillgruber, in: BK; Art. 30 Rn. 209; Neuser, Die Gesetzgebungskompetenzen für das Verwaltungsverfahren, S. 130 f.; Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 232; Stern, Staatsrecht I, S. 676; Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 70 Rn. 69; ders., Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 431; Uhle, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 70 Rn. 65. 882 So aber Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 43; Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 44; Seiler, in: BeckOK GG, Art. 70 Rn. 23; Uhle, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 70 Rn. 65; Umbach / Clemens, GG, Art. 70 Rn. 38. 883 BVerfG NJW 1996, 2497 (2498) („Annexkompetenz kraft Sachzusammenhangs“); nicht eindeutige Unterscheidung zwischen Sachzusammenhang und Annex auch in BVerfGE 98, 265 (299); 109, 190 (215); klarer wiederum in BVerfGE 132, 1 (6 Rn. 17).
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hang und dem Annex wichtige Unterschiede ausmachen, die es rechtfertigen, den Annex als selbstständige Figur zu behandeln. Die „Tiefenwirkung“ von Annexkompetenzen in Abgrenzung zum Sachzusammenhang wird in dem bereits erwähnten Zollkriminalamtbeschluss deutlich. Das Bundesverfassungsgericht machte deutlich, dass auch präventivpolizeiliche Maßnahmen zur Beschränkung des Brief-, Post- oder Fernmeldegeheimnisses von der ausschließlichen Kompetenz für den Waren- und Zahlungsverkehr mit dem Ausland (Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 GG) umfasst werden: „Von der Gesetzgebungskompetenz nach Art. 73 Nr. 5 GG sind auch die auf den Außenwirtschaftsverkehr bezogenen präventivpolizeilichen Maßnahmen erfasst (vgl. BVerfGE 33, 52 [63 f.]; auch BVerfGE 8, 143 [149]; 97, 198 [222]) und damit auch die hier in Rede stehenden besonderen Regelungen zur Verhütung der in § 39 AWG in Bezug genommenen Straftaten. Die allgemeinen Befugnisse der Bundesländer namentlich im Polizeirecht und in der Strafrechtspflege bleiben von der Regelung unangetastet.“884
Indem das Bundesverfassungsgericht also nicht nur außenwirtschaftsrechtliche Verbote, sondern auch präventivpolizeiliche Maßnahmen zur Stabilisierung der außenwirtschaftsrechtlichen Regelungen für zulässig erachtet, drückt sich die „Tiefenwirkung“885 von Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 GG aus. Wie Stettner gezeigt hat, steht hinter der Annexkompetenz der Gedanke, dass jedes sachliche Kompetenzthema die Befugnis zu seiner allseitigen Bearbeitung einschließt.886 Der Annex ermöglicht es, Stadien der Vorbereitung sowie Durchführung der Umsetzung von materiellen Regelungen des jeweiligen Sachgebietes einzubeziehen. Er ermöglicht insbesondere den Einsatz der Ordnungs- und Polizeigewalt und effektuiert somit die Wirksamkeit der kompetenzgemäß erlassenen Regelungen. Hier zeigt sich nun der Unterschied zum Sachzusammenhang: Während die Annexkompetenz die unter der Kompetenz erlassenen Regelungen durch vor- und nachgelagerte Maßnahmen unterstützt und deren Wirksamkeit absichert, erweitert der Sachzusammenhang ausgehend von der kompetenzgemäßen Regelung den Bereich auf andere (Fremd-) Materien. Die Annexkompetenz verbleibt dagegen innerhalb des ausdrücklichen Kompetenztitels und erhält ihren Anwendungsbereich nur durch die Einbeziehung von Vorbereitungs-, Durchführungs- und Vollzugsmaßnahmen.887 Der Unterschied zum Sachzusammenhang liegt somit darin, dass der Annex ohne Übergriff auf Fremdmaterien auskommt. Gleichwohl könnte die Frage formuliert werden, ob nicht auch die Polizei- und Ordnungsgewalt eigentlich eine Materie ist, für die eigentlich ein anderer Kompetenztatbestand eröffnet ist. Es könnte argumentiert werden, dass mit der Annexkompetenz ebenfalls ein Übergriff auf eine den Ländern vorbehaltene Tätigkeit 884
BVerfGE 110, 33 (48). Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 70 Rn. 21. 886 Stern, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 431. 887 Ehlers, Jura 2000, 323 (325); Erichsen, Jura 1993, 385 (387 f.): Hillgruber, in: BK, Art. 30 Rn. 209; Sanden, Die Weiterentwicklung der föderalen Strukturen, S. 289 f. 885
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stattfindet und somit die Annexkompetenz wie ein Sachzusammenhang wirkt. Dieser Einwand wäre aber nur dann richtig, wenn den Ländern generell die Zuständigkeit für das gesamte Gefahrenabwehrrecht zugewiesen wäre. Dass dem nicht so ist, hat das Bundesverfassungsgericht schon im Baurechtsgutachten deutlich gemacht. Da die Ordnungsgewalt ein Annex des Sachgebietes sei, auf dem sie tätig wird, umfasse die Zuständigkeit zur Gesetzgebung in einem Sachbereich auch die Regelung der Ordnungsgewalt in diesem Sachgebiet.888 Diese eher hypothetische Behauptung wurde wenige Jahre später in dem Beschluss zum Beschussgesetz näher begründet. Der Zweite Senat hat in diesem Zusammenhang zwischen der Zuständigkeit für die allgemeine Polizei- und Ordnungsgewalt und der (besonderen) Verwaltungspolizei abgegrenzt. Es hat ausgeführt, dass nur das Polizeirecht im engeren Sinne in die Gesetzgebungskompetenzen der Länder fällt und es nur Regelungen umfasst, die auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung als alleiniger und unmittelbarer Gesetzeszweck abzielen.889 Zur Begründung führte der Zweite Senat aus: „Die Gesamtheit der Normen, die der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dienen, bildet nämlich keinen selbständigen Sachbereich im Sinne der grundgesetzlichen Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeit zwischen Bund und Ländern. Die Ordnungsgewalt kann als Annex des Sachgebiets erscheinen, auf dem sie tätig wird; die Zuständigkeit zur Gesetzgebung in einem Sachbereich umfaßt dann auch die Regelung der Ordnungsgewalt (Polizeigewalt) in diesem Sachbereich. Darauf gründet sich die herkömmliche Unterscheidung zwischen Verwaltungspolizei und Sicherheitspolizei. Soweit der Bund ein Recht zur Gesetzgebung auf einem bestimmten Lebensgebiet hat, muß er demnach auch das Recht haben, die dieses Lebensgebiet betreffenden spezialpolizeilichen Vorschriften zu erlassen (vgl. BVerfGE 3, 407 [433]). Normen, die der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in einem bestimmten Sachbereich dienen, sind daher jeweils dem Sachbereich zuzurechnen, zu dem sie in einem notwendigen Zusammenhang stehen. Nur solche Regelungen, bei denen die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung den alleinigen und unmittelbaren Gesetzeszweck bildet, können einem selbständigen Sachbereich zugerechnet werden, der als Polizeirecht im engeren Sinne bezeichnet wird und in die Zuständigkeit der Landesgesetzgebung fällt.“890
In dieser Entscheidung kommt das Wesen des Annexes deutlich zum Ausdruck, im Grunde bedarf es nämlich für den Annex keiner „ungeschriebenen“ Kompetenz. Der Annex wird im Wege der Auslegung vom Bundesverfassungsgericht ermittelt. Den Kompetenztiteln ist der Annex „stillschweigend mitgeschrieben“, so dass auch polizei- und ordnungsrechtliche Maßnahmen dann von ihnen umfasst sind, wenn der zuständige Gesetzgeber diesen Sachbereich regelt. Der Annex ist von vornherein Bestandteil der auszulegenden Kompetenznorm; es erfolgt keine „punktuelle Erweiterung“ der Kompetenznorm auf fremde Materien. Regelt der Bund also beispielsweise das Gewerberecht (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) und schafft 888
BVerfGE 3, 407 (433). BVerfGE 8, 143, LS 2. 890 BVerfGE 8, 143 (150). 889
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
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er zugleich ordnungsrechtliche Befugnisse auf dem Gebiet des Gewerberechts, so greift er nicht auf Zuständigkeiten der Länder zurück. Der Annex dynamisiert auch nicht die Kompetenznorm, er ist vielmehr von Anfang an in ihm enthalten. Während also das Auffinden eines Sachzusammenhangs den Kompetenznormsetzer berechtigt, ausgehend von seiner ihm zustehenden Zuständigkeit, punktuell auf fremde Kompetenzbereiche überzugreifen, ist der Annex nicht mit einem Übergriff verbunden. Beim Annex verbleibt die Kompetenzausübung im Begriffskern der Kompetenznorm: „Der ‚Annex‘ erweitert die Zuständigkeit nicht, sondern ist ein Teil von ihr.“891 Das verdeutlicht folgende Hilfserwägung: Hätten die Länder im Gegenzug die Zuständigkeit, polizeiliche Befugnisse auf dem Gebiet des Gewerberechts zu begründen? Diese Frage muss verneint werden. Das Bundesverfassungsgericht legt den Begriff der allgemeinen Gefahrenabwehr der Länder so aus, dass nur Maßnahmen hiervon umfasst sind, die ausschließlich die Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung bezwecken. Polizeiliche Befugnisse, etwa für das Gewerberecht, fallen danach nicht in die ausschließliche Kompetenz der Länder, sondern unter das Recht der Wirtschaft (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG).892 Noch deutlicher wird der Unterschied zum Sachzusammenhang, wenn man die sonstigen Anwendungsfälle betrachtet, die herkömmlicherweise als Annexmaterien bezeichnet werden wie Planung, Organisation, Verfahren, Statistik, Enteignung oder Gebühren. Ihnen ist gemeinsam, dass sie thematisch inhaltsneutral sind und ihre Bedeutung erst durch die Verknüpfung mit der Sachmaterie erlangen.893 Betrachtet man diese Fälle, so fällt eine Gemeinsamkeit auf: Der Annex scheint den Anwendungsbereich der Sachgesetzgebungskompetenz auf bestimmte Instrumente zur Zielerreichung zu erstrecken. Unter dem Dach der Annexkompetenz tummeln sich also verschiedene Modi staatlichen Handelns894, die an und für sich unselbstständig sind895 und nur in der Zusammenschau mit der jeweiligen Regelung bzw. dem Ziel, dem sie zu dienen bestimmt sind, einen materiellen Wert erhalten. Annexmaterien zeichnen sich also durch ihr dienendes Verhältnis zur geschriebenen materiellen Kompetenz aus. Indem sie die Stadien der Vorbereitung und Durchführung betreffen, dienen sie der Umsetzung des materiellen Rechts und stehen deshalb zu den Sachregelungen in einem funktionalen Verhältnis.896 Die Annexmaterie ist als solche unselbstständig und bedarf, um Bedeutung zu erlangen,
891
Zutreffend Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 117. So explizit BVerfGE 8, 143 (148). 893 Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 244. 894 Aus diesem Grund unterfällt etwa auch die wirtschaftliche Betätigung von Kommunen trotz ihrer Nähe zum Recht der Wirtschaft (Art. 74 I Nr. 11 GG) dem Kommunalrecht. Für dieses Ergebnis spricht auch ihre historische Entwicklung (vgl. §§ 67 ff. DGO). 895 BVerfGE 8, 143 (150); 109, 190 (215). 896 Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Rn. 48; Uhle, in: Maunz / Dürig, Art. 70 Rn. 71; vgl. auch BVerwG NVwZ 2013, 1006 (1008 Rn. 21). 892
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
immer der inhaltlichen Aufladung durch die Sachmaterie.897 Das unterscheidet den Annex vom Sachzusammenhang, bei der die fremde Kompetenzmaterie theoretisch auch vom anderen Kompetenzträger geregelt werden könnte. Weil die Annex materien unselbstständige Gesichtspunkte sind, handelt es sich im Grunde um „Querschnittsbefugnisse“898, die jeder Sachkompetenz inbegriffen ist, gleichgültig, ob es sich um eine Bundes- oder Landeszuständigkeit handelt. Die Abgrenzung zum Sachzusammenhang lässt sich also wie folgt zusammenfassen: – Ein Sachzusammenhang liegt vor, wenn ausgehend von der Sachmaterie auf eine fremde und an und für sich selbstständige Kompetenzmaterie übergegriffen wird. Der Sachzusammenhang erweitert unter der Voraussetzung der Unerlässlichkeit punktuell den Kompetenzbereich. – Der Annex drückt demgegenüber die implizite Berechtigung aus, die Aus- und Durchführungsmodalitäten der Sachregelung zu steuern. Die Annexmaterien sind an und für sich unselbstständige Modi staatlichen Handelns und erlangen ihre Bedeutung erst durch die Verknüpfung mit der Sachregelung und stehen zu ihr in einem dienenden Verhältnis. bb) Die Voraussetzung der Annexkompetenz: Unselbstständigkeit der Annexmaterie und spezifischer Zusammenhang zur Sachregelung Annexregelungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie der Sachregelung dienen und zu ihnen ein akzessorisches Verhältnis aufweisen.899 Die Zulässigkeit setzt erstens eine auf einem Kompetenztitel gestützte Sachregelung voraus und zweitens muss die Annexregelung strikt auf ihre dienende Funktion beschränkt bleiben; sie darf also nicht zur Hauptmaterie werden.900 (1) Keine Notwendigkeit im Sinne der Sachzusammenhangsformel Diese Voraussetzungen sind im Grunde unstreitig. Zweifel bestehen aber, ob die strengen Voraussetzungen der Sachzusammenhangsformel übernommen werden 897 So schon das BVerfGE 3, 407 (428) in Bezug auf die Bodenbewertung: „Bodenbewertung kann nicht Selbstzweck sein. Sie ist für die verschiedensten Zwecke erforderlich […] Sie stellt daher kein selbständiges Rechtsgebiet dar. Darum ist eine Zuständigkeit des Bundes zur Gesetzgebung über die Bodenbewertung nur soweit zu bejahen, als diese im Zusammenhang steht mit Materien, für die eine Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes gegeben ist.“ 898 Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 431. 899 Auf den akzessorischen Charakter weist Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Rn. 48. 900 Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Rn. 48; Uhle, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 70 Rn. 71.
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sollten. Das Bundesverfassungsgericht sowie ein beachtlicher Teil im wissenschaftlichen Diskurs scheinen davon auszugehen, wenn sie fordern, die Annexregelung dürfe nur punktueller Natur sein901 und müsse für den „wirksamen Vollzug der materiellen Bestimmungen des Gesetzes notwendig“902, unerlässlich903 oder erforderlich904 sein. Uhle begründet dies damit, dass das Kriterium der Erforderlichkeit konstitutiv für den Sachzusammenhang sei und der Annex sich zum Sachzusammenhang „nicht in der Intensität ihrer Verbindung zu dem Gegenstand einer ausdrücklich geschriebenen Kompetenz“ unterscheide.905 Dieser Auffassung lässt sich entgegenhalten, dass sich eine Annexregelung in ihrer Wirkung durchaus von einem Sachzusammenhang unterscheidet. Die Annexmaterie zeichnet sich dadurch aus, dass sie als solche unselbstständig ist und somit der inhaltlichen Aufladung durch die Sachregelung bedarf. Dies ist beim Sachzusammenhang anders, denn dieser geht tatsächlich mit einem Übergriff auf fremde Zuständigkeiten einher. Vertritt man die Auffassung, dass in dogmatischer Hinsicht der Sachzusammenhang von einer Annexkompetenz unterschieden werden muss, so ist es nur folgerichtig, dass die Sachzusammenhangsformel beim Annex keine Anwendung findet. Der Grund ist darin zu sehen, dass die strenge Voraussetzung der Unerlässlichkeit dem Schutz des anderen Kompetenzträgers vor dem Übergriff des jeweils anderen zu dienen bestimmt ist. Diese Interessenlage ist aber nicht auf die Annexregelung übertragbar. Wird der Annex richtig angewendet (er darf nicht zur Hauptmaterie werden), so kommt es zu keinem Übergriff.906 Für die Annexkompetenz müssen die hinzugezogenen Regelungen also nicht notwendig für die Tragfähigkeit der Sachregelungen sein, der Annex kann im Gegensatz zum Sachzusammenhang auch auf Zweckmäßigkeitserwägungen gestützt werden.
901
BVerfGE 77, 288 (299); 109, 190 (215); Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 38; Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Rn. 48; Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 236. 902 BVerfGE 77, 288 (299); 109, 190 (215); 132, 1 (6 Rn. 17); Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 28; Cornils, DÖV 2013, 657 (660); Kloepfer, JZ 2013, 892 (893); ähnlich auch Erichsen, Jura 1993, 385 (387); Pabel, Grundfragen der Kompetenzordnung im Bereich der Kunst, S. 60; Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, S. 84. 903 Bothe, in: AK-GG, Art. 70 Rn. 19. 904 Uhle, in: Maunz / Dürig, Art. 70 Rn. 71; differenzierend aber Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 236 f., der zwar eine „Punktualität der Annexregelung“, nicht aber deren Notwendigkeit fordert. 905 Uhle, in: Maunz / Dürig, Art. 70 Rn. 71; ebenso auch Cornils, DÖV 2013, 657 (660); Neuser, Die Gesetzgebungskompetenzen für das Verwaltungsverfahren, S. 131. Auch andere Grundgesetz-Kommentatoren sehen die Parallele zum Sachzusammenhang, etwa Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Rn. 48: „genauso wie bei der Kompetenz kraft Sachzusammenhangs trägt auch der Annexgedanke immer nur punktuelle Annexregelungen“. 906 Herbst, in: Berliner Kommentar, Art. 70 Rn. 76; ähnlich wohl auch Schröder, Kriterien der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 237, der die „Notwendigkeit der Annexregelung“ mit dem Hinweis ablehnt, das Fehlen der Notwendigkeit werde durch die Unselbstständigkeit der Annexmaterie kompensiert.
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
(2) Spezifischer Zusammenhang zur Sachregelung am Beispiel des Gefahrenabwehrrechts Begrenzt ist der Annex aber in seiner Reichweite. Er muss in seiner Wirkung ausschließlich auf seine dienende Funktion beschränkt bleiben. Annexregelungen sind „unselbständig“, sie bilden keinen selbständigen Sachbereich im Sinne der grundgesetzlichen Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten.907 Ausgeschlossen ist damit, dass sie zu selbstständigen Haupt- und Sachregelungen werden, die in die Zuständigkeit der Länder fallen. Näheren Aufschluss zur Abgrenzung zwischen unselbstständiger Annexregelung und selbstständiger Sachregelung gibt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Polizei- und Ordnungsrecht. Seit dem Beschluss zum Beschussgesetz fordert das Bundesverfassungsgericht einen „notwendigen Zusammenhang“ in Bezug auf die Sachregelungen.908 Den notwendigen Zusammenhang (der wiederum eine gewisse Nähe zum Sachzusammenhang suggeriert) relativiert das Bundesverfassungsgericht aber damit, dass Regelungen, bei denen die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung den alleinigen und unmittelbaren Gesetzeszweck bildet, dem Polizeirecht im engeren Sinne zugeordnet werden können, der in die Zuständigkeit der Landesgesetzgebung fällt.909 Das Bundesverfassungsgericht setzt also die Voraussetzung des notwendigen Zusammenhangs nicht mit der Voraussetzung der Unerlässlichkeit gleich. Vielmehr orientiert sich das Bundesverfassungsgericht an der für die Subsumtion übliche Schwerpunktformel. Kommen zwei mögliche Kompetenzmaterien in Betracht, so entscheide der Hauptzweck des Gesetzes entsprechend dem Schwerpunkt über die Kompetenzzuordnung. In einem späteren Beschluss zu § 24 GewO konkretisierte das Bundesverfassungsgericht diese Voraussetzung und verlangte im Hinblick auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG („Recht der Wirtschaft“) eine „Gleichartigkeit der Gefahrenlage“.910 Es meinte dabei, dass die Gefahr, die über den Annex begegnet werden soll, auch ihren Ursprung in der wirtschaftlichen Betätigung haben muss.911 Im Ergebnis stellt das Bundesverfassungsgericht also nicht nur subjektiv auf den Hauptzweck, sondern auch objektiv auf den Gegenstand der Annexregelung ab, die insbesondere der Abwehr nur solcher Gefahren dienen darf, die der Sachregelung bzw. der Sachkompetenz entspringen. Der Zusammenhang muss also nicht „notwendig“ im Sinne von unerlässlich oder alternativlos sein, sondern einen „spezifischen Bezug zur Sachregelung“ aufweisen. Ausgeschlossen wird, dass über den Annex weitere polizeirechtliche Regelungen getroffen werden können, die keinen Bezug zum ordnenden Rechtsgebiet aufweisen. Der Ordnungsanspruch muss also auch unter Berücksichtigung der Einbeziehung der Annexregelungen im Schwerpunkt weiterhin Zwecke der Sachmaterie verfolgen. 907
BVerfGE 8, 143 (150); 109, 190 (215); vgl. auch Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 234. 908 BVerfGE 8, 143 (150); 109, 190 (215). 909 BVerfGE 8, 143 (150). 910 BVerfGE 41, 344 (355). 911 Kluth, Die Gesetzgebungskompetenz für das Recht der Spielhallen, S. 49.
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Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch eine Entscheidung zu den Befugnissen des Bundesnachrichtendienstes zur Überwachung und Aufzeichnung des Fernmeldeverkehrs nach den Vorschriften des G 10.912 Das Bundesverfassungsgericht stützte die Ermächtigungen zur Einschränkung des Fernmeldegeheimnisses auf die Zuständigkeit für die auswärtige Gewalt aus Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG. Derartige Regelungen, die einen präventivpolizeilichen Bezug haben, müssten nach Auffassung des Gerichts in einen „Regelungs- und Verwendungszusammenhang eingebettet sein, der auf die Auslandsaufklärung bezogen ist.“913 Dagegen berechtige Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG nicht dazu, „dem Bundesnachrichtendienst Befugnisse einzuräumen, die auf die Verhinderung oder Verfolgung von Strafraten als solche gerichtet sind“914. Auch wenn das G 10 dem Bundesnachrichtendienst Aufgaben zur Gefahrenabwehr übertrage, liege der Primärzweck dieser Befugnisse in der Aufklärung auswärtiger Gefahren sowie in der Informationsgewinnung.915 Das Bundesverfassungsgericht benennt in dieser Entscheidung den Annex zwar nicht explizit, dennoch subsumiert es seine Voraussetzungen. Aspekte der Gefahrenabwehr können demnach nur einer Sachzuständigkeit (hier: die auswärtige Gewalt) zugeordnet werden, wenn sie zu den Belangen des Sachbereichs, denen sie zu dienen bestimmt sind, einen entsprechenden Bezug aufweisen.916 Dies schließe Parallelen und Überschneidungen in den verschiedenen Beobachtungs- und Informations bereichen nicht aus, „solange sich die durch die Kompetenzverteilung abgegrenzten Aufgaben- und Tätigkeitsfelder der verschiedenen Stellen nicht vermischen.“917 Dahinter steht der systematische Gedanke, dass Zuständigkeiten (auch unter Zuhilfenahme der Annexkompetenz) nicht so ausdehnend interpretiert werden dürfen, dass die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern unterlaufen wird.918 In einer späteren Entscheidung verneinte das Bundesverfassungsgericht einen sicherheitsrechtlichen Annex zum Tierschutz (Art. 74 Abs. 1 Nr. 20 GG) hinsichtlich eines bundesgesetzlichen Verbots des Züchtens von aggressiven Hunden. Denn das Schwergewicht dieser Regelungen läge nicht auf dem Gebiet des Tierschutzes; sie dienten vielmehr in erster Line dem Schutz der Menschen vor besonders aggressiven Hunden und fielen deshalb in die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder für das Recht der öffentlichen Sicherheit und Ordnung.919 912 BVerfGE 100, 313. Gemeint sind insbesondere die Vorschriften aus §§ 1 I, 3 I 2 Nr. 1–6 G 10 in der Fassung des Begleitgesetzes zum Telekommunikationsgesetz vom 17. 12. 1997 (BGBl. I, S. 3108). 913 BVerfGE 100, 313 (370). 914 A. a. O. 915 BVerfGE 100, 313 (370 f.). 916 Das wird noch einmal deutlich in BVerfGE 100, 313 (371): „Den einzelnen Gefahrenlagen in Nummern 2 bis 6 von § 3 Abs. 1 Satz 2 G 10 fehlt auch nicht der nötige Bezug zu den außenund sicherheitspolitischen Belangen, die die Bundesrepublik Deutschland als Teil der Staaten gemeinschaft und in ihrem Verhältnis zu zwischenstaatlichen Einrichtungen zu wahren hat.“ 917 BVerfGE 100, 313 (370). 918 BVerfGE 100, 313 (368); dazu Zweites Kapitel IV. 919 BVerfGE 110, 141 (170 ff., insb. 173); mit Anm. von Pestalozza, NJW 2004, 1840 (1841).
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Mit einer ähnlichen, aber nicht unumstrittenen920 Begründung schloss das Bundesverfassungsgericht auch das Spielbankwesen vom Recht der Wirtschaft aus. Da die Regelungen als repressives Verbot mit Dispensierungsvorbehalt ausgestaltet seien, diene das Spielbankenrecht nicht vorrangig der Regulierung der wirtschaftlichen Betätigung, sondern der allgemeinen Gefahrenabwehr, insbesondere dem Schutz „der natürliche[n] Spielleidenschaft vor strafbarer Ausbeutung“.921 Das Spielbankwesen falle deshalb in die ausschließliche Zuständigkeit der Länder für die allgemeine Gefahrenabwehr.922 Ob das Spielbankenrecht tatsächlich vorrangig eine ordnungsrechtliche Zielsetzung verfolgt, kann dahin gestellt bleiben.923 Deutlich wird aber, dass das Bundesverfassungsgericht zur Beurteilung, ob die Regelung der Sach- und Hauptmaterie dient oder vielmehr selbstständige Ziele verfolgt, nach dem spezifischen Zusammenhang fragt, der sich unter anderem auch nach der objektivierten Zielsetzung der Regelungen ergibt.924 Fehlt der spezifische Zusammenhang, wird also im Schwerpunkt eine andere Materie rechtlich gestaltet, so kann der Annex keine Kompetenzbegründung rechtfertigen. Demgegenüber nahm das Plenum des Bundesverfassungsgerichts (§ 16 BVerfGG) in Bezug auf luftsicherheitsrechtliche Regelungen (§§ 13–15 LuftSiG) eine Annexkompetenz, gestützt auf die ausschließliche Zuständigkeit des Bundes, zur Regelung des Luftverkehrs (Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG) an.925 Die Gesetzgebungszuständigkeit umfasse als Annex „jedenfalls die Befugnis, Regelungen zur Abwehr solcher Gefahren zu treffen, die gerade aus dem Luftverkehr herrühren“.926 Zwar bedürfe die Notwendigkeit des Zusammenhangs zwischen einer dem Bund zugewiesenen Regelungskompetenz für ein bestimmtes Sachgebiet und einschlägigen Regelungen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung strenger Prüfung. Jedenfalls für die Abwehr derjenigen spezifisch aus dem Luftverkehr herrührenden Gefahren, auf die die Regelungen des Luftsicherheitsgesetzes zielen, sei der erforderliche Zusammenhang gegeben.927 Auf den ersten Blick scheint es, als ob zwischen der Spielbankentscheidung und der luftsicherheitsrechtlichen Entscheidung ein Widerspruch bestehe.928 Bei genauerem Hinsehen verdeutlichen die Entscheidungen aber, dass die Frage, ob die Rege 920 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 47; Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 219 f. 921 BVerfGE 28, 119 (148). 922 BVerfGE 28, 119 (146 ff.); bestätigt in BVerfGE 102, 197 (199). Die ordnungsrechtliche Ausrichtung des Spielbankenrechts wird auch in BVerfG NVwZ-RR 2008, 1 ff. angenommen. 923 Dazu Niestegge, Zur Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern im Spielbankenrecht, S. 32 ff. 924 Zu den Subsumtionsgesichtspunkten Drittes Kapitel II. 1. 925 BVerfGE 132, 1 (6 Rn. 18); anders noch BVerfGE 115, 118 (141). Der Erste Senat leitete die Zuständigkeit für die „Unterstützung und Amtshilfe durch die Streitkräfte“ (§§ 13–15 LuftSiG) irrtümlich aus Art. 35 I 2 und III GG her; krit. Schenke, NJW 2006, 736 (737). 926 BVerfGE 132, 1 (6 Rn. 18); vgl. auch Fastenrath, JZ 2012, 1128 (1131), der eine Zuständigkeit aus Art. 73 I Nr. 1 GG („Verteidigung“) erwägt. 927 BVerfGE 132, 1 (6 f. Rn. 19); ähnlich schon BVerfGE 32, 319 (326) für den Straßenverkehr. 928 So Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 218 ff.
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lung als Annex einer Sachkompetenz zugeordnet werden kann, entscheidend davon abhängt, ob die Regelung nach der Normintention des Gesetzgebers einen spezifischen Zusammenhang zur Sachregelung aufweist oder nicht. Im Unterschied zur Spielbankenentscheidung reagierten die sicherheitsrechtlichen Regelungen für den Luftverkehr auf Gefahren, die unmittelbar aus der Regulierung dieses Rechtsgebiets folgen. Der Gesetzgeber verfolgt insgesamt das Ziel, einen ordnungsgemäßen Luftverkehr zu gewährleisten. Luftsicherheitsrechtliche Regelungen erscheinen vor diesem Hintergrund als (sicherlich nicht unbedeutender) Baustein zur Erreichung dieses übergeordneten Ziels. Im Falle des Spielbankenrechts ist die Zielsetzung des Gesetzebers eine andere. Hier ist es nicht das hauptsächliche Ziel, die wirtschaftsrechtlichen Aspekte des Spielbankwesens zu ordnen und Gewinnchancen und Risiken zu regulieren; den Landesgesetzgebern geht es vorrangig um die generelle Eindämmung des Spielbankenbetriebs als Gefahrenquelle.929 Mit anderen Worten: Die Landesgesetzgeber setzen den (qualitativ zu verstehenden) Schwerpunkt ihrer Regelungen im Gefahrenabwehrrecht, nicht im Recht der Wirtschaft. Es kommt damit auf die Normvorstellung des Gesetzgebers an.930 Dieses hier vertretene Verständnis hat das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung zu Sportwetten bestätigt, die traditionell von den Ländern als Gefahrenabwehrrecht reguliert werden.931 Nach Auffassung des Gerichts könne aber auch der Bund, gestützt auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG, das Sportwettenrecht neu regeln. Eine Kompetenz des Bundes scheitere insbesondere nicht an dem ordnungsrechtlichen Aspekt der Regelungsmaterie.932 Damit hat das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht, dass der Bund das Sportwettenrecht als Recht der Wirtschaft regeln kann. Macht er aber von der Zuständigkeit aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG Gebrauch, so muss das Sportwettenrecht vorrangig der Regulierung des Wirtschaftsverkehrs dienen; ordnungsrechtliche Gesichtspunkte können zwar in die Regulierung mit einfließen, sie dürfen aber nicht Hauptzweck sein, sondern bedürfen im Sinne der Annexkompetenz „einen spezifischen Bezug“ zur Ordnung des Wirtschaftsverkehrs.933 Teilweise wird das Sportwetten-Urteil aber auch so verstanden, dass das Bundesverfassungsgericht nunmehr von einer generellen wirtschaftsrechtlichen Ressortierung des Sportwettenrechts ausgeht.934 Überzeugen kann diese Auffassung freilich nicht. Solange die Länder das Sportwettenrecht im Schwerpunkt ordnungsrechtlich ausgestalten – was insbesondere bei einem repressiven Verbot mit Befreiungsvorbehalt oder strengen Kontingentierungen 929
Das wird deutlich in BVerfGE 28, 119 (148). Vertiefend zur Frage des Schwerpunkts unter Drittes Kapitel II. 2. sowie Drittes Kapitel III. 931 BVerfGE 115, 276. 932 BVerfGE 115, 276 (318 f.); krit. Pestalozza, NJW 2006, 1711 (1713). 933 Mit ähnlicher Deutung des Urteils auch Dietlein, in: Dietlein / Hecker / Ruttig, Glücksspielrecht, Einf. Rn. 10. 934 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 52; Kment, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 74 Rn. 28; Pestalozza, NJW 2006, 1711 (1713); Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, Art. 74 Rn. 119; Wittreck, in: Dreier, GG, Art. 74 Rn. 54; ähnlich Kluth, Die Gesetzgebungskompetenz für das Recht der Spielhallen, S. 53 f. 930
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anzunehmen ist –, so sind sie auf Grundlage ihrer ordnungsrechtlichen Zuständigkeit ausschließlich befugt. Eine Zuständigkeit auf Grundlage des Rechts der Wirtschaft resultiert nur dann, wenn der Gesetzgeber unter Aufgabe der primär gefahrenabwehrrechtlichen Konzeption den Sportwettensektor fortan für eine privatwirtschaftliche Betätigung öffnet und gefahrenabwehrrechtliche Aspekte nur noch als „Annex“ zu den wirtschaftsrechtlichen Regulierungen betrachtet.935 Die Frage der Annexkompetenz hängt somit davon ab, welcher Kompetenzmaterie der objektivierte Gesetzeszweck der Regelung im Schwerpunkt dient.936 (3) Ergebnis Insgesamt lässt sich der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine gewisse Stringenz entnehmen. Es hat deutlich gemacht, dass der Annex keine Unerlässlichkeit im Sinne der Sachzusammenhangsformel voraussetzt. Maßgeblich ist lediglich, dass der Annex zur Sachregelung insofern einen „spezifischen Zusammenhang“ aufweisen muss, als dass die gefahrenabwehrrechtliche (Annex-) Regelung nur auf solche Gefahrenlagen reagieren darf, die aus der Eigenheit der Sachkompetenz folgen. Gehen die gefahrenabwehrrechtlichen Regelungen demgegenüber über diese spezifische Gefahrenlage hinaus, so handelt es sich um eine Regelung, die in die ausschließliche Zuständigkeit der Länder für das Polizeirecht im engeren Sinne fällt. Die Abgrenzung vom allgemeinen zum besonderen Gefahrenabwehrrecht drückt sich also in dem Kriterium des „spezifischen Zusammenhangs“ aus. Dabei ist es unerheblich, ob die jeweilige Sachmaterie in eine Bundes- oder Landeszuständigkeit fällt; das Bauordnungsrecht etwa regelt sicherheitsrechtliche Aspekte des Baurechts und ist als spezifisches Bauordnungsrecht nicht allgemeine Gefahrenabwehr, sondern vielmehr eine selbstständige ausschließliche Zuständigkeit der Länder. Zusammenfassend fordert die Annexmaterie, dass die Annexregelung gegenüber einer auf einen Kompetenztitel gestützte Sachregelung eine dienende Funktion erfüllt. Eine Annexregelung ist kein Selbstzweck, sondern an und für sich unselbstständig und nicht Teil einer Hauptmaterie. Von einer Annexregelung ist auszugehen, wenn zwischen ihr und der Sachregelung ein spezifischer Zusammenhang vorliegt. Das ist der Fall, wenn die Annexregelung nach Gegenstand und Zielsetzung auf typische Gefahren oder Besonderheiten der jeweiligen Sachmaterie reagiert und Antworten hierauf zu finden versucht. Als Hilfskriterium für die Feststellung, ob die Annexregelung noch der Sachregelung dient oder bereits eine selbstständige Hauptmaterie darstellt, kann nach dem qualitativen Schwerpunkt gefragt werden.937 935
So auch Dietlein, in: Dietlein / Hecker / Ruttig, Glücksspielrecht, Einf. Rn. 10. Dazu Drittes Kapitel II. 1. 937 Auf das Schwerpunktkriterium wird später noch einzugehen sein, dazu Drittes Kapitel II. 2. sowie Drittes Kapitel III. 936
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cc) Anwendungsfälle Noch deutlicher wird die Wirkung der Annexkompetenz, wenn man einige ihrer Erscheinungsformen in den Blick nimmt. Die Annexkompetenz beheimatet verschiedene Modi staatlichen Handelns, die der Vorbereitung und Durchführung staatlichen Handelns dienen. Neben gefahrenabwehrrechtlichen Regelungen beziehen sich Annexkompetenzen typischerweise auf die Statistik und Enteignung, auf das Verwaltungsverfahren, die Verwaltungsorganisation938 sowie auf (Fach-) Planungsentscheidungen939. Ebenfalls kann die Erhebung von Beiträgen, Gebühren und Sonderabgaben – soweit nicht schon bereits Art. 105 GG einschlägig ist oder eine Ermächtigung bereits dem Kompetenztitel geschrieben zugewiesen ist940 – in diesen Katalog eingefügt werden.941 Auch die wirtschaftliche Betätigung, etwa von Kommunen, kann in dieser Hinsicht als eine „Annexkompetenz“ verstanden werden; die wirtschaftliche Betätigung ist somit teleologischer Bestandteil der ausschließlichen Zuständigkeit der Länder für das Kommunalrecht.942 Immer wichtiger werden datenschutzrechtliche Bestimmungen. Das Datenschutzrecht ist keine selbständige Sachmaterie im Sinne der Art. 70 ff. GG. Da in nahezu allen Lebensbereichen Daten erhoben werden, muss die Regulierung dieser Lebensbereiche auch die Datenverarbeitung umfassen. Das Datenschutzrecht ist somit eine „Querschnittsmaterie“, das jeder Sachzuständigkeit innbegriffen ist. Die Zuständigkeit für den Datenschutz ergibt sich folglich als Annex aus den jeweiligen Sachkompetenzen.943 Da Annexkompetenzen vor allem nach den Instrumenten staatlichen Handelns beschrieben werden, können sie leichter systematisiert werden als Sachzusammenhänge, die auf selbstständige Fremdmaterien und weniger auf Instrumente abstellen, um einem gesetzgeberischen Konzept zur Wirksamkeit zu verhelfen. 938 Allerdings sind bei der Frage der Verwaltungs- und Organisationszuständigkeit zusätzlich die besonderen Vorgaben aus Art. 83 ff. GG zu beachten, dazu sogleich unter Zweites Kapitel VI. 3. d) cc) (2). 939 Ausführlich zur Frage der Zulässigkeit von Planungsentscheidungen und den damit verbundenen formellen und materiellen Konzentrationswirkungen Ossenbühl, in: FS Badura, S. 112 ff.; Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 316 ff. Auch die Zuständigkeit für das Netzausbaubeschleunigungsgesetz (NABEG) wird überwiegend nicht als Raumordnung im Sinne von Art. 74 I Nr. 31 GG, sondern als Recht der Energiewirtschaft nach Art. 74 I Nr. 11 GG verstanden (Grigoleit / Weisensee, UPR 2011, 401 [402]; Calliess / Dross, JZ 2012, 1002 [1008 f.]; Appel, UPR 2011 406 [410]; a. A. Erbguth, NVwZ 2012, 326 [330]). 940 Zum Beispiel Art. 74 I Nr. 22 GG („sowie die Erhebung von Gebühren oder Entgelten“). 941 BVerfGE 26, 338 (387 f.). 942 Da die wirtschaftliche Betätigung schon nach §§ 67 ff. DGO traditioneller zum Kommunalrecht gehört, bestätigt auch die historische Auslegung dieses Ergebnis. Am Beispiel des Kommunalrechts wird deutlich, dass sich die historische und teleologische Auslegung nicht notwendigerweise ausschließen, sondern sich auch ergänzen können. Das Verständnis der wirtschaftlichen Betätigung als „Annexkompetenz“ dürfte sich auch auf die Reichweite von „Randnutzungen“ auswirken, a. A. Krämer, LKV 2016, 348 (250). 943 Vgl. BT-Drs. 18/11325, S. 71.
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Im Folgenden sollen einige Erscheinungen von Annexkompetenzen exemplarisch in den Blick genommen und näher vertieft werden. (1) Statistik und Enteignung als Beispiele für geschriebene Annexkompetenzen Mit der ausschließlichen Zuständigkeit des Bundes für die Statistik für Bundeszwecke (Art. 73 Abs. 1 Nr. 11 GG) und der konkurrierenden Zuständigkeit für das Recht der Enteignung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 14 GG) hat der Verfassungsgeber zwei Referenzbeispiele für typische Annexmaterien geschaffen.944 Beide Materien sind unselbstständig und erhalten ihre Bedeutung nur über die akzessorische Verbindung zu einer anderen Kompetenz auf dem Gebiet der Art. 73 und Art. 74 GG. So hat das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung über ein hamburgisches Gesetz betreffend einer Volksbefragung über Atomwaffen ausgeführt: „Auch ein Gesetz über Statistik gewinnt seinen Sinn erst im Zusammenhang mit dem Gegenstand der Statistik; es kann der Bewältigung einer Bundesaufgabe oder der Bewältigung einer Landesaufgabe, in diesem Sinne Bundeszwecken oder Landeszwecken dienen; je nachdem ist zum Erlaß eines Gesetzes über Statistik entweder ausschließlich der Bund zuständig oder sind die Länder zuständig (vgl. Art. 73 Nr. 11 GG). In ähnlicher Weise ist die Kompetenz des Bundes zur konkurrierenden Gesetzgebung auf dem Gebiet der Enteignung nach Art. 74 Nr. 14 GG beschränkt; er besitzt sie nur, ‚soweit sie (die Enteignung) auf den Sachgebieten der Art. 73 und 74 in Betracht kommt‘.“945
Eine Volksbefragung durch ein Land zur Einwirkung auf Bundesangelegenheiten konnte danach nicht auf die Annexkompetenz gestützt werden. Das Bundesverfassungsgericht begründete dies damit, dass mit der Volksbefragung über Atomwaffen politischer Druck auf den Bund ausgeübt werden sollte.946 Legt man die Voraussetzungen der Annexkompetenz an, so war das Ergebnis des Bundesverfassungsgerichts zutreffend: Ist mit dem hamburgischen Volksbefragungsgesetz eine eigenständige politische Wirkung intendiert, ohne dass es als Vorbereitungs- oder Durchführungsmaßnahme dem Erreichen einer eigenen Sachregelung dient, so wird das Volksbefragungsgesetz zur Hauptmaterie. Dies ist nicht vom Annex umfasst. Statistik im Sinne des Art. 73 Abs. 1 Nr. 11 GG ist die „methodische Erhebung, Sammlung, Darstellung und Auswertung von Daten und Fakten“.947 Hierzu fallen auch alle Vorgänge zur Informationsbeschaffung. Notwendige Voraussetzung aller statistischen Erhebungen ist, dass sie in einem spezifischen Zusammenhang mit Materien stehen, für die eine Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes gegeben
944
Dazu auch Isensee, in: HStR VII, § 133 Rn. 33; Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 237; Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Art. 73 Nr. 11 Rn. 732. 945 BVerfGE 8, 104 (119). 946 BVerfGE 8, 104 (111). 947 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 73 Rn. 54; vgl. auch Schwartmann, in: BK, Art. 73 Nr. 11 Rn. 8 ff.; siehe auch BVerfGE 150, 1 (79).
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
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ist.948 Hierzu zählen Volkszählungen und Mikrozensus, Bodenbewertungen, die Außenhandelsstatistik, aber beispielsweise auch alle Informationen, die für staatliche Entscheidungen über die Zuwanderung (Art. 73 Abs. 3 Nr. 3 GG) relevant sind. Dazu gehören etwa Arbeitsmarktdaten, Daten über die Verfügbarkeit von Arbeitskräften sowie alle sonstige Informationen über arbeitsmarktpolitische und demographische Konsequenzen der Zuwanderung.949 (2) Verwaltungsverfahrensrecht und Verwaltungsorganisation Mit dem Gedanken, dass die Annexkompetenz der Vorbereitung und Durchführung der getroffenen Sachregelung dient, könnten auch Regelungen zum Verwaltungsverfahren in diese Kategorie fallen. Unbestritten ist, dass zwischen allen materiell-rechtlichen Regelungen und dem dazugehörenden Verwaltungsverfahrensrecht ein enger Zusammenhang besteht. Zwar verfolgen Verfahrensregelungen durchaus ein selbstständiges Ziel, nämlich die Richtigkeitsgewähr staatlicher Entscheidungen, und sind nicht nur auf ihr dienendes Verhältnis beschränkt950. Andererseits können materielle Regelungen und Verfahrensregelungen nicht strikt voneinander getrennt werden. Das Verwaltungsrecht ist der Verwirklichungsmodus, die Anwendung des Sachrechts muss ein Verwaltungsverfahren durchlaufen, erst in der Verknüpfung von Sachregelung und Verfahrensrecht ergibt sich das spezifische „Verwaltungsrecht“. Verfahrensrecht ist somit konstitutiver Teil des Verwaltungsrechts.951 Hieraus folgt der Gedanke, dass eine Kompetenz zur materiellen Sachregelung kraft Annexes auch die Kompetenz zur Normierung952 der Organisation und des Verfahrens beim Vollzug umfasst.953 948 Dazu auch BVerfGE 3, 407 (428 f.) zur Bodenbewertung: „Bodenbewertung kann nicht Selbstzweck sein. Sie ist für die verschiedensten Zwecke erforderlich […] Sie stellt daher kein selbständiges Rechtsgebiet dar. Darum ist eine Zuständigkeit des Bundes zur Gesetzgebung über die Bodenbewertung nur soweit zu bejahen, als diese im Zusammenhang steht mit Materien, für die eine Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes gegeben ist.“ 949 Weitere Beispiele bei Schwartmann, in: BK, Art. 73 Nr. 11 Rn. 17. 950 Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 6. Kap. Rn. 46, S. 305; ähnlich Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 9 Rn. 15, der zwar auf die „Hilfsfunktion“ des Verwaltungsverfahrens hinweist, zugleich aber betont, dass es wesentlich zur „Rechtsverwirklichung im Verwaltungsrecht“ ist. 951 Wahl, VVDStRL 41 (1983), 151 (153 ff.). 952 Davon ist die Frage abzugrenzen, ob es ungeschriebene Verwaltungszuständigkeiten gibt. Diese betreffen mitgeschriebene Zuständigkeiten zur Durchführung einer Verwaltungsaufgabe, nicht aber für dessen Normierung, Kirchhof, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 83 Rn. 50. Krit. zur Existenz ungeschriebener Verwaltungszuständigkeiten Broß / Mayer, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 83 Rn. 10. 953 Dieser Gedanke geht auf Triepel, in: FG Laband, Bd. 2, S. 303 f. zurück und wird auch heute noch vertreten, vgl. Hermes, in: Dreier, GG, Art. 83 Rn. 24; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 40; Härtel, in: dies., Handbuch Föderalismus, Bd. 1, § 19 Rn. 145; Jarass, NVwZ 2000, 1089 (1091); H. J. Vogel, in: Benda / Maihofer / Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, § 22 Rn. 88. Mitunter wird auch auf den Verweis auf die Annexkompetenz verzichtet, so Bull, in: AK-GG, Art. 83 Rn. 31; Jarass, NVwZ 2000, 1089 (1091); Stern, Staatsrecht II, § 41 V 5, S. 798 f.
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Dass Gesetzgebungskompetenzen des Bundes für das Verwaltungsverfahren dem Grundgesetz nicht notwendig fremd sein müssen, verdeutlicht Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 GG, der die Einrichtung eines Bundeskriminalpolizeiamtes als Gesetzgebungskompetenz betrifft. Ähnlich werden von der Zuständigkeit für das Wahlrecht Vorschriften umfasst, die „die Vorbereitung, Organisation, Durchführung und Überprüfung der Wahlen durch die staatlichen Organe regeln“954. In dieser Formulierung kommt der Annexgedanke sehr deutlich zum Ausdruck; zugleich zeigt sich, dass der Annexgedanke nicht eine Zusatzkompetenz darstellt, sondern von vornherein Bestandteil der Sachgesetzgebungskompetenz ist. In diesem Zusammenhang wird – teilweise mit unterschiedlicher dogmatischer Begründung – ebenfalls ein Recht des Bundes angenommen, das Verwaltungsverfahren für seine Bundesbehörden als Annex zu seinen ihm zugewiesenen Sachgesetzgebungskompetenzen zu regeln, sofern er die Verwaltungszuständigkeit aus Art. 86 GG besitzt.955 Ganz so einfach wie beschrieben ist die Begründung einer Annexkompetenz des Bundes für das Verwaltungsverfahren aber dann doch wieder nicht. Das Verwaltungsverfahren knüpft nicht nur an legislative Regelungen, sondern ebenso an Verwaltungskompetenzen an, für die es in den Art. 83 ff. GG einen gesonderten Abschnitt gibt. Der VIII. Abschnitt betrifft die Ausführung der Bundesgesetze und unterstreicht das Gewaltenteilungsprinzip.956 Verwaltungskompetenzen sind im Grundgesetz den Gesetzgebungskompetenzen ebenbürtig ausgestaltet957; der Schwerpunkt dieser Kompetenzen liegt aber – im Gegensatz zu den Gesetzgebungskompetenzen – bei den Ländern.958 Deshalb finden sich in Art. 84 Abs. 1, 85 Abs. 1 GG Normen, die als „spezielle“ Normierungen des Verfahrens- und Organisationsrechts verstanden werden können.959 Das Bundesverfassungsgericht hat 954
BVerfGE 24, 300 (354). Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 39; Stettner, in: Dreier, Supplementum, GG, Art. 70 Rn. 75. Teilweise wird die Kompetenz zur Regelung des Verwaltungsverfahrens auch direkt aus Art. 86 GG hergeleitet. Dem lässt sich aber entgegenhalten, dass Art. 86 GG lediglich vom Vorliegen einer Verwaltungskompetenz ausgeht und ansonsten nur zum Erlass von Verwaltungsvorschriften berechtigt. Wenngleich auch in dieser Norm „ungeschriebene“ Kompetenzen erblickt werden können, so liegt es näher, die Zuständigkeit des Bundes aus den spezifischen Sachregelungen der Gesetzgebungskompetenz zu begründen. Das Bundesverfassungsgericht hat dies in der Eisenbahnkreuzungsentscheidung offengelassen: BVerfGE 26, 338 (369): „Es kann offenbleiben, ob auch die Befugnis des Bundes, das Verfahren der bundeseigenen Verwaltung der Bundeseisenbahnen zu regeln, aus Art. 73 Nr. 6 GG ergibt oder ob diese Kompetenz aus Art. 86, 87 Abs. 1 GG herzuleiten ist: es unterliegt keinem Zweifel, daß der Bund das Verfahren der bundeseigenen Verwaltung gesetzlich regeln kann“. Anders wiederum Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 277 f., der die Kompetenz zur Regelung des Verwaltungsverfahrens aus einer Kompetenz kraft Natur der Sache schlussfolgert. 956 BVerfGE 55, 274 (318 f.); Broß / Mayer, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 83 Rn. 3. 957 Lerche, in: Maunz / Dürig, GG, 53. Aufl. 2009, Art. 83 Rn. 30; Trute, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 83 Rn. 13. 958 Vgl. Oebbecke, in: HStR VI, § 136 Rn. 2. 959 Das BVerfG versteht unter den Vorschriften über das Verwaltungsverfahren „jedenfalls gesetzliche Bestimmungen, die die Tätigkeit der Verwaltungsbehörden im Blick auf die Art und Weise der Ausführung des Gesetzes einschließlich ihrer Handlungsformen, die Form der 955
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dazu die apodiktische Aussage getroffen, dass nach der Systematik des Grundgesetzes die Gesetzgebungskompetenz des Bundes die äußerste Grenze seiner Verwaltungszuständigkeit bezeichne.960 Führen die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, so regeln sie die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren (Art. 84 Abs. 1 S. 1 GG). Das Grundgesetz weist den Ländern also eine Gesetzgebungskompetenz für diesen Bereich zu. Der Bund kann aber nach Art. 84 Abs. 1 GG etwas anderes bestimmen. Wie dieser Satz allerdings zu verstehen ist, ist nicht ganz eindeutig. Vor allem bis zur Föderalismusreform von 2006 war das Verhältnis zwischen Gesetzgebungszuständigkeiten und Verwaltungszuständigkeiten im Bereich des Organisations- und Verfahrensrechts weitgehend ungeklärt. Nach einer Ansicht ist der Bund aus dem Gedanken der Annexkompetenz befugt (gewesen), Verfahrensregelungen als Annex zu seinen Sachgesetzgebungskompetenzen zu treffen.961 Zwar seien in den Art. 83 ff. GG auch weitere Normierungen enthalten, die eine solche Zuständigkeit erahnen ließen, doch seien diese lediglich deklaratorischer Natur und dienten lediglich dem Zweck, die Zustimmungsbedürftigkeit durch den Bundesrat anzuordnen. Zur Konsequenz hatte diese Ansicht, dass den Ländern jedenfalls dann eine selbstständige Gesetzgebung verwehrt war, wenn der Bund von seiner ihm zustehenden konkurrierenden Zuständigkeit (Art. 72 Abs. 1 GG) Gebrauch gemacht hat; im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit wäre ihm ein eigenes Tätigwerden nur im Rahmen einer bundesgesetzlichen Ermächtigung erlaubt gewesen (Art. 71 GG). Dies gab Anlass für Kritik. In den Art. 83 ff. GG seien zwingende Kompetenzzuweisungen an die Länder enthalten. Die Verortung der Verwaltungskompetenzen im VIII. Abschnitt des Grundgesetzes mache deutlich, dass die Normierungen grundsätzlichen Vorrang gegenüber dem Abschnitt über die Gesetzgebung haben.962 Dem Argument, die in Art. 84 f. GG enthaltenen Normierungen seien nur deklaratorischer Natur, wurde entgegengehalten, dass spezielle und positivierte Normierungen ohne Not zugunsten einer ungeschriebenen Annexkompetenz außer Acht gelassen würden.963 Außerdem bedeutete dies auch eine Verschiebung der föderalen Balance weg von der ländergeprägten Verwalbehördlichen Willensbildung, die Art der Prüfung und Vorbereitung der Entscheidung, deren Zustandekommen und Durchsetzung sowie verwaltungsinterne Mitwirkungs- und Kontrollvorgänge in ihrem Ablauf regeln“ (BVerfGE 55, 274 [320 f.]). 960 BVerfGE 12, 205 (229); 15, 1 (16); 78, 374 (386). 961 Diese Ansicht geht maßgeblich auf Triepel, in: FG Laband, Bd. 2, S. 302 ff. zurück. Sie wird auch heute teilweise noch vertreten, so Hermes, in: Dreier, GG, Art. 83 Rn. 24; Jarass, NVwZ 2000, 1089 (1091); Kuckuk, DÖV 1978, 354 (355); H. J. Vogel, in: Benda / Maihofer / Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, § 22 Rn. 88; ähnlich auch Stern, Staatsrecht II, § 41 V 5, S. 798 f., der allerdings eher die akzessorische Natur des Art. 84 Abs. 1 GG betont. Die dem Bund verliehene Zuständigkeit „setzt vielmehr einen Titel im Gesetzgebungskatalog voraus. Die materiellen Kompetenzen werden gleichsam in den Organisationsbereich ‚gestreckt‘“. 962 Kment, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 83 Rn. 2 („leges speciales“). 963 Lerche, in: Maunz / Dürig, GG, 53. Aufl. 2009, Art. 83 Rn. 33; Trute, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 83 Rn. 13.
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
tungskompetenz und hin zur bundesstaatlich dominierten Gesetzgebung.964 Die Frage der dogmatischen Ableitung der Bundeskompetenzen auf dem Gebiet des Verfahrens- und Organisationsrechts hatte bis zur Föderalismusreform weitreichende Konsequenzen. Ein Großteil der Gesetzesvorhaben des Bundes bedurften wegen Art. 84 Abs. 1 GG a. F. der Zustimmung des Bundesrates. In der Staatspraxis war es nicht unüblich, mithilfe des Hebels der Zustimmungsbedürftigkeit bundespolitische Gesetzesvorhaben zu blockieren. Art. 84 Abs. 1 GG wurde somit als einer der Hauptgründe für die Verflechtungsprobleme und parlamentarischen Lähmungserscheinungen ausgemacht, die die Zeit bis 2006 prägten und im Zuge der Föderalismusreform behoben werden sollten.965 Dieser Streitstand wurde im Schrifttum ausführlich diskutiert und muss an dieser Stelle nicht näher bewertet werden.966 Denn festzuhalten ist jedenfalls, dass sich mit der Neufassung des Art. 84 Abs. 1 GG im Zuge der Föderalismusreform die Probleme relativiert haben. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat in Art. 84 Abs. 1 S. 2 bis 6 GG die Gesetzgebungsbefugnis des Bundes für das Verwaltungsverfahren detailliert geregelt und an neue Tatbestandsvoraussetzungen geknüpft. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat ein Abweichungsmodell begründet und sich so für eine Kompromisslösung entschieden. Die Einführung der Abweichungsgesetzgebung macht deutlich, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber die Zuständigkeit zur Regelung des Verwaltungsverfahrens auf dem Gebiet der Landesverwaltung als konkurrierende Gesetzgebung ausgestaltet hat.967 Die Frage, ob die Bundeszuständigkeiten zum Verwaltungsverfahren nun direkt aus Art. 84 Abs. 1 GG oder aus einem Annex zur Sachgesetzgebungskompetenz nach den Art. 73 ff. GG folgt, ist somit praktisch unergiebig, weil jedenfalls Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG die Bundeszuständigkeit in eine konkurrierende Zuständigkeit modifiziert und in ein Abweichungsmodell transferiert hat. Ob Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG („Wenn Bundesgesetze etwas anderes bestimmen“) eine konstitutive Bundeskompetenz begründet968 oder nur deklaratorisch auf die Möglichkeit einer Annexkompetenz hinweist969, kann im Ergebnis offen bleiben. Der Wortlaut von Art. 84 Abs. 1 GG 964
Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 231. Zu den Motiven und zur Genese von Art. 84 GG n. F. Germann, in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 84, 85 GG Rn. 10 ff. 966 Dazu ausführlich Neuser, Die Gesetzgebungskompetenzen für das Verwaltungsverfahren, S. 264 ff.; Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 259 ff.; siehe auch zur Frage der Gesetzgebungszuständigkeit für die Gründung und Errichtung einer Kammer Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, S. 246 ff. 967 Germann, in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 84, 85 GG Rn. 34; Hermes, in: Dreier, GG, Art. 84 Rn. 24; Kment, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 84 Rn. 4. Zu den Einzelheiten Krapp, Die Abweichungskompetenzen, S. 175 ff. 968 So die wohl überwiegende Ansicht, vgl. Dittmann, in: Sachs, GG, Art. 84 Rn. 5; Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, Art. 84 Rn. 5; Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 231 f.; Kahl, NVwZ 2008, 710 (711); Oebbecke, in: HStR VI, § 136 Rn. 26; Kment, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 84 Rn. 4; Schewerda, Die Verteilung der Verwaltungskompetenzen, S. 34 ff. 969 Hermes, in: Dreier, GG, Art. 83 Rn. 24. 965
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lässt sowohl die eine als auch die andere Möglichkeit zu. Systematisch ist aber in jedem Fall darauf hinzuweisen, dass die Zuständigkeiten von Bund und Länder auf dem Gebiet der Verwaltungskompetenzen in ein konkurrierendes Verhältnis gesetzt werden. Macht der Bund von seiner – wie auch immer begründeten – Zuständigkeit, Verwaltungsregelungen treffen zu können, Gebrauch, so haben die Länder die Möglichkeit, abweichende Regelungen zu treffen (Art. 84 Abs. 1 S. 2, 3 GG), von der wiederum auch der Bund nach Art. 84 Abs. 1 S. 2 und S. 4 i. V. m. Art. 72 Abs. 3 GG abweichen kann.970 Nur mit Zustimmung des Bundesrates und nur wegen eines besonderen Bedürfnisses nach bundeseinheitlicher Regelung kann der Bund das Verwaltungsverfahren „länderfest“ ausgestalten. Diese Systematik macht deutlich, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber die juristische Relevanz der Verwaltungskompetenz von der Kompetenzbegründung zur Kompetenzausübung verlagert und insofern eine Kompromisslösung gefunden hat, die Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes und die Verwaltungskompetenzen der Länder in ein ausbalanciertes Verhältnis zu setzen. Darüber hinaus sollte berücksichtigt werden, dass es auch im Hinblick auf die Kompetenzbegründung offenbleiben kann, ob die Zuständigkeit des Bundes nun aus einer Annexkompetenz oder konstitutiv aus Art. 84 Abs. 1 GG folgt. Denn jedenfalls fordern diejenigen, die eine konstitutive Zuständigkeit aus Art. 84 Abs. 1 GG vertreten, eine Akzessorietät zur Sachregelung.971 Da die Annexkompetenz mit ihrem spezifischen Zusammenhang ebenfalls eine Akzessorietät verlangt, bleibt jedenfalls der gedankliche Zusammenhang zur Annexkompetenz bestehen. Die Frage, ob Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG nun eine selbstständige Kompetenz begründet oder eine Annexkompetenz voraussetzt, muss hier nicht geklärt werden. (3) Informationszugangsansprüche als Annexregelungen Da Bundesregelungen über das Verwaltungsverfahren nach dem bereits Gesagten jedenfalls einen akzessorischen Bezug zu den jeweiligen Sachgesetzgebungskompetenzen aufweisen, liegt der nächste Schritt nicht fern, aus dem Gedanken des Annexes eine Zuständigkeit des Bundes für den Zugang zu amtlichen Informationen herzuleiten. Auch Informationsansprüche gegenüber Behörden sind in den einzelnen Kompetenzkatalogen nicht einzeln aufgelistet. Sie dienen aber in einem weiteren Sinne der Durchführung des materiellen Rechts. Es wird daher weit überwiegend angenommen, dass der Bund, sofern er die Sachkompetenz hat, auch 970
Einfachgesetzlich sieht § 1 III VwVfG jedoch eine Subsidiaritätsklausel zugunsten von Landesverwaltungsverfahrensgesetzen vor. 971 Lerche, in: Maunz / Dürig, GG, 53. Aufl. 2009, Art. 83 Rn. 38; Kahl, NVwZ 2008, 710 (711); Kment, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 84 Rn. 5; Neuser, Die Gesetzgebungskompetenzen für das Verwaltungsverfahren, S. 213 ff.; Oebbecke, in: HStR VI, § 136 Rn. 26; a. A. Winkler, in: Sachs, GG, Art. 84 Rn. 5: „Die Inanspruchnahme der organisationsrechtlichen Kompetenz […] erlaubt ‚bevorratende‘ oder ‚vor die Klammer‘ gezogene organisationsrechtliche Regelungen, auf die spätere Bundesgesetze Bezug nehmen können“.
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
voraussetzungslose Informationsansprüche regeln kann.972 Wichtige informationsrechtliche Bundesgesetze, wie das IFG, das UIG, das VIG oder das IWG lassen sich hierüber erklären.973 Da die Zuständigkeiten des Bundes allerdings auf der Ebene der Verwaltungskompetenzen durch Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG eingeschränkt sind und allenfalls über das Zustimmungsmodell (Art. 84 Abs. 1 S. 5, 6 GG) „länderfest“ wirken, sind die meisten Informationszugangsansprüche des Bundes auf die Bundesbehörden begrenzt. Deshalb ist das IFG nicht auf Landesbehörden anwendbar.974 Für Bundesbehörden ergibt sich die Anwendbarkeit aus Art. 87 GG. Teilweise werden voraussetzungslose Informationsansprüche nicht aus der Annexkompetenz, sondern aus dem Gedanken des Sachzusammenhangs hergeleitet. Grenzt man aber nach dem in dieser Arbeit entwickelten Vorschlag den Annex vom Sachzusammenhang ab975, so dürfte eher ersteres der richtige Anhaltspunkt sein. Zugangsinformationen dienen der Transparenz des Behördenhandelns, die Ansprüche beziehen sich stets auf in der Behörde gesammelte Sachdaten. Ihr Anwendungsbereich folgt somit stets der Sachregelung, die die jeweilige Behörde zu vollziehen hat. Informationsansprüche haben somit stets einen spezifischen Zusammenhang zur Sachregelung. Stattdessen passt der Sachzusammenhang nicht, weil mit den Informationsansprüchen kein Übergriff auf Ländermaterien verbunden ist. Vor allem aber würden die Voraussetzungen des Sachzusammenhangs auch nicht erfüllt sein. Es dürfte nur schwer vertretbar sein, wollte man annehmen, dass ein Informationsanspruch unerlässlich für die Sachregelung ist. Umweltschutzrechtliche Konzepte verlören nicht ihre Tragfähigkeit, würde der Bund auf die Statuierung von Informationsansprüchen nach dem UIG verzichten. Daneben wird, sofern es um Informationsansprüche gegenüber Bundesbehörden geht, auch eine Kompetenz kraft Natur der Sache mit dem Argument vertreten, dass nach der Verteilung der Verwaltungskompetenzen ländergesetzliche Regelungen nicht vom Bund vollzogen werden können und es deshalb zur Regelung durch den Bund keine Alternative gebe.976 Hiergegen spricht, dass es insoweit keiner „echten“ ungeschriebenen Kompetenz kraft Natur der Sache bedarf, wenn die Zuständigkeit bereits aus einer geschriebenen – wenn auch implizit vermittelten – hergeleitet werden kann.977 Da die Annexzuständigkeit ebenfalls zum richtigen Ergebnis führt, bedarf es insoweit der Kompetenz kraft Natur der Sache nicht. 972
Kloepfer, Informationsrecht, § 3 Rn. 124; Dalibor, DVBl 2012, 933 (936); Schoch, IFG, Einl Rn. 63. Vgl. zum IFG BT-Drs. 15/4493, S. 7. 973 Eine ausführliche Darstellung findet sich bei Schoch, IFG, Einl Rn. 64. 974 BGH NJW 2015, 3648 (3650). Anders aber das VIG, das sich auf Landesbehörden erstreckt (§ 2 II 1 Nr. 1 VIG), aber wegen Art. 84 I 7 GG nicht auf Kommunen unmittelbar anwendbar ist (vgl. § 2 II 2 VIG; dazu Schoch, DVBl 2007, 261 [265 f.]). Auch das IWG ist auf alle „öffentlichen Stellen“ anwendbar (§ 1 Abs. 1 IWG); der Bundesrat stimmte dem Gesetz am 24. 11. 2006 zu. 975 Zweites Kapitel VI. 3. d) aa). 976 Ehlers / Vorbeck, FS Frank, S. 237; in diese Richtung auch Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 277 f. 977 BVerfGE 11, 89 (99): „Argumente aus der Natur der Sache versagen aber, wenn sich […] auch eine andere Lösung mit beachtlichen Gründen rechtfertigen läßt“.
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(4) Die Situation bei presserechtlichen Auskunftsansprüchen Noch nicht vollumfänglich geklärt ist, wie Presseauskunftsansprüche zu verorten sind.978 Nachdem der Bund von der ehemaligen Kompetenz zur Rahmengesetzgebung auf dem Gebiet des Pressewesens (Art. 75 Abs. 1 Nr. 2 GG) bis zur ihrer Aufhebung keinen Gebrauch gemacht hatte, haben die Bundesländer nach einem Muster dienenden Modellentwurf neue, im wesentlichen übereinstimmende Landespressegesetze geschaffen, die in den sechziger Jahren in Kraft traten. Neben ordnungsrechtlichen Regelungen (z. B. Impressumspflichten) wurden auch presse spezifische Regelungen wie die öffentliche Aufgabe der Presse, das Recht zur Gegendarstellung, Ablieferungspflichten oder die Verjährung von Pressedelikten geregelt979. Nicht zuständig waren die Länder aber für Regelungen zum Zeugnisverweigerungsrecht von Presseangehörigen980 oder für die pressebezogene Beschlagnahmung im Strafverfahren.981 Die Vertreter der Presse haben aus den jeweiligen landespresserechtlichen Regelungen gegenüber Behörden einen Anspruch auf Auskunftserteilung. So sind die Behörden etwa nach § 4 Abs. 1 PresseG LSA verpflichtet, den Vertretern der Presse die der Erfüllung ihrer Aufgaben dienenden Auskünfte zu erteilen. Der Auskunftsanspruch soll es der Presse ermöglichen, sich zuverlässig über staatliche Vorgänge zu informieren, damit sie entsprechend ihrer öffentlichen Aufgabe an der politischen Meinungsbildung mitwirken und ihrer „Wachhundfunktion“ gerecht werden kann. Eingeschränkt wird der Anspruch durch Auskunftsverweigerungsgründe. Auskünfte können etwa verweigert werden, wenn ihnen Vorschriften über die Geheimhaltung entgegenstehen oder sie überwiegende öffentliche oder schutzwürdige private Interessen verletzen würden.982 Nicht ganz geklärt ist aber, wie weit der Begriff der Behörde zu verstehen ist. Unstreitig ist dabei zunächst, dass der Begriff weit zu verstehen ist und auch öffentlich-rechtliche Körperschaften wie Universitäten oder auch Rundfunkanstalten umfasst. Nach § 4 Abs. 1 BremPresseG sowie § 4 Abs. 1 ThürPresseG bezieht sich der presserechtliche Auskunftsanspruch nur auf Landesbehörden. Die sonstigen Landespressegesetze verpflichten demgegenüber lediglich die „Behörden“, ohne zwischen Bundes- und Landesbehörden zu differenzieren. Rechtsprechung und Lehre haben daraus ganz überwiegend den Schluss gezogen, dass der Auskunftsanspruch sowohl Landes- als auch Bundesbehörden erfasst.983
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Offen gelassen in BVerfG NVwZ 2016, 50 (51 Rn. 12). Bestätigt in BVerfGE 7, 29. 980 BVerfGE 36, 193 (196). 981 BVerfGE 48, 367 (372 f.). 982 Vgl. unter anderem § 4 II PresseG LSA. 983 OVG Berlin NVwZ-RR 1997, 32; keine Zweifel äußerte noch BVerwG NVwZ 2013, 431 (434); a. A. Hecker, DVBl 2006, 1416 ff. 979
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Das BVerwG ging in einem 2013 erschienenen Urteil zu Auskunftsansprüchen der Presse gegenüber des Bundesnachrichtendienstes einen anderen Weg. Zwar falle das Presserecht in die ausschließliche Zuständigkeit der Länder. Der Presseauskunftsanspruch könne aber nur Landesbehörden verpflichten, weil Ansprüche gegenüber Bundesbehörden aus den entsprechenden Sachkompetenzen folgten. So stehe dem Bund die ausschließliche Kompetenz für die Gesetzgebung in auswärtigen Angelegenheiten sowie in Angelegenheiten der Verteidigung aus Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG zu. Hierzu gehöre auch die Materie des Bundesnachrichtendienstes.984 Die Kompetenz zur Regelung der Sachmaterie Bundesnachrichtendienst schließe als Annex die Befugnis ein, Voraussetzungen und Grenzen zu regeln, unter denen der Öffentlichkeit einschließlich der Presse Informationen zu erteilen sind oder erteilt werden dürfen. Landespresserechtliche Vorschriften seien deshalb verfassungskonform dahin auszulegen, dass der Bundesnachrichtendienst nicht zu den von ihnen verpflichteten Behörden zähle.985 Der Grund sei darin zu sehen, dass die öffentliche Zugänglichkeit der dort vorhandenen Informationen die gesetzliche Aufgabenerfüllung beeinflussen könne. Der Informationsanspruch berge die Möglichkeit, dass Schutzinteressen Dritter oder aufgabenbezogene Vertraulichkeitsinteressen beeinträchtigt würden. Mit der Entscheidung über Umfang und Grenzen der öffentlichen Zugänglichkeit von Verwaltungsinformationen werde indirekt mit über den normativen Stellenwert oder das praktische Gewicht bestimmter von einer Sachmaterie erfasster materieller Belange bestimmt und insgesamt eine zentrale, auf die behördliche Umsetzung der fachgesetzlichen Regelungsanliegen einwirkende Rahmenbedingung des Verwaltungshandelns gesetzt. „Der notwendige Ausgleich zwischen Transparenz- und Vertraulichkeitsinteressen muss von dem für die Sachmaterie zuständigen Gesetzgeber in enger Abstimmung auf die Sach- und Rechtsstrukturen der betroffenen Materie und deren spezifischen Problemlagen und Regelungsnotwendigkeiten vorgenommen werden.“986 Nebenbei hielt das BVerwG zudem fest, dass, soweit Bundesbehörden sonstige Sachmaterien der Art. 73 f. GG ausführen, die Erwägungen des Gerichts entsprechend zum Tragen kämen.987 Da der Bund von seiner Gesetzgebungskompetenz noch keinen Gebrauch gemacht hat, knüpft das BVerwG als Rechtsgrundlage für einen Auskunftsanspruch der Presse gegenüber Bundesbehörden verfassungsunmittelbar an Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG an, der allerdings auf das Niveau eines „Minimalstandards“ begrenzt sei.988 Während das Bundesverfassungsgericht die Frage der Gesetzgebungskompetenz offengelassen hat989, hat sich die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung der Auf 984
BVerwG NVwZ 2013, 1006 (1008 Rn. 22) unter Verweis auf BVerfGE 100, 313 (368 ff.); 130, 180. 985 BVerwG NVwZ 2013, 1006 (1008 Rn. 22). 986 BVerwG NVwZ 2013, 1006 (1008 Rn. 24). 987 BVerwG NVwZ 2013, 1006 (1008 Rn. 25). 988 BVerwG NVwZ 2013, 1006 (1008 Rn. 27 ff.). 989 BVerfG NVwZ 2016, 50 (51 Rn. 12).
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
271
fassung des Bundesverwaltungsgerichts angeschlossen.990 Im Schrifttum finden sich zum Teil zustimmende, aber auch kritische Stimmen.991 (a) Presserechtliche Auskunftsansprüche und die Facetten einer historischen Auslegung Dem Urteil wird entgegengehalten, die Kehrtwende des Bundesverwaltungsgerichts bedeute „einen bemerkenswerten Kontinuitätsbruch“.992 So seien presserechtliche Auskunftsansprüche seit jeher Bestandteil des Presserechts, weshalb das BVerwG diese Staatspraxis hätte berücksichtigen müssen.993 Diese auf die historische Auslegung verweisende Argumentation gibt Gelegenheit, noch einmal die in dieser Arbeit entwickelten Vorgaben zur Einbeziehung der Tradition aufzugreifen. Insbesondere greift das Argument gedanklich auf das in dieser Arbeit vorgestellte Modell eines Begriffsminimums zurück.994 Darunter wurde der Umstand beschrieben, dass alle Regelungen, die der Parlamentarische Rat (bzw. der heutige verfassungsändernde Gesetzgeber) zu einem Thema vorfand, vom Zuweisungsgehalt der Kompetenznorm umfasst sind und somit als kompetenzgemäß gelten. Einschränkend ist jedoch zu sagen, dass eine als historische Auslegung getarnte Argumentation mithilfe einer nachkonstitutionellen Staatspraxis methodisch nicht geeignet ist, Vorgaben für den Begriffsinhalt einer Kompetenznorm abzuleiten.995 Die presserechtlichen Auskunftsansprüche wurden erst in den 1960er Jahren in die Landespressegesetze eingefügt, auf den mutmaßlichen Willen des Verfassungsgebers kann daher nicht abgestellt werden.996 Das unterscheidet den presserechtlichen Auskunftsanspruch von pressespezifischen Verjährungsvorschriften, die schon vor 1949 seit je her „wesensmäßig“ und „historisch“ zum Presserecht zählten und deshalb auch vom Bundesverfassungsgericht gebilligt wurden.997
990
BVerwG NVwZ 2016, 945; BVerwG NVwZ 2018, 902 (903); OVG Berlin-Brandenburg NVwZ 2013, 1501 ff.; OVG Berlin NVwZ 2016, 950 (Rn. 11); OVG NRW NVwZ 2017, 3458 (3459 Rn. 7 ff.). 991 Zust. Elmenhorst, GRUR-Prax 2013, 341; Partsch, NJW 2013, 2858 ff.; Alexander, ZUM 2013, 614 (615); krit. Ehlers / Vorbeck, in: FS Frank, S. 222 ff.; Cornils, DÖV 2013, 657 ff.; Germelmann, DÖV 2013, 667 ff.; B. Huber, NVwZ 2013, 1010 f.; Kloepfer, JZ 2013, 892 ff.; Sachs / Jasper, NWVBl 2013, 389 ff. 992 Cornils, DÖV 2013, 657 (658); ders., in: Löffler, Presserecht, Einl Rn. 65. 993 OVG NRW, Urt. v. 18. 12. 2013 – 5 A 413/11, juris Rn. 72 ff.; Cornils, in: Löffler, Presserecht Einl Rn. 65; Ehlers / Vorbeck, in: FS Frank, S. 232; Germelmann, DÖV 2013, 667 (676); Kloepfer, DÖV 2013, 892; Sachs / Jasper, NWVBl 2013, 389 (391). 994 Zweites Kapitel V. 5. b). 995 Das wurde bereits erörtert, vgl. Zweites Kapitel VI. 2. 996 Zur Mutmaßung der inhaltsgleichen Übernahme Zweites Kapitel V. 4. d). 997 BVerfGE 7, 29 (38). Auch darauf wurde bereits unter Gliederungspunkt Zweites Kapitel VI. 3. c) bb) hingewiesen. Ausführlich dazu Drittes Kapitel II. 2. c) bb).
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Das Argument der Kontinuität ließe sich allenfalls retten, wenn man auf die Föderalismusreform von 2006 abstellt, die mit einer Überführung des Presserechts von der ehemaligen Rahmenkompetenz in die ausschließliche Zuständigkeit der Länder einherging. Es könnte argumentiert werden, dass jedenfalls mit der Verlagerung der Kompetenz auch eine verfassungsrechtliche Billigung der damaligen einfachgesetzlichen Rechtslage einherging. Auf dieses Argument kommt es aber ohnehin nicht an, wenn presserechtliche Auskunftsansprüche bereits im Wege eines typisierenden Fallvergleichs dem Begriffskern des Presserechts zugeordnet werden können.998 In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass Regelungen zum Presserecht zählen, wenn sie eine „spezifische Einrichtung“ darstellen, „die der Eigenart der Presse Rechnung tragen“.999 Wesensmäßig ist, dass der in Rede stehende Regelungsgegenstand pressespezifisch ist, also in besonderer Weise gerade die Angehörigen oder Belange der Presse betrifft.1000 Leitet man den pressesonderrechtlichen Bezug als (ein) Strukturelement der Presse ab, so kann auch der presserechtliche Auskunftsanspruch gegenüber Behörden als Presserecht subsumiert werden. Der Anspruch der Presse steht nur den „Vertretern der Presse“ zu.1001 Er soll gewährleisten, dass sie ausreichend informiert werden, um ihrer Informationsfunktion und ihrer pressespezifischen Aufgabe, nämlich der Mitwirkung an der Meinungsbildung, gerecht zu werden.1002 Derartige Ansprüche gehören somit in den Begriffskern des Presserechts. Entgegen der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts fallen Presseauskunftsrechte in die ausschließliche Zuständigkeit der Länder, auch soweit sie Bundesbehörden verpflichten. (b) Subsumtion der Vorgaben der Annexkompetenz Dieses Ergebnis genügt bereits, um eine vollumfängliche Zuständigkeit der Länder für Presseansprüche zu begründen. Umgekehrt folgt daraus grundsätzlich auch die Nicht-Kompetenz des Bundes. Dennoch soll hilfsweise der Frage nachgegangen werden, ob die Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts, der Presseauskunftsanspruch leite sich als Annex aus der jeweiligen Sachregelung ab, einer näheren Prüfung standhält. Eine Annexkompetenz verlangt, dass die Annexregelung einer Sachregelung dient und somit zu ihr ein akzessorisches Verhältnis aufweist. Sie setzt eine auf 998
Zweites Kapitel V. 5. b). BVerfGE 7, 29 (38). 1000 Cornils, DÖV 2013, 657 (659). Aus diesem Grund war das Zeugnisverweigerungsrecht für Presseangehörige nicht Presserecht, sondern Bestandteil des gerichtlichen Verfahrens (Art. 74 I Nr. 1 GG), weil das Recht auch anderen Personengruppen zusteht und somit keine pressespezifische, sondern eine „allgemeine verfahrensrechtliche Frage“ regelt (BVerfGE 36, 193 [205 f.]). Ausführlich zu den Fragen des Pressesonderrechts Lerche, JZ 1972, 468. 1001 Das unterscheidet den Presseanspruch auch vom Informationsfreiheitsanspruch nach dem IFG, der als „Jedermannsrecht“ ausgestaltet ist. 1002 So auch OVG NRW, Urt. v. 18. 12. 2013 – 5 A 413/11, juris Rn. 57. 999
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
273
einen Kompetenztitel gestützte Sachregelung voraus. Zu ihr muss sie ein dienendes Verhältnis aufweisen; bei isolierter Betrachtung hat der Annex einen unselbstständigen Charakter. Die Annexregelung darf nicht zur Hauptmaterie werden. Das setzt insbesondere einen spezifischen Zusammenhang zur Sachregelung voraus.1003 Geht man aber davon aus, dass presserechtliche Auskunftsansprüche zum Begriffskern des Presserechts gehören, dann bilden sie eine selbstständige Materie des Presserechts. Der Hauptzweck des Auskunftsrechts liegt darin, über die Informationsbeschaffung die Arbeitsfähigkeit der Presse sicherzustellen. Der medien rechtliche Anspruch hat auch keinen spezifischen Bezug zu einer bestimmten Sachinformation, vielmehr richtet er sich auf alle Informationen, er ist „sachblind“ und „sachkompetenzneutral“.1004 Das unterscheidet den medienrechtlichen Anspruch auch von spezifischen Informationsansprüchen wie sie etwa im UIG oder im VIG geregelt sind. Diese beziehen sich auf bestimmte Informationen einer (Bundes-)Sachmaterie. Dies spricht dafür, dass in Bezug auf den spezifischen Zusammenhang der qualitative Schwerpunkt des Anspruchs beim Presserecht liegt, weil der Anspruch die Rechtsstellung der Presseangehörigen ohne Rücksicht auf die Besonderheiten der jeweiligen Sachregelung konkretisiert. Daraus folgt, dass der Presseanspruch selbstständige Bedeutung hat und somit selbst Hauptmaterie ist. Der Tatbestand der Annexkompetenz ist somit nicht erfüllt. Auch eine weitere Erwägung spricht gegen die Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts. Das Gericht stützt seine Entscheidungsbegründung darauf, dass der Ausgleich zwischen Transparenz und Vertraulichkeit vom zuständigen Gesetzgeber „in enger Abstimmung auf die Sach- und Rechtsstrukturen der betroffenen Materie“ vorgenommen werden müsse.1005 Die Ansicht ist jedenfalls insofern konsequent, als dass der Annex sich auf eine (vorhandene) Sachregelung beziehen muss. Im Ergebnis führt die Ansicht aber dazu, dass der Bundesgesetzgeber, möchte er von der Annexkompetenz im Sinne der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts Gebrauch machen, für alle seine Sachregelungen entsprechende Informationsansprüche inklusive die Gründe einer Auskunftsverweigerung festlegen müsste – eine höchst unpraktische Konsequenz. Der Alternativweg, eine allgemeingesetzliche Bundesregelung für medienrechtliche Informationsansprüche zu schaffen, würde wiederum am spezifischen Zusammenhang zur Sachregelung scheitern.1006
1003
Zweites Kapitel VII. 3. bb). So ausdrücklich Cornils, DÖV 2013, 657 (661); vgl. auch Ehlers / Vorbeck, in: FS Frank, S. 232. 1005 BVerwG NVwZ 2013, 1006 (1008 Rn. 24). 1006 Andere Ansicht wohl Winkler, in: Sachs, GG, Art. 84 Rn. 5: „Die Inanspruchnahme der organisationsrechtlichen Kompetenz […] erlaubt ‚bevorratende‘ oder ‚vor die Klammer‘ gezogene organisationsrechtliche Regelungen, auf die spätere Bundesgesetze Bezug nehmen können“. 1004
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
(c) Kompetenz kraft Sachzusammenhangs Worum es dem Bundesverwaltungsgericht wohl eher geht, ist die Einschätzung, dass landespresserechtliche Auskunftsansprüche den effektiven und wirksamen Vollzug von Sachregelungen beeinflussen oder gar vereiteln könnten. Informationsansprüche verpflichten Bundesbehörden, vertrauliche und gegebenenfalls auch grundrechtsrelevante Daten preiszugeben. Damit – so das Bundesverwaltungsgericht – werde „indirekt mit über den normativen Stellenwert oder das praktische Gewicht bestimmter von einer Sachmaterie erfasster materieller Belange bestimmt [sic]“.1007 Diese Erwägung lässt den Schluss zu, dass es dem Gericht wohl weniger um eine Annexkompetenz, sondern eher um einen Sachzusammenhang geht. Wie bereits ausgeführt, ist dieser im Gegensatz zur Annexkompetenz in der Lage, auf eine fremde und an und für sich selbstständige Kompetenzmaterie (hier: Presserecht) überzugreifen. Der Sachzusammenhang setzt demgegenüber aber eine Unerlässlichkeit voraus. Diese ist jedoch nicht gegeben: Die jeweiligen Sachregelungen verlören nicht ihre Tragfähigkeit, wenn der Bundesgesetzgeber auf die Festlegung von Inhalt und Grenzen der Informationsansprüche verzichten würde. Dies lässt sich schon daran erkennen, dass das Bundesverwaltungsgericht zugleich einen auf einen „Minimalstandard“ begrenzten verfassungsunmittelbaren Auskunftsanspruch aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG entwickelt.1008 Schon die – freilich nicht unumstrittene1009 – Existenz dieses Anspruchs zeigt, dass der Bundesgesetzgeber die Grenzen des Informationsanspruchs nicht notwendig selbst festlegen muss. Die Bundesbehörden können vielmehr auch ohne bundesgesetzliche Regelung nach den Vorgaben des Verfassungsanspruchs Auskünfte erteilen oder verweigern. Unerlässlich kann der Sachzusammenhang also nicht sein.1010 Auch der Hinweis, dass Bundesbehörden das Landespresserecht beachten müssten und dies ihre Aufgabenerfüllung beeinflusst, genügt nicht, um eine Unerlässlichkeit anzunehmen. Zwar wird mit Recht aufgrund der Art. 83 ff. GG ein Vollzug von Landesrecht durch Bundesbehörden abgelehnt, andererseits haben auch Bundesbehörden Landesrecht zu beachten.1011 Das gilt etwa, wenn Bundesbehörden Baugenehmigungen nach dem Bauordnungsrecht beantragen müssen oder an das Natur- und Denkmalrecht gebunden sind.1012 Auch wird eine generelle Polizeipflichtigkeit ganz überwiegend angenommen1013; zum Teil wird sogar ver 1007
BVerwG NVwZ 2013, 1006 (1008 Rn. 24). Ehlers / Vorbeck, in: FS Frank, S. 233; a. A. Kloepfer, JZ 2013, 892 (893) spricht lediglich von der „Beachtung von Landesrecht“. 1009 Zur Kritik B. Huber, NVwZ 2013, 1010 f. 1010 So auch Germelmann, DÖV 2013, 667 (671); Sachs / Jasper, NWVBl 2013, 389 (393). 1011 St. Rspr. seit BVerwGE 29, 52 (57 ff.); vgl. weiter BVerwGE 31, 263; BVerwG NVwZ 1983, 474 (475); NVwZ 2009, 588 (589 Rn. 21); Schoch, in: ders., Besonderes Verwaltungsrecht, 2. Kap. Rn. 175; Stober, in: Wolff / Bachof / Stober / K luth, Verwaltungsrecht II, § 27 Rn. 19. 1012 Dazu etwa BVerwGE 114, 232 (239). 1013 Denninger, in: Lisken / Denninger, Handbuch des Polizeirechts, D Rn. 97; Schenke, Polizeiund Ordnungsrecht, Rn. 233; Schoch, in: ders., Besonderes Verwaltungsrecht, 2. Kap. Rn. 175; Wittreck, BeckOK, Polizei- und Ordnungsrecht NRW, § 4 Rn. 25 f. 1008
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
275
treten, dass die Landesbehörden gegenüber den Bundesbehörden mit polizei- und ordnungsrechtlichen Mitteln einschreiten dürfen.1014 Schlösse man eine Bindung des Bundes an kompetenzgemäß erlassene Landesgesetze aus, so könnte dieser landesübergreifende Gesetze punktuell durchbrechen und die föderale Struktur insgesamt in Frage stellen.1015 Dass der presserechtliche Auskunftsanspruch zu einer Leistungspflicht der Bundesbehörde1016 führt, ist also weder ungewöhnlich, noch führt der Anspruch zu einem verfassungswidrigen Übergriff in die Kompetenzen des Bundes. Ein solcher Übergriff könnte nur angenommen werden, wenn die sechzehn landespressegesetzlichen Auskunftsansprüche die Tragfähigkeit der bundesgesetzlichen Konzepte gefährden würden. Dem ist aber entgegenzuhalten, dass sie inhaltsneutral in Bezug auf Art, Stellenwert und Qualität der auskunftspflichtigen Information verfasst sind. Auch die Auskunftsverweigerungsgründe sind regelmäßig nur abstrakt beschrieben. Die Bundesbehörden bleiben weiterhin berechtigt und verpflichtet, selbstständig abzuwägen, wann die Auskunft ein überwiegendes öffentliches oder ein schutzwürdiges privates Interesse verletzen würde. Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht in einem anderen Zusammenhang bereits entschieden, dass es grundsätzlich zulässig ist, dass ein Gesetz die gesetzlichen Tatbestände nicht selbst festlegt, sondern auf andere Normen verweist, die von einem anderen Gesetzgeber erlassen worden sind.1017 In diesem Sinne verweisen auch die Informationsansprüche auf die „Vorschriften über die Geheimhaltung“, sie legen aber selbst nicht fest, wann eine Information geheimhaltungsbedürftig ist. Der (bundesgesetzliche) Sachgesetzgeber ist somit weiterhin berechtigt, geheimhaltungsbedürftige Tatbestände zu schaffen und somit den Stellenwert der von einer Sachmaterie erfassten materiellen Belange festzusetzen.1018 Der landespresserechtliche Auskunftsanspruch der Presse wird folglich auch nicht durch eine Kompetenz des Bundes kraft Sachzusammenhangs eingeschränkt. (d) Kompetenz kraft Natur der Sache Neben der Frage des Annexes bzw. der Kompetenz kraft Sachzusammenhangs hat das Bundesverwaltungsgericht die Frage aufgeworfen, „inwieweit eine Bundeskompetenz zur Regelung von Presseauskünften zusätzlich daraus herzuleiten ist, dass der Bund nach der Verfassungsordnung die Verantwortung für die administrative Ausrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundesverwaltung trägt“.1019 1014
Schoch, in: ders., Besonderes Verwaltungsrecht, 2. Kap. Rn. 175. Im Immissionsschutzrecht BVerwGE 117, 1; a. A. HessVGH NVwZ 1997, 304 (305); NVwZ 2002, 889; Denninger, in: Lisken / Denninger, Handbuch des Polizeirechts, D Rn. 98; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 234. 1015 Germelammn, DÖV 2013, 667 (670). 1016 Cornils, DÖV 2013, 657 (664); Ehlers / Vorbeck, in: FS Frank, S. 233. 1017 BVerfGE 26, 338 (366). In der Entscheidung ging es freilich um den umgekehrten Fall, dass eine Bundesnorm unter anderem auf landesgesetzliche Normen verweist. 1018 Ehlers / Vorbeck, in: FS Frank, S. 233 f.; Sachs / Jasper, NWVBl 2013, 389 (393). 1019 BVerwG NVwZ 2013, 1006 (1008 Rn. 25).
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Woraus sich diese Verantwortung des Bundes herleiten soll, lässt das Gericht offen. Mangels einer geschriebenen Kompetenz ist allenfalls eine Bundeskompetenz kraft Natur der Sache zu denken. Wie bereits gezeigt findet die Zuständigkeit ihren Grund in bestimmten Staats- oder Funktionsnotwendigkeiten, die es erforderlich machen, dass nur der Bund unter Ausschluss der Länder die Angelegenheiten wahrnehmen kann. Entscheidend für die Annahme einer Natur der Sache ist, dass es zur bundesgesetzlichen Lösung staats- oder funktionsnotwendig keine Alternative gibt.1020 Lässt sich eine andere Lösung mit beachtlichen Gründen rechtfertigen, so kann nicht auf eine Natur der Sache geschlussfolgert werden.1021 Die Anerkennung landespresserechtlicher Auskunftsansprüche gegenüber Bundesbehörden führt jedoch nicht zu rechtlich unerträglichen Rechtsfolgen. Zwar werden die Auskunftsverweigerungsgründe in den Landespressegesetzen vorgegeben, gleichwohl ist der Bund berechtigt, im Rahmen seiner Zuständigkeiten geheimhaltungsbedürftige Tatbestände näher zu konkretisieren. Vor dem Hintergrund, dass die pressegesetzlich geregelten Auskunftsverweigerungsgründe der Auslegung bedürfen, kann eine Funktionsnotwendigkeit einer bundeseinheitlichen Regelung nicht angenommen werden. Auch führt – dies wurde bereits erörtert – der Leistungsanspruch nicht zu einem Gesetzesvollzug des Landesrechts. Der Auskunftsanspruch ist im Hinblick auf die auszugebenden Daten – im Gegensatz zu Ansprüchen des UIG oder des VIG – kompetenzneutral formuliert. Der Verpflichtetenstatus der Bundesbehörde ist insofern nur zufällig danach gegeben, ob sie über bestimmte Daten verfügt, die für die Pressetätigkeit relevant sind.1022 Dies ist noch kein Gesetzesvollzug im Sinne von Art. 83 ff. GG, vielmehr handelt es sich bei der Verpflichtung der Bundesbehörden, der Presse Informationen zur Verfügung zu stellen, um die allgemeine Beachtung von Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG).1023 Eine Bundeskompetenz kraft Natur der Sache ist folglich abzulehnen. (e) Ergebnis Während voraussetzungslose Informationszugangsansprüche des Bürgers gegen über Bundesbehörden als Annex zur Sachregelung von einer Bundeskompetenz umfasst sein können, gilt dies nicht für presserechtliche Auskunftsansprüche. Der landespresserechtliche Auskunftsanspruch fällt in die ausschließliche Zuständigkeit der Länder für das Presserecht und umfasst auch Informationsrechte gegenüber Bundesbehörden. Weder kann eine ungeschriebene Bundeszuständigkeit kraft Annexes, kraft Sachzusammenhangs noch kraft Natur der Sache angenommen werden. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zum Aus 1020
Zu den leitenden Gesichtspunkten Zweites Kapitel VI. 3. b) cc). BVerfGE 11, 89 (99). 1022 Cornils, DÖV 2013, 657 (664). 1023 Sachs / Jasper, NWVBl 2013, 389 (396). 1021
VI. Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation
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kunftsanspruch der Presse gegenüber Bundesbehörden1024 beruht auf fehlerhaften Prämissen und einer einseitigen Argumentation, die insbesondere die Reichweite der Zuständigkeit für das Presserecht verkennt. Eine Korrektur dieser Rechtsprechung ist zu empfehlen. dd) Zusammenfassung Die Annexkompetenz ist ein implizit zugewiesener Bestandteil jeder Gesetzgebungskompetenz und berechtigt, das Ziel einer Sachregelung durch vor- oder nachgelagerte Durchführungsmaßnahmen zu erreichen. Die Annexkompetenz ist ein Instrument zur Zielerreichung und stellt hierfür verschiedene Modi staatlichen Handelns bereit. Die „Annexmaterien“ sind an und für sich unselbstständige und dienende Bestandteile zur finalen Steuerung der Sachregelungen und erlangen ihre Bedeutung durch die Verknüpfung mit eben diesen. Beim Sachzusammenhang ist das anders: Mithilfe dieser Kategorie kann der Sachgesetzgeber auf (selbstständige) Fremdmaterien zugreifen, für die bei isolierter Betrachtung der jeweils andere Kompetenzträger zuständig ist. Aus diesem Grund finden die Voraussetzungen der Sachzusammenhangsformel auf die Annexkompetenz keine Anwendung. Die Annexkompetenz setzt voraus, dass die als Annex zu betrachtenden Regelungen dem Ziel der jeweiligen Sachregelung zu dienen bestimmt sind. Sie sind „unselbstständig“, wenn sie ein akzessorisches Verhältnis im Sinne eines spezifischen Zusammenhangs zur Sachregelung aufweisen. Das ist der Fall, wenn die Annexregelung nach Gegenstand und Zielsetzung auf typische Gefahren oder auf allgemeine Besonderheiten der jeweiligen Sachmaterie reagiert und hierfür ein Instrumentarium bereitstellt. Als Hilfskriterium für die Feststellung, ob die Annexregelung noch der Sachregelung dient oder bereits eine selbstständige Hauptmaterie darstellt, kann nach dem qualitativen Schwerpunkt gefragt werden. Der Umgang mit diesen „Schwerpunktformeln“ wird Thema des nächsten Kapitels sein. 4. Fazit zur teleologischen Auslegung Nachdem im vorigen Abschnitt die Bedeutung der Tradition für die Kompetenzinterpretation erörtert wurde, hat sich dieser Abschnitt mit evolutiv-dynamischen Gesichtspunkten auseinandergesetzt. Teleologische Erwägungen sind stärker auf eine aktuale Verfassungsauslegung ausgerichtet als statisch-entstehungszeitliche Gesichtspunkte und können zu einer beweglichen Veränderung der Kompetenzordnung führen.
1024
BVerwG NVwZ 2013, 1006.
278
2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
Aufgrund der formalen Funktion von bundesstaatlichen Kompetenznormen lassen die meisten Kompetenztitel nur in schwachem Maße eigene Zwecke erkennen. Weder sind sie auf die Verpflichtung zum Tätigwerden ausgerichtet, noch kann den Kompetenznormen pauschal die Konkretisierung des Subsidiaritätsgebotes unterstellt werden.1025 Sie lassen aber zumindest den Zweck erkennen, dass der Kompetenzträger durch die Zuweisung des Befugnisbereichs in die Lage versetzt werden soll, von seinen Zuständigkeiten „effektiven“ Gebrauch zu machen. Je nachdem, welcher Kompetenzträger von der Kompetenznorm angesprochen wird, sollen Kompetenznormen entweder zu rechtseinheitlichen oder zu regionalen Lösungen ermächtigen. Rechtseinheit und Regionalprinzip haben aber weniger eine auslegungsdirigierende, sondern eher eine Hilfsfunktion. In positiver Hinsicht haben sie eine Indizfunktion, indem sie ein bereits gefundenes Ergebnis bestätigen, in negativer Hinsicht haben sie Grenzfunktion.1026 Ein weiterer, eng mit der „traditionellen Auslegung“ verbundener Topos ist die Berücksichtigung der Staatspraxis. Soweit die Staatspraxis an den Verständnishorizont des Verfassungsgebers beziehungsweise an den des verfassungsändernden Gesetzgebers anknüpft, gelten für sie die Maßstäbe der historischen Auslegung.1027 Soweit das Bundesverfassungsgericht jedoch an eine nachkonstitutionelle Staatspraxis anknüpft, können die damit verbundenen Argumente nicht überzeugen. Würde man die exekutive oder legislative Praxis der Bundes- oder Landesorgane als bindend für die Auslegung ansehen, so erhielten diese die Macht, die bundesstaatliche Kompetenzverteilung durch eine unterverfassungsrechtliche Praxis zu ändern – der Vorrang der Verfassung würde verkannt und die Verfassung unzulässig dynamisiert. Folglich darf die Staatspraxis nicht zur Ermittlung des Sinngehalts eines Kompetenztitels genutzt werden.1028 Gleichwohl ist es mit der formalen Funktion von Kompetenznormen nicht von vornherein unvereinbar, sie dynamisch und zukunftsoffen auszulegen. Einer Kompetenznorm ist implizit die Befugnis zugewiesen, die Sachregelungen mit Annexoder Sachzusammenhangsregelungen zu verknüpfen. Diese sollen dem Kompetenzträger die Möglichkeit eröffnen, seine Sachmaterien effektiv zu ordnen und die politischen Konzepte gesetzgeberisch umzusetzen.1029 Daneben findet mit der Kompetenz kraft Natur der Sache eine ungeschriebene Zuständigkeit Anwendung, die ihren Grund in bestimmten Staats- oder Funktionsnotwendigkeiten findet und es erforderlich macht, dass nur der Bund unter Ausschluss der Länder die Angelegenheiten wahrnehmen kann.
1025
Erstes Kapitel V. 6. Zweites Kapitel VI. 1. b). 1027 Zweites Kapitel V. 4. 1028 Zweites Kapitel VI. 2. 1029 Zweites Kapitel VI. 3. c) und VI. 3. d). 1026
VII. Zusammenfassung des zweiten Kapitels
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VII. Zusammenfassung des zweiten Kapitels Eine Wissenschaft, die es mit Begrifflichkeiten zu tun hat, muss sich der Aufgabe annehmen, die Begriffe so in Form zu bringen, dass sie rational verwendet werden können. Ein maßgebliches Kriterium für die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft ist ihre Methode, ihre Herangehensweise, juristische Fragestellungen zu lösen. Im Zentrum der rechtswissenschaftlichen Methode stehen die Grundsätze der Auslegung. Diese gelten auch für die Interpretation von bundesstaatlichen Kompetenzvorschriften. Das zweite Kapitel hat sich mit diesen Grundfragen beschäftigt; es nimmt zugleich für diese Arbeit den zentralen Raum ein. Der Interpret von Gesetzgebungskompetenzen stößt bei der Auslegung auf die Schwierigkeit, dass sich der Verfassungsgeber für ein nach Sachmaterien geordnetes System entschieden hat. Die Auflistung in ausschließliche Bundeszuständigkeiten, konkurrierende Zuständigkeiten und Residualkompetenzen der Länder (Art. 70 Abs. 1 GG) legt den Schluss nahe, dass alle Kompetenztitel gegenseitig punktgenau abgezirkelt werden können. Daraus werden Folgerungen hergeleitet, die Kompetenzordnung verlange eine besondere Bestimmtheit und eine „strikte Interpretation“.1030 Bei genauerer Betrachtung ist diese Annahme so kaum haltbar. Schon die unterschiedlichen Formulierungsweisen der einzelnen Titel, die mal einen Wirklichkeitsausschnitt, mal einen Rechtsbereich betreffen, gegebenenfalls aber auch final programmiert sein können1031, lassen erahnen, dass sich die Anwendungsbereiche gegenseitig berühren, überlagern und sich teilweise auch widersprechen. Eine weitere Schwierigkeit tritt hinzu: Die herkömmlichen Auslegungsvarianten, nämlich die Auslegung nach Wortlaut, Systematik und Sinn und Zweck führen oft nicht zu abschließenden Ergebnissen. Zumeist haben sie in positiver Hinsicht lediglich Indizwirkung, in negativer Hinsicht Grenzwirkung. Der Verfassungsinterpret ist somit auf weitere Auslegungslinien verwiesen. Die vielleicht bedeutendste ist die historische Auslegung. Sie hat für die Auslegung des Bundesverfassungsgerichts eine besondere Bedeutung erhalten. Die Kompetenzkataloge seien „im steten Rückblick auf die Weimarer Reichsverfassung“ formuliert worden. Deshalb verdiene der historische Zusammenhang in der deutschen Gesetzgebung besondere Aufmerksamkeit; dem Merkmal des Traditionellen oder Herkömmlichen komme eine wesentliche Bedeutung zu. Leider hat es das Bundesverfassungsgericht bis heute versäumt, seine Methode näher zu konkretisieren und die Voraussetzungen, aber auch die Grenzen der Berücksichtigung des „Traditionellen“ festzulegen. Insbesondere kann die vom Bundesverfassungsgericht getroffene Unterscheidung von normativ-rezeptiven und faktisch-deskriptiven Kompetenzzuweisungen nicht befriedigen.1032
1030
Zweites Kapitel II. Erstes Kapitel II. 3. 1032 Zweites Kapitel V. 4. c). 1031
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
In dieser Arbeit wurde ein anderes Konzept entwickelt. In Anlehnung an die Versteinerungstheorie des österreichischen Verfassungsgerichtshofs1033 wurde beschrieben, dass viele – nicht alle – Kompetenzen am ehesten rational erfasst werden können, wenn man von einer „Mutmaßung der inhaltsgleichen Übernahme“ ausgeht.1034 Verwendet der Verfassungsgeber Begrifflichkeiten, die an einen rechtlich vorgeprägten Begriff anknüpfen, so darf der Verfassungsinterpret fingieren, dass der Verfassungsgeber von dem vorgefundenen Sprachgebrauch nicht abrücken wollte. Gegen die Forcierung historischer Erwägungen kann das Argument der Versteinerung des Rechts eingewandt werden. Zugegeben: Die strenge Orientierung am Vergangenen ist für eine rechtsdogmatische Arbeit sicher nicht die eleganteste Lösung, doch hat sie immerhin den Vorteil, dass die Ableitungen am ehesten dem Postulat einer hinreichend bestimmbaren Kompetenzordnung gerecht werden. Wenn nämlich die anderen Methoden zur rationalen Begriffsbestimmung versagen, so müssen weitere Hilfsmittel gefunden werden, die eine rechtssichere Kompetenzauslegung gewährleisten. „Dynamische“, „flexible“, „schöpferische“ oder „effektive“ Kompetenzauslegungen, aber auch die Orientierung an der Staatspraxis der handelnden Organe1035 können das Gebot einer bestimmbaren Kompetenzordnung nicht erfüllen, zumal berücksichtigt werden sollte, dass die Kompetenzauslegung beidseitig ausgestaltet ist1036: Da die einzelnen Kompetenzzuweisungen im Querschnitt zueinander stehen, einen wechselseitigen Bezug haben und sich gegenseitig ergänzen, ist es angezeigt, bei der Auslegung eines Kompetenztitels auch die Reichweite des anderen Kompetenzträgers mit im Auge zu behalten.1037 Außerdem wurde gezeigt, dass eine Versteinerung ohnehin nicht befürchtet werden muss. In diesem Zusammenhang wurden weitere Konzepte erörtert, die darauf angelegt sind, die Kompetenzbereiche zukunftsoffen zu gestalten, zugleich aber den anderen Kompetenzträger vor dem Übergriff in seine Reservate zu schützen. Es geht also darum, die Randbereiche, ausgehend vom Kern des Kompetenz bereichs, auszuloten. Hierzu dient zunächst das Konzept des typisierenden Fallvergleichs.1038 Nicht sämtliche Regelungen des vorgefundenen Rechts bilden für alle Zeiten den Kompetenzgehalt ab, sie bilden nur das Begriffsminimum, auf dessen Grundlage die Baupläne und Strukturen abstrahiert werden können. Die maßgeblichen Regelungssysteme, die das vorgefundene Recht ausmachten, sollen den typischen Gehalt (Begriffskern) der Kompetenz ausformen. Will der Gesetzgeber auf Grundlage des Kompetenztitels neue politische Ideen verwirklichen, so müssen seine Gesetze 1033
Zweites Kapitel V. 4. b). Zweites Kapitel V. 4. d). 1035 Zweites Kapitel VI. 2. 1036 Erstes Kapitel V. 3. 1037 Zweites Kapitel IV. 1038 Zweites Kapitel V. 5. b). 1034
VII. Zusammenfassung des zweiten Kapitels
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zwar nicht bis ins kleinste Detail dem vorgefundenen Recht (Begriffsminimum) entsprechen, sie müssen aber zumindest in den Grundstrukturen hinreichend vergleichbar sein. Das Konzept ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungs gerichts in seinen Grundlagen erprobt1039 und dürfte als anschluss- und rezeptionsfähig gelten. Darüber hinaus sind der Kompetenz – abgesehen von der „ungeschriebenen“ Kompetenz kraft Natur der Sache1040 – zwei weitere Befugnisse stillschweigend mitgeschrieben: die Annexkompetenz und die Kompetenz kraft Sachzusammenhang. Beide Begriffe bezeichnen keine selbstständigen Kompetenzen, sie lassen sich vielmehr als kompetenzintern wirkende Begründungstatbestände für Zuständigkeiten verstehen und gehören somit in die Kategorie der teleologischen Auslegung. Doch erschöpft sich ihre Bedeutung nicht in einer bloßen Spielart der teleologischen Auslegung. Sie sind vielmehr Oberbegriffe für typische Argumentationslinien, die es dem Kompetenzträger ermöglichen, seine gesetzgeberischen Ziele auf Grundlage der ihm zugewiesenen Zuständigkeiten erreichen zu können. Danach unterscheiden sich der Sachzusammenhang und der Annex in der Art des Zugriffs auf weitere Angelegenheiten. Der Sachzusammenhang ist darauf ausgerichtet, dass der Gesetzgeber auf fremde Materien übergreift, um seine sachgesetzlichen Konzepte erfüllen zu können. Unerlässlichkeit liegt vor, wenn das Herausbrechen der Fremdmaterie die Gesamtkonstruktion des legislativen Konzepts insgesamt gefährden würde. Das ist insbesondere der Fall, wenn die Sachmaterie ihre Tragfähigkeit verlöre, wenn die Regelung der Fremdmaterie entfiele. Zusätzlich muss die Fremdregelung einen akzessorischen Bezug zu den getroffenen Sachregelungen aufweisen und zum Schutze der Zuständigkeiten des anderen Kompetenzträgers darf der Übergriff nur punktuell wirken.1041 Insgesamt verdeutlichen die strengen Voraussetzungen, dass der Sachzusammenhang nicht als Regelfall angenommen werden kann und unter erheblichem Begründungszwang steht. Der Annex greift dagegen nicht in fremde Zuständigkeiten über. Die in Bezug genommenen Annexmaterien sind vielmehr unselbstständig; sie stellen zur Zielerreichung verschiedene Modi staatlichen Handelns bereit. Sie haben vorrangig dienenden Charakter.1042 Der Unterschied zum Sachzusammenhang wirkt sich auf den Tatbestand der Annexkompetenz aus: Der Annex muss nicht „unerlässlich“ sein, er muss lediglich einen akzessorischen und spezifischen Bezug zur Hauptmaterie aufweisen.1043 Insgesamt vermag es die hier gezeichnete Kompetenzinterpretation, einen Mittelweg zwischen Stabilität und Entwicklungsoffenheit zu finden. Weder ist es Bund und Ländern möglich, einseitig Kompetenzbegriffe neu zu interpretieren sowie Re 1039
Zweites Kapitel V. 5. c). Zweites Kapitel VI. 3. b). 1041 Zweites Kapitel VI. 3. c) cc). 1042 Zweites Kapitel VI. 3. d) aa). 1043 Zweites Kapitel VI. 3. d) bb). 1040
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2. Kap.: Grundfragen der Auslegung von Kompetenznormen
gelungen und Rechtsgebiete zu schaffen, für die sie eigentlich nicht zuständig sind. Der Bestand der zugewiesenen Kompetenzen ist aber auch nicht so starr festgelegt, dass der Bundesstaat es ihnen verwehrt, auf neuartige Probleme zu reagieren und neue gesetzgeberische Konzepte zu verfolgen. Gleichwohl kann unter Umständen auch die sorgfältigste Kompetenzinterpretation nicht verhindern, dass eine Regelung zwei unterschiedliche Kompetenzbereiche berührt. Es muss dann die Frage entschieden werden, welcher Kompetenznorm diese Regelung schwerpunktmäßig unterfällt. Dies ist eine Frage der Zuordnung von Kompetenznormen und Gegenstand des nun folgenden Kapitels.
Drittes Kapitel
Maßstäbe der Kompetenzzuordnung I. Einführung und Einordnung der Problematik Die Kompetenzzuordnung ist der methodisch zweite Schritt der Kompetenzanwendung. Ist der in Betracht kommende Titel ausgelegt, so bedarf es nunmehr der Zuordnung, ob die Regelung in den (ausgelegten) Kompetenzbereich fällt. Gelegentlich wird dieser Vorgang auch kompetentielle Qualifikation genannt.1 Im Grunde geht es aber um einen dem Juristen wohl vertrauten Vorgang: Es geht um die Frage, ob die Unterbegriffe den Merkmalen der Oberbegriffe entsprechen. Wenn also von „Zuordnung“ oder „Qualifikation“ die Rede ist, so ist letztlich nichts anderes gemeint als der Vorgang der Subsumtion unter einen Obersatz im syllogistischen Schluss.2 Die Schwierigkeit der Kompetenzzuordnung liegt nun aber darin, dass der zu subsumierende Sachverhalt selbst ein Gesetz ist.3 Wenn in der kompetenzrechtlichen Literatur vorrangig von „Zuordnung“, statt von „Subsumtion“ die Rede ist4, so dürfte dahinter der zutreffende Befund stehen, dass die Zuordnung einer Regelung zu einem Kompetenzbereich kein in sich logischer und bloß feststellender Vorgang ist, sondern dass die Zuordnung eine Bewertung voraussetzt, weshalb die Merkmale der zu subsumierenden Regelungen den Merkmalen des Obersatzes entsprechen. Die Schwierigkeit liegt darin, komplexe Regelungen oder auch ganze Regelungskomplexe einer Kompetenznorm zuzuordnen, die ihren Tatbestand lediglich etikettiert.5 Die Subsumtion hat hier also eher den Charakter einer wertenden Beurteilung als den einer Tatsachenbehauptung. Diese Besonderheit wird auch dadurch zum Ausdruck gebracht, dass der Subsumtionsgegenstand selbst ein 1
Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 200; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 123; Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 85. 2 Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 109; Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, S. 117 f. 3 Die nachfolgenden Erwägungen sollen nicht im Sinne einer „Einzigartigkeit“ der Kompetenzanwendung missverstanden werden, sondern gelten letztlich für alle Normen der Verfassung, an denen ein Gesetz zu messen ist, das ausgelegt werden muss. Ob zum Beispiel ein Gesetz ein Grundrecht verletzt, hängt davon ab, ob seine Rechtsfolgen einen Eingriff darstellen, was von der Auslegung der jeweiligen Rechtsvorschrift abhängt. Auch im Zivilrecht stellen sich ähnliche Fragen, etwa wenn Willenserklärungen auszulegen sind. Dass hier von einer „Besonderheit“ die Rede ist, soll nur dazu dienen, die Schwierigkeit des Rechtsanwendungsvorgangs zu akzentuieren. 4 Etwa Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Rn. 55. 5 Darauf weist hin Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 69.
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3. Kap.: Maßstäbe der Kompetenzzuordnung
Gesetz ist, das ebenfalls ausgelegt werden muss. Dem Rechtsanwender stellt sich somit folgende Herausforderung: Er muss nicht nur die in Frage kommende Kompetenznorm, sondern zugleich auch die zu subsumierenden Regelungen auslegen; er muss also sowohl den Obersatz als auch den Untersatz interpretativ aufbereiten.6 Dass beide Vorgänge eng miteinander zusammenhängen, dürfte kaum überraschen. Die Anwendung von Kompetenznormen sind ein Musterbeispiel für den hermeneutischen Zirkel, den Engisch passend als das „Hin- und Herwandern des Blickes“ umschrieben hat.7 Nicht nur die Kompetenznorm wird mit Blick auf den Subsumtionsgegenstand ausgelegt, sondern auch die zu subsumierende Regelung wird mit Blick auf den in Frage kommenden Kompetenztitel betrachtet.8 Die Kompetenzanwendung ist also ein in sich verschlungener Prozess, bei dem Auslegung und Zuordnung gedanklich gemeinsam ablaufen.9 Besonders deutlich wird das in dem hier vertretenen Konzept des typisierenden Fallvergleichs, das über die Entwicklung von wesentlichen Strukturmerkmalen (Begriffskern) hinaus immer auch die Zuordnungskomponente der neuartigen Regelungen integriert.10 Das Gleiche gilt für den Sachzusammenhang und den Annex. Ob beispielsweise eine Regelung als Annex im Schwerpunkt noch der Hauptmaterie dient oder schon eine selbstständige und eigene Sachmaterie betrifft, kann erst auf der Zuordnungsebene entschieden werden. Auslegung und Zuordnung sind also enger miteinander verknüpft, als es hier die Aufteilung in zwei Kapitel zunächst suggeriert. Gleichwohl hat auch der Vorgang der Qualifikation im Kompetenzrecht eine eigenständige Bedeutung mit spezifischen Schwierigkeiten. Unproblematisch ist die Subsumtion in der Regel, wenn eine Norm bereits dem traditionellen Begriffsminimum einer Norm entspricht.11 Es kann aber auch vorkommen, dass eine Regelung auch nach Auslegung der in Betracht kommenden Kompetenznormen mehreren Titeln zugeordnet werden kann. Es entspricht demgegenüber der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts12 sowie der in dieser Arbeit erörterten Wirkung von Zuständigkeiten, dass „Doppelkompetenzen“ dem Bundesstaat fremd sind.13 Zwar mag der Vorgang der Qualifikation vernachläs 6
Rodi, StuW 1999, 105 (113); Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 97. 7 Dazu bereits unter Zweites Kapitel I. 1. 8 Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 49; Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 86; Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, S. 25. 9 Kaufmann, in: ders., Beiträge zur Juristischen Hermeneutik, S. 75. 10 Zweites Kapitel V. 5. 11 Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 55; Stettner, in: Dreier, GG, II, Supplementum, Art. 70 Rn. 34. 12 BVerfGE 36, 193 (202 f.); 61, 149 (204); 106, 62 (114). 13 Zur Nichtexistenz von Doppelzuständigkeiten Erstes Kapitel V. 2. b). Vgl. auch BVerfGE 36, 193 (202 f.); 61, 149 (204); 67, 299 (321); 106, 62 (114); Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 205; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 62; Jarass, NVwZ 1996, 104; Kunig, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 70 Rn. 12; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 133 ff.; Rengeling, in: HStR VI,
II. Kriterien der Qualifikation
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sigbar erscheinen, wenn eine Bundeszuständigkeit feststeht und nur zwischen in Frage kommenden Bundeskompetenzen abgegrenzt werden muss. Stehen aber die ausschließlichen Zuständigkeiten der Länder im Raum oder könnte eine konkurrierende Zuständigkeit im Feld der Art. 72 Abs. 2 oder 3 GG betroffen sein, dann bedarf es der Abgrenzung, unter welchen Titel die Regelung subsumiert werden kann. Dies kann im Einzelfall äußerst schwierig, teilweise sogar nahezu unmöglich sein. Gleichwohl gehen die nachstehenden Ausführungen von der Vorstellung aus, dass nahezu „eindeutige“14 Ergebnisse erzielt werden können und das Diktum der Trennung und Alternativität aufrechterhalten werden kann. Dazu bedarf es Kriterien, die in der Lage sind, den Subsumtionsgegenstand so zu fixieren, dass auch in den Problemkonstellationen rationale Zuordnungsergebnisse gewährleistet sind. Diese Gesichtspunkte werden im Folgenden zu entfalten sein.
II. Kriterien der Qualifikation Für die Zuordnung einer Regelung zu einer Kompetenznorm genügt es nicht, dass sie die in Frage kommende Materie lediglich berührt. Angesichts der vielfältigen Wirkungsmöglichkeiten von Gesetzen würde dies stets zu Mehrfachqualifikationen führen.15 So hat etwa eine arbeitsrechtliche Regelung immer auch einen Bezug zum Recht der Wirtschaft.16 Vertragsärztliche Regelungen auf Grundlage der Zuständigkeit für die Sozialversicherung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) weisen nicht selten Berührungspunkte zum allgemeinen Berufsrecht auf, das in die Zuständigkeit der Länder fällt.17 Würde man die Möglichkeit mehrfacher Qualifikationen zulassen, so würde dies unweigerlich Doppelkompetenzen zur Folge haben; das Problem der Konkurrenz- und Kollisionsauflösung wäre lediglich auf die Ebene der Kompetenzausübung verlagert. Demgegenüber erscheint es vorzugswürdig, von der Maßgabe auszugehen, dass eine Regelung stets nur einem Kompetenztitel zugeordnet werden kann. Hierfür bedarf es Kriterien, die Aufschluss geben, mit welcher Qualität die Regelung den in Betracht kommenden Kompetenzbereich berühren muss, damit sie subsumiert werden kann.
§ 135 Rn. 41, 47; Rodi, StuW 1999, 115 (113); Umbach / Clemens, GG, Art. 70 Rn. 17; differenzierend Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 337 f., der zwar von der Existenz „chamäleonhafter“ Normen ausgeht, aber dennoch im Ergebnis die Existenz von Doppelkompetenzen verneint. 14 Gemeint ist eine Eindeutigkeit als „regulative Idee“ i. S. v. Kant; dazu Canaris, Richtigkeit und Eigenwertung in der richterlichen Rechtsfindung, S. 41. 15 Pestalozza, DÖV 1972, 181 (183). 16 Vgl. in diesem Zusammenhang die Diskussion um die kompetenzielle Verortung von Arbeitszeiten im Ladenöffnungsrecht BVerfGE 138, 261 (273 Rn. 26 ff.); Kämmerer / T hüsing, GewArch 2006, 266 ff.; Thüsing / Stiebert, GewArch 2013, 425 (432); Ulber, NVwZ 2015, 1026 ff.; grundlegend bereits BVerfGE 1, 283 (292). 17 Vgl. dazu ausführlich Prehn, MedR 2015, 560 ff.
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3. Kap.: Maßstäbe der Kompetenzzuordnung
1. Zuordnung nach dem objektivierten Willen des Gesetzgebers Das Bundesverfassungsgericht hat bislang verschiedene Kriterien für die kompetentielle Qualifikation genutzt.18 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts geschieht die Zuordnung einer Regelung zu einer Kompetenznorm „anhand von unmittelbarem Regelungsgegenstand, Normzweck, Wirkung und Adressat der zuzuordnenden Norm sowie der Verfassungstradition.“19 In anderen, vor allem früheren Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht zudem betont, es komme auf den Hauptzweck, nicht auf den Nebenzweck einer Regelung an.20 Teilweise sprach es auch vom unmittelbaren Zweck, wobei in der Sache nichts anderes gemeint war.21 Den „Zweck“ hat das Bundesverfassungsgericht jedoch nie als die subjektive Normintention des Gesetzgebers, sondern stets als „objektivierten Willen des Gesetzgebers“ verstanden. Dies ist auch folgerichtig, weil das Bundesverfassungsgericht so deutlich macht, dass es bei der Subsumtion auf die Auslegung der Regelung ankommt, die nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach dem objektivierten Willen des Gesetzgebers fragt.22 Die heute angebotenen Kategorien „unmittelbarer Regelungsgegenstand“, „Normzweck“, „Wirkung“ und „Adressat der zuzuordnenden Norm“ weisen ebenfalls in diese Richtung, da alle diese Kriterien geeignet sind, auf den objektivierten Willen des Gesetzgebers zu schließen. Gegenstand der Kompetenzzuordnung ist also die Frage, in welchen Kompetenzbereich die nach dem objektivierten Willen des Gesetzgebers ausgelegte Regelung fällt.23 Damit entfällt die Streitfrage, ob es eher auf gesetzgeberische Ziele, Wirkungen oder auf den Gegenstand der Regelung ankommt. All dies sind Indizien, die auf den objektivierten Willen des Gesetzgebers hindeuten. Scholz hat diese Auslegung auch als funktionale Qualifikation bezeichnet24, womit er die Berücksichtigung von Zweck und Wirkung der zu qualifizierenden Regelung sowie eine damit einhergehende Effizienzkontrolle“ versteht.25 Doch sollte berücksichtigt werden, dass eine solche Auslegung nicht in eine „Effizienzkontrolle“26 übergeht. Auf die Wirkung wird vielmehr abgestellt, um die Normintention zu ermitteln. 18
Ausführliche Darstellung bei Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 88 ff. 19 BVerfGE 121, 30 (47) unter Verweis auf BVerfGE 7, 29 (44); 28, 21 (32); 33, 125 (152 f.); 106, 62 (105); so auch jüngst BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 104. 20 BVerfGE 8, 104 (116 f.); 8, 143 (149 ff.); 13, 181 (196 f.); 13, 367 (371 f.); 26, 281 (298); 29, 402 (409); 34, 139 (144); 36, 193 (205); ähnlich auch BVerfGE 110, 141 (171); BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 105. 21 BVerfGE 8, 104 (116 f.); 8, 143 (150); 24, 300 (353); 26, 281 (298). 22 So jüngst wieder BVerfGE 144, 20 (212 Rn. 555). 23 Scholz, in: FG BVerfG, S. 268; Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 90. 24 Scholz, in: FG BVerfG, S. 268. 25 Scholz, in: FG BVerfG, S. 268; zust. Herbst, in: Berliner Kommentar, Art. 70 Rn. 37; Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 70 Rn. 34; Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 90. 26 So aber Scholz, in: FG BVerfG, S. 268 f.
II. Kriterien der Qualifikation
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Das Stichwort der funktionalen Qualifikation sollte also nicht als eine neue Form der Auslegung missverstanden werden. Gleichwohl ist das Verhältnis der Gesichtspunkte nicht immer eindeutig. Was ist, wenn der unmittelbare Regelungsgegenstand, also etwa die Form des Handlungsmittels, in einen Kompetenzbereich fällt, die Wirkung der Regelung aber eher Gesichtspunkte eines anderen Kompetenzbereichs berührt? Dieses Auseinanderfallen von Form und Wirkung wird vor allem bei sogenannten Lenkungssteuern diskutiert, wobei auch andere Fälle denkbar sind.27 Lenkungssteuern sind solche steuerliche Regelungen auf Grundlage von Art. 105 GG, die auf eine Verhaltensbeeinflussung abzielen, also Aspekte betreffen, die grundsätzlich in die Sachgesetzgebungskompetenzen der Art. 70 ff. GG fallen. Dazu werden verschiedene Positionen vertreten. Während die einen die Lenkungssteuer ausschließlich der Steuergesetzgebungskompetenz zuordnen wollen28, vertritt eine andere, nicht minder prominente Auffassung, dass bei einer Lenkungssteuer zusätzlich zur Steuerkompetenz auch die Sachkompetenz hinzutreten müsse (sog. Lehre von der doppelten Kompetenzgrundlage).29 Das Bundesverfassungsgericht hat diese Streitfrage in zwei Urteilen höchstrichterlich entschieden.30 Einer doppelten Kompetenzgrundlage bedürfe es nicht. Vielmehr sei eine Lenkungssteuer ausschließlich eine Steuer im Sinne von Art. 105 GG. Sie bleibe als Handlungsmittel in den Rechtsfolgen und in der Ertragswirkung eine Steuer; der Gesetzgeber regele lediglich das Steuerpflichtverhältnis rechtsverbindlich, während die steuergesetzlich empfohlene Ausweichreaktion von dem Willen des Steuerpflichtigen abhänge.31 Welcher Ansicht zu folgen ist, muss an dieser Stelle nicht entschieden werden.32 Vorerst interessiert nur die Methode des Bundesverfassungsgerichts. Im Zweifel tendiert es dazu, dem unmittelbaren Regelungsgegenstand, also der Form der staatlichen Regelung Vorzug zu geben.33 Nur wenn die steuerliche Lenkung nach Gewicht und Auswirkung einer verbindlichen Verhaltensregel nahekomme, die Finanzfunktion der Steuer also durch eine Verwaltungsfunktion mit Verbotscharakter verdrängt werde, biete die Besteuerungskompetenz keine ausreichende
27 Man denke etwa an arztrechtliche Regelungen der (Landes-)Ärztekammern sowie kassen ärztliche Regelungen auf Grundlage von Art. 74 I Nr. 12 GG oder an Ladenöffnungszeiten, die auch für die Bestimmung der Arbeitszeiten von Arbeitnehmer relevant sind. 28 Pieroth, WiVerw 1996, 65 (73); Rodi, StuW 1999, 105 (113 f.); Trzaskalik, Gutachten zum DJT 2000, Bd. 1, S. E 5 (E 28, 32 f.). 29 Grundlegend P. Kirchhof, Besteuerungsgewalt und Grundgesetz, S. 73; K. Vogel, in: HStR IV2, 1999, § 87 Rn. 52: ders., Vogel, FS Badura, S. 604; Kluth, DVBl 1992, 1261 (1265); Stern, Staatsrecht II, S. 1105. Teilweise wird auch vertreten, dass steuerliche Lenkungsnormen ausschließlich an der Sachgesetzgebungskompetenz zu messen sind, vgl. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1062. Ausführlich zum Streitstand Barthelmann, Der gestaltende Steuergesetzgeber, S. 63 ff. 30 BVerfGE 98, 83; 98, 106; vgl. auch schon BVerfGE 16, 147 (161); 30, 250 (264); 36, 66. 31 BVerfGE 98, 106 (117 f.). 32 Vgl. aber Viertes Kapitel III. 3. a) bb). 33 So auch in BVerfGE 121, 317 (348).
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3. Kap.: Maßstäbe der Kompetenzzuordnung
Rechtsgrundlage.34 Die faktische Wirkung einer Regelung hat also eher eine Grenzfunktion und wird als Indiz verwendet, das auf den unmittelbaren Gegenstand der Regelung hindeuten soll. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht diese Rechtsprechung nur auf Lenkungssteuern beschränkt, doch lässt sich dieser Ansatz ebenso gut auf alle anderen titelübergreifenden Störwirkungen übertragen.35 Bisweilen ist auch von der Verfassungstradition als Zuordnungskriterium die Rede.36 Soweit sie zur Bestimmung genutzt wird, welchen Umfang der Kompetenzbereich traditionell (d. h. vor der relevanten Kompetenznormsetzung37) hat, so wird die Verfassungstradition nicht als Maßstab der Kompetenzzuordnung, sondern als Maßstab der Kompetenzauslegung verwendet. Für die damit verbundenen Rechtsfragen ist auf das zweite Kapitel zu verweisen.38 Wird die Verfassungstradition hingegen als ein Zuordnungskriterium genutzt, so ist Vorsicht anzumahnen. Das Argument, dass eine bestimmte Regelung seit jeher traditionell in die Kompetenzmaterie fällt, kann insbesondere zur gefürchteten „Versteinerung des Rechts“ führen.39 Zu bedenken ist nämlich, dass sich die Ordnungsvorstellungen von Gesetzen auch ändern können. Ändern sich die Ordnungsvorstellungen, so hat dies eine Neubewertung der Kompetenzzuordnung zur Folge. Entschlössen sich beispielsweise die Länder, das Spielbankenrecht zukünftig unter wirtschaftsliberalen und weniger unter ordnungsrechtlichen Aspekten zu ordnen, so würden spielbankenrechtliche Regelungen nach dem objektivierten Willen einen wirtschaftsrechtlichen Schwerpunkt aufweisen. Die Kompetenzgrundlage wäre dann nicht mehr das allgemeine Gefahrenabwehrrecht aus Art. 70 Abs. 1 GG, sondern das Recht der Wirtschaft. Die Länder könnten diese Befugnis in der Folge wahrnehmen, solange und soweit der Bund unter der Voraussetzung des Art. 72 Abs. 2 GG nicht von seiner Zuständigkeit Gebrauch gemacht hat. Dass eine solche Neuordnung eines Rechtsgebiets prinzipiell möglich ist und eine veränderte Kompetenzsituation zur Folge haben kann, hat das Bundesverfassungsgericht in dem Sportwetten-Urteil deutlich gemacht.40 Wäre die Verfassungstradition der jeweiligen Regelungen entscheidend, so würde das einfache Recht die Bestimmung des Umfangs der Kompetenznormen determinieren, was zu einer „Gesetzmäßigkeit der Verfassung“41 führen würde. Damit teilt die Verfassungstradition als Zuordnungskriterium dieselben Bedenken, die auch für die Staatspraxis als Interpretation der Gegenwart gelten.42 Es ist folglich ein unzulässiges Zuordnungskriterium. 34
BVerfGE 98, 106 (118). Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, S. 96. 36 BVerfGE 121, 30 (47); Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 57, 61; Lutz, Vielfalt im Bundesstaat, S. 164 ff. 37 Zum relevanten Zeitpunkt Zweites Kapitel V. 4. e). 38 Zweites Kapitel V. 39 Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 49. 40 BVerfGE 115, 276 (318 f.); vgl. Dietlein, in: Dietlein / Hecker / Ruttig, Glücksspielrecht, Einf. Rn. 10. 41 Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung. 42 Zweites Kapitel VI. 2. 35
II. Kriterien der Qualifikation
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2. Zuordnung nach dem Schwerpunkt der Regelung a) Allgemeines Wie bereits betont wurde, ist die Kompetenzordnung darauf ausgerichtet, die Regelungen auch in den schwierigen Fällen einem einheitlichen Kompetenztitel zuzuordnen; Doppelkompetenzen sind der Kompetenzordnung fremd. Fragt man nach dem objektivierten Willen des Gesetzgebers und somit nach dem durch den Gegenstand bestimmten Hauptzweck, so wird regelmäßig nur eine einzige Zuordnung möglich sein. In bestimmten Fällen kann es aber dennoch vorkommen, dass eine Regelung zwei Kompetenzbereiche berührt und nicht eindeutig gesagt werden kann, welcher Bereich „primär betroffen“ ist. Man kann insoweit von „chamäleonhaften“ Regelungen sprechen.43 Die Gründe dafür liegen nicht zuletzt in der unterschiedlichen Formulierungsweise der sachlichen Befugnisbereiche.44 Die Kompetenztitel können sich auf Wirklichkeitsausschnitte45 oder auf ganze Rechtsmaterien46 beziehen, zugleich können sie sowohl generalklauselartig einen Globalausschnitt eines Handlungsbereichs betreffen47 als auch stichpunktartig48 formuliert sein. Gegenseitige Überlappungen und Überschneidungen sind dadurch vorprogrammiert. So kann beispielsweise eine Verjährungsregelung für Pressedelikte sowohl in das Presserecht, aber durchaus auch in den Bereich des Strafrechts fallen. Bei der Konfliktlösung sind zwei Wege auseinanderzuhalten, die sich nicht ausschließen, sondern gegenseitig ergänzen. Erstens ist es möglich, den Obersatz genauer zu untersuchen und somit die in Betracht kommenden Kompetenzbereiche zu konkretisieren. In diesem Sinne lässt sich insbesondere der Gesichtspunkt der Tradition fruchtbar machen. So hat das Bundesverfassungsgericht auch Verjährungsregelungen für Pressedelikte dem Presserecht zugeordnet, weil Verjährungsregelungen herkömmlich presserechtlich geregelt wurden49, sie also zum Begriffsminimum des Presserechts zählen.50 Der Gesichtspunkt der inhaltsgleichen Übernahme lässt somit den Schluss zu, dass presserechtliche Verjährungsvorschriften zum traditionellen Sinngehalt des Presserechts zählen.51 43
Lerche, JZ 1972, 471; Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 337. Schubert, in: Sachs, GG, Art. 30 Rn. 18 f. Dazu schon Erstes Kapitel II. 3. a). 45 Zum Beispiel Art. 73 I Nr. 1 GG (auswärtige Angelegenheiten sowie die Verteidigung); Art. 73 I Nr. 5 GG (Einheit des Zoll- und Handelswesens); Art. 73 I Nr. 6 (Luftverkehr); Art. 73 I Nr. 7 (Postwesen und die Telekommunikation). 46 Art. 74 I Nr. 1 GG (Bürgerliches Recht); Art. 74 I Nr. 4 GG (Aufenthalts- und Niederlassungsrecht der Ausländer); Art. 74 I Nr. 11 GG (Recht der Wirtschaft); Art 74 I Nr. 12 GG (Arbeitsrecht). 47 Zum Beispiel Art. 74 I Nr. 7 GG (Öffentliche Fürsorge). 48 Art. 73 I Nr. 13 GG (Versorgung der Kriegsbeschäftigten); Art. 74 I Nr. 9 GG (Kriegsschäden und Wiedergutmachung); vgl. auch das Heimrecht (Art. 74 I Nr. 7 GG). 49 BVerfGE 7, 29 (43). Vgl. dazu § 22 RPresseG v. 7. 5. 1874 (RGBl. S. 65). 50 Zweites Kapitel V. 5. b). 51 Zweites Kapitel V. 4. d). 44
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3. Kap.: Maßstäbe der Kompetenzzuordnung
Der zweite Lösungsweg betrifft die Fixierung des Untersatzes. Auch wenn entsprechend dem Obersatz Verjährungsregelungen zum Presserecht zählen können, heißt das nicht, dass die zu subsumierenden Verjährungsregelungen tatsächlich zum Presserecht zählen müssen. Dies kann nur angenommen werden, wenn die Regelung nach der objektivierten Zwecksetzung hauptsächlich einen presserechtlichen Gegenstand regeln soll. Es ist aber auch möglich, dass sie nach Sinn und Zweck eher einen strafrechtlichen Schwerpunkt aufweist, während presserechtliche Ziele eher in den Hintergrund geraten. Somit ist es notwendig, neben der Konkretisierung des Obersatzes auch den Subsumtionsgegenstand entsprechend zu interpretieren. Es gilt also festzustellen, welchem Zweck die Regelung hauptsächlich, d. h. im Schwerpunkt dient.52 Schwerpunktformeln haben allgemein den Nachteil, dass sie auf eine nicht beweisbare Evidenz abstellen, die eher nach dem Gefühl der größeren Nähe fragt.53 In Frage zu stellen sind Schwerpunkterwägungen vor allem dann, wenn der Maßstab des Schwerpunkts nicht offengelegt wird. Sie können dann missverständlich sein: Man könnte darunter den Hauptzweck, die Zielrichtung, die Quantität der Regelungen, oder auch die Wirkungen verstehen und auf dieser Grundlage zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Eine erste vorläufige Eingrenzung erfährt das Kriterium dadurch, dass es um den Schwerpunkt des objektivierten Willens des Gesetzgebers gehen muss.54 Nur wenn nach Interpretation von Sinn und Zweck der Norm nicht eindeutig ist, in welchen Kompetenzbereich die ausgelegte Regelung fällt, kommt der Schwerpunkt zum Tragen. Der Schwerpunkt betrifft dabei die objektivierte Normintention, also welche Kompetenzmaterie durch die Regelung hauptsächlich gestaltet werden soll. Dies ist wohl auch der Grund, weshalb das Bundesverfassungsgericht den Schwerpunkt qualitativ, nicht quantitativ bestimmt.55 Aber auch dadurch wird die Fixierung des Untersatzes nicht zu einer bloß feststellenden Subsumtion degradiert; die Argumentation mit dem Schwerpunkt bleibt weiterhin eine vor allem rhetorische Leistung. Auf sie kann aber nicht verzichtet werden. Geht man von der überzeugenden These aus, dass „Doppelkompetenzen“ mit der Kompetenzordnung nicht vereinbar sind, so bedarf es einer Lösung, um Mehrfachqualifikationen zu vermeiden. Dies ist nicht alleine eine Frage, die „nur“ durch „Auslegung“ der Regelung entschieden werden kann. Bei der fachrechtlichen Anwendung kann sich der Rechtsanwender damit begnügen, mehrere Zwecke festzustellen. Für ihn ist es nicht zwingend notwendig,
52
BVerfGE 80, 124 (132); 97, 228 (251 f.); 97, 332 (341 f.); 98, 145 (158); 110, 141 (173); 121, 30 (47); 135, 155 (196 Rn. 102); Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 61 f. Püttner, NJW 1975, 813 (814); Bothe, in: AK-GG, Art. 70 Rn. 17 sprechen insoweit von einer „Schwerpunkt- Theorie“. 53 Herbst, Gesetzgebungskompetenzen, S. 161; ders., in: Berliner Kommentar, Art. 70 Rn. 45. 54 Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 90. 55 BVerfGE 106, 62 (119).
II. Kriterien der Qualifikation
291
einen „Hauptzweck“ zu erforschen. Der Kompetenzanwender, will er eine Doppelkompetenz vermeiden, muss dies aber. Es bedarf somit kompetenzspezifischer Qualifikationskriterien. Damit die Begründungen nicht willkürlich anmuten, ist es geboten, im Sinne von topischen Rechtsfindungsmöglichen weitere Sub-Kriterien zu ermitteln, die den Schwerpunkt in eine bestimmte Richtung konkretisieren. b) Schwerpunkt als Auflösungskriterium einer Kompetenzkonkurrenz oder als Hilfsmittel zur Kompetenzzuordnung? Teilweise werden diese hier behandelten Probleme unter dem Stichwort der Kompetenzkonkurrenz diskutiert.56 Hierunter versteht Herbst die „Möglichkeit kompetenzieller Mehrfachzuordnungen“, die dann vorliegen soll, wenn die Regelungseinheit zweckhaft ordnende Wirkung in verschiedenen Kompetenzbereichen entfalte und unter verschiedene Kompetenznormen subsumiert werden könne.57 Als Beispiele nennt Herbst unter anderem die Verjährungsregelungen von Presse delikten, das Zeugnisverweigerungsrecht von Presseangehörigen, den Fall der Kurzberichterstattung sowie die Fälle des Sachzusammenhangs.58 Demgegenüber sollte aber betont werden, dass man nicht vorschnell von Konkurrenzen ausgehen sollte. Eine Normkonkurrenz liegt nur vor, wenn eine Handlung (bzw. in diesem Zusammenhang eine Regelung) verschiedene Tatbestände unterschiedlicher Ermächtigungs- oder Verhaltensnormen erfüllt59, also mehrere Normen auf den gleichen Sachverhalt zutreffen.60 Kompetenzrechtlich übersetzt heißt das, dass eine Regelung nicht nur zwei unterschiedliche Kompetenztitel berührt, sondern unter beide Titel subsumiert werden muss. Dabei ist im Kompetenzrecht der Subsumtionsgegenstand selbst eine Norm, die der Auslegung bedarf. Eine Normkonkurrenz lässt sich erst nachweisen, wenn man sich auf eine bestimmte Interpretation sowohl der in Frage kommenden Zuständigkeit als auch der Regelung geeinigt hat. Der Subsumtionsgegenstand wird nach dem objektivierten Willen des Gesetzgebers befragt, der mal mehr in die eine Richtung, mal mehr in die andere Richtung tendiert. Schwerpunktkriterien, wie auch immer diese aussehen mögen, sind somit Hilfsgesichtspunkte, um den Hauptzweck der Norm zu ergründen und so eine rational begründete (im Sinne einer vertretbaren, 56 Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 133 ff; ders., in: Berliner Kommentar, Art. 70 Rn. 41; vgl. schon zuvor Jarass, Kartellrecht und Landesrundfunkrecht, S. 42, der den Begriff aber als Teil einer „Kompetenzqualifikation“ versteht; ähnlich März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 113. Der Begriff „Kompetenzkonkurrenz“ wurde – so weit ersichtlich – erstmals genutzt von Merkl, Zum rechtstechnischen Problem der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung, S. 1308, insbesondere S. 1310. 57 Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 133 f. 58 Herbst, Gesetzgebungskompetenzen, S. 138 ff.; ders., in: Berliner Kommentar, Art. 70 Rn. 42. 59 Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 76 I, S. 596. 60 Zippelius, Juristische Methodenlehre, § 7, S. 37.
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3. Kap.: Maßstäbe der Kompetenzzuordnung
nicht notwendigerweise „richtigen“) Zuordnungsentscheidung zu treffen. Ordnet man also eine Regelung einer Kompetenznorm zu, weil sie im Schwerpunkt eher in den einen Kompetenzbereich fällt als in den anderen, so liegt auch in diesem Falle keine Kompetenzkonkurrenz vor, es handelt sich weiterhin um das Ergebnis einer Zuordnungsentscheidung. Nur wenn auch unter Zuhilfenahme von Schwerpunktkriterien eine Pattsituation auftritt, also unter rationalen Gesichtspunkten kein Hauptzweck ausfindig zu machen ist, kann eine Kompetenzkonkurrenz angenommen werden. Es ist allerdings zu bezweifeln, ob es solche Fälle überhaupt gibt.61 Schwerpunktformeln dienen mit anderen Worten der Vermeidung und nicht der Auflösung einer Normkonkurrenz. Davon unberührt ist aber anzuerkennen, dass mehrere Regelungen unterschiedlichen kompetenziellen Ursprungs dennoch gleichartige Wirkungen erzeugen können. Lenkungssteuern sind, obwohl auf Grundlage der Steuerhoheit (Art. 105 GG) erlassen, durchaus in der Lage, wie eine Sachregelung zu wirken. Auch können Kassenarztrechtliche Regelungen auf Grundlage der Sozialversicherung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) einen vergleichbaren Inhalt aufweisen wie berufsrechtliche Regelungen, die von den Ärztekammern beschlossen werden. Aber auch dies sind keine Konkurrenzen, weil die Normen unterschiedliche Hauptzwecke verfolgen und sich nur im Hinblick auf ihre Wirkungen ähneln. Entscheidend ist der objektivierte Wille des Gesetzgebers, der, wenn er nicht deutlich zu Tage tritt, durch Auslegung ermittelt werden muss. Die Normen können aber selbstverständlich miteinander kollidieren. Das setzt voraus, dass die Regelungen unterschiedliche, nicht miteinander verträgliche Rechtsfolgen begründen.62 Derartige Normkollisionen sind auf Grundlage von Art. 31 GG aufzulösen. Stellen sie keine Normkollisionen dar, so können sie gegebenenfalls in einem Wertungswiderspruch zueinander stehen. Zur Vermeidung solcher Widersprüche kann das Prinzip der Bundestreue fruchtbar gemacht werden; für Lenkungssteuern hat das Bundesverfassungsgericht darüber hinaus das Gebot der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung aufgestellt.63 61
Dies wird noch näher auszuführen sein. Häufig werden presserechtliche Verjährungsvorschriften als Schulbeispiel für Kompetenzkonkurrenzen deklariert (etwa Bothe, in: AK-GG, Art. 70 Rn. 22; Pestalozza, DÖV 1972, 181 [188]; Wittreck, in: Dreier, GG, Art. 70 Rn. 56). Betont man aber den Stellenwert der historischen Auslegung, so ist das Ergebnis des Bundes verfassungsgerichts in BVerfGE 7, 29 (37 ff.) nicht nur vertretbar, sondern geradezu überzeugend, dazu bereits unter Zweites Kapitel V. 4. d) sowie Zweites Kapitel VI. 3. c) bb). Auch Regelungen, die über die Figur des Sachzusammenhangs einer Kompetenznorm zugeordnet werden, sind nicht mehrdeutig. Da sie integraler Bestandteil des legislativen Konzepts sind, dominiert der Hauptzweck des gesetzlichen Konzepts, so dass sie – auch wenn es sich bei isolierter Betrachtung um „Fremdregelungen“ handelt – im Schwerpunkt der Stammkompetenz zugeordnet werden. Auch hiermit hebt man nicht den Obersatz „aus den Angeln“, wie es Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen, S. 121 formuliert, weil teleologischer und somit implizit mitgeschriebener Bestandteil jeder Kompetenz von vornherein auch die Regelung im Sachzusammenhang ist. 62 Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 75 I., S. 585; Wiederin, Rechtstheorie 21 (1990), 311 (318). 63 BVerfGE 98, 83 (97); 98, 106 (118 f.); siehe auch BVerfGE 98, 265 (301).
II. Kriterien der Qualifikation
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Derartige Mechanismen, die grob gesagt auf eine einheitliche Rechtsordnung abzielen64, sind nicht mit Konkurrenzen oder mit Doppelkompetenzen gleichzusetzen.65 c) Zuordnung über die Spezialität: Sonderrecht, allgemeines Recht und „Ordnungsschwerpunkt“ aa) Allgemeines Eine gewisse Konkretisierung erfährt das Schwerpunktkriterium, wenn man danach fragt, welches Kompetenzthema durch die Regelung im Speziellen geordnet wird. Dies geschieht dadurch, dass die beteiligten Kompetenzmaterien zueinander und zu dem umstrittenen Regelungsgegenstand in Beziehung gesetzt werden.66 So hat das Bundesverfassungsgericht in einigen Entscheidungen geprüft, ob die Regelung eine Kompetenz „als solches“67 und nicht nur als „Reflex“68 oder auch „speziell“69 und nicht lediglich zwangsläufig berührt. Ein Gegenstand, der sowohl unter eine spezielle Bezeichnung sowie auch unter eine umfassende allgemeine Bezeichnung falle, könne nur der speziellen Bestimmung unterstellt werden.70 Der „speziellere“ und „stärkere“ Sachbezug zum Regelungsgegenstand gibt demnach den Ausschlag für den größeren Schwerpunkt der Regelung. Besonders hat sich in diesem Kontext Pestalozza um die Aufhellung der Maßstäbe verdient gemacht. In Anlehnung an die angelsächsische Unterscheidung vom unbedeutenden „affecting“ oder „incidental“ und relevantem „in relation“71 oder „with respect“72 könne auch hierzulande ein Gesetz nur derjenigen Materie 64
Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 18 II., S. 153 ff. Zum Prinzip der Einheit der Rechtsordnung Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung; Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, passim; Hanebeck, Der Staat 41 (2002), 429 ff.; grundlegend auch Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz. 65 Dazu Viertes Kapitel III. 66 Erbguth, DVBl 1988, 317 (320). 67 BVerfGE 8, 143 (148 ff.); 29, 202 (409 ff.). 68 BVerfGE 28, 119 (149); BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 105. 69 BVerfGE 14, 197 (200), 15 1 (9, 29); 7, 29 (39, 44). 70 BVerfGE 7, 29 (37 ff.). 71 Vgl. sec. 91 des British North America Acts 1867 („It shall be lawful for the Queen, by and with the advice and consent of the Senate and House of Commons, to make laws for the peace, order, and good government of Canada, in relation to all matters not coming within the classes of subjects by this Act assigned exclusively to the Legislatures of the provinces; […]“); ebenso sec. 92. Zur australischen, indischen und kanadischen Kompetenzbestimmung Hoppe, Die Qualifikation von Rechtssätzen, S. 29 ff. 72 Vgl. sec. 51 der australischen Verfassung v. 9. 7. 1900 („The Parliament shall, subject to this Constitution, have power to make laws for the peace, order, and good government of the Commonwealth with respect to […]“); ebenso sec. 246 der indischen Verfassung v. 6. 1. 1950 („[1] Notwithstanding anything in clauses [2] and [3], Parliament has exclusive power to make laws with respect to any of the matters enumerated in List I in the Seventh Schedule (in this Constitution referred to as the „Union List“).
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3. Kap.: Maßstäbe der Kompetenzzuordnung
zugeordnet werden, die es sonderrechtlich regele.73 Eine Materie, die von einem Gesetz nicht in ihrer Besonderheit, sondern gerade ohne Rücksicht darauf getroffen werde, „für die sich die Regelung also als allgemeines, insoweit ‚für alle‘ geltendes Recht darstellt“74, gebe für die kompetenzrechtliche Qualifikation keinen Ausschlag. Pestalozza sieht hier eine Parallele zum allgemeinen Gesetz im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG (oder auch Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV), das dazu dient, solche Gesetze auszuschließen, die die geistige Wirkung von Meinungsäußerungen zu unterbinden versuchen. Die Berührung eines Kompetenzbereichs, die nur anlässlich einer anderen sonderrechtlichen Regelung erfolgt, genügt für die kompetentielle Qualifikation nicht. Der Befugnisbereich wird nur allgemein, nicht aber bereichsspezifisch betroffen. Maßstab für die Annahme eines kompetenzspezifischen Sonderrechts sei vor allem die (objektiv zu bestimmende) Funktion der Regelung, die wiederum nach Zweck und Wirkung zu bestimmen sei. Greift man nach alledem auf den Maßstab des Sonderrechts zurück, so ist danach zu fragen, welches der in Betracht kommenden Kompetenzthemen durch die Regelung am ehesten gestaltet werden soll, worin also die hauptsächliche Gestaltungsfunktion bzw. Ordnungsidee liegt. Nicht unähnlich zu diesem Ansatz ist der Vorschlag von Herbst, der den Schwerpunkt als „Ordnungsschwerpunkt“75 zu umschreiben versucht. Eine Kompetenznorm ermächtige zum zweckhaften Ordnen eines Sachbereichs. Maßgeblich für den Ordnungsschwerpunkt sei die Art und Weise des zweckhaften Ordnens und der Anteil an der Gesamtordnung des Sachbereichs.76 Dieser Vorschlag dürfte eine zutreffende Richtschnur darstellen, welcher Sachbereich einer Kompetenznorm am ehesten durch die Regelung gestaltet bzw. geordnet wird. Es komme darauf an, ob durch die Regelung der Sachbereich in einer „typischen Weise“ geordnet werde.77 Zwar kommt auch dieses Kriterium nicht ohne Evidenzerwägungen aus. Rational wird die Subsumtion aber dadurch, dass sie nach der Gestaltungs- bzw. Ordnungsfunktion78 fragt, die wiederum nicht einfach behauptet, sondern dem Sinnzusammenhang der Regelung und dessen Normumfeld entnommen wird.
73 Dazu und zum Folgenden Pestalozza, DÖV 1972, 181 (183); zust. Erbguth, DVBl 1988, 317 (321); Schubert, in: Sachs, GG, Art. 30 Rn. 25; Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 201; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 129 f.; Püttner, NJW 1975, 813 (814); Scholz, in: FG BVerfG, S. 268; Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 421; ders., in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 70 Rn. 35. Zu der kanadischen „pith and substance“-Doktrin, die durchaus als Vorbild geeignet erscheint Bothe, Die Kompetenzstruktur des modernen Bundesstaates, S. 177 f.; ders., in: AK-GG, Art. 70 Rn. 8. Es komme danach nicht auf die äußere Form, sondern auf den zentralen Gehalt an; ähnlich Hoppe, Die Qualifikation von Rechtssätzen, S. 125 ff. 74 Pestalozza, DÖV 1972, 181 (183). 75 Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 137; ders., in: Berliner Kommentar, Art. 70 Rn. 45. 76 Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 137 f. Dieser Gedanke klingt bereits an bei Bullinger, AöR 96 (1971), 237 (251) unter Verweis auf BVerfGE 15, 1 (9 f., 20 f.). 77 Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 137. 78 Ibid., S. 138.
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bb) Abgrenzung nach dem Gesichtspunkt des Sonderrechts am Beispiel „typischer“ presserechtlicher Problemfälle Diese Abgrenzungsformel lässt sich an einer Kompetenzmaterie erproben, die im Ruf steht, besonders viele Fälle von Kompetenzkonkurrenzen zu produzieren: das Presserecht. Dieses liegt oft „quer“ zu anderen Sachbereichen, für die unter Umständen auch der Bundesgesetzgeber eine entsprechende Zuständigkeit hat. Problematisch wird die Kompetenzzuordnung etwa bei presserechtlichen Verjährungsregelungen, Zeugnisverweigerungsrechten, Beschlagnahmebeschränkungen und Auskunftsansprüchen. (1) Presserechtliche Verjährungsregelungen Mit der Abgrenzung vom Presserecht zu anderen Materien musste sich das Bundesverfassungsgericht erstmalig 1957 beschäftigen. In dem Beschluss ging es um das bayerische Pressegesetz79, das in Anlehnung an § 22 des Reichsgesetzes über die Presse80 in § 15 eine Verjährungsregelung für Pressedelikte enthielt. Eine derartige Regelung weist sowohl Bezüge zum Presserecht als auch zum Strafrecht auf. Der Zweite Senat ordnete die Regelung aber – unter Berufung auf die Tradition – im Schwerpunkt dem Presserecht zu.81 Der Ausgangspunkt des Bundesverfassungsgerichts ist, dass die Sonderregelung der Verjährung ein Privileg der Presse darstelle. Die Regelung reagiere auf Begehungsformen, die nur von Presseangehörigen begangen werden können. Sie privilegiere auch nur die Angehörigen der Presse, so dass sie nicht allgemein „für jedermann“ gelten, sondern einen spezifischen, also sonderrechtlichen Bezug zur Presse aufweisen.82 Dies folge „aus der besonderen Situation der Presse als Mittler der öffentlichen Meinung und aus der meist vorhandenen Augenblicksbedingtheit, Offenkundigkeit, geringeren Nachhaltigkeit der Wirkung der Delikte […]“. In der kurzen Verjährungsfrist komme also die durch die spezifische Begehungsform geprägte Eigenart der Pressestraftaten zum Ausdruck. „Wegen dieses inneren Zusammenhangs zwischen Verjährung und Pressewesen ist die Verknüpfung der Verjährungsregelung mit dem Presserecht enger und stärker als ihre Verbindung zum allgemeinen Strafrecht; sie wird auch als enger empfunden.“83 Folglich überwog der Schwerpunkt zum Presserecht, weil der bayerische Gesetzgeber durch die Privilegierung der Presse auf eine pressespezifische Eigenart reagierte und sie sonderrechtlich beantwortete.
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Gesetz vom 3. 10. 1949 (GVBl S. 243). Gesetz vom 7. 5. 1874 (RGBl S. 65). 81 BVerfGE 7, 29 (36 ff.). Ausführlich zur besonderen Bedeutung der Tradition für die Auslegung des Presserechts Cornils, in: Löffler, Presserecht, Einl Rn. 38 ff. 82 Cornils, in: Löffler, Presserecht, Einl Rn. 43. 83 BVerfGE 7, 29 (39). 80
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(2) Zeugnisverweigerungsrecht für Presseangehörige Später musste der Zweite Senat beantworten, wie Zeugnisverweigerungsrechte von Angehörigen der Presse (§ 53 Abs. 1 Nr. 5 StPO) im Strafprozess kompetenziell zu qualifizieren seien. Anders als in der vorangegangenen Entscheidung ordnete das Bundesverfassungsgericht die Zeugnisverweigerungsrechte nicht dem Presserecht, sondern der konkurrierenden Zuständigkeit für das gerichtliche Verfahren (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) zu.84 Gelegentlich wird auf diese beiden Entscheidungen verwiesen, um dem Bundesverfassungsgericht eine gewisse Inkonsistenz vorzuwerfen85, doch sind die Begründungen des Gerichts bei näherer Betrachtung und bei Hinzunahme des Kriteriums des „Sonderrechts“ – sowie im Übrigen auch der historischen Auslegung86 – in sich stimmig. Während bei Verjährungsregelungen für Pressedelikte eine sonderrechtliche Entfaltung der Rechte der Presse bejaht wurde, hat das Bundesverfassungsgericht dieses Sonderrecht für ein Zeugnisverweigerungsrecht abgelehnt. Die Begründung des Gerichts geht von der Annahme aus, dass Zeugnisverweigerungsrechte „in bestimmten Verhältnissen, Bindungen oder Pflichten des Zeugen wurzeln, die ihren Ort außerhalb des Verfahrens haben, nach ihrer Bewertung durch den Gesetzgeber aber so wichtig sind, daß sie den Belangen der Wahrheitserforschung im Falle des Widerstreits vorgehen und darum innerhalb des Verfahrens Berücksichtigung finden.“87 Deshalb begründe die StPO neben familienrechtlichen Bindungen auch berufsbezogene Bindungen, zu denen auch der Vertrauensschutz der Presse zu ihren Informanten gehöre. Zwar macht das Gericht zugleich deutlich, dass die Anerkennung des Zeugnisverweigerungsrechts auch der besonderen und verfassungsrechtlich abgesicherten Eigenheit der Presse geschuldet sei, die einen gewissen Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Presse und Informanten verlange.88 Entscheidend sei aber, dass das Recht zur Aussageverweigerung im Hinblick auf ein anerkanntes Geheimhaltungsinteresse keine presserechtliche Besonderheit sei; denn es stehe „nicht nur Presseangehörigen, sondern wie wohl aus jeweils verschiedenen Gründen, auch anderen Personengruppen zu und [betreffe] damit eine allgemeine verfahrensrechtliche Frage“.89 Die übergeordnete Funktion des Zeugnisverweigerungsrechts besteht somit in der Aufgabe, das gesetzgeberische Interesse an der Wahrheitsfindung im Strafprozess 84
BVerfGE 36, 193 (203 f.); a. A. Kaiser, NJW 1968, 1260. Etwa Lerche, JZ 1972, 468 (471 f.); März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 127; Pestalozza, DÖV 1972, 181 (188). 86 Das Zeugnisverweigerungsrecht zählt im Gegensatz zu presserechtlichen Verjährungsregelungen nicht zum historisch determinierten Begriffsminimum, so dass nicht von einer „Mutmaßung der inhaltsgleichen Übernahme“ ausgegangen werden kann (BVerfGE 36, 193 [206 ff.]). Demgegenüber zählen pressespezifische Verjährungsregelungen zum traditionellen Bestand des Presserechts (BVerfGE 7, 29 [38 f.]). Zum Begriffsminimum Zweites Kapitel V. 5. b). Zur Mutmaßung der inhaltsgleichen Übernahme Zweites Kapitel V. 4. d). 87 BVerfGE 36, 193 (203). 88 BVerfGE 36, 193 (204 f.); zur geringen Relevanz grundrechtlicher Argumente vgl. Erstes Kapitel V. 4. 89 BVerfGE 36, 193 (205 f.). 85
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mit bestimmten Geheimhaltungsgründen in Einklang zu bringen. Vordergründig (sonderrechtlich) liegt der Hauptzweck der Regelung also darin, ein rechtsstaatliches Strafverfahren auszugestalten. Dass der Gesetzgeber zum Schutze der Informanten den Presseangehörigen ein Zeugnisverweigerungsrecht garantiert, ist vor diesem Hintergrund die allgemeine Umsetzung der strafprozessrechtlichen Ordnungsidee, die Sachaufklärung „nicht um jeden Preis“ durchzusetzen. (3) Auflagenbeschlagnahme Umstritten und noch nicht höchstrichterlich entschieden ist die Frage, in welche Kompetenzmaterie die Beschlagnahme von Druckwerken (sog. Auflagen beschlagnahme) fällt.90 Als Ausfluss der Pressefreiheit enthält die StPO in § 111q besondere Beschlagnahmebeschränkungen für Schriften. Parallel dazu enthalten einige Länder ebenfalls Regelungen für die pressebezogene Beschlagnahme (insbesondere §§ 13 ff. PresseG BW; §§ 12 ff. Berliner PresseG; Art. 15 f. BayPresseG; §§ 13 ff. BremPressG). Damit bestehen für einen identischen Gegenstand zwei unterschiedliche Kompetenzgrundlagen, so dass man in der Tat von einer mit der grundgesetzlichen Kompetenzordnung unvereinbaren Doppelregelung ausgehen muss.91 Dies wird dadurch kenntlich, dass sowohl die bundesrechtlichen als auch die landesrechtlichen Regelungen jeweils auf § 74d StGB abstellen, der bestimmt, dass die Schrift einen solchen Inhalt haben muss, dass jede vorsätzliche Verbreitung in Kenntnis ihres Inhalts den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklichen würde und mindestens ein Stück durch eine rechtswidrige Tat verbreitet oder zur Verbreitung bestimmt worden ist. Die Frage, ob die Beschlagnahmung der gesamten Auflage in das Presserecht oder in die konkurrierende Zuständigkeit für das gerichtliche Verfahren fallen, wird weit überwiegend – im strafprozessrechtlichen Schrifttum sogar nahezu einhellig – zugunsten des gerichtlichen Verfahrens entschieden92, nur selten wird eine Zuständigkeit der Länder vertreten.93 Eine vermittelnde, aber im Ergebnis 90
Davon abzugrenzen ist die Frage, wie die Beschlagnahmung von Einzelstücken zu Beweiszwecken zu bewerten ist. Nach § 97 V StPO ist die Beschlagnahmung einzelner Druckstücke unzulässig, soweit sich das Zeugnisverweigerungsrecht (53 V StPO) auf die darin verkörperten Informationen erstreckt. § 97 StPO bezweckt, dass das Zeugnisverweigerungsrecht nicht durch die Beschlagnahmung einzelner Dokumente umgangen wird (BVerfGE 20, 162 [188]; 32, 373 [385]). Das Beschlagnahmeverbot ist somit eine logische Folge des Zeugnisverweigerungsrechts für Presseangehörige. Wer das Zeugnisverweigerungsrecht – zutreffend – im gerichtlichen Verfahren (Art. 74 I Nr. 1 GG) verortet, muss dasselbe auch für § 97 V StPO annehmen. 91 Cornils, in: Löffler, Presserecht, Einl Rn. 59; Riecker / Weberling, Handbuch des Presserechts, 31. Kap. Rn. 3 ff.; a. A. Groß, Presserecht, Rn. 559. 92 Achenbach, in: Löffler, Presserecht, Vor §§ 13 ff. LPG Rn. 24 ff. m. w. N.; M. Huber, in: BeckOK StPO, § 111q Rn. 1; Pieroh, AfP 2006, 305 (306 f.); Riecker / Weberling, Handbuch des Presserechts, 31. Kap. Rn. 5 ff. 93 Löffler, NJW 1978, 913 (917 f.); Bullinger, in: Löffler, Presserecht, 4. Aufl., Einl Rn. 74; zu dieser Lösung tendiert wohl auch Cornils, in: Löffler, Presserecht, Rn. 60.
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3. Kap.: Maßstäbe der Kompetenzzuordnung
eher weniger überzeugende Lösung bietet Groß an, der beiden Materien einen je spezifischen Beschlagnahmebegriff zuschreibt mit der Folge der kumulativen Anwendung von Bundes- und Landesrecht.94 Ob die Auflagenbeschlagnahme vom Presserecht oder vom gerichtlichen Verfahren (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) umfasst ist, muss zunächst durch Auslegung entschieden werden. Grundsätzlich ermächtigt das gerichtliche Verfahren, die strafprozessualen Vollzugsfolgen rechtswidriger Taten zu regeln. Hierzu gehört auch die einziehungssichernde Beschlagnahmung. Demgegenüber weist aber auch das Presserecht deutliche Bezüge zur Auflagenbeschlagnahme auf. Bereits der Reichsgesetzgeber hatte im Reichspreßegesetz von 1874 (§§ 23–28 RPG)95 Beschränkungen der Beschlagnahme auf Grundlage seiner Gesetzgebungskompetenz aus Art. 4 Nr. 16 der Reichsverfassung von 1871 beschlossen. Die Vorschriften überdauerten jeweils das Kaiserreich, die Weimarer Republik sowie den NS-Staat, so dass die Auflagenbeschlagnahme als traditioneller Regelungskomplex des Presserechts angesehen werden kann.96 In die StPO wurde die einziehungssichernde Beschlagnahme von Druckwerken hingegen erst 1975 eingefügt97, so dass für das gerichtliche Verfahren eine derartige Tradition gerade nicht besteht. Aus historischer Sicht wird man also durchaus die Auflagenbeschlagnahmung zum traditionellen Begriffsminimum des Presserechts rechnen können.98 Die Bedeutung der Tradition hat das Bundesverfassungsgericht in dem Beschluss über presserechtliche Verjährungsregelungen bereits betont99, sie folgt insbesondere aus dem Gesichtspunkt der Mutmaßung der inhaltsgleichen Übernahme.100 Dabei sind die Beschlagnahmebeschränkungen für die Einziehung von Druckwerken ausschließlich auf Druckwerke im Sinne der Pressegesetze und somit auf die Tätigkeit der Presse bezogen. Indem die landesrechtlichen Regelungen die Rechte der Presse entsprechend dem traditionellen Verständnis pressespezifisch und somit sonderrechtlich ordnen, können die Länderregelungen dem Presserecht zugeordnet werden. Die Länder überschreiten folglich nicht ihre Zuständigkeit, wenn sie derartige Regelungen in ihre Landespressegesetze aufnehmen. 94
Groß, Presserecht, Rn. 559; zu den dogmatischen und kompetenzrechtlichen Bedenken Achenbach, NStZ 2000, 123 (125); ders., in: Löffler, Presserecht, Vor §§ 13 ff. LPG Rn. 25c; krit. auch Cornils, in: Löffler, Presserecht, Einl Rn. 59. 95 Gesetz vom 7. 5. 1874, RGBL Nr. 16, S. 65 ff. 96 Bullinger, in: Löffler, Presserecht, 4. Aufl., Einl Rn. 74; ähnlich Achenbach, in: Löffler, Presserecht, Vor §§ 13 ff. LPG Rn. 13 ff. Achenbach lehnt eine Zuständigkeit der Länder dennoch ab. 97 Gesetz v. 25. 7. 1975, BGBl. I, S. 1973. 98 Das Kriterium des Herkömmlichen kann nicht dadurch relativiert werden, dass einige Länder mit der Tradition brachen, indem sie in den sechziger Jahren die Beschlagnahmevorschriften aus dem Medienrecht strichen (in diese Richtung Achenbach, in: Löffler, Presserecht, Vor §§ 123 ff. LPG Rn. 26). Hiergegen sprechen zwei Gründe: Erstens verpflichten Kompetenzen nicht zum Tätigwerden (Erstes Kapitel II. 3. b), so dass der Regelungsverzicht nicht zum Verlust der Kompetenz führen kann. Zweitens ist die nachkonstitutionelle Staatspraxis kein geeignetes Auslegungsargument, vgl. dazu Zweites Kapitel VI. 2. 99 BVerfGE 7, 29 (38). 100 Zweites Kapitel V. 4. d).
II. Kriterien der Qualifikation
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Damit ist aber noch nicht entschieden, ob ihre Regelungen letztlich Geltung beanspruchen können. Denn auch der Bund könnte nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG („gerichtliches Verfahren“) befugt sein, einziehungssichernde Beschlagnahme regelungen für Druckwerke zu treffen. Grundsätzlich fallen auch Beschlagnahmeregelungen als vorbereitende Maßnahmen für einen Strafprozess in das gerichtliche Verfahren. Entscheidend ist deshalb die Zuordnungskomponente: Denn der Bund kann sich nicht auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG berufen, wenn er in § 111q StPO die Rechte der Presse sonderrechtlich ausgestaltet hat. Seine Regelung muss vielmehr im Hinblick auf das gerichtliche Verfahren sonderrechtlich wirken. Im Umkehrschluss muss das heißen, dass die Auflagenbeschlagnahme nur ein Teilstück einer strafprozessrechtlichen Ordnungsidee sein darf und die Rechte der Presse in § 111q StPO101 nur „allgemein“ ausgestaltet werden. Sollte dies der Fall sein, so fällt der objektivierte Wille des Bundesgesetzgebers im Schwerpunkt in das gerichtliche Verfahren und nicht in das Presserecht. Wenn dem so ist, was noch nicht erwiesen ist, so handelt es sich im Übrigen nicht um eine Kompetenzkonkurrenz (Doppelkompetenz). Denn die bundesgesetzlichen und die landesgesetzlichen Normen haben zwar ähnliche Wirkungen, sie unterscheiden sich aber im Schwerpunkt durch ihren objektivierten Willen.102 Unter Umständen liegt aber eine Normkollision vor, die nach Art. 31 GG zu Gunsten des Bundes und zu Lasten der Länder aufzulösen ist. Die strafprozessuale Regelung in § 111q StPO setzt demnach voraus, dass sie keinen pressespezifischen Schwerpunkt aufweist, sondern im Schwerpunkt dem gerichtlichen Verfahren dient. Überwiegend wird vertreten, dass die Wertungen der Entscheidung bezüglich des Zeugnisverweigerungsrechts für Angehörige der Presse auch auf die Konstellation der Auflagenbeschlagnahme übertragen werden müsse. Denn auch diese Regelung diene der Sicherstellung der Einziehung, mithin einem strafprozessualen Ordnungszweck.103 Gegen die Übertragung sprechen allerdings gewichtige Gründe. Erstens war das Zeugnisverweigerungsrecht – anders als die Auflagenbeschlagnahme – nie traditionelles Presserecht. Zweitens ist der sonderrechtliche Schwerpunkt zum gerichtlichen Verfahren beim Zeugnisverweigerungsrecht stärker ausgeprägt. Das Zeugnisverweigerungsrecht ist Teil einer Gesamtregelung, die das strafprozessuale Wahrheitserforschungsinteresse mit berufsspezifischen Geheimhaltungsgründen in Einklang zu bringen versucht. Der presserechtliche Einschlag steht dabei gleichrangig neben anderen Geheimhaltungsinteressen (z. B. des Rechtsanwalts), so dass die Rechte der Presse in § 53 StPO gerade nicht speziell adressiert werden.
101
Insbesondere § 111q IV und V StPO. Dies verkennen viele Autoren, die eine Doppelkonkurrenz schon dann annehmen, wenn die Regelungen einen ähnlichen Gegenstand oder vergleichbare Wirkungen zeitigen, vgl. etwa Bothe, in: AK-GG, Art. 70 Rn. 21 ff.; Lerche, JZ 1972, 468 (471). 103 In diese Richtung Achenbach, in: Löffler, Vor §§ 13 ff. LPG Rn. 27 ff.; Ricker / Weberling, in: Handbuch des Presserechts, 31. Kap Rn. 7. 102
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3. Kap.: Maßstäbe der Kompetenzzuordnung
Bei der Auflagenbeschlagnahmung rücken die spezifischen Rechte der Presse demgegenüber stärker in den Vordergrund. Zwar trifft es durchaus zu, dass die einziehungssichernde Beschlagnahme kein Spezifikum gerade der Presse, sondern ein allgemeines strafverfahrensrechtliches Institut ist, das wiederum auf die im Strafrecht, nicht im Presserecht verortete Einziehung von Druckwerken Bezug nimmt (§ 74d StGB).104 Es ist demgegenüber aber auch nicht zu leugnen, dass in § 111q StPO die Rechte der Presse spezifisch adressiert und privilegiert werden. Dies wird insbesondere in § 111q Abs. 4 S. 1 StPO deutlich, der der Beschlagnahmung einer „periodisch erscheinenden Schrift“ einem Richtervorbehalt unterstellt. Gerade dieser Verweis macht deutlich, dass § 111q StPO im Schwerpunkt weniger der Sicherung der Einziehung von Druckwerken, sondern vor allem der Stärkung der Rechte der Presse dient. Möchte man zu den bisherigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts einen Querverweis ziehen, so dürfte eher der Beschluss zu den Verjährungsregelungen105 das passende Vergleichsobjekt darstellen. Für die Vergleichbarkeit spricht erstens, dass die Auflagenbeschlagnahmung traditionelles Presserecht ist (was den sonderrechtlichen Bezug entsprechend konkretisiert). Zweitens folgt auch hier das Privileg „aus der besonderen Situation der Presse als Mittler der öffentlichen Meinung und aus der meist vorhandenen Augenblicksbedingtheit, Offenkundigkeit, geringeren Nachhaltigkeit der Wirkung der Delikte […]“106. Folglich kann sich der Bund nicht auf einen sonderrechtlichen Schwerpunkt zum gerichtlichen Verfahren berufen; seine Regelung dient vielmehr sonderrechtlich der Ausgestaltung der Rechte der Presse und dem Schutz ihrer Druckwerke. Mithin sind die strafprozessrechtlichen Vorschriften zur Auflagenbeschlagnahme verfassungswidrig. Im Übrigen kann sich der Bund auch nicht auf einen Sachzusammenhang berufen, weil die Auflagenbeschlagnahme für das Konzept des Bundesgesetzgebers nicht unerlässlich ist. Die sonstigen Beschlagnahmevorschriften verlören nicht ihre Tragfähigkeit, würde der Bund auf die Auflagenbeschlagnahme verzichten.107 Gleichwohl muss zugegeben werden, dass eine andere Gewichtung des „sonderrechtlichen Schwerpunkts“ auch ein gegensätzliches Ergebnis durchaus vertretbar erscheinen lässt. Cornils scheint in diesem Zusammenhang nicht Unrecht zu haben, wenn er resümiert: „An dieser Stelle werden doch Rationalitätsgrenzen der praktizierten Kompetenzauslegungsdogmatik deutlich sichtbar“108. Geht man – entgegen der hier vertretenen Ansicht – davon aus, dass die Regelungen in der StPO zur Auflagenbeschlagnahmung dem gerichtlichen Verfahren zugeordnet werden können, so wird der typische Anwendungsfall von Art. 31 GG sichtbar. Zwar handelt es sich gerade nicht um „Doppelkompetenzen“, weil die landespresserechtlichen 104
So Achenbach, in: Löffler, Presserecht, Vor §§ 13 Rn. 26. BVerfGE 7, 29. 106 BVerfGE 7, 29 (39). 107 Zur Voraussetzung des Sachzusammenhangs siehe unter Zweites Kapitel VI. 3. c) cc). 108 Cornils, in: Löffler, Presserecht, Einl Rn. 60. 105
II. Kriterien der Qualifikation
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Regelungen und die bundesgesetzliche Regelung sich im Schwerpunkt bezüglich des objektivierten Willens unterscheiden.109 Im Hinblick auf die Rechtsfolgen kommen die Regelungen aber dennoch in einen logischen Konflikt: Es handelt sich in diesem Fall um eine Normkollision, die nach dem Prinzip „Bundesrecht bricht Landesrecht“ (Art. 31 GG) aufzulösen wäre.110 Deutlich wird also, dass es von der Frage des Schwerpunkts abhängt, welche föderale Einheit sich der Auflagenbeschlagnahme annehmen darf. (4) Presserechtlicher Auskunftsanspruch Eine weitere umstrittene medienrechtliche Zuständigkeit ist der presserechtliche Auskunftsanspruch gegenüber Behörden. Das Bundesverwaltungsgericht ist in einer neueren Entscheidung von 2013 davon ausgegangen, dass die Zuständigkeit für Presseauskünfte nicht aus der Gesetzesmaterie „Presserecht“ folge, sondern als Annex zur jeweiligen Sachkompetenz zu behandeln sei.111 Dass diese Auffassung nicht überzeugt und Presseauskünfte vielmehr zum Presserecht gehören, wurde bereits erläutert. Auf diese Ausführungen kann verwiesen werden.112 An dieser Stelle soll lediglich die Zuordnungsebene in den Blick genommen werden. Es stellt sich die Frage, ob die landespresserechtlichen Regelungen sonderrechtlich das Presserecht ausgestalten, also ob die hauptsächliche Gestaltungsfunktion dieser Regelung im Presserecht zu verorten ist. Anders als bei der Auflagenbeschlagnahme ergibt die Orientierung am „pressesonderrechtlichen“ Bezug ein relativ eindeutiges Bild, denn die normierten Auskunftsansprüche knüpfen an den besonderen Status der Presse an und grenzen diesen Status von den allgemeinen Informationsrechten ab, die für „jedermann“ gelten. Die besondere Stellung erfährt der Informationsanspruch von dem Kreis der Berechtigten. Dagegen ist der Inhalt bzw. der Gegenstand der Information für das Bestehen des Anspruchs irrelevant. Dies unterscheidet den Anspruch von gegenständlich bestimmten Verbraucher- oder Umweltinformationen. Das „Wesen“ des presserechtlichen Aus 109
Zum anderen Ergebnis kommt man demgegenüber, wenn man auch die landespresserechtliche Regelung als eine Regelung betrachtet, die im Schwerpunkt dem gerichtlichen Verfahren dient. In diesem Falle scheitert die Landeszuständigkeit an Art. 72 I GG. Da die presserechtlichen Regelungen aber traditionell intendiert sind, ist dieses Ergebnis eher weniger überzeugend. 110 Das setzt voraus, dass die kollidierenden Normen bei ihrer Anwendung zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Inhaltsgleiches Recht löst nach allgemeiner Auffassung nicht die Rechtsfolge des Art. 31 GG aus, vgl. Dreier, in: ders., GG, Art. 31 Rn. 40; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 195; ders., in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 31 Rn. 42; Pietzcker, in: HStR VI, § 134 Rn. 60; Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, Art. 31 Rn. 28. Das BVerfG hat die Frage für gleichlautendes Landesverfassungsrecht anerkannt (BVerfGE 36, 342 [365 ff.]; 96, 345 [364]), für sonstiges Landesrecht aber bislang offengelassen (BVerfGE 96, 345 [364]). 111 BVerwGE 146, 56. 112 Zweites Kapitel VI. 3. d) cc) (3).
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3. Kap.: Maßstäbe der Kompetenzzuordnung
kunftsanspruchs wird mithin durch die Anspruchsberechtigung, nicht durch den Anspruchsinhalt bestimmt. Der Auskunftsanspruch ist somit ein spezifisches, tatsächlich sogar ein idealtypisches113 Privileg der Presse114 und somit eine sonderrechtliche Ausgestaltung des Presserechts. cc) Ergebnis Das Kriterium des „sonderrechtlichen Bezugs“ ist ein Hilfsmittel, um eine Regelung nach ihrem qualitativen Schwerpunkt zu befragen. Dies ist notwendig, um den objektivierten Willen des Gesetzes zu ermitteln, eine Regelung überschneidungsfrei einer Kompetenznorm zuzuordnen und so Doppelkompetenzen zu vermeiden. Hat eine Regelung Berührungspunkte zu zwei in Betracht kommenden Kompetenzmaterien, so ist sie derjenigen Materie zuzuordnen, durch die sie „sonderrechtlich“ geregelt wird. Es ist danach zu fragen, welches der in Betracht kommenden Materien durch die Regelung am ehesten gestaltet werden soll, worin also die hauptsächliche Gestaltungsfunktion bzw. Ordnungsidee liegt. Dieses Kriterium hat sich am Beispiel presserechtlicher Kompetenzprobleme als hilfreich erwiesen. Gemeinsam mit den im zweiten Kapitel besprochenen Grundsätzen der Kompetenzauslegung erlaubt es eine durchaus rationale Bestimmung von Zuständigkeiten. Allerdings sei auch vor einem Trugschluss gewarnt: Die Bestimmung, ob eine Norm einen „allgemeinen“ oder „sonderrechtlichen“ Bezug hat, setzt im hohen Maße die fachrechtliche Expertise von den Wirkungen der Normen und ihren Zwecken voraus. Auch zeigt die Auflagenbeschlagnahmung, dass in bestimmten Grenzfällen „eindeutige“ Ergebnisse nicht zu erzielen sind. d) Kern- und Randbereich Strukturelle Ähnlichkeiten zum Sonderrechtskriterium könnte auch die vom Bundesverfassungsgericht gebrauchte Differenzierung von Kern- und Randbereich aufweisen. In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht für die Zuordnung von Spielbanken zwischen diesen Bereichen abgegrenzt.115 In der Entscheidung musste das Bundesverfassungsgericht die Frage beantworten, ob die Regulierung des Spielbankenrechts als Annex in das Recht der Wirtschaft fällt oder eher dem 113
Cornils, in: Löffler, Presserecht, Einl Rn. 66. Selbstverständlich ermächtigt das Presserecht nicht nur zu privilegierenden Regelungen. Sonderrechtlich können auch pressespezifische Pflichten sein. Hierzu gehören etwa die journalistische Sorgfaltspflicht sowie die Impressumspflicht. Auch die Pflicht, eine Gegendarstellung abzudrucken ist, obwohl es auch Berührungspunkte zum Bürgerlichen Recht aufweist, eine sonderrechtliche Pflicht, die im Besonderen die Rechtsstellung der Presse zu den durch die Berichterstattung betroffenen Personen festlegt (dazu etwa Groß, AfP 2003, 497). 115 BVerfGE 28, 119 (147). 114
II. Kriterien der Qualifikation
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allgemeinen Gefahrenabwehrrecht zugeordnet werden kann. Das Bundesverfassungsgericht ging davon aus, dass der Spielbankbetrieb nur als Rand- und Folgeerscheinungen, nicht aber im Kern wirtschaftliche Aspekte erfasste, so dass eine Zuordnung zur Annexkompetenz ausschied.116 Aus der Perspektive der Dogmatik der Annexkompetenz war die Differenzierung in Kern- und Randbereich aber eher unglücklich. Es entspricht dem herkömmlichen Charakter des Annexes, dass auf „unselbstständige“ (Rand-)Materien zugegriffen wird, damit die eigentliche Hauptmaterie effektiv geordnet werden kann. Vor diesem Hintergrund betreffen Regelungen im Annex immer einen „Randbereich“ des Kompetenzbereichs, nie aber seinen eigentlichen Kern. Die Anerkennung eines vom Kompetenzbereich erfassten Randbereichs ist auch nicht unüblich. Regelungen, die tendenziell eher einen Randbereich der Kompetenznorm betreffen, sind auch Regelungen im Sachzusammenhang, ebenso auch solche (neuartigen) Regelungen, die im Wege eines historisch fixierten Typenvergleichs der Kompetenznorm zugeordnet werden.117 Die Aufgabe einer verfassungsrechtlichen Dogmatik liegt mit anderen Worten also nicht darin, strikt zwischen Kern- und Randbereich zu unterscheiden, sondern zu bestimmen, wie weit dieser Randbereich der Kompetenznorm ausgedehnt werden kann, ohne dass er in andere Kompetenzbereiche übergreift.118 Die Unterscheidung von Rand- und Kernbereich taugt somit nicht als Zuordnungskriterium. Die eigentliche Erwägung des Bundesverfassungsgerichts war ohnehin, dass der eigentliche Hauptzweck der Regelung des Spielbankrechts nicht in der Regulierung einer wirtschaftlichen Betätigung liegt, sondern vorrangig eine gefahrenabwehrrechtliche Antwort auf die typischen Gefahren des Spielbankbetriebs darstellen soll. Unmittelbarer Regelungsgegenstand sei das Ziel, „die natürliche Spielleidenschaft vor strafbarer Ausbeutung“ zu schützen.119 Dem entspreche es, dass die Regelungen nicht als präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, sondern als repressives Verbot mit Dispensierungsvorbehalt zu verstehen sei. Der Betrieb einer Spielbank bleibe als an sich unerwünschte Tätigkeit generell verboten und nur im Einzelfall zugelassen.120 Greift man die Voraussetzungen der Annexkompetenz auf, so sind die Regelungen des Spielbankrechts kein unselbstständiger „Annex“ zum Recht der Wirtschaft, sondern vielmehr eine selbstständige Ordnungsantwort zum Zwecke der allgemeinen Gefahrenabwehr.121
116
BVerfGE 28, 119 (147); bestätigt in BVerfGE 102, 197 (199). Vgl. Zweites Kapitel V. 5. b). 118 Dies wird deutlich bei Bullinger, Die Mineralölfernleitungen, S. 66 mit Blick auf die Wirkung des Sachzusammenhangs: „Es ging und geht also um untergeordnete Folge- oder besser Randzuständigkeiten, die unter die Hauptzuständigkeit des Bundes (Reichs) fallen, sofern man nicht die Hauptzuständigkeit allzu eng interpretiert und bei der geringsten Überschneidung mit Materien der Landesgesetzgebung fallen lässt“. 119 BVerfGE 28, 119 (148). 120 BVerfGE 28, 119 (148). 121 Dazu Zweites Kapitel VI. 3. d) bb) (2). 117
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3. Kap.: Maßstäbe der Kompetenzzuordnung
e) Der Regelungszusammenhang Einen weiteren Ansatz hat das Bundesverfassungsgericht in der Kurzberichterstattungsentscheidung122 eingeführt. Bei der Zuordnung einzelner Teilregelungen eines umfassenden Regelungskomplexes zu einem Kompetenzbereich dürften die Teilregelungen nicht aus ihrem Zusammenhang gelöst und für sich betrachtet werden: „Kommt ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen Kompetenzbereichen in Betracht, so ist aus dem Regelungszusammenhang zu erschließen, wo sie ihren Schwerpunkt haben. Dabei fällt insbesondere ins Gewicht, wie eng die fragliche Teilregelung mit dem Gegenstand der Gesamtregelung verbunden ist. Eine enge Verzahnung und ein dementsprechend geringer eigenständiger Regelungsgehalt der Teilregelung spricht regelmäßig für ihre Zugehörigkeit zum Kompetenzbereich der Gesamtregelung.“123
Mit dem Kriterium des Regelungszusammenhangs wird die Subsumtionseinheit124 bestimmt, also die Frage, wie weit die Zwecke von Normen zusammengefasst werden können, um einheitlich subsumiert werden zu können. Grundsätzlich erfolgt die Kompetenzzuordnung nach der Vorstellung, man könne die einzelnen Bestandteile der Normen zerlegen und mehreren Titeln zuordnen.125 Nach Schröder ist eine isolierte Zuordnung notwendig, weil „eine einheitliche Zuordnung eines gesamten Gesetzeswerks ungenauer ausfällt“126. So geht auch das Bundesverfassungsgericht von sogenannten Mosaikkompetenzen aus, die resultieren, wenn mehrere Regelungen innerhalb eines Gesetzes unterschiedlichen Kompetenztiteln zugeordnet werden können.127 Dadurch ist es dem Gesetzgeber möglich, in einem Gesetzeswerk verschiedene Themen zusammenzuführen, die jeweils auf einer eigenen Kompetenzgrundlage basieren. Wenn also das Bundesverfassungsgericht „Regelungszusammenhänge“ subsumiert, so verlässt es den Ausgangspunkt einer isolierten Zuordnung, indem es einzelne Teilregelungen zu einer gemeinsamen Hauptregelung verknüpft, um eine „Globalzuordnung“ durchzuführen. Maßgeblich ist dann das hauptsächliche Konzept des Gesetzgebers, in dessen Verwirklichung die einzelnen Regelungen als Bestandteil eingefügt sind. Dominiert in der Regelungssystematik, in der die Teilregelung steht, ein Hauptzweck, so kann dies dafür sprechen, dass die einzelne 122
BVerfGE 97, 228. Grundlegend BVerfGE 97, 228 (251 f.); fortgeführt in BVerfGE 97, 332 (342 f.); 98, 265 (299); 121, 30 (47 f.); 138, 261 (274 Rn. 30). 124 Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 113 ff. spricht von „Regelungseinheit“, vgl. auch ders., in: Berliner Kommentar, Art. 70 Rn. 39 f. 125 Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 71; Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenzen kraft Sachzusammenhangs, S. 97 f. 126 Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 97. 127 Etwa für den Bereich des Ladenschlussrechts, das sowohl aus wirtschaftsrechtlichen Aspekten und zum anderen aus arbeitsrechtlichen Aspekten besteht, vgl. BVerfGE 111, 10 (28); zur Kompetenzsituation nach der Föderalismusreform BVerfGE 138, 261. 123
II. Kriterien der Qualifikation
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Teilregelung nicht isoliert betrachtet, sondern aufgrund ihrer engen Verzahnung mit dem übrigen Normkomplex als Gesamtregelung einem Kompetenzbereich zugeordnet wird.128 Das Bundesverfassungsgericht verweist hierbei auf die Kriterien „enge Verzahnung“ und dem „geringen eigenständigen Regelungsgehalt“. Auch in der Filmförderungsentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass der Wirtschaftsbezug einer Regelung nicht schon dann entfällt, wenn der Gesetzgeber mit filmwirtschaftsfördernden Regelungen zugleich auch kulturelle Zwecke verfolgt. Dies sei unschädlich, „solange der maßgebliche objektive Regelungsgegenstand und -gehalt […] in seinem Gesamtzusammenhang ein im Schwerpunkt wirtschaftsrechtlicher ist“.129 Das, was das Bundesverfassungsgericht mit dem Regelungszusammenhang andeutet, ist im Grunde nichts anderes als die Berücksichtigung der Normsystematik. „Teilregelungen“ sind unter Berücksichtigung ihrer Stellung und ihrer Funktion innerhalb des Regelungsgeflechts zu verstehen. Maßgeblich ist, dass sich die Regelung als Baustein in eine übergeordnete Konzeptionierung einfügt. Für die Begründung eines Schwerpunkts innerhalb der Normsystematik kann wiederum das Sonderrechtskriterium verwendet werden. Dient der Regelungskomplex im Ganzen der sonderrechtlichen Gestaltung einer Kompetenzmaterie, so kann sie auch im Ganzen dieser Materie zugeordnet werden. Gerade in der Verquickung von Sonderrecht und Regelungszusammenhang kann ein hilfreiches Konkretisierungskriterium gesehen werden, um Querschnittsregelungen vorhersehbar einer Kompetenzmaterie im Schwerpunkt zuzuordnen. Diese Art der Argumentation kann anhand von zwei rundfunkrechtlichen Themen diskutiert werden, die vom Bundesverfassungsgericht entschieden werden mussten. aa) BVerfGE 97, 228 – Kurzberichterstattung In dem von der Bundesregierung beantragten Normenkontrollverfahren musste sich der Erste Senat mit der Verfassungsmäßigkeit von § 3a des Gesetzes über den „Westdeutschen Rundfunk Köln“ (im Folgenden WDR-G) auseinandersetzen. Das Gesetz diente der Umsetzung des am 15. März 1990 unterzeichneten Ersten Staatsvertrags über den Rundfunk im vereinigten Deutschland.130 Hintergrund der Regelungen waren die Erfahrungen mit dem dualen Rundfunksystem, das 1984 eingeführt wurde. Eine seiner Folgen war ein verschärfter Wettbewerb der Fernsehveranstalter um Zuschauer. Insbesondere die privaten Fernsehveranstalter versuchten, ihren Zuschaueranteil durch den Erwerb exklusiver Senderechte an bedeutenden Sportveranstaltungen zu vergrößern. Um gleichwohl eine flächendeckende Versorgung zu gewährleisten, sollte jeder Fernsehsender einen Anspruch auf nach 128
Höfling / Rixen, GewArch 2008, 1 (4). BVerfGE 135, 155 (196 Rn. 102). 130 Staatsvertrag vom 31. 8. 1991 (GVBl. NW S. 408); vgl. in der aktuellen Fassung § 5 RStV, insbesondere § 5 I, X und XII RStV. 129
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3. Kap.: Maßstäbe der Kompetenzzuordnung
richtenmäßige Kurzberichterstattung haben.131 Dazu sah § 3a Abs. 1 WDR-G das Recht auf unentgeltliche Kurzberichterstattung über Fernsehen und Ereignisse, die öffentlich zugänglich und von allgemeinem Informationsinteresse sind, vor. Dieses Recht sollte jedem in Europa zugelassenen Fernsehveranstalter zu eigenen Sendezwecken zustehen. Nach § 3a Abs. 5 S. 4 WDR-G waren Fernsehveranstalter, die die unentgeltliche Kurzberichterstattung wahrnehmen, verpflichtet, das Signal und die Aufzeichnung unmittelbar denjenigen Fernsehveranstaltern gegen Ersatz der angemessenen Aufwendungen zur Verfügung zu stellen, die nicht zugelassen werden konnten (Weitergabepflicht). Zusätzlich ordnete § 3 Abs. 6 S. 1 WDR-G eine Vernichtungspflicht an. Die für die Kurzberichterstattung nicht verwerteten Teile waren spätestens nach drei Monaten nach Beendigung der Veranstaltung oder des Ereignisses zu vernichten. Diese Vorschrift diente der Sicherung, dass das Material nicht zu anderen Zwecken als der gesetzlich zugelassenen Kurzberichterstattung verwendet wird. Kompetenzrechtlich waren diese Regelungen nicht unproblematisch. Grundsätzlich sieht § 87 UrhG ein Leistungsschutzrecht des Sendeunternehmens vor, das ihm ein ausschließliches Recht vermittelt, seine Funksendungen weiterzusenden und öffentlich zugänglich zu machen (Abs. 1 Nr. 1) sowie seine Funksendung auf Bild- oder Tonträger aufzunehmen, Lichtbilder von seiner Funksendung herzustellen sowie die Bild- oder Tonträger oder Lichtbilder zu vervielfältigen […] (Abs. 1 Nr. 2). So argumentierte die antragstellende Bundesregierung, das bundesrechtlich begründete Leistungsschutzrecht werde durch die landesrechtliche Regelung eingeschränkt. Überhaupt habe der Landesgesetzgeber eine Regelung getroffen, die in die ausschließliche Zuständigkeit für das Urheberrecht (Art. 73 Abs. 1 Nr. 9 GG) falle. Denn zum Urheberrecht seien auch die Regelungen über seine Einschränkungen, insbesondere sein Erlöschen und seine zeitlichen Grenzen, zu zählen.132 Das Bundesverfassungsgericht ordnete die Regelungen gleichwohl dem Rundfunk zu.133 Für das Kurzberichterstattungsrecht (§ 3a Abs. 1 WDR-G)134 sei dies unproblematisch135, wobei das Bundesverfassungsgericht seine Zuordnung zum Rundfunk nicht näher begründet. Eine Begründung wäre aber geboten gewesen: Das Kurzberichterstattungsrecht betrifft nämlich nicht nur die Rechte von Fernsehveranstaltern, sondern schränkt auch die Reichweite des urheberrechtlichen Leistungsschutzes ein und weist somit auch Berührungspunkte zum Urheberrecht auf. Dennoch trifft die Auffassung des Gerichts im Ergebnis zu, weil der sonderrechtliche Schwerpunkt des Kurzberichterstattungsrechts im Rundfunk liegt. Das Recht gilt für „alle Veranstaltungen und Ereignisse, die öffentlich zugänglich und von allgemeinem Informationsinteresse sind“ (§ 3a Abs. 1 WDR-G). Auch wenn 131
Zur Genese BVerfGE 97, 228 (229 ff.). BVerfGE 97, 228 (243). 133 BVerfGE 97, 228 (251 ff.). 134 Vgl. § 5 I RStV. 135 BVerfGE 97, 228 (251): „Für das Kurzberichterstattungsrecht steht das außer Zweifel“. 132
II. Kriterien der Qualifikation
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die Regelung hintergründig vor allem die wirtschaftlich und finanziell hart umkämpfte Sportberichterstattung erfassen soll, gilt die Regelung gleichwohl nicht bereichsspezifisch nur für Sendungen, die urheber- und leistungsschutzrechtlich geschützt sind, sondern tatbestandlich für alle Veranstaltungen und Ereignisse ungeachtet ihrer urheberrechtlichen Bewertungen. Sonderrechtlich werden durch das Kurzberichterstattungsrecht die zugelassenen Rundfunkveranstalter adressiert, deren Rechte durch die Regelung ausgestaltet und geordnet werden. Dabei dient das Recht weniger der wirtschaftlichen Konfliktschlichtung von konkurrierenden Wirtschaftsinteressen. Das hauptsächliche Ziel liegt vielmehr in der Sicherstellung einer flächendeckenden Informationsversorgung, mithin einer rundfunkspezifischen Ordnungsidee. Im Wege einer Abgrenzung nach dem sonderrechtlichen Schwerpunkt ist das in § 3a Abs. 1 WDR-G normierte Kurzberichterstattungsrecht im Rundfunk zu verorten. Für die Teilregelungen in § 3a Abs. 5 S. 4 WDR-G (Weitergabepflicht) und für § 3a Abs. 6 S. 1 WDR-G (Vernichtungspflicht) kann diese Argumentation aber noch nicht ohne Weiteres übertragen werden. Sie begründen wirtschaftliche Pflichten und haben „das Signal und die Aufzeichnung“ sowie die nicht verwendeten „Teile“, also das für die Sendung auswertbare Material zum Gegenstand. Diese Regelungen stellen organisatorische Abläufe dar, die im Zuge der Kurzberichterstattung anfallen. Nach § 3 Abs. 5 S. 4 WDR-G müssen das Signal und die Aufzeichnung auch an andere Fernsehveranstalter weitergeleitet werden, nach Abs. 6 S. 1 sind die nicht verwerteten Teile nach Ablauf von drei Monaten zu löschen. Das Bundesverfassungsgericht geht hier von der Möglichkeit der Überschneidung dieser Teilregelungen mit dem Urheberrecht aus, es befürwortet dennoch die Zuordnung zum Rundfunk. Zur Begründung nutzt das Bundesverfassungsgericht das Kriterium des Regelungszusammenhangs. Die Weitergabe- und Vernichtungspflicht seien auch vor dem Hintergrund des Ziels zu verstehen, eine hinreichende Informationsvielfalt zu gewährleisten. Die Weitergabepflicht sichere, dass alle Fernsehveranstalter die Möglichkeit erhalten, über die Ereignisse berichten zu können, um somit ihren Gestaltungsauftrag wahrnehmen zu können. Die Vernichtungspflicht verhindere, dass der Kurzberichterstattungsberechtigte das Material zu anderen Zwecken als der gesetzlich zugelassenen Kurzberichterstattung verwende.136 Das Bundesverfassungsgericht interpretiert also das Verständnis der beiden Regelungen vor dem Hintergrund des in § 3a WDR-G normierten (rundfunkspezifischen) Hauptzwecks, nämlich der Sicherstellung einer flächendeckenden Informationsversorgung. Trotz der urheberrechtlichen Berührungspunkte dominiert dieses rundfunksonderrechtliche Ziel, so dass auch die Weitergabe- und Vernichtungspflichten in diesem Kontext verstanden werden müssen. Die Normen dienen der sonderrechtlichen Austarierung der Rechte und Pflichten der Rundfunksender. Folglich überwiegt ein rundfunkrechtlicher Schwerpunkt.
136
BVerfGE 97, 228 (252).
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3. Kap.: Maßstäbe der Kompetenzzuordnung
bb) BVerfGE 121, 30 – Parteibeteiligung an Rundfunkunternehmen Nicht anders musste das Bundesverfassungsgericht bei der Frage entscheiden, ob Regelungen zur Parteibeteiligung an Rundfunkunternehmen schwerpunktmäßig in das Parteienrecht (Art. 21 Abs. 3 GG) oder in das Rundfunkrecht fallen. Nach dem Hessischen Privatrundfunkgesetz (HPRG)137 wurden in § 6 Abs. 2 bestimmte Zulassungsverweigerungsgründe festgeschrieben, die insgesamt dem Anliegen Rechnung tragen, die Rundfunksender vor zu starkem staatlichen Einfluss zu bewahren. Deshalb war in § 6 Abs. 2 Nr. 4 HPRG normiert, dass die Zulassung „politischen Parteien oder Wählergruppen und Unternehmen und Vereinigungen, an denen politische Parteien oder Wählergruppen beteiligt sind […]“ nicht erteilt werden dürfe.138 In dem Normkontrollantrag, der von Abgeordneten des Bundestags eingeleitet wurde, machten die Beschwerdeführer unter anderem geltend, dem Landesgesetzgeber habe die Kompetenz gefehlt. Es liege keine Regelung des Rundfunkrechts vor, weil die Regelung von vornherein nicht geeignet sei, ein Rundfunkunternehmen der betreffenden politischen Partei auszuliefern. Sie bezwecke vielmehr eine Veränderung des rechtlichen Status der politischen Partei. Die Gesetzgebungskompetenz für das Parteienrecht sei aber dem Bundesgesetzgeber gem. Art. 21 Abs. 3 GG zugewiesen.139 Das Bundesverfassungsgericht vertrat die gegenteilige Ansicht und ordnete die Regelung dem Rundfunkrecht zu.140 Zur Begründung verwies das Bundesverfassungsgericht auf den Gedanken des Regelungszusammenhangs. Mit Blick auf die systematische Stellung von § 6 Abs. 2 Nr. 4 HPRG diene die Regelung der Zulassung von privaten Rundfunkveranstaltern. Vor dem Hintergrund, dass in § 6 Abs. 2 HPRG weitere Zulassungsausschlussgründe geregelt seien, die jeweils dem Ausschluss staatlicher Körperschaften und Organisationen dienten141, werde deutlich, „dass es um eine umfassende Regelung zur Gewährleistung der Staatsferne des Rundfunkrechts“ gehe. Die Norm wende sich an die für die Zulassungserteilung zuständige Hessische Landesanstalt für privaten Rundfunk und betreffe unmittelbar allein Rundfunkunternehmen und Bewerber um eine Rundfunklizenz. Daher sei § 6 Abs. 2 Nr. 4 HPRG mit den umgebenden rundfunkrechtlichen Vorschriften verzahnt.142 Das Bundesverfassungsgericht nutzt also auch hier den Regelungszusammenhang als betonendes Kriterium, um das Umfeld der Norm zu berücksichtigen und aus ihrer systematischen Stellung Ableitungen für das Hauptmotiv der Regelung 137
Gesetz v. 29. 12. 2000 (GVBl. S. 566). Die aktuelle staatsvertragliche Grundlage findet sich in § 20a III 1 RStV. 139 BVerfGE 121, 30 (36); so auch Lutz, Vielfalt im Bundesstaat, S. 166. 140 Zu den materiell-rechtlichen Bedenken eines vollständigen Ausschlusses der Parteien von der Rundfunkfreiheit BVerfGE 121, 30 (50 ff.). 141 Die Zulassung war ebenso nach § 6 II HPRG nicht zu erteilen „juristischen Personen des öffentlichen Rechts mit Ausnahme der Hochschulen des Landes […]“ (Nr. 1) sowie „Mitgliedern gesetzgebender Körperschaften sowie Mitgliedern des Bundes- oder einer Landesregierung“ (Nr. 3). 142 BVerfGE 121, 30 (48). 138
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zu gewinnen. Entscheidend ist in der Urteilsbegründung aber auch das Kriterium des Sonderrechts. Denn hauptsächlich geht es nicht um die Einschränkung der Rechte der Parteien. Im Vordergrund der Vorschrift steht vielmehr das rundfunksonderrechtliche Ziel der Gewährleistung eines staatsfern ausgestalteten Rundfunks. Indem die Zulassungsverweigerungsgründe nicht speziell nur auf Parteien bezogen sind, sondern darauf ausgerichtet sind, alle möglichen Formen des staatlichen Einflusses zu erfassen und den Rundfunk vor dessen Einflussnahmen zu schützen, werden die Rechte der Parteien allgemein, nicht sonderrechtlich unter dem Gesichtspunkt der Staatsferne geregelt. Die Sicherstellung eines staatsfernen Rundfunks ist wiederum ein „typischer“ Ordnungsaspekt der Rundfunkmaterie, so dass der Hauptschwerpunkt im Rundfunkrecht liegt. Letztlich ist diese Argumentation mit der Entscheidung zum Zeugnisverweigerungsrecht für Journalisten vergleichbar.143 Hier wie dort ist die jeweilige Ausgestaltung des Rechtsverhältnisses von Presse und Partei nur ein Bestandteil einer allgemeineren, übergeordneten Regelungsintention. Dies war bei den Zeugnisverweigerungsrechten die Austarierung einer typischen Konfliktlage im gerichtlichen Verfahren, nämlich des Widerstreits zwischen staatlichem Wahrheitserforschungsinteresse und den individuellen Geheimhaltungsgründen; im Bereich des Rundfunks erscheint die Zulassungsverweigerung von Parteien als die Regulierung des übergeordneten Ziels, den Rundfunk möglichst staatsfern auszugestalten. cc) Bedeutung und Auswirkung des Regelungszusammenhangs für die Kompetenzzuordnung Die Bedeutung des Regelungszusammenhangs geht über die zitierten Entscheidungen hinaus. Mithilfe dieses Gesichtspunktes lassen sich auch andere medienrechtliche Problemfälle lösen. Beispielsweise gehen im Zuge der Konvergenz der Medien144 die Zuständigkeiten zwischen Bund und Länder im Hinblick auf die Ausgestaltung von Telemedien zunehmend ineinander über. Das zeigt beispielsweise § 52c RStV. Die Norm betrifft Anbieter von Plattformen, die Rundfunk und vergleichbare Telemedien verbreiten145 und bezweckt die Sicherung der Meinungs- und Angebotsvielfalt im Bereich des Rundfunks und der Telemedien. Dazu untersagt § 52c RStV die Behinderung oder Ungleichbehandlung von Anbietern von Rundfunk oder Telemedien durch verschiedene technische Zugangssysteme. Die Norm berührt 143
BVerfGE 36, 193 (203 ff.). Kluth / Schulz, Konvergenz und regulatorische Folgen, S. 24 ff. 145 Nach § 2 II Nr. 13 RStV ist Anbieter einer Plattform, „wer auf digitalen Übertragungs kapazitäten oder digitalen Datenströmen Rundfunk und vergleichbare Telemedien (Tele medien, die an die Allgemeinheit gerichtet sind) auch von Dritten mit dem Ziel zusammenfasst, diese Angebote als Gesamtangebot zugänglich zu machen oder wer über die Auswahl für die Zusammenfassung entscheidet; Plattformanbieter ist nicht, wer Rundfunk oder vergleichbare Telemedien ausschließlich vermarktet“. In § 52 I 2 RStV sind personelle Ausnahmen von der Pflicht zur technischen Zugangsfreiheit festgelegt. 144
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3. Kap.: Maßstäbe der Kompetenzzuordnung
verschiedene Zuständigkeiten: einerseits technische Fragen der Telekommunikation (Art. 73 Abs. 1 Nr. 7 GG146), andererseits wirtschafts- und wettbewerbsbezogene Zuständigkeiten (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11, 16 GG) sowie die programmatische Seite des Rundfunks- und der Telemedien und somit eine Zuständigkeit der Länder.147 Nimmt man das Kriterium des Regelungszusammenhangs sowie des Sonderrechts zu Hilfe, fallen derartige Zugangsregelungen in die Zuständigkeiten der Länder für den Rundfunk und der Telemedien. Das folgt aus der Zielrichtung des § 52c RStV, die Meinungs- und Angebotsvielfalt zu sichern (vgl. § 52c Abs. 1 RStV). Dies ist ein zentraler Aspekt der Rundfunkordnung, so dass die programmatische Seite der Regelung überwiegt.148 Zwar enthält § 52c RStV auch technische Vorkehrungen, die für sich betrachtet in die Telekommunikation (Art. 73 Abs. 1 Nr. 7 GG) fallen. Analog zur Entscheidung zur Kurzberichterstattung149 stehen diese jedoch in einem eng verzahnten Zusammenhang zum vordergründigen sonderrechtlichen Ziel der Sicherung der Angebots- und Meinungsvielfalt. Auch im Hinblick auf andere Rechtsgebiete kann auf den Regelungszusammenhang zurückgegriffen werden.150 Mit diesem Verständnis vom Regelungszusammenhang geht eine weitere wichtige Erkenntnis einher: Der Regelungszusammenhang weist darauf hin, dass Regelungen anhand des Kontextes, in denen sie stehen, zu betrachten sind. Dies kann dazu führen, dass eine „Teilregelung“ aufgrund der engen Verzahnung mit dem Gesamtkonzept in ihrer Zielrichtung anders gewichtet wird, als sie bei isolierter Betrachtung zu verstehen wäre. Dies begünstigt die Möglichkeit partieller Überschneidungen. Der andere Kompetenzträger könnte nämlich ebenfalls vergleichbare Regelungen treffen. Sofern er Regelungen beschließt, die im Schwerpunkt seine Zuständigkeiten betreffen, sind auch diese kompetenzgerecht erlassen. Zwei unterschiedliche Hoheitsträger können also ähnliches normieren, das jeweils in andere Zuständigkeiten fällt. So hat der Bundesgesetzgeber in § 50 TKG eine Vorschrift erlassen, die den Gegenstand von § 52c RStV teilweise betrifft. Die Norm zeigt anschaulich, dass partielle Überschneidungen im medienrechtlichen Bereich vorkommen. § 50 TKG hat die technische Ausgestaltung von Zugangsberechtigungssystemen zum Gegenstand und ergänzt somit die Anforderungen des § 52c RStV. Das ist aber nur auf dem ersten Blick verblüffend. Wie die Kompetenz kraft Sachzusammenhangs sowie die Annexkompetenz zeigen, sind Berührungen und Parallelen nicht ausgeschlossen, solange die Kompetenzverteilung nicht unterlaufen wird.151 Diese Berührungen sind insbesondere nicht mit unzulässigen 146
Vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere § 50 TKG. Schulz / Wagner, in: Beck’scher Kommentar Rundfunkrecht, § 52c RStV Rn. 18. 148 Schulz / Wagner, in: Beck’scher Kommentar Rundfunkrecht, § 52c RStV Rn. 20; krit. Janik / Kühling, in: Beck’scher TKG-Kommentar, § 50 Rn. 35 f. 149 BVerfGE 97, 228 (252). 150 Vgl. BVerfGE 97, 332 (341 f.) am Beispiel der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen im Spannungsfeld zwischen öffentlicher Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) und bildungsbezogenen Aufgaben. 151 Dazu instruktiv BVerfGE 100, 313 (368, 370) am Beispiel der auswärtigen Gewalt (Art. 73 I Nr. 1 GG). 147
II. Kriterien der Qualifikation
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Doppelzuständigkeiten zu verwechseln. Beide Normen verfolgen unterschiedliche sonderrechtliche Ziele und sind daher jeweils einer anderen Kompetenznorm im Schwerpunkt zuzuordnen.152 Solange die Rechtsfolgen bei der Anwendung nicht unvereinbar sind, ist auch der Anwendungsbereich von Art. 31 GG nicht gegeben. Gleichwohl kann die Gemengelage zwischen Bundes- und Landesrecht zu widersprüchlichen Ergebnissen führen. Ob und in welchem Umfang die Kompetenzausübung Schranken unterliegt153, wird Gegenstand des vierten Kapitels sein.154 dd) Ergebnis Mit dem Regelungszusammenhang wird der Blick darauf gelenkt, dass Regelungen nicht isoliert, sondern anhand ihrer Zugehörigkeit zum Normumfeld betrachtet werden müssen. Der Regelungszusammenhang führt miteinander in enger Verbindung stehende Normen zu einer „Subsumtionseinheit“ zusammen, die anschließend einer Kompetenzmaterie zugeordnet werden kann. Dabei ist das Kriterium nicht als eine Zauberformel zu verstehen, um Globalzuordnungen vornehmen zu können. Dies würde den Gesetzgeber in die Lage versetzen, seine Kompetenzen zu überdehnen und unzulässig in die Rechte des jeweils anderen überzugreifen. Maßgeblich für den Regelungszusammenhang ist die enge Verzahnung. Diese ergibt sich aus der systematischen und teleologischen Zugehörigkeit zu einem Regelungsgeflecht, das insgesamt der sonderrechtlichen Gestaltung einer Kompetenzmaterie dient. Mit dem Regelungszusammenhang ist also keine ausdehnende Kompetenzzuordnung verbunden. Er weist lediglich auf die allgemeingültige Einsicht hin, dass sich der objektivierte Wille des Gesetzgebers auch aus der systematischen und teleologischen Stellung einer Norm ergibt und dass somit der Hauptzweck der Regelung auch anhand seiner systematischen Funktion zu ermitteln ist. So verstanden ist der Regelungszusammenhang ein wichtiges und zielführendes Zuordnungskriterium. An seine Grenzen gelangt der Regelungszusammenhang, sobald die jeweilige Regelung einen eigenständigen Hauptzweck verfolgt, der sich nicht mehr als Teilregelung in eine Gesamtsystematik einfügt, sondern vielmehr als eine selbstständige Ordnungsantwort zu verstehen ist. Deutlich wird aber auch: Der Regelungszusammenhang begünstigt partielle Überschneidungen zwischen Bundes- und Landesrecht und somit die Gefahr der Entstehung widersprüchlicher Regelungskonzeptionen.
152 So verfolgt § 50 TKG im Schwerpunkt eine technische Zielrichtung und § 52c RStV im Schwerpunkt eine programmatische. 153 Schulz / Kühlers, Konzepte der Zugangsregulierung, S. 16 sind etwa der Auffassung, der Bundesgesetzgeber dürfe nach dem Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens seine Zuständigkeit für die Telekommunikation (Art. 73 I Nr. 7 G) nicht so ausüben, „dass die rundfunkpolitischen Spielräume der Länder nicht eingeschränkt werden“; so auch Schulz / Wagner, in: Beck’scher Kommentar Rundfunkrecht, § 52c RStV Rn. 18. 154 Viertes Kapitel III.
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3. Kap.: Maßstäbe der Kompetenzzuordnung
3. Andere Lösungsansätze Diese Arbeit teilt die These, dass der Kompetenzordnung Doppelkompetenzen fremd sind. Ist eine Regelung „chamäleonhaft“155, weist sie also vielfältige Berührungspunkte zu unterschiedlichen Kompetenzbereichen auf, so muss sie dennoch einem Titel einheitlich zugeordnet werden. Mehrfachzuordnungen sollen also nicht möglich sein. Wenn hierfür Schwerpunktkriterien genutzt werden, so könnte hiergegen eingewandt werden, dass die Vorstellung, selbst in den Grenzfällen eine einheitliche Zuordnung vornehmen zu müssen, letztlich willkürliche Entscheidungen provoziert. Im Folgenden sollen abweichende Konzepte vorgestellt und diskutiert werden. a) Zur These des idealkonkurrierenden Sonderrechts Insbesondere Pestalozza und mit ihm ein gewichtiger Teil im Schrifttum meinen, der Putativzwang zur alternativen Qualifikation habe zu manchen willkürlichen Entscheidungen verleitet und überzeugende Lösungen vereitelt.156 Als Beispiel führt Pestalozza unter anderem die Fälle der Verjährung der Pressedelikte sowie das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen von Presse und Rundfunk an. Diese seien weder allein dem gerichtlichen Verfahren (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG), noch dem Presse- oder Rundfunkrecht sonderrechtlich zugewiesen.157 Statt des Traumas, „unter allen Umständen zu einer eindeutigen Qualifikation gezwungen zu sein“158, schlägt Pestalozza die Anerkennung von idealkonkurrierendem Sonderrecht vor mit der Folge, dass kompetentielle Mehrfachqualifikationen (Doppel kompetenzen) möglich sein sollen. Unter Berufung auf Adolf Merkel159 und in Anlehnung an die kanadische Verfassungsrechtspraxis160 führt Pestalozza aus, dass sich Doppelkompetenzen sehr wohl als Normkonkurrenzen darstellen, die folglich nicht nach den Art. 70 ff. GG, sondern nach dem Grundsatz „Bundesrecht bricht Landesrecht“ (Art. 31 GG) aufzulösen seien.161
155
Formulierung von Lerche, JZ 1972, 471, Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 337. Pestalozza, DÖV 1972, 181 (188). 157 Ibid., S. 188. 158 Ibid., S. 189. 159 Merkl, ZÖR 2 (1921), 336 (340 ff., 350), abgedruckt in: Die Wiener rechtstheoretische Schule, Bd, 2, S. 1305 ff. 160 Dazu Hoppe, Die Qualifikation von Rechtssätzen, S. 125 ff.; Bothe, Die Kompetenzstruktur des modernen Bundesstaats, S. 178 f. 161 Pestalozza, DÖV 1972, 181 (187 ff.); ders., in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 75; zust. Bothe, in: AK-GG, Bd. 2, Art. 70 Rn. 21 ff.; Brohm, DÖV 1983, 525 (528); Lerche, JZ 1972, 468 (471); Scholz, in: FG BVerfG, S. 256; ähnlich, wenn auch im Hinblick auf den Anwendungsbereich von Art. 31 GG zurückhaltender Dreier, in: ders., GG, Art. 31 GG Rn. 58; Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, S. 129 ff. und S. 204; Wolfrum, DÖV 1982, 674 (678). 156
II. Kriterien der Qualifikation
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Einen ähnlichen Ansatz vertritt Wagner.162 Sein Ansatzpunkt ist, dass die Zuordnungsebene von vornherein nicht der richtige Ort sei, um Konkurrenzen an ihrer Entstehung zu hindern. Der Autor betrachtet die Zuordnungsebene als bloße Subsumtionsebene, in der es lediglich darum gehe, zu prüfen, „ob der festgestellte Sachverhalt (der ermittelte Gesetzeszweck) den Tatbestand einer Kompetenznorm erfüllt“.163 Habe man den Tatbestand der Kompetenznorm durch Auslegung konkretisiert, so bleibe im Rahmen der Zuordnung für die Modifikation kein Raum, denn dadurch „würde die im Bereich der Auslegung gefundene Methode aus den Angeln“ gehoben.164 Da Wagner also der Zuordnungsebene keine gesteigerte Bedeutung beimessen will, haben Schwerpunktkriterien von vornherein keinen Platz. Aus diesem Grund kommt Wagner konsequent zur vermehrten Annahme von Gesetzeskonkurrenzen.165 Die Lösung, Doppelkompetenzen anzuerkennen, besticht zunächst durch ihre einfache Handhabung, die allerdings auch mit einem Sog zur Bundeskompetenz erkauft wird.166 Zu Recht wurde jedoch gegen die These des idealkonkurrierenden Sonderrechts vorgebracht, dass die dargelegte Ansicht gar nicht den Versuch unternehme, die Konfliktsituationen mit inhaltlichen Kriterien aufzufüllen, sie vielmehr von Fall zu Fall von der genaueren Analyse der relevanten Normen absehen möchte, sobald ein Willkürverdacht im Raum stehe.167 Hiergegen ist insbesondere einzuwenden, dass dieser archimedische Punkt selbst kaum feststellbar ist; schon das Argument, „ab jetzt ist eine weitere Kompetenzabgrenzung willkürlich“, ist ohne nähere normative Untermauerung selbst ein willkürliches. Hat man die in Frage kommenden Normen schon so weit interpretiert, um feststellen zu können, dass die Regelung zu verschiedenen Kompetenzmaterien Berührungspunkte aufweist, so ist kein Grund ersichtlich, nicht noch näher nach dem Schwerpunkt zu differenzieren. Denn gerade dort, wo die Normanwendung schwierig wird, beginnt die eigentliche Arbeit des Juristen; die Normanwendung vorzeitig abzubrechen, käme einer Kapitulation der juristischen Dogmatik gleich.168
162
Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, S. 120 ff. 163 Ibid., S. 120. 164 Ibid., S. 121. 165 Ibid., S. 129 ff. 166 Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, S. 106; Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 164; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 135; Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 336. 167 F. Müller / Pieroth / Rottmann, Strafverfolgung und Rundfunkfreiheit, S. 50; zutreffend auch Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, S. 106; Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 164; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 135 f.; Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 422 f. 168 Aus dem gleichen Grund kann auch der Vorschlag von Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 338 nicht überzeugen. Er schlägt vor, anstatt eine „falsche alternative Qualifikation“ durchzuführen, stattdessen sowohl dem Bund als auch den Ländern zu verbieten, ambivalente Vorschriften zu erlassen, „solange sie sich nicht im Besitz aller hierzu erforderlichen
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3. Kap.: Maßstäbe der Kompetenzzuordnung
Sich in diesen Fällen mit einem non liquet zufrieden zu geben und die eintretenden Kollisionen dem Geltungsvorrang des Bundesrechts aus Art. 31 GG zu überlassen, scheint auch im Ergebnis nicht der überzeugendere Weg zu sein. Dagegen spricht die einseitige Privilegierung des Bundes169, die die Folge einer übermäßigen Anwendung des Art. 31 GG wäre, aber auch das hier vertretene Vertrauen in das System einer auf Ermächtigung und Ausgrenzung angelegten Kompetenzordnung.170 Die Kompetenzordnung ist auf ein „entweder-oder“ angelegt. Die Funktion der Kompetenzordnung, Staatsmacht aufzuteilen und zu begrenzen, würde weitgehend leerlaufen, würde man Kompetenzkonkurrenzen anerkennen. Sicherlich mag der Einwand nicht zu leugnen sein, dass Schwerpunktkriterien dazu verleiten, eher nach subjektiven Evidenzerwägungen zu entscheiden. Auch ist es richtig, darauf hinzuweisen, dass eindeutige Ergebnisse weniger zu erreichen sind, je stärkere Querbezüge die Regelungsmaterie zu unterschiedlichen Rechtsbereichen oder Lebenssachverhalten aufweist. Solange aber nähere Differenzierungen – etwa in Form des Sonderrechtskriteriums und des Regelungszusammenhangs – möglich sind und rationale Zuordnungsentscheidungen gewährleisten, gibt es keinen Grund, den Gedanken einer auf Trennung und Alternativität angelegten Kompetenzordnung aufzugeben. Nicht zuletzt geht die Ansicht von einem verkürzten juristischen Wissenschaftsbegriff aus. Nur weil eine Regelung nicht zweifelsfrei einem Kompetenztitel subsumiert werden kann, verliert die juristische Methodik nicht ihren Sinn. Richtigkeit als „regulative Idee“171 verlangt nicht eine unzweifelhafte und messbare „Wahrheit“, sondern begnügt sich vielmehr mit dem Anspruch, ratioKompetenzpartikel befinden“. Dieser Vorschlag überzeugt aus drei Gründen nicht. Erstens läuft er auf eine partielle Handlungsunfähigkeit sowohl des Bundes als auch der Länder hinaus, wenn das „Ambivalente“ gar nicht geregelt werden könnte. Zweitens ist entsprechend dem Gesagten die konkrete Bestimmung, dass eine alternative Kompetenzabgrenzung nicht mehr möglich ist, so nicht feststellbar. Drittens wird verkannt, dass das Phänomen chämäleonartiger Regelungen nicht um ein „zu wenig“ des Kompetenzgehalts kreist. Es geht um eine Zuordnungsfrage: Es muss bestimmt werden, in welchen Kompetenzbereich die konkrete Regelung „eher“ fällt. Ambivalent in diesem Sinne sind lediglich Sachzusammenhangsregelungen, die eine Fremdregelung betreffen und gleichwohl in die Sachgesetzgebungskompetenz fallen; vgl. jedoch zur Zulässigkeit des Sachzusammenhangs Zweites Kapitel VI. 3. c) aa). 169 Pestalozza, DÖV 1972, 181 (190) war sich dieses Einwands bewusst, hat ihn aber als nicht überzeugend zurückgewiesen. Der Vorwurf der Bundesfreundlichkeit seiner Lösung treffe nicht sein Modell der Mehrfachqualifikation, „sondern die Vorstellung der Ranghierarchie der Normen“. 170 Dazu Erstes Kapitel V., insbesondere 2. b). 171 Zum Anspruch auf Richtigkeit Canaris, Richtigkeit und Eigenwertung in der richterlichen Rechtsfindung, S. 41. Er führt dazu aus: „Von Popper haben wir gelernt, daß man empirische Aussagen nicht verifizieren, sondern allenfalls falsifizieren kann. Das hindert ihn indessen nicht, Wahrheit und Richtigkeit als ‚regulative Ideen‘ im Sinne Kants anzusehen, also als Vorstellungen, denen wir zwar keine Entitäten mit einem bestimmten ontologischen Status zuordnen können, die aber unser Denken und Handeln sinnvoll leiten. Eine solche ‚regulative Idee‘ […] scheint mir auch die These zu sein, daß es auf jede vom Richter zu beantwortende Frage grundsätzlich nur eine einzige richtige Antwort gibt“. Ähnlich Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 241 und 264 ff.; differenzierend zur These der einzig richtigen Entscheidung Herbst, JZ 2012, 891 ff.
II. Kriterien der Qualifikation
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nale und folgerichtig begründete und deshalb „vertretbare“ Aussagen zu treffen.172 Diesem Anspruch werden die hier konkretisierten Schwerpunktkriterien durchaus gerecht. Darüber hinaus sollte berücksichtigt werden, dass die Ebene der Zuordnung zwar ein bedeutender, aber gar nicht der entscheidende Aspekt der Kompetenzanwendung ist. Die Frage des Schwerpunkts ist vielmehr von der inhaltlichen Interpretation der in Frage kommenden Kompetenztitel abhängig. Wenn, wie in dieser Arbeit, insbesondere an das Kriterium der Tradition angeknüpft wird und hieraus weitere Folgerungen abgeleitet werden173, so wird durch die interpretative Aufbereitung der Obersätze auch festgelegt, welche Regelungen überhaupt sonderrechtlich relevant sein können. Insofern erfolgt die Zuordnung nicht „im luftleeren Raum“, sondern immer vor dem Hintergrund vorangegangener Interpretationsergebnisse. Nur wer den Gesichtspunkt der Auslegung der Kompetenzanwendungen vernachlässigt, wird angesichts der nicht zu leugnenden Überschneidungen zu unlösbaren Schwierigkeiten bei der Subsumtion kommen.174 Der Vorschlag von Wagner wiederum krankt an der Annahme, dass die Subsumtionsebene generell nur ein bloß feststellender Vorgang ohne eigene Bedeutung ist. Dies ist so methodisch kaum haltbar. Auch die Beurteilung des Sachverhalts ist stets mit vielfältigen Wertungen verbunden.175 Da Fall und Norm sich auf kategorial verschiedenen Ebenen befinden und somit ursprünglich nicht „gleich“ sind, müssen sie in einem aktiv gestaltenden Akt „gleichgesetzt“ werden. Diese Gleichsetzung ist nicht nur Determination und Subsumtion, sondern immer auch Interpretation (Konstruktion).176 Bei der Kompetenzzuordnung kommt hinzu, dass keine Tatsachen subsumiert werden, sondern Normen, deren Wortbedeutungen erst ergründet 172
Zu diesem Wissenschaftsverständnis Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 40 ff.; ders., Richtigkeit und Eigenwertung in der richterlichen Rechtsfindung, S. 25 ff.; Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 17 ff.; Kaufmann, in: ders. / Hassemer / Neumann, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, S. 128 f. Zum Begriff der Rationalität M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 12 f., 44 f., 396 f., der zwischen formaler Rationalität, die sich mit Fragen der Widerspruchsfreiheit und Kohärenz beschäftigt und mit materieller Rationalität, die sich mit Werten und Zwecken orientiert, unterscheidet; darauf eingehend Steinbach, Rationale Gesetzgebung, 157 ff.; Kluth, in: ders. / K rings, Gesetzgebung, § 1 Rn. 80 ff; Reyes y Ráfales, Rechtstheorie 45 (2014), 35 (36 ff.). 173 Zweites Kapitel V. 174 Dies verkennt Pestalozza, DÖV 1972, 181 (182), der vorschlägt „von einer allzu intensiven gesonderten Analyse der einzelnen Kompetenzmaterien“ abzusehen. Und weiter: „die pragmatische Judikatur anglo-amerikanischer Tradition hat hier wohl das richtige Maß der Beschränkung gefunden und sich angesichts der natürlichen Unzulänglichkeiten der Kataloge nicht allzu lange mit theoretischen Definitionen aufgehalten, sondern sich alsbald der erforderlichen Relation zwischen Gesetz und Materie, dem Untersatz also, zugewandt.“ Von dieser Vorstellung scheint Pestalozza später aber selbst wieder abgerückt zu sein. Seine Kommentierung der Art. 70 ff. GG (v. Mangoldt / K lein / Pestalozza) setzt bis heute Maßstäbe. 175 Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 104 ff.; Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 18 I.2., S. 152 f.; Zippelius, Allgemeine Methodenlehre, § 15, S. 91 ff. 176 Dieser Gedanke stammt von Kaufmann, in: ders. / Hassemer / Neumann, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, S. 134. Er geht davon aus, dass methodische Rechtsfindung immer ein Akt der Analogiebildung ist.
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3. Kap.: Maßstäbe der Kompetenzzuordnung
werden müssen. Legt man die Normen danach aus, was sie im Schwerpunkt ausdrücken und worin ihr hauptsächlicher Zweck liegt, so ist dies keine Korrektur des festgelegten Obersatzes, sondern die Ermittlung, wie die Regelung zu verstehen ist, damit sie subsumiert werden kann. Von „Doppelkompetenzen“ sollte nur dann ausgegangen werden, wenn dieses Ergebnis vom Grundgesetz gefordert ist.177 b) Auflösungskriterien in eine bestimmte Richtung Einen anderen Lösungsweg schlagen Müller, Pieroth und Rottmann vor.178 Anders als es die These idealkonkurrierenden Sonderrechts behaupte, verlange die Struktur des Verteilungsprinzips aus Art. 70 ff. GG keine mehrfache, sondern eine einfache Qualifikation. Sollte keine überwiegende Nähe der Regelung zu einer einzigen Zuständigkeit bestehen, so stehe nicht der Weg der Annahme einer Doppelkompetenz offen, der gem. Art. 31 GG zu lösen sei, entscheidend sei eine Qualifikation nach Maßgabe der Verteilungsregel aus Art. 70 Abs. 1 GG. Maßgeblich sei nicht, ob der Bund oder die Länder zuständig seien, sondern allein, „ob eine Verleihung von Zuständigkeit an den Bund normativ ausgewiesen werden könne“.179 Sei dies der Fall, so sei der Bund zuständig. Diese Verleihung verdränge das Gesetzgebungsrecht der Länder. Im Ergebnis führt dieses Verständnis zu einer isolierten Betrachtung der Bundeszuständigkeiten. Nach diesem Vorschlag soll also in den Grenzfällen „chamäleonartiger“ Normen ausschließlich danach gefragt werden, ob eine Bundeszuständigkeit in Betracht kommt. Kann dies bejaht werden, so erübrigt sich die Frage, ob nicht auch eine Länderzuständigkeit vorliegen könnte.180 Der Vorzug dieses Vorschlags liegt zunächst – wie auch schon bei der Annahme von Doppelkompetenzen – in der Einfachheit seiner Handhabung. Die Subsumtion erfolgt lediglich in eine Richtung, so dass in eleganter Weise schwierige Abgrenzungsfragen „umgangen“ werden können. Bei näherer Betrachtung ist diese Auffassung für die Länder aber mit noch größeren Nachteilen verbunden als der Vorschlag der Kollisionsauflösung gem. Art. 31 GG. Nicht erst das gültige und kollidierende Bundesgesetz verdrängt die Zuständigkeit der Länder, sondern schon das Bestehen der Bundeszuständigkeit.181 Gerade diese Folge ist mit einem weiteren Prinzip der Kompetenzordnung nicht vereinbar: das Prinzip der Beidseitig-
177
Das sind vor allem die Gemeinschaftsaufgaben in Art. 91a–91e GG. F. Müller / Pieroth / Rottmann, Strafverfolgung und Rundfunkfreiheit, S. 51 f.; zust. Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 423. 179 F. Müller / Pieroth / Rottmann, Strafverfolgung und Rundfunkfreiheit, S. 52. 180 Dieser Gedanke klingt auch in der Entscheidung zur Filmförderung an, vgl. BVerfGE 135, 155 (196 Rn. 103): „Nach der Systematik der grundgesetzlichen Kompetenzordnung wird grundsätzlich der Kompetenzbereich der Länder durch die Reichweite der Bundeskompetenzen bestimmt, nicht umgekehrt“. 181 So auch Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 76 i. V. m. Fn. 111. 178
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keit der Kompetenzordnung.182 Dieses schließt es aus, Länderzuständigkeiten als bloße Auffangzuständigkeiten zu deuten; sie müssen vielmehr gleichwertig bei der Kompetenzanwendung berücksichtigt werden.183 Insbesondere wurde dargestellt, dass die einseitige Kompetenzabgrenzung über die Bundeszuständigkeit gerade nicht aus der Verteilungsregel aus Art. 70 Abs. 1 GG abgeleitet werden kann. Die Enumeration von Bundeskompetenzen in den Art. 71 ff. GG ist lediglich eine rechtstechnische Umsetzung einer lückenlosen Kompetenzordnung, die vom Verteilungsprinzip des Art. 70 Abs. 1 GG angeleitet ist. Es sagt aber gerade nichts darüber aus, dass nur dem Bund abgrenzbare Kompetenzen zugeordnet sind.184 Ferner gilt zu bedenken, dass die Lösung auf einer falschen Fragestellung beruht.185 Dies wird am Beispiel der presserechtlichen Verjährungsvorschrift deutlich: Die Frage ist hier nicht, ob dem Bund eine Zuständigkeit etwa für das Strafrecht „verliehen“ ist. Dies ist schon aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG unmittelbar ersichtlich und unproblematisch. Die Frage muss vielmehr lauten, ob die geregelte Verjährungsvorschrift nach dem objektivierten Willen des Gesetzgebers tatsächlich die Zielrichtung verfolgt, in diese bestimmte Kompetenzmaterie zu fallen, ob also der Erlass einer pressebezogenen Norm, die von allgemeinen strafrechtlichen Verjährungsvorschriften abweicht, noch unter „Strafrecht“ subsumiert werden kann.186 Ermittelt werden muss der (objektiv zu bestimmende) Hauptzweck der Regelung, was wiederum auf den Schwerpunkt verweist. Die Lösung über die Bundeszuständigkeit löst dieses Problem nur zirkelhaft auf und ist folglich abzulehnen. Mitunter wird aber auch die entgegengesetzte Richtung vertreten. Danach möchte Cremer in den Fällen „janusköpfiger Gesetze“ die Maßgabe des Art. 70 Abs. 1 GG nicht als Vorrang der Bundeszuständigkeit, sondern als Vorrang der Länderzuständigkeit verstehen.187 Ein janusköpfiges Gesetz sei ein solches Gesetz, das eine Sachmaterie regele, die unterschiedlichen Verbänden zugewiesen sei.188 Es handele sich um „eine kompetenzrechtliche Doppelmaterie, für welche kein dem Bund zugewiesener Kompetenztitel existiert“.189 Hierunter fielen insbesondere alle Regelungen, die herkömmlich über die Figur des Sachzusammenhangs verstanden werden. Als Beispiele nennt Cremer den Kindergartenbeschluss190 sowie die Altenpflegeentscheidung191. Bei den Ausführungen geht Cremer offenkundig von einem formelfreien Sachzusammenhang aus192, weil sein Hauptkritikpunkt sich 182
Erstes Kapitel V. 3. Heintzen, DVBl 1997, 689 (690 f.); Isensee, HStR VI, § 133 Rn. 89; Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, S. 34. 184 Isensee, HStR VI, § 133 Rn. 89. 185 Dazu auch Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 340 f. 186 Drittes Kapitel II. 1. 187 Cremer, ZG 2005, 29 (41 ff.). 188 Cremer, ZG 2005, 29 (31). 189 Cremer, ZG 2005, 29 (42). 190 BVerfGE 97, 332 (341 f.). 191 BVerfGE 106, 62. 192 Zweites Kapitel VII. 3. c) bb). 183
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3. Kap.: Maßstäbe der Kompetenzzuordnung
darauf bezieht, der Maßstab des Schwerpunkts sei ungenau und verlange „nach einer durch das Grundgesetz kaum mehr vorgeprägten Abwägungsentscheidung“, die „tendenziell zum Dezisionismus“ führe.193 Auf die formelgebundenen Voraussetzungen geht Cremer indes nicht ein. Statt in den Grenzfällen Schwerpunktkriterien anzuwenden, seien ausschließlich die Länder zur Regelung zuständig. Dies folge „aus der „strikten Beachtung der kompetenzrechtlichen Systematik des Grundgesetzes“. In eine ähnliche Richtung hatte schon März argumentiert. Für Überschneidungsfälle müsse der Grundsatz der Primärzuständigkeit der Länder mit seiner Vermutungswirkung zugunsten der Länder beachtet werden.194 Auch diese Vorschläge haben den Vorteil der einfachen Handhabung, leiden aber wiederum an der einseitigen Privilegierung eines einzigen Kompetenzträgers. Statt nach rationalen Differenzierungskriterien zu suchen, wird eine Zuständigkeit generell pauschalisiert, was diese Auffassungen im Übrigen in die Nähe einer allgemeinen Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Länder rückt.195 Insbesondere kann auch der formelgebundene Sachzusammenhang als Element der teleologischen Auslegung gewonnen werden.196 Liegen dessen Voraussetzungen vor, ermächtigt eine Kompetenznorm auch zum punktuellen Übergriff auf fremde Materien. Janusköpfige Regelungen lassen sich also durchaus als Bestandteil einer Kompetenznorm deuten, so dass es nicht ganz überzeugen kann, die Grenzfälle einseitig in die Länderzuständigkeiten zu überweisen. 4. Ergebnis Die Kompetenzordnung ist darauf ausgerichtet, die Regelungen einem einheitlichen Kompetenztitel zuzuordnen; eine „doppelte Kompetenzlage“ ist ihr fremd. Gleichwohl kommt es in der Gesetzgebungspraxis immer wieder vor, dass die entsprechenden Regelungen mehrere Kompetenzbereiche unterschiedlicher Titel berühren. Aus diesem Grund bedarf es der Festlegung, welchem Kompetenz bereich die Regelung im Schwerpunkt unterfällt. Schwerpunktkriterien sind Hilfsgesichtspunkte, um den Hauptzweck der Norm zu ergründen und so eine rationale Zuordnungsentscheidung zu treffen. Sie dienen der Vermeidung von Doppel zuständigkeiten, die entstehen würden, würde man eine Regelung mehreren Kompetenzbereichen zuordnen. Der Schwerpunkt lässt sich anhand der Kriterien „Sonderrecht“ und „Regelungszusammenhang“ bestimmen. Zunächst kann ein Gesetz nur derjenigen Materie zugeordnet werden, die es sonderrechtlich regelt. Eine Materie, die von einem Gesetz nicht in ihrer Besonderheit, sondern gerade ohne Rücksicht darauf ge 193
Dazu und zum Folgenden Cremer, ZG 2005, 29 (41 ff.). März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 136 ff. 195 Zweites Kapitel II. 3. 196 Zweites Kapitel VI. 3. c). 194
III. Gesetzgebungszuständigkeiten und Schwerpunktkriterien
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troffen wird, für die sich die Regelung also als allgemeines, insoweit für alle geltendes Recht darstellt197, gibt für die kompetenzrechtliche Qualifikation keinen Ausschlag. Entscheidend ist die hauptsächliche Gestaltungsfunktion der Regelung. Während das Kriterium des „Sonderrechts“ die qualitative Nähe („Tiefe“) zur Kompetenz bestimmt, betrifft der Regelungszusammenhang die „Breite der Subsumtion“. Teilregelungen dürfen nicht isoliert betrachtet werden, sondern sind anhand ihres systematischen Zusammenhangs zum Normumfeld zu interpretieren. „Eine enge Verzahnung und ein dementsprechend geringer eigenständiger Regelungsgehalt der Teilregelung spricht regelmäßig für ihre Zugehörigkeit zum Kompetenzbereich der Gesamtregelung.“198 Dominiert in diesem Normumfeld ein Hauptzweck, so spricht dies regelmäßig für einen Regelungszusammenhang. Die genannten Abgrenzungsformeln wurden anhand „typischer“ medienrechtlicher Kompetenzprobleme erprobt. Sie sind aber gleichwertig auf andere Anwendungsfälle übertragbar. Auch wenn die Zuordnung anhand des Schwerpunkts in den schwierigen Grenzfällen nicht immer eindeutige Ergebnisse produziert, so erfolgt sie zumindest nach rationalen Kriterien. Gegenüber anderen Ansichten, die Mehrfachqualifikationen zulassen und die damit verbundenen Doppelkompetenzen über Art. 31 GG auflösen wollen oder Auflösungskriterien „in eine bestimmte Richtung“ präferieren, spricht für die hier vertretene Lösung, dass sie keinen Kompetenzträger einseitig bevorzugt und differenzierte Antworten zu finden versucht.
III. Zum janusköpfigen Verhältnis von implizit mitgeschriebenen Gesetzgebungszuständigkeiten (Sachzusammenhang, Annex) zu Schwerpunktkriterien III. Gesetzgebungszuständigkeiten und Schwerpunktkriterien 1. Ungeklärte dogmatische Verortung
Nicht geklärt ist, in welchem Verhältnis die hier besprochenen Schwerpunktkriterien zu den implizit mitgeschriebenen Gesetzgebungskompetenzen (Sachzusammenhang, Annex) stehen. Im zweiten Kapitel wurde beschrieben, dass es sich bei Sachzusammenhängen und Annexen nicht um selbstständige Kompetenzen, sondern um kompetenzintern wirkende Begründungstatbestände für Zuständigkeiten handelt, die in die Kategorie der teleologischen Auslegung fallen. Sie sind Oberbegriffe für typische Argumentationslinien, die es dem Kompetenzträger ermöglichen, seine gesetzgeberischen Ziele auf Grundlage seiner Zuständigkeiten erreichen zu können.199 Während der Sachzusammenhang darauf ausgerichtet ist, dass der Gesetzgeber auf fremde, aber unerlässliche Materien übergreift, um seine 197
Pestalozza, DÖV 1972, 181 (183). BVerfGE 97, 228 (251 f.). 199 Zweites Kapitel VI. 3. a). 198
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3. Kap.: Maßstäbe der Kompetenzzuordnung
sachgesetzlichen Konzepte erfüllen zu können, greift der Annex nicht in fremde Zuständigkeiten über, sondern stellt lediglich unselbstständige Modi staatlichen Handelns bereit. Das Bundesverfassungsgericht trennt in neueren Entscheidungen zwischen dem Regelungszusammenhang und dem (formelgebundenen) Sachzusammenhang und scheint somit beiden Begriffen eine unterschiedliche Bedeutung zuzuschreiben. Dies wurde zuletzt bei einem Beschluss des Ersten Senats über thüringische Laden öffnungszeiten deutlich: „bb) Bei der Zuordnung von Gesetzesmaterien zu Kompetenznormen dürfen die einzelnen Vorschriften eines Gesetzes allerdings nicht isoliert betrachtet werden. Ausschlaggebend ist vielmehr der Regelungszusammenhang. Eine Teilregelung, die bei isolierter Betrachtung einer Materie zuzurechnen wäre, für die der Kompetenzträger nicht zuständig ist, kann nur dann gleichwohl in seine Kompetenz fallen, wenn sie mit dem kompetenzbegründenden Schwerpunkt der Gesamtregelung derart eng verzahnt ist, dass sie als Teil dieser Gesamtregelung erscheint (vgl. BVerfGE 97, 228 [251 f.]; 97, 332 [342 f.]; 98, 265 [299]). Daneben kann eine ungeschriebene Gesetzgebungskompetenz als Kompetenz kraft Sachzusammenhangs bestehen. Sie stützt und ergänzt eine zugewiesene Zuständigkeit, wenn die entsprechende Materie verständigerweise nicht geregelt werden kann, ohne dass zugleich eine nicht ausdrücklich zugewiesene andere Materie mitgeregelt wird, wenn also das Übergreifen unerlässliche Voraussetzung für die Regelung der zugewiesenen Materie ist (vgl. BVerfGE 3, 407 [421]; 98, 265 [299]). Ein solcher Sachzusammenhang kann auch eine Kompetenz der Länder begründen (vgl. BVerfGE 7, 29 [38 ff.]; 28, 119 [145 ff.]).“200
Die Passage erweckt zunächst den Anschein, als ob die „Kompetenz kraft Sachzusammenhangs“ als zweiter Schritt nach einer erfolglosen Kompetenzzuordnung erfolge („Daneben“; „stützt“; „ergänzt“). Da der Sachzusammenhang aber wie erörtert nur konstruiert werden kann, wenn man ihn als teleologisch mitgeschriebenen Bestandteil einer Kompetenznorm deutet, ist diese Auffassung nicht haltbar. Einen anderen Ansatz befürwortet Erbguth. Er will den Sachzusammenhang nicht als selbstständigen Kompetenztypus, sondern als Gesichtspunkt der Zuordnungsebene beschreiben. Gemeint sei lediglich die „aus dem Sinnzusammenhang von Regelungsgegenstand und Kompetenzmaterie abgeleitete Beziehung zwischen beiden“201. Hintergrund dieses Verständnisses dürfte der Gedanke des formelfreien Sachzusammenhangs sein, so wie ihn Bullinger unter Auswertung der älteren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beschrieben hat.202 Danach gehe es um den „überwiegenden Sachzusammenhang“203, also um die größere Sachnähe einer Regelung zur Materie.204 Versteht man den Sachzusammenhang in diesem „formelfreien“ Sinne, so kann der Sachzusammenhang ohne dogmatische Ver-
200
BVerfGE 138, 261 (274 Rn. 30). Erbguth, DVBl 1988, 317 (320). 202 Bullinger, AöR 96 (1971), 237 (241 ff.). Vgl. dazu Zweites Kapitel VI. 3. c) bb). 203 Degenhart, in: Sachs, GG; Art. 70 Rn. 60, 62. 204 Bullinger, AöR 96 (1971), 237 (242). 201
III. Gesetzgebungszuständigkeiten und Schwerpunktkriterien
321
zerrungen auch mit dem Schwerpunktkriterium gleichgesetzt werden.205 Danach wäre der Sachzusammenhang nur eine Hilfserwägung, um die „enge Verzahnung“ und somit den Schwerpunkt einer Regelung zur Kompetenznorm festzustellen. Wie im zweiten Kapitel bereits beschrieben, ist der Sachzusammenhang auch formelgebunden denkbar und unter bestimmen Voraussetzungen auch verfassungsrechtlich begründbar. Der (formelgebundene) Sachzusammenhang geht insgesamt mit einem Übergriff auf fremde Materien einher, so dass er unter erhöhtem Begründungsdruck steht. Seine Anwendung kann nicht lediglich unter Verweis auf den Schwerpunkt der Gesamtregelung gerechtfertigt werden. Vielmehr sind für ihn die Kriterien der Unerlässlichkeit ausschlaggebend.206 Diese sind aber wiederum mehr als nur eine „Beziehung zwischen Kompetenznorm und Regelung“, sondern teleologische Bestandteile einer Ermächtigung. Auch Erbguth scheint den Sachzusammenhang nicht nur als „Schwerpunkt“ verstehen zu wollen, vielmehr sei „aus verfassungsrechtlicher Sicht letztlich Sinn und Zweck der Regelungsmaterie im Verhältnis zu Sinn und Zweck der beteiligten Kompetenznorm, mithin die teleologische Auslegung maßgeblich“207. Somit scheint der Sachzusammenhang auch nach dieser Auffassung nicht mit dem Schwerpunkt deckungsgleich zu sein. Deutlich wird vielmehr seine eigenständige Bedeutung, auch wenn unbestritten sein dürfte, dass zwischen Schwerpunkt und Sachzusammenhang eine Relation besteht. In diesem Zusammenhang meint Jarass, die Kompetenz kraft Sachzusammenhangs sowie die Annexkompetenz sei nichts anderes als eine extensive Auslegung des entsprechenden Kompetenztitels. Dies spreche dafür, „in den Ansätzen des Schwerpunkts der Gesamtregelung und der Kompetenz kraft Sachzusammenhangs bzw. der Annexkompetenz ähnliche und strukturell verwandte, wenn schon nicht übereinstimmende Ansätze zu sehen, die sich weithin überschneiden“208. Anders versteht Herbst den Sachzusammenhang als „Relation zwischen Regelungen“. Die Kompetenz kraft Sachzusammenhangs diene nicht der Auslegung von Kompetenznormen, sondern der Festlegung eines als kompetenzrechtliche Einheit verstandenen Subsumtionsgegenstandes.209
205
Dies wurde vor allem in BVerfGE 22, 180 (213) deutlich: „Jugendfürsorge und Jugendpflege sind in der praktischen Jugendarbeit so eng miteinander verzahnt, daß die Jugendpflege schon allein unter dem Gesichtspunkt des Sachzusammenhangs mit unter den Begriff ‚öffentliche Fürsorge‘ in Art. 74 Nr. 7 GG fallen muß.“ 206 Zweites Kapitel VI. 3. c) cc). 207 Erbguth, DVBl 1988, 317 (320). 208 Jarass, NVwZ 2000, 1089 (1090); ähnlich Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 43, der von einer Überlagerung von Sachzusammenhang, Schwerpunkt einer Gesamtregelung und der Kompetenz „kraft enger Verzahnung“ ausgeht. 209 Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 181 ff.; ders., in: Berliner Kommentar, Art. 70 Rn. 64 ff.
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3. Kap.: Maßstäbe der Kompetenzzuordnung
2. Eigener Ansatz: Die Zirkelbewegung der Anwendung implizit mitgeschriebener Gesetzgebungszuständigkeiten Will man dem Verhältnis von Sachzusammenhang und Schwerpunkt auf den Grund gehen, so sollte man sich zunächst bewusst machen, dass der Verstehens prozess der Normanwendung in Zirkelbewegungen abläuft. Diese Grundthese der hermeneutischen Forschung, die in der Methodenlehre etabliert210, wenn auch nicht unumstritten ist, weist auf die gedanklichen Zusammenhänge zwischen Vorverständnis und Deutung sowie zwischen Aufbereitung von Obersatz und Untersatz hin, wonach der Vorgang der Subsumtion nie nur Determination, sondern stets auch ein Akt der Konstruktion ist.211 Auslegung und Subsumtion sind keine strikt voneinander zu trennende Vorgänge; sie lassen sich eher als miteinander verwobene und sich bedingende Prozesse beschreiben, die durch eine bestimmte Sinnerwartung (Vorverständnis)212 miteinander verknüpft und korrigiert werden.213 Wenn es richtig ist, dass sich die Ebenen miteinander verbinden, dann liegt der Sachzusammenhang gewissermaßen zwischen Obersatz und Untersatz. Er ist Teil des Obersatzes, indem er (unter strengen Voraussetzungen) den Befugnisbereich einer Kompetenznorm auf Fremdmaterien erstreckt und somit den Normbereich214 dynamisiert. Er ist zugleich ein Element der Zuordnung, indem er den Maßstab formuliert, wie eng die inhaltliche Nähe zwischen Regelungen beschaffen sein muss, damit eine „Fremdregelung“ dennoch der Kompetenznorm zugeordnet werden kann. Beim Sachzusammenhang ist es nicht mit einer „engen Verzahnung“ getan, die erforderliche Verzahnung wird durch die Vorgabe des Sachzusammenhangs zum unerlässlichen, akzessorischen und punktuellen Zusammenhang verdichtet. Dabei ist insoweit das Vorverständnis ein zwingender Bestandteil der Methodenwahl. Denn ohne die Sinnerwartung, dass die zu subsumierende Regelung eine „Fremdregelung“ ist (was wiederum das Ergebnis einer Interpretation ist), aber dennoch aufgrund einer spezifischen Nähe zu einem Kompetenztitel unter diesen Kompetenztitel subsumiert werden muss, kann der Sachzusammenhang nicht logisch gedacht werden.
210
Kaufmann, in: ders. / Hassemer / Neumann, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 132 ff.; Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 132 ff.; Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 13, S. 116 ff. 211 Kaufmann, in: ders. / Hassemer / Neumann, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 132 ff. 212 Dazu ausführlich Gadamer, Wahrheit und Methode, passim, insbesondere S. 251: „Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, wenn man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn liest. Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs besteht das Verstehen dessen, was dasteht.“ Grundlegend auch Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung. 213 Zweites Kapitel I. 1. sowie Drittes Kapitel I. 214 Kategorie nach F. Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, Rn. 419 ff.
III. Gesetzgebungszuständigkeiten und Schwerpunktkriterien
323
Als These kann also formuliert werden: Sachzusammenhang und Annex einerseits und Schwerpunktkriterien (Sonderrecht, Regelungszusammenhang) andererseits sind im Grunde zwei Seiten derselben Medaille. Sachzusammenhang und Annex begründen spezifische Kompetenzvoraussetzungen, modifizieren die Gesichtspunkte des Schwerpunkts und reichern ihn mit weiteren konkretisierenden Kriterien an. Auf der Ebene der Zuordnung werden die Voraussetzungen des Sachzusammenhangs und des Annexes subsumiert. Die qualitative Nähe der Regelung (Schwerpunkt) zum Kompetenzbereich ist dabei von den Voraussetzungen des Sachzusammenhangs bzw. des Annexes abhängig. Sachzusammenhänge können damit von zwei Blickwinkeln aus betrachtet werden: Aus der Obersatzperspektive gehören sie zum Tatbestand der Kompetenznorm und begründen die Befugnis, nicht nur den „Kernbereich“, sondern im Sinne einer weiten, teleologischen Auslegung auch die „Randbereiche“ der Kompetenznorm effektiv gestalten zu können.215 Der Annex umschreibt dagegen die Befugnis, auch unselbstständige Regelungen „mitzuregeln“, wenn sie einen sonderrechtlichen und vor allem spezifischen Bezug zur Sachregelung aufweisen. Noch stärker erweitert der Sachzusammenhang den sachlichen Befugnisbereich, er ist dafür aber auch an strengere Voraussetzungen geknüpft. Er ermächtigt, solche Angelegenheiten „mitzuregeln“, die nicht in die Stamm-Materie, sondern in eine fremde Materie fallen, aber aufgrund ihrer Unerlässlichkeit dennoch als eine Regelung der zugewiesenen Sachkompetenz verstanden werden müssen. Der Tatbestand einer Kompetenznorm – der Kompetenztitel – enthält also nicht nur die im Normwortlaut umschriebene Materie, sondern zugleich seine „mitgeschriebenen“ Sachzusammenhänge und Annexe. Im Untersatz wird die geforderte Nähe der Teilregelung zur Hauptregelung festgestellt, wobei die Kriterien der Feststellung durch die Voraussetzungen von Annex und Sachzusammenhang konkretisiert und „erschwert“ werden. Handelt es sich, um eine „Annexmaterie“, so konkretisiert sich der Regelungszusammenhang, der eine enge Verzahnung fordert, in einen spezifischen Zusammenhang. Der Regelungszusammenhang wird somit „aufgeladen“. Im Falle des Sachzusammenhangs muss die enge Verzahnung sogar unerlässlich sein. 3. Ergebnis Der Annex und der Sachzusammenhang sind teleologische Bestandteile eines Kompetenztitels, weil zur Kompetenz implizit auch die Befugnis gehört, von der Ermächtigung „effektiven“ Gebrauch zu machen. Zur Schonung der Zuständigkeiten des jeweils anderen Kompetenzträgers sind die Voraussetzungen der impliziten Ermächtigungen konkret beschrieben. Dabei gilt die Faustregel: Die
215
Bullinger, Die Mineralölfernleitungen, S. 66 ff.
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3. Kap.: Maßstäbe der Kompetenzzuordnung
Voraussetzungen der Zuweisung sind umso strenger, je stärker die Überschneidung zu fremden Materien ausfällt. Am strengsten sind die Voraussetzungen zu bestimmen, wenn der Gesetzgeber auf fremde Materien „übergreifen“ will. Dies ist nur nach den Voraussetzungen des Sachzusammenhangs möglich. Sachzusammenhang und Annex dienen somit der Vorbereitung von Zuordnungsfragen. Die Feststellung, ob die Voraussetzung eines Sachzusammenhangs oder Annexes im konkreten Fall erfüllt sind, ist anschließend auf der Zuordnungsebene endgültig zu entscheiden. Da sowohl Sachzusammenhang als auch Annex häufig Berührungspunkte zu „Fremdmaterien“ aufweisen, erfolgt die Zuordnung anhand des Schwerpunkts, der nach dem sonderrechtlichen Regelungszusammenhang fragt. Dabei gilt der Grundsatz: Je mehr eine fremde Materie nicht nur berührt, sondern sogar (mit-)geregelt wird, desto stärker wird dieser Regelungszusammenhang durch die Kriterien des Annexes oder des Sachzusammenhangs aufgeladen. Die Subsumtion erfolgt anhand einer gleitenden Skala, der von der bloßen Feststellung des Schwerpunkts, zum „spezifischen Bezug“ (Annex) bis hin zur „Unerlässlichkeit“ (Sachzusammenhang) reicht. Die Obersätze bestimmen mithin die Maßstäbe zur Intensität des Schwerpunkts. Hier zeigt sich, dass Kompetenzauslegung und Kompetenzzuordnung nicht vollständig getrennte Vorgänge sind, sie bedingen vielmehr einander und sind gedanklich eng miteinander verflochten. Dies ist nicht schädlich und auch nicht methodisch fragwürdig, sondern vielmehr das Ergebnis eines hermeneutischen Verständnisses, wonach das Textverständnis und die Normanwendung immer nur in Zirkelbewegungen ablaufen und zwischen Norm und „Fall“ „hin- und herwandern“.
IV. „Mosaikkompetenzen“ 1. Allgemeines Aus dem Verhältnis von implizit mitgeschriebenen Zuständigkeiten zu Schwerpunktkriterien erklärt sich auch die Existenz von „Mosaikkompetenzen“. Diese resultieren aus dem Umstand, dass die Bedingungen des Schwerpunkts nicht erfüllt sind, also die verschiedenen Regelungen weder über einen Sachzusammenhang, Annex oder Regelungszusammenhang miteinander verbunden werden können. Die einzelnen Teilregelungen stehen für sich und fallen nicht in einen einheitlichen Kompetenzbereich. Will der Gesetzgeber dennoch von der Teilregelung Gebrauch machen, so muss er sie auf eine gesonderte Kompetenzgrundlage stützen. Ein Gesetz kann auf verschiedene Kompetenzgrundlagen gestützt werden, sofern es abtrennbare Bestimmungen enthält, die jeweils unterschiedliche Gegenstände regeln. Im Gegensatz zu solchen Regelungen, die untereinander in einer engen Verzahnung und somit in einem Regelungszusammenhang stehen, lassen diese keinen dominierenden Hauptzweck erkennen, sondern sie enthalten mehrere unterschiedliche Hauptzwecke, die je für sich selbstständig und teilbar sind.
IV. „Mosaikkompetenzen“
325
Diese für sich stehenden Regelungen werden einem eigenständigen Kompetenztitel zugeordnet. Man spricht in diesem Zusammenhang von „Mosaikkompetenz“216, „Kompetenzkombination“217 oder vom „Kompetenzmix“218. Die Existenz dieses Phänomens ist allgemein anerkannt, denn es steht dem Gesetzgeber selbstverständlich frei, in einem Gesetz bzw. Gesetzbuch verschiedene Ordnungsthemen zu gestalten, solange er hierfür alle notwendigen Ermächtigungen hat. Ein gutes Beispiel wäre das geplante Umweltgesetzbuch gewesen, das auf verschiedene Kompetenzgrundlagen gestützt worden wäre.219 Die einzelnen Themenfelder wie Klimaschutz, Recht der erneuerbaren Energie, Gentechnik, Chemikalienrecht, Immissionsschutzrecht basieren nicht auf einem „Recht des Umweltschutzes“, sondern können sich nur auf fragmentarische Befugnisbereiche im Grundgesetz stützen, so dass die Zuständigkeiten des Bundes im Umweltbereich nur über einen „Kompetenzmix“ zu rechtfertigen sind.220 2. Insbesondere: Mosaikkompetenz im Bereich des Ladenöffnungsrechts Gleichwohl ist es für Mosaikkompetenzen nicht untypisch, dass die föderalen Ursprünge oft nicht sauber voneinander unterschieden werden können. Ein Beispiel, das seit der Föderalismusreform von 2006 an Bedeutung gewonnen hat, ist die Abgrenzung zwischen Arbeitszeitrecht und Ladenschlussrecht. Das Bundesverfassungsgericht ging stets davon aus, dass wirtschaftsordnende Aspekte des Ladenschlusses aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG folgen, während Arbeitszeitregelungen Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zuzuordnen seien.221 Es handelte sich hierbei um klassische Anwendungsfelder von Mosaikkompetenzen. Da beide Zuständigkeiten zur konkurrierenden Gesetzgebung gehörten, musste sich der Bundesgesetzgeber über die Abgrenzung von Ladenschluss und Arbeitszeit keine größeren Gedanken machen, so dass er in § 17 LadSchlG auch umfassende Arbeitszeitregelungen treffen konnte.222 Im Zuge der Föderalismusreform änderte sich dies, da der verfassungsändernde Gesetzgeber den wirtschaftsrechtlichen Teil des Ladenschlusses (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) in die Zuständigkeit der Länder überführt hat. Sofern man nicht auf Grundlage eines zirkelhaften Verständnisses einer normativ-rezeptiven Zuweisung davon ausgeht, der verfassungsändernde Gesetzgeber habe den gesamten Inhalt des LadSchlG in die Zuständigkeit der Länder trans 216
Lutz, Vielfalt im Bundesstaat, S. 167. Erbguth, DVBl 1988, 317 (321); Jarass, NVwZ 2000, 1089 (1090); Kloepfer / Bröcker, DÖV 2001, 1 (5); Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 70 Rn. 35. 218 Rozek, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 70 Abs. 1 Rn. 54. 219 Schulze-Fielitz, NVwZ 2007, 249 (252). 220 Schulze-Fielitz, NVwZ 2007, 249 (252). 221 BVerfGE 1, 283 (292); 13, 230 (233); 110, 10 (28); 138, 261 (275). 222 Vgl. aber zur fehlenden Erforderlichkeit der Ladenschlusszeiten gem. Art. 72 II GG BVerfGE 111, 10 (28 ff.). 217
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3. Kap.: Maßstäbe der Kompetenzzuordnung
feriert223, muss seit der Föderalismusreform beantwortet werden, wie Arbeitsrecht und Ladenschlussrecht voneinander unterschieden werden können. Der Arbeitsrechtsgesetzgeber könnte zum Beispiel ein vollständiges Arbeitsverbot für Sonnund Feiertage verhängen und so die Ladenöffnungspolitik der Länder unterminieren.224 Andererseits haben auch die Länder arbeitszeitbezogene Regelungen beschlossen, wie z. B. das Land Thüringen ein Beschäftigungsverbot der Arbeitnehmer an zwei Samstagen im Monat225 oder das Land Sachsen-Anhalt besondere Arbeitszeitbestimmungen für die Beschäftigung an Sonntagen.226 Derartige Konflikte sind schwierig, aber unter Bezugnahme der hier vorgeschlagenen Normkonkretisierungsmethoden lösbar. Zunächst muss in systematischer Hinsicht die spezifische Zuständigkeit der Länder für das Ladenschlussrecht berücksichtigt werden.227 Da das Recht des Ladenschlusses stets einen Bezug zur Tätigkeit der Arbeitnehmer in Verkaufsstellen aufweist, kann die Zuständigkeit für das Recht des Ladenschlusses noch nicht dort enden, wo sich die Ladenöffnung faktisch auf die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer auswirkt.228 Die Länder sind somit auf Grundlage des Rechts des Ladenschlusses ermächtigt, die Ladenöffnungszeiten zu bestimmen und so faktisch einen Rahmen für die Beschäftigungszeit der Arbeitnehmer als sekundäre, aber letztlich mittelbare Folge festzulegen.229 Da zum Ermächtigungsgehalt auch ein spiegelbildlicher Ausgrenzungsgehalt hinzukommt230, ist systematisch ein gleiches Vorgehen des Bundes auf Grundlage der konkurrierenden Zuständigkeit für das Arbeitsrecht (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) ausgeschlossen. Arbeitsrechtliche Beschäftigungsverbote des Bundes für Sonn- und Feiertage (vgl. §§ 9 ff. ArbZG231) müssen also verfassungskonform dahingehend aus gelegt werden, dass sie keine Geltung für Verkaufsstellen beanspruchen können.232 223
So aber etwa SächsVerfGH NVwZ-RR 2012, 873 (875); Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 74 Rn. 46; Huber / Uhle, in: Heintzen / U hle, Neuere Entwicklungen im Kompetenzrecht, S. 114; Kingreen / Pieroth, Personale und kalendarische Arbeitszeitbeschränkungen, 2007, S. 40 f.; dies., NVwZ 2006, 1221 (1224); a. A. Thüsing / Stiebert, GewArch 2013, 425 (427 ff.); Horstmann, NZA 2006, 1246 (1247 ff.); Kämmerer / T hüsing, GewArch 2006, 266 (268 f.). Zu den Bedenken einer „normativ-rezeptiven Kompetenzauslegung“ Zweites Kapitel V. 4. c). 224 Vgl. Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, S. 297, der ein umfassendes Nachtarbeitsverbot als ein Beispiel für eine Normkonkurrenz ansieht. 225 § 12 III 1 ThürLadÖffG, Gesetz. v. 24. 11. 2006 (GVBl. 2006, S. 541). 226 § 9 II LÖffzeitG LSA, Gesetz v. 22. 11. 2006 (GVBl. LSA S. 528), zuletzt geändert am 20. 20. 1. 2015 (GVBl. LSA S. 28). 227 Zur Bedeutung der beidseitigen Auslegung in systematischer Hinsicht Zweites Kapitel IV. 228 Zur grundsätzlichen Unbeachtlichkeit der Wirkung einer Regelung für die Kompetenzzuordnung Drittes Kapitel II. 1. 229 In diese Richtung auch Kämmerer / T hüsing, GewArch 2006, 266 (269) („funktionelle Ausrichtung des Ladenschlussgesetzes“). 230 Dies folgt aus dem Ermächtigungs- und Ausgrenzungsgehalt einer Kompetenznorm (Erstes Kapitel II. 2. c), was sich wiederum auf die systematische Auslegung auswirkt, siehe Zweites Kapitel IV. 231 Gesetz v. 6. 6. 1994 (BGBl. I, S. 1170). 232 Vgl. Horstmann, NZA 2006, 1246 (1249); Kock, in: BeckOK ArbZg, § 10 Rn. 5 („Spezialvorschriften, die denen des ArbZG vorgehen“); a. A. Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetz-
IV. „Mosaikkompetenzen“
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Umgekehrt hat das Bundesverfassungsgericht aber auch deutlich gemacht, dass die Länder keine Arbeitszeitpolitik auf Grundlage des Rechts des Ladenschlusses betreiben können. In diesem Zusammenhang hat es arbeitszeitliche Ansprüche, an Samstagen nicht beschäftigt zu werden, dem Arbeitsrecht zugewiesen und einen Regelungszusammenhang zum Ladenschluss ausgeschlossen.233 Die Länder dürfen also auf Grundlage ihrer ausschließlichen Zuständigkeit Arbeitszeiten als mittelbare, aber sekundäre Nebenfolge von Ladenöffnungszeiten bestimmen, es ist ihnen aber untersagt, Arbeitszeitpolitik als unmittelbares und primäres Ziel zu betreiben. Die Frage, wie die Grenze zwischen mittelbar / sekundär und unmittelbar / primär zu verorten ist, verweist auf die Kriterien des Sonderrechts und des Regelungszusammenhangs. Eine Mosaikkompetenz kommt danach in Betracht, sobald der schwerpunktmäßige Bezug zu einem Kompetenztitel nicht mehr hergestellt werden kann. Nach dem Kriterium des Sonderrechts gilt Folgendes: Ist die Beschäftigung der Arbeitnehmer unmittelbare Folge der regulierten Ladenöffnung, so steht der sonderrechtliche Bezug zum Ladenschlussrecht im Vordergrund, die Bedingungen der Arbeitnehmer werden dann nur „allgemein“ und nicht „sonderrechtlich“ geordnet. Eine andere Beurteilung ist geboten, wenn die arbeitszeitlichen Beschäftigungsbedingungen über den Zweck der Ladenöffnung hinausgehen. Dann verfolgen sie selbstständige Zwecke, die nicht notwendigerweise mit der Ladenöffnung verzahnt sind. In diesem Fall fehlt es am Regelungszusammenhang zum Ladenschluss, so dass wiederum der sonderrechtliche Bezug zum Arbeitsrecht näherliegt. Aus diesem Grund waren arbeitszeitliche Ansprüche, an bestimmten Samstagen nicht beschäftigt zu werden (vgl. § 12 Abs. 3 ThürLadÖffG), keine Regelungen des Ladenschlusses.234 Derartige Ansprüche haben keinen unmittelbaren Bezug zur Ladenöffnung und dienen in diesem Zusammenhang selbstständigen arbeitsschutzrechtlichen Zielen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG). Auch ein Sachzusammenhang kommt grundsätzlich nicht in Betracht, da das Konzept der Ladenöffnung auch dann noch Sinn ergibt, wenn lediglich die allgemeinen Vorgaben des ArbZG vollzogen werden.235 Ebenso ist eine Regelung wie § 9 Abs. 2 LÖffzeitG LSA, die die Dauer der Beschäftigung eines Arbeitnehmers an Sonn- und Feiertagen reglementiert, auch nicht als Recht des Ladenschlusses, sondern als Arbeitsrecht zu werten. Eine solche Regelung ist keine unmittelbare und notwendige Folge der Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen, sondern eine vom Landesgesetzgeber zusätzliche arbeitszeitliche Beschäftigungsschranke für diese Tage. Durch § 9 Abs. 2 LÖffzeitG wird gebungskompetenzen von Bund und Ländern, S. 297 f., der ein grundsätzliches Nebeneinander von Arbeitsrecht und Ladenschlussrecht vertritt und nur für den Fall einer missbräuchlichen Kompetenzwahrnehmung die Doppelkompetenz auflösen möchte. 233 BVerfGE 138, 261 (274 ff. Rn. 31 ff.) in Bezug auf § 12 III 1 ThürLadÖffG. 234 BVerfGE 138, 261 (274 ff. Rn. 31 ff.). 235 Im Ergebnis auch BVerfGE 138, 261 (279 Rn. 40); dazu schon Kämmerer / T hüsing, GewArch 2006, 266 (271).
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3. Kap.: Maßstäbe der Kompetenzzuordnung
die Rechtsstellung der Arbeitnehmer (sonderrechtlich) gegenüber ihren Arbeitgebern festgelegt. Für die Öffnung von Verkaufsstellen ist diese Rechtsstellung nur als allgemeine Rahmenvorschrift von Bedeutung. Werden derartige Arbeitszeitregelungen Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zugeordnet, so stellt sich in einem zweiten Schritt die Frage, ob der Bund von seiner Zuständigkeit für das Arbeitsrecht nach Art. 72 Abs. 1 GG erschöpfenden Gebrauch gemacht hat. Die Maßstäbe werden an geeigneter Stelle näher zu erläutern sein.236
V. Regelungskumulationen durch verschiedene Anknüpfungspunkte Die Ausführungen haben bisher ergeben, dass die Zuordnung nach den Maßstäben des Schwerpunkts, des Sonderrechts und des Regelungszusammenhangs eine eindeutige Zuordnung von Regelungen zu Kompetenzen ermöglichen. Doppelzuständigkeiten und Kompetenzkonkurrenzen, wonach eine sonderrechtlich interpretierte Regelung mehreren Kompetenztiteln zugeordnet werden, existieren im Bundesstaat nicht. Auch für chamäleonartige, janusköpfige Regelungen gibt es immer nur eine einzige Zuständigkeit.237 Gleichwohl klang es im Laufe der Untersuchung immer wieder an, dass gewisse Parallelen und Überschneidungen im Bundesstaat nicht geleugnet werden können. Diese resultieren daraus, dass die aufgelisteten Kompetenztitel nicht in der Lage sind, alle Lebenswirklichkeiten punktgenau voneinander abzugrenzen. Besonders deutlich wird dies bei allen Vorschriften, die auf Grundlage eines Sachzusammenhangs beschlossen werden. Im Schnittstellenbereich zwischen der sachgesetzlichen Konzeption und der kraft Sachzusammenhangs herangezogenen Fremdregelung erfolgt eine Rechtslage, die nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch mit den Regelungen des jeweils anderen Kompetenzträgers konkurrieren kann. Ebenso wurde gezeigt, dass schon dem Regelungszusammenhang die Möglichkeit partieller Überschneidungen innbegriffen ist.238 Die Gesetzgebungszuständigkeiten des Grundgesetzes sind insgesamt vielfach miteinander verschränkt und erlauben Vermischungen. Obendrein sind die Zuständigkeiten der Länder nicht wörtlich formuliert, so dass es kaum möglich ist, ihnen ein abgeschlossenes Normprogramm zu entnehmen. Die Zuordnung nach dem Schwerpunkt verhindert zwar die Entstehung von Kompetenzkonkurrenzen im Sinne von Doppelzuständigkeiten, aber sie ist nicht in der Lage, Regelungs kumulationen zu verhindern. Bund und Länder können folglich auf Grundlage der ihnen zustehenden Ermächtigungen teilidentische Regelungen treffen. Sie können
236
Viertes Kapitel II. 2. c). Drittes Kapitel II. 3. 238 Drittes Kapitel II. 2. e). 237
V. Regelungskumulationen durch verschiedene Anknüpfungspunkte
329
sogar wortgleich formuliert sein und dennoch unterschiedlichen Zuständigkeiten unterfallen, wenn sie sich im Schwerpunkt sonderrechtlich unterscheiden. Die Kumulation des Rechts erfolgt zwar nicht auf der verfassungsrechtlichen Ebene der Kompetenz, wohl aber möglicherweise auf der einfachgesetzlichen Ebene. Die Rechtsordnung kennt zahlreiche solcher Beispiele, von denen folgende illustriert werden sollen: – Der Bundesgesetzgeber hat auf Grundlage seiner Zuständigkeit für die auswärtige Gewalt kraft der Annexkompetenz die Befugnis, nachrichtendienstliche Überwachungsbefugnisse zu formulieren, die präventivpolizeiliche Bezüge aufweisen.239 Zugleich können die Länder allgemeine Gefahrenwehrregelungen treffen. Überschneidungen im Bereich der informationellen Überwachung sind denkbar. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts sind derartige Parallelen und Überschneidungen zulässig, „solange sich die durch die Kompetenzverteilung abgegrenzten Aufgaben- und Tätigkeitsfelder der verschiedenen Stellen nicht vermischen.“240 – Überschneidungen bestehen im Bereich des Jugendschutzes sowie des Jugendmedienschutzes. Der Bundesgesetzgeber kann jugendschutzrechtliche Bestimmungen (JuSchG) auf Grundlage der konkurrierenden Zuständigkeit für die öffentliche Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) treffen. Zugleich sind die Länder befugt, den Jugendmedienschutz241 als Teil des programmatischen Rundfunkund Telemedienrechts zu ordnen. Die dafür erforderliche Zuständigkeit folgt aus Art. 70 Abs. 1 GG. Zwischen dem JuSchG und dem JMStV bestehen zahlreiche Überschneidungen, etwa im Hinblick auf die Beschränkung von jugendgefährdenden (§ 15 JuschG) und unzulässigen sowie entwicklungsbeeinträchtigenden (vgl. §§ 4, 5 JMStV) Medien. Zwar unterscheiden sich die Anwendungsbereiche der beiden Rechtsquellen. So ist das JuSchG hauptsächlich auf Trägermedien bezogen (§§ 11 ff. i. V. m. § 1 Abs. 2 JuSchG), das Jugendmedienschutzrecht gilt im Hinblick auf elektronische Informations- und Kommunikationsmedien, also Rundfunk und Telemedien (§ 2 Abs. 1 JMStV). Beide Rechtsquellen verfolgen somit unterschiedliche sonderrechtliche Anknüpfungspunkte und sind deshalb unterschiedlichen Zuständigkeiten zuzuordnen. Doch die Überschneidungen der beiden Bereiche werden spätestens dann deutlich, wenn etwa („hybride“) Computerspiele sowohl auf einer CD als Trägermedium (dann JuSchG) als auch über das Internet ohne entsprechenden Träger (dann JMStV) zur Verfügung gestellt werden. Die Rechtslage ist somit eine kumulativ-konkurrierende (vgl. § 16, § 18 Abs. 6 und 8, § 21 Abs. 6 JuSchG).242
239
Vgl. dazu BVerfGE 100, 313 (370 f.). BVerfGE 100, 313 (370 f.). 241 Vgl. dazu den Staatsvertrag über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien vom 10.–27. 9. 2002 (JMStV). 242 Zum System des Jugendmedienschutzes Altenhain, in: Hoeren / Sieber / Holznagel, Multimedia-Recht, Teil 20 Jugendschutz, Rn. 2 ff. 240
330
3. Kap.: Maßstäbe der Kompetenzzuordnung
– Das ärztliche Berufsrecht sowie das Recht der ärztlichen Heilberufe ist nach der Zuständigkeitsordnung des Grundgesetzes zweigeteilt. Nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG ist die „Zulassung zu ärztlichen und anderen Heilberufen und zum Heilgewerbe“ der konkurrierenden Zuständigkeit übertragen. Die Begrenzung des Wortlauts auf die „Zulassung“ spricht nach überwiegender Auffassung dafür, dass die Zuständigkeit auf die Erteilung, Rücknahme und Verlust der Approbation sowie die Ausübungsbefugnis beschränkt ist.243 Im Umkehrschluss ist den Ländern gem. Art. 70 Abs. 1 GG die Zuständigkeit für die Berufsausübung überantwortet.244 Dennoch wirkt der Bund auf Grundlage ihm zustehender Kompetenzen zunehmend auf die Berufsausübung der Ärzte ein. Zu nennen sind insbesondere die zahlreichen vertragsärztlichen Regelungen im SGB V245 auf Grundlage der Zuständigkeit für die Sozialversicherung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG), die die Eigenständigkeit des ärztlichen Landesrechts zunehmend verdrängen.246 243
BVerfGE 4, 74 (83); heute geregelt in der Bundesärzteordnung. Allgemeine Auffassung, vgl. nur Riedel / Derpa, Kompetenzen des Bundes und der Länder im Gesundheitswesen, S. 27 f. 245 In den §§ 69–140h SGB V finden sich zahlreiche Bestimmungen, die die ärztliche Berufsausübung betreffen, vgl. dazu etwa die Reglementierung der Vertragsarztsitze (§ 98 II Nr. 9 SGB V i. V. m. § 24 Ärzte-ZV); die Unterscheidung von hausärztlicher und fachärztlicher Versorgung (§ 73 I SGB V) oder auch die vielen Verpflichtungen zur Qualitätssicherung (z. B. § 95d SGB V, § 135a I SGB V); Übersicht bei Quaas / Z uck / Clemens, Medizinrecht, § 13 sowie §§ 18 ff. 246 Im Übrigen muss diese Zuständigkeit des Bundes gesondert geprüft werden und darf nicht, wie es oft geschieht, einfach angenommen werden (vgl. nur BVerfG NJW 1999, 2730 [2731]; Clemens, in: Quaas / Zuck / Clemens, Medizinrecht, § 18 Rn. 32 ff.; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 58). Beispielsweise sind die vielen berufsausübenden Regelungen im SGB V, die der Qualitätssicherung der vertragsärztlichen Versorgung dienen, durchaus kompetenzrechtlich problematisch. Zwar sind Kassenärzte „als Leistungserbringer in das öffentlich-rechtliche System der gesetzlichen Krankenversicherung einbezogen“ (BVerwGE 65, 362 [365]; BSGE 80, 256 [258]; siehe auch BVerfG NJW 1999, 2730 [2731]) und somit vom Begriffskern der Sozialversicherung umfasst. Daraus folgt aber nicht automatisch, dass auch berufsausübende Regelungen ebenfalls zur Sozialversicherung gehören. Vielmehr muss die ärztliche Zuständigkeitsverteilung nach Art. 74 I Nr. 19 GG im Auge behalten werden. In diesem Zusammenhang hat das Bundesverfassungsgericht in einer frühen, aber zutreffenden Entscheidung die systematische Schlussfolgerung getroffen, es gehe „nicht an, dem Bunde durch eine weite Auslegung des Art. 74 Nr. 1 GG eine Kompetenz zuzuweisen, die ihm nach der klaren Formulierung der Nr. 19 des gleichen Artikels vorenthalten ist. Insoweit stellt Art. 74 GG eine Einheit dar“ (BVerfGE 4, 74 [85]). Wenn schon Art. 74 I Nr. 19 GG keine weitreichende Ermächtigung für das Gesundheitswesen schafft, können andere Ermächtigungen keinen Ersatz für solche Ermächtigung liefern (Pestalozza, GesR 2006, 389 [395]). Nach zutreffender Ansicht sind Übergriffe in die Berufsausübung deshalb nur auf Grundlage eines Sachzusammenhangs möglich (Butzer, MedR 2005, 177 [179 ff.]; Prehn, MedR 2015, 560 [564]). Dies setzt voraus, dass der Übergriff unerlässliche Voraussetzung für das Gelingen des bundesgesetzlichen Konzepts ist und der Übergriff akzessorisch und punktuell erfolgt (vgl. Zweites Kapitel VI. 3. c)). Zweifel im Hinblick auf die Unerlässlichkeit können immer dann bestehen, wenn die allgemeinen Vorgaben der Länder, die landesrechtlich auf die Ärztekammern delegiert sind, ausreichen, um die Qualitätsstandards im Kassenarztrecht aufrechtzuerhalten. Unerlässlich kann der Übergriff auf die landesrechtliche Materie dann nicht sein. Ebenfalls ist am „punktuellen Übergriff“ zu zweifeln, wenn im SGB V mittlerweile „massenhafte“ 244
V. Regelungskumulationen durch verschiedene Anknüpfungspunkte
331
Darüber hinaus finden sich in ärztlichen Spezialgebieten weitere berufsausübende Regelungen.247 Ferner ist die Berufsausübung Gegenstand des Zivilrechts (§§ 630a ff. BGB; §§ 1901a ff. BGB; §§ 1905, 1906 BGB)248 aber auch des Strafrechts (etwa im Bereich des Schwangerschaftsabbruchs, §§ 218a ff. StGB). Diese vielfachen Einwirkungen auf das ärztliche Berufsrecht beruhen darauf, dass der Bund arztrelevante Gesichtspunkte mitgestalten kann, soweit der Anknüpfungspunkt seiner berufsausübenden Regelung im Kern („sonderrechtlich“) in eine ihm unterliegende Gesetzgebungsbefugnis fällt. Das Phänomen, dass sowohl der Bund als auch die Länder anhand ihrer eigenen Zuständigkeiten vergleichbare Gegenstände regeln können, ist kein spezifisch deutsches Phänomen. So vertritt der österreichische Verfassungsgerichtshof eine „Gesichtspunktetheorie“.249 Zwar seien Doppelzuständigkeiten auch im österreichischen Bundesstaat nicht vorgesehen. Dies schließe es aber nicht aus, dass „ein Lebenssachverhalt unter verschiedenen, sich aus bestimmten Sachgebieten ergebenden Gesichtspunkten zum Gegenstand mehrerer gesetzlicher Regelungen gemacht wird, auch wenn sich diese auf verschiedene kompetenzrechtliche Grundlagen stützen“250. Der Grund liegt – ähnlich wie in der deutschen Kompetenzverteilung – darin, dass sich die Zuständigkeiten mitunter überlappen.251 Aus (Überblick bei Prehn, MedR 2015, 560 ff.) Sachzusammenhänge konstruiert werden, die berufsausübenden Regelungen dabei zunehmend zum Selbstzweck werden und nicht mehr der Absicherung eines sachgesetzlichen Konzepts dienen. Lassen sich darüber hinaus die bundesgesetzlichen Bestimmungen, etwa zur ambulanten, stationären oder kombinierten Versorgung innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung von den Vorgaben über die Art und Weise der Ausübung des Arztberufs trennen, so fehlt es ferner am akzessorischen Bezug der geregelten Fremdmaterie zur sachgesetzlichen Konzeption (in diese Richtung Butzer, MedR 2004, 177 [180]). Mit den kassenärztlichen Regelungen wird dann eine eigenständige berufsrechtliche Politik verfolgt; dies ist jedoch nicht vom Sachzusammenhang umfasst. Insgesamt gibt es gute Gründe, das Wuchern des Kassenarztrechts zu Lasten der Gestaltungsmöglichkeiten der (landesrechtlichen) Ärztekammern kritisch zu betrachten, vgl. zur weitgehenden Aushöhlung des ärztlichen Berufsrechts durch die Bundesgesetzgebung Butzer, MedR 2004, 177 ff.; Ebsen, in: in: FS Krause, S. 97 Pestalozza, GesR 2006, 389 ff.; Prehn, MedR 2015, 560 ff.; Riedel / Derpa, Kompetenzen des Bundes und der Länder im Gesundheitswesen, passim; Sodan, NZS 2001, 169 ff.; a. A. Clemens, in: Quaas / Zuck / Clemens, Medizinrecht, § 18 Rn. 32 ff. 247 So etwa im Infektionsschutzgesetz (z. B. § 8 I Nr. 1 InfSG), Transplantationsgesetz (z. B. § 7 II Nr. 7, § 8 II TPG) und im Gendiagnostikgesetz (§§ 7 ff. GenDG); siehe auch die besonderen Vorgaben für Amtsärzte, etwa in § 48 BBG; 15 I BRAO; § 2 VIII StVG. 248 Dazu Kern, MedR 2015, 787 ff. 249 VfSlg 2674/1954; 7792/1976; 7936/1976; 10292/1984; 14.178/1995; 11.860/1988; 17.854/2006. Die Bezeichnung als Gesichtspunktetheorie ist missverständlich. In Wirklichkeit handelt es sich nicht um eine „Theorie“ im wissenschaftlichen Sinne, sondern um ein Erklärungsmodell, weshalb im österreichischen Bundesstaat Regelungskumulationen auftreten; vgl. Gamper, Regeln der Verfassungsinterpretation, S. 185. Funk, Das System der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung, S. 49 spricht deshalb von einem „Grundsatz der kumulativen Aspektverschiedenheit“. 250 So die Formulierung in VfSlg 7792/1976, S. 219. 251 VfSlg 4843/1963; siehe auch Gamper, Regeln der Verfassungsinterpretation, S. 183; Funk, Das System der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung, S. 48.
332
3. Kap.: Maßstäbe der Kompetenzzuordnung
diesem Grund sind auch im österreichischen Bundesverfassungsrecht Kumulationen von Regelungen möglich.252 Danach können etwa gewerbliche Betriebsanlagen unter den Gesichtspunkten des Gewerberechts, des Baurechts, des Naturschutzes, der Raumplanung, des Arbeitnehmerschutzes kumulativ geregelt werden.253 Auch hat der Verfassungsgerichtshof kumulative Regelungen auf dem Gebiet der Ausübung der Prostitution gebilligt, die sowohl auf die Sittlichkeitspolizei (Schutz vor Belästigungen und Schutz der Kinder)254 als auch auf die Gesundheitspolizei (Schutz der Kunden vor Ansteckung)255 gestützt worden waren. Möglich ist damit die teilweise Identität von Regelungseinheiten kompetenzrechtlich verschiedener Regelungen.256 Es handelt sich aber auch nach der Gesichtspunktetheorie nicht um Doppelzuständigkeiten. In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass die Gesichtspunktetheorie die Exklusivität von Zuständigkeiten anerkennt. Sie stelle lediglich fest, dass „selbst wenn der Lebenssachverhalt derselbe ist, die von Bund und Länder wahrgenommenen Regelungsaspekte unterschiedlich“ sein können.257 Auch wenn nach der Versteinerungstheorie einem Gesetzgeber eine Regelungszuständigkeit zugeordnet ist, könne es dennoch weitere Regelungsaspekte geben, die sich auf denselben Lebenssachverhalt beziehen, aber nicht unter diese Kompetenz fallen.258 Die Gesichtspunktetheorie liefere die Erklärung, dass es sich bei dem Phänomen der Überlappung von Regelungen nicht um einen Rechtsirrtum handele.259 Der Ansatz des österreichischen Verfassungsgerichtshofs kann auf die deutsche Kompetenzabgrenzung übertragen werden. Letztlich verdeutlicht er die begrenzte Leistungsfähigkeit bundesstaatlicher Kompetenzordnungen. Die Gesichtspunktetheorie kann insofern als ein Interpretationsansatz herangezogen werden, als dass sie klarstellt, dass die Konkretisierung von Kompetenznormen zwar eine weitgehend eindeutige Zuordnung einer Regelung zu einem Kompetenztitel ermöglicht, sie aber nicht in der Lage ist, Regelungskumulationen im Bundesstaat zu verhindern. Diese existieren, weil es Bund und Ländern möglich ist, gleichartige Sachgebiete unter verschiedenen Gesichtspunkten zu regeln, die jeweils auf eigene Zuständigkeiten gestützt werden. Zugleich können diese Kumulationen Normkonflikte auslösen. Diese Einsicht wird nicht zuletzt von der Existenz des Art. 31 GG bewiesen. Wäre der Vorgang der Kompetenzzuordnung in der Lage, Normkollisionen von vornherein auszuschließen, so verlöre der Grundsatz „Bundesrecht
252
Adamovich / Funk / Holzinger / Frank, Österreichisches Staatsrecht, Bd. 1, Rn. 19.074; Öhlinger / Eberhard, Verfassungsrecht, Rn. 280. 253 Beispiel nach Adamovich / Funk / Holzinger / Frank, Österreichisches Staatsrecht, Bd. 1, Rn. 19.074. 254 VfSlg 11860/1988. 255 VfSlg 7960/1976. 256 VfSlg 4348/1963; dazu Pernthaler, Kompetenzverteilung in der Krise, S. 77. 257 Gamper, Regeln der Verfassungsinterpretation, S. 185. 258 Gamper, Regeln der Verfassungsinterpretation, S. 186. 259 Gamper, Regeln der Verfassungsinterpretation, S. 186.
VI. Zusammenfassung des dritten Kapitels
333
bricht Landesrecht“ weitgehend260 seine Berechtigung.261 Daraus folgt aber auch kein „anything goes“. Regelungskumulationen sind – so gut es geht – durch eine konzentrierte Kompetenzinterpretation und -zuordnung zu vermeiden. Die grundlegenden Maßstäbe dafür lauten: (systematische) Beachtung der Beidseitigkeit der Kompetenzordnung262, Orientierung am historisch fixierten Typus263, Begrenzung dynamischer Interpretationen durch die Vorgaben des Sachzusammenhangs und des Annexes264 sowie die Beachtung der sonderrechtlichen Funktion der jeweiligen Regelung265. Treten Regelungskumulationen auf, dann sind sie von vornherein nur unter Maßgabe dieser Leitlinien kompetenzgemäß. Die Zulässigkeit damit einhergehender Normkonflikte wird Gegenstand des vierten Kapitels sein.
VI. Zusammenfassung des dritten Kapitels Das dritte Kapitel hat sich mit der zweiten Ebene der Anwendung von Kompetenzen beschäftigt: der Kompetenzzuordnung. Schwierigkeiten macht diese Ebene deshalb, weil die zu subsumierenden Regelungen selbst Normen sind. Der Rechtsanwender muss, will er rational begründete Entscheidungen treffen, nicht nur die in Frage kommende Kompetenznorm auslegen, sondern auch die zu subsumierenden Regelungen. Er muss also sowohl den Obersatz als auch den Untersatz interpretativ aufbereiten. Der Vorgang der Zuordnung ist somit nicht nur „reine“ Subsumtion, sondern auch wertende Beurteilung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Kompetenzauslegung und Kompetenzzuordnung keine gänzlich voneinander getrennten Vorgänge darstellen; vielmehr verwebt der Verständnisprozess die Auslegung der Kompetenznorm mit dem zu beurteilenden Sachverhalt. Ein maßgebliches Prinzip der Kompetenzordnung ist das der Trennung und Alternativität. Doppelkompetenzen sind der Kompetenzordnung fremd, die Vorstellung idealkonkurrierenden Sonderrechts hat sich als nicht überzeugend erwiesen. Vielmehr ist es geboten, Kriterien für die Qualifikation zu finden, die einen möglichst rationalen und vorhersehbaren Umgang ermöglichen. Ausgangspunkt der Qualifikation ist die Interpretation der zu subsumierenden Regelung. Dies erfolgt nach dem objektivierten Willen des Gesetzgebers. Maßgeblich zu berücksichtigen 260
Übrig blieben die Fälle der Kollision von Bundesrecht mit Landesverfassungsrecht sowie der Kollision von Landesrecht mit den Vorgaben der EMRK; siehe dazu Dreier, in: ders., GG, Art. 31 Rn. 49 ff.; a.A Bernhardt / Sacksofsky, in: BK, Art. 31 Rn. 22 ff., der die Möglichkeit einer Kollision zwischen Bundes- und Landesrecht generell bezweifelt. 261 Strenger ist die Position von Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 169. Nach Herbst kommt Art. 31 GG im Falle von Einzelregelungen ins Spiel, „die für sich genommen kompetenziell indifferent sind, weil sich ihr Zweck (als isolierte Einzelregelung) überhaupt nicht feststellen lässt“. 262 Erstes Kapitel V. III. sowie Zweites Kapitel III. 263 Zweites Kapitel V. 5. b). 264 Zweites Kapitel VI. 3. 265 Drittes Kapitel II.
334
3. Kap.: Maßstäbe der Kompetenzzuordnung
sind dabei „unmittelbarer Regelungsgegenstand, Normzweck, Wirkung und Adressat“ der Norm. Sie stellen Indizien für den objektivierten Willen dar. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Wirkung, also die Ausstrahlung der Norm in weitere Rechtsgebiete, grundsätzlich nicht entscheidungserheblich ist. Maßgeblich ist vielmehr, worin der formale Ansatzpunkt entsprechend dem Willen des Gesetzgebers zu sehen ist. Berührt eine Regelung verschiedene Kompetenzbereiche, lassen sich also verschiedene „Zwecke“ ermitteln, so erfolgt die Zuordnung nach dem „Hauptzweck“ der Norm, der sich nach dem Schwerpunkt ermitteln lässt. Schwerpunktkriterien sind Hilfsgesichtspunkte, um den Hauptzweck der Norm zu ergründen und eine einheitliche Zuordnungsentscheidung zu ermöglichen; sie sind aber keine Auflösungskriterien für eine „Kompetenzkonkurrenz“. Der Schwerpunkt lässt sich anhand von zwei weiteren Sub-Kriterien konkretisieren: Zum einen erfolgt die Kompetenzzuordnung nach dem von Pestalozza entwickelten Kriterium des „Sonderrechts“.266 Ein Gesetz kann danach nur derjenigen Materie zugeordnet werden, die es sonderrechtlich regelt. Eine Materie, die von einem Gesetz nicht in ihrer Besonderheit, sondern gerade ohne Rücksicht darauf getroffen werde, „für die sich die Regelung also als „allgemeines, insoweit ‚für alle‘ geltendes Recht darstellt“267, gibt für die kompetenzrechtliche Qualifikation keinen Ausschlag. Entscheidend ist die hauptsächliche Gestaltungsfunktion der Regelung, also die Ordnungsidee. Weiterhin wird der Schwerpunkt durch das vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Kriterium des „Regelungszusammenhangs“ konkretisiert. Teilregelungen dürfen nicht isoliert betrachtet werden, sondern sind anhand ihres systematischen Zusammenhangs zum Normumfeld zu interpretieren. „Eine enge Verzahnung und ein dementsprechend geringer eigenständiger Regelungsgehalt der Teilregelung spricht regelmäßig für ihre Zugehörigkeit zum Kompetenzbereich der Gesamtregelung.“268 Ausgangspunkt für den Regelungszusammenhang ist das Konzept des Gesetzgebers, in dessen Verwirklichung die einzelne Regelung als Bestandteil eingefügt ist. Dominiert in diesem Normumfeld ein Hauptzweck, so spricht dies regelmäßig für einen Regelungszusammenhang. Die Kriterien Sonderrecht und Regelungszusammenhang stehen nebeneinander. Während das Sonderrechtskriterium die qualitative Nähe („Tiefe“) zur Kompetenzmaterie herstellt, konstruiert der Regelungszusammenhang die „Subsumtionseinheit“, also die „Breite“ der Subsumtion. Weiter können die Schwerpunktkriterien durch implizit mitgeschriebene Gesetzgebungskompetenzen verdichtet und konkretisiert werden. Je stärkere Berührungspunkte eine Teilregelung zu fremden Materien aufweist, desto strengeren Vorgaben unterliegt der Regelungszusammenhang, der von der „engen Verzahnung“, zum „spezifischen Bezug“ (Annex) bis hin zur „Unerlässlichkeit“ (Sachzusammenhang) reichen kann. Dieses Verständnis macht deutlich, dass „implizit 266
Pestalozza, DÖV 1972, 181 (183). Pestalozza, DÖV 1972, 181 (183). 268 BVerfGE 97, 228 (251 f.). 267
VI. Zusammenfassung des dritten Kapitels
335
mitgeschriebene Zuständigkeiten“ teleologische Bestandteile einer Kompetenznorm sind. Ihre Prüfung ist somit in die Kompetenzzuordnung zu integrieren und erfolgt nicht – wie häufig angenommen – erst als zweiter Schritt nach einer erfolglosen Kompetenzzuordnung. Dennoch darf die Leistungsfähigkeit bundesstaatlicher Kompetenzabgrenzungen nicht überschätzt werden. Die Konkretisierung von Kompetenznormen ermöglicht zwar eine eindeutige Zuordnung einer Regelung zu einem Kompetenztitel, sie ist aber nicht in der Lage, Regelungskumulationen im Bundesstaat zu verhindern. Diese existieren, weil es Bund und Ländern möglich ist, gleichartige Sachgebiete unter verschiedenen Gesichtspunkten zu regeln, die jeweils auf eigene Zuständigkeiten gestützt werden. Diese Regelungskumulationen können Normkonflikte auslösen. Die Zulässigkeit solcher Konflikte wird Gegenstand des nun folgenden Kapitels sein.
Viertes Kapitel
Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten I. Einleitung: Kompetenzkonflikte als Normkonflikte 1. Normkonkretisierungskonflikte und Normkonflikte Die vorherigen zwei Kapitel haben sich mit der Interpretation von Kompetenznormen und der Zuordnung zu diesen beschäftigt. Zusammenfassend können die in diesen Kapiteln beschriebenen Schwierigkeiten als Normkonkretisierungskonflikte bezeichnet werden.1 Hierunter versteht Stettner solche Streitigkeiten, die bei der Interpretation von Aufgabenzuweisungs- und Mittelzuteilungsnormen auftreten, aber durch Auslegung aufgelöst werden können.2 Wenn Stettner auf den Gesichtspunkt der Auslegung abstellt, so ist dem ferner hinzuzufügen, dass auch die Zuordnungsebene spezifische Schwierigkeiten aufwirft und ebenfalls ein gesondertes Instrumentarium benötigt. Die Definition kann also insoweit konkretisiert werden, als dass Normkonkretisierungskonflikte solche Streitigkeiten sind, die sich durch Auslegung und Zuordnung lösen lassen.3 Beide Ebenen als Normkonkretisierungskonflikte zusammenzufassen bietet sich auch deshalb an, weil es jeweils um dieselbe Fragestellung geht: Welcher Gesetzgeber ist zum Erlass einer bestimmten Regelung kompetent? Von diesen Normkonkretisierungskonflikten lassen sich Normkonflikte unterscheiden. Sie kennzeichnen sich durch logische oder teleologische Unvereinbarkeiten von kompetenzgemäß erlassenen Bundes- und Landesnormen. Trifft etwa der Bundesgesetzgeber eine Regelung auf Grundlage einer ihm zugewiesenen Zuständigkeit, die aber wertungsmäßig mit einer ebenfalls kompetenzgerecht erlassenen 1
Dazu und zum Folgenden Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 375.; vgl. auch Jarass, Kartellrecht und Landesrundfunkrecht, S. 39 ff., der zwischen Kompetenzqualifikation und Kompetenzausübungsschranken unterscheidet. 2 Stettner, a. a. O. 3 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die grundlegenden Arbeiten von F. Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, Rn. 248 ff., die zutreffend darauf hinweisen, dass die Interpretation nur ein (wichtiges) Element der Normanwendung ist und dass Normanwendung stets Normkonstruktion, also „Konkretisierung“ und nie nur „Auslegung“ ist. Stets komme bei der Normanwendung auch ein schöpferisches Element hinzu, indem der Normtext anhand der „Wirklichkeit“ aufbereitet werde. Auf die damit verbundene Zirkelbewegung des Verstehens wurde schon hingewiesen, vgl. Zweites Kapitel I. 1.
I. Einleitung: Kompetenzkonflikte als Normkonflikte
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Landesnorm unvereinbar ist, so liegt ein Normkonflikt vor. Es geht mit anderen Worten um Störungswirkungen, die Regelungen zueinander aufweisen können.4 Das Phänomen, das hier als Normkonflikt bezeichnet wird, taucht in der Rechtsordnung in vielen Facetten auf. Bundesgesetzliche Regelungen im Sachzusammenhang etwa sind darauf ausgerichtet, punktuell auch fremde Materien (der Länder) mitzuregeln. Haben aber die Länder ebenfalls von ihren Zuständigkeiten Gebrauch gemacht, so tritt eine gewisse „Doppelung der Kompetenzlage“ (Regelungskumulation) auf5; widersprechen sich die kumulierenden Regelungen inhaltlich, so liegt ein Normkonflikt vor. Außerdem wurde ausgeführt, dass es in der Kompetenzordnung nicht zu verhindern ist, dass eine Regelung Querbezüge zu anderen Kompetenzmaterien aufweisen kann, obgleich sie im Schwerpunkt einer anderen Kompetenznorm unterfällt. Zwar wurde ausgeführt, dass es sich hierbei nicht um Doppelkompetenzen handelt, weil dennoch eine schwerpunktmäßige Zuordnung möglich ist. Nicht zu leugnen ist aber zugleich, dass die Regelungen vergleichbare oder sich widersprechende Wirkungen zeitigen können. Diese Phänomene stellen die Rechtswissenschaft vor Herausforderungen, die bestrebt ist, sich an den Kriterien der Folgerichtigkeit und „Einheit der Rechtsordnung“ zu orientieren.6 Das prominenteste Beispiel in diesem Zusammenhang ist der Konflikt des lenkenden Steuergesetzgebers mit dem Sachgesetzgeber.7 Er hat in der Rechtsprechungshistorie seinen vorläufigen Höhepunkt in zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts erreicht.8 In der Entscheidung „Kommunale Verpackungssteuer“ musste das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsmäßigkeit der Erhebung einer kommunalen Verpackungssteuer auf Grundlage des hessischen Gesetzes über kommunale Abgaben mit bundesgesetzlichen Umweltvorgaben urteilen. Das Gericht postulierte das Gebot einer „widerspruchsfreien Rechtsordnung“. Der Steuergesetzgeber dürfe „die vom Sachgesetzgeber getroffenen Entscheidungen nicht durch 4 Ein engeres Verständnis vom Normkonflikt vertritt Wiederin, Rechtstheorie 21 (1990), 311 (318), der in Anlehnung an Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, S. 99 lediglich Normwidersprüche als Normenkonflikte versteht. Bloße Wertungswidersprüche fallen hiernach heraus; ähnlich auch Pernthaler, Kompetenzverteilung in der Krise, S. 91 f.; Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 378. In dieser Untersuchung wird demgegenüber ein weites Verständnis vom Normkonflikt vertreten; Der Normkonflikt wird im Folgenden verstanden als der Oberbegriff für Normwidersprüche (Normkollision) und Wertungswidersprüche (teleologische Widersprüche oder Zielkonflikte). Bezogen auf Kompetenzkonflikte hat dies den Vorteil, dass man die verschiedenen Erscheinungsformen von Inkompatibilitäten oder widersprüchlichen Regelungskonzeptionen einheitlich beschreiben, systematisieren und unter Berücksichtigung der jeweiligen Qualität des Widerspruchs differenzierend behandeln kann. 5 Drittes Kapitel V. 6 Zu den Aufgaben der Rechtswissenschaft grundlegend Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, besonders ab S. 112 ff. Zur Einheit der Rechtsordnung Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung; aus neuerer Zeit Felix, Die Einheit der Rechtsordnung. 7 Dazu ausführlich Barthelmann, Der gestaltende Steuergesetzgeber im Konflikt mit dem Sachgesetzgeber. 8 BVerfGE 98, 83; 98, 106.
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
Lenkungsregelungen verfälschen, deren verhaltensbestimmende Wirkungen dem Regelungskonzept des Sachgesetzgebers zuwiderlaufen“9. In den folgenden Überlegungen sollen die Erscheinungsformen der Normkonflikte einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Dazu soll in einem ersten Schritt typologisiert werden, wann im Bundesstaat Normkonflikte zwischen Bundes- und Landesregelungen auftreten können. Anschließend sollen für diese Anwendungsfälle die geeigneten Lösungsinstrumentarien erarbeitet werden. Insgesamt wird es im vierten Kapitel um Kompetenzausübungsschranken gehen. Es wird zu klären sein, inwiefern Kompetenzausübungen inhaltlich beschränkt werden können, wenn sie zu Regelungen anderen kompetentiellen Ursprungs im Widerspruch stehen. 2. Typologie des bundesstaatlichen Normkonflikts Unstreitig ist, dass nicht alle „Kompetenzberührungen“ Normkonflikte auslösen. Berührt eine Regelung mehrere Kompetenzmaterien, so muss durch Auslegung und Zuordnung entschieden werden, welche Kompetenznorm schwerpunktmäßig betroffen ist. Der ausführlichen Interpretation kommt eine Konfliktvermeidungsfunktion zu; sie wahrt das Verständnis einer auf Trennung und Alternativität beruhenden Kompetenzordnung. Doppelkompetenzen, soweit sie nicht bereits im Grundgesetz angelegt sind10, sind der Kompetenzordnung fremd; die Begrifflichkeit eignet sich lediglich dazu, auf die Notwendigkeit des Normkonkretisierungskonflikts hinzudeuten. Indem der Normkonkretisierung besonderes Augenmerk geschenkt wird, stabilisiert sie die Leistungsfähigkeit der grundgesetzlichen Kompetenzordnung bei der Verhinderung titelübergreifender Normkonflikte.11 Wenn es also um Normkonflikte geht, dann geht es um solche Widersprüche, die durch kompetenzgemäß beschlossene Normen ausgelöst werden. Kompetenzgemäß ist eine Norm im hier verstandenen Sinne, wenn sich der jeweilige Gesetzgeber auf eine Gesetzgebungszuständigkeit stützen kann. a) Konkurrierende Gesetzgebung Ein erstes Feld von Normkonflikten stellt die konkurrierende Gesetzgebung dar. Die Bezeichnung „konkurrierend“ erweckt zunächst den Anschein, als ob das Grundgesetz tatsächlich von der Existenz paralleler Zuständigkeiten ausgeht, wonach sowohl Bund als auch Länder gleichberechtigt von denselben Zuständigkeiten Gebrauch machen können.12 Damit scheint das Grundgesetz „Doppelkom 9
BVerfGE 98, 106 (119). Etwa im Bereich der Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91a–91e GG). 11 Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, S. 97 ff. 12 Dazu Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen. 10
I. Einleitung: Kompetenzkonflikte als Normkonflikte
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petenzen“ doch zu kennen. Bei näherer Betrachtung erweist sich dies aber als Trugschluss. Nach Art. 72 Abs. 1 GG haben die Länder bekanntlich die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von der Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat. Das Gesetzgebungsrecht wird somit zeitlich und sachlich gestaffelt; durch die auflösende Bedingung des Art. 72 Abs. 1 GG können Wertungswidersprüche von vornherein nicht entstehen.13 Das Grundgesetz unterbindet somit das Nebeneinander von Bundes- und Landesrecht auf dem Gebiet der konkurrierenden Gesetzgebung. Es wurde in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hingewiesen, dass sich die konkurrierende Gesetzgebung in Wirklichkeit als eine „alternativ-ausschließliche“ entpuppt.14 Der Art. 72 Abs. 1 GG ist somit eine Kollisionsvermeidungsnorm.15 Ebenso ist die Abweichungsgesetzgebung vor diesem Hintergrund kein Fremdkörper, sondern lediglich als eine Ausnahmeregelung zu Art. 72 Abs. 1 GG zu verstehen, weil das Konzept der Abweichungsgesetzgebung den abschließenden Gebrauch der Bundeskompetenz aus Art. 72 Abs. 1 GG sperrt und als Rechtsfolge entsprechend dem „lex posterior“-Prinzip einen Anwendungsvorrang der späteren Vorschrift begründet.16 Widersprüchliche Regelungskonzeptionen können somit nach Art. 72 GG nicht auftreten; Normkonflikte werden stets aufgelöst. b) Normkollisionen Ein anderer Fall eines Normkonflikts ist die Normkollision. Eine Kollision ist ein Normwiderspruch, der entsteht, wenn Normen für ein und denselben Sachverhalt einander ausschließende Rechtsfolgen anordnen.17 Grundsätzlich müssen Normwidersprüche beseitigt werden, weil es undenkbar ist, dass einander ausschließende Rechtsfolgen nebeneinander eintreten. Im Bundesstaatsverhältnis übernimmt Art. 31 GG die Rolle der Kollisionsnorm. Ungeachtet des einschüchternden Wortlauts18 treten solche Normwidersprüche aber nur selten auf. In der Regel verhindert die Verteilungssystematik der Art. 70 ff. GG (inklusive des Schemas 13
Zur Bedeutung des Art. 72 I GG Wertungswidersprüche zu verhindern BVerfGE 113, 348 (371 f.). 14 März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 144; Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 314; anders Schilling, Rang und Geltung von Normen, S. 251 („alternativ-konkurrierend“). 15 März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 109. 16 Germann, in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 84, 85 GG, Rn. 36 ff.; a. A. HahnLorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 147 f., der Art. 72 III GG nicht als Modifikation der Vorrangkompetenz, sondern als eigenen Kompetenzmodus begreifen möchte. 17 Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, S. 39 f.; Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 155. Als Test für das Vorliegen eines Normwiderspruchs bietet sich folgende Frage an: Impliziert die Befolgung einer der beiden Normen – also die Setzung des in ihr als gesollt beschriebenen Akts – die Verletzung der jeweils anderen Norm, dazu Wiederin, Rechtstheorie 21 (1990), 311 (318) unter Verweis auf Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, S. 99. 18 Kasper, Der Staat 31 (1992), 136 (137); aufgegriffen von Dreier, in: ders., GG, Art. 31 Rn. 18.
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
aus Art. 72 GG19), dass Bundesrecht und Landesrecht nebeneinander Anwendung finden. Hält man zugleich das Verbot der Existenz von Doppelkompetenzen aufrecht, so wird man eine Kollision zumeist im Wege der Normkonkretisierung vermeiden.20 Art. 31 GG verbleibt mithin nur ein marginaler Raum.21 Undenkbar sind Normwidersprüche aber nicht.22 Im Bundesstaat können Regelungskumulationen auftreten.23 Gesetzliche Vorgaben, die die gleichen Sachaspekte betreffen, aber im Schwerpunkt auf unterschiedliche Kompetenztitel gestützt werden, können durchaus im Widerspruch stehen. Man denke etwa an eine Baumschutzsatzung, die das Fällen von Bäumen verbietet, während das private Nachbarrecht dem Nachbarn möglicherweise einen Anspruch auf das Beseitigen von Bäumen an der Grundstücksgrenze gibt24 oder an eine berufsrechtliche Regelung, die die Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen unter bestimmten Umständen erlaubt oder sogar gebietet, während das Strafrecht dieses für die gleiche Situation verbietet.25 Führen zwei gegenstandsgleiche (oder zumindest teilidentische26) Normen bei ihrer Anwendung zu verschiedenen Ergebnissen, so greift Art. 31 GG als allgemeine Kollisionsregelung mit rechtsvernichtender Wirkung ein.27 Art. 31 GG ist somit ausschließlich auf unvereinbare Normgehalte anwendbar.28 In spezifischer, aber hier nicht näher zu vertiefenden Art und Weise greifen zusätzlich Art. 142 GG und Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG als spezielle Kollisionsregelungen ein, um eine gewisse Homogenität des Landesrechts inklusive des Landesverfassungsrechts mit dem Grundgesetz zu erzwingen.
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Zum Verhältnis zwischen Art. 72 I GG und Art. 31 GG Jarass, NVwZ 1996, 1041 (1042 f.); März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 109 und S. 119 ff. 20 Zum Vorzug dieser Vorgehensweise gegenüber der Annahme idealkonkurrierenden Sonderrechts Drittes Kapitel II. 3. a). 21 März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 204; Bernhardt / Sacksofsky, in: BK, Art. 31 Rn. 52; vgl. auch J. Ipsen, Staatsrecht I, Rn. 723: Art. 31 verspreche „mehr, als er bei näherem Hinsehen zu halten vermag“. Zu einem wesentlich größeren Anwendungsbereich kommt man freilich, wenn man „idealkonkurrierendes Sonderrecht“ anerkennt, so vor allem Pestalozza, DÖV 1972, 181 (188). 22 Der Anwendungsbereich von Art. 31 GG umfasst darüber hinaus all jene Landesnormen, die nicht den Kompetenzbestimmungen der Art. 70 ff. GG unterliegen, also die Landesverfassung sowie Landesrecht, das der EMRK widerspricht; a. A. Bernhardt / Sacksofsky, in: BK, Art. 31 Rn. 22 ff., der die Möglichkeit einer Kollision zwischen Bundes- und Landesrecht generell bezweifelt. 23 Drittes Kapitel V. 24 Beispiel nach Jarass, VVDStRL 50 (1991), 238 (261); ders., AöR, 126 (2001), 588 (592). 25 Vgl. in diesem Zusammenhang BVerfGE 98, 265 (300 ff. und 313 ff.). 26 Dreier, in: ders., GG, Art. 31 Rn. 38; Pietzcker, in: HStR VI, § 134 Rn. 55. 27 BVerfGE 36, 342 (363). 28 Pietzcker, in: HStR VI, § 134 Rn. 56; Bernhardt / Sacksofsky, in: BK, Art. 31 Rn. 53; Dreier, in: ders., GG, Art. 31 Rn. 39.
I. Einleitung: Kompetenzkonflikte als Normkonflikte
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c) Widersprüchliche Regelungskonzeptionen Während das Grundgesetz auf die Fälle der konkurrierenden Gesetzgebung sowie auf „echte“ Normwidersprüche vorbereitet ist und durch Bereitstellung von Kollisionsregelungen löst, scheint es für das nächste Phänomen allenfalls ungeschriebene Lösungsformeln anzubieten. Sind die Rechtsfolgen zweier Normen miteinander vereinbar, so können sie gleichwohl gegenläufige Wirkungen erzeugen, wenn sich die zugrundeliegenden Wertungen widersprechen. Man spricht in diesem Fall von Wertungswidersprüchen („teleologische“ Widersprüche).29 Im Unterschied zu Normwidersprüchen, die im Hinblick auf den Normbefehl relevant sind, beziehen sich Wertungswidersprüche nicht auf die Anwendbarkeit, sondern auf die hinter der Norm stehende teleologische Bewertung. Es handelt sich hierbei um widersprüchliche Regelungskonzeptionen.30 Sie können deshalb auftreten, weil sich Regelungen zwar im Hinblick auf den objektivierten Willen des Gesetzgebers einer Kompetenznorm (im Schwerpunkt) eindeutig zuordnen lassen, sie aber zugleich (Neben-)Wirkungen zeitigen können, die in andere Zuständigkeiten ausstrahlen. Dies wurde etwa für den Konflikt zwischen dem Sachgesetzgeber und dem Steuergesetzgeber oder für Regelungen im Sachzusammenhang bereits dargestellt, letztlich ist im Bundesstaat keine Sachregelung davon verschont, durch eine divergierende Steuer- oder Sachregelung in ihrer Konzeptionierung beeinträchtigt zu werden.31 Der Grundsatz der Spezialität greift für diese Formen von Kompetenzkonflikten nicht, da er nur für gleichrangige Vorschriften zum Tragen kommt.32 3. Gang der Darstellung Die folgenden Ausführungen werden sich mit der Frage beschäftigen, wie Wertungswidersprüche im Bundesstaat verhindert und aufgelöst werden können. Während der Anwendungsbereich von Art. 31 GG weitgehend geklärt ist und an dieser Stelle nicht näher diskutiert werden muss33, scheint die Frage, wie widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat zu behandeln sind, noch nicht vollumfänglich geklärt zu sein.34 Um die Diskussion mit einigen neuen Gedanken 29
Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, S. 52; Jarass, AöR 126 (2001), 588 (592); Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 56 I., S. 451 f. Pernthaler, Kompetenzverteilung in der Krise, S. 92 spricht von „Interessenkonflikten“. 30 Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, passim. 31 Zu den möglichen Orten des Auftretens konzeptioneller Widersprüche Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, S. 57 ff. 32 Jarass, Kartellrecht und Landesrundfunkrecht, S. 36. 33 Dazu umfassend Dreier, in: ders., GG, Art. 31; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, passim; ders., in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 31; Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 271 ff. 34 Verdienstvolle Beiträge haben bisher geliefert Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat; vgl. auch zum Konflikt zwischen Steuer- und Sachgesetzgeber Barthelmann, Der gestaltende Steuergesetzgeber im Konflikt mit dem Sachgesetzgeber.
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
zu befruchten, soll in einem vorherigen Schritt ein spezifischer Anwendungsfall einer Kollisionsvermeidungsnorm betrachtet werden: Art. 72 GG. Nach Art. 72 Abs. 1 GG gilt der Vorrang der Bundesgesetzgebung vor der Landesgesetzgebung, sofern der Bund erschöpfend von seiner Gesetzgebung Gebrauch gemacht hat. Das erschöpfende Gebrauchmachen durch den Bund begründet eine Sperrwirkung für die Tätigkeit der Länder. Diese Funktionsweise erläutert das Bundesverfassungsgericht so: „Zu einem erkennbar gewordenen Willen des Bundesgesetzgebers, zusätzliche Regelungen auszuschließen, darf sich ein Landes gesetzgeber nicht in Widerspruch setzen, selbst wenn er das Bundesgesetz für unzureichend hält“.35 Art. 72 Abs. 1 GG hat somit die Funktion, Wertungswidersprüche durch eine Vorrangregel zu verhindern. Es fragt sich nun, ob einige der Wertungen nicht auch für die Behandlung sonstiger widersprüchlicher Regelungskonzeptionen im Auge behalten werden sollten. Möglicherweise geben sie einen Rahmen vor, wann überhaupt unterschiedliche föderale Regelungen die Rechtsordnung widersprüchlich machen und wie mit solchen Erscheinungsformen umzugehen ist.
II. Konfliktvermeidung im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung 1. Systematik der konkurrierenden Gesetzgebung Die konkurrierende Gesetzgebung knüpft an Art. 70 Abs. 1 GG an. Zwar weist Art. 70 Abs. 1 GG den Ländern grundsätzlich die Zuständigkeit zur Gesetzgebung zu, in der Folge relativiert aber Art. 70 Abs. 2 GG dieses Verteilungsprinzip, indem sich die Abgrenzung der Zuständigkeiten nach den Vorschriften des Grundgesetzes über die ausschließliche und konkurrierende Gesetzgebung bestimmen. Während Art. 71 GG vom ausdrücklichen Vorrang des Bundes ausgeht und die Länder nur dann im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit des Bundes tätig werden dürfen, „wenn und soweit sie hierzu in einem Bundesgesetz ausdrücklich ermächtigt werden“, drückt die konkurrierende Gesetzgebung eine grundsätzlich parallele Gesetzgebungsstruktur aus.36 Gleichwohl handelt es sich bei der konkurrierenden Gesetzgebung nur um eine „unechte“ Konkurrenz.37 Denn ein föderaler Wettbewerb findet – mit Ausnahme von Art. 72 Abs. 3 GG – nicht statt, da Art. 72 GG darauf ausgerichtet ist, Konkurrenzen an ihrer Entstehung zu hindern. Mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts werden die konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeiten „vom Grundgesetz bereits in der Weise aufeinander abge 35
BVerfGE 113, 348 (371 f.) m. w. N. Dazu Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen; Wollenschläger, in: BK, Art. 72 Rn. 146. 37 Kunig, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 72 Rn. 1; Rengeling, in: HStR VI, § 135 Rn. 152; Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 72 Rn. 11. 36
II. Konfliktvermeidung im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung
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stimmt, daß der Landesgesetzgeber grundsätzlich nur insoweit zur Gesetzgebung befugt ist, als nicht der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch gemacht hat“38. Zutreffend hat man deshalb die konkurrierende Gesetzgebung als „alternativ-ausschließliche Zuständigkeiten“ beschrieben.39 Art. 72 GG dient dem Ziel, das Nebeneinander von Bundesrecht und Landesrecht zu verhindern. So drückt sich das alternativ-ausschließliche Verhältnis von Bundes- und Landeszuständigkeit in Art. 72 Abs. 1 GG in einer Vorrangregel des Bundes aus (Kernkompetenz).40 Insbesondere entzieht der Eintritt der Sperrwirkung im Sinne des Abs. 1 den Ländern die Gesetzgebungsbefugnis. Die Sperrwirkung führt zur Derogation des entgegenstehenden Landesrechts41; es besteht ein Geltungsvorrang, kein Anwendungsvorrang.42 Im Unterschied zu Art. 31 GG vollzieht sich der Ausschluss der Ländergesetzgebung nicht erst dann, wenn eine konkrete Normenkollision nachgewiesen wird. Die Sperrwirkung bewirkt vielmehr unabhängig von einem Normwiderspruch den sachlichen und zeitlichen Ausschluss von der konkurrierenden Ermächtigung.43 Es ist ihnen somit nicht möglich, bundesgesetzliche Regelungen nur zu ergänzen, ohne ihnen sachlich zu widersprechen.44 Vor dem Hintergrund, dass der überwiegende Anteil der Gesetzgebung konkurrierenden Zuständigkeiten entstammen, hat sich Art. 72 Abs. 1 GG als ein Hauptinstrument zur Unitarisierung erwiesen.45 Auch Art. 72 Abs. 2 GG folgt dieser Vorranglogik; das Gebrauchmachen durch den Bund wird aber im Sinne der Erforderlichkeitsprüfung konditioniert und somit unter Begründungszwang gestellt.46 Entfällt die Erforderlichkeit nachträglich, kann der Bund durch ein Bundesgesetz die Möglichkeit der Ersetzbarkeit anordnen (Art. 72 Abs. 4 GG; Art. 125a Abs. 2 S. 2 GG).47 38
BVerfGE 98, 83 (97 f.). März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 144; Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 314; anders Schilling, Rang und Geltung von Normen, S. 251 („alternativ-konkurrierend“). 40 Zur terminologischen Einordnung des Art. 72 I GG als Vorranggesetzgebung Degenhart, in: Heintzen / U hle, Neuere Entwicklungen im Kompetenzrecht, S. 68 ff. 41 BVerfGE 29, 11 (17). 42 Jarass, NVwZ 1996, 1041 (1043). 43 Uhle, in: Maunz / Dürig, Art. 72 Rn. 118; Kunig, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 72 Rn. 8. 44 BVerfGE 102, 99 (115); 109, 190 (230). 45 Treffend Kunig, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 72 Rn. 2: „Wenn in der Praxis gleichwohl das Schwergewicht der Gesetzgebung im grundgesetzlich umrissenen Bundesstaat beim Bunde liegt, so rührt dies wesentlich von der Vielzahl der der konkurrierenden Gesetzgebung unterfallenden Sachbereiche her – und dem Umstand, dass der Bund die sich so ergebenden Kompetenztitel überwiegend und weit reichend in Anspruch genommen hat.“ Schon früh hat Hesse auf die unitarische Tendenz des Art. 72 GG hingewiesen, vgl. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 14 ff. 46 Zu den Anforderungen ausführlich Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann, GG, Art. 72 Rn. 45 ff. m.wn.N. Zur Entwicklung des Art. 72 II GG von einer Bedürfnisklausel zu einer justitiablen Erforderlichkeitsklausel Depenheuer, ZG 2007, 177 ff.; Rüfner, in: FS Isensee, S. 389 ff. 47 Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, das Freigabegesetz durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu ersetzen (Art. 93 II 2 GG). 39
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
Im Zuge der Föderalismusreform im Jahr 2006 wurde die Abweichungsgesetzgebung neu eingeführt.48 Der damit intendierte Effekt eines Wettbewerbsföderalismus49 führt aber ebenfalls nicht zur Existenz parallelen Rechts, da zwar nicht die Geltung, aber zumindest die Anwendbarkeit der Normen nach zeitlichen Gesichtspunkten geordnet werden.50 Im Folgenden sollen diese Vorrangkonstellationen näher untersucht werden. Es fragt sich, in welchen Fällen das bundesgesetzliche Tätigwerden eine Sperrwirkung begründet und inwiefern die Systematik der konkurrierenden Gesetzgebung imstande und gewillt ist, die Entstehung von Wertungswidersprüchen zu verhindern. 2. Rahmenbedingungen für den Vorrang des Bundes und für den Eintritt und Wegfall der Sperrwirkung nach Art. 72 Abs. 1 GG Art. 72 Abs. 1 GG begründet die Sperrwirkung der Bundesgesetzgebung im Verhältnis zur Landesgesetzgebung im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung. Nach Art. 72 Abs. 1 GG sind die Länder von ihrer Befugnis zur konkurrierenden Gesetzgebung ausgeschlossen, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch gemacht hat. War die Klausel bis zur Föderalismusreform noch strikt an den Abs. 2 der Norm gebunden und wurde nicht zuletzt deshalb der Begriff der Vorranggesetzgebung, der noch im Herrenchiemseer Konvent von 1948 erwogen wurde51, abgelehnt, so ist die Erforderlichkeitsklausel seit 2006 nur noch an zehn (allerdings nicht unwichtige) Titel gebunden. Abseits dieser Regelungen hat der Bund auf Grundlage von Art. 72 Abs. 1 GG ein uneingeschränktes Zugriffsrecht auf die Bereiche der konkurrierenden Gesetzgebung. Die Vorrang- oder Bedarfsgesetzgebung setzt voraus, dass der Bund von seiner Zuständigkeit durch Gesetz Gebrauch gemacht hat. Gegenüber der Erstfassung des Jahres 194952 wählte der verfassungsändernde Gesetzgeber im Jahre 1994 für 48
Dazu ausführlich Degenhart, DÖV 2010, 422; Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 133 ff.; Wollenschläger, in: BK, Art. 72 Rn. 419 ff. jeweils m. w. N. 49 Zu diesem Konzept Beck, Die Abweichungsgesetzgebung, S. 180 ff.; Calliess, DÖV 1997, 889 (891 f., 899); Feld, in: Blanke / Schwanengel, Zustand und Perspektiven des deutschen Bundesstaates, S. 171; siehe auch Bauer, DÖV 2002, 837 (842 ff.). 50 Zur anderen Auffassung ausführlich Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, passim. 51 Art. 32 des Herrenchiemsee-Entwurfs lautete: „Die Zuständigkeit zur Gesetzgebung im Verhältnis zwischen Bund und Ländern wird durch die Vorschriften über die ausschließliche und über die Vorranggesetzgebung geregelt. Die Gesetzgebung steht den Ländern zu, soweit sie nicht dem Bund zugesprochen ist.“ Vgl. weiterhin Art. 34 Herrenchiemsee-Entwurf: „Im Bereich der Vorranggesetzgebung behalten die Länder das Recht der Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch gemacht hat. Der Bund soll nur das regeln, was einheitlich geregelt werden muß.“ 52 Die alte Fassung lautete: „Im Bereiche der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungs rechte keinen Gebrauch macht.“
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die Art des Zugriffs die Zeitform des Perfekts und fügte darüber hinaus das Wort „Gesetz“ ein.53 Die zeitliche Sperrwirkung für die Gesetzgebung der Länder war bis zur Verfassungsreform von 1994 an das bloße „Gebrauchmachen“ des Bundes geknüpft, konnte also nach einer Ansicht schon durch die Einleitung eines Gesetzgebungsverfahrens ausgelöst werden.54 Mit der Reform war intendiert, den Zeitpunkt so zu konkretisieren, dass die Sperrwirkung erst nach Abschluss der Bundes gesetzgebung eintreten kann, also dann, wenn der Bund tatsächlich von seinem Gesetzgebungsrecht „Gebrauch gemacht hat“55, nämlich mit der Verkündung des Gesetzes.56 Nicht mehr aktuell dürfte deshalb eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sein, wonach jedenfalls die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten verbiete, „daß die Länder noch von ihrem Gesetzgebungsrecht Gebrauch machen, sobald der Bund dieselbe Materie zum Gegenstand eines Gesetzgebungsverfahrens zu machen beginnt“57. Eine derartige Vorverlagerung der Sperrwirkung würde den Tatbestand des Art. 72 Abs. 1 GG ins Leere laufen lassen.58 Entscheidender als der Beginn der Sperrwirkung scheint sein sachlicher („soweit“) und zeitlicher („solange“) Umfang zu sein. Dies verweist auf die Frage, was gewissermaßen der Schutzgehalt der Sperrwirkung ist. Die Konjunktion „soweit“ bringt zum Ausdruck, dass die Länder nur in dem Maße von der Gesetzgebung ausgeschlossen sind, wie der Bund von seiner Kompetenz Gebrauch gemacht hat. Die Länder sind also nur „soweit“ ausgeschlossen, wie der Bund auf den Gebieten der konkurrierenden Gesetzgebung berechtigterweise erschöpfend legiferiert hat.59 Der Bund kann also nicht nur bewusst „Inseln“60 für die Ländergesetzgebung aussparen61, die Länder sind auch insoweit berechtigt, modifizierende und ergänzende Regelungen auch innerhalb der bereits bundesgesetzlich geregelten Materie zu treffen, „soweit“ die Regelungen nicht in den Anwendungsbereich der 53
Gesetz v. 27. 10. 1994, BGBl. I, S. 3146. Zur früheren Rechtslage Engelhardt, JZ 1973, 691 ff.; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 149 ff.; Schilling, Rang und Geltung von Normen, S. 283 ff.; Ströfer, JZ 1979, 394 ff. 55 BT-Drs. 12/6633, S. 8. 56 BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 96; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 9; Herbst, in: Berliner Kommentar, Art. 72 Rn. 58; Kunig, in: v. Münch / Kunig, Art. 72 Rn. 9; Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 72 Rn. 44; für den Zeitpunkt des Inkrafttretens Jarass, NVwZ 1996, 1041 (1044); auf den letzten erforderlichen Gesetzesbeschluss stellt Sannwald, ZG 1994, 134 (138); ders., in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, Art. 72 Rn. 20 ab. 57 BVerfGE 34, 9 (29). 58 Andere Ansicht Schilling, Rang und Geltung von Normen, S. 285, der den Grundsatz der Bundestreue zumindest dann für anwendbar hält, wenn „vom Landesgesetzgeber geschaffene Rechtspositionen vom Bundesgesetz nicht ohne weiteres beseitigt werden können.“ 59 Uhle, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 72 Rn. 103. Vgl. zur Frage, ob ein materiell verfassungswidriges, aber noch nicht für nichtig erklärtes Gesetz Sperrwirkung entfaltet BVerfGE 98, 265 (318 ff.); krit. Rüfner, ZG 1999, 366 (372 ff.); Uhle, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 72 Rn. 81; Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, S. 155 ff. 60 Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, GG, Art. 72 Rn. 39. 61 Das BVerfG spricht insoweit von Teilsperren, vgl. BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 93 m. w. N. 54
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Sperrwirkung fallen. Darüber hinaus bringt die zeitliche Komponente („solange“) zum Ausdruck, dass die Gesetzgebungsbefugnis der Länder wieder aufleben kann, wenn sich der Bund wieder zurückzieht. Die Sperrwirkung kann demnach auch wieder entfallen. a) Das abgeschlossene Ordnungsmodell als Voraussetzung der Sperrwirkung Die sachliche und zeitliche Begrenzung bringt zum Ausdruck, dass Art. 72 Abs. 1 GG nicht den Zweck verfolgt, die Gesetzgebung der Länder allgemein zu verdrängen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts liegt eine Sperrwirkung nur vor, wenn ein Bundesgesetz eine bestimmte Frage erschöpfend regelt.62 Die Sperrwirkung setze voraus, dass der erschöpfende Gebrauch durch den Bund hinreichend erkennbar sei.63 Die bloße Wert- und Zielvorstellung führe nicht zu einer Sperrwirkung.64 Maßgeblich sei zunächst die gesetzliche Regelung selbst und der hinter ihr stehende Regelungszweck sowie die Gesetz gebungsgeschichte.65 Entscheidend sei, dass ein bestimmter Sachbereich tatsächlich umfassend und lückenlos geregelt sei oder nach dem aus Gesetzgebungsgeschichte und Materialien ablesbaren objektivierten Willen des Gesetzgebers abschließend geregelt werden sollte.66 Die abschließende Regelung bestimme sich insofern nach einer Gesamtwürdigung des betreffenden Normkomplexes.67 Eine erschöpfende Regelung könne positiv durch eine Regelung erfolgen oder negativ durch das Unterlassen68; auch durch absichtsvollen Regelungsverzicht könne eine Kompetenzmaterie erschöpft sein.69 Nach Auffassung des verfassungsändernden Gesetzgebers kommt es auf den Gesamtinhalt einer gesetzlichen Regelung des Bundes an. Nur bei entsprechenden Anhaltspunkten in der bundesgesetzlichen Regelung sei der Schluss zulässig, der Bundesgesetzgeber habe von seiner Zuständigkeit abschließenden Gebrauch gemacht.70 Im Schrifttum wird deshalb geschlussfolgert, entscheidend für den Eintritt der Sperrwirkung sei, „ob der Bundesgesetzgeber ein Sachgebiet (subjektiv) so regeln will und (objektiv) so geregelt hat, dass kein Raum mehr für eine landesrechtliche Regelung verbleibt“.71 Letztlich muss die Frage des erschöpfen 62 BVerfGE 7, 342 (347); 20, 238 (248); 49, 343 (359); 67, 299 (324); 138, 261 (280 Rn. 44); BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 91. 63 BVerfGE 98, 265 (301); 138, 261 (280 Rn. 44). 64 BVerfGE 49, 343 (359); BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 95. 65 BVerfGE 98, 265 (300); 109, 190 (230 f.); 138, 261 (280 Rn. 44); BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 92. 66 BVerfGE 102, 99 (115). 67 BVerfGE 67, 299 (324); 98, 265 (301); 102, 99 (114); 109, 190 (229); 138, 261 (280 Rn. 44). 68 BVerfGE 2, 232 (236); 32, 319 (327 f.); 98, 265 (300). 69 BVerfGE 32, 319 (327 f.); 98, 265 (300); 138, 261 (280 Rn. 43). 70 BT-Drs. 12/6633, S. 8. 71 Kunig, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 72 Rn. 9.
II. Konfliktvermeidung im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung
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den Gebrauchs durch Auslegung der Regelung und ihres Normumfelds entschieden werden. Dabei hilft es nicht weiter, bei Zweifeln über den abschließenden Gebrauch eine Sperrwirkung auszuschließen.72 Wie auch bei der Interpretation von Kompetenznormen sind Auslegungszweifel „zu beseitigen, nicht so oder so zu überbrücken“73. Richtig ist aber, dass der erschöpfende Gebrauch der Bundesregelung („strikt“) nachgewiesen werden muss und selbst nicht vermutet werden darf.74 Die Sperrwirkung setzt voraus, dass der abschließende Gebrauch durch Auslegung erkennbar ist.75 Die Frage des erschöpfenden Gebrauchs ist im Einzelfall schwierig zu bestimmen76; es bedarf hierzu einer gewissen Vorklärung der Zielrichtung des Art. 72 Abs. 1 GG. Nach dem hier vertretenen Ansatz kann das Telos der Norm als Schutz eines abgeschlossenen Ordnungsmodells verstanden werden, um widersprüchliche Regelungskonzeptionen umfassend zu verhindern. Dem entspricht es, dass das Bundesverfassungsgericht Art. 72 Abs. 1 GG in einen Zusammenhang zum Topos der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung gebracht hat: „[…] Zu einem erkennbar gewordenen Willen des Bundesgesetzgebers, zusätzliche Regelungen auszuschließen, darf sich ein Landesgesetzgeber nicht in Widerspruch setzen, selbst wenn er das Bundesgesetz für unzureichend hält […] Hat der Bund einen Sachbereich in diesem Sinne abschließend geregelt, ist die Gesetzgebung den Ländern unabhängig davon versperrt, ob die landesrechtlichen Regelungen den bundesrechtlichen Bestimmungen widerstreiten oder sie nur ergänzen. Die rechtsetzenden Organe sind verpflichtet, ihre Regelungen so aufeinander abzustimmen, dass die Rechtsordnung nicht widersprüchlich wird. Konzeptionelle Entscheidungen des Bundesgesetzgebers dürfen durch die Landesgesetz geber nicht verfälscht werden (vgl. BVerfGE 98, 265 [300 f.]).“77
In dieser Passage des Urteils zur vorbeugenden Telekommunikationsüberwachung nach dem niedersächsischen Sicherheits- und Ordnungsgesetz hat das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht, dass Art. 72 Abs. 1 GG letztlich der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung dienen soll. Anders als in den grundlegenden Entscheidungen zur kommunalen Verpackungssteuer78 sowie zum bayerischen Schwangerenhilfeergänzungsgesetz79 wird der Topos in dieser Entscheidung nicht 72
So aber Barczak, ZG 2016, 154 (176); Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 72 Rn. 27; Jarass, NVwZ 1996, 1041 (1044 f.); Rengeling, in: HStR VI, § 135 Rn. 159; Uhle, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 72 Rn. 84; ders., in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 72 Rn. 15; Wollenschläger, in: BK, Art. 72 Rn. 172. 73 Formulierung nach Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Bd. 8, Art. 70 Abs. 1 Rn. 78. 74 Herbst, in: Berliner Kommentar, Art. 72 Rn. 39; Kunig, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 72 Rn. 9; Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Bd. 8, Art. 72 Abs. 1 Rn. 94. 75 BVerfGE 138, 261 (280 Rn. 43). 76 Vgl. BVerfG-K NVwZ 2010, 247 (248) sowie BVerfG-K NJW 2015, 44 (45): „Die Frage, ob und inwieweit der Bund von seiner Zuständigkeit Gebrauch gemacht hat, kann im Einzelnen schwierig zu entscheiden sein.“ 77 BVerfGE 113, 348 (371 f.); vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 83. 78 BVerfGE 98, 106 (118 f.). 79 BVerfGE 98, 265 (301).
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
aus allgemeinen bundesstaatlichen und rechtsstaatlichen Erwägungen, sondern aus Art. 72 Abs. 1 GG als Konfliktvermeidungsnorm abgeleitet.80 Der Bezug zur Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung wird auch in einer vorangegangenen Entscheidung zum Landesabfallgesetz Nordrhein-Westfalen deutlich: „Führt der Vollzug einer landesrechtlichen Bestimmung dazu, dass die bundesrechtliche Regelung nicht mehr oder nicht mehr vollständig oder nur noch verändert angewandt und so in ihrem Regelungsziel nur modifiziert verwirklicht werden kann, so ist dies jedenfalls ein sicheres Anzeichen dafür, dass die betreffende landesrechtliche Bestimmung sich auf einem Feld bewegt, das der Bundesgesetzgeber durch eigene Vorschriften bereits besetzt hat.“81
Hieraus wird verständlich, dass Landesgesetze von der Sperrwirkung des Bundesrechts vernichtet werden, die potentielle Widersprüchlichkeiten hervorrufen können. Landesrecht, das zwar die gleiche Materie wie eine bundesgesetzliche Regelung gestaltet, aber nicht das konkret-bundesgesetzlich ausgestaltete Ordnungsmodell berührt, ist somit nicht von der Sperrwirkung erfasst. Die Wirkung des Art. 72 Abs. 1 GG tritt nur ein, „soweit“ der Bundesgesetzgeber seine Planungen konkretisiert und abgeschlossen hat. Innerhalb konkretisierter Planungen sind ergänzende Regelungen untersagt.82. So geht das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf den Kompetenztitel für das Strafrecht davon aus, dass der Erlass eines Bundesgesetzes über einen strafrechtlichen Gegenstand für sich allein noch nicht die Annahme rechtfertigt, „dass damit die Länder vollständig ausgeschlossen sind; es können noch Bereiche übrig bleiben, deren Regelung für die Gesetzgebung der Länder offen steht“.83 Deshalb dürfen die Länder Strafnormen erlassen, soweit diese nicht eine bestimmte Materie zum Gegenstand haben, die im Strafgesetzbuch abschließend geregelt und auf den Schutz desselben Rechtsguts gerichtet ist (vgl. Art. 4 Abs. 2 EGStGB).84 Der Maßstab der Sperrwirkung ist somit nicht die Gesamtheit der geregelten Materien oder gar ein „kodifikatorisches Bundesgesetz“85, sondern stets die Abgeschlossenheit eines konkretisierten Ordnungsmodells. 80
Vgl. zu einer ähnlichen Formulierung in jüngerer Zeit BVerfG-K NJW 2015, 44 (45): „Außerdem darf sich ein Landesgesetzgeber zu einem erkennbar gewordenen Willen des Bundesgesetzgebers, zusätzliche Regelungen auszuschließen, nicht in Widerspruch setzen, selbst wenn er das Bundesgesetz – gemessen an höherrangigen Grundrechtsverbürgungen – wegen des Fehlens der Regelung für unzureichend hält“. 81 BVerfGE 102, 99 (115); ähnlich auch BVerfGE 109, 190 (230). 82 Diese Auffassung lässt eine gewisse strukturelle Gemeinsamkeit zum Schutz der kommunalen Planungshoheit erahnen; auf diese kann sich die Gemeinde ebenfalls nur berufen, wenn sie eigene konkretisierte Planungen vorweisen kann, vgl. Stüer, NVwZ 2004, 814 ff. Zu diesem Gedanken bereits Kluth / Schulz, Konvergenz und regulatorische Folgen, S. 60. 83 BVerfGE 102, 99 (114 f.); 109, 190 (229 f.). 84 BVerfGE 98, 265 (312); BVerfG-K NVwZ 2010, 247 (248); BVerfG-K NJW 2015, 44 (45). 85 Uhle, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 72 Rn. 88; ders., in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 72 Rn. 17. Eine Kodifikation wird nach H. Schneider, Gesetzgebung, Rn. 432 verstanden als „eine auf Vollständigkeit angelegte Regelung eines breiten Rechtsgebiets in einem Gesetz (‚Gesetzbuch‘)“. Da es im deutschen Recht nur noch wenige Kodifikationsgesetze (StGB, BGB; StPO, ZPO) gibt und keineswegs eine Verpflichtung zur Kodifikation besteht, wird deutlich, dass der Maßstab eines kodifikatorischen Bundesgesetzes etwas zu eng ist. Anderenfalls würde nie eine Sperrwirkung eintreten. Andererseits ist er aber auch zu weit; denn selbstverständ-
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Die Bezugnahme auf den „potentiellen Widerspruch“ bedeutet, dass Art. 72 Abs. 1 GG nicht verlangt, dass ein Widerspruch zwischen Landesrecht und Bundesrecht nachgewiesen werden muss.86 Für den Ausschluss der Zuständigkeit der Länder genügt es vielmehr, dass das landesgesetzliche Tätigwerden überhaupt in den Anwendungsbereich der Sperrwirkung fällt. Art. 72 Abs. 1 GG verhindert somit schon den Anschein eines Widerspruchs durch parallele föderale Regelungen, unabhängig, ob sie sich gegenseitig widersprechen, verunklaren oder vereiteln.87 Ein Ordnungsmodell reagiert auf eine bestimmte Fragestellung und gestaltet Lebenswirklichkeiten normativ aus. In der Regel wird der Gesetzgeber hierfür ein bestimmtes Konzept verfolgen.88 Dieses kann als die Zusammenstellung der Ziele und die daraus abgeleiteten Strategien und Maßnahmen zur Umsetzung eines zu planenden Vorhabens definiert werden. Die Art und Weise, wie der Bundesgesetzgeber Ordnungsmodelle umsetzt, sind vielfältig und vor allem davon abhängig, welchen Gesetzestypus er wählt (allgemeines Gesetz, Einzelfallgesetz, Mantelgesetz, Änderungsgesetz, Maßnahmegesetz, befristetes Gesetz, experimentelles Gesetz, „Omnibusgesetz“, Grundlagengesetz, Symbolgesetz).89 Ihnen gemeinsam ist, dass ein Ordnungsmodell stets auf einen konkreten Interessen- oder Machtkonflikt antwortet. Wann eine solche Regelung als Teil eines Konzepts abschließend ist, wann der Bund also von seiner Zuständigkeit „erschöpfenden“ Gebrauch gemacht hat, lässt sich nur durch Auslegung der einzelnen Regelung feststellen. Maßgeblich ist die funktionelle Stellung der Regelung innerhalb des Konzepts. Ein mögliches Indiz dafür, dass der Bundesgesetzgeber ein Konzept verwirklicht hat, das als solches abschließend und gegenüber der Landesgesetzgebung mit Sperrwirkung versehen sein soll, ist der Kompromisscharakter einer Norm.90 Ein Kompromiss ist das lich können auch Regelungen innerhalb einer Kodifikation als nicht erschöpfend zu verstehen sein. Eine Indizwirkung für den abschließenden Gebrauch bei einer Kodifizierung nehmen an Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 72 Rn. 27; Oeter, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 72 Rn. 78 f. 86 Vgl. BVerfGE 102, 99 (115): „Hat der Bund einen Sachbereich in Wahrnehmung einer konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz in diesem Sinne abschließend geregelt, so tritt die Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 1 GG für eine Regelung der Länder im selben Sachbereich unabhängig davon ein, ob die landesrechtlichen Regelungen den bundesrechtlichen Bestimmungen widerstreiten oder sie nur ergänzen, ohne ihnen sachlich zu widersprechen (vgl. BVerfGE 20, 238 [250]).“ 87 Deshalb ist auch Landesrecht, das inhaltlich mit Bundesrecht übereinstimmt, von der Derogationswirkung des Art. 72 I GG erfasst, vgl. Jarass, NVwZ 1996, 1041 (1043). 88 Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen, S. 115. Die Bedeutung von Konzepten für das Kompetenzrecht wurde bereits bei der Begründung von Sachzusammenhängen deutlich, vgl. dazu Zweites Kapitel VI. 3. c) cc). 89 Ausführliche Darstellung bei Smeddinck, in: Kluth / K rings, Gesetzgebung, § 3 Rn. 47 ff. 90 Zur Bedeutung des Kompromisses für die Rechtssetzung G. Müller, Elemente einer Rechtssetzungslehre, Rn. 23 ff.; Mühleisen, in: Staatslexikon, Bd. 3, S. 607; vgl. auch die abweichende Meinung von Bryde, in: BVerfGE 121, 317 (380): Kompromiss als „Wesensmerkmal demokratischer Politik“. Umfassend zur Funktion des Kompromisses Koutnatzis, Kompromisshafte Verfassungsnormen, passim, insbesondere S. 63 ff.
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Ergebnis einer Konfliktschlichtung zwischen widerstreitenden Interessen.91 Versteht man die Kompromissfindung als einen wesentlichen Bestandteil moderner Politik, so hat der in dem Konzept gefundene Kompromiss jedenfalls dann einen abschließenden Charakter, wenn weitere ergänzende oder modifizierende Regelungen das Ergebnis dieser Interessenabwägung wieder zunichte machen würden.92 Ein weiteres Indiz ist die Regelungsdichte: Je konkreter und detaillierter der Bundesgesetzgeber die Sachfragen geregelt hat, desto eher wird eine Sperrwirkung anzunehmen sein.93 Nicht zuletzt kann sich die Abgeschlossenheit eines Ordnungskonzepts auch aus dem Zusammenwirken der jeweiligen Normen erklären: Je stärker die Normen ein aufeinander abgestimmtes System erkennen lassen, das die Problemlösung strukturiert und bewältigt und je weniger die Problemlösung auf die Heranziehung fremder Wertungsentscheidungen angewiesen ist, desto eher kann von einer abgeschlossenen Konzeptionierung ausgegangen werden.94 Im Umkehrschluss gilt Bundesrecht umso eher als entwicklungsoffen, wenn seiner Entstehung keine Kompromissbildung vorausgegangen ist, die einzelnen Bundesregelungen ohne systematische Geschlossenheit sowie systematischem Zusammenwirken nur für sich stehen und zur Problemlösung weitere „Fremderwägungen“ notwendig sind. Andererseits können einzelne Regelungen innerhalb eines Ordnungsmodells auch nur mit einer Minimalgarantie ausgestattet sein. Minimalgarantien legen nur einen Mindeststandard fest und sind offen für weitere Regelungen, solange diese nicht das Minimum unterwandern.95 Deshalb wird auch klar, weshalb das Bundesverfassungsgericht bloße Wert- und Zielvorstellungen nicht als abschließend betrachtet.96 Eine Homogenitätspflicht bestehe nicht, „solange und soweit der Bund nicht durch eine ausdrückliche und eindeutige Regelung eine derartige Landesgesetzgebung unterbindet“. Der Hintergrund ist, dass bloße Zielvorstellungen zwar einen prinzipienhaften und optimierenden Charakter97, aber noch keinen kompromisshaften und abschließenden Interessenausgleich auf konkrete 91
Ein typischer Kompromiss in diesem Sinne ist z. B. das Ergebnis einer Abwägung zwischen verschiedenen (grundrechtlichen) Interessen und der Versuch, diese widerstreitenden Positionen in einen praktisch konkordanten Ausgleich zu bringen. Entfaltet eine einfachgesetzliche Norm im Wege eines Konfliktschlichtungsprogramms einen Schutznormcharakter (Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen, S. 247 ff.), so ist diese Teil eines abgeschlossenen Ordnungsmodells. 92 Auf diesen den Schutz eines abgeschlossenen Interessenausgleichs abstellenden Aspekt hat auch das BVerfG bei der Entscheidung zum Berliner Mietendeckel abgestellt, vgl. BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 152 und Rn. 158. 93 Uhle, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 72 Rn. 87, 89; ähnlich auch Herbst, in: Berliner Kommentar, Art. 72 Rn. 40. Vgl. in diesem Zusammenhang BVerfGE 109, 190 (232): „umfassendes Instrumentarium“; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 150. 94 Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, S. 116. 95 So auch Barczak, ZG 2016, 154 (177). Zu einer Minimalgarantie BVerfGE 138, 261 (281 Rn. 46). 96 BVerfGE 49, 343 (359); BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 95. 97 Zu den Begriffen Prinzip und Optimierungsgebot Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 f.; grundlegend auch Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 22 ff.
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Fragestellungen aufweisen, es also am abgeschlossenen Ordnungsmodell fehlt.98 Auch reine Blankettnormen können deshalb nicht erschöpfend sein.99 Erst recht können nach dem Gesagten sogenannte Sperrgesetze, also solche Gesetze, die den Landesgesetzgeber ohne eigene inhaltliche Regelung auszuschließen versuchen, niemals die Zuständigkeit der Länder verdrängen.100 Es fehlt insoweit an einer Ordnungskonzeption, die im Sinne des Art. 72 Abs. 1 GG als schutzwürdig anzusehen ist.101 Selbst wenn der Bundesgesetzgeber weitere Regelungen ankündigt, kann dies die Sperrwirkung nicht begründen, da das Ordnungskonzept eben nur angekündigt, aber nicht „abgeschlossen“ ist.102 b) Der „absichtsvolle Regelungsverzicht“ als Teil der konzeptionellen Entscheidung Ist der Maßstab einer erschöpfenden Bundesregelung also das Vorhandensein eines abgeschlossenen Ordnungsmodells, so wird auch die Kategorie des erkennbaren, absichtsvollen Regelungsverzichts verständlich.103 Entgegen einem Missverständnis ist diese Rechtsfigur nicht schon dann einschlägig, wenn im Gesetzgebungsverfahren des Bundes eine Regelung zwar diskutiert, aber schlussendlich verworfen wurde. Gelegentlich wird die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts indes so interpretiert, wonach die notwendige Erkennbarkeit bereits dann gegeben sei, „wenn für sie belegbare entstehungsgeschichtliche Indizien aus dem 98
Zudem verdeutlichen Art. 28 I GG und Art. 142 GG, dass das Grundgesetz nur in wenigen bedeutsamen Fällen Homogenität verlangt (negative Kompetenzvorschriften), dazu März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 191. 99 Uhle, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 72 Rn. 86; Kment, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 72 Rn. 10. 100 BVerfGE 34, 9 (28); BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 94; Jarass, NVwZ 1996, 1041 (1044); Uhle, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 72 Rn. 86; Wittreck, in: Dreier, GG, Art. 72 Rn. 27; a. A. Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Bd. 8, Art. 72 Rn. 60; vgl. auch Rengeling, in: HStR VI, § 135 Rn. 156 („wenn gerade eine spätere bundesgesetzliche Regelung über diesen Gegenstand vorgesehen ist“). 101 Dazu BVerfGE 34, 9 (28): „Das ist keine Regelung der Materie durch den Bund, sondern ein Vorbehalt der künftigen Regelung durch den Bund unter gleichzeitiger Aussperrung der Länder. Vorschriften der letztgenannten Art ‚regeln‘ die der Regelung bedürftige Materie nicht selbst, sondern verhindern eine möglicherweise notwendige unverzügliche gesetzliche Regelung durch die Länder, bis der Bund selbst Zeit gefunden hat, sie seinerseits zu regeln.“ 102 Dabei überzeugt es nach heutiger Rechtslage nicht mehr, wenn in BVerfGE 34, 9 (29) steht: „Jedenfalls verbietet in Fällen wie dem vorliegenden die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten, daß die Länder noch von ihrem Gesetzgebungsrecht Gebrauch machen, sobald der Bund dieselbe Materie zum Gegenstand eines Gesetzgebungsverfahrens zu machen beginnt.“ Hierdurch würde mit dem Hebel des ungeschriebenen Grundsatzes der Bundestreue die zeitliche Wirkung der Sperrwirkung in das Gesetzgebungsverfahren vorverlagert. Dies widerspricht jedoch der Klarstellung der Verfassungsreform von 1994, wonach die Sperrwirkung erst dann aktiviert ist, sobald der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit „Gebrauch gemacht hat“, d. h. ein Gesetz verabschiedet hat, das aber noch nicht notwendig in Kraft getreten sein muss; vgl. Viertes Kapitel II. 2. 103 BVerfGE 98, 265 (300); 113, 348 (371); BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 2021 – 2 BvF 1/20, Rn. 94.
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jeweiligen Gesetzgebungsverfahren sprechen“ oder „wenn sich der parlamentarische Gesetzgeber im Gesetzgebungsverfahren mit einer Frage auseinandergesetzt, sie dann aber nicht weiter verfolgt bzw. letztlich nicht geregelt hat“.104 Dass eine derartige Ausdehnung des Art. 72 Abs. 1 GG die Striktheit der Kompetenzordnung aushöhlt und die Befugnisse der Länder innerhalb der konkurrierenden Gesetzgebung zu weit zurückdrängt, dürfte unbestritten sein.105 Diese Interpretation missversteht aber die Art und Weise, wie das Bundesverfassungsgericht die Figur des absichtsvollen Regelungsverzichts nutzt. Die Figur geht zurück auf die – in dieser Arbeit bereits kritisierte – Entscheidung des Ersten Senats zum bayerischen Schwangerenhilfeergänzungsgesetz in Bezug auf eine landesgesetzliche Einnahmequotierung.106 Es ging hierbei um eine berufsrechtliche Vorschrift, wonach die Einnahmen aus den in spezialisierten Einrichtungen vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüchen ein Viertel der aus ihrer gesamten Tätigkeit erzielten Einnahmen nicht übersteigen durften. Das Bundesverfassungsgericht hielt die Vorschrift für verfassungswidrig, weil der Bund seine konkurrierende Zuständigkeit in Verbindung mit einem Sachzusammenhang abschließend wahrgenommen habe. Der Senat ging davon aus, der Bundesgesetzgeber habe ein Konzept gewählt, das einerseits darauf ausgerichtet war, die Strafwürdigkeit des Schwangerschaftsabbruchs zu reduzieren, zugleich aber den Lebensschutz für das ungeborene Leben durch Beratungsregelungen zu sichern. Es ging somit um einen Ausgleich (Kompromiss) im Spannungsfeld zwischen dem Schutz des ungeborenen Lebens, der Selbstbestimmung der Frau sowie der Berufsfreiheit der Ärzte.107 Dieses Konzept genügte dem Bundesverfassungsgericht, einen Sachzusammenhang zwischen strafrechtlichen Regelungen und berufsrechtlichen Regelungen herzustellen. Das Konzept des Interessenausgleichs war aber auch für den Eintritt der Sperrwirkung bedeutsam: Denn während des „Ringen[s] um einen tragfähigen Kompromiss“108 im Rahmen der Neuausrichtung der rechtlichen Rahmenbedingungen des Schwangerschaftsabbruchs habe sich der Bundesgesetzgeber bewusst dagegen ausgesprochen, Spezialeinrichtungen mit dem Mittel der Einnahmequotierung zu verhindern.109 Dies macht deutlich, dass für das Bundesverfassungsgericht nicht der absichtsvolle Verzicht einer Regelung maßgeblich für die Sperrwirkung ist. Der 104
Barczak, ZG 2016, 154 (167 f.); Uhle, in: Maunz / Dürig, Art. 72 Rn. 93 jeweils unter Bezugnahme auf BVerfGE 98, 265 (313 ff.). 105 Krit. deshalb Barczak, ZG 2016, 154 (168 ff.); vgl. auch Wittreck, in: Dreier, GG, Art. 72 Rn. 28 („hochgradig offen“). 106 BVerfGE 98, 265 (300, 314 ff.). Das Urteil wurde bereits kritisch besprochen. Zu den Bedenken bzgl. der Begründung des Sachzusammenhangs Zweites Kapitel VI. 3. c) dd) (2). Aber auch schon vor der Entscheidung galt entsprechendes BVerfGE 2, 232 (236) 32, 319 (327); vgl. dazu auch Jarass, NVwZ 1996, 1041 (1044). 107 Das wird deutlich in BVerfGE 98, 265 (304): „Das Absehen von Strafe und die anderweitige Sicherstellung des gebotenen Lebensschutzes wurzeln in derselben Kompetenz und bedingen einander“ und weiter auf S. 314: „Soweit in dieses Konzept die Ärzte eingebundenen sind, hat der Bundesgesetzgeber deshalb die unerläßlichen Rahmenbedingungen selbst geregelt“. 108 BVerfGE 98, 265 (317). 109 BVerfGE 98, 265 (314 ff.). Zur Kritik Viertes Kapitel III. 4. d).
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entscheidende Gedanke ist vielmehr, dass der Bundesgesetzgeber ein Konzept gesetzlich verfasst hat, welches einen derartigen Kompromisscharakter aufweist, dass ergänzende, modifizierende oder – wie im Falle der bayerischen Einnahmequotierung – schutzverstärkende Regelungen gesperrt sein müssen, da sonst der politisch ausgehandelte Interessenausgleich selbst wieder in Frage gestellt würde. Der absichtsvolle Regelungsverzicht ist somit kein neuer Modus einer Sperrwirkung, er ist vielmehr die negative Konsequenz eines abgeschlossenen Ordnungsmodells. Der Ausgangspunkt des Bundesverfassungsgerichts ist verallgemeinerungs fähig: Hat der Bund ein Konzept zur Lösung einer politischen Frage entworfen und ein Ordnungsmodell (auch im Wege politischer Kompromissfindung) gesetzlich umgesetzt, so spricht zumindest eine Vermutung dafür, dass zur Sicherung des Konzepts ergänzende Regelungen durch die Länder gesperrt sind. Auch die Entscheidung zum niedersächsischen Sicherheits- und Ordnungs gesetz110 bestätigt die Rolle des „absichtsvollen Regelungsverzichts“ als Teil der konzeptionellen Entscheidung. Die Entscheidung betraf unter anderem eine Vorschrift, die die Überwachung der Telekommunikation bei Personen unter bestimmten Voraussetzungen, insbesondere zur Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten gestattete. Der Erste Senat ordnete diese Regelung nicht der allgemeinen Gefahren abwehr, sondern der konkurrierenden Zuständigkeit für das gerichtliche Verfahren zu.111 In der Folge erklärte das Gericht die Norm für nichtig. Der Grund lag darin, dass der Bund von seiner konkurrierenden Zuständigkeit für das gerichtliche Verfahren (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 Var. 4 GG) bereits Gebrauch gemacht hatte. Der Bundesgesetzgeber habe mit der Regelung der Telekommunikationsüberwachung in der Strafprozessordnung (vgl. §§ 110a–110i StPO) eine abschließende Regelung getroffen. Die bestehenden Vorschriften ließen insbesondere „eine konzeptionelle Entscheidung gegen zusätzliche, in das erweiterte Vorfeld einer Straftat verlagerte Maßnahmen erkennen“.112 Hierzu hat es ausgeführt: „Der Verzicht des Bundesgesetzgebers darauf, die Telekommunikationsüberwachung im Vorfeldbereich noch weiter auszudehnen, ist eine bewusste Entscheidung. Anhaltspunkte dafür, dass der Bundesgesetzgeber insofern Parallelregelungen durch die Länder und damit Überschneidungen hätte in Kauf nehmen wollen, sind nicht erkennbar. Seine Entscheidung über die zur Strafverfolgung einsetzbaren Maßnahmen und ihre tatbestandlichen Voraussetzungen müssen die Länder respektieren (vgl. BVerfGE 98, 265 [300 f.]). Der Gesetzgeber hat die tatbestandlichen Voraussetzungen der Telekommunikationsüberwachung im Interesse rechtsstaatlicher Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit und unter 110
BVerfGE 113, 348. BVerfGE 113, 348 (367 f.): „Zwar ist die präventive Telekommunikationsüberwachung nicht der ausschließlichen Kompetenz des Bundes für die Telekommunikation zuzuordnen […] und stellt die Verhütung von Straftaten eine landesrechtliche Aufgabe der Gefahrenabwehr dar. § 33a Abs. 1 Nr. 2 und 3 Nds.SOG ist aber mit den Vorschriften des Grundgesetzes zur Gesetzgebungsbefugnis insofern nicht vereinbar, als die Telekommunikationsüberwachung auch zur Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten ermöglicht wird. Dieser Sachbereich ist der konkurrierenden Gesetzgebung gem. Art. 72, Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zuzuordnen.“ 112 BVerfGE 113, 348 (372). 111
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Berücksichtigung der Vorgaben der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung möglichst genau zu regeln versucht und an den Verdacht von Straftaten oder ihrer Vorbereitung angeknüpft […] Diese gezielten Eingrenzungen könnten hinfällig werden, wenn die Länder vergleichbare Maßnahmen zur Telekommunikationsüberwachung ebenfalls mit dem Ziel der Sicherung späterer Strafverfolgung unter anderen, etwa geringeren, Voraussetzungen normieren könnten. Damit entstünde das Risiko widersprüchlicher Regelungen oder von Überschneidungen unterschiedlicher Normen.“113
Auch in dieser Entscheidung wird deutlich, dass der absichtsvolle Regelungsverzicht sich als die Kehrseite einer gefundenen und insoweit abschließend intendierten legislativen Konzeption begreifen lässt. Hat der Bundesgesetzgeber ein Ordnungsmodell entworfen, das durch abschließende Kompromisse oder durch gezielte Eingrenzungen geprägt ist, so ist den Ländern ein eigenes Tätigwerden im Anwendungsbereich des Ordnungsmodells versperrt. Ergänzende, modifizierende, verstärkende oder abschwächende Normierungen sind ihnen folglich untersagt. c) Nachträglicher Wegfall der Sperrwirkung aa) Nachträglicher Wegfall durch förmliches Gesetz Da die Sperrwirkung auch zeitlich („solange“) bedingt ist, kann sie entfallen, wenn der Bundesgesetzgeber sich von der Regelung wieder zurückzieht.114 Mit dem Wegfall des sperrenden Bundesgesetzes endet somit auch die Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 1 GG.115 Der Bundesgesetzgeber kann jederzeit entscheiden, bestimmte Teile seiner Sachregelungen für eine ergänzende Landesgesetzgebung zu öffnen. Auch bei umfassender und erschöpfender Regelung eines Gegenstandes der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz sind landesrechtliche Regelungen insoweit zulässig, als das Bundesrecht Vorbehalte zugunsten der Landesgesetzgebung enthält116, etwa indem kenntlich gemacht wird, dass landesrechtliche Vorschriften „unberührt“ bleiben oder indem die Länder zur eigenen Rechtssetzung ermächtigt werden.117 113
BVerfGE 113, 348 (373 f.). Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, GG, Art. 72 Rn. 39. 115 Uhle, in: Maunz / Dürig, Art. 72 Rn. 114. 116 BVerfGE 29, 125 (137); 109, 190 (234). 117 Jarass, NVwZ 1996, 1041 (1045). Bisweilen wird die Zulässigkeit von solchen Öffnungsklauseln bezweifelt mit dem Argument, dass dies kein Gebrauchmachen gem. Art. 72 I GG sei und dass es innerhalb der konkurrierenden Gesetzgebung keine Ermächtigungen i. S. des Art. 71 GG gibt (Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Bd. 8, Art. 72 Abs. 1 Rn. 273 ff.). Das ist nicht zutreffend. Wenn Art. 71 GG partiell eine Ländergesetzgebung zulässt, dann muss dies erst recht für die konkurrierende Gesetzgebung gelten. Vor allem liegt in der Einfügung von Öffnungsklauseln keine „Ermächtigung kraft Bundesgesetz“, sondern vielmehr die Festlegung des Bundes, wie weit seine Ordnungsmodelle reichen. Begrenzt der Bund den Anwendungsbereich seiner eigenen Regelungen oder lässt er ein landesgesetzliches Tätigwerden zu, so hat er „soweit“ (Art. 72 I GG) nicht von seiner konkurrierenden Gesetzgebung Gebrauch gemacht, so auch Wollenschläger, in: BK, Art. 72 Rn. 183. 114
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Auch später ist es dem Bund möglich, sich aus seiner erschöpfenden gesetzlichen Verantwortung (teilweise) zurückziehen. Er kann in den geregelten Sachbereich Regelungsvorbehalte aufnehmen, mit denen der Bundesgesetzgeber den Ländern einzelne Regelungsbefugnisse aus dem eigenen Zuständigkeits- und Verantwortungskreis überträgt.118 Ein nach Eintritt der Sperrwirkung nichtig gewordenes Landesgesetz lebt aber bei späterem Wegfall der Sperrwirkung nicht wieder auf; es bleibt vielmehr nichtig.119 Darüber hinaus fragt sich aber, ob der Wille einer sperrenden Bundesregelung nachträglich auch durch anderes, insbesondere durch unförmliches Verhalten entfallen kann. In der Entscheidung zur nachträglichen Sicherungsverwahrung120 ging es um landesrechtliche Regelungen, die die Möglichkeit der Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung vorsahen. Das Bundesverfassungsgericht ging davon aus, dass die Zuständigkeit für die Regelung der nachträglichen Sicherungsverwahrung in die konkurrierende Zuständigkeit für das Strafrecht fällt, der Bund aber in den §§ 61 ff. StGB bereits die Fragen der Sicherungsverwahrung abschließend geregelt hat.121 Im Vorfeld der Entscheidung scheiterten verschiedene Vorhaben am Veto des Bundesrats, die nachträgliche Sicherungsverwahrung bundesgesetzlich zu etablieren.122 In der Folge verfasste die damalige Bundesministerin für Justiz ein nichtformales Schreiben an die Länder, in der sie ihnen empfahl, in eigener Verantwortung zu prüfen, ob landesrechtliche Regelungen zur nachträg lichen Sicherungsverwahrung geschaffen werden konnten. Sie brachte hierbei konkludent zum Ausdruck, dass der Bund fortan nicht mehr von einem abschließenden Gebrauch ausgehen wollte.123 Das Bundesverfassungsgericht betonte in der Entscheidung, dass der erschöpfende Gebrauch einer Regelung nur auf Grund eines bundesgesetzlichen Regelungsvorbehaltes entfallen könne. „Denn es liefe dem rechtsstaatlichen Prinzip der Gesetzesklarheit zuwider, wenn der Bundesgesetzgeber eine abschließende Regelung nachträglich unförmlich zu einer nicht abschließenden erklären könnte.“124 Der Wille des Bundes zur erschöpfenden Regelung drücke sich unmittelbar und objektiv im Gesamtkomplex der jeweiligen Regelung aus. Deshalb sei vom Bundesgesetzgeber bei nachträglicher Willensänderung zu verlangen, dass er den geänderten Willen ebenfalls durch förmliches Gesetz zum Ausdruck bringt und 118
BVerfGE 109, 190 (234). BVerfGE 29, 11 (17); 31, 141 (144 f.); Herbst, in: Berliner Kommentar, Art. 72 Rn. 71; Uhle, in: Maunz / Dürig, Art. 72 Rn. 118. 120 BVerfGE 109, 190. 121 BVerfGE 109, 190 (211 ff.); krit. Pestalozza, JZ 2004, 605 ff., der neben der Zuordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung zum Strafrecht auch die Anwendung des Art. 72 I GG kritisiert (609). Vgl. dazu schon die Kritik zur historischen Argumentationsweise des Gerichts unter Zweites Kapitel V. 4. e) cc). 122 Vgl. BR-Drucks 854/98. 123 Der Sachverhalt wird dargestellt in BVerfGE 109, 190 (194 f.). 124 BVerfGE 109, 190 (235). 119
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
umgrenzt. Anderenfalls bliebe die Reichweite möglicher Lückenfüllung durch die Länder unklar und unverbindlich. Außerdem könne ein Mitglied der Bundesregierung ohnehin nicht für den Bundesgesetzgeber sprechen.125 bb) Wegfall durch unförmliches Verhalten: Der Beschluss zu thüringischen Ladenöffnungszeiten (BVerfGE 138, 261) Danach ist also eine förmliche bundesgesetzliche Regelung zu erwarten, wenn der Bund die Sperrwirkung aufgeben und Regelungsvorbehalte zugunsten der Länder schaffen möchte. Eine jüngere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum thüringischen Ladenöffnungsgesetz126 scheint dieser Aussage jedoch zu widersprechen.127 Die Verfassungsbeschwerde betraf eine Arbeitszeitregelung, wonach Arbeitnehmer in Verkaufsstellen an mindestens zwei Tagen in jedem Monat nicht beschäftigt werden dürfen (§ 12 Abs. 1 S. 1 ThürLadÖffG). Diese war als arbeitsrechtliche Regelung der konkurrierenden Zuständigkeit für das Arbeitsrecht zuzuordnen, die vom Bund bereits in § 17 Abs. 4 LadSchlG vergleichbar geregelt ist. Danach können Arbeitnehmer in Verkaufsstellen verlangen, in jedem Kalendermonat an einem Samstag von der Beschäftigung freigestellt zu werden. Indem § 12 Abs. 1 S. 1 ThürLadÖffG ein Beschäftigungsverbot für zwei Samstage im Monat vorsieht, § 17 Abs. 4 LadSchlG sich stattdessen mit einem Freistellungsanspruch an lediglich einem Samstag im Monat begnügt, geht die thüringische Regelung über den Schutzgehalt von § 17 Abs. 4 LadSchlG hinaus. Die Schwierigkeit der Entscheidung lag nun darin, die Föderalismusreform zutreffend in die Kompetenzproblematik einzubeziehen.128 Obgleich das Arbeitsrecht von der Föderalismusreform unberührt blieb, wurde jedenfalls das Recht des Ladenschlusses von der konkurrierenden Zuständigkeit (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) in die ausschließliche Zuständigkeit der Länder überwiesen. In der Folge hatten die Länder – bis auf Bayern – eigene Ladenöffnungsgesetze beschlossen mit der Konsequenz der Ersetzung nach Art. 125a Abs. 2 S. 2 GG. Das Bundesverfassungsgericht kam zum Ergebnis, dass die thüringische Arbeitszeitregelung verfassungsgemäß sei; insbesondere entfalte § 17 Abs. 4 LadSchlG keine Sperrwirkung (mehr).129 Zwar habe die Bundesregelung faktisch-abschließende Wirkung gehabt, als die Länder damals (also vor der Föderalismusreform) keine Regelungskompetenz für den Ladenschluss hatten. Doch lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass § 17 Abs. 4 LadSchlG nach der Verlagerung der Gesetzgebungskompetenzen für den Ladenschluss auf die Länder abschließend gelten soll. Es liege insgesamt ein „Handeln in einer umfassend veränderten legislativen 125
BVerfGE 109, 190 (235). Gesetz v. 24. 11. 2006, GVBl 2006, S. 541. 127 BVerfGE 138, 261 (279 Rn. 41 ff.). 128 Dazu bereits Drittes Kapitel IV. 2. 129 BVerfGE 138, 261 (279 Rn. 41 ff.). 126
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Situation vor“.130 Jedenfalls sei seit der Föderalismusreform nicht mehr eindeutig erkennbar, dass die alte Bundesregelung abschließenden Charakter habe. Im Übrigen hätten die Länder seit der Reform eigene Regelungen normiert, „ohne dass der Bund eigene Regelungen zur Samstagsarbeit auf den Weg gebracht hätte, aus denen ein anderweitiger Regelungswille erkennbar würde“.131 Die Urteilsbegründung erweckt somit den Anschein, als ob eine Verfassungsänderung zum sachlichen und zeitlichen Wegfall der Sperrwirkung führen könne. Aufgrund einer „umfassend veränderte[n] legislative[n] Situation“ seit der Föderalismusreform müsse der Bund seinen abschließenden Regelungswillen kenntlich machen. Dies sei nicht geschehen. Vielmehr habe auch das fachlich zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales „aus der Perspektive des Bundes in einem Rundschreiben […] ausdrücklich die Auffassung vertreten, dass die Regelung nicht abschließend sei“132. cc) Stellungnahme Diese Argumentation widerspricht deutlich der Entscheidung zur nachträg lichen Sicherungsverwahrung. Dort hieß es noch, dass es mit dem rechtsstaat lichen Prinzip der Gesetzesklarheit unvereinbar sei, wenn der Bundesgesetzgeber eine abschließende Regelung nachträglich unförmlich zu einer nicht abschließenden erklären könne. Vom Bundesgesetzgeber sei vielmehr zu verlangen, dass er den geänderten Willen zur Aufgabe der erschöpfenden Wirkung durch förmliches Gesetz zum Ausdruck bringt.133 Statt den geänderten Willen durch ein förmliches Gesetz neu zum Ausdruck zu bringen, muss der Bundesgesetzgeber nach der neuen Rechtsprechung im Falle einer „umfassend veränderten legislativen Situation“ durch förmliches Gesetz nachweisen, dass seine Regelung weiterhin Sperrwirkung erzeugt.134 Konnte in der Entscheidung zur Sicherungsverwahrung ein Mitglied der Bundesregierung gerade nicht für den Bundesgesetzgeber sprechen135, so lässt das nichtförmliche Verhalten eines Bundesministeriums nunmehr den fehlenden Sperrwillen erkennen.136 130
BVerfGE 138, 261 (281 Rn. 45). BVerfGE 138, 261 (283 Rn. 49). 132 BVerfGE 138, 261 (283 Rn. 49). 133 BVerfGE 109, 190 (234). 134 Krit. insoweit auch die abweichende Meinung des Richters Paulus, in: BVerfGE 138, 261 (292 Rn. 10). 135 BVerfGE 109, 190 (234 f.). 136 Es ist nicht ganz eindeutig, ob diese Urteilspassage für das Ergebnis der Urteilsbegründung maßgeblich war. Denn an anderer Stelle relativiert das Gericht die damalige abschließende Wirkung von § 17 IV LadSchlG. Das Bundesverfassungsgericht versteht den Freistellungsanspruch lediglich als eine Minimalgarantie; ein Anhaltspunkt, dass der Freistellungsanspruch auf genau einen Samstag begrenzt sein soll, sei der Regelung nicht zu entnehmen (BVerfGE 138, 261 [261 Rn. 46]). Die Entscheidungsbegründung verrät somit eine gewisse Unschlüssigkeit des Bundesverfassungsgerichts. Offenbar hatte es Schwierigkeiten, sich konkret festzulegen und suchte deshalb den Ausweg über zwei optionale Begründungsansätze. 131
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
Ob § 17 Abs. 4 LadSchlG ursprünglich abschließend war, muss hier nicht bewertet werden.137 Von Interesse ist vielmehr die allgemeine Frage, ob eine zumindest „faktisch-abschließende“ Regelung durch eine „umfassend veränderte legislative Situation“ überhaupt ihre Sperrwirkung verlieren kann. Dies ist nicht überzeugend.138 Bisher war die zeitliche Begrenzung der Sperrwirkung stets auf die normative Veränderung der abschließenden Regelung beschränkt (z. B. Aufhebung der Norm; Eintritt einer auflösenden Bedingung oder auflösenden Befristung; Einfügung einer Öffnungsklausel139). In dieser neuen Konstellation ging es stattdessen um eine Verfassungsänderung, die die konkurrierende Zuständigkeit für das Arbeitsrecht unangetastet ließ. Verallgemeinernd geht es also um Veränderungen, die nicht die Geltung, sondern lediglich die Wertungen der Norm betreffen. Die Kritik des Urteils betrifft vor allem zwei Aspekte. Erstens ist eine Verfassungsänderung, die den in Frage kommenden Kompetenztitel nicht erfasst, keine umfassende legislative Situation. Zweitens führt eine derart weitgehende Anerkennung eines nachträglichen Wegfalls der Sperrwirkung zu einer Vernebelung der Kompetenzsituation. Erstens war die Zuständigkeit zur Regelung des Arbeitsrechts schon vor der Föderalismusreform von 2006 der konkurrierenden Zuständigkeit zu entnehmen. Daraus folgt, dass sich hinsichtlich der Bestimmungen in § 17 Abs. 4 LadSchlG die Rechtslage nicht verändert hat. Schon vor der Föderalismusreform wären die Länder in der Lage gewesen, eigene arbeitszeitrechtliche Regelungen zu treffen, sofern eine erschöpfende bundesgesetzliche Regelung nicht vorgelegen hätte. Folglich musste sich der Bundesgesetzgeber schon vor der Reform Gedanken über eine Erschöpfung machen. Es ist deshalb abwegig, eine Zäsur („umfassend veränderte legislative Situation“) darin zu sehen, dass das für die arbeitszeitliche Regelung irrelevante Ladenschlussrecht vollständig den Ländern übertragen wurde. Die Föderalismusreform brachte hinsichtlich des Kompetenztitels „Arbeitsrecht“ gerade keine neue Situation mit sich. Selbst nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts handelt es sich bei der Arbeitszeit und der Ladenöffnung „lediglich um Materien, die aufeinander wirken, aber nicht zwingend zusammen geregelt werden 137
Für den erschöpfenden Gebrauch Paulus, in BVerfGE 138, 261 (289 Rn. 3 ff.), der überzeugend die Sperrwirkung von § 17 IV LadSchlG begründet. Weiterhin sollte berücksichtigt werden, dass sich die Minimalgarantie lediglich auf die Möglichkeit von Tarifparteien und Arbeitgeber bezog, weitergehende und zusätzliche Freistellungsansprüche zu gewähren. Ein objektives Arbeitsverbot, so wie es nun § 12 I 1 ThürLadÖffG vorsieht, war nicht erwünscht, vgl. dazu Grothaus, BT-Plenarprotokoll 15/31, S. 2406 (SPD-Fraktion). Nicht zuletzt spricht auch der Kompromisscharakter des § 17 Abs. 4 LadSchlG für einen abschließenden Gebrauch. Das Gesetz sollte „einen Ausgleich zwischen den Interessen der Geschäftsinhaber, der im Einzelhandel Beschäftigten und der Verbraucherinnen und Verbraucher schaffen“, vgl. BT-Drs. 15/196, S. 1 und 7; ferner BT-Drs. 15/591, S. 1 und 12. 138 Krit. auch Uhle, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 72 Rn. 95 Fn. 17; dem Urteil stimmen insgesamt zu Bauerschmidt, DÖV 2015, 656 ff.; Ulber, NVwZ 2015, 1026 (1028); weniger krit. auch Wollenschläger, in: BK, Art. 72 Rn. 181. 139 Ausführlich dazu Uhle, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 72 Rn. 114 ff.
II. Konfliktvermeidung im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung
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müssen“140. Die Kompetenzverlagerung des Ladenschlussrechts kann nicht auf die Anwendung der arbeitszeitlichen Regelungen im LadSchlG durchschlagen.141 Es überzeugt zweitens nicht, dass eine Verfassungsänderung, die auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts den Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht tangiert, dazu führt, dass eine ehemals abschließende Regelung aufgrund der geänderten Umstände ihren erschöpfenden Gehalt verliert.142 Die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts führt zu der kaum einleuchtenden Konsequenz, dass eine an sich klare Kompetenzverteilung immer dann gefährdet ist, wenn andere Kompetenztitel wegfallen oder geändert werden, obwohl diese zwar zum einschlägigen Kompetenztitel einen Bezug aufweisen, jedoch diesen nicht verdrängen können. Gegen diese Auslegung spricht vor allem das Gebot der strikten Interpretation der Art. 70 ff. GG, das eine möglichst eindeutige vertikale Gewaltenteilung fordert und einer Vernebelung der Kompetenzordnung entgegensteht.143 Dieses Problem sieht auch Paulus in seinem Sondervotum: „Als Konsequenz wäre dem Bundesgesetzgeber zu raten, künftig allen Gesetzen im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen eine salvatorische Klausel zur Abschließlichkeit der Regelung hinzuzufügen. Selbst eine solche Klarstellung liefe aber nach dem Senatsbeschluss Gefahr, von geänderten Umständen überholt zu werden.“144
Und weiter: Auch der Beschluss verlangt mit zahlreichen Nachweisen ‚im Sinne einer möglichst eindeutigen vertikalen Gewaltenteilung eine strikte, dem Sinn der Kompetenznorm gerecht werdende Auslegung der Art. 70 ff. GG‘ (Rn. 28). Allein: er zieht für die Abgrenzung der Kompetenzbereiche im Ladenschlussrecht keine Konsequenzen daraus. Der rechtsstaat liche Grundsatz der Gesetzesklarheit (BVerfGE 109, 190 [235]) bleibt dabei ebenso auf der Strecke wie die Klarheit der Kompetenzzuordnung im Bundesstaat.“145
140 BVerfGE 138, 261 (278 Rn. 39). Zum Verhältnis von Ladenöffnung und Arbeitsrecht Drittes Kapitel IV. 2. 141 Ulber, NVwZ 2015, 1026 (1028 f.) möchte die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts dadurch retten, indem er argumentiert, dass mit dem Wegfall des Normumfeldes der Bezugspunkt der gesetzgeberischen Wertung in § 17 IV LadSchlG entfallen sei. Doch auch diese Argumentation kann nicht überzeugen: Der Wegfall der sonstigen Normen im LadSchlG mag den Rest des Gesetzes zwar unsinnig erscheinen lassen. Dieser Umstand führt aber nicht dazu, dass die restlichen kompetenzgemäß erlassen Normen im LadSchlG rückwirkend umgedeutet werden können. Im Übrigen ging das BVerfG in der Entscheidung zu den Adventssonntagen in Berlin im Rahmen eines obiter dictum davon aus, dass entweder „bundesrechtliche Arbeitsschutzregelungen (vgl. § 13 ArbZG) greifen oder von der Fortgeltung der arbeitnehmer schützenden Bestimmung des § 17 LadSchlG auszugehen“ sei, vgl. BVerfGE 125, 39 (89). Das BVerfG geht also ersichtlich nicht davon aus, dass § 17 IV LadSchlG mit der Föderalismusreform ihre Wirkung verloren hat. 142 BVerfGE 138, 261 (293 Rn. 14) – Sondervotum Paulus, Rn. 14. 143 Zweites Kapitel II. 2. 144 BVerfGE 138, 261 (293 f. Rn. 14) – Sondervotum Paulus; dagegen aber Bauerschmidt, DÖV 2015, 656 (658); Sachs, JuS 2015, 765 (766 f.). 145 BVerfGE 138, 261 (294 Rn. 14) – Sondervotum Paulus.
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
Die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts führt insgesamt zu praktisch kaum handhabbaren Konsequenzen: Muss nunmehr der Bundesgesetzgeber infolge einer Verfassungsänderung seine Gesetze überprüfen, ob sie noch erschöpfenden Charakter haben?146 Können im Gegenzug die Länder darauf vertrauen, dass im Zweifel keine Sperrwirkung existiert? Vor allem besteht durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nunmehr die Gefahr einer konkurrierenden Rechtslage: So erscheint es denkbar, dass sich die Länder nunmehr befähigt sehen, immer dann eigene Regelungen zu treffen, wenn sie glauben, die Sperrwirkung einer Bundesnorm sei entfallen. Eine solche Verdunkelung widerspricht dem Grundsatz, dass Kompetenzen einer besonderen Festigkeit und Berechenbarkeit bedürfen.147 Denn die klare Trennung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern gewährleistet die Verantwortung und Rationalität staatlichen Handelns und ermöglicht zugleich deren Kontrolle.148 Eine strikte und klare Kompetenzverteilung stellt sicher, dass der Bürger nicht doppelt durch den Bund und durch die Länder in Anspruch genommen wird.149 Der Bürger darf darauf vertrauen, dass bundesgesetzliche Regelungen, die einen Sachgegenstand abschließend und erschöpfend regeln, auch weiterhin gelten. Dieser Vertrauensgrundsatz wäre beeinträchtigt, wenn der Bürger jederzeit damit rechnen müsste, dass die abschließende Geltung einer Bundesnorm entfällt, weil der Bundesgesetzgeber in sachlicher und zeitlicher Hinsicht von der Regelung keinen Gebrauch gemacht hat. Insbesondere wird ihm das Interpretationsrisiko zugemutet: Er müsste entscheiden, ob er sich dem Bundesrecht oder dem Landesrecht unterordnet. Dass eine solche Verdunkelung vom Grundgesetz nicht erwünscht ist, zeigt darüber hinaus die Systematik des Grundgesetzes, die auch bei Verschiebungen der Kompetenzsituation, stets von der Fortgeltung des Rechts ausgeht, bis eine Freigabe durch ein Bundesgesetz erfolgt (Art. 72 Abs. 4 GG; Art. 125 Abs. 2 S. 2 GG; Art. 93 Abs. 2 GG). Fällt etwa die Erforderlichkeit einer Bundesregelung im Sinne von Art. 72 Abs. 2 GG nachträglich weg, so dürfen die Länder gleichwohl ihre konkurrierende Zuständigkeit nicht ausüben. Sie müssen vielmehr die Freigabe der Kompetenz durch ein Bundesgesetz (Art. 72 Abs. 4 GG, 125a Abs. 2 S. 2 GG) abwarten oder ein Kompetenzfreigabeverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht (Art. 93 Abs. 2 GG) durchführen.150 Im Sinne einer klaren und strikten Kompetenzordnung ist es den Ländern also untersagt, frei darüber zu entscheiden, ob die 146
Man könnte auch folgende Frage formulieren: Muss der Bund zukünftig alle seine Gesetze mit einem Siegel zur Sperrwirkung versehen, um seine Gesetze vor dem „Handlen in einer umfassend veränderten legislativen Situation“ zu schützen? 147 Zweites Kapitel II. 1.; zum rechtsstaatlichen Klarheitsgebot umfassend Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, S. 141 ff. 148 Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 96. Dazu auch schon Erstes Kapitel III. 149 Vgl. Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 96. 150 Zum Erfordernis eines Freigabegesetzes H. A. Wolff, in: Heintzen / U hle, Neuere Entwicklungen im Kompetenzrecht, S. 268.
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Erforderlichkeit und somit die Sperrwirkung entfällt oder nicht. Da aber die Länder nicht einmal bei dem Wegfall der Bedarfskompetenz von sich aus selbstständige Regelungen treffen dürfen, so muss dies erst recht für die Kernkompetenz gelten. Denn im Rahmen der Kernkompetenzen sind noch weniger Gründe denkbar, die Kompetenzen der Länder zu Lasten der Rechtsklarheit zu stärken. Folglich wird man auch im Rahmen des Art. 72 Abs. 1 GG ein Bundesgesetz fordern müssen, das den Wegfall der Sperrwirkung kenntlich macht. Ferner überzeugt es nicht, wenn das Bundesverfassungsgericht die Auffassung eines Bundesministeriums mit der Auffassung des Bundes gleichsetzt.151 Dies liefe auf eine Deaktivierung des Bundesgesetzgebers hinaus. Die Gründe, die dagegen sprechen, wurden bereits unter dem Aspekt „Berücksichtigung der Staatspraxis“ erörtert. Die Argumente gelten entsprechend.152 dd) Ergebnis Insgesamt kann die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht überzeugen. Hat der Bund zu einem späteren Zeitpunkt keinen Sperrwillen, so muss er durch ein förmliches Bundesgesetz zum Ausdruck bringen, dass seine Regelungen nicht mehr abschließend sind. Weder genügt ein konkludentes, unförmliches Verhalten153, noch hebt sich die Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 1 GG ex post durch eine Veränderung des Normumfelds („umfassend veränderte legislative Situation“) auf. d) Zusammenfassung Nach Art. 72 Abs. 1 GG ist Landesrecht ausgeschlossen, solange und soweit der Bundesgesetzgeber eine bestimmte Frage erschöpfend geregelt hat. Hinter der Norm steht der Gedanke des Schutzes eines abgeschlossenen Ordnungsmodells. Innerhalb abgeschlossener Ordnungsmodelle ist ergänzendes Landesrecht gesperrt. Damit verhindert Art. 72 Abs. 1 GG umfassend das Auftreten widersprüchlicher Regelungskonzeptionen. Ein entscheidendes Indiz für ein abgeschlossenes Ordnungsmodell ist der Kompromisscharakter einer Regelung innerhalb eines Konzepts. Ein Kompromiss lässt jedenfalls dann den abschließenden Charakter erkennen, wenn weitere ergänzende oder modifizierende Regelungen das Ergebnis der Interessenabwägung vereiteln würden. Damit kann auch der absichtsvolle Regelungsverzicht Sperrwirkung ent 151 BVerfGE 138, 261 (283 Rn. 49): „Auch das fachlich zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat aus der Perspektive des Bundes in einem Rundschreiben vom 14. Juli 2006 und darauf verweisend nochmals am 22. Februar 2012 ausdrücklich die Auffassung vertreten, dass die Regelung nicht abschließend sei“. 152 Zweites Kapitel VI. 2. 153 So noch BVerfGE 109, 190 (234 f.).
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
falten. Hat der Bundesgesetzgeber ein Ordnungsmodell entworfen, das durch abschließende Kompromisse oder durch gezielte Eingrenzungen geprägt ist, so ist den Ländern ein eigenes Tätigwerden im Anwendungsbereich des Ordnungsmodells versperrt. Ergänzende, modifizierende, verstärkende oder abschwächende Normierungen sind ihnen untersagt. Will der Bund die sperrende Wirkung seiner Bundesgesetze aufheben oder Regelungsvorbehalte zugunsten der Länder schaffen, muss er den fehlenden Sperrwillen durch eine förmliche bundesgesetzliche Regelung kenntlich machen. Weder genügt ein konkludentes, unförmliches Verhalten, noch hebt sich die Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 1 GG durch eine anderweitige Veränderung des Normumfeldes auf. 3. Parallele Kompetenzen im Bereich der Abweichungsgesetzgebung Wird durch Art. 72 Abs. 1 GG ergänzendes und modifizierendes Recht ausgeschlossen, so wird dies durch die im Zuge der Föderalismusreform im Jahr 2006 neu eingefügte Abweichungsgesetzgebung in Art. 72 Abs. 3 GG und Art. 84 Abs. 1 GG geradezu gefördert. Die Abweichungsgesetzgebung ist vor allem eine Reaktion auf die verschärfte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 72 Abs. 2 GG seit der Altenpflege-Entscheidung.154 Die Materien, die in der Abweichungsgesetzgebung aufgelistet sind (Art. 74 Abs. 1 Nr. 28–33 GG), gehen zum großen Teil auf die mittlerweile aufgehobene Rahmengesetzgebung (Art. 75 GG) zurück.155 Diese konnte der Bund nur unter den Voraussetzungen des Art. 72 GG wahrnehmen, so dass der Erlass von Rahmenrecht nur nach Maßgabe der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts neu entdeckten und nunmehr justitiablen156 Erforderlichkeitsklausel möglich war. Das Modell der Abweichungsgesetzgebung ist insgesamt ein Kompromissergebnis157, das sich zwischen dem Vorschlag, einige der Materien der früheren Rahmengesetzgebung in eine Vorrangregel der Länder zu unterstellen158 und dem Vorschlag, die Zugriffsrechte der Länder auf einfachgesetzliche Freigabeklauseln zu beschränken159, einpendelt. Herausgekommen ist ein neuer Typus, der so auf keine Normvorläufer in der Verfassungsgeschichte zurückblicken kann.160 Hat der Bund von der konkur 154
BVerfGE 106, 62 (135 ff.). P. M. Huber, in: Kluth / K rings, Gesetzgebung, § 29 Rn. 3 ff. 156 So der Titel einer Urteilsanmerkung zur Altenpflegeentscheidung von Kenntner, NVwZ 2003, 821; vgl. auch ders., Justitiabler Föderalismus, passim. Zur Entwicklung der Erforderlichkeitsklausel Depenheuer, ZG 2007, 177 ff. 157 Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 145; Meyer, Die Föderalismusreform 2006, S. 164. 158 Dietsche / Hinterseh, JbFöd 2005, 185 (200). 159 Steenblock, PAU-1/0018 v. 28. 9. 2004 160 Degenhart, NVwZ 2006, 1208 (1212); J. Ipsen, NJW 2006, 2801 (2803); Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 133 ff.; Uhle, in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 72 Rn. 47. Eine Form der Abweichungsgesetzgebung wurde bereits im Rahmen eines Sonder votums der Enquete-Kommission Verfassungsreform im Jahre 1977 erwogen. Dieser wurde 155
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rierenden Gesetzgebung durch Gesetz Gebrauch gemacht, so können die Länder abweichende Regelungen treffen, die aber wiederum vom Bundesrecht überwölbt werden können. Im Verhältnis zwischen Bundesrecht und Landesrecht gilt nach Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG und Art. 84 Abs. 1 S. 4 GG der lex-posterior-Grundsatz in Form eines Anwendungsvorrangs („geht vor“).161 Bund und Länder sind also auf der Ebene des Art. 72 Abs. 3 GG gleichermaßen (parallel162) zur Gesetzgebung berechtigt. Damit geht die Abweichungsgesetzgebung über die Rahmengesetzgebung hinaus: War die Bundesgesetzgebung auf dem Gebiet der Rahmengesetzgebung nach alter Rechtslage lediglich auf die Festlegung von Richtlinien163 unter der Voraussetzung des Art. 72 Abs. 2 GG beschränkt und durften sie nach dem Absatz 2 des Art. 75 GG „nur in Ausnahmefällen in Einzelheiten gehende oder unmittelbar geltende Regelungen enthalten“, so kann der Bund nunmehr im Bereich der Abweichungsgesetzgebung seine Befugnisse unbeschränkt nutzen.164 Im Gegenzug für die Erweiterung der Befugnisse können die Länder (mit Ausnahme der abweichungsfesten Kerne und Sektoren) abweichende Regelungen treffen. Doch ist die Abweichungsgesetzgebung seit ihrer Einführung umstritten. Befürchtet wird, dass entgegen dem Grundanliegen der Föderalismusreform, für eine Entflechtung zwischen Bundes- und Landeszuständigkeiten zu sorgen, es „eher zu einer weiteren Verschränkung als zu einer Entflechtung der Gesetzgebungsbefugnisse“ kommt und dass die Abweichungsgesetzgebung insgesamt mehr Probleme aufwirft als sie Probleme löst.165 Die Abweichungsgesetzgebung wird als von Heinsen, BT-Drs. 7/5924, S. 137 f. erarbeitet und hatte als Art. 72a GG folgenden Wortlaut: „(1) Abweichend von Artikel 72 Abs. 1 können die Länder im Bereiche der konkurrierenden Gesetzgebung eine bundesgesetzliche Regelung durch Landesgesetz ersetzen oder ergänzen, wenn nicht der Bundestag innerhalb von drei Monaten nach Zuleitung Einspruch erhebt. (2) Landesgesetze nach Absatz 1 werden dem Bundestag und der Bundesregierung durch den Präsidenten der Volksvertretung des Landes zugeleitet. Dabei sind die Vorschriften des Bundesrechts, von denen abgewichen wird oder die ergänzt werden, ausdrücklich zu nennen. Das Landes gesetz wird frühestens zwei Wochen nach Ablauf der in Absatz 1 genannten Frist wirksam.“ 161 BT-Drs. 16/813, S. 11. 162 Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, passim. 163 So die Umschreibung von Pestalozza, in: v. Mangoldt / K lein / Pestalozza, GG, Art. 75 Abs. 1 S. 1 Rn. 71. 164 Wollenschläger, in: BK, Art. 72 Rn. 430 spricht von einer „Vollkompetenz des Bundes“. 165 So Degenhart, DÖV 2010, 422 (423). Ähnliche Einschätzung auch bei Meyer, Die Föderalismusreform, S. 165: „Es ist freilich nicht zu erwarten, dass dieser Gesetzgebungstypus Zukunft haben wird, auch wenn man seine im Folgenden zu erörternden Schwierigkeiten außer Acht lässt. Er wird freilich Zukunft haben, wenn von dem Abweichungsrecht in der Regel kein Gebrauch gemacht wird. Dann aber mutierte diese Art von Bundesgesetzgebung zu einer zwischen Bund und Ländern vorweg abgestimmten Gesetzgebung und damit zu einer neuen Form der Politikverflechtung, die man mit der Reform eigentlich bekämpfen wollte.“ Kritische Einschätzungen auch bei Breuer, NuR 2006, 614 (617); Fischer-Hüftle, NuR 2007, 78 (85); Nierhaus / Rademacher, LKV 2006, 385 (389); Reinhardt, AöR 135 (2010), 459 (461); Schmidt-Jortzig, in: Härtel, Handbuch Föderalismus, Bd. 1, § 20 Rn. 4, 28 ff.; Schulze-Fielitz, NVwZ 2007, 249 (253); Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 72 Rn. 53; Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, S. 166 f.
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tückisch166 eingeschätzt, mitunter ist sogar vom „Kompetenz-Debakel“167 die Rede. Es finden sich aber auch Stimmen, die die Einführung des Abweichungsmodells begrüßen.168 Nach Schneider ist die Einführung der Abweichungsgesetzgebung sogar ein „Beispiel einer gelungenen Verständigung zwischen Bund und Ländern auf gleicher Augenhöhe im besten föderalistischen Sinne“.169 Im Folgenden sollen die Probleme, die die Abweichungsgesetzgebung aufwirft, nicht im Ganzen kommentiert werden.170 Im Zentrum der Ausführungen wird die Frage stehen, wie das Modell die Entstehung von Normkonflikten begünstigt und ihre Problembewältigung strukturiert. Dafür soll in einem ersten Schritt die Wirkungsweise der Abweichungsgesetzgebung näher betrachtet werden. a) Einordnung der Abweichungsgesetzgebung als Sperre für den abschließenden Gebrauch der Bundeskompetenz Mit der Abweichungsgesetzgebung soll den Ländern die Möglichkeit gegeben werden, „in den genannten Bereichen abweichend von der Regelung des Bundes eigene Konzeptionen zu verwirklichen und auf ihre unterschiedlichen strukturellen Voraussetzungen und Bedingungen zu reagieren.“171. Bundesrecht auf dem Gebiet des Art. 72 Abs. 3 GG kann Landesrecht nicht verdrängen, das jeweils später beschlossene Recht soll vielmehr entsprechend dem lex-posterior-Grundsatz und im Sinne eines Anwendungsvorrangs vorgehen. Damit scheint Landesrecht erstmals rangmäßig auf der gleichen Ebene zu stehen wie Bundesrecht.172 Die meisten Versuche, die Abweichungsgesetzgebung dogmatisch einzuordnen, sehen deshalb in ihr einen Typus zur Durchbrechung des Vorrangs des Bundesrechts nach Art. 31 GG.173 166
Schmitz / Jornitz, DVBl 2013, 741. Hoppe, DVBl 2007, 144. 168 Franzius, NVwZ 2008, S. 492 (499); Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 133 ff.; Michael, JZ 2006, 884 (887 f.); Oeter, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 72 Abs. 3 Rn. 126; weniger krit. auch Wollenschläger, in: BK, Art. 72 Rn. 493 ff. 169 H. P. Schneider, Der neue Bundesstaat, S. 744. 170 Umfangreiche Darstellungen etwa bei Chandna, Das Abweichungsrecht der Länder, passim; Degenhart, DÖV 2010, 422 ff.; Franzius, NVwZ 2008, 492 ff.; Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 133 ff.; Krapp, Die Abweichungskompetenzen der Länder, S. 151 ff.; Petschulat, Die Regelungskompetenzen, der Länder, passim; Sannwald, in: SchmidtBleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, Art. 72 Rn. 97 ff.; v. Stackelberg, Die Abweichungsgesetzgebung, passim; Uhle, in Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 72 Rn. 43 ff.; Wollenschläger, in: BK, Art. 72 Rn. 419 ff. 171 BT-Drs. 16/813, S. 11. 172 Hanschel, Konfliktlösung im Bundesstaat, S. 73. 173 Krapp, Die Abweichungskompetenzen, S. 328; Meyer, Die Föderalismusreform, S. 166; Nierhaus / Rademacher, LKV 2006, 385 (389); Pietzcker, in: HStR VI, § 134 Rn. 43; Schnapauff, in: Hömig / Wolf, GG, Art. 72 Rn. 4; Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 72 Rn. 46; Trute, in: Starck, Föderalismusreform, Rn. 160; Wollenschläger, in: BK, Art. 72 Rn. 486 ff.; ähnlich auch Hanschel, Konfliktlösung im Bundesstaat, S. 73; Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu / 167
II. Konfliktvermeidung im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung
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Doch ist diese Lesart wirklich zwingend? Nach überwiegender Auffassung ist die Regel „Bundesrecht bricht Landesrecht“ nur aktiviert, wenn zwischen kompetenzgemäß erlassenem Bundes- und Landesrecht ein Normwiderspruch besteht. Die „Kollisionsnorm hinweggedacht, müssen beide Normen auf einen Sachverhalt anwendbar sein und bei ihrer Anwendung zu verschiedenen Ergebnissen führen können“174. Der Anwendungsbereich des Art. 31 GG ist nur einschlägig, wenn unvereinbare Normgehalte kompetenzgemäß erlassenen Bundes- und Landesrechts vorliegen.175 Im Bereich der Abweichungsgesetzgebung entfaltet die Derogationskraft des Art. 31 GG keine Wirkung, es wird vielmehr durch den lex-posterior-Grundsatz in Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG eine temporale Kollisionsnorm geschaffen.176 Konflikte werden mithilfe des Instruments der Suspension, nicht der Derogation gelöst.177 Bei aller Betonung des Spezialitätsverhältnisses zu Art. 31 GG178 sollte aber eine weitere Norm nicht aus dem Blick geraten: Art. 72 Abs. 1 GG. Die Norm entfaltet Sperrwirkung und somit derogatorische Kraft179, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit durch Gesetz Gebrauch gemacht hat. Wie bereits gezeigt, sind im Anwendungsbereich der Sperrwirkung weitere Landesregelungen ausgeschlossen, unabhängig davon, „ob die landesrechtlichen Regelungen den bundesrechtlichen Bestimmungen widerstreiten oder sie nur ergänzen.“180 Art. 72 Abs. 1 GG ist nicht nur auf Normkollisionen anwendbar, sondern schließt schon den Anschein potentieller Normwidersprüche aus.181 Voraussetzung ist, dass der Bund erschöpfende Regelungen getroffen hat, die abschließende Wirkung haben. Der Wortlaut des Art. 72 Abs. 3 GG („Hat der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch gemacht“) greift diesen Umstand auf und erlaubt den Ländern, trotz einer vorhandenen bundesrechtlichen Regelung abweichendes Landesrecht zu treffen.182 Mit Germann lässt sich die Abweichungsgesetzgebung Hofmann / Henneke, GG, Art. 84 Rn. 7; P. M. Huber, in: Kluth / K rings, Gesetzgebung, § 29 Rn. 31; vgl. auch BT-Drs. 16/813, S. 11: „Satz 3 ist zum einen Ausnahme vom Grundsatz des Artikels 31 (Bundesrecht bricht Landesrecht) und passt zum anderen den Grundsatz ‚lex posterior derogat legi priori‘ dem hier gewollten Anwendungsvorrang im Verhältnis zwischen Bundes- und Landesrecht an.“ 174 BVerfGE 36, 342 (363); ähnlich auch BVerfGE 96, 345 (364); 121, 317 (348 f. Rn. 99); vgl. auch Dreier, in: ders., GG, Art. 31 Rn. 36. 175 Dreier, in: ders., GG, Art. 31 Rn. 39. 176 Krapp, Die Abweichungskompetenzen, S. 287. 177 Zur Dogmatik der Begriffe Derogation und Suspension Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 51 ff. 178 Dreier, in: ders., GG, Art. 31 Rn. 26; Krapp, Die Abweichungskompetenzen, S. 324 ff.; krit. zum Spezialitätsverhältnis Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 157 f. 179 Derogatorische Kraft ist die Fähigkeit einer Norm, eine andere Norm aus der Rechtsordnung zu eliminieren. Die Fähigkeit muss durch eine Derogationsnorm zugewiesen sein, vgl. Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 52 f. 180 BVerfGE 113, 348 (371). 181 Viertes Kapitel II. 2. a). 182 Auf diesen Zusammenhang weist zutreffend Reinhardt, AöR 135 (2010), 459 (471) hin. Uhle, in: Maunz / Dürig, Art. 72 Rn. 268 spricht daher von einer „Responsivkompetenz“.
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
somit als eine Sperre für den abschließenden Gebrauch einer Bundeskompetenz verstehen.183 Im Bereich der Titel der Abweichungsgesetzgebung (ausgenommen der abweichungsfesten Kerne und Sektoren) ist es dem Bundesgesetzgeber unmöglich, seine Regelungen mit abschließender Sperrwirkung zu versehen. Dadurch bleibt Raum für abweichendes Landesrecht. Für diese die Vorranggesetzgebung modifizierende Wirkung spricht darüber hinaus, dass der Bund auch im Rahmen des Art. 72 Abs. 1 GG auf Grundlage des Tatbestandsmerkmales „soweit“ in der Lage ist, Regelungsspielräume der Länder offen zu halten und ihnen ergänzendes, modifizierendes und abweichendes Tätigwerden zu ermöglichen. Der Maßstab ist – dies wurde bereits verdeutlicht – die Abgeschlossenheit des Ordnungskonzepts. Dort, wo der Bund seine Konzepte nicht abschließend verstehen möchte, haben die Länder weiterhin Spielraum, selbstständig tätig zu werden. Das Modell der Abweichungsgesetzgebung greift diesen Gedanken auf: Die Abweichungskompetenz ist die verfassungsrechtliche Feststellung, dass bundesgesetzliche Konzepte auf dem Gebiet des Art. 72 Abs. 3 GG mit Ausnahme der abweichungsfesten Sektoren und Kerne nicht als abgeschlossen gelten und somit die Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 1 GG nicht eintritt.184 Der neu eingefügte Typus der konkurrierenden Gesetzgebung ermöglicht folglich das, was die Vorrangwirkung des Bundes auf der Ebene des Art. 72 Abs. 1 GG eigentlich verhindern möchte: Nämlich, dass sich der Landesgesetzgeber auch zu einem erkennbar gewordenen Willen des Bundesgesetzgebers, zusätzliche Regelungen auszuschließen, in Widerspruch setzen kann, wenn er das Bundesgesetz für unzureichend hält. Der Landesgesetzgeber ist auf Grundlage der Abweichungsgesetzgebung befugt, konzeptionelle Entscheidungen des Bundesgesetzgebers zu verfälschen und zu durchbrechen.185 Dies ist das eigentlich Revolutionäre der Abweichungsgesetzgebung. Sie ermöglicht die Entstehung sich widersprechender Regelungskonzeptionen als Ausdruck eines Wettbewerbsföderalismus.186 Zugleich werden die damit einhergehenden Normkonflikte relativiert durch den Anwendungsvorrang des jüngeren Rechts, durch die Festlegung abweichungsfester Sektoren sowie durch die Möglichkeit, innerhalb einer gewissen Karenzzeit durch Bundesrecht wiederum Bundeseinheitlichkeit zu schaffen. Nicht zuletzt scheint der verfassungsändernde Gesetzgeber auf die politische Besonnenheit der Gesetz 183
Germann, in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 84, 85 Rn. 37; ähnlich auch Meyer, Die Föderalismusreform, S. 167; a. A. Trute, in: Starck, Föderalismusreform, Rn. 156 („eigener Kompetenztyp“); ebenso Chandna, Das Abweichungsrecht der Länder, S. 52; vgl. auch HahnLorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 147 f., der die Abweichungsgesetzgebung als ein eigener Kompetenzmodus versteht und zwischen Art. 72 I GG und Art. 72 III GG keinen Zusammenhang sieht. 184 Germann, in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 84, 85 Rn. 37. Vgl. auch Krapp, Die Abweichungskompetenzen, S. 169. 185 Vgl. zur Funktion des Art. 72 I GG BVerfGE 113, 348 (371 f.) sowie Viertes Kapitel II. 2. a). 186 Zu dieser Entwicklung Franzius, NVwZ 2008, 492 (499); vgl. auch Bauer, DÖV 2002, 837 ff.
II. Konfliktvermeidung im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung
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geber zu vertrauen, dass sie ihre politischen Vorstellungen nicht in einem „PingPong-Spiel“ durchsetzen.187 b) Tatbestand der Abweichung aa) Allgemeines Eine Abweichung im Sinne des Art. 72 Abs. 3 GG bedeutet zunächst, dass das Land ein formelles Gesetz beschließt, das andere Rechtsfolgen setzt als die entsprechende Bundesvorschrift.188 Aus der dogmatischen Erkenntnis, dass erschöpfende Bundesregelungen auf dem Gebiet der Abweichungsgesetzgebung keine Sperrwirkung entfalten und die Länder zu abweichenden Regelungen befugt sind, folgt in materieller Hinsicht ein grundsätzlich unbegrenztes Abweichungsrecht der Länder auf diesen Gebieten.189 Dies rührt nicht zuletzt aus der Existenz abweichungsfester Sektoren. Indem der verfassungsändernde Gesetzgeber einige Teilmaterien ausdrücklich von der parallelen Gesetzgebungshierarchie herausgenommen und diese der Vorranggesetzgebung aus Art. 72 Abs. 1 GG unterstellt hat, folgt im Umkehrschluss, dass abseits der Bereichsausnahmen abweichendes Tätigwerden zulässig sein soll.190 Nicht eindeutig geregelt hat der Gesetzgeber aber Intensität und Reichweite eines zulässigen Abweichens. Umstritten ist insbesondere die Frage, welche Qualität die landesgesetzlichen Regelungen haben müssen, um zulässig als „Abweichung“ zu gelten. Art. 72 Abs. 3 GG spricht nur von „abweichenden Regelungen“ und grenzt diesen Begriff von der „Ersetzung“ ab (vgl. etwa Art. 72 Abs. 4, 125a GG).191 Damit wird klargestellt, dass die Abweichung nur einen Anwendungsvorrang begründen, nicht aber das Bundesrecht derogieren kann. Bundesrecht bleibt vielmehr auch nach erfolgter Abweichung bestehen und gelangt lediglich im Anwendungsbereich des betreffenden Landesstaatsgebiets und im Falle des Widerspruchs zum Landesrecht nicht zur Anwendung.192
187 Dazu BT-Drs. 16/813, S. 11: „Ob von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wird oder ob die bundesgesetzliche Regelung ohne Abweichung gelten soll, unterliegt der verantwortlichen politischen Entscheidung des jeweiligen Landesgesetzgebers.“ 188 Reinhardt, AöR 135 (2010), 459 (484). 189 Uhle, in: Maunz / Dürig, Art. 72 Rn. 269 spricht von einem weitreichendem Legislativermessen. 190 Degenhart, NVwZ 2006, 1209 (1213); Uhle, in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 72 Rn. 51. 191 Zum Begriff der Ersetzung H. A. Wolff, in: Heintzen / U hle, Neuere Entwicklungen im Kompetenzrecht, S. 266 ff. 192 Zu den Voraussetzungen des Anwendungsvorrangs Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 188 ff.
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
bb) Anforderungen an den Gebrauch im Sinne von Art. 72 Abs. 3 GG: Zum Anwendungsbereich der Abweichungskompetenz Das Wort „abweichen“ deutet ferner darauf hin, dass Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG eine bestehende Bundesregelung voraussetzt, von der abgewichen werden soll. Die Abweichung setzt nach dem Wortlaut des Art. 72 Abs. 3 GG voraus, dass „der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch gemacht hat.“ Damit verweist die Formulierung auf Art. 72 Abs. 1 GG. Die identische Übernahme des Wortes „Gebrauch“ verdeutlicht die systematische Einbettung der Abweichungsgesetzgebung in das Regelungsgeflecht der konkurrierenden Gesetzgebung. Die Zuständigkeit zur Abweichungsgesetzgebung ist nicht etwa ein eigenständiger Kompetenzmodus193, es ergänzt und konkretisiert vielmehr die Vorrangwirkung des Bundes mit der Folge, dass seine abschließenden Regelungen nicht die Landeszuständigkeit verdrängen, sondern vielmehr die Befugnis zur Abweichung in Gang setzen. Die Möglichkeit der Abweichungsgesetzgebung ist aus diesem Grund eröffnet, solange und soweit der Bund abschließende und erschöpfende Bundesregelungen getroffen hat. (1) Zeitpunkt des Gebrauchs („solange“) Nach Art. 72 Abs. 1 GG hat der Bund von seiner Zuständigkeit in zeitlicher Hinsicht Gebrauch gemacht, wenn das Gesetz verkündet ist.194 Der beinahe parallele Wortlaut des Art. 72 Abs. 3 GG lässt vermuten, dass dieser Zeitpunkt auch für die Abweichungsgesetzgebung zu gelten hat.195 Dafür spricht insbesondere auch die Wertung des Art. 72 Abs. 3 S. 2 GG. Danach treten Bundesgesetze im Bereich der Abweichungsgesetzgebung frühestens sechs Monate nach ihrer Verkündung in Kraft, soweit nicht mit Zustimmung des Bundesrates anderes bestimmt ist. Gemäß der Gesetzesbegründung dient die Festlegung dieser Karenzzeit dem Zweck, „den Ländern Gelegenheit zu geben, durch gesetzgeberische Entscheidung festzulegen, ob und in welchem Umfang sie von Bundesrecht abweichendes Landesrecht beibehalten oder erlassen wollen. Durch die Sechs-Monats-Frist sollen kurzfristig wechselnde Rechtsbefehle an den Bürger vermieden werden.“196 Ordnet der Bundesgesetzgeber das Recht neu, so soll der Landesgesetzgeber nicht darauf verwie 193
So aber Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 147. Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 72 Rn. 35; Germann, in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 84, 85 GG Rn. 50; Kunig, in: v. Münch / Kunig, Art. 72 Rn. 9; Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 72 Rn. 44; für den Zeitpunkt des Inkrafttretens Jarass, NVwZ 1996, 1041 (1044); Petschulat, NuR 2015, 241 (243); auf den letzten erforderlichen Gesetzesbeschluss stellt Sannwald, ZG 1994, 134 (138); ders., in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, Art. 72 Rn. 20 ab. 195 Degenhart, DÖV 2010, 422 (427 f.); Herbst, in: Berliner Kommentar, Art. 72 Rn. 129; Wollenschläger, in: BK, Art. 72 Rn. 452. 196 BT-Drs. 16/813, S. 11. 194
II. Konfliktvermeidung im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung
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sen sein, das Inkrafttreten des Bundesgesetzes abwarten zu müssen, um erst dann darauf zu reagieren. Er kann vielmehr dem Bundesgesetzgeber „zuvorkommen“ und von vornherein sein abweichendes Recht gegenüber dem Bundesgesetzgeber behaupten. Dies spricht dafür, auch im Rahmen des Art. 72 Abs. 3 GG die Verkündung des Bundesgesetzes als „Gebrauchmachen“ anzunehmen. Ein späterer Zeitpunkt liefe dem Zweck der Karenzzeit zuwider.197 (2) Umfang des Gebrauchs („soweit“) Außerdem muss der Bund in sachlicher Hinsicht von seiner Zuständigkeit Gebrauch gemacht haben. Dafür ist erforderlich, dass der Bundesgesetzgeber erschöpfende Regelungen getroffen hat. Nun ist im Bereich der Abweichungsgesetzgebung ein abschließender Gebrauch, wie gezeigt, nicht möglich. Die Kriterien des abschließenden Gebrauchs sind aber insofern relevant, als dass sie den Anwendungsbereich der Abweichungsgesetzgebung aktivieren. Hat nämlich der Bund noch nicht im Sinne des Art. 72 Abs. 1 GG die entsprechenden Sachfragen abschließend geregelt, so ergibt sich die Kompetenz der Länder, eigene Regelungen zu treffen, bereits aus Art. 72 Abs. 1 GG.198 Die Abweichungsgesetzgebung wird also erst relevant, sobald der Bund eigene Regelungen getroffen hat, die, gäbe es die Abweichungsgesetzgebung nicht, Sperrwirkung zu Lasten der Länder erzeugen würden. Die Abweichungsgesetzgebung ermöglicht den Ländern also das Abweichen von existenten Bundesregelungen im an und für sich sperrenden Bereich. In diesem Zusammenhang ist freilich die Übergangsregelung aus Art. 125b Abs. 1 GG zu berücksichtigen, der die Fortgeltung des Bundesrechts anordnet, das bis zum 1. November 2006 auf Grundlage der Rahmengesetzgebungskompetenz erlassen wurde.199 Die Länder durften nach der Föderalismusreform von dem bestehenden Bundesrahmenrecht abweichende Regelungen treffen, wobei für die Materien des Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, 5 und 6 GG die Zuständigkeit der Länder aufschiebend bedingt wird.200 Außerdem existieren für Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 1, 2 und Nr. 5 abweichungsfeste Kerne, in denen die Länder nur nach Maßgabe des Art. 72 Abs. 1 GG eigene Regelungen treffen können. Hat der Bund innerhalb der Bereichsausnahmen abschließend legiferiert, so ist in diesem Bereich ein landesgesetzliches Tätigwerden nach Art. 72 Abs. 1 GG gesperrt.
197
Petschulat, NuR 2015, 241 (243); a. A. Stettner, in: Dreier, Supplementum, GG, Art. 72 Rn. 50. 198 Herbst, in: Berliner Kommentar, Art. 72 Rn. 121; Petschulat, NuR 2015, 241 (243); Reinhardt, AöR 135 (2010), 459 (469 f.); Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, Art. 72 Rn. 105; Seiler, in: BeckOK GG, Art. 72 Rn. 24; a. A. Schmidt-Jortzig, in: Härtel, Handbuch Föderalismus, Bd. 1, § 20 Rn. 26. 199 Dazu H. A. Wolff, in: Heintzen / U hle, Neuere Entwicklungen im Kompetenzrecht, S. 265. 200 Siehe dazu am Beispiel des Hochschulrahmenrechts BVerfG NJW 2018, 361 (377 Rn. 230 ff.).
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Folgende Schlussfolgerungen sind hieraus zu ziehen: – Selbstständiges Landesrecht abseits einer abschließenden Bundesregelung: Hat der Bund auf dem Feld der Abweichungsgesetzgebung eine Frage noch nicht selbst entschieden, so bestimmt sich die Kompetenz der Länder zu eigenen Regelungen aus Art. 72 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem jeweiligen konkurrierenden Kompetenztitel aus Art. 74 GG. Ebenso lebt die Zuständigkeit aus Art. 72 Abs. 1 GG wieder auf, wenn das abschließende Bundesgesetz außer Kraft tritt.201 – Ergänzendes Landesrecht im Bereich ausdrücklicher oder konkludenter Regelungsvorbehalte: Entsprechend folgt aus Art. 72 Abs. 1 GG ein Zugriffsrecht der Länder, wenn der Bund zwar eine bundesrechtliche Regelung getroffen hat, aber etwa durch einen Regelungsvorbehalt deutlich gemacht hat, dass seine Regelung nicht abschließend ist und ein landesrechtliches Tätigwerden möglich sein soll („solange und soweit“). Soweit Landesrecht diese bundesrechtlichen Regelungen nur ergänzt und hiervon nicht „abweicht“, ergibt sich die Befugnis aus Art. 72 Abs. 1 GG. Weichen die Regelungen inhaltlich von den bestehenden bundesrechtlichen Regelungen ab, so ergibt sich die Befugnis aus Art. 72 Abs. 3 GG. Die konkrete Unterscheidung zwischen „Ergänzung“ und „Abweichung“ dürfte jedoch nur von theoretischem Interesse sein.202 Indem Art. 72 Abs. 3 GG jedenfalls zum abweichenden Tätigwerden ermächtigt, ergibt sich ein in materieller Hinsicht grundsätzlich unbeschränktes Zugriffsrecht der Länder auf die Gebiete der Art. 74 Abs. 1 Nr. 28–33 GG mit Ausnahme der abweichungsfesten Sektoren. Auch für den Bund ist die Unterscheidung zwischen Ergänzung und Abweichung unergiebig: Möchte der Bund vom ergänzenden und / oder abweichenden Landesrecht selbst abweichen, so ist dies nur nach Maßgabe des Abs. 3 und unter Berücksichtigung der Karenzzeit möglich.203 – Abweichung von abgeschlossenen Ordnungskonzeptionen, insbesondere vom „absichtsvollen Regelungsverzicht“: Das Recht zur Abweichungsgesetzgebung wird aktiviert, sobald der Bund abschließend und erschöpfend von seiner Zuständigkeit Gebrauch gemacht hat. Selbst wenn der Bund abgeschlossene Ordnungskonzepte entworfen und legislativ umgesetzt hat, entfalten diese – mit Ausnahme der abweichungsfesten Kerne – keine Sperrwirkung im Sinne des Art. 72 Abs. 1 GG, die Länder können vielmehr abweichende Regelungen nach Art. 72 Abs. 3 GG treffen und eigene Konzepte an die Stelle des Bundesrechts treten lassen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass eine im Sinne des Art. 72 Abs. 1 GG abgeschlossene Ordnungskonzeption auch den „absichtsvollen Regelungsverzicht“ umfasst. Da innerhalb des Art. 72 Abs. 3 GG auch diese negative Form der Gesetzgebung keine Sperrwirkung entfaltet, können die Länder auch im Bereich des „absichtsvollen Regelungsverzichts“ eigene Regelungen
201
Wollenschläger, in: BK, Art. 72 Rn. 422. Dagegen aber v. Stackelberg, Die Abweichungsgesetzgebung, S. 32. 203 Wollenschläger, in: BK, Art. 72 Rn. 422. 202
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treffen.204 Dies ist eine zulässige Abweichung. Es bedarf mithin nicht zwingend einer positiven Bundesregelung, von der abgewichen werden soll. Auch aus dem Kontext des Bundesrechts, das darauf hindeutet, dass der Bundesgesetzgeber darauf verzichtete, ergänzendes Bundesrecht zu setzen, kann sich eine Abweichungskompetenz der Länder ergeben.205 Die damit einhergehenden Rechtsunsicherheiten in Bezug auf den Anwendungsvorrang sind hinzunehmen. Aus rechtspolitischen (nicht aus rechtlichen206) Gründen spricht aber viel dafür, dass die Länder Art und Umfang ihrer Abweichung kenntlich machen sollten.207 Verfassungsrechtlich ist der Abweichungsgesetzgebung die rechtsstaatliche Grenze des Bestimmtheitsgrundsatzes gezogen. Der Sinngehalt einer Norm und dessen Anwendung muss zumindest durch Auslegung ermittelbar sein.208 – Ergänzendes Landesrecht innerhalb der Bereichsausnahmen: Durchaus relevant wird die Unterscheidung zwischen „ergänzen“ und „abweichen“ innerhalb der abweichungsfesten Sektoren, da dort ein abweichendes Tätigwerden der Länder gesperrt ist. Indem Art. 72 Abs. 3 GG systematisch auf Art. 72 Abs. 1 GG Bezug nimmt, gilt für die abweichungsfesten Sektoren die allgemeine Vorrangregel des Bundes nach Art. 72 Abs. 1 GG.209 Im Rahmen dieser Vorschrift kann der Bund abschließend tätig werden. Art. 72 Abs. 1 GG erlaubt es ihm aber zugleich, seine Befugnis nur punktuell wahrzunehmen und Räume für landesgesetzliches Tätigwerden zu belassen („solange und soweit“).210 Deshalb sind auch innerhalb der 204
Es gilt, dass ein „minus, maius oder aliud“ zulässig ist, vgl. Degenhart, DÖV 2010, 422 (425); wie hier auch Chandna, Das Abweichungsrecht der Länder, S. 53 ff.; a. A. Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 72 Rn. 52 („nur einzelne Regelungen“). 205 Ähnlich Fischer-Hüftle, NuR 2007, 78 (84): „versteckte Abweichungen“. 206 Eine ursprünglich diskutierte Verpflichtung zur Kennzeichnung (Scharpf, in: Rechtsausschussprotokoll 12, 2006, S. 57) wurde nicht in den Normtext des Art. 72 III GG aufgenommen. 207 Reinhardt, AöR 135 (2010), 459 (484); Schmidt-Jortzig, in: Härtel, Handbuch Föderalismus, Bd. 1, § 20 Rn. 19; Seiler, in: BeckOK GG, Art. 72 Rn. 29. Bund und Länder haben eine Selbstverpflichtung zur Dokumentation übernommen (BR-Drs. 462/06, S. 14 f.). Entsprechende Kennzeichungen finden sich im Bundesgesetzblatt, in der Datenbank Juris sowie in der Datenbank „Gesetze im Internet“. Auch die Länder kennzeichnen ihre Abweichungen, die dabei verwendeten Modelle unterscheiden sich aber durchaus, näher dazu v. Stackelberg, Die Abweichungsgesetzgebung der Länder im Naturschutzrecht, S. 168 ff. 208 Reinhardt, AöR 135 (2010), 459 (484); ähnlich, aber wohl zu weitgehend die Stimmen, die eine konsequente Kennzeichnungs- oder Zitierpflicht fordern, etwa Degenhart, DÖV 2010, 422 (423); Petschulat, NuR 2015, 316 (317 f.); v. Stackelberg, Die Abweichungsgesetzgebung, S. 38 ff.; Zsinka, Das Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung, S. 282 ff. Zu den Voraussetzungen des Bestimmtheitsgebots BVerfGE 120, 274 (315 f. Rn. 209 f.) m. w. N. 209 Glaser, NuR 2007, 439 (441); Häde, JZ 2006, 930 (933); Schmidt-Jortzig, in: Härtel, Handbuch Föderalismus, Bd. 1, § 20 Rn. 12; a. A. Degenhart, NVwZ 2006, 1209 (1213); Petschulat, NuR 2015, 386 (388); Reinhardt, AöR 135 (2010), 459 (495). 210 Dazu Viertes Kapitel II. 2.; a. A. Petschulat, NuR 2015, 386 (388), der davon ausgeht, dass ein Zugriff der Länder auf die abweichungsfesten Bereiche per se unzulässig ist. Sie seien aber als Mindestgarantien zu verstehen, deshalb seien weitergehende schutzverstärkende Vorschriften möglich. Ganz überzeugen kann diese Auffassung nicht. Erstens erfüllen schutzverstärkende Vorgaben den Tatbestand des Abweichens (Degenhart, DÖV 2010, 422 [425]). Der
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abweichungsfesten Kerne Öffnungsklauseln zulässig. Der Bundesgesetzgeber hat etwa in der stoffbezogenen Regelung in § 38 Abs. 3 S. 3 WHG eine Abweichungsmöglichkeit für die Länder festgelegt. Indem seine Regelung somit nicht erschöpfend und abgeschlossen ist, können die Länder „soweit“ tätig werden. Unbeachtlich ist, dass es sich hierbei um abweichungsfeste Kerne handelt.211 Die Bereichsausnahmen greifen nur für den Fall, dass erschöpfende Bundesregelungen vorhanden sind. Wäre ein landesgesetzliches Tätigwerden im Bereich der abweichungsfesten Sektoren auch dann ausgeschlossen, wenn der Bund keine sperrenden Bundesregelungen nach Art. 72 Abs. 1 GG getroffen hat, so verlören diese Sektoren ihren Charakter als konkurrierende Zuständigkeiten. Sie würden vielmehr als ausschließliche Zuständigkeiten betrachtet, wobei selbst nach Art. 71 GG die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung haben, „wenn und soweit sie hierzu in einem Bundesgesetz ausdrücklich ermächtigt werden.“ Aus der Gesamtschau der Zugriffskonstellationen nach Art. 72 Abs. 1 i. V. m. Art. 72 Abs. 3 GG ergibt sich ein grundsätzlich materiell unbegrenztes Zugriffsrecht der Länder auf die Gebiete der Abweichungsgesetzgebung, das nur dadurch relativiert wird, dass der Bund – allerdings unter Beachtung der Karenzzeit – ebenfalls ein unbegrenztes Zugriffsrecht hat. Die Abweichungsgesetzgebung statuiert ein gleichberechtigtes Tätigwerden von Bund und Länder.212 Aus diesem Grund ist das Tatbestandsmerkmal der „Abweichung“ grundsätzlich weit zu interpretieren. Es verleiht den Ländern das Recht, die Materien des Art. 72 Abs. 3 GG uneingeschränkt zu regeln. So wie der Bund, können also auch die Länder auf dem Gebiet der Abweichungsgesetzgebung eigenständige Ordnungsmodelle entwerfen.213 In der Gesetzesbegründung heißt es in diesem Sinne: „Die Länder gewinnen die Möglichkeit, in den genannten Bereichen abweichend von der Regelung des Bundes eigene Konzepte zu verwirklichen“214. Allerdings: Betrachtet man den Zusammenhang zwischen Art. 72 Abs. 1 und Abs. 3 GG, so müsste es genauer heißen, dass die Länder trotz der Regelung des Bundes abweichende Konzepte verwirklichen können. Dies gilt insbesondere seit dem Fristablauf der Übergangsbestimmung in Art. 125b Abs. 1 S. 3 GG, das für eine gewisse Zeit den Zugriff der Länder auf die Abweichungsgesetzgebung gesperrt hat.
Wortlaut von Art. 72 III GG ist aber insofern eindeutig, als dass innerhalb der Bereichsausnahmen ein abweichendes Regeln nicht zulässig ist. Zweitens verkennt diese Ansicht den Zusammenhang zu Art. 72 I GG. Im Rahmen der Bereichsausnahmen gilt die Vorrangwirkung des Bundes. Eine landesgesetzliche Tätigkeit ist deshalb nur solange und soweit möglich, als der Bund nicht erschöpfend legiferiert hat. Soweit er verbindliche Grundsätze aufgestellt hat, spricht in der Regel viel dafür, dass diese auch abschließend gemeint sein sollen. 211 Andere Ansicht aber Reinhardt, AöR 135 (2010), 459 (495). 212 Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 160. 213 Zum Begriff Ordnungsmodell Viertes Kapitel II. 2. a). 214 BT-Drs. 16/813, S. 11.
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cc) Sonderfragen zur inhaltlichen Qualität der Abweichung Teilt man die hier vertretene Ansicht, dass die Zusammenschau von Art. 72 Abs. 1 GG und Art. 72 Abs. 3 GG ein unbegrenztes Zugriffsrecht begründet, so lässt sich die Abweichungskompetenz nicht mit Blick auf den Wortlaut „abweichen“ nachträglich wieder einschränken. Mitunter finden sich aber auch andere Ansichten: Die Abweichungsgesetzgebung ermächtige nur zu punktuellen Regelungen und umfasse keine Vollregelungen, verboten sei den Ländern das „inhaltsgleiche Abweichen“, zudem sei eine bloße Negativgesetzgebung kein „abweichen“ im Sinne des Art. 72 Abs. 3 GG. (1) Nur punktuelles Abweichen oder Vollkompetenz? Teilweise wird vertreten, die Abweichungsbefugnis erlaube nur punktuelle und selektive Abweichungen. Werde die bundesgesetzliche Regelung vollständig von einer landesgesetzlichen Regelung verdrängt, so könne nicht mehr von einer abweichenden Regelung im Sinne von Art. 72 Abs. 3 GG gesprochen werden.215 Es sei den Ländern untersagt, durch Vollregelung das ganze Regelungsprogramm des Bundes zu konterkarieren.216 Im Ergebnis führt Betrachtungsweise aus Sicht der Länder zu einer konkurrierenden Zuständigkeit minderen Ranges. Dies widerspricht dem Ziel der Föderalismusreform, auf dem Gebiet der Abweichungsgesetzgebung ein Gleichordnungsverhältnis zwischen Bund und den Ländern herzustellen. Ausweislich der Gesetzesbegründung sollte es den Ländern ermöglicht werden, „abweichend von der Regelung des Bundes eigene Konzeptionen zu verwirklichen und auf ihre unterschiedlichen strukturellen Voraussetzungen und Bedingungen zu reagieren.“217 Wäre die Abweichungsbefugnis nur auf punktuell abweichende Regelungen begrenzt, so stünde den Ländern faktisch kaum Raum zu, abweichend vom Bund eigene Ordnungsmodelle entwickeln zu können. Es hinge vom bestehenden Bundesrecht ab, inwieweit die Länder eigene Ordnungsmodelle umsetzen könnten. Außerdem spricht gegen die Begrenzung auf selektive Regelungen, dass der genaue Maßstab einer „Konterkarierung des ganzen Regelungsprogramms“218 kaum zu bestimmen ist. Die schwierige Folgefrage wäre: Welches quantitative und qualitative Gewicht müssten Länderregelungen im Ganzen haben, damit von einer unzulässigen „Vollregelung“ gesprochen werden kann. Solche Abgrenzungsfragen sind nur schwer zu beantworten und wohl auch kaum auflösbar.219 Das Grundgesetz selbst 215 Degenhart, DÖV 2010, 422 (426); Meyer, Die Föderalismusreform, S. 170; ähnlich wohl auch Schulze-Fielitz, NVwZ 2007, 249 (365), der für eine „enge Interpretation der Abweichungsgesetzgebung“ plädiert. 216 Meyer, Die Föderalismusreform, S. 170. 217 BT-Drs. 16/813, S. 11. 218 Meyer, Die Föderalismusreform, S. 170. 219 Sachs, in: Dietlein / Froese, Jagdliches Eigentum, § 5, S. 151.
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
vermeidet solche Lösungen auch so gut es geht und wählt wesentlich einfacher zu handhabende Lösungen: Art. 72 Abs. 1 GG derogiert Landesrecht, wenn die Landesregelung in den Anwendungsbereich eines abgeschlossenen Ordnungsmodells des Bundes fällt, unabhängig des Umfangs und eines konkret nachgewiesenen Widerspruchs zwischen Bundesrecht und Landesrecht.220 Ebenso trifft Art. 31 GG eine (relativ) simple Regel: Im Falle einer Normenkollision gilt der Geltungsvorrang des Bundesrechts. Nicht zuletzt sollte der systematische Zusammenhang zu Art. 72 Abs. 1 GG berücksichtigt werden. Solange und soweit der Bund keine abschließenden Bundesregelungen getroffen hat, können die Länder ohnehin eigene und grundsätzlich auch weitgehende Regelungen treffen. Art. 72 Abs. 3 GG bringt zum Ausdruck, dass auch innerhalb des erschöpfenden Gebrauchs abweichende Regelungen möglich sind. Die Norm erweitert den Handlungsspielraum der Länder, sie schränkt ihn nicht ein. Die Abweichungsbefugnis hat mithin einen unbeschränkten Umfang.221 (2) Zulässigkeit der Negativgesetzgebung Auch die Frage einer Negativgesetzgebung wird kontrovers diskutiert. Unter einer „Negativgesetzgebung“ wird verstanden, dass der Landesgesetzgeber schlicht die Nichtanwendung der bundesgesetzlichen Norm anordnet, ohne an dessen Stelle eine eigene positive Norm zu setzen. Auch dies wird teilweise als unzulässig erachtet222, wobei mitunter einschränkend betont wird, dass von einer Negativgesetzgebung nicht gesprochen werden kann, „wenn der Landesgesetzgeber den Tatbestand der bundesgesetzlichen Norm abweichend regelt und ihn hierbei zurücknimmt, also etwa Handlungspflichten oder Sanktionen des Gesetzes abmildert.“ Der Verzicht auf ein im Bundesrecht vorgesetztes Instrument sei zulässig, „solange es nur selbst eine in sich aussagekräftige […] Regelung trifft“223. Aber auch gegen diese einschränkende Ansicht lässt sich einwenden, dass schon die bloße Anordnung einer negativen Rechtsfolge für sich genommen den Tatbe 220
Viertes Kapitel II. 2. Im Ergebnis auch Erbguth, ZUR 2019, 195 (198); Herbst, in: Berliner Kommentar, Art. 72 Rn. 130; Sachs, in: Dietlein / Froese, Jagdliches Eigentum, § 5, S. 150 f.; Sannwald, in: SchmidtBleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, Art. 72 Rn. 102; Uhle, in: Kluth, Föderalismusreform gesetz, Art. 72 Rn. 51. Keine Bedenken auch in BVerwG NVwR-RR 2016, 484 (485 (Rn. 5). 222 Chandna, Das Abweichungsrecht der Länder, S. 59 f.; Degenhart, DÖV 2010, 422 (425); Fischer-Hüftle, NuR 2007, 78 (80 f.); Franzius, NVwZ 2008, 492 (495); Köck / Wolf, NVwZ 2008, 353 (356); Schmidt-Jortzig, in: Härtel, Handbuch Föderalismus, Bd. 1, § 20 Rn. 9; Uhle, in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 72 Rn. 51; mit Einschränkungen auch Erbguth, ZUR 2019, 195 (200); a. A. Beck, Die Abweichungsgesetzgebung, S. 61; Petschulat, NuR 2015, 386 (391); Reinhardt, AöR 135 (2010), 459 (485); Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, Art. 72 Rn. 104; Wittreck, in: Dreier, GG, Art. 72 Rn. 42; Wollenschläger, in: BK, Art. 72 Rn. 434. 223 So Degenhart, DÖV 2010, 422 (426); a. A. Chandna, Das Abweichungsrecht der Länder, S. 60: „Eine Abweichung erfordert immer eine eigene positive Regelung.“ 221
II. Konfliktvermeidung im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung
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stand einer „Abweichung“ erfüllt. Mit ihr gibt der Landesgesetzgeber zu erkennen, dass eine bestimmte Bundesregelung nicht anwendbar sein soll; das bewusste Abstandnehmen von einer bundesgesetzlichen Anordnung kann durchaus Ausdruck einer eigenen konzeptionellen Vorstellung sein.224 Dies zeigt nicht zuletzt die Existenz des „absichtsvollen Regelungsverzichts“ im Sinne des Art. 72 Abs. 1 GG.225 Auch aus teleologischer Sicht ist dies die überzeugendere Sichtweise: Ausweislich der Gesetzesbegründung soll Art. 72 Abs. 3 GG dem Ziel dienen, dass die Länder die Möglichkeit gewinnen, „abweichend von der Regelung des Bundes eigene Konzeptionen zu verwirklichen und auf ihre unterschiedlichen strukturellen Voraus setzungen und Bedingungen zu reagieren.“226 Mit Rücksicht gerade auch auf kleinere Länder, die gegebenenfalls nicht in der Lage sind, umfassende Abweichungsgesetze zu beschließen, ist eine Negativregelung der einfachste Ausdruck einer abweichenden Willensentscheidung. Im Übrigen kommt dies auch dem Bund zugute: Denn durch eine Negativregelung des Landes bleibt das Bundesrecht ansonsten unberührt. Forderte man stets positive Abweichungsregelungen, so wäre das Bundesrecht sehr viel stärker gefährdet, in seinem Anwendungsbereich verdrängt zu werden. (3) Inhaltsgleiche Übernahme von Bundesrecht als eigene Regelung Ferner wird häufig vertreten, die Abweichungsbefugnis umfasse nicht die formulierungsidentische und / oder inhaltsgleiche Übernahme bundesgesetzlicher Regelungen.227 Inzwischen haben die Landesgesetzgeber durchaus solche inhaltsgleichen Regelungen beschlossen. Beispielsweise finden sich in Art. 3 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 3 BayNatSchG Regelungen, die wortgleich dem des BNatschG entsprechen.228 Auch im bayerischen Raumordnungsgesetz hat der bayerische Gesetzgeber 224
Beck, Die Abweichungsgesetzgebung, S. 61; Krapp, Die Abweichungskompetenzen der Länder, S. 194; Petschulat, NuR 2015, 386 (391); Reinhardt, AöR 135 (2010), 459 (485); Uhle, in: Maunz / Dürig, Art. 72 Rn. 281; Wittreck, in: Dreier, GG, Art. 72 Rn. 42; Seiler, in: BeckOK, Art. 72 Rn. 24.2; v. Stackelberg, Die Abweichungsgesetzgebung, S. 49. 225 Darauf weisen zutreffend Gerstenberg, Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen nach der Föderalismusreform, S. 260; Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 163 hin. 226 BT-Drs. 16/813, S. 11. 227 Erbguth, ZUR 2019, 195 (199); Chandna, Das Abweichungsrecht der Länder, S. 61; Degenhart, DÖV 2010, 422 (424); Krapp, Die Abweichungskompetenzen der Länder, S. 188; Petschulat, NuR 2015, 386 (390); Regeling, DVBl 2006, 1537 (1542); Sannwald, in: SchmidtBleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, Art. 72 Rn. 104; v. Stackelberg, Die Abweichungsgesetzgebung, S. 45 f.; Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 72 Rn. 51; Uhle, in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 72 Rn. 51; ders., in: Maunz / Dürig, Art. 72 Rn. 282; a. A. Glaser, NuR 2007, 439 (441); J. Ipsen, NJW 2006, 2801 (2804); Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 161 f.; Oeter, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 72 Rn. 124; Wollenschläger, in: BK, Art. 72 Rn. 434. 228 Mitunter haben die Länder im Naturschutzrecht aber auch auf die Übernahme inhaltsgleichen Rechts verzichtet, vgl. dazu die Untersuchung von v. Stackelberg, Die Abweichungsgesetzgebung, S. 148 f.
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eine Reihe von Vorschriften übernommen, die wort- und inhaltsgleich dem ROG entsprechen.229 Hiergegen wird eingewandt, bei einer bloßen inhaltsgleichen Übernahme könne schon vom Wortlaut nicht von einem „Abweichen“ ausgegangen werden.230 Insbesondere greife bei inhaltsgleichem Recht der Anwendungsvorrang aus Art. 72 Abs. 3 GG ins Leere, weil keine Normenkollision bestehe, die aufzulösen sei.231 Andere Autoren halten dem entgegen, schon die Änderung der Normqualität stelle eine Abweichung dar, weil hierdurch abweichende Rechtsfolgen entstünden, die sich etwa in Fragen des Gesetzesvollzugs oder des Rechtswegs bemerkbar machten.232 Hiergegen wird wiederum eingewandt, durch die formulierungsidentische Übernahme würde in der Sache eine gerichtliche Prüfungskompetenz hinsichtlich der bundesrechtlichen Bestimmung in Anspruch genommen. Außerdem wäre die Folge der Zulässigkeit inhaltsgleichen Rechts ein „schwer durchschaubares und erhebliche Differenzierungserfordernisse begründetes Normengeflecht“.233 Zunächst sollte einschränkend berücksichtigt werden, dass auch die bloße Wiederholung einer bundesrechtlichen Regelung insofern Teil eines eigenen „Abweichungskonzepts“ sein kann, wenn sie dem Ziel dient, die Anwendbarkeit anderer Regelungen im Kontext zu erleichtern.234 Aus diesem Grund kann sich eine inhaltsgleich übernommene Landesregelung durchaus im Hinblick auf ihre systematische und teleologische Stellung von der Funktion unterscheiden, die die gleiche Bundesregelung im Bundesrecht erfüllt. Dies wäre dann – vergleichbar eines Regelungszusammenhangs – durchaus ein „Abweichen“ von Bundesrecht. Auch sind Fälle denkbar, wo sich durch die Implementation der Anknüpfungspunkt verändert. Petschulat macht dies anhand von Begriffsbestimmungen deutlich. Bestimmt eine Bundesregelung eine Definition für „dieses Gesetz“, so dient die Übernahme der Definition für das Landesrecht fortan der Begriffsbestimmung für das Landesrecht. Auch darin kann durchaus eine „Abweichung“ gesehen werden.235 Aber auch ansonsten sprechen die überzeugenderen Gründe für die Möglichkeit, Bundesrecht inhaltsgleich in das Landesrecht überführen zu können. Der Wortlaut des Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG zwingt keineswegs dazu, inhaltsgleiches Recht von vornherein auszuschließen. Aus teleologischer Sicht ist Art. 72 Abs. 3 GG Ausdruck eines Gleichordnungsverhältnisses zwischen Bund und Ländern, das 229
Dazu krit. Schmitz / Jornitz, DVBl 2013, 741 (744). Degenhart, DÖV 2010, 422 (424); Petschulat, NuR 2015, 386 (390); Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, Art. 72 Rn. 104; Uhle, in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 72 Rn. 51; ders., in: Maunz / Dürig, Art. 72 Rn. 282. 231 Degenhart, DÖV 2010, 422 (424); so wohl auch Schulze-Fielitz, NVwZ 2007, 249 (254). 232 J. Ipsen, NJW 2006, 2801 (2804). 233 Degenhart, DÖV 2010, 422 (425). 234 Ähnlich Uhle, in: Maunz / Dürig, Art. 72 Rn. 283 mit der Einschränkung, dass die Übernahme bundesrechtlicher Regelungen in Landesgesetze dann eine statthafte Abweichung darstellen, „soweit deren Anlass und Schwerpunkt abweichende Bestimmungen sind und inhaltsgleiche Vorschriften diesen abweichenden Regelungen funktional zugeordnet, also zu dienen bestimmt sind.“ 235 So die differenzierende Sicht von Petschulat, NuR 2015, 386 (390). 230
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darauf ausgerichtet ist, den Landesgesetzgeber mit den gleichen Befugnissen wie den Bundesgesetzgeber auszustatten. Vor allem zeigen die verwaltungsprozessualen Konsequenzen einer landesrechtlichen Zuordnung (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) durchaus, dass mit der Einordnung als Landesrecht durchaus ein „abweichender Regelungswille“ verbunden ist.236 Die Konsequenz, dass der Landesgesetzgeber eine Prüfungskompetenz für Bundesrecht in Anspruch nimmt, kann man rechtspolitisch sicherlich in Zweifel ziehen.237 Die Skepsis relativiert sich aber dadurch, dass das inhaltsgleiche Recht in der Regel als Teilelement eines größeren Abweichungskomplexes in das Landesrecht implementiert werden soll und darin kein Missbrauch der Abweichungsbefugnis zu sehen ist. Außerdem wird zutreffend darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit, punktuelle Normen oder auch ganze Gesetzeswerke inhaltsgleich in das Landesrecht zu überführen, dazu beitragen kann, die systematische Klarheit, Kohärenz, letztlich also die Bestimmbarkeit des Landesrechts zu erhöhen.238 (4) Zwischenfazit: Abweichungsgesetzgebung als volles Zugriffsrecht der Länder Aus der Zusammenschau von Art. 72 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 72 Abs. 3 GG ergibt sich ein (abgesehen von den Bereichsausnahmen) vollständiges und im Umfang unbegrenztes Zugriffsrecht der Länder auf die Gebiete der Abweichungsgesetzgebung. Der Tatbestand der Abweichung ist insgesamt weit zu verstehen; es erlaubt den Ländern, in allen möglichen Formen durch Gesetz von bundesrechtlichen Ordnungskonzeptionen abzuweichen und stattdessen eigene Konzepte zu verwirklichen. Art. 72 Abs. 3 GG begründet ein partiell gleichberechtigtes Rechtsverhältnis zwischen Bund und Ländern, in dem weder Bund noch die Länder einen normhierarchischen Vorrang beanspruchen können.239 Ob die Länder von ihren Möglichkeiten Gebrauch machen, unterliegt der verantwortlichen politischen Entscheidung des jeweiligen Landesgesetzgebers.240 Gestattet ist das punktuelle und vollständige sowie das positive (modifizierende, einschränkende, erweiternde, konkretisierende etc.) und negativ-abschaffende Abweichen als auch 236
Wittreck, in: Dreier, GG, Art. 72 Rn. 43; Wollenschläger, in: BK, Art. 72 Rn. 434 a. E. Degenhart, DÖV 2010, 422 (425). 238 Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 162; Herbst, in: Berliner Kommentar, Art. 72 Rn. 125; Sachs, in: Dietlein / Froese, Jagdliches Eigentum, § 5, S. 152; Stegmüller, DVBl 2013, 1477 (1481); vgl. auch Wollenschläger, in: BK, Art. 72 Rn. 434 a. E., der darauf hinweist, dass eine Gesamtregelung im Landesrecht den Vorteil hat, dass keine parzellierte Anwendung von Bundes- und Landesrecht nötig ist. 239 Genau genommen ist die verfassungsrechtliche Stellung der Länder in Art. 72 III GG sogar stärker ausgeprägt, da die Länder bereits innerhalb der Karenzzeit von verabschiedeten, aber noch nicht in Kraft getretenen Bundesregelungen abweichen können. 240 BT-Drs. 16/813, S. 11; ähnlich Uhle, in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 72 Rn. 50: „Das Instrument der Abweichungsgesetzgebung versetzt die Länder in die Lage, durch den Erlass eigener Regelungen nach ihrem Ermessen von der bundesgesetzlichen Regelung abzuweichen“. 237
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die Übernahme inhaltsgleichen Rechts. Kurz: Auf dem Feld der gleichberechtigten Abweichungsgesetzgebung dürfen die Länder all das, wozu auch der Bund imstande ist. Gegenüber einschränkenden Abweichungsbegriffen hat dieses Verständnis den praktischen Vorteil der einfacheren Handhabung, weil die Abweichungsgesetzgebung hiernach voraussetzungslos zulässig ist. dd) Abweichungsintention und Zitiergebot Weiterhin steht die Frage im Raum, inwiefern die Abweichung vom Bundesrecht kenntlich gemacht werden muss. Dass aus Gründen der Nachvollziehbarkeit und Rechtssicherheit Art und Umfang der Abweichung deutlich werden sollte, dürfte unbestritten sein.241 Fraglich ist aber, inwiefern die Evidenz der Abweichung verfassungsrechtlich erzwungen werden kann. Aus diesen Gründen werden oft zwei ungeschriebene Tatbestandsmerkmale in Art. 72 Abs. 3 GG hineingelesen: Zum einen solle neben dem objektiven Tatbestand der Abweichung auch ein subjektives Element hinzukommen, wonach die Abweichung auch einen entsprechenden „Abweichungswillen“ bzw. eine „Abweichungsintention“242 verlange. Darüber hinaus setze eine zulässige Abweichungsgesetzgebung auch die Kenntlichmachung der Abweichung, also eine Zitierpflicht voraus.243 Fehlten die Voraussetzungen der Abweichungsintention und der Kenntlichmachung, so sei das Landesrecht je nach unterschiedlicher Auffassung, aufgrund eines Formfehlers nichtig244, unanwendbar245 oder an Art. 72 Abs. 1 GG oder an Art. 31 GG zu messen.246 Das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage bislang offengelassen.247 Für das Erfordernis eines Willensentschlusses zur Abweichung spreche nach Ansicht einiger Autoren, dass bei ungewollten, versehentlichen Abweichungen das Risiko bestehe, dass der abweichende Charakter im Landesrecht nicht hinreichend erkennbar sei. Den damit verbundenen Rechtsunsicherheiten könnte begegnet werden, wenn man für die Abweichungsgesetzgebung eine „eindeutig ermittelbare Abweichungsintention“ verlangte.248 Um das Erfordernis nicht zu überdehnen, 241
Degenhart, DÖV 2010, 422 (423 f.); Germann, in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 84, 85 GG Rn. 86; Reinhardt, AöR 135 (2010), 459 (484); Schulze-Fielitz, NVwZ 2007, 249 (255). 242 v. Stackelberg, Die Abweichungsgesetzgebung, S. 50 ff. 243 Erbguth, ZUR 2019, 195 (201 f.); Franzius, NVwZ 2008, 492 (494); Gerstenberg, Gesetzgebungskompetenzen, S. 260; Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 214; Krapp, Die Abweichungsgesetzgebung, S. 196; Meyer, Die Föderalismusreform, S. 172; Kment, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 72 Rn. 30; v. Stackelberg, Die Abweichungsgesetzgebung, S. 51 ff.; Zsinka, Das Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung, S. 209 ff.; gegen ein zwingendes Zitiergebot Reinhardt, AöR 135 (2010), 459 (484); Seiler, in: BeckOK GG, Art. 72 Rn. 29; Wollenschläger, in: BK, Art. 72 Rn. 450. 244 Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 214. 245 Zsinka, Das Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung, S. 298 f. 246 Degenhart, DÖV 2010, 422 (427); v. Stackelberg, Die Abweichungsgesetzgebung, S. 50 f.; dagegen Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 214. 247 BVerfGE 147, 253 (356 Rn. 236). 248 v. Stackelberg, Die Abweichungsgesetzgebung, S. 52.
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seien entsprechende Hinweise in der Gesetzesbegründung ausreichend; mit der korrekten Zitierung der Abweichung sei auch das Kriterium der Abweichungsintention erfüllt.249 Weder aus dem Wortlaut noch aus den Verfassungsunterlagen finden sich allerdings hinreichende Anhaltspunkte, dass Art. 72 Abs. 3 GG einen subjektiven Abweichungswillen voraussetzt.250 In gewisser Hinsicht deckt sich die Argumentation mit der Forderung einer Zitierpflicht bei der Abweichung. Auch diese soll der Rechtssicherheit und somit der Bestimmbarkeit des Anwendungsvorrangs dienen. Dass ungeplante und „versteckte“ Abweichungen aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsanwendbarkeit bedenklich sind, dürfte unbestritten sein. Fraglich ist aber, ob hieraus notwendig ein Verfassungsverstoß folgt. Für den Fall einer Abweichungsintention ist dies zu verneinen. Dagegen spricht, dass subjektive Komponenten in der Gesetzgebung unüblich sind. Nach ständiger Rechtsprechung entscheidet der „objektivierte Wille des Gesetzgebers“ über die Interpretation von Gesetzen. Auch für die Auslegung und Zuordnung zu Gesetzgebungskompetenzen hat sich die Bezugnahme auf den objektivierten Willen des Gesetzgebers grundsätzlich bewährt. Demnach ist nicht alleine entscheidend, ob der Gesetzgeber eine Norm als Bestandteil eines bestimmten Kompetenztitels regeln wollte, sondern die Qualifikation beruht vor allem auf den Kriterien des unmittelbaren Regelungsgegenstandes, des Normzwecks, der Wirkung und dem Adressaten der Norm. Es sind keine Gründe ersichtlich, weshalb diese Regeln nicht auch für die Frage der Zuordnung zur Abweichungsgesetzgebung relevant sein sollten. Immerhin kommt es im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung ebenfalls auf die Frage an, ob die einzelnen Vorschriften, die der Landesgesetzgeber beschlossen hat, in die Titel der Art. 74 Abs. 1 Nr. 28 ff. GG fallen. Der Tatbestand der Abweichung kann deshalb nicht davon abhängig gemacht werden, ob der Landesgesetzgeber tatsächlich abweichen wollte. Entscheidend ist, ob nach dem objektivierten Willen des Gesetzgebers davon ausgegangen werden kann, dass der Landesgesetzgeber eine Regelung getroffen hat, die erstens überhaupt in den Bereich der Abweichungsgesetzgebung fällt und zweitens sachlich vom Bundesrecht abweicht. Zur Klärung dieser Fragen kann der „Wille des Gesetzgebers“ selbstverständlich berücksichtigt werden, er ist aber nicht allein maßgeblich.251 249
v. Stackelberg, Die Abweichungsgesetzgebung, S. 52. v. Stackelberg, Die Abweichungsgesetzgebung, S. 51 zitiert zwar eine Äußerung eines Mitglieds der Föderalismuskommission, wonach die Länder gezwungen seien, „bewusste Abweichungsentscheidungen“ zu treffen (Böhmler, in: Deutscher Bundestag / Bundesrat, Zur Sache 1/2005, 7. Sitzung / AG1/Protkollvermerk, S. 9), verkennt aber, dass schlichte Äußerungen einzelner Personen im Vorfeld der Gesetzgebung nicht repräsentativ für den Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers sein können, vgl. dazu Zweites Kapitel V. 3. 251 Wollenschläger, in: BK, Art. 72 Rn. 432. In diese Richtung wohl auch Zsinka, Das Zitiergebot bei der Abweichungsgesetzgebung, S. 300, die aber zugleich vom Erfordernis eines Zitiergebots ausgeht (S. 209 ff.). Vgl. auch Germann, in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 84, 85 GG Rn. 86, der einen „Abweichungszusammenhang“ für ausreichend, aber notwendig erachtet. 250
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Von der Frage der subjektiven Abweichungsintention ist die Frage einer Kennzeichnungs- und Zitierpflicht zu unterscheiden. Dieses Erfordernis betrifft nicht den Tatbestand einer Abweichung, sondern soll als ungeschriebene Voraussetzung dazu beitragen, die Rechtssicherheit im Bundesstaat zu gewährleisten. Damit liegt in dem Erfordernis keine bundesstaatliche Schranke, die dem Schutz des Bundes zu dienen bestimmt ist, sondern eine rechtsstaatliche.252 Mangels hinreichender Anhaltspunkte sowohl im Normtext als auch in der Entstehungsgeschichte253 des Art. 72 Abs. 3 GG ist eine grundgesetzlich zwingende Zitierpflicht nicht zu fordern.254 Zitierpflichten sind dort, wo sie für notwendig erachtet werden, eindeutig im Grundgesetz positiviert (vgl. Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG; Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG). Eine Zitierpflicht als ungeschriebener Tatbestand des Art. 72 Abs. 3 GG wäre nur unter der Voraussetzung der Lückenhaftigkeit der Norm anzunehmen. Es ist jedoch eine von vornherein absehbare Konsequenz der Abweichungsgesetzgebung, dass der großzügige Gebrauch der Zugriffsrechte zu einem hohen Maß an Vielfalt, aber auch zu Rechtsunsicherheiten führen kann. Trotz der gewichtigen Einwände im Vorfeld der Verfassungsreform255 hat der verfassungsändernde Gesetzgeber darauf verzichtet, der Landesgesetzgebung Zitierpflichten aufzuerlegen. Dies muss als eine bewusste Wertentscheidung verstanden werden, die es ausschließt, Art. 72 Abs. 3 GG als „lückenhaft“ zu verstehen.256 Aus diesen Grund erscheint 252
So ausdrücklich Herbst, in: Berliner Kommentar, Art. 72 Rn. 131; Degenhart, DÖV 2010, 422 (427); Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 213 f.; Zsinka, Das Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung, S. 161 ff. 253 Im Vorfeld der Verfassungsreform waren die Sachverständigen der Föderalismuskommission über die Notwendigkeit eines Zitiergebots geteilter Meinung, vgl. dazu die Aussagen der Sachverständigen P. M. Huber, Pestalozza, Wieland, Meyer, P. Kirchhof und Ruthig, in: Stenografischer Bericht der 12. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform, Stenographischer Bericht, 12. Sitzung, Rechtsausschussprotokoll vom 15./16. 5. 2006. Zu den einzelnen Stellungnahmen Zsinka, Das Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung, S. 80 ff. 254 Reinhardt, AöR 135, 2010, 459 (484); Seiler, in: BeckOK GG, Art. 72 Rn. 29; Uhle, in: Maunz / Dürig, Art. 72 Rn. 284; Wollenschläger, in: BK, Art. 72 Rn. 450; ebenso Germann, in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 84, 85 GG Rn. 86: „Zweckmäßig aber nicht geboten“. 255 P. M. Huber, in: Gemeinsame öffentliche Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform, Stenographischer Bericht, 12. Sitzung, Rechtsausschussprotokoll vom 15./16. 5. 2006, Prot. S. 8, S. 40 C, D. 256 An Vorschlägen einer Zitierpflicht hat es im Vorfeld der Föderalismusreform nicht gemangelt, vgl. auch schon das Sondervotum von Heinsen im Rahmen der Enquete-Kommission Verfassungsreform 1977, in: BT-Drs. 7/5924, S. 137 f. das als Art. 72a GG folgende Voraussetzungen enthielt: „(1) Abweichend von Artikel 72 Abs. 1 können die Länder im Bereiche der konkurrierenden Gesetzgebung eine bundesgesetzliche Regelung durch Landesgesetz ersetzen oder ergänzen, wenn nicht der Bundestag innerhalb von drei Monaten nach Zuleitung Einspruch erhebt. (2) Landesgesetze nach Absatz 1 werden dem Bundestag und der Bundesregierung durch den Präsidenten der Volksvertretung des Landes zugeleitet. Dabei sind die Vorschriften des Bundesrechts, von denen abgewichen wird oder die ergänzt werden, ausdrücklich zu nennen. Das Landesgesetz wird frühestens zwei Wochen nach Ablauf der in Absatz 1 genannten Frist wirksam.“
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es vorzugswürdig, nicht von einer absolut verstandenen Kennzeichnungspflicht auszugehen, sondern die Frage der Rechtssicherheit nach den rechtsstaatlichen Maßstäben zum Bestimmtheitsgrundsatz zu entscheiden.257 Solange sich Art und Tragweite der Abweichung und das Verhältnis des Bundesrechts zum Landesrecht zumindest durch Interpretation ermitteln lässt, ist den Mindestanforderungen an die Bestimmtheit und Klarheit des Rechts Genüge getan.258 Davon abgesehen löst ein ausdrückliches Zitiergebot auch nicht die hermeneutischen Probleme der Abweichungsgesetzgebung zufriedenstellend auf.259 Unbeantwortet bliebe, welche Rechtsfolgen eintreten, wenn eine Abweichung zitiert wird, obwohl es sich nicht um eine des Art. 72 Abs. 3 GG handelt, wie die Situation zu beurteilen wäre, wenn die Abweichung teilweise unvollständig kenntlich gemacht wird oder ob salvatorische Klauseln zulässig sind, die ein Gebrauchmachen bei unerwarteten Normenkollisionen fingieren260. Eine ungeschriebene Zitierpflicht würde zu einer Überforderung des Gesetzgebers führen, der sich zu jedem Zeitpunkt darüber im Klaren sein müsste, ob seine Regelung gerade eine Abweichung oder vielmehr ein allgemeines Gebrauchmachen im Sinne von Art. 72 Abs. 1 GG darstellt. Wie die vorangegangenen Kapitel verdeutlicht haben, kann sogar schon die Feststellung, ob eine Regelung überhaupt dem jeweiligen Kompetenztitel subsumiert werden kann, ein schwieriges Unterfangen sein.261 Die vor dem Hintergrund einer möglichen Nichtigkeit drohende Rechtsunsicherheit wäre vor dem Hintergrund der Normenklarheit nicht minder bedenklich.262 Dessen ungeachtet ist eine Kenntlichmachung der Abweichung (soweit es möglich ist) aus Gründen des Stils und der „politischen Verantwortlichkeit“263 rechtspolitisch durchaus zu begrüßen.264
257
Dazu Grzeszick, in: Maunz / Dürig, Art. 20 Rn. 58 ff. m. w. N. Reinhardt, AöR 135 (2010), 459 (484). 259 Zu solchen Fragen Zsinka, Das Zitiergebot bei der Abweichungsgesetzgebung, passim, die im Ergebnis eine Zitierpflicht begrüßt. 260 Dagegen Fischer-Hüftle, NuR 2007, 79 (80); Franzius, NVwZ 2008, 492 (495); HahnLorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 213. 261 Diese Schwierigkeiten verdeutlicht exemplarisch am Beispiel des Jagdrechts Sachs, in: Dietlein / Froese, Jagdliches Eigentum, § 5, S. 135 ff. 262 Zur Gefahr der Überforderung des Rechtsstaats und zu den Leistungsgrenzen der Gesetzgebung durch überstrenge Bestimmtheitsanforderungen Beaucamp, Rechtstheorie 42 (2011), 21 (45 ff.). 263 BT-Drs. 16/813, S. 11. 264 Schmidt-Jortzig, in: Härtel, Handbuch Föderalismus, Bd. 1, § 20 Rn. 19; Wollenschläger, in: BK, Art. 72 Rn. 450. In der Rechtspraxis trägt auch die Dokumentation der Abweichungen, etwa in dem Online-Dokumentationssystem „juris“ dazu bei, dass die Änderungen nachvollzogen werden können. Darüber hinaus haben sich die Länder in der Vergangenheit durchaus um eine Anwenderfreundlichkeit und Lesbarkeit zur Förderung der Normenklarheit bemüht und bieten in diesem Zusammenhang unter anderem auch Informationsbroschüren an, vgl. zu den unterschiedlichen Modellen Hofmann, DVBL 2020, 907 (909); v. Stackelberg, Die Abweichungsgesetzgebung, S. 166 f.; krit. hierzu Uhle, in: Maunz / Dürig, Art. 72 Rn. 286 f. 258
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
c) Grenzen der Abweichungsbefugnis und Kompetenzausübungsschranken Die weitgehenden Abweichungsbefugnisse der Länder haben die Sorge einer „Ping-Pong-Gesetzgebung“ und eines Kompetenzwirrwarrs entstehen lassen. Mehr als zehn Jahre nach der Föderalismusreform haben sich diese Befürchtungen nicht bestätigt. Zwar haben die Länder durchaus umfangreich – und teilweise nachbesserungsbedürftig265 – ihre Abweichungsbefugnisse ausgeschöpft266, insgesamt können die Erfahrungen aber als gelungen bewertet werden.267 Gleichwohl stellt sich die Frage, welchen Grenzen die Abweichungsgesetzgebung unterliegt. Diese Frage stellt sich umso dringender, wenn man – wie hier – von einem grundsätzlich unbegrenzten Abweichungstatbestand ausgeht. aa) Allgemeine Grenzen der Abweichungsgesetzgebung Einige Grenzen der Kompetenzausübung werden bereits durch Art. 72 Abs. 3 GG festgelegt. So gilt die „Sperre eines abschließenden Gebrauchs der Bundeskompetenz“ nicht für die abweichungsfesten Bereiche. Dadurch trägt der verfassungsändernde Gesetzgeber dem Anliegen Rechnung, dass grundlegende und übergeordnete Fragen der jeweiligen Abweichungsmaterie einheitlich und erschöpfend durch den Bundesgesetzgeber festgelegt werden können.268 Wird demgegenüber der Bund abweichend tätig, gilt für ihn die Sechs-Monate-Karenzzeitregelung. Soweit nicht mit Zustimmung des Bundesrates etwas anderes bestimmt ist, treten Bundesgesetze frühestens sechs Monate nach ihrer Verkündung in Kraft. Dieser „RetardEffekt“269 soll laut der Gesetzesbegründung die Gefahr „kurzfristig wechselnder Rechtsbefehle an den Bürger“ vermeiden.270 Dadurch ist es den Ländern möglich, in der Zwischenzeit vom verabschiedeten Bundesrecht abzuweichen und dem Anwendungsvorrang des Bundesrechts zuvorzukommen.271 Etwas anderes vertritt 265
Zum Beispiel beschreibt § 1 S. 1 Landesjagdgesetz Rheinland-Pfalz (LJG) vom 9. Juni 2010 GVBl S. 149) die Abweichung wie folgt: „Das Jagdwesen, ohne das Recht der Jagdscheine, bestimmt sich abweichend vom Bundesjagdgesetz in der Fassung vom 29. September 1976 (BGBl. I, S. 2849), zuletzt geändert durch Artikel 3 des Gesetzes vom 6. Dezember 2011 (BGBl. I, S. 2557), auf der Grundlage des Artikels 72 Abs. 3 in Verbindung mit Artikel 125 b Abs. 1 des Grundgesetzes ausschließlich nach diesem Gesetz.“ Worin sich das Landesjagdrecht vom Bundesjagdgesetz unterscheiden, wird dem Leser überlassen und ist aus Gründen der Bestimmbarkeit durchaus bedenklich. 266 Eine umfangreiche Darstellung findet sich bei H. P. Schneider, Der neue Bundesstaat, S. 597 ff. 267 So das Fazit bei H. P. Schneider, Der neue Bundesstaat, S. 745; ähnliche Einschätzung bei P. M. Huber, in: Kluth / K rings, Gesetzgebung, § 29 Rn. 35 ff.; Oeter, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 72 Abs. 3 Rn 127; krit. Erbguth, ZUR 2019, 195 (202). 268 Ausführlich zu den Einzelfragen der abweichungsfesten Bereiche Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 167 ff.; Schulze-Fielitz, NVwZ 2007, 249 (256 ff.). 269 Nach Klein / Schneider, DVBl 2006, 1549 (1552); vgl. auch Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 72 Rn. 50; Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 154. 270 BT-Drs. 16/813, S. 11. 271 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 72 Rn. 40; Herbst, in: Berliner Kommentar, Art. 72 Rn. 115.
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lediglich Stettner, der davon ausgeht, der Landesgesetzgeber müsse das Inkrafttreten des Bundesrechts abwarten, „um dann eine juristische Sekunde später sein dissentierendes Gesetz in Kraft zu setzen“272. Da aber nach Art. 72 Abs. 1 S. 1 GG bereits das „Gebrauchmachen“, also die Verabschiedung der Bundesregelung, die Abweichungsbefugnis der Länder auslöst, erscheint es vorzugswürdig, davon auszugehen, dass der Landesgesetzgeber dem Anwendungsvorrang des Bundes zuvorkommen kann.273 Abgesehen davon bestimmen sich Kompetenzausübungsschranken nach allgemeinem Recht. Die Länder agieren bei der Abweichungsgesetzgebung nicht in einem rechtsfreien Raum, sondern sind an das Grundgesetz und somit an Grundrechte (einschließlich des Vertrauensgrundsatzes) sowie an das Homogenitätsprinzip aus Art. 28 Abs. 1 GG gebunden. Ebenso ergibt sich der Rahmen der legislativen Tätigkeit aus den entsprechenden Landesverfassungen.274 Weiterhin unterliegen die umweltrechtlichen Abweichungsmaterien Bindungen aus dem Unionsrecht.275 bb) Bundestreue als ungeschriebene Kompetenzausübungsschranke Vor dem Hintergrund der befürchteten „Ping-Pong-Gesetzgebung“ wird auf die Bedeutung des Grundsatzes bundesfreundlichen Verhaltens hingewiesen. Mit dem Prinzip der Bundestreue, so die Hoffnung, könne einer unverantwortlichen Politik Grenzen gesetzt werden. (1) Allgemeines Mit der Bundestreue wird ein Rechtsverhältnis zwischen Bund und Länder im Bundesstaat bezeichnet.276 Der zugrundeliegende Gedanke ist die Bundessolidarität, welche Bund und Länder zur gemeinsamen Gemeinwohlsicherung verpflichtet. Die Bundestreue ist bereits seit dem Kaiserreich ein prägender Gedanke der Bundesstaatsdogmatik.277 Smend hat das Prinzip aus dem „Grundsatz der 272
Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 72 Rn. 50. Vgl. dazu schon Viertes Kapitel II. 3. b) aa) (1). 274 Franzius, NVwZ 2008, 492 (496). 275 Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 199 ff.; Uhle, in: Maunz / Dürig, Art. 72 Rn. 288 f. 276 Zur Konstruktion der Bundestreue anhand der Rechtsverhältnislehre Bauer, Die Bundestreue, S. 294 ff. Krit. zur gewählten Begrifflichkeit Ossenbühl, NVwZ 2003, 53, der statt „Bundestreue“ das Substantiv „Bündnistreue“ bevorzugt, um den wechselseitigen Charakter des Prinzips zu verdeutlichen. 277 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 39 ff.; Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 154 ff. Zur Entwicklung der Bundestreue Bauer, Die Bundestreue, S. 30 ff. 273
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Vertragstreue und der bundesfreundlichen Gesinnung“ abgeleitet.278 Hieran hat das Bundesverfassungsgericht schon früh angeknüpft. In seiner ersten maßgeblichen Entscheidung aus dem Jahr 1952 versteht es die Bundestreue als „Rechtspflicht des Bundes und aller seiner Glieder zu ‚bundesfreundlichem Verhalten‘“279. Es bestehe die verfassungsrechtliche Pflicht, „daß die Glieder des Bundes sowohl einander als auch dem größeren Ganzen und der Bund den Gliedern die Treue halten und sich verständigen.“280 Obgleich die Bundestreue nicht im Grundgesetz verankert ist, ist ihr ungeschriebener Verfassungsgrundsatz unbestritten. Die Bundestreue findet ihre Rechtsgrundlage in der Entscheidung des Verfassungsgebers, einen Bundesstaat zu errichten, der einerseits eine vertikal kompetenzteilige Aufteilung staatlicher Gewalt gewährleistet, andererseits aber unter der Voraussetzung „der Funktionsfähigkeit des Systems kompetenzgeteilter Staatlichkeit“281 steht.282 Der Gedanke der Bundestreue ist in einigen Vorschriften des Grundgesetzes und in den Geschäftsordnungen teilweise positiviert.283 Darüber hinaus konkretisiert sich die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten in einer Reihe von Einzelpflichten. Sie beinhaltet etwa die Rücksichtnahme auf „die finanziellen Auswirkungen eines Landesgesetzes für die Lasten der weniger leistungsfähigen Länder und für die Erhaltung des Haushaltsgleichgewichts dieser Länder und des Gesamtgefüges der öffentlichen Haushalte in Bund und Ländern“284. Aus der Bundestreue können unter Umständen auch Unterlassungs-, Hilfs- und Kooperationspflichten folgen.285 Bestimmte Informationspflichten bestehen etwa im Bereich der auswärtigen Gewalt, wo Bund und Länder besondere gegenseitige Treuepflichten haben.286 Von besonderer Bedeutung ist darüber hinaus die Ausprägung als Kompetenzausübungsschranke.287 Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht, dass ein Verstoß gegen die Bundestreue noch nicht darin zu erblicken sei, dass der Bund oder ein Land „von einer ihm durch das Grundgesetz eingeräumten Kompetenz Gebrauch macht“, vielmehr müsse die 278 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 50. Zur Kritik an der Ableitung der Bundestreue aus monarchisch geprägter Begriffstradition Bauer, Die Bundestreue, S. 228 ff. 279 BVerfGE 1, 299 (315). Die Entwicklung der Bundestreue durch das Bundesverfassungsgericht wird von Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 213 ff. nachgezeichnet. 280 BVerfGE 1, 299 (315). 281 Abw. Meinung der Richter Di Fabio und Mellinghoff, in: BVerfGE 104, 249, 273 (282). 282 Jestaedt, in: HStR II, § 29 Rn. 73. Grundlegend zur Notwendigkeit der Bundestreue für die Wahrung der Funktionsfähigkeit des Bundesstaats Bayer, Die Bundestreue, S. 43; G. Müller, in: FS Kiesinger, S. 218; zust. Unruh, EuR 2002, 41 (52 f.). 283 Zum Beispiel in Art. 23 IV, V und VI GG; Art. 29 II 2 GG; Art. 32 II GG; Art. 35 GG; Art. 36 GG; Art. 53 S. 3 GG; Art. 76 II GG; Art. 106 VIII 1 GG; Art. 115c III GG; siehe auch §§ 43, 96 V GOBT, § 31 GOBreg. 284 BVerfGE 32, 199 (218); 12, 205 (254). 285 Stern, Staatsrecht I, S. 702. 286 BVerfGE 6, 309 (361 f.). 287 Grundlegend Bayer, Die Bundestreue, S. 65; vgl. ferner Bauer, Die Bundestreue, S. 355 ff.; Stern, Staatsrecht I, S. 703.
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Inanspruchnahme der Kompetenz missbräuchlich sein oder gegen prozedurale Anforderungen verstoßen.288 Hieraus erwachsen bestimmte Rücksichtnahmepflichten auf die Belange der anderen289, die sich nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts sogar zu Unterlassungspflichten steigern können. Eine solche Pflicht könne in Betracht gezogen werden, „wenn zwischen dem Bund und dem Land ein konkretes verfassungsrechtliches Verhältnis bestünde, aus dem sich ein Recht des Bundes ergäbe, von dem der Bund in Rücksicht auf die Pflicht zu bundestreuem Verhalten einen bestimmten Gebrauch nicht machen darf oder auf Grund dessen der Bund in bestimmter Weise vorgehen muß“.290 In der Verfassungspraxis hat die Bundestreue vor allem im Rechtsverhältnis der Bundesauftragsverwaltung Bedeutung erlangt. Die Pflicht zu gegenseitiger Rücksichtnahme gebiete, „daß der Bund grundsätzlich – d. h. außer bei Eilbedürftigkeit – vor Weisungserlaß dem Land Gelegenheit zur Stellungnahme gibt und dessen Standpunkt erwägt. Sie bedeutet hingegen nicht, daß der Bund sich um ein Einvernehmen mit dem Land bemühen muß, bevor er zum Mittel der Weisung greift. Denn der Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens ändert nichts an der im Grundgesetz festgelegten Kompetenzverteilung.“291 (2) Akzessorischer Charakter der Bundestreue Das Prinzip der Bundestreue steht in einem Spannungsverhältnis zur staatlichen Eigenverantwortlichkeit. Bund und Länder haben das Recht, ihre kompetenzrechtlich zugewiesenen Angelegenheiten eigenverantwortlich wahrzunehmen.292 In Anbetracht der vielen Facetten der Bundestreue erscheint es deshalb angezeigt, die Grenzen des Prinzips der Bundestreue zu betonen. Das Verständnis hat vor allem vom akzessorischen Charakter auszugehen.293 Die Bundestreue begründet nicht alleine Rechte und Pflichten, sondern kommt nur innerhalb bestehender Rechtsverhältnisse ins Spiel.294 Insbesondere hat das Prinzip der Bundestreue keinen kompetenzbegründenden Charakter, sondern setzt vorhandene Befugnisse voraus.295 Gegen den Grundsatz der Bundestreue könne nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ein Land nur verstoßen durch 288
So explizit BVerfGE 81, 310 (337); ferner BVerfGE 14, 197 (215); 106, 1 (27). BVerfGE 34, 216 (332); 4, 115 (140); vgl. ferner Hanschel, in: Konfliktlösung im Bundesstaat, S. 78. 290 BVerfGE 21, 312 (326). 291 BVerfGE 81, 310 (337). 292 Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 124 f. 293 BVerfGE 13, 54 (75 f.); 42, 103 (117); 110, 33 (52); dazu ausführlich Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 166; krit. zur Akzessorietätsthese Bauer, Die Bundestreue, S. 335 ff. 294 Jarass, Kartellrecht und Landesrundfunkrecht, S. 46. 295 BVerfGE 81, 310 (337); Bayer, Die Bundestreue, S. 63; Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 77; Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 166; Jestaedt, in: HStR II, § 29 Rn. 75. 289
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die Art und Weise, wie es von einer ihm eingeräumten Kompetenz und innerhalb des Raumes, den ihm das geltende Recht belässt, Gebrauch macht. „Es darf nach diesem Grundsatz davon nur so Gebrauch machen, daß es die Belange des Gesamtstaates und die Belange der anderen Länder nicht in unvertretbarer Weise schädigt oder beeinträchtigt.“296 Weiter ist zu berücksichtigen, dass die Bundestreue selbst noch keine subsumtionsfertige Norm darstellt, sie stellt zwar mit ihrem Gebot der Rücksichtnahme eine Handlungsdirektive dar, bedarf aber als Generalk lausel der Konkretisierung.297 Sie ist zugleich gegenüber bereits konkreten Regelungen subsidiär.298 Dort, wo geschriebene Regelungen bereits bestehen, ist der Rückgriff entbehrlich, methodisch auch falsch. Das Prinzip der Bundestreue hat gegenüber der bundesstaatlichen Grundstruktur einen dienenden Charakter und soll dort Anwendung finden, wo die Rechtsbeziehungen zwischen Bund und Ländern noch nicht hinreichend verfassungsrechtlich geregelt sind; für diese Fälle hat es eine lückenfüllende Funktion.299 Hat das Grundgesetz auf bestimmte Probleme bereits Antworten gefunden und Regelungen getroffen, die zwischen den Interessen des Bundes und der Länder vermitteln, so kann das Prinzip diese Kompromissfindung nicht aushebeln. Nicht zuletzt hat die Bundestreue objektivstaatsrechtlichen Charakter; die Frage eines konkreten Missbrauchs hängt nicht von der Böswilligkeit ab.300 Insgesamt ist die Bundestreue im rechtstheoretischen Sinne als ein Prinzip, d. h. als Optimierungsgebot, nicht als Regel einzuordnen.301 Damit geht einher, dass es nicht selbst Lösungen vorgibt, sondern auf materielle oder prozedurale Instrumentarien zur Konfliktlösung ausgerichtet ist. Das Prinzip ist in hohem Maße konkretisierungsbedürftig.302 Aus diesem Grund hat das Bundesverfassungsgericht die Überprüfung staatlichen Handelns anhand des Grundsatzes bundesfreund lichen Verhaltens oft auf eine Evidenzkontrolle, also auf die „Einhaltung äußerster Grenzen“303 beschränkt.304
296
BVerfGE 34, 9 (44). Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 166. 298 Bauer, Die Bundestreue, S. 371 ff.; Jestaedt, in: HStR II, § 29 Rn. 75. 299 Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 166. 300 BVerfGE 8, 122 (140): „Die Feststellung der Verletzung der Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten setzt auch nicht den Nachweis einer ‚Treulosigkeit‘ oder der Böswilligkeit des Landes voraus. Sie impliziert überhaupt keinen ‚Vorwurf‘. Es geht ausschließlich um die Klärung eines objektiven Begriffs des Verfassungsrechts“; vgl. auch Bauer, Die Bundestreue, S. 337; Jestaedt, in: HStR II, § 29 Rn. 74; Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 208; Maurer, Staatsrecht, § 10 Rn. 53. 301 Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 165. Zur Unterscheidung von Regeln und Prinzipien Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 71 ff. 302 Jestaedt, in: HStR II, § 29 Rn. 77. 303 BVerfGE 4, 115 (141); vgl. auch BVerfGE 81, 310 (337); 104, 249 (270). 304 Krit. zu dieser Beschränkung Bauer, Die Bundestreue, S. 339 f. 297
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(3) Eingeschränkte Anwendbarkeit der Bundestreue auf dem Gebiet der Abweichungsgesetzgebung Nach diesen Voraussetzungen kann das Prinzip auch im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung relevant werden, es ist jedoch auf eine allgemeine Missbrauchsschranke begrenzt. Ab wann genau ein solcher Missbrauch vorliegt, kann indes nicht ohne Weiteres und vor allem nicht ohne Anschauungsmaterial beurteilt werden. Die Bedeutung der Bundestreue wird in diesem Bereich also auf die „Einhaltung äußerster Grenzen“ beschränkt sein. Darüber hinaus kann der Bundestreue keine Verpflichtung entnommen werden, die Bund und Länder zwingen würde, von der Abweichungsbefugnis einen bestimmten Gebrauch zu machen. Ebenso kann ihr – abgesehen von einer allgemeinen Missbrauchsschranke – keine Unterlassungspflicht entnommen werden, von bestimmten Vorschriften nicht abzuweichen.305 Das Prinzip der Bundestreue eignet sich also nicht, eine gegebenenfalls gemeinwohlschädliche „Ping-PongGesetzgebung“ zu verhindern. Nach dem Konzept der Abweichungsgesetzgebung haben Bund und Länder die Befugnis, ihre eigenen Konzepte gegenüber dem anderen Kompetenzträger durchzusetzen. Deshalb liegt in der Behauptung des eigenen Anwendungsvorrangs nicht ohne Weiteres ein Missbrauch; das Prinzip der Bundestreue kann folglich nicht genutzt werden, um kompetenzgemäßes Handeln zu überspielen.306 Anders als bei Art. 72 Abs. 1 GG nimmt der verfassungsändernde Gesetzgeber im eng umgrenzten – wenn auch politisch und rechtlich durchaus bedeutsamen – Feld der Abweichungsgesetzgebung die Gefahr „widersprüchlicher Regelungskonzeptionen“ in Kauf und relativiert sie nur dadurch, dass Normkollisionen nach dem Prinzip des Anwendungsvorrangs aufgelöst werden.307 Trotz der Hinweise auf mögliche Normkomplikationen im Vorfeld der Föderalismusreform hat sich der verfassungsändernde Gesetzgeber dagegen entschieden, der inhaltlichen Ausübung des Art. 72 Abs. 3 GG einen Kompetenzausübungsrahmen zu setzen. Daraus folgt, dass es innerhalb des Anwendungsbereichs verfassungspolitisch sogar erwünscht ist, von Bundesrecht abzuweichen. Auch ist zu berücksichtigen, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber für grundlegende Belange durchaus die Voraussetzungen für eine einheitliche Rechtssetzung geschaffen hat, indem er in den Nummern 1, 2, 5 und 6 abweichungsfeste Sektoren eingefügte. Daneben ist in Art. 72 Abs. 3 S. 2 GG normiert, dass Bundesrecht mit Zustimmung des Bundesrats auch vorzeitig in Kraft treten kann. Nach alledem
305
Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 72 Rn. 43; ders., in: Heintzen / U hle, Neuere Entwicklungen im Kompetenzrecht, S. 74; Franzius, NVwZ 2008, 492 (496); Herbst, in: Berliner Kommentar, Art. 72 Rn. 113; Zsinka, Das Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung, S. 237 f.; a. A. Schulze-Fielitz, NVwZ 2007, 249 (254); Mammen, DÖV 2007, 376 (378). 306 Franzius, NVwZ 2008, 492 (496); Zsinka, Das Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung, S. 237 f. 307 So auch Degenhart, in: Heintzen / U hle, Neuere Entwicklungen im Kompetenzrecht, S. 74.
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enthält die Abweichungsgesetzgebung durchaus Vorkehrungen, die politisch unerwünschte Nebeneffekte abmildern. Vor dem Hintergrund der Subsidiarität der Bundestreue besteht somit kein Raum für eine weitere ungeschriebene Kompetenzausübungsschranke, die darauf ausgerichtet ist, die in Art. 72 Abs. 3 GG enthaltene bundesstaatliche Interessenabwägung zunichte zu machen. Nicht zuletzt hat der Bund das Recht zur verfassungsändernden Gesetzgebung, sollten sich zukünftig gemeinwohlschädliche Effekte der Abweichungsgesetzgebung zeigen. Abgesehen davon dürfte eine völlig unverantwortliche und missbräuchliche „Ping-Pong-Gesetzgebung“ ohnehin allenfalls in Ausnahmefällen befürchtet werden. Das liegt an vier Gründen: Erstens sind die Materien der Abweichungsgesetzgebung aus politischer Sicht keine „Wahl- und Symbolthemen“, die eine unvernünftige Politik erwarten lassen.308 Zweitens hat der verfassungsändernde Gesetzgeber durch Festlegung abweichungsfester Bereiche dafür gesorgt, dass die grundlegenden Fragen durch den Bundesgesetzgeber erschöpfend geregelt werden können. Angesichts dessen ist der Spielraum einer Abweichungsgesetzgebung ohnehin begrenzt. Drittens beschränken ebenso unionsrechtliche Bindungen den Spielraum einer Abweichungsgesetzgebung, so dass die Möglichkeiten und auch der politische Wille, stur und ohne Kompromisswillen eigene Konzepte durchzusetzen, beschränkt sein dürfte.309 Und viertens dürfte sich der Bund grundsätzlich im Klaren sein, dass er, abgesehen von der Möglichkeit einer verfassungsändernden Gesetzgebung, bei einer „Ping-Pong-Gesetzgebung“ nicht als Sieger hervorgehen wird. Dies liegt an der Sechs-Monate-Karenzzeit-Regelung (Art. 72 Abs. 3 S. 2 GG), welche die Länder berechtigt, innerhalb dieser Zeit, abweichende Regelungen zu treffen.310 Aus diesen Gründen dürften die Anreize für einen vollkommen unverantwortlichen Umgang mit der Abweichungsgesetzgebung sowohl des Bundes als auch der Länder eher als gering einzuschätzen sein, so dass auch zukünftig davon auszugehen ist, dass alle Akteure in den politisch umstrittenen Fällen durchaus kooperations- und kompromissbereit sein werden. Sollte es dennoch einmal zum „Hin- und Her zwischen Bundes- und Landesgesetzgeber“311 kommen, so ist darin grundsätzlich kein Missbrauch, sondern die Bestätigung einer funktionsfähigen Abweichungsgesetzgebung zu sehen. Nicht anwendbar ist die Bundestreue im Übrigen auch im Lichte der Umsetzung europäischen Rechts.312 Dies würde verkennen, dass sowohl der Bund als auch die Länder verpflichtet sind, im Rahmen der eigenen Zuständigkeiten unionskon 308
Stettner, in: Dreier, GG, Supplementum, Art. 72 Rn. 49. Stettner, in: Dreier, GG, Art. 72 Rn. 49. Zu den Problemen der unionsrechtlichen Umsetzung Chandna, Das Abweichungsrecht der Länder, passim; Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, S. 199 ff. 310 So auch Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, S. 170; Oeter, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 72 Abs. 3 Rn. 127. 311 Häde, JZ 2006, 930 (932). 312 So aber Schulze-Fielitz, NVwZ 2007, 249 (254); Seiler, in: BeckOK GG, Art. 72 Rn. 24.4; dagegen Wollenschläger, in: BK, Art. 72 Rn. 437. 309
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form zu handeln. Außerdem kann die Außenbindung gegenüber der Europäischen Union nicht auf die Innenbeziehung zwischen Bund und Länder durchschlagen.313 4. Zusammenfassung Auf dem Gebiet der konkurrierenden Gesetzgebung teilen sich Bund und Länder dieselbe Kompetenz. Das damit verbundene Konkurrenzverhältnis lässt das Grundgesetz aber nicht unbeantwortet; es stellt in Art. 72 GG ein abgestuftes und differenziertes System der Normkonfliktlösung bereit. Der zentrale Fixpunkt der konkurrierenden Gesetzgebung ist Art. 72 Abs. 1 GG. Danach sind die Länder nur zur Gesetzgebung berechtigt, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat. Das Verhältnis zwischen Bund und Ländern ist somit ein alternativ-ausschließliches.314 Art. 72 Abs. 1 GG verhindert das Nebeneinander von Bundes- und Landesrecht und somit das Auftreten echter Normkonkurrenzen. Im Unterschied zu Art. 31 GG stellt Art. 72 Abs. 1 GG nicht auf das Vorhandensein einer konkreten Normkollision ab. Auf einer vorgelagerten Ebene ist Landesrecht ausgeschlossen, solange und soweit der Bundesgesetzgeber eine bestimmte Frage erschöpfend geregelt hat. Hinter der Norm steht der Gedanke des Schutzes eines abgeschlossenen Ordnungsmodells. Innerhalb eines abgeschlossenen Ordnungsmodells sperrt Art. 72 Abs. 1 GG ergänzendes Landesrecht und verhindert dadurch umfassend die Entstehung widersprüchlicher Regelungskonzeptionen. Ein entscheidendes Indiz für ein abgeschlossenes Ordnungsmodell ist der Kompromisscharakter einer Regelung innerhalb eines Konzepts. Ein Kompromiss lässt jedenfalls dann den abschließenden Charakter erkennen, wenn weitere ergänzende oder modifizierende Regelungen das Ergebnis der Interessenabwägung wieder zunichtemachen würden. Hieraus erklärt sich auch die Sperrwirkung des absichtsvollen Regelungsverzichts. Hat der Bundesgesetzgeber ein Ordnungsmodell entworfen, das durch abschließende Kompromisse oder durch gezielte Eingrenzungen geprägt ist, so ist den Ländern ein eigenes Tätigwerden im Anwendungsbereich des Ordnungsmodells versperrt. Ergänzende, modifizierende, verstärkende oder abschwächende Normierungen sind ihnen folglich untersagt. 313
Vgl. dazu schon Erstes Kapitel V. 4. Eine Pflicht der Länder aus dem Prinzip der Bundestreue, Unionsrecht mit Rücksicht auf den Bund zu beachten, ließe sich zwar insofern begründen, als dass der Bund die Bundesrepublik als solche gegenüber der Europäischen Union vertritt. Die Verantwortung nach außen ist aber von der Verantwortung im Inneren zu unterscheiden. Diese trägt alleine der zuständige Kompetenzträger. Auch die Lastentragung auf sekundärer Ebene ist im Innenverhältnis der Bundesrepublik durch Art. 104a VI GG abschließend geregelt. Folglich ist das Prinzip der Bundestreue nicht der geeignete Hebel, um ein unionskonformes Handeln zu erzwingen; a. A. Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 220. 314 März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 144; Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 314.
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Ist die Struktur der konkurrierenden Zuständigkeit im Grundsatz die einer alternativ-ausschließlichen Zuständigkeit, so hat der verfassungsändernde Gesetzgeber diese Kompetenzverteilung mit der Einführung der Abweichungsgesetzgebung um eine „parallele Zuständigkeit“315 erweitert. Im Unterschied zu Art. 72 Abs. 1 GG hat der Bundesgesetzgeber auf diesem Gebiet nicht die Macht, seine abgeschlossenen Ordnungsmodelle mit einer Sperrwirkung auszustatten; bei der Abweichungsgesetzgebung ist der abschließende Gebrauch selbst gesperrt.316 Dahinter steht das Anliegen des verfassungsändernden Gesetzgebers, den Ländern zu ermöglichen, „abweichend von der Regelung des Bundes eigene Konzeptionen zu verwirklichen und auf ihre unterschiedlichen strukturellen Voraussetzungen und Bedingungen zu reagieren“.317 Hierdurch werden die Länder auf dem tatbestandlich umgrenzten Feld der (konkurrierenden) Abweichungsgesetzgebung zu gleichberechtigten Gesetzgebern. In diesem Sinne ist der Tatbestand der Abweichung weit zu verstehen. Er beinhaltet, abgesehen von den Bereichsausnahmen, ein vollständiges und im Umfang unbegrenztes Zugriffsrecht der Länder auf die Abweichungsgesetzgebung. Zwar relativiert der Anwendungsvorrang (Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG) des später verkündeten Rechts die eintretenden Normkonflikte, es schließt aber nicht aus, dass die Gemengelage zwischen Bundesrecht und Landesrecht jedenfalls partiell widersprüchliche Regelungskonzeptionen verursacht. Ist nach Art. 72 Abs. 1 GG schon der Anschein eines Widerspruchs ausgeschlossen, so nimmt der verfassungsändernde Gesetzgeber auf dem Feld der Abweichungsgesetzgebung diese Gefahr zugunsten eines auf Innovation, Regionalität und Wettbewerb ausgerichteten Systems billigend in Kauf. Hieraus wird ersichtlich, dass eine „Einheit der Rechtsordnung“ nicht notwendigerweise verfassungsrechtlich umgesetzt werden muss. Der verfassungsändernde Gesetzgeber kann sich ebenso aus anderen vertretbaren Gründen dazu entscheiden, ein System zu statuieren, das zwar keine Normwidersprüche anstrebt, aber mit ihren Existenzen leben kann. Normkonflikte – dies lässt sich festhalten – sind nicht zwingend aufzulösen. Aus diesem Grund kann auch das Prinzip der Bundestreue etwaige Normkonflikte im Bereich der Abweichungsgesetzgebung nur begrenzt verhindern, es ist nur als eine allgemeine Missbrauchsschranke anwendbar und ist beschränkt auf die Einhaltung der „äußersten Grenzen“. Von derartigen Extremfällen abgesehen, sind in Art. 72 Abs. 3 GG ausreichende Konfliktschlichtungsmodelle enthalten, die einen gemeinwohlschädlichen Gebrauch der Abweichungsgesetzgebung zu verhindern imstande sind. Darüber hinausgehende Komplikationen bei der Abweichungsgesetzgebung sind entsprechend dem Anliegen, einen Wettbewerb der Konzepte zu ermöglichen, hinzunehmen.
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Hahn-Lorber, Parallele Gesetzgebungskompetenzen, passim. Germann, in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 84, 85 GG Rn. 37. 317 BT-Drs. 16/831, S. 11. 316
III. Schranken übergreifender Kompetenzausübungen
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III. Schranken übergreifender Kompetenzausübungen und widersprüchlicher Regelungskonzeptionen 1. Entstehung widersprüchlicher Regelungskonzeptionen Widersprüchliche Regelungskonzeptionen318 können im Bundesstaat entstehen, wenn Bund und Länder einen vergleichbaren oder auch identischen Gegenstand ausgehend von unterschiedlichen Gesetzgebungskompetenzen gestalten. Es handelt sich gewissermaßen um Fälle eines doppelten kompetenziellen Zugriffs.319 Die damit einhergehenden Regelungskumulationen320 geraten dann in einen Konflikt, wenn „sich Normen verschiedener Gesetzgeber mit grundsätzlich verschiedenen Regelungszielen und jeweils eigenständigen Kompetenzgrundlagen bei der Verwirklichung ihrer Rechtsfolgen behindern“321. Der Hintergrund dieses Phänomens liegt in der Art und Weise, wie das Verfassungsrecht Doppelkompetenzen zu vermeiden versucht. Zwar lassen sich chamäleonartige Regelungen (d. h. Regelungen, die verschiedene Kompetenzmaterien berühren) im Hinblick auf den objektivierten Willen des Gesetzgebers schwerpunktmäßig einer Kompetenznorm „eindeutig“ zuordnen322, sie können aber gleichwohl Wirkungen zeitigen, die in andere Zuständigkeiten ausstrahlen.323 So liegt der Fall bei Regelungen im Sachzusammenhang, die stets auf eine fremde Materie übergreifen. Im übergreifenden Schnittstellenbereich zwischen der punktuellen Inanspruchnahme der fremden Materie und der Sachregelung des im allgemeinen Kompetenzbereich betroffenen Sachgesetzgebers können sich die Normen inhaltlich widersprechen. Widersprüchliche Regelungskonzeptionen sind ferner beim Aufeinandertreffen von Steuergesetzgebung und Sachgesetzgebung denkbar. Lenkende Steuern, die nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich aus der Steuergesetzgebungskompetenz folgen324, können im Hinblick auf ihre verhaltensbeeinflussende Zielrichtung Wirkungen zeitigen, die sachgesetzlichen Konzepten zuwiderlaufen. Die beiden genannten Beispiele sind nicht abschließend. Disparitäten können sich etwa auch im Bereich der Neuen Medien325, im Verhältnis des ärztlichen Berufsrechts zum Vertragsarztrecht326, im Hinblick auf die Tätigkeit des Strafgesetz 318
Begriff nach Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat. Kluth / Schulz, Konvergenz und regulatorische Folgen, S. 60. 320 Drittes Kapitel V. 321 Huthmacher, Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts bei indirekten Kollisionen, S. 140; Jarass, Kartellrecht und Landesrundfunkrecht, S. 40. 322 Zu den Anforderungen insgesamt Drittes Kapitel. 323 Jarass, Kartellrecht und Landesrundfunkrecht, S. 40. 324 BVerfGE 98, 106 (117). 325 Kluth / Schulz, Konvergenz und regulatorische Folgen, S. 57 ff. 326 Pestalozza, GesR 2006, 389 ff.; Prehn, MedR 2015, 560 ff. Wertungswidersprüche im Bereich des ärztlichen Berufsausübungsrechts der Länder (bzw. der Kammern) und dem bundesgesetzlich geregelten Vertragsarztrecht können allerdings reduziert werden, wenn man es dem Bundesgesetzgeber versagt, unter dem Deckmantel der Sozialversicherung (Art. 74 I Nr. 12 GG) spezifisch ärztliches Berufsausübungsrecht zu normieren, vgl. Bristle, in: Sodan, 319
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
gebers327 oder im Überschneidungsbereich zwischen präventiver und repressiver Polizeitätigkeit328 ergeben. Widersprüchliche Regelungskonzeptionen sind immer dann denkbar, wenn eine Regelung mindestens zwei Kompetenzmaterien berührt, die von unterschiedlichen Kompetenzträgern wahrgenommen werden können.329 2. Unterscheidung von Normwidersprüchen und Wertungswidersprüchen Widersprüchliche Regelungskonzeptionen sind Wertungswidersprüche und von Normwidersprüchen abzugrenzen.330 Normwidersprüche (oder auch logische Widersprüche) liegen dann vor, wenn zwei Normen für denselben Sachverhalt einander ausschließende Rechtsfolgen anordnen.331 In einem solchen Fall ist der Anwendungsbereich von Art. 31 GG aktiviert. Die Kollisionsnorm hinweggedacht, müssen die Normen des Bundes- und Landesrechts auf einen zumindest teilidentischen332 Sachverhalt anwendbar sein und bei ihrer Anwendung zu unterschiedlichen Rechtsfolgen führen.333 Begrifflich liegt eine Normkollision vor. Wie bereits erläutert, kommen solche Fälle selten vor. Das liegt an drei Gründen: Erstens ist die Kompetenzordnung grundsätzlich darauf ausgerichtet, die Zuständigkeiten überschneidungsfrei an Bund und Länder zu verteilen.334 Zweitens lassen sich „Doppelkompetenzen“ mithilfe von Schwerpunktformeln vermeiden.335 Und drittens setzt der Anwendungsbereich von Art. 31 GG voraus, dass zwei gültige und anwendbare Normen im logischen Widerspruch stehen. Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung vermeidet jedoch schon Art. 72 GG die Kollision zweier Normen unterschiedlichen föderalen Ursprungs. Dementsprechend wird es nur selten zu echten Normwidersprüchen kommen. Gleichwohl sind sie möglich. Man denke etwa an eine Baumschutzsatzung, die das Fällen von Bäumen verbietet, während das private Baurecht einen Anspruch auf das Beseitigen von Bäumen an der Grundstücksgrenze gewährt.336 An diesem Beispiel verdeutlicht sich der klassische Anwendungsfall eines Normwiderspruchs: zwei kollidierende Normen müssen zwei Handbuch des Krankenversicherungsrechts, § 17 Rn. 84; Butzer, NZS 2005, 344 (347); Sodan, NZS 2001, 169 (171); weniger krit. Clemens, in: Quaas / Zuck / Clemens, Medizinrecht, § 18 Rn. 32 ff. Entscheidend ist, dass die Kriterien des Sachzusammenhangs ernst genommen werden, dazu Butzer, MedR 2004, 177 (179 ff.). 327 Gärditz, Strafprozeß und Prävention, S. 240 ff. 328 Denninger, in: Lisken / Denninger, Handbuch des Poliezeirechts, D Rn. 171 ff. und Rn. 192. 329 Weitere Beispiele bei Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen, S. 57 ff. 330 Dazu Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, S. 38 ff. (Normwidersprüche) und S. 51 ff. (Wertungswidersprüche); Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, S. 377 ff. 331 Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, S. 39 f.; Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 155; siehe auch Wiederin, Rechtstheorie 21 (1990), 311 ff. 332 Dreier, in: ders., GG, Art. 31 Rn. 38; Pietzcker, in: HStR VI, § 134 Rn. 55. 333 BVerfGE 36, 342 (363); 96, 345 (364); 98, 145 (159); 121, 317 (348). 334 Erstes Kapitel V. 2. 335 Drittes Kapitel, vor allem Drittes Kapitel II. 1. 336 Beispiel nach Jarass, VVDStRL 50 (1991), 238 (261).
III. Schranken übergreifender Kompetenzausübungen
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miteinander unvereinbare Normbefehle begründen.337 Als Test für das Vorliegen eines Normwiderspruchs bietet sich folgende Frage an: Impliziert die Befolgung einer der beiden Normen – also die Setzung des in ihr als gesollt beschriebenen Akts – die Verletzung der jeweils anderen Norm?338 Sind die Rechtsfolgen zweier Normen miteinander vereinbar, so können sie gleichwohl gegenläufige Wirkungen erzeugen, weil sich die zugrundeliegenden Wertungen widersprechen. In diesem Falle spricht man von Wertungswidersprüchen (teleologische Widersprüche).339 Im Unterschied zu Normwidersprüchen, die im Hinblick auf den Normbefehl relevant sind, beziehen sich Wertungswidersprüche nicht auf die Anwendbarkeit, sondern auf die hinter der Norm stehende teleologische Bewertung. Solche Zielkonflikte340 zwischen Bundes- und Landesrecht verhindert Art. 31 GG nach überwiegender Auffassung nicht, da sein Tatbestand eine Normkollision voraussetzt.341 Widerspricht sich Bundesrecht und Landesrecht lediglich, ohne im Hinblick auf einen zumindest teilidentischen Regelungsgegenstand miteinander unvereinbare Normbefehle zu enthalten, so ist Art. 31 GG außerstande, die Normkonflikte zu lösen.342 Der Unterschied von Wertungswidersprüchen zu Normwidersprüchen wird in der Diskussion um die strafrechtliche Bewertung des polizeilichen Schusswaffengebrauchs sichtbar. Die landesrechtlichen Vorgaben, die den polizeilichen Schusswaffengebrauch nach öffentlich-rechtlichen Maßstäben rechtswidrig bewerten, betreffen nicht dasselbe Problem wie die strafrechtliche Rechtmäßigkeit des Schusswaffengebrauchs nach § 32 StGB. Während im Landesrecht die polizeirechtliche Bewertung im Vordergrund steht, geht es in der Frage der Notwehr um die strafrechtlichen Konsequenzen.343 Die Unterscheidung von Normwiderspruch und Wertungswiderspruch wird deshalb für wichtig erachtet, weil in der Methodenlehre einhellig davon ausgegangen wird, dass Normwidersprüche beseitigt werden müssen, „sei es dadurch, daß einer Norm der Vorrang zuerkannt wird, sei es dadurch, daß beide eingeschränkt werden, 337
Pietzcker, in: HStR VI, § 135 Rn. 56. So Wiederin, Rechtstheorie 21 (1990), 311 (318) unter Verweis auf Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, S. 99. 339 Jarass, AöR 126 (2001), 588 (592); Lücke, ZG 2001, 1 (17). Das Recht als teleologische Ordnung beschreibt bereits Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 41. 340 Wiederin, Rechtstheorie 21 (1990), 311 (321). 341 Bumke, ZG 1999, 376 (383); Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 309 f.; Jarass, AöR 126 (2001), 588 (594); Rodi, StUW 1999, 105 (114); a. A. P. M. Huber, in: Sachs, GG, Art. 31 Rn. 30, der im Falle des Zusammentreffens von Sach- und Steuergesetzgebungskompetenzen wie im Falle der kommunalen Verpackungssteuer (BVerfGE 98, 106) Art. 31 GG anwenden möchte mit der Folge, dass Bundesrecht Landesrecht bricht; ähnlich, allerdings nur, wenn auf einer vorgelagerten Ebene Kompetenzausübungsschranken versagen auch Dreier, in: ders., GG, Art. 31 Rn. 58, der diese Fälle als „Doppelkompetenzen“ qualifiziert; dagegen Drittes Kapitel II. 3. a). 342 Bernhardt / Sacksofsky, in: BK, Art. 31 Rn. 53; Hellermann, in: BeckOK GG, Art. 31 Rn. 13; Rodi, StuW 1999, 105 (114). 343 Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 177. 338
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
da es logisch undenkbar ist, daß einander ausschließende Rechtsfolgen nebeneinander eintreten“344. Wertungswidersprüche hingegen sollten zwar möglichst durch Auslegung vermieden werden, treten sie aber auf, dann widerspricht dies zwar einer guten Gesetzgebung345, gleichwohl müssen diese hingenommen werden.346 Dahinter steht der Gedanke, dass eine „Einheit der Rechtsordnung“ nicht erzwungen werden kann: Sie ist zwar erstrebenswert, kann aber nur annäherungsweise verwirklicht werden.347 „Die Einheit der Rechtsordnung im Sinne ihrer Widerspruchsfreiheit und Lückenlosigkeit [kann] nur eine Chimäre sein“.348 Politik ist keine Gesetzgebung aus einem Guss; in einer ausdifferenzierten Rechtsordnung sind sämtliche Regelungen Resultate vielfältiger Kontroversen und politischer Kompromisse, auch können sie aus zeitlich unterschiedlichen Zusammenhängen und Kontexten stammen.349 Gleichwohl können Wertungswidersprüche im Bundesstaat problematisch sein. Strahlen Bundesgesetze auf das Landesrecht aus, so können sie landesgesetzliche Konzepte stören und vereiteln. Die damit einhergehende Verflechtung rechtlicher Konzepte kann einerseits zu einer Handlungsunfähigkeit von Bund und Ländern führen, andererseits auch aus rechtsstaatlicher Sicht bedenklich sein. „Verdoppeln“ sich die kompetenziellen Zugriffe, so kann dies unter Umständen die Rechtslage verunklaren und zu einer Mehrfachbelastung des Bürgers führen. Nicht zuletzt können widersprüchliche Regelungskonzeptionen auch private Dispositionen vereiteln, die im Vertrauen auf eine Rechtslage getätigt worden sind. Übergreifende Kompetenzausübungen sind somit nicht nur bundesstaatlichen, sondern auch rechtsstaatlichen Bedenken ausgesetzt.350 Zu fragen ist also, ob und in welchem Umfang Kompetenzausübungsschranken konstruiert werden können, um widersprüchliche Regelungskonzeptionen zu verhindern. 344
Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 155; vgl. ferner zur Klärung von Gesetzeskonkurrenzen Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, Rn. 770. 345 Zur Rationalität der Gesetzgebung Kluth, in: ders. / K rings, Gesetzgebung, § 1 Rn. 76 ff.; Reyes y Ráfales, Rechtstheorie 45 (2014), 35 ff.; umfassende Darstellung bei Steinbach, Rationale Gesetzgebung, passim. 346 Grundlegend Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 67 ff.; ebenso Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 155 ff. 347 Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 155. Grundlegend auch Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, passim. 348 Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, 1995, S. 197; F. Müller, Die Einheit der Verfassung, S. 106; diff. Felix, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 396 ff., die zwar einen verfassungsrechtlichen Topos der Einheit der Rechtsordnung ablehnt, zugleich aber auf S. 177 ff. deutlich macht, dass eine gewisse Einheit durch die Bindung der Staatsgewalt an die Grundrechte und die verfassungsmäßige Ordnung (Art. 1 III, 20 III GG) begründet wird, die zugleich durch verfassungskonforme Auslegung (Ibid., S. 180 f.) abgesichert ist. Deshalb führe auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu einer gewissen Einheit der Rechtsordnung (Ibid., S. 312 ff., 369 ff.). 349 Brüning, NVwZ 2002, 33 (37); zu weiteren Begründungsansätzen Lücke, ZG 2001, 1 (17 ff.). 350 Zu den rechtsstaatlichen Determinanten umfassend Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, S. 141 ff.
III. Schranken übergreifender Kompetenzausübungen
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3. Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung Die einfachste Möglichkeit, Wertungswidersprüche im Bundesstaat zu verhindern, ist die verfassungsrechtliche Durchsetzung einer Einheit der Rechtsordnung.351 Diesen Weg ist das Bundesverfassungsgericht in zwei Entscheidungen gegangen: der Entscheidung zur Abfallabgabe352 und zur kommunalen Verpackungssteuer353. Bund und Länder seien verpflichtet, ihre Regelungen so aufeinander abzustimmen, dass den Normadressaten nicht gegenläufige Regelungen erreichen.354 Diese Kompetenzausübungsschranke wird im Schrifttum unter dem Stichwort der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung diskutiert. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat das Verbot der widersprüchlichen Rechtsordnung zunächst mit Blick auf die Kompetenzabgrenzung zwischen Sachgesetzgebungskompetenzen und der Abgabenkompetenz entwickelt. Der Abgabengesetzgeber dürfe nur insoweit lenkend in den Kompetenzbereich übergreifen, als die Lenkung weder der Gesamtkonzeption der sachlichen Regelung noch konkreten Einzelregelungen zuwiderläuft.355 Der Erste Senat hat diese Formel später aufgegriffen und sie – wenn auch in leicht abgeänderter Form356 – für sonstige Kompetenzabgrenzungen übernommen.357 Die Aussagen, die an eine Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung anknüpfen358, sind auf Zustimmung359, aber auch auf Kritik gestoßen.360 Eine gewichtige Stimme stellte sogar die Frage, ob sich das BVerfG nunmehr auf dem Weg nach „Absurdistan“ befände.361 Inwiefern das Gericht noch 351
Grundlegend Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung; vgl. des Weiteren Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung; Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, S. 37 ff.; Felix, Einheit der Rechtsordnung. 352 BVerfGE 98, 83. 353 BVerfGE 98, 106. 354 BVerfGE 98, 83 (97); 98, 106 (118 f.). 355 BVerfGE 98, 83 (98); 98, 106 (118 f.). 356 Dazu Jarass, AöR 126 (2001), 588 (599 ff.). 357 BVerfGE 98, 265 (301). 358 Das BVerfG selbst nutzt den Begriff der „Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung“ nicht, meint diesen im Ergebnis aber. 359 So hält Bothe, NJW 1998, 2333 die Konstruktion für ein „vernünftiges Prinzip“; diff. Hillgruber, in: BK, Art. 30 Rn. 225; Trzaskalik, Gutachten zum DJT 2000, Bd. 1, S. E 5 (E 39 f.); weniger krit. auch Degenhart, Staatsorganisationsrecht, Rn. 497 f.; Di Fabio, NVwZ 1999, 1153 (1157); Frenz, DÖV 1999, 41; Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, passim, besonders S. 135 ff.; Heintzen, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 105 Rn. 34 ff.; Henneke, ZG 1998, 275 (293); Jachmann-Michel / M. Vogel, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 105 Rn. 27; Pestalozza, GesR 2006, 389 (401 ff.); Robbers, in: BK, Art. 20 Abs. 1 Rn. 2323 ff.; Sodan, JZ 1999, 864; ders. / Kluckert, NVwZ 2013, 241 (243 f.); Thormann, DVBl 2018, 840 (846). 360 Bumke, ZG 1999, 376; Brüning, NVwZ 2002, 33; Fischer, JuS 1998, 1096; Hanebeck, Der Staat 41 (2002), 429; Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 290 ff.; ders., in: Berliner Kommentar, Art. 70 Rn. 94 ff.; Jarass, AöR 126 (2001), 588; Lege, Jura 1999, 125 (127 ff.); Schmidt / Diederichsen, JZ 1999, 37; Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, S. 244 ff.; Wernsmann, Verhaltenslenkung, S. 184 ff. 361 Sendler, NJW 1998, 2875. In der Überschrift formulierte Sendler dies noch als Frage; aus dem Aufsatz folgt aber zweifelsfrei, dass der Autor diese Frage positiv beantwortet.
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
seine Rechtsprechung vertritt, kann nicht eindeutig gesagt werden. Jedenfalls hat das Bundesverfassungsgericht in späteren Entscheidungen die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung nur noch selten zur Entscheidungsgrundlage gemacht. In einem Beschluss aus dem Jahr 2000 hat der Zweite Senat die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung ausdrücklich auf die Kollision zwischen Sach- und Steuerkompetenzen reduziert.362 Ansonsten wird die Formel mitunter aufgegriffen, aber nur selten näher verfolgt.363 Insgesamt ist nicht eindeutig klar, ob das Bundesverfassungsgericht bei zukünftigen Entscheidungen noch auf die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung abstellen würde. Für die Abgrenzung von Lenkungssteuern und Sachgesetzgebungskompetenzen dürften jedenfalls die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts noch relevant sein, was vor allem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts deutlich wird.364 Gleichwohl sind die Entscheidungen zur Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung im Bundesstaat keine singulären Phänomene, sondern Teil einer verfassungs- und unionsrechtlichen Entwicklung, die der Gesetzgebung zunehmend Rationalitätszwänge auferlegt.365 Inwiefern ein 362
BVerfG NVwZ 2000, 1036 (1037): „Zum einen hätte das vorlegende Gericht bei der maßstäblichen Heranziehung dieser verfassungsgerichtlichen Entscheidungen berücksichtigen müssen, dass die Gefahr ‚gegenläufiger Regelungen‘, die die Rechtsordnung widersprüchlich machen […] hier womöglich deshalb anders zu beurteilen ist, weil die angegriffene Regelung des § 12a NWBVO i. d. F. des Haushaltssicherungsgesetzes 1998 den Bereich der Leistungsund nicht, wie in den angeführten Entscheidungen, den der Eingriffsverwaltung betrifft […] Für den hier vorliegenden Fall der Kollision von Sachkompetenzen eines Landes einerseits mit ebensolchen des Bundes andererseits hat das BVerfG in der Vergangenheit dagegen wiederholt entschieden, dass unter den Gesichtspunkten Rechtssicherheit und Bundestreue die Ausübung einer Sachkompetenz nur im Falle des offenbaren Missbrauchs unzulässig ist […]“. 363 In Bezug auf Verwaltungskompetenzen hat der Zweite Senat die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung herangezogen, vgl. BVerfGE 108, 161 (181 f.). Ansonsten wird die Widerspruchsfreiheit geprüft in BVerfG NVwZ 2001, 1264 (1265) sowie in BVerfGE 116, 184 (186 f.); 117, 1 (31); BVerfG NVwZ 2009, 905 (906 f.) – die letzteren Entscheidungen beziehen sich aber nicht auf die Widersprüchlichkeit als bundesstaatliche Kompetenzausübungsschranke, sondern betreffen eher den Gleichheitssatz Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung wird ansonsten gelegentlich als Stellungnahme der Prozessbeteiligten im Urteil aufgenommen, in den Entscheidungsgründen wird der Aspekt aber nicht näher verfolgt, exemplarisch etwa BVerfGE 114, 316 (323, 328 ff.); 128, 1 (19); BVerfGK 3, 234 (238). Die Widerspruchsfreiheit der Rechts ordnung schimmert hingegen durch, wenn das Bundesverfassungsgericht auf den Anwendungsbereich des Art. 72 Abs. 1 GG zu sprechen kommt, vgl. dazu Viertes Kapitel II. 2. a). 364 BVerwGE 110, 248 (249 f.); 159, 216 (Rn. 29 ff.); BVerwG NVwZ 2016, 620 (622 Rn. 14). Dies bestätigt auch der Blick in die gängigen Kommentare Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 68; Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, Art. 105 Rn. 44 und 46; Kube, in: BeckOK GG, Art. 105 Rn. 9; Robbers, in: BK, Art. 20 Abs. 1 Rn. 1244 ff. und Rn. 2323 ff.; Seiler, in: Maunz / Dürig, Art. 105 Rn. 120. 365 So die Etablierung der Folgerichtigkeit im Steuerrecht ab BVerfGE 61, 319 (343 f.); pointiert ab BVerfGE 81, 228 (236); ebenso die Entwicklung des Gebots der folgerichtigen Konzeptverwirklichung, vgl. BVerfGE 121, 317 (357 ff.). Die Entwicklung wird nachgezeichnet bei Bumke, Der Staat 49 (2010), 77 (85 ff.). Auch der EuGH geht von einem Gebot „guter Gesetzgebung“ aus, was sich insbesondere anhand der aus Art. 13 I EUV und Art. 7 AEUV folgenden Kohärenzerfordernissen bemerkbar macht, vgl. zu dieser Rechtsprechung Kluth, Die Unvereinbarkeit des deutschen Lotteriemonopols, S. 42 ff.; ebenso die umfassenden Untersuchungen von Dieterich, Systemgerechtigkeit und Kohärenz sowie Steinbach, Rationale Gesetzgebung.
III. Schranken übergreifender Kompetenzausübungen
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Topos der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung überzeugen kann, ist Gegenstand der folgenden Diskussion. Hierbei ist es wichtig, sich den Kontext vor Augen zu halten, in denen die Entscheidungen standen. Dazu soll als Beispiel die Entscheidung zur kommunalen Verpackungssteuer näher beleuchtet werden. Die Entscheidung zu den landesrechtlichen Abfallabgaben spricht die gleiche Problematik an. Es wird zu zeigen sein, dass sich die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht zur Vereinheitlichung der Rechtsordnung eignet. a) Die Entscheidung zur kommunalen Verpackungssteuer (BVerfGE 98, 106) aa) Der Sachverhalt: Konterkarierung des dualen Abfallsystems durch kommunale Verpackungssteuern Die Entscheidungen zur Abfallabgabe und zur kommunalen Verpackungssteuer betrafen die kompetentielle Zulässigkeit von landesrechtlichen Lenkungssteuern im Konflikt mit bundesrechtlichen Vorschriften. Die Stadt Kassel erhob auf Grundlage einer Satzung eine Verpackungssteuer auf nicht wiederverwendbare Verpackungen und nicht wiederverwendbares Geschirr, sofern diese beim Verkauf von Speisen und Getränken zum Verzehr an Ort und Stelle verwendet wurden. Steuerschuldner waren die Endverkäufer der Speisen und Getränke. Die Verpackungssteuer verfolgte laut der Begründung der Magistratsvorlage das Ziel, einen wirksamen Beitrag zur Vermeidung von Abfällen zu leisten und zugleich die Einnahmesituation der Stadt Kassel zu verbessern. Bundesgesetzlich war die Vermeidung von Abfällen durch das Abfallgesetz (AbfG) vom 27. August 1986366 geregelt, das am 6. Oktober 1996 vom Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz (KrW-AbfG)367 abgelöst wurde. Auf Grundlage von § 24 Abs. 2 Nr. 4 KrW-/AbfG beschloss die Bundesregierung die Verordnung über die Vermeidung von Verpackungsabfällen (VerpackVO)368. Die Verordnung hat für die Rücknahme von Verpackungsmüll ein „System“ errichtet, wonach der Handel sich zur Rücknahme selbst verpflichten soll. Dazu begründete die Verordnung zunächst für den Handel und die Verpackungshersteller eine Pflicht zur Rücknahme und Wiederverwertung von gebrauchten Verkaufsverpackungen. Die Adressaten (Handel und Verpackungshersteller) konnten diese Pflicht aber umgehen, indem sie selbst ein System zur Rücknahme und Wiederverwertung errichten. Die Wirtschaft hatte hierzu die GmbH „Der Grüne Punkt Duales System Deutschland“ gegründet, die neben dem öffentlich-rechtlichen ein zweites (duales) Abfallwirtschaftssystem aufgebaut hat. Die GmbH recycelt gebrauchte Verkaufsverpackungen und gewinnt daraus Rohstoffe für den Wirtschaftskreislauf zurück. Daneben verkauft sie Lizenzen zur 366
BGBl. I, S. 1410, berichtigt S.1501. Gesetz vom 27. 09. 1994, BGBl. I, S. 2705. 368 Verordnung vom 12. Juni 1991, BGBl. I, S. 1234. 367
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
Benutzung des Zeichens. Ein solches System funktioniert allerdings nur, wenn es eine entsprechende wirtschaftliche Macht hat, so dass möglichst viele Unternehmen freiwillig bei dem Dualen System mitwirken. Ist es aber für Unternehmen günstiger, auf Verpackungen zu verzichten als eine zweite Abfallwirtschaft zu finanzieren, so stiegen diese aus dem Dualen System aus, was zur Folge hätte, dass das Duale System selbst nicht mehr finanzierbar wäre. Diese Befürchtung lag dem Zweiten Senat vor Augen, als es zur Zulässigkeit von kommunalen Verpackungssteuern Stellung beziehen musste.369 Denn Steuern auf nicht wiederverwendbare Verpackungen können den Zwang zur Abfallvermeidung so groß werden lassen, dass eine Beteiligung am Dualen System nicht mehr wirtschaftlich wäre. Nicht zuletzt ermöglicht die Steuer bei entsprechender Zahlungsbereitschaft ein Ausweichen in die Umweltbelastung, während das bundesgesetzliche Konzept dies gerade vermeiden möchte. bb) Lenkungssteuern als Teil der Steuerbefugnis Im Vorfeld der Entscheidung war zunächst problematisch, ob der Landesgesetzgeber überhaupt auf Grundlage seiner Steuerkompetenz aus Art. 105 Abs. 2a GG Steuern mit verhaltensbeeinflussender Wirkung erlassen darf.370 Seit der Entscheidung zur Sonderbesteuerung des Werkverkehrs ging das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass Steuergesetze einen überwiegenden Lenkungszweck verfolgen dürfen.371 Begrenzungen ergaben sich lediglich aus dem verfassungsrechtlichen Steuerbegriff372 sowie aus Missbrauchserwägungen.373 Für den Fall von Landesbzw. Kommunalsteuergesetzen hatte das Gericht aber auch entschieden, dass die Länder bzw. Kommunen ein „Steuergesetz das nach den allgemeinen Kompetenzvorschriften den Ländern entzogene Rechtsgebiet nur für einen Nebenzweck betreten“ dürfen.374 Im Schrifttum wurde demgegenüber auch vertreten, dass bei einer Lenkungssteuer zusätzlich zur Steuerkompetenz auch die Sachkompetenz hinzutreten müsse (sog. Lehre von der doppelten Kompetenzgrundlage).375 Dies wäre im Falle einer 369
Zum Sachverhalt BVerfGE 98, 106 (107 ff.); dazu Lege, Jura 1999, 125 f. Zur heutigen Rechtslage Kalscheuer / Harding, NordÖR 2017, 113 ff. 370 Dagegen Kluth, DVBl 1992, 1261 (1265); dafür etwa Pieroth, WiVerw 1996, 65 (72) jeweils m. w. N. 371 BVerfGE 16, 147 (161); 30, 250 (264); 36, 66. 372 BVerfGE 3, 407 (435). 373 BVerfGE 16, 147 (161); 19, 119 (125); 29, 327 (331). 374 BVerfGE 14, 99. Überblick zur Rechtsprechung bei Rodi, StuW 1999, 105 f. 375 Grundlegend P. Kirchhof, Besteuerungsgewalt und Grundgesetz, S. 73; K. Vogel, in: HStR IV2, 1999, § 87 Rn. 52; ders., FS Badura, S. 604; Kluth, DVBl 1992, 1261 (1265); Sendler, WiVerw 1996, 83 (95); Stern, Staatsrecht II, S. 1105. Von der Einschlägigkeit nur der Sachgesetzgebungskompetenz geht aus Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1062. Ausführlich zum Streitstand Barthelmann, Der gestaltende Steuergesetzgeber, S. 63 ff.
III. Schranken übergreifender Kompetenzausübungen
399
abfallrechtlich relevanten Verbrauchssteuer die Kompetenz für die Abfallwirtschaft gewesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 24 GG). Der Konflikt zwischen den Regelungen, also zwischen der kommunalen Verpackungssteuer einerseits und des dualen Verpackungssystems nach Maßgabe des AbfG und der Verpackungsverordnung andererseits, wäre dann nach den Anforderungen von Art. 72 Abs. 1 GG zu lösen gewesen. In der Folge hätte dieser Lösungsweg bedeutet, dass landesgesetzliche Lenkungssteuern auf dem Gebiet konkurrierender Kompetenzen immer dann unzulässig sind, sobald der Bund erschöpfend von seiner Zuständigkeit Gebrauch gemacht hat. Das Bundesverfassungsgericht verfolgte einen anderen Ansatz: Der Gesetzgeber dürfe seine Steuergesetzgebungskompetenz auch ausüben, um Lenkungswirkungen zu erzielen.376 Lenkungsabgaben blieben grundsätzlich als Handlungsmittel in den Rechtsfolgen und in der Ertragswirkung eine Steuer; der Gesetzgeber regele lediglich das Steuerpflichtverhältnis rechtsverbindlich, während die steuergesetzlich empfohlene Ausweichreaktion von dem Willen des Steuerpflichtigen abhänge. Deshalb setze eine Lenkungssteuer keine zur Steuergesetzgebungskompetenz hinzutretende Sachkompetenz voraus. Solange der Finanzierungszweck einer Steuer sowie die Begründung einer steuerlichen Verbindlichkeit weiterhin bestünden, bleibe auch bei Lenkungssteuern die Zuständigkeit des Steuergesetzgebers erhalten. Nur wenn die steuerliche Lenkung nach Gewicht und Auswirkung einer verbindlichen Verhaltensregel nahekomme, die Finanzfunktion der Steuer also durch eine Verwaltungsfunktion mit Verbotscharakter verdrängt werde, biete die Steuerkompetenz keine ausreichende Grundlage.377 Diese Ansicht ist vor dem Hintergrund, dass jede Steuer außersteuerliche Gestaltungswirkungen erzeugt378, vorzugswürdig. Es käme einer Minimierung der Bedeutung der Art. 105 ff. GG gleich, wenn Steuern – auch solche mit „außerfiskalischen Hauptzwecken“ – nur im Verbund mit zusätzlichen Kompetenzen möglich wären. Formal betrachtet normieren auch gestaltende Steuern Zahlungspflichten und betreffen sonderrechtlich den Gegenstand der Steuerbefugnis. Es kann deshalb nicht darauf ankommen, dass der lenkende Effekt der Steuer weitere Sachgebiete „berührt“.379
376
Dazu und zum Folgenden BVerfGE 98, 106 (117 f.). BVerfGE 98, 106 (118); zust. BVerwGE 110, 248 (249); krit. zum „Umschlagen der Finanzin eine Verwaltungsfunktion“ Trzaskalik, Gutachten zum DJT 2000, Bd. 1, S. E 5 (E 37 f.). 378 Trzaskalik, Gutachten zum DJT 2000, Bd. 1, S. E 5 (E 31) m. w. N. 379 Zu den maßgeblichen Kriterien Drittes Kapitel II. 377
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
cc) Die Konstruktion der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als Kompetenzausübungsschranke Diese Zuordnung führt jedoch dazu, dass der Steuergesetzgeber auf Grundlage seiner Steuerkompetenz eine Befugnis besitzt, die zum Übergreifen auf Sachgesetzgebungskompetenzen berechtigt. Die Auflösungsmechanismen von Art. 72 GG schlagen fehl, da diese auf den Konflikt von konkurrierenden Kompetenzen ausgerichtet sind. Damit einher geht die Gefahr, dass der Steuergesetzgeber Regelungen beschließen kann, die einzelnen Normen und Konzepten des Sachgesetzgebers widersprechen. Um diese „offene Flanke“380 zu schließen, konstruiert das Bundesverfassungsgericht eine Kompetenzausübungsschranke. Die Ausübung der Steuergesetzgebungskompetenz sei nur zulässig, wenn dadurch die Rechtsordnung nicht widersprüchlich werde. Greife die steuerliche Lenkung auf eine Sachmaterie über, dürfe der Steuergesetzgeber nicht Regelungen herbeiführen, die den vom zuständigen Sachgesetzgeber getroffenen Regelungen widersprechen. Zur Begründung führt das BVerfG aus: „aa) Die Verpflichtung zur Beachtung der bundesstaatlichen Kompetenzgrenzen und zur Ausübung der Kompetenz in wechselseitiger bundesstaatlicher Rücksichtnahme (vgl. BVerfGE 81, 310 [339] = NJW 1990, 3007) wird durch das Rechtsstaatsprinzip in ihrem Inhalt verdeutlicht und in ihrem Anwendungsbereich erweitert. Das Rechtsstaatsprinzip verpflichtet alle rechtsetzenden Organe des Bundes und der Länder, die Regelungen jeweils so aufeinander abzustimmen, daß den Normadressaten nicht gegenläufige Regelungen erreichen, die die Rechtsordnung widersprüchlich machen […]“.381
Veranlasse der Steuergesetzgeber Zahlungspflichten, die den Adressaten zur Vermeidung eines steuerbelasteten Tatbestandes veranlassen sollen, so könne diese Lenkung Wirkungen erreichen, die den vom zuständigen Sachgesetzgeber getroffenen Regelungen widersprechen. Diesen Wertungskonflikt möchte das Bundesverfassungsgericht ausschließlich zugunsten des Sachgesetzgebers auflösen: „Der Gesetzgeber darf deshalb aufgrund einer Steuerkompetenz nur insoweit lenkend und damit mittelbar gestaltend in den Kompetenzbereich eines Sachgesetzgebers übergreifen, als die Lenkung weder der Gesamtkonzeption der sachlichen Regelung noch konkreten Einzelregelungen zuwiderläuft“.382
Bei der Wahrnehmung der Steuerkompetenz muss der Gesetzgeber sowohl die Gesamtkonzeption als auch konkrete Einzelregelungen des Sachgesetzgebers berücksichtigen. Greift der Steuergesetzgeber auf das Feld einer Sachkompetenz über und kommt die Zusammenschau der Regelungen zu widersprüchlichen Ergebnissen, so ist die entsprechende steuerliche Regelung aufgrund der fehlerhaften Kompetenzwahrnehmung formell verfassungswidrig: 380
Rodi, StuW 1999, 105 (108). BVerfGE 98, 106 (118 f.); ebenso BVerfGE 98, 83 (97). 382 BVerfGE 98, 106 (119); ebenso BVerfGE 98, 83 (98). 381
III. Schranken übergreifender Kompetenzausübungen
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„bb) Diese rechtsstaatlichen Vorgaben begründen im Rahmen der bundesstaatlichen Ordnung der Gesetzgebungskompetenzen zugleich Schranken der Kompetenzausübung. Der Steuergesetzgeber darf die vom Sachgesetzgeber getroffenen Entscheidungen nicht durch Lenkungsregelungen verfälschen, deren verhaltensbestimmende Wirkungen dem Regelungskonzept des Sachgesetzgebers zuwiderlaufen. Sobald der Sachgesetzgeber für einen Sachgegenstand Regelungen trifft, muß der Gesetzgeber diese bei steuerlichen Lenkungen beachten (zur Auferlegung von Abgaben aufgrund einer Sachkompetenz vgl. BVerfGE 91, 186 [201 ff.] = NJW 1995, 381)“.383
Bezogen auf die Subsumtion führt der Zweite Senat aus, dass sich mit der steuerlichen Regelung durch die Stadt Kassel und der bundesgesetzlichen Normierung zwei unterschiedliche Konzepte gegenüberstehen. Die Abfallwirtschaft nach der Konzeption des Bundesgesetzgebers betone das Zusammenwirken von öffentlicher und privater Hand und so die gemeinsame Verantwortung für die Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe. Das Kooperationsprinzip begründe eine kollektive Verantwortung verschiedener Gruppen, in eigenständiger Aufgabenteilung und Verhaltensabstimmung das gemeinsam definierte Ziel der Abfallvermeidung zu erreichen. Hiervon unterscheide sich die steuerliche Verhaltenslenkung. Sie gestatte dem Leistungsfähigen ein Ausweichen in die Umweltbelastung und wirke gegenüber dem Nichtleistungsfähigen wie ein verbindliches Verbot. Die Steuer wirke wie ein Zwangsgeld für die Nichtbefolgung des Umweltprogramms; Kooperation hingegen bestimme rechtsverbindlich den zu erreichenden Umwelterfolg, verzichte aber selbst bei Zielverfehlung auf Sanktionen.384 Die steuerliche Lenkung durch die Verpackungssteuer laufe deshalb dem bundesgesetzlichen Kooperationskonzept zuwider. Zur Begründung führt der Zweite Senat unter anderem aus, dass die Verhaltenslenkung den Verzicht der Verwendung von bestimmten Verpackungsmaterials fördere und sich dabei nur auf einen eng umgrenzten Adressatenkreis, die Verwender von Einweggeschirr, beziehe. Dies laufe der bundesgesetzlichen Wertung zuwider, „die Konkretisierung des Ziels, Verpackungsabfälle zu vermeiden, und die Auswahl der dafür geeigneten Mittel den ‚beteiligten Kreisen‘ mit ihrer besonderen Sachkenntnis und -nähe zu überlassen.385 Diese Gegenläufigkeit zur bundesgesetzlichen Konzeption führe zu einer Widersprüchlichkeit und somit zur formellen Verfassungswidrigkeit und Gesamtnichtigkeit der Satzung.386 Der Wertungswiderspruch wird im Sinne eines Vorrangs des Sachgesetzgebers vor dem Steuergesetzgeber aufgelöst.
383
BVerfGE 98, 106 (119). BVerfGE 98, 106 (121 f.). 385 BVerfGE 98, 106 (130 f.). 386 BVerfGE 98, 106 (133). 384
402
4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
b) Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als Verfälschungstatbestand Dies ruft die Frage nach seiner dogmatischen Begründung auf den Plan. Das Gericht verortet die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung zunächst im Rechtsstaatsprinzip. Das Rechtsstaatsprinzip verdeutliche den Inhalt der Verpflichtung der bundesstaatlichen Kompetenzgrenzen und die Ausübung der Kompetenz in wechselseitiger bundesstaatlicher Rücksichtnahme.387 Dieser zunächst rechtsstaatliche Ansatz forderte deutliche Kritik heraus.388 Zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass das Bundesverfassungsgericht Wertungswidersprüche und Systemwidrigkeiten nach Maßgabe von Art. 3 GG überprüft. Befürchtet wurde insbesondere, dass mit der Rechtsprechung nunmehr die verfassungsrechtliche Durchsetzung einer widerspruchsfreien Einheit der Rechtsordnung einhergehe und dass das BVerfG den Maßstab der Systemwidrigkeit von Art. 3 Abs. 1 GG auf das Rechtstaatsprinzip hochzonen wollte, ohne dass die Möglichkeit der Rechtfertigung besteht.389 Zwingend war diese Lesart aber schon damals nicht. Spätere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zeigen vielmehr, dass Versuche der Prozessbeteiligten, mithilfe der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung einzelne Gesetze außer Kraft zu setzen, nicht vom Bundesverfassungsgericht weiterverfolgt wurden.390 Die Rechtsprechung des Zweiten Senats bezog sich nur auf den Konflikt zwischen Steuer- und Sachgesetzgebung. Daneben hat der Erste Senat in der Entscheidung zum bayerischen Schwangerenhilfeergänzungsgesetz den Topos auch auf sonstige Kompetenzübergriffe erstreckt, wobei das Gericht in dieser Entscheidung vor allem die Kompetenz kraft Sachzusammenhangs vor Augen hatte.391 Das Bundesverfassungsgericht hat den Anwendungsbereich der Widerspruchsfreiheit also stets auf Konstellationen beschränkt, in denen ein Kompetenzträger mittels seiner Zuständigkeit auf die Sachkompetenzen des anderen Trägers „übergreift“. Dieses Verständnis bestätigt sich auch in einer Kammerentscheidung.392 Die Recht 387 BVerfGE 98, 106 (118). Auch das BVerwG geht von einer vorwiegend rechtsstaatlichen Verwurzelung aus BVerwGE 110, 248 (249). 388 Vgl. Sendler, NJW 1998, 2875; Fischer, JuS 1998, 1099; Rodi, StuW 1999, 105 (108 ff.). 389 Brüning, NVwZ 1999, 33 (37); Fischer, JuS 1998, 1096 (1099); Jarass, AöR 126 (2001), 588 (596); Sendler, NJW 1998, 2875 (2876). 390 Exemplarisch BVerfGE 114, 316 (323, 328 ff.); 128, 1 (19); BVerfGK 3, 234 (238); so auch die Feststellung von Dieterich, Systemgerechtigkeit und Kohärenz, S. 371 f.; Schmidt, in: FS Canaris, Bd. II, S. 1365. 391 BVerfGE 98, 265 (301) mit Verweis auf BVerfGE 98, 83 (97); 98, 106 (18). 392 BVerfG NVwZ 2000, 1036 (1037): „Zum anderen aber lagen den vom VG angeführten Fällen Bund-Länder-Kollisionslagen zwischen materiellem Bundesrecht einerseits und Verfahrens- und Abgabenrecht der Länder andererseits zu Grunde. Für den hier vorliegenden Fall der Kollision von Sachkompetenzen eines Landes einerseits mit ebensolchen des Bundes andererseits hat das BVerfG in der Vergangenheit dagegen wiederholt entschieden, dass unter den Gesichtspunkten Rechtssicherheit und Bundestreue die Ausübung einer Sachkompetenz nur im Falle des offenbaren Missbrauchs unzulässig ist […] Mittelbare Auswirkungen einer kompetenzgerechten Landesregelung auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung wären danach unterhalb der Schwelle des gezielten Missbrauchs verfassungsrechtlich nicht relevant.“
III. Schranken übergreifender Kompetenzausübungen
403
sprechung war demgegenüber nie darauf gerichtet, die Forderung einer widerspruchsfreien Rechtsordnung auf das Verhältnis „gleichgeordneter“ Normen zu übertragen. Ziel des Bundesverfassungsgerichts – der Verweis auf die wechselseitige bundesstaatliche Rücksichtnahme macht dies deutlich393 – war es, den einen Kompetenzträger vor Übergriffen durch den jeweils anderen zu schützen. In diesem Sinne beschränkte sich die Entscheidung zur kommunalen Verpackungssteuer auf die Problematik, dass eine Lenkungssteuer das Kooperationskonzept des Bundes verfälschen und gefährden kann. Konkret geht es also nicht vorrangig um die Widersprüchlichkeit der Regelung aus der Perspektive des Bürgers, sondern um die Frage, ob der Steuergesetzgeber mittels einer übergreifenden Lenkungssteuer die Konzeptionen des Sachgesetzgebers verfälschen darf.394 Für das richtige Verständnis der Urteile des Bundesverfassungsgerichts gilt es also nachzuvollziehen, dass nicht die Widersprüchlichkeit als solche verfassungswidrig ist395; verfassungswidrig ist der verfälschende Übergriff des Steuergesetzgebers auf Belange der Sachgesetzgebung. Ein verfälschender Übergriff ist nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts dann gegeben, wenn die Konzepte durch das Übergreifen der Länder in ihren Wirkungen verfälscht oder zumindest abgeschwächt werden. Folgerichtig hat der Erste Senat die Formel des Zweiten Senats in der Entscheidung zum bayerischen Schwangerenhilfeergänzungsgesetz dergestalt aufgegriffen, dass die Entscheidungen eines zuständigen Bundesgesetzgebers auch durch auf Spezialzuständigkeiten gründende Einzelentscheidungen eines Landesgesetzgebers nicht verfälscht werden dürfen.396 Die Formel des Bundesverfassungsgerichts betrifft also genau genommen keinen Widerspruchstatbestand397, sondern einen Verfälschungstatbestand. Nicht der Widerspruch, sondern der Übergriff auf fremde Kompetenzen und die damit einhergehende Beeinträchtigung der Konzeptionen des Sachgesetzgebers begründet die formelle Verfassungswidrigkeit. In dieser Lesart lässt sich erklären, weshalb das Bundesverfassungsgericht auf die Perspektive des Bürgers Bezug nahm: Greift der eine Gesetzgeber auf Zuständigkeiten des anderen über, so durchbricht er die rechtsstaatliche Begrenzungsfunktion der bundesstaatlichen Kompetenzordnung, die auch dem Bürger zu dienen bestimmt ist.398 Aus diesem Grund versucht das Bundesverfassungsgericht, die Zuständigkeitsverteilung vor Übergriffen und Verfälschungen zu schützen. 393
BVerfGE 98, 106 (118). So auch Murswiek, Die Verwaltung 33 (2000), 241 (279): „Woran das BVerfG in Wirklichkeit Antoß nimmt, ist aber gerade der Umstand, daß es die Länder bzw. Kommunen sind, die dem Bundesgesetzgeber in die Quere kommen. Nicht dieser selbst modifiziert seine eigene Regelung, sondern Länder und Kommunen pfuschen ihm ins Handwerk.“ Ebenso Kloepfer / Bröcker, DÖV 2001, 1 (8); a. A. Degenhart, Staatsorganisationsrecht, Rn. 497 f., der die Position des Bürgers im Blick hat. 395 So aber das kritische Resümee von Fischer, JuS 1998, 1096 (1099); wohl auch Lücke, ZG 2001, 1 (17 ff.). 396 BVerfGE 98, 265 (301). 397 So die Deutung von Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 389 ff. 398 Kloepfer / Bröcker, DÖV 2001, 1 (9). Dazu Erstes Kapitel III. 394
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c) Stellungnahme: Unvereinbarkeit der Ansicht mit der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung Das Bundesverfassungsgericht verlangt somit keine „Einheit der Rechtsordnung“. Der Kern der Entscheidung zur kommunalen Verpackungssteuer betrifft eine im Wesentlichen bundesstaatliche Kompetenzausübungsschranke, die es verbietet, bereits getroffene konzeptionelle Entscheidungen durch eigene Regelungen zu verfälschen.399 Die damit einhergehende bundesstaatliche Stoßrichtung relativiert die Bedenken gegenüber einer verfassungsgerichtlichen Durchsetzung einer rechtsstaatlichen Widerspruchsfreiheit. Denn in der Tat würde eine falsch verstandene Einheit der Rechtsordnung, die immer nur eine Chimäre sein kann400, zu einer Überforderung des Rechtsstaats führen.401 Normkonflikte erweisen sich in einem Mehrebenensystem unterschiedlicher nationaler und internationaler Ebenen als notwendige, jedenfalls als typische Folgen der Vielfalt und Komplexität des Rechts.402 Eine vollständig rationale Gesetzgebung ist zwar wissenschaftlich erstrebenswert403, sie kann auch im Wege der Auslegung (systematisch und teleologisch) annäherungsweise hergestellt werden404; allerdings bleibt sie immer ein Ideal. Die verfassungsgerichtliche Durchsetzung der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung würde etwas befehlen, das einzuhalten gar nicht möglich ist.405
399
Jarass, AöR 126 (2001), 588 (599 f.); eine rechtsstaatliche Dimension sowie eine Übertragung auf das Bund-Länder-Verhältnis lehnt Barthelmann, Der gestaltende Steuergesetzgeber, S. 112 f. ab. 400 Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 197. 401 Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, S. 81; Rodi, StuW 1999, 105 (108); anders aber wohl Lücke, ZG 2001, 1 (19 f.), der trotz der Bedenken von einem auf dem Willkürverbot beruhenden rechtsstaatlichen Prinzip ausgeht. 402 Brüning, NVwZ 2002, 33 (37); Hanebeck, Der Staat 41 (2002), 429 (440 f.); Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, S. 255. 403 Zu den Anforderungen einer rationalen Gesetzgebung Steinbach, Rationale Gesetzgebung; Kluth, in: ders. / K rings, Gesetzgebung, § 1 Rn. 76 ff. Zu weit geht demgegenüber die Auffassung von Sodan, JZ 1999, 864 (869 ff.), der den Anspruch der Rechtswissenschaft, formal richtige und widerspruchsfreie Aussagen zu treffen, auf seinen Gegenstand, die Gesetzgebung, übertragen möchte; vgl. zur zutreffenden Kritik Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen, S. 127 f.; Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen, S. 258. 404 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, passim; Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 157; Zippelius, Juristische Methodenlehre, § 10 III c.; krit. F. Müller, Die Einheit der Verfassung, passim, besonders S. 225 ff.; Hanebeck, Der Staat 41 (2002), 429 (443); Pieroth, AöR 114 (1989), 422 (438); differenzierend Peine, Das Recht als System, S. 114 ff., der zumindest die Existenz von Teilrechtssystemen anerkennt. 405 Vgl. auch die abweichende Meinung des Richters Bryde zur Einforderung von Folgerichtigkeit als Prüfungsmaßstab, in: BVerfGE 121, 317 (380 f.). Das Bundesverfassungsgericht dürfe nicht zum Ersatzgesetzgeber werden. Der Kompromiss sei ein „Wesensmerkmal demokratischer Politik“. Das Bundesverfassungsgericht dürfe „keine Folgerichtigkeit und Systemreinheit einfordern, die kein demokratischer Gesetzgeber leisten“ könne. Auf die Notwendigkeit, demokratische Entscheidungen nicht zu Lasten einer absoluten rechtsstaatlichen Rationalität aufzugeben, weist Grzeszick, VVDStRL 71 (2012), 49 (65 ff., 76 f.) hin.
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Allerdings stehen auch der bundesstaatlichen Ableitung gewichtige Bedenken gegenüber. Die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts steht und fällt mit der Annahme, dass der Sachgesetzgeber Vorrang vor dem Steuergesetzgeber hat und im Falle des Normkonflikts die Steuergesetzgebung weichen muss.406 Verallgemeinernd müsste man die Vorrangregel formulieren, dass Normen stets dann zu weichen haben, wenn sie in fremde Sachmaterien ausstrahlen und Normkonflikte verursachen. Das Postulat der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung hat darüber hinaus aber auch eine weitere Stoßrichtung. Denn in den Entscheidungen zur kommunalen Verpackungssteuer und zur landesrechtlichen Abfallabgabe war es stets eine Landesnorm, die der Bundeskonzeption zu weichen hatte. In der Entscheidung zum bayerischen Schwangerenhilfeergänzungsgesetz hat der Erste Senat dies auf eine Formel gebracht: Konzeptionelle Entscheidungen des Bundesgesetzgebers dürften durch den Landesgesetzgeber nicht verfälscht werden.407 Denkbar ist also auch, dass das Bundesverfassungsgericht im Konfliktfall der Bundesnorm den Vorzug gibt.408 Wie zu zeigen sein wird, können beide Vorrangregeln nicht überzeugen. Begreift man lenkungssteuerliche Regelungen oder „Normen im Sachzusammenhang“ als Recht, das auf Grundlage von „Spezialzuständigkeiten“ erlassen worden ist, so ließe sich die Auffassung vertreten, dass diese „Spezialzuständigkeiten“ im Konfliktfalle gegenüber den ursprünglichen Sachkompetenzen zurückzutreten haben. Für den Konflikt mit dem Steuergesetzgeber präferiert etwa Jarass diese Lösung.409 Das primäre Ziel von Steuerkompetenzen liege in der Eröffnung der Einnahmemöglichkeiten. Dieser Ausgangspunkt werde überschritten, soweit mit Steuern gezielt Lenkungswirkungen intendiert seien. Komme es zum Konflikt zwischen dem Steuergesetzgeber und dem Sachgesetzgeber, dann liege es angesichts der primären Funktion der Steuergesetzgebungskompetenz nahe, dem Sachgesetzgeber den Vorrang einzuräumen.410 Bei Konflikten zwischen Sachgesetzen sei ein Vorrang jedoch nicht auszumachen.411 Aber schon ein Vorrang der Sachgesetzgebung vor der (Lenkungs-)Steuergesetzgebung erscheint problematisch.412 Warum sollte Steuerrecht weniger wert sein als das jeweilige Sachrecht? Es sollte berücksichtigt werden, dass steuerliche Tatbestände stets Wirkungen beinhalten, die über den bloßen Transfer von Ver 406
Dazu Barthelmann, Der gestaltende Steuergesetzgeber, S. 110 ff.; Jarass, AöR 126 (2001), 594 (602 ff.); Kloepfer / Bröcker, DÖV 1 (7). 407 BVerfGE 98, 265 (301). Der Erste Senat hat in der Folge dieses Postulat nicht subsumiert, sondern die landesrechtliche Vorschrift auf Grundlage von Art. 72 I GG für nichtig erklärt. 408 Diese Lösungen präferiert Heun, in: Dreier, GG, Art. 105 Rn. 16; zum gleichen Ergebnis in der Sache kommen auch Dreier, in: ders., GG, Art. 31 Rn. 58; P. M. Huber, in: Sachs, GG, Art. 31 Rn. 30; Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, S. 245 ff., die dafür plädieren, die Konflikte über Art. 31 GG zu lösen. 409 Jarass, AöR 126 (2001), 588 (603 ff.). 410 Jarass, AöR 126 (2001), 588 (603); ähnlich auch P. Kirchhof, StuW 2000, 316 (323); krit. Kloepfer / Bröcker, DÖV 2001, 1 (7). 411 Jarass, AöR 126 (2001), 588 (605). 412 So auch Kloepfer / Bröcker, DÖV 2001, 1 (7); Wernsmann, Verhaltenslenkung, S. 188.
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mögen hinausgehen. Der Besteuerung ist die lenkende Wirkung generell immanent.413 Teilt man die (nicht unumstrittene) Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, dass die Befugnis, eine Lenkungssteuer zu erlassen, ausschließlich aus der Steuerkompetenz folgt, so ist eine Lenkungssteuer kompetenzgemäß. Dass eine Lenkungssteuer Berührungspunkte zu anderen Sachthemen aufweist, ist dann eine hingenommene Nebenwirkung, die unmittelbar aus der Auslegung des Art. 105 GG folgt. Es ist vor diesem Hintergrund fadenscheinig, dem Steuergesetzgeber diesen Normbereich zuzuerkennen und ihn später auf Basis einer Kompetenzausübungsschranke wieder zu entziehen. Ist die Lenkungssteuer von Art. 105 GG umfasst, so berechtigt die Steuerkompetenz zum eigenverantwortlichen414 und gleichberechtigten Tätigwerden; das daraus resultierende Recht ist kein Recht minderen Ranges.415 Umfasst die Steuerkompetenz auch die lenkende Steuer, so werden damit einhergehende Widersprüchlichkeiten im Mehrebenensystem vom Grundgesetz hingenommen. Wer dieses Ergebnis vermeiden möchte, der muss in der Tat eine doppelte Kompetenzgrundlage fordern.416 Das Gleiche gilt für sonstige „übergreifende“ Kompetenzausübungen, etwa auch für Regelungen, die auf Grundlage eines Sachzusammenhangs erlassen worden sind. Sind die engen Voraussetzungen des Sachzusammenhangs erfüllt, so berechtigt das Grundgesetz den Kompetenzträger zum punktuellen Übergriff auf fremde Materien.417 Die Berechtigung folgt hierbei aus der jeweiligen Kompetenznorm, dessen implizit mitgeschriebener teleologischer Bestandteil der Sachzusammenhang ist. Beim Sachzusammenhang kommt eines hinzu: Hier relativiert bereits die Kompetenzauslegung die schädlichen Nebenwirkungen der Kompetenzausübung. Die engen Voraussetzungen der Unerlässlichkeit sowie des akzessorischen und punktuellen Bezugs vermindern die Gefahren eines zu weitgehenden Übergriffs auf fremde Materien. Die nachträgliche Einschränkung einer kompetenzgerechten Kompetenzausübung auf Basis einer Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung würde dieses auf der Normkonkretisierungsebene etablierte Instrumentarium nachträglich zunichtemachen. Auch hier gilt das Gleiche wie für den Fall der Lenkungssteuer: Wer generell verhindern möchte, dass Regelungen im Sachzusammenhang auf fremde Materien übergreifen und fremde Konzeptionen bedrohen, muss auf der Normkonkretisierungsebene ansetzen und leugnen, dass der Sachzusammenhang einer Kompetenznorm implizit mitgeschrieben ist.418 413 Brüning, NVwZ 2002, 33 (37); Trzaskalik, Gutachten zum DJT 2000, Bd. 1, S. E 5 (E 31); Weber-Grellet, NJW 2001, 3657. 414 Zur Ermächtigungsfunktion der Kompetenz Erstes Kapitel II. 2. c). 415 So auch Barthelmann, Der gestaltende Steuergesetzgeber, S. 11; Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 401; Weber-Grellet, NJW 2001, 3657 (3662). 416 Pointiert K. Vogel, in: FS Badura: „entweder man nimmt den Widerspruch zur Entscheidung des Sachgesetzgebers in Kauf (was unbefriedigend ist); oder man untersagt dem Steuergesetz geber generell den Erlaß einer Lenkungsnorm, wo eine abweichende Sachkompetenz besteht.“ 417 Zum Sachzusammengang Zweites Kapitel VII. 3. c). 418 Vgl. aber zur Notwendigkeit des Sachzusammenhangs Zweites Kapitel VI. 3. c) aa).
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Gegen die Lösung, bei Normkonflikten pauschal der Bundeskompetenz den Vorrang zu geben, spricht wiederum ihre praktische Konsequenz, die einen Sog zum Bundesrecht erzeugen würde.419 Die Kompetenzordnung verteilt die Zuständigkeiten beidseitig an Bund und Länder als gleichberechtigte Gesetzgebungsakteure.420 In der Normenhierarchie gibt es gerade keinen allgemeingültigen Vorrang des Bundes. Vielmehr sind die Handlungsspielräume von Bund und Länder in einem differenzierten System ausschließlicher und konkurrierender Zuständigkeiten voneinander getrennt. Vor allem Art. 31 GG macht deutlich, dass der Grundsatz „Bundesrecht bricht Landesrecht“ nur logische Normwidersprüche, aber keine Wertungswidersprüche erfasst. Eine Vorranglösung zugunsten des Bundes wird der beidseitig ausgestalteten Kompetenzordnung nicht gerecht. Wird der Landesgesetzgeber auf Grundlage einer eigenen Kompetenz tätig, so darf er diese auch eigenverantwortlich ausüben. Abgesehen von den in Art. 31 GG, Art. 28 Abs. 1 GG und Art. 142 GG festgelegten Kollisionslösungen und Homogenitätsklauseln421 kann vom Landesgesetzgeber keine Pflicht zur Unitarisierung erwartet werden. Er ist nicht verpflichtet, sich fremde Willensentscheidungen eigen zu machen.422 Die Annahme eines pauschalen Widerspruchsverbots würde dieses abgestufte Konfliktlösungskonzept überspielen, ja sogar regelrecht sinnlos erscheinen lassen. d) Ergebnis Insgesamt vermag das Postulat einer Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung nicht zu überzeugen. Die Lösung des Bundesverfassungsgerichts krankt an ihrer begrifflichen Unschärfe, weil das Gericht weniger am Widerspruch, sondern an der daraus hervorgehenden Verfälschung bestehender konzeptioneller Entscheidungen Anstoß nimmt. Darüber hinaus überzeugt auch seine Konfliktauflösungsentscheidung nicht. Weder können Normkonflikte einseitig gegen eine bestimmte Kompetenzkategorie (z. B. Steuerkompetenz) gerichtet werden, noch kann die Konfliktlösung einseitig den Bund privilegieren. Die einseitige Auflösung von Wertungswidersprüchen untergräbt die Autorität der Normkonkretisierung, indem sie den Gebrauch zugewiesener Zuständigkeiten einer Homogenitätspflicht unterwirft, was dem eigenverantwortlichen Charakter von Gesetzgebungszuständigkeiten widerspricht. Es bedarf vielmehr eines bundesstaatlichen Konflikt lösungsinstrumentariums, das differenzierte und keine einseitigen sowie pauschalen Lösungen erzeugt. 419
Lege, Jura 1999, 125 (128) sieht sogar das Bundesstaatsprinzip nicht ausreichend beachtet, „wenn im Verhältnis von Bundes- und Landesgesetzgeber die ‚Wechselseitigkeit“ der Rücksichtnahme unter den Tisch fällt zu Gunsten einer sehr unitarischen, auf den Bund zentrierten Lösung.“ 420 Zur Beidseitigkeit der Kompetenzordnung Erstes Kapitel V. 3. 421 Krit. zur Beschreibung des Art. 31 GG als Homogenitätsgebot Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 357. 422 Ähnlich auch K. Vogel, in: FS Badura, S. 601.
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
4. Die Bundestreue als Maßstab zur Lösung von Normkonflikten Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung verquicken rechtsstaatliche und bundesstaatliche Anforderungen und konstruieren aus ihrer Zusammenfassung ein allgemeines Widerspruchsverbot. Damit untergraben die Senate einerseits die besonderen rechtsstaatlichen und grundrechtlichen Anforderungen, die an die Gesetzgebung zu stellen sind423, andererseits aber auch die typischen bundesstaatlichen Konfliktlösungsformeln, die das Verfassungsrecht bereitstellt. Das Bundesverfassungsgericht hat seine Rechtsprechung vor allem als Verfälschungstatbestand eingeführt. Damit liegt es nahe, die eigentliche Konfliktschlichtungsformel über das Prinzip der Bundestreue zu formulieren. Zwar verweist das Bundesverfassungsgericht auf die wechselseitige Rücksichtnahme und somit – unausgesprochen – auf das Prinzip der Bundestreue, dieses soll aber „durch das Rechtsstaatsprinzip in ihrem Inhalt und ihrem Anwendungsbereich erweitert“ werden.424 Dass diese Konfliktlösungsformel insgesamt nicht überzeugen kann, wurde bereits erörtert. Auffällig ist aber, dass das Bundesverfassungsgericht durch die Aufladung der bundesstaatlichen Rücksichtnahme mit rechtsstaatlichen Gesichtspunkten die eigentlichen Maßgaben des Prinzips der Bundestreue umgeht und überspielt. Aus diesem Grund ist es angezeigt, anstatt eines allgemeinen Prinzips der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, die eigentlichen und vom Bundesverfassungsgericht verschwiegenen bundesstaatlichen Konfliktlösungsformeln einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Im Folgenden wird also zu erörtern sein, ob und in welchem Umfang die Bundestreue Normkonflikte in Gestalt von Wertungswidersprüchen zu regulieren imstande ist. a) Allgemeine Vorgaben Auf das Prinzip der Bundestreue wurde innerhalb der Abweichungsgesetz gebung bereits eingegangen. Es hat sich herausgestellt, dass sich die Bundestreue aufgrund ihres akzessorischen Charakters nur begrenzt zur Auflösung von Normkonflikten eignet.425 Grundsätzlich begründet die Bundestreue zwischen Bund und Ländern ein Rechtsverhältnis.426 Dieses wirkt in zweifacher Hinsicht. Aus dem Gebot der Bundestreue ergibt sich zunächst „die Pflicht zu gegenseitiger Hilfeleistung, Rücksichtnahme und Verständigungsbereitschaft“ und enthält somit pflichtbegründende Konkretisierungen. In dieser Facette können aus der Bundestreue konkrete Pflichten wie Hilfs- und Unterstützungsleistungen, 423
Krit. dazu Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen, S. 136 ff. BVerfGE 98 106 (118); 98, 265 (301). 425 Viertes Kapitel II. 3. c) bb). 426 Das Rechtsverhältnis als dogmatischer Ordnungsrahmen des Bundesstaatsrechts beschreibt Bauer, Die Bundestreue, S. 260 ff. 424
III. Schranken übergreifender Kompetenzausübungen
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Informations- und Konsultationspflichten sowie bestimmte Abstimmungs-, Verfahrens- und Kooperationspflichten folgen.427 In der anderen Spielart wirkt die Bundestreue als Kompetenzausübungsschranke und gebietet Bund und Länder, ihre Kompetenzen in wechselseitiger Rücksichtnahme auszuüben.428 Eine damit einhergehende Unterkategorie ist das Verbot der missbräuchlichen Rechtsausübung.429 Von den Zuständigkeiten darf nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nur so Gebrauch gemacht werden, „daß es die Belange des Gesamtstaates und die Belange der anderen Länder nicht in unvertretbarer Weise schädigt oder beeinträchtigt“430. Nach einer bekannten Formulierung greift die Bundestreue bei jeder Wahrnehmung einer Kompetenz ein, wenn „die Interessen des Bundes und der Länder auseinanderlaufen, und zwar so, daß der eine Teil (und damit mittelbar das Ganze) Schaden nimmt, wenn der andere Teil seine Maßnahmen (seine gesetzliche Regelung) ausschließlich seinen Interessen entsprechend treffen würde.“431 Dabei hat das Bundesverfassungsgericht in der Kalkar-II-Entscheidung die Grenze für den Anwendungsbereich der Bundestreue festgelegt. Grundsätzlich werde noch nicht gegen die Bundestreue verstoßen, wenn der Bund oder ein Land „von einer ihm durch das Grundgesetz eingeräumten Kompetenz Gebrauch macht“, die Inanspruchnahme müsse vielmehr missbräuchlich sein oder gegen prozedurale Anforderungen verstoßen.432 Aufgrund des objektiv-rechtlichen Charakters des Prinzips ist der Missbrauch nicht subjektiv zu bestimmen, er hängt also nicht von der Böswilligkeit des handelnden Akteurs ab.433 Dies wirft die hier relevante Frage auf: Sind übergreifende Regelungen, die in der Lage sind, fremde Regelungszuständigkeiten zu beeinträchtigen oder deren Ziele zu vereiteln, missbräuchliche Rechtsausübungen und somit verfassungswidrig?434 Nach Bauer kann die Ausübung eines Rechts missbräuchlich sein, „wenn der Rechtsinhaber keine berechtigten Interessen verfolgt oder überwiegende Belange des bzw. der anderen Beteiligten entgegenstehen und die Rechtsausübung zu einer gravierenden Störung der bundesstaatlichen Ordnung führen würde“435. Wendet man diesen allgemein gehaltenen Satz auf die Gesetzgebung an, so dürfte die erste Alternative eines Missbrauchs wegfallen. Gesetzgebung ist das vor 427
Bauer, Die Bundestreue, S. 343 ff. Grundlegend Bayer, Die Bundestreue, S. 65. 429 Bauer, Die Bundestreue, S. 356 ff. 430 BVerfGE 34, 9 (44). 431 BVerfGE 31, 314 (355) – abweichende Meinung der Richter Geiger, Rinck und Wand. 432 BVerfGE 81, 310 (337; ferner BVerfGE 14, 197 (215); 106, 1 (27). 433 BVerfGE 8, 122 (140); Bauer, Die Bundestreue, S. 337; Isensee, in: HStR VI, § 126 Rn. 166. 434 In den gängigen Abhandlungen wird oft auf die Möglichkeit eines Missbrauchs verwiesen; nur selten wird der Missbrauch und seine Voraussetzungen jedoch konkretisiert, vgl. Barthelmann, Der gestaltende Steuergesetzgeber, S. 161 und 164; Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 288 ff.; Schröder, Kriterien und Grenzen der Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, S. 412; anders aber bei Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, S. 204 ff. 435 Bauer, Die Bundestreue, S. 357. 428
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
nehmste politische Gestaltungsinstrument im demokratischen Verfassungsstaat und dient somit immer einem berechtigten Interesse. Zwar lässt sich das berechtigte Interesse im Falle willkürlichen Handelns bezweifeln. Das Missbrauchskriterium würde aber nur in absoluten Extremfällen greifen.436 Für den Rechtsmissbrauch erscheint die zweite Tatbestandsvoraussetzung relevanter: Strahlen Regelungen in fremde Kompetenzen aus, so kann die Bundestreue ins Spiel kommen, wenn überwiegende Belange des anderen Beteiligten entgegenstehen. So verstanden ist also zu fragen, wann schützenswerte Belange vorliegen und der Kompetenzübergriff als derart gravierend einzuschätzen ist, dass die bundesstaatliche Ordnung „gestört“ ist. b) Die Voraussetzung einer Kompetenzausübungsschranke im Falle konzeptioneller Konflikte aa) Aushöhlung der eigenen Gesetzgebungszuständigkeiten? Für übergreifende Kompetenzausübungen im Bereich der Gesetzgebung hat das Bundesverfassungsgericht den Gedanken der Bundestreue schon an einigen Stellen anklingen lassen. Blieben die Auswirkungen einer gesetzlichen Regelung nicht auf den Raum des Landes begrenzt, so müsse der Landesgesetzgeber auf die Interessen des Bundes und der übrigen Länder Rücksicht nehmen.437 Zugleich sei auch der Bundesgesetzgeber verpflichtet, die Interessen der Länder zu bedenken. Untersagt sei es ihm etwa, die Landeszuständigkeiten durch Pönalisierung auszuhöhlen.438 Einen ähnlichen Schutz der Länderzuständigkeiten hat das Bundesverfassungsgericht in der Staatshaftungsentscheidung formuliert. Die verfassungsrechtliche Rücksichtnahme auf die Rechte der Länder verwehre es dem Bund, seine eigene Kompetenz für umfassende Regelungen zu nutzen, die in die Zuständigkeit der Länder fallen.439 Es hat dazu ausgeführt: „Zwar kann der Bund – was er hier schon formell nicht getan hat – unter Inanspruchnahme seiner Gesetzgebungsbefugnis aus Art. 74 Nr. 1 GG durch eine Änderung der die Beamtenhaftung regelnden Vorschrift des § 839 BGB über Art. 34 GG in das ihm sonst grundsätzlich verschlossene Gebiet des Staatshaftungsrechts der Länder hineinwirken und auf diese Weise landesgesetzliche Regelungen ausschließen oder verdrängen (Art. 31 GG). Diese verfassungsrechtliche Besonderheit, die es dem Bund ausnahmsweise erlaubt, in Ausübung seiner ihm für eine bestimmte Materie verliehenen Gesetzgebungsbefugnis (mittelbar) rechtlich regelnd in einen anderen Bereich hineinzuwirken, in dem die Länder das Recht der Gesetzgebung haben, führt indessen nicht dazu, daß die Kompetenzordnung zwischen
436 Zumal das Willkürverbot bereits in Art. 3 GG und allgemein im Rechtsstaatsprinzip verankert ist und nicht zwingend einer zusätzlichen Verankerung in der Bundestreue bedarf. 437 BVerfGE 4, 115 (140); 6, 309 (361); 12, 205 (254). 438 BVerfGE 13, 367 (373). 439 BVerfGE 61, 149 (205).
III. Schranken übergreifender Kompetenzausübungen
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Bund und Ländern unterlaufen und ausgehöhlt werden darf. Dem Gestaltungsspielraum des Bundes sind hier mit Rücksicht auf die für die bundesstaatliche Struktur der Verfassungsordnung grundlegenden Vorschriften der Art. 30, 70 Abs. 1 GG verhältnismäßig enge Grenzen gezogen. Der das gesamte verfassungsrechtliche Verhältnis zwischen Bund und Ländern beherrschende Grundsatz der wechselseitigen Pflicht des Bundes und der Länder zu bundesfreundlichem Verhalten verlangt gegenseitige Rücksichtnahme und schließt eine mißbräuchliche Interessenwahrnehmung aus (vgl. BVerfGE 43, 291 [348] m. w. N.). Diese dem Bund verfassungsrechtlich abverlangte Rücksichtnahme auf die Rechte der Länder verwehrt es ihm deshalb, jedenfalls an der Leine des § 839 BGB über Art. 34 GG in Wahrheit umfassend die Staatshaftung zu regeln.“440
Damit stellt das Bundesverfassungsgericht die grundsätzliche Möglichkeit des Hineinwirkens in fremde Zuständigkeiten fest, es verwehrt dem Bundesgesetzgeber aber zugleich die vollständige Aushöhlung fremder Zuständigkeiten durch umfassendes Übergreifen.441 Mit diesen Ausführungen ist indes noch nicht viel gewonnen, denn das Gericht lässt offen, wann eine Zuständigkeit „ausgehöhlt“ ist. Bei Lichte betrachtet, wird man eine solche Aushöhlung praktisch nie annehmen können. Die auf Beidseitigkeit, Trennung und Alternativität ausgerichtete Kompetenzordnung442 ließe sich nur schwer mit der Möglichkeit einer vollständigen Aushöhlung vereinbaren. Zwar gestattet die Kompetenzordnung eine Gesetzgebung mit übergreifenden Wirkungen, eine andere Qualität hätte aber eine Kompetenzausübung, wenn sie in Wahrheit umfassend fremde Sachbereiche regeln würde. Es spricht deshalb viel dafür, die Gefahr der Aushöhlung nicht erst auf der Normkonfliktebene mittels der Bundestreue, sondern bereits auf der Normkonkretisierungsebene zu verhindern. Dies ist möglich, wenn man den beidseitigen Charakter der Kompetenzen mit ihrem Ermächtigungs- und Ausgrenzungsgehalt ernst nimmt und somit von vornherein Auslegungen vermeidet, die derart übergreifende Wirkungen gestatten.443 Selbst für den Sachzusammenhang, der berechtigt, in fremde Materien überzugreifen, ist der Gefahr der Aushöhlung durch die Voraussetzungen des Sachzusammenhangs hinreichend Rechnung getragen. Denn der Sachzusammenhang ist nur punktuell möglich444; das Bundesverfassungsgericht betont in diesem Zusammenhang die Unzulässigkeit der umfassenden Regelung einer Länderzuständigkeit als Tatbestandsvoraussetzung, nicht als Kompetenzausübungsvoraussetzung.445
440
BVerfGE 61, 149 (204 f.). Ähnlich auch Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, S. 264, der das aus der Bundestreue abgeleitete Rücksichtnahmegebot dann als verletzt ansieht, wenn „einem Kompetenzträger die Kompetenzausübung durch Handlungen des anderen Kompetenzträgers unmöglich oder zumindest über die Maßen erschwert“ wird. 442 Vgl. dazu Erstes Kapitel V. 2. und 3. 443 Zur Berücksichtigung der Beidseitigkeit der Kompetenzordnung im Wege der systematischen Auslegung Zweites Kapitel IV. 444 Zweites Kapitel VI. 3. c) cc) (3). 445 BVerfGE 98, 265 (300). 441
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
Damit bleibt festzuhalten, dass der Einsatz der Bundestreue nicht gebraucht wird, wenn Regelungen vollständig fremde Kompetenzen aushöhlen.446 Derartige Übergriffe beruhen auf nicht kompetenzgerecht erlassenen Normen. Damit steht zugleich etwas anderes fest: Die Bundestreue als Kompetenzausübungsschranke für die Gesetzgebung kann kein Korrektiv sein, um Zuständigkeiten zu schützen. Dieser Schutz wird vielmehr umfassend durch eine konzentrierte Normkonkretisierung gewährleistet. Die Bundestreue muss somit „kleiner“ ansetzen. Nicht die generelle Zuständigkeit wird geschützt, sondern die unter einer Zuständigkeit getroffene Regelungskonzeption. Freilich ist noch nicht gesagt, unter welchen Bedingungen die Bundestreue eine übergreifende Kompetenzausübung verfassungswidrig macht. Vielmehr ist in einem vorherigen Schritt zu prüfen, wann überhaupt eine Regelungskonzeption als derart verfestigt gilt, damit sie als „überwiegender Belang“447 den Schutz durch die Bundestreue aktivieren kann. bb) Das abgeschlossene Ordnungsmodell als Voraussetzung einer bundesstaatlichen Rücksichtnahme Überwiegende Belange bestehen danach nur, wenn der andere Gesetzgeber tatsächlich tätig geworden ist und dadurch erkennbar seine schutzwürdige Regelungskonzeption zum Ausdruck gebracht. Hierdurch ergibt sich eine interessante Parallele zu Art. 72 Abs. 1 GG. Es wurde bereits deutlich, dass Art. 72 Abs. 1 GG dem Ziel dient, potentielle Widersprüchlichkeiten zu vermeiden.448 Ist der Anwendungsbereich von Art. 72 Abs. 1 GG eröffnet, so darf der Landesgesetzgeber konzeptionelle Entscheidungen des Bundesgesetzgebers nicht verfälschen.449 Mit dem Schutz eines abgeschlossenen Ordnungsmodells vermeidet das Bundesverfassungsgericht widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung und gewährleistet zugleich den vorrangigen Zugriff des Bundesgesetzgebers.450 Das Regelungsanliegen des Art. 72 Abs. 1 GG ist mithin vergleichbar mit der Problematik übergreifender Kompetenzausübungen: Der eine Gesetzgeber soll nicht auf Grundlage seiner eigenen Zuständigkeiten dem anderen Gesetzgeber „ins Handwerk pfuschen“. Dies gewährleistet Art. 72 Abs. 1 GG dadurch, dass Bundesrecht innerhalb abgeschlossener Ordnungsmodelle, die auch 446 Andere Ansicht Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen, S. 202 f., der die Bundestreue bereits als Auslegungsgesichtspunkt anwenden möchte. Schon bei Kompetenztitelberührungen müsse die Bundestreue ins Spiel kommen. Es sei zu prüfen, „wem es eher zuzumuten wäre, entsprechende Einschränkungen der Gesetzesanwendungen hinzunehmen“ (S. 203.). Diese Auffassung muss sich aber entgegenhalten lassen, dass Zuständigkeiten konsequent als Regeln formuliert sind. Entweder man ist Inhaber einer Kompetenz oder man ist es nicht. Zuständigkeiten sind voneinander abzugrenzen, nicht gegenseitig abzuwägen. Dies folgt aus dem Gebot, Kompetenzen „strikt“ zu interpretieren, vgl. dazu Zweites Kapitel II. 2. 447 Bauer, Die Bundestreue, S. 357. 448 Viertes Kapitel II. 2. a). 449 BVerfGE 113, 348 (371 f.). 450 BVerfGE 98 265 (300 f.); 102, 99 (115); 113, 348 (371 f.).
III. Schranken übergreifender Kompetenzausübungen
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den absichtsvollen Regelungsverzicht umfassen können451, Sperrwirkung entfaltet. Dieser Gedanke kann für den Anwendungsbereich der Bundestreue fruchtbar gemacht werden. Nur innerhalb abgeschlossener Ordnungsmodelle kann der Gesetzgeber zum Ausdruck bringen, dass seine Konzeptionen abschließend sind und somit nicht durch fremde Regelungen zunichtegemacht werden sollen. Solange und soweit ein Kompetenzträger innerhalb seiner ihm zustehenden Gesetzgebungskompetenzen abgeschlossene Ordnungsmodelle getroffen hat, sind dies berechtigte Belange, auf die Rücksicht zu nehmen ist. Damit ist freilich über die Reichweite der bundesstaatlichen Beachtungspflicht noch keine endgültige Aussage getroffen. Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte eher betont werden, dass der abschließende Gebrauch einer eigenen Regelungszuständigkeit an und für sich noch keine Sperrwirkung erzeugt. Das Grundgesetz hat diese Rechtsfolge nur für die Kollision zwischen konkurrierenden Zuständigkeiten getroffen. Außerhalb des Art. 72 Abs. 1 GG kommen insoweit nur die „weicheren“ Vorgaben der Bundestreue zur Geltung, die lediglich ein Missbrauchsverbot statuieren, also grundsätzlich auch die Einwirkungen in abgeschlossene Ordnungsmodelle gestatten.452 Das „abgeschlossene Ordnungsmodell“ ist aber insofern auch außerhalb der konkurrierenden Gesetzgebung von Bedeutung, weil mit ihr die Schutzwürdigkeit getroffener Regelungskonzeptionen konkretisiert werden kann. Hat etwa der Bundesgesetzgeber Regelungen getroffen, die ergänzende Regelungen ermöglichen, so besteht auch kein Bedarf, ihn vor landesrechtlichen Einwirkungen zu schützen. Die Möglichkeit einer „gravierenden Störung“453 im Sinne eines Missbrauchs ist somit von vornherein nur gegeben, wenn erkennbar ist, dass eine Regelungskonzeption erschöpfend ist und somit nicht nachträglich durch Konzepte des anderen Kompetenzträgers in ihren Wirkungen ergänzt, modifiziert, verändert, beeinträchtigt oder vereitelt werden soll. Sollen ergänzende Regelungen hingegen möglich sein („Draufsatteln“), so können diesbezügliche Regelungen von vornherein keine Berücksichtigungspflicht auslösen.454 Die hier vertretene Auffassung hat im Übrigen den Vorteil, dass sie die Bundestreue nicht zur allgemeinen Homogenitätspflicht erhebt und einer Unitarisierung keinen Vorschub leistet.455 Orientiert man sich an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 72 Abs. 1 GG, so können bloße Wert- und Zielvorstellungen des einen Kompetenzträgers keine Berücksichtigungspflicht des anderen Kompetenzträgers auslösen.456
451
Viertes Kapitel II. 2. b). Eine andere Ansicht wird wohl vertreten in BVerfGE 98, 265 (313 ff.). Krit. dazu insbesondere unter Viertes Kapitel III. 4. d). 453 Bauer, Die Bundestreue, S. 357. 454 Weber-Grellet, NJW 2001, 3657 (3663). 455 Zu diesen Bedenken Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 483 ff. 456 BVerfGE 49, 343 (359) sowie umfassend zu den Voraussetzungen des abschließenden Gebrauchmachens Viertes Kapitel II. 2. a). 452
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
cc) Konkretisierung der „gravierenden Störung“ Von der Bundestreue hat das Bundesverfassungsgericht bislang nur vorsichtigen Gebrauch gemacht und es – abgesehen von den Fällen der kommunalen Verpackungssteuer457 und der landesrechtlichen Abfallabgabe458 – vermieden, eine bundesstaatliche Homogenitätspflicht zu begründen. Stattdessen hat das Bundesverfassungsgericht die Kompetenzausübungsschranke auf die schwerwiegende Beeinträchtigung „elementarer Interessen eines anderen Landes“459 konkretisiert und sich auf die „Einhaltung der äußersten Grenzen“460 beschränkt. In der Tat tut das Bundesverfassungsgericht gut daran, Vorsicht im Umgang mit dem Gebot bundesfreundlichen Verhaltens walten zu lassen.461 Die Kritik an dem Bundestreueprinzip ist nicht neu und geht bereits auf die Schrift von Hesse „Der unitarische Bundesstaat“ zurück.462 Später hat Oeter beschrieben, der Gedanke der Bundestreue habe sich „als ein äußerst schillerndes Konzept erwiesen, das je nach bundesstaatstheoretischer Prämisse zur Begründung völlig entgegengesetzter Ergebnisse verwendet werden“ könne.463 Begriffe wie Bundestreue seien „im Grunde Blankettbegriffe.“ Wer in welcher Form der Gegenseite die Treue zu halten habe, sei eine Frage der „Vorstellungen von ‚angemessenem‘ Verhalten, die im Kern außerrechtlich begründet sind.“464 Bedenken werden auch im Hinblick auf die Vagheit des Prinzips geltend gemacht.465 Zwar sei jede Norm auf Normkonkretisierung angewiesen, und aus der neueren Rechtstheorie wisse man inzwischen, dass jede Konkretisierung auch ein Vorgang der Schöpfung und Kreation ist, gleichwohl sei das Prinzip der Bundestreue in derart hohem Umfang ausfüllungsbedürftig, dass der Rechtsanwender ein ganzes Geflecht an Subprinzipien benötige, um die Bundestreue mit ihrer Rücksichtnahmepflicht vom Einzelfall zu lösen und ihr einen abstrakt-generellen Charakter zu implementieren. Können derartige allgemeinverbindliche Regeln nicht entwickelt werden, so existiere stets die Befürchtung, dass mit der Bundestreue jeder politische Konflikt zu einem rechtlichen mit unbekannten Konfliktlösungsinstrumentarien aufgeladen wird.466 Zu Recht weist Oeter in diesem Zusammenhang auf die Gefahr der totalen Durchdringung der politischen Beziehungen hin mit der Folge, dass einfaches Recht „zur (rein 457
BVerfGE 98, 106. BVerfGE 98, 83. 459 BVerfGE 34, 216 (232); ähnlich auch BVerfGE 43, 291 (348). 460 BVerfGE 4, 115 (140). 461 Bedenken bei Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 269 f.; Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 480 ff.; Wittreck, in: Härtel, Handbuch Föderalismus, § 18 Rn. 28, 47 ff.; dagegen Bauer, Die Bundestreue, S. 374 ff. 462 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 6 ff.; dagegen G. Müller, in: FS Kiesinger, S. 213 ff. 463 Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 481. 464 Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 482. 465 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 270; Wittreck, in: Härtel, Handbuch Föderalismus, § 18 Rn. 47. 466 Hesse, Gründzüge des Verfassungsrechts, Rn. 269; Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 483. 458
III. Schranken übergreifender Kompetenzausübungen
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deklaratorischen) Konkretisierung der Prinzipien der Bundestreue“ und unter „Vernichtung jeglichen Gestaltungsspielraums für den Gesetzgeber“ verkommt.467 (1) Keine prozeduralen Anforderungen an die Gesetzgebung Diese Bedenken sprechen zwar nicht generell gegen die Anwendung des Bundestreueprinzips, sie sind aber stark genug, zur Vorsicht im Umgang anzuraten.468 Dass die Bundestreue durchaus mit sinnvollem Inhalt gefüllt werden kann, hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt bewiesen. In der Kalkar-II-Entscheidung hat es Vorgaben zum Gebrauch der Weisungsbefugnis des Bundes in der Bundesauftragsverwaltung entwickelt.469 Die damit verbundenen Vorgaben (Gebot der Weisungsklarheit, Gelegenheit zur Stellungnahme) sind in der Lage, die Interessen der Länder angemessen zu gewährleisten, zugleich hat das Bundesverfassungsgericht auch die Sachkompetenz des Bundes zur endgültigen Entscheidung klargestellt. Dem vorsichtigen Umgang mit der Bundestreue entspricht es aber zugleich, darauf hinzuweisen, dass die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten prozeduralen Anforderungen auf den Gebrauch von Weisungsrechten im Bundesauftragsverhältnis zugeschnitten sind und nicht ohne Weiteres auf den Gebrauch von Gesetzgebungskompetenzen übertragbar sind. Denn im Bereich der Gesetzgebung sind prozedurale Anforderungen schon durch verschiedene Verfahrensvorgaben übererfüllt, so wie sie im Grundgesetz bzw. den Landesverfassungen und den dazu gehörenden Geschäftsordnungen der Parlamente konkretisiert sind. Insbesondere werden die Interessen der Länder bereits durch die Mitwirkung des Bundesrates berücksichtigt, wobei das Grundgesetz das politische Gewicht der Länderinteressen anhand von Einspruchs- und Zustimmungsmöglichkeiten strukturiert. Weitere ungeschriebene prozedurale Anforderungen für die Gesetzgebung würden dieses differenzierte und abgestufte System überspielen und den akzessorischen sowie subsidiären Charakter der Bundestreue verfehlen. Auch Informationspflichten sind nicht zwingend geboten470, da Gesetze nicht aus heiterem Himmel fallen, sondern im Gesetzgebungsverfahren, angefangen mit den Referentenentwürfen, öffentlich diskutiert und spätestens mit der Veröffentlichung in den Gesetzesblättern bekanntgemacht werden. Sowohl vom Bund als auch von den Ländern darf erwartet werden, sich über die Tätigkeiten der anderen auf dem Laufenden zu halten. (2) Hemmung fremder Lösungsmuster nicht ausreichend Damit ist die Frage zu beantworten, wann das Übergreifen in ein abgeschlossenes Ordnungsmodell eines anderen Gesetzgebers derart gravierend ist, dass hier 467
Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 484. Auch hierzu rät Oeter, Integration und Subsidiratität, S. 485. 469 BVerfGE 81, 310 (335 ff.). 470 So aber Barthelmann, Der gestaltende Steuergesetzgeber, S. 145. 468
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
durch die bundesstaatliche Ordnung „gestört“ ist und somit ein Missbrauch bejaht werden kann. Dabei ist zunächst zu betonen, dass eine „gewichtige Störung“ der Belange eines anderen Kompetenzträgers noch nicht angenommen werden kann, wenn sich zwei Regelungskonzeptionen lediglich widersprechen.471 Würde man schon jegliche Wertungsdivergenzen mit dem Hebel der Bundestreue für nichtig erklären, so wäre dies eine zu starke Erschwerung des Gebrauchs von Gesetzgebungskompetenzen.472 Es würde zu erheblichen und auch rechtsstaatlich problematischen Rechtsunsicherheiten führen, wenn die Kompetenzausübung stets unter dem Damoklesschwert der Nichtigerklärung stünde, weil Bund und Länder es versäumt haben, wechselseitig aufeinander Rücksicht zu nehmen und ihre Konzepte aufeinander abzustimmen.473 Vor dem Hintergrund, dass eine Einheit der Rechtsordnung nicht erzwungen werden kann und Widersprüchlichkeiten im Bundesstaat auch hinnehmbar sein können, spricht viel dafür, die Bundestreue nicht als eine Homogenitätspflicht zu verstehen. Dies wäre auch wenig vertretbar, da die Regelungsvielfalt ein Charakteristikum des Bundesstaats ist. Es wäre inkonsistent, diese Vielfalt über Kompetenzausübungsschranken einzuschränken und die handelnden Akteure zur Koordinierung ihrer Regelungsvorstellungen zu zwingen.474 Dies spricht dafür, die Fälle eines Verstoßes gegen das Prinzip der Bundestreue auf qualifizierte Missbrauchsfälle zu beschränken. In diesem Zusammenhang fordert Haack eine schwere Störung.475 Er weist darauf hin, dass bloße Disparitäten der Ziele für sich genommen noch keine Störung darstellen können, der entscheidende Gedanke sei die „rücksichtslose Beeinträchtigung einer fremden Interessensphäre bei der Verfolgung des eigenen Zwecks.476 Die Bundestreue sei dann ins Spiel zu bringen, wenn „die hinzugesetzte Norm den Wirkungsmechanismus der anderen stört oder außer Kraft setzt, indem sie beispielsweise Anreize wertlos macht, gezielte Förderungen durch Belastungen erschwert oder – umgekehrt – ein vom anderen bekämpftes Verhalten in bestimmter Form begünstigt.“477 Insgesamt seien Störungen und Behinderungen des fremden Lösungsmusters verboten, „wo in einigen, kaum nennenswerten Einzelfällen die intendierte Wirkung eines anderen Gesetzes gehemmt wird“.478 Teilweise soll es sogar schon unzulässig sein, 471
Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, S. 209 f. So im Ergebnis auch Barthelmann, Der gestaltende Steuergesetzgeber, S. 144 f., wonach auftretende Störungen grundsätzlich hinzunehmen sind, allerdings mit der Einschränkung, dass kein Missbrauch vorliegen darf. Wann ein Missbrauch vorliegt, wird indessen nicht näher konkretisiert. 473 Lege, Jura 1999, 125 (128). 474 Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 115. 475 Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, S. 207 ff. 476 Ibid., S. 210. 477 Ibid., S. 210 f.; ähnlich auch Schulz / Kühlers, Konzepte der Zugangsregulierung für digitales Fernsehen, S. 16 in Bezug auf die Gemengelage von Bundes- und Landesrecht im Bereich der Neuen Medien: „Vielmehr muss der Bundesgesetzgeber im Zuge des bundesfreundlichen Verhaltens seine Gesetzgebungskompetenz […] so ausüben, dass die rundfunkpolitischen Spielräume der Länder nicht eingeschränkt werden.“ 478 Ibid., S. 212. 472
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dass die „Rechtsordnung des anderen Teils […] in ihrer Wirksamkeit gemindert wird“.479 Mit diesen Maßgaben ist indessen auch nicht viel gewonnen, da sie kaum über das hinausgehen, was das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung verlangt. In einer auf Vielfalt angelegten Bundesstaatsordnung sind derartige Störungen unvermeidlich; die Bundestreue würde entgegen des gebotenen vorsichtigen Umgangs nahezu alle politische Konfliktfelder verfassungsrechtlich durchformen. Im Grunde sind alle Bedenken, die gegen die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung ins Feld geführt wurden, auch auf diesen Lösungsansatz übertragbar. Unbeantwortet bleibt nach wie vor, wer wem die Bundestreue überhaupt schuldet. Das bloße Vorliegen einer Störung („Minderung“, Hemmung“, „Vereitelung“) führt letztlich zu einer Abwägungsfrage, welches Konzept schutzwürdiger ist. (3) Der entscheidende Gesichtspunkt: Nachhaltige Schädigung oder Vereitelung der konzeptionellen Gestaltungsmöglichkeiten Eine Störung der bundesstaatlichen Ordnung muss somit mehr voraussetzen als die bloße Hemmung fremder Lösungsmuster. Weiter führt der Gedanke von Herbst, der die Bundestreue nur dann für einschlägig hält, wenn durch die übergreifende Regelung der Sachbereich „praktisch unwirksam wird und damit der Zweck dieser Regelung weitgehend vereitelt wird.“480 Hiermit wird zutreffend die Aufmerksamkeit auf die geschützten Ordnungsmodelle gelegt. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass die Kompetenzordnung abgesehen von Art. 72 Abs. 1 GG weder dem Bund noch den Ländern einen konzeptionellen Vorrang zumisst.481 Dass alleine das abgeschlossene Ordnungsmodell durch divergierende Regelungen des anderen Gesetzgebers in seinen Wirkungen beeinträchtigt wird, kann für sich genommen also noch nicht genügen, um einen Missbrauch anzunehmen. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass die Bundestreue vor allem das Ziel hat, die Funktionsfähigkeit der bundesstaatlichen Ordnung aufrechtzuerhalten482 und für diesen Zweck ungeschriebene Verhaltens- und Unterlassungspflichten begründet. Deshalb soll nur dann zur Bundestreue gegriffen werden, wenn „die Interessen des Bundes und der Länder auseinanderlaufen, und zwar so, daß der eine Teil (und damit mittelbar das Ganze) Schaden nimmt, wenn der andere Teil seine Maßnahmen (seine gesetzliche Regelung) ausschließlich seinen Interessen entsprechend treffen würde“.483 Wird etwa die Zwecksetzung einer Regelungskonzeption des 479
Ibid., S. 212. Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 289 f.; ders., in: Berliner Kommentar, Art. 70 Rn. 92. 481 Auch Art. 31 GG begründet einen solchen Vorrang nicht. Art. 31 GG ist auf Normkollisionen beschränkt. 482 BVerfGE 34, 216 (232) spricht von der schwerwiegenden Beeinträchtigung elementarer Interessen eines anderen Landes. 483 BVerfGE 31, 314 (355) – abweichende Meinung der Richter Geiger, Rinck und Wand. 480
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
Bundes durch eine divergierende Regelung eines Landes tangiert, so hat der Bund immer noch die Möglichkeit, durch gesetzgeberische Nachbesserung die Wirksamkeit seiner Konzepte zu stärken. Im Übrigen kann er auf politischem Wege auf das Land Einfluss nehmen und auf eine Kompromissbildung setzen. Ist die nachträgliche Behauptung seiner Ordnungsmodelle noch möglich, so trägt keine Partei einen Schaden davon. Ist der Bund trotz der widerstreitenden Regelung weiterhin in der Lage, seine Konzepte durchzusetzen, so besteht keine Notwendigkeit, die Rechtsposition des Bundes mittels der Bundestreue und in letzter Konsequenz durch Nichtigerklärung des Landesgesetzes zu stärken. Folglich genügt die bloße Schädigung der Konzeptionierung nicht. Die bundesstaatliche Ordnung ist vielmehr erst dann gefährdet, wenn die Konzeptionierung des Gesetzgebers nachhaltig geschädigt oder zumindest gefährdet ist. Der Übergriff in fremde Kompetenzen muss derart gravierend sein, dass nach erfolgter Einwirkung der betroffene Kompetenzträger nicht mehr in der Lage ist, seine Konzeption selbst durch Modifikation seiner Gesetze durchzusetzen und es somit zu einer faktisch dauerhaften Sperrung seiner konzeptionsbezogenen Gestaltungsmöglichkeiten kommt. Im Unterschied zum Kriterium der „Aushöhlung der Gesetzgebungszuständigkeiten“484 greift nach der hier vorgezeichneten Lösung die Missbrauchsschwelle nicht erst dann ein, wenn der zuständige Gesetzgeber von seiner Kompetenz faktisch gar keinen Gebrauch mehr machen kann, weil der andere umfassend diesen Bereich schon geregelt hat.485 Da Kompetenzen, legt man sie systematisch aus, zu derart weitreichenden Ausstrahlungen nicht ermächtigen, kann es hierauf, wie beschrieben, nicht ankommen.486 Der entscheidende Anknüpfungspunkt ist vielmehr die konzeptionelle Gestaltungsmöglichkeit innerhalb des zugewiesenen Kompetenzbereichs. Eine übergreifende Kompetenzausübung wird kaum in der Lage sein, den Gesetzgeber vollständig von der Gesetzgebung auszuschließen.487 Sehr wohl kann sie aber derart in seinen Zuständigkeitsbereich einwirken, dass die Gesetzgebungsbefugnis nur noch wie „eine leere Hülle“ erscheint, weil seine Konzepte und politischen Vorstellungen faktisch nicht mehr umsetzbar sind. Eine solch gravierende Störung kann etwa auftreten, wenn Bundesgesetze derart umfassend in die Konzepte des Landesgesetzgebers übergreifen, dass nahezu jedes landesgesetzliche Nachbessern automatisch wegen Art. 31 GG derogiert würde. In einem solchen Fall wäre der Landesgesetzgeber dauerhaft von seiner eigenen Konzeptionsverwirklichung ausgeschlossen. Besonders im Bereich des Rundfunks sowie der Neuen Medien kann die Bundestreue durchaus relevant werden. Dem 484
Dazu Gliederungspunkt Viertes Kapitel III. 4. b) aa). Vgl. BVerfGE 61, 149 (205). 486 Selbst die Anknüpfung an den Sachzusammenhang kann, wie gezeigt, nur punktuell erfolgen, so dass die faktische Aushölung der Länderzuständigkeuten auch unter diesem Gesichtspunkt nicht möglich ist. 487 Dies ist nur möglich, wenn der Gesetzgeber seine Zuständigkeiten überschreitet, so dass die Regelungen schon nicht kompetenzgemäß zustande gekommen sind. 485
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Bund obliegt auf Grundlage von Art. 73 Abs. 1 Nr. 7 GG (Telekommunikation) die Aufgabe, die technischen Aspekte des Rundfunkwesens zu regeln. In diesem Sinne lässt sich ableiten, dass es dem Bund untersagt ist, technische Sachzwänge zu schaffen, die die rundfunkrechtlichen und programmatischen Entscheidungsspielräume der Länder dauerhaft schädigen oder gar „auf Null reduzieren“.488 Auch eine erhöhte grundrechtliche Belastungskumulation489 kann zu einer dauerhaften Sperrung der Gesetzgebung führen, wenn sie bewirkt, dass jedes weitere „Draufsatteln“ von vornherein unverhältnismäßig wird. Derart weitreichende Übergriffe gefährden die bundesstaatliche Ordnung und erreichen die Missbrauchsschwelle. Zugleich ist die Schwelle ausreichend hoch angesetzt, um die Eigenverantwortlichkeit des Kompetenzgebrauchs und somit die Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten nicht leer laufen zu lassen. Die hier vertretene Auffassung entspricht dem Verständnis des Bundesverfassungsgerichts, das die Bundestreue auf die „Einhaltung der äußersten Grenzen“ beschränkt.490 Zur Rücksichtnahme ist hierbei stets der Kompetenzträger verpflichtet, der durch seine übergreifenden Kompetenzausübungen in abgeschlossene Ordnungsmodelle des jeweils anderen einwirkt. Dabei muss nicht notwendigerweise die später erlassene Bestimmung verfassungswidrig sein.491 Die Pflicht zur Rücksichtnahme betrifft vielmehr denjenigen, dessen Regelungen janusköpfige Wirkungen erzeugen, also nicht an der eigenen Kompetenzgrenze Halt machen. c) Ergebnis Als Kompetenzausübungsschranke gebietet die Bundestreue, dass Bund und Länder ihre Kompetenzen in wechselseitiger Rücksichtnahme ausüben. Von Kompetenzen darf nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nur so Gebrauch gemacht werden, „daß es die Belange des Gesamtstaates und die Belange der anderen Länder nicht in unvertretbarer Weise schädigt oder beeinträchtigt“492. Eine damit einhergehende Unterkategorie ist das Verbot der missbräuchlichen Rechtsausübung.493 Aus Respekt vor der ermächtigenden Funktion von Gesetzgebungskompetenzen ist der Tatbestand eines Verstoßes gegen den Bundestreuegrundsatz eng gefasst. Eine überschreitende und den jeweils anderen Kompetenzträger störende Gesetzgebung führt nur dann zu einem Verstoß gegen das Gebot der Bundestreue, wenn es in bereits abgeschlossene Ordnungsmodelle des anderen Gesetzgebers eingreift und zugleich seine konzeptionellen Gestaltungsmöglichkeiten nachhaltig vereitelt. 488
Ricker / Schiwy, Rundfunkverfassungsrecht, B Rn. 233, S. 156. Dazu Kromrey, Belastungskumulation, passim. 490 BVerfGE 4, 115 (140); 6, 309 (361); 14, 197 (215); 106, 225 (243). 491 So aber Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen, S. 215. 492 BVerfGE 34, 9 (44). 493 Bauer, Die Bundestreue, S. 356 ff. 489
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d) Übertragung auf ausgewählte Fälle Im Falle der kommunalen Verpackungssteuer494 sind keine Hinweise sichtbar, dass eine Verpackungssteuer das duale System (weitgehend) vereitelt und somit die Konzeptionierung des Bundes dauerhaft stört oder unmöglich macht. Zwar lässt sich in der Tat annehmen, dass das Steuerkonzept der Stadt Kassel dem auf Kooperation angelegten Ordnungsmodell des Bundes entgegenläuft. Es hätte allerdings nachgewiesen werden müssen, dass die Gestaltung eines Kooperationskonzepts im Hinblick auf das Ziel der Abfallvermeidung durch eine einzelne kommunale Satzung nachhaltig gestört ist. Vor allem hätte das Bundesverfassungsgericht berücksichtigen müssen, dass der Beschwerdegegenstand ein singulärer Akt kommunaler Rechtssetzung war und die Auswirkungen der Verpackungssteuer auf das kommunale Gebiet begrenzt blieben.495 Es fehlt somit auch der Nachweis, dass die kommunale Satzung (bzw. das Zusammenspiel von allen kommunalrechtlichen Verpackungssteuern496) überhaupt in der Lage war, das Duale Abfallsystem und somit das Kooperationskonzept zu vereiteln. Die Verpackungssteuer wäre also nach der hier vertretenen Lösung über den Grundsatz der Bundestreue grundsätzlich rechtmäßig gewesen497, während nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts bereits der Widerspruch zur Bundeskonzeption die Verfassungswidrigkeit begründete. Eine andere Entscheidung, in der das Bundesverfassungsgericht einen Normkonflikt auflösen musste, war die Entscheidung zum Bayerischen Schwangerenhilfeergänzungsgesetz, die berufsrechtliche Regelungen des bayerischen Landesgesetzgebers betraf, wonach unter anderem die Einnahmen aus den in spezialisierten Einrichtungen vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüchen ein Viertel der aus ihrer gesamten Tätigkeit erzielten Einnahmen nicht übersteigen durfte.498 Das Bundesverfassungsgericht hielt die Vorschrift für verfassungswidrig, weil der Bund seine konkurrierende Zuständigkeit für das Strafrecht in Verbindung mit einem Sachzusammenhang erschöpfend wahrgenommen habe. Der Bundesgesetzgeber habe durch absichtsvollen Regelungsverzicht ausgedrückt, dass er von seinem Konzept, einen Ausgleich im Spannungsfeld zwischen dem Schutz des ungeborenen Lebens, der Selbstbestimmung der Frau sowie den Interessen der Ärzte zu schaffen, abschließenden Gebrauch im Sinne eines abgeschlossenen Ordnungsmodells gemacht habe. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts war es unzulässig, dass das Land Bayern diesen Kompromiss durch ergänzende Rege 494
BVerfGE 98, 106. Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 300. 496 Zum Zeitpunkt der Entscheidung hatten etwa 50 Kommunen, darunter 20 in NordrheinWestfalen vergleichbare Verpackungssteuersatzungen erlassen. 497 So im Ergebnis auch Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 299 ff.; ders., in: Berliner Kommentar, Art. 70 Rn. 96; für einen Verstoß gegen den Grundsatz der Bundestreue plädiert hingegen Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen, S: 217. 498 BVerfGE 98, 265; dazu Zweites Kapitel VI. 3. c) dd) (2) und Viertes Kapitel II. 2. b). 495
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lungen in Frage stellte. Deshalb sei eine Sperrwirkung des Bundesrechts nach Art. 72 Abs. 1 GG anzunehmen, was zur Verfassungswidrigkeit der bayerischen Regelungen führte.499 Diese Entscheidung überzeugt nicht. Drei Gründe sprechen gegen die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts: Erstens konnte sich der Bundesgesetzgeber nicht auf einen derart weit zu verstehenden Sachzusammenhang berufen. Dies wurde bereits an anderer Stelle ausführlich erörtert.500 Zweitens stellt sich die Frage, ob Regelungen im Sachzusammenhang überhaupt ein derart weit zu verstehendes abgeschlossenes Ordnungskonzept begründen können. Immerhin wurde bereits deutlich, dass der Sachzusammenhang nur eine punktuelle Wirkung entfalten darf. Führt das sachzusammenhangsübergreifende Konzept des Bundesgesetzgebers aber dazu, dass die Länder wegen Art. 72 Abs. 1 GG vom Gebrauchmachen der eigenen Zuständigkeit ausgeschlossen werden, so geht diese Wirkung weit über den punktuellen Charakter des Sachzusammenhangs hinaus.501 Und drittens überzeugt die Entscheidung schon deshalb nicht, da den strafrechtlichen Regelungen des Bundes, die aufgrund des Sachzusammenhangs in eine berufsrechtliche Materie übergreifen, die bayerischen Einnahmequotierungsregelung entgegensteht, die als solche in die ausschließliche Zuständigkeit der Länder für das Berufsrecht fällt. Der Sinn des Sachzusammenhangs liegt ja gerade darin, dass in eine fremde, nicht in eine eigene Materie übergegriffen wird. Das Bundesverfassungsgericht konstruiert dennoch eine Sperrwirkung, allerdings mit der Konsequenz, dass die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes nach Art. 72 Abs. 1 GG plötzlich auch die ausschließliche Gesetzgebung der Länder zu sperren imstande ist. Dies ist nicht richtig. Die Situation, dass eine berufsrechtliche Regelung auf Grundlage der ausschließlichen Zuständigkeit des Landes mit einer strafrechtlichen Regelung des Bundes auf dem Feld der konkurrierenden Gesetzgebung kollidiert, ist nicht mit der Situation des Art. 72 Abs. 1 GG vergleichbar. Im Rahmen der ausschließlichen Zuständigkeit können die Länder vorbehaltlos und selbstständig ihre Kompetenzen wahrnehmen. Das Vorrangprinzip des Art. 72 Abs. 1 GG ist auf diese Kompetenzkategorie gerade nicht anwendbar.502 499
BVerfGE 98, 265 (313 ff.). Zur Begründung des Sachzusammenhangs Zweites Kapitel VI. 3. c) dd) (2) und zur Frage, ob ein abgeschlossenes Ordnungsmodell vorlag Viertes Kapitel II. 2. b). 500 Dies wurde schon ausführlich begründet, dazu Zweites Kapitel VI. 3. c) dd) (2). 501 Zu diesen Bedenken auch Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 210 f.; weniger krit. etwa Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, S. 217. Zur punktuellen Wirkung des Sachzusammenhangs Zweites Kapitel VI. 3. c) cc) (3). 502 Fehlerhaft in diesem Sinne ebenso BVerfGE 121, 317 (347): „Für den Erlass der angegriffenen Rauchverbote in Gaststätten steht den Ländern nach Art. 70 Abs. 1 GG die Gesetzgebungskompetenz zu. Ob der Bund aufgrund einer Regelungsmaterie der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 74 GG) ein solches Verbot anordnen könnte, bedarf keiner Entscheidung; denn von dieser etwaigen Zuständigkeit hat der Bund keinen oder zumindest keinen umfassenden Gebrauch gemacht, so dass die Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 1 GG landesgesetzlichen Bestimmungen nicht entgegensteht.“
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Ohnehin macht schon das Ergebnis der Entscheidung stutzig. Nicht die übergreifende Kompetenzwahrnehmung (des Bundes) wird unter Vorbehalt gestellt, sondern die berufsrechtlichen Regelungen des Landes Bayern, die nur deshalb in bundesrechtliche Konzeptionen „ausstrahlen“, weil der Bund seine eigene Konzeption im Wege des Sachzusammenhangs auf berufsrechtliche Regelungen erweitern konnte. Hätte man demgegenüber den Sachzusammenhang im Hinblick auf berufsrechtliche Regelungen abgelehnt, was auch dem richtigen Ergebnis entsprochen hätte503, so wäre die bundesrechtliche, nicht die landesrechtliche Regelung verfassungswidrig gewesen. Die Entscheidung zum bayerischen Schwangerenhilfeergänzungsgesetz macht deutlich, dass Normkonflikte „selbst verschuldet“ sein können, nämlich dann, wenn man auf der Ebene der Normkonkretisierung Kompetenzzuordnungen vornimmt, die erst zu solchen Konflikten führen. Dessen ungeachtet würden die bayerischen Regelungen nach der hier vorgeschlagenen Konkretisierung nicht zu einer Verfassungswidrigkeit der bayerischen Regelungen führen. Zwar gehen die ergänzenden bayerischen Regelungen über das Konzept des Bundes hinaus und „stören“ den gefundenen Kompromiss. Dies führt für sich genommen aber noch nicht zu einer nachhaltigen Vereitelung der konzeptionellen Gestaltungsmöglichkeiten des Bundes. Das Herzstück der bundesrechtlichen Reform ist die Lockerung des Strafrechtsschutzes des ungeborenen Lebens bei gleichzeitiger Verstärkung der Konfliktberatungsmöglichkeiten. Dieses Konzept bleibt trotz bayerischer „Einmischung“ weiterhin intakt.504 Ein Missbrauch kann folglich nicht angenommen werden. 5. Keine Anwendbarkeit von Art. 31 GG auf Wertungswidersprüche Nach gängiger Ansicht setzt die Rechtsfolge „Bundesrecht bricht Landesrecht“ (Art. 31 GG) voraus, dass zwei Normen kollidieren. Die Kollisionsvorschrift des Art. 31 GG hinweggedacht, müssen beide Normen auf denselben Sachverhalt anwendbar sein, sich auf denselben Regelungsgegenstand beziehen und bei ihrer Anwendung zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.505 Die Normkollision setzt voraus, dass sich unvereinbare Normgehalte gegenüberstehen.506 Dieser Tatbestand ist bei bloßen Wertungswidersprüchen nicht erfüllt. Die Fallgestaltungen von Lenkungssteuern verdeutlichen diesen Befund: Die Rechtsfolge einer Lenkungssteuer ist das Bestehen oder Nichtbestehen einer Steuerzahlungspflicht, während die Sachregelung der anderen föderalen Ebene keine Aussage zur Steuerzahlungspflicht enthält, sondern auf ein Gebot oder Verbot bezogen ist. Beide Regelungen haben ein unterschiedliches Verhalten zum Gegenstand.507 Eine Lenkungssteuer 503
Zweites Kapitel VI. 3. c) dd) (2) (d) (bb). Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, S. 217. 505 BVerfGE 36, 342 (363); 121, 317 (348) m. w. N.; vgl. auch die Darstellung von Korioth, in: Maunz / Dürig, Art. 31 Rn. 8 ff. 506 Pietzcker, in: HStR VI, § 134 Rn. 56. 507 Trzaskalik, Gutachten zum DJT 2000, Bd. 1, S. E 5 (E 33). 504
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begründet somit keine logisch unvereinbaren Rechtsfolgen; sie ist allenfalls in der Lage, das Konzept des Sachgesetzgebers teleologisch zu konterkarieren. Auf die Vereinheitlichung von gesetzlichen Zielen ist Art. 31 GG jedoch nicht ausgerichtet. Herbst bringt diesen Unterschied zutreffend auf den Punkt, wonach „Bundes recht bricht Landesrecht“ etwas anderes meint als „Bundeskonzeption bricht Landeskonzeption“.508 Teilweise wird hingegen dafür plädiert, Art. 31 GG auch bei Zieldivergenzen anzuwenden.509 Dies gelte insbesondere für Wertungswidersprüche zwischen sachrechtlichen und steuerrechtlichen Regelungen.510 Der Vorzug dieser Lösung liegt in seiner Einfachheit. Konflikte werden stets zugunsten des Bundes aufgelöst, unabhängig davon, in welcher zeitlichen Reihenfolge das Recht erlassen worden ist. Dieser Vorteil ist aber zugleich sein größter Nachteil: Wertungswidersprüche werden einseitig zugunsten des Bundes entschieden.511 Die Regelungsvielfalt des Bundesstaates würde zugunsten einer unitarischen, auf den Bund zentrierten Lösung aufgegeben.512 Dies wäre kaum mit dem beidseitigen und wechselseitigen Charakter der Kompetenzordnung vereinbar. Lösungen über Art. 31 GG sind folglich abzulehnen. 6. Lösung durch Abwägung: Verhältnismäßigkeit Vereinzelt wird neben dem Prinzip der Bundestreue auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Bund-Länder-Verhältnis für anwendbar erklärt. Obgleich die Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsprinzips auf das auf Trennung und Alternati vität ausgerichtete Kompetenzsystem überwiegend abgelehnt wird513, wird teilweise betont, dass der Übergriff des einen Kompetenzträgers in einen fremden Befugnisbereich eine Betroffenheitsstellung des anderen Kompetenzträgers in seinem ihm 508
Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 310. Bleckmann, DÖV 1986, 125 (130); diese Möglichkeit wird auch erwogen von Jarass, Kartellrecht und Landesrundfunkrecht, S. 50; Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, S. 213 ff. Das erwägt auch Dieterich, Systemgerechtigkeit und Kohärenz, S. 372; ähnlich Pestalozza, DÖV 1971, 181 (190). 510 P. M. Huber, in: Sachs, GG, Art. 31 Rn. 30; ähnlich auch Dreier, in: ders., GG, Art. 31 Rn. 60. 511 Pestalozza, DÖV 1972, 181 (190), der bekanntlich die Möglichkeit von Mehrfachqualifikationen anerkennt, möchte Art. 31 GG nur als Suspensionsnorm anwenden mit der Folge, dass Bundesrecht Landesrecht nur für die Zeit der Geltung der Bundesnorm verdrängt. Gegen diese Lösung spricht allerdings der Wortlaut von Art. 31 GG, der als Derogationsnorm formuliert ist („bricht“); umfassend zum Verständnis der Derogation als rechtstheoretischer Begriff Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, S. 84 ff. sowie S. 101. 512 Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen, S. 88; Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 310. 513 Heintzen, in: BK, Art. 70 Rn. 72; Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 76; Wagner, Die Konkurrenzen der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, S. 271 ff.; differenzierend Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 397 ff., der darauf hinweist, dass in den Gesichtspunkten des Sachzusammenhangs und des Annexes Verhältnismäßigkeitserwägungen bereits integriert sind. 509
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zustehenden Gesetzgebungsrecht auslöst. Dann seien die Grundsätze des legitimen Zwecks, der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und Zumutbarkeit anwendbar.514 Ob das Verhältnismäßigkeitsprinzip bei widersprüchlichen Regelungskonzeptionen tatsächlich zum Einsatz gebracht werden kann, ist umstritten. Die überwiegende Ansicht tendiert dazu, den Grundsatz im Staatsorganisationsrecht generell nicht anzuwenden515 und kann sich dabei auf den Kalkar-Beschluss berufen: „Aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Schranken für Einwirkungen des Staates in den Rechtskreis des Einzelnen sind im kompetenzrechtlichen Bund-Länder-Verhältnis nicht anwendbar. Dies gilt insbesondere für den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; ihm kommt eine die individuelle Rechts- und Freiheitssphäre verteidigende Funktion zu. Das damit verbundene Denken in den Kategorien von Freiraum und Eingriff kann weder speziell auf die von einem Konkurrenzverhältnis zwischen Bund und Länder bestimmte Sachkompetenz des Landes noch allgemein auf Kompetenzabgrenzungen übertragen werden.“516
Der Ansicht wird zu Recht entgegengehalten, sie verenge den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unzulässig auf das Staat-Bürger-Verhältnis.517 Auch im Verhältnis innerhalb oder zwischen Staaten könne der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Anwendung finden, er sei immer bereits dann anwendbar, wenn die Verfassung (oder das einfache Recht) geschützte Befugniszuweisungen vornimmt. Aus dem Prinzip des Vorrangs der Verfassung könne ein Schutz vor Eingriffen in die Befugnisse abgeleitet werden.518 Dieser Ansicht ist grundsätzlich zuzustimmen. Insbesondere entspricht es auch nicht mehr der Verfassungspraxis, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur bei Bürger-Staat-Konstellationen anzuwenden. Das Bundesverfassungsgericht hat etwa auch für Abgeordnete519 oder für Beschränkungen der Selbstverwaltungsgarantie von Kommunen520 ausdrückliche Verhältnismäßigkeits erwägungen angestellt.521 Entscheidend dürfte vielmehr sein, ob das jeweilige 514
Brohm, DÖV 1983, 525 (528); Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 369 ff., S. 397 f.; Ossenbühl, Rundfunk zwischen nationalem Verfassungsrecht und europäischem Gemeinschaftsrecht, S. 37 f.; ähnlich auch Jarass, Kartellrecht und Landesrundfunkrecht, S. 47 ff., der jedoch einen zurückhaltenden Umgang anmahnt, aber letztlich doch eine Kompetenzausübungsschranke formuliert, die die Maßstäbe der Verhältnismäßigkeit in sich aufnimmt (S. 50): „Voraussetzung ist daher insbesondere, daß die landesrechtliche Regelung wirklich geeignet ist, die mit ihr verfolgten Ziele zu erreichen. Weiter darf es für das Land keine andere, die Bundeskompetenz weniger beeinträchtigende Möglichkeit geben, seine gesetzgeberischen Vorstellungen zu realisieren.“ 515 Dittmann, in: Sachs, GG, Art. 85 Rn. 22; Isensee, in: HStR VI, § 133 Rn. 76; U. Müller / Mayer / Wagner, VerwArch 93 (2002), 585 (590, 598); Rengeling, in: HStR VI, § 134 Rn. 26. 516 BVerfGE 81, 310 (338); zust. U. Müller / Mayer / Wagner, VerwArch 93 (2002), 585 (590). 517 Heusch, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Staatsorganisationsrecht, S. 93 ff.; Jarass, Kartellrecht und Landesrundfunkrecht, S. 48; Kluth, in: BK, Art. 85 Rn. 142.; a. A. etwa Hermes, in: Dreier, GG, Art. 85 Rn. 55. 518 Heusch, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Staatsorganisationsrecht, S. 63 ff. 519 BVerfGE 134, 141 (172 Rn. 110 ff.); 137, 185 (262 Rn. 196). 520 BVerfGE 138, 1 (19 f. Rn. 55). 521 Darstellung der Anwendungsfelder bei Heusch, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Staatsorganisationsrecht, S. 93 ff.
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Recht dem betroffenen Subjekt eine schützenswerte Rechtsposition (Befugnis) verliehen hat, die er zur Abwehr fremder Rechtspositionen in Stellung bringen kann. Allerdings folgt aus der grundsätzlichen Anerkennung der Verhältnismäßigkeit (auch) im Staatsorganisationsrecht noch nicht, dass sie auch bei Konflikten jeglicher Art Anwendung findet. Vielmehr muss gesondert geprüft werden, ob es tatbestandlich überhaupt um Abwägungsfragen zwischen zwei Rechtspositionen geht. An dieser Stelle ist an der Unterscheidung von Prinzipienkollisionen und Regelkonflikten anzusetzen.522 Die Verhältnismäßigkeit ist ein Instrument zur Güterabwägung. Für die Lösung von Normkonflikten würde der Grundsatz nur weiterhelfen, wenn Gesetzgebungskompetenzen Prinzipien und nicht bloße Regeln sind. Prinzipien lassen sich mit Alexy am besten als Optimierungsgebote auffassen.523 Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass sie „gebieten, daß etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst in hohem Maße realisiert wird“.524 Treten nun zwischen zwei Normen Kollisionen auf, so muss für den Vorrang des einen Prinzips eine Abwägung durchgeführt werden, so dass das andere Prinzip im Kollisionsfalle zurücktritt. Nach dem Abwägungsgesetz soll eine Korrelation zwischen Beeinträchtigung eines Prinzips und Wichtigkeit der zur Erfüllung des kollidierenden Prinzips bestehen.525 Dieser Gedanke impliziert den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.526 Kompetenzen, so wie sie hier verstanden werden, lassen diesen Prinzipiencharakter nicht erkennen. Aus der gewaltenteilenden Funktion der Kompetenzordnung und ihrer auf Trennung, Alternativität und Beidseitigkeit ausgestalteten Struktur folgt, dass die Staatsgewalt auf zwei Kompetenzträger verteilt wird. Kompetenzen sind Ermächtigungsnormen und weisen auf die Möglichkeit kompetenzgemäßen Handelns hin. Ihre Grenzen finden sie in den spiegelbildlichen Befugnissen des jeweils anderen Kompetenzträgers. Wegen des Grundsatzes der Beidseitigkeit der Kompetenzordnung527 können sie auch nicht effektuierend wahrgenommen werden. Kompetenznormen sind folglich nicht auf Optimierung im Sinne eines Prinzips ausgelegt. Anders ausgedrückt: Kompetenzkonflikte sind Grenzziehungskonflikte, keine Abwägungskonflikte. 522
Beispielhaft entfaltet in Alexy, Theorie der Grundrechte, besonders ab S. 75 ff. Die Unterscheidung findet sich schon bei Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 22 ff. („rules“ und „principles“) und bei Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, S. 39 ff. Vgl. darüber hinaus Klement, JZ 2008, 756 (763 f.), der darauf hinweist, dass ein Prinzip nicht selbst ein Optimierungsgebot ist, sondern nur ein Gegenstand eines Optimierungsgebots sein kann. Klement möchte Prinzipien daher „durch den Prima-Facie-Charakter des von ihnen statuierten Sollens“ (S. 764) definieren. Die Regel-Prinzipien-Unterscheidung ist nicht unumstritten, vgl. unter vielen Vogel / Christensen, Rechtstheorie 44 (2013), 29 (32 ff.). 523 Alexy, Theorie der Grundrechte, besonders ab S. 75. 524 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75. 525 Dazu Sieckmann, Grundrechte als Prinzipien, S. 83. 526 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 100 ff.; vgl. auch ders., in: GS Sonnenschein, S. 772. Danach folge der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit „logisch aus der Prinzipiendefinition, und dieser aus jenem.“ 527 Erstes Kapitel V. 3.
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
Deshalb sind Kompetenznormen als Regeln formuliert. Unter Regeln werden Normen bezeichnet, die entweder erfüllt oder nicht erfüllt sein können und bezogen auf einen Sachverhalt eine abschließende Festsetzung treffen.528 Während die Kollision von Prinzipien eine Güterabwägung im Sinne eines „Mehr-oder-Weniger“ erforderlich macht, sind Regeln durch ihren „Alles-oder-nichts-Charakter“ gekennzeichnet. Ob eine Regel im konkreten Falle gilt, ist durch Subsumtion zu entscheiden. Treten zwischen einzelnen Kompetenzausübungen ein Normkonflikt auf, so ist dieser nicht durch Abwägung, sondern durch entsprechende Kollisionsregeln aufzulösen. Deshalb passen auch Verhältnismäßigkeitserwägungen nicht auf die Ausübung von Kompetenznormen. Die Art. 30 und Art. 70 ff. GG machen deutlich, dass sowohl dem Bund als auch den Ländern ein gleichberechtigter Anteil an der Gesetzgebung zukommt. Beiden Parteien wird mit der Kompetenzordnung ein Status zugesichert, der zur eigenverantwortlichen Aufgabenwahrnehmung unter Ausschluss des jeweils anderen ermächtigt. Wollte man Wertungswidersprüche mithilfe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auflösen, so müsste man die Folgefrage lösen, wer wem Verhältnismäßigkeit schuldet (Bund oder Länder?). Herbst weist in diesem Zusammenhang mit Recht darauf hin, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf asymmetrische Konstellationen zugeschnitten ist.529 Da Bund und Länder einen gleichwertigen Anteil an der Gesetzgebung haben und ihr („wenn auch übergreifendes“) Tätigwerden auf Grundlage eigener Kompetenzen erfolgt, gibt es keine asymmetrische Rollenverteilung zwischen Bund und Land, die es rechtfertigen würde, die strengen Maßstäbe der Verhältnismäßigkeit anzuwenden, um den „schwächeren Akteur“ zu schützen. Eine abwägende Betrachtung, welche Kompetenzwahrnehmung gewichtiger ist, ist der Kompetenzlehre fremd.530 Der hier vertretene Vorschlag, Konflikte dieser Art mithilfe des Prinzips der Bundestreue zu lösen531, hat wiederum den Vorteil, dass er Konfliktlösungen nicht anhand von Abwägungsentscheidungen zu lösen versucht, sondern die Kompetenzausübung lediglich auf die Einhaltung der äußersten Grenzen beschränkt. Damit verbleibt für Bund und Länder genügend Raum, von den eigenen Kompetenzen eigenverantwortlichen Gebrauch zu machen, zugleich sind missbräuchliche Störmanöver in abgeschlossene Ordnungsmodelle untersagt. Während die Bundestreue lediglich eine Korrektivfunktion hat, hätte der Einsatz des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei bundesstaatlichen Beziehungen eine ordnende und dirigierende Kraft, die dem selbstständigen und wechselseitigen Charakter von Gesetzgebungszuständigkeiten nicht gerecht würde. Die Anwendung ist folglich abzulehnen. 528
Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 76 f. Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 309; ders., in: Berliner Kommentar, Art. 70 Rn. 98. 530 In der Dimension des Gewichts sieht Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 79 den grundlegenden Unterschied zwischen Regelkonflikten und Prinzipienkollisionen. Regelkonfllikte spielten sich in der Dimension der Geltung ab, „Prinzipien finden, da nur geltende Prinzipien kollidieren können, jenseits der Dimension der Geltung in der Dimension des Gewichts statt“; ausführlich dazu ders., in: GS Sonnenschein, S. 771 ff. 531 Viertes Kapitel III. 4. [Die Bundestreue als Maßstab zur Lösung von Normkonflikten]. 529
III. Schranken übergreifender Kompetenzausübungen
427
7. Rechtsstaatliche Lösungsmöglichkeiten Neben bundesstaatlichen Aspekten können Wertungswidersprüche auch aus rechtsstaatlichen Gründen problematisch sein. Rechtsstaatliche Gesichtspunkte haben eine andere Blickrichtung. Während bundesstaatliche Auflösungskriterien das Rechtsverhältnis zwischen Bund und Ländern in den Blick nehmen, rücken rechtsstaatliche Gesichtspunkte den Bürger als Normadressaten ins Zentrum. Aus dem Rechtsstaat im Allgemeinen und aus den jeweiligen Grundrechtsnormen im Besonderen abzuleitende Gesichtspunkte, die im Falle von sich widersprechendem Recht relevant werden können, sind insbesondere solche der Bestimmtheit, des Vertrauensschutzes, der Folgerichtigkeit und insbesondere der Verhältnismäßigkeit. In der bereits besprochenen Verpackungssteuer-Entscheidung hatte das Bundesverfassungsgerichts diese Problemkreise im Blick. Es ging davon aus, das Rechtsstaatsprinzip verpflichte alle rechtssetzenden Organe des Bundes und der Länder, „die Regelungen so aufeinander abzustimmen, daß den Normadressaten nicht gegenläufige Regelungen erreichen, die die Rechtsordnung widersprüchlich machen“.532 Die Kritik an dieser Entscheidung wies mit Recht darauf hin, dass eine derartige Formulierung den Gesetzgeber zur Einheit der Rechtsordnung verdammt und dass das Bundesverfassungsgericht mit der Vermischung von bundesstaat lichen und rechtsstaatlichen Gesichtspunkten die eigentlich rechtsstaatlichen Bewertungskriterien überging, die gewöhnlich an Grundrechtseingriffe zu stellen sind.533 Dass das Postulat der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung insgesamt zu einer Verschärfung der Gesetzgebungsanforderungen führt, zeigt sich, wenn man die Frage einer kommunalen Verpackungssteuer anhand der grundrechtlichen Maßstäbe überprüft. Zu überlegen wäre, ob das widersprüchliche Verhältnis zwischen der kommunalen Lenkungssteuer und des bundesrechtlichen Kooperationskonzeptes die normative Geltung unbestimmbar und unklar erscheinen lässt. Zwar ist der Schuldner einer Verpackungssteuer zugleich Adressat des bundesrechtlichen Kooperationskonzeptes. Obgleich bestimmte Möglichkeiten, die er innerhalb der Bundeskonzeption hat, durch eine Verpackungssteuer wirtschaftlich unattraktiv werden, wird die Rechtslage für ihn nicht unklar. Wie das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung selbst ausführt, hat eine Verpackungssteuer zur Konsequenz, dass der Steuerschuldner zukünftig auf die Verwendung von Einweggeschirr oder die stoffliche Verwertung ausgegebenen Einwegmaterials außerhalb der kooperativen öffentlich-rechtlichen Entsorgung verzichten wird.534 Zwar begünstigt eine solche Regelung ein Verhalten, das dem Ziel des Bundesgesetzgebers, „möglichst alle Verantwortlichen innerhalb der Produktions- und Handelskette […] zu einer gemeinsamen und koordinierten Vermeidung von Verpackungsabfällen 532
BVerfGE 98, 106, (119); ebenso 98, 83 (97); 98, 265 (301). Etwa Hanebeck, Der Staat, 41 (2002), 429 (445 ff.). 534 BVerfGE 98, 106 (130). 533
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
in die Pflicht zu nehmen“535, zuwiderläuft, allein dieser Widerspruch macht die Rechtslage aber für die Adressaten der Regelungen nicht unbestimmbar. Vielmehr überlässt die Verpackungssteuerregelung dem Steuerschuldner die Wahl, ob er die Steuerschuld vermeiden möchte oder nicht; er kann die Steuertatbestände in seine unternehmerischen Kalkulationen aufnehmen und dementsprechend handeln.536 Solange die Steuer auch nicht unzulässig in Vertrauenstatbestände eingreift und im Hinblick auf die Höhe auch nicht unzumutbar erscheint, sind für ihn die nach teiligen Folgen durchaus hinnehmbar. Alleine nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten wäre die kommunale Verpackungssteuer also nicht verfassungswidrig gewesen. Schließlich kann auch Art. 3 Abs. 1 GG nicht ins Feld geführt werden, da der Gleichheitssatz mit seinem Gebot der Folgerichtigkeit und Systemgerechtigkeit537 einen Träger öffentlicher Gewalt nur in dessen konkreten Zuständigkeitsbereich bindet.538 Das Phänomen, dass eine übergreifende Kompetenzausübung Konzepte des anderen Gesetzgebers bundesstaatswidrig überrollt, lässt sich somit trennen von der Frage, ob eintretende widersprüchliche Regelungskonzepte aus rechtsstaatlichen Gründen fragwürdig sein können. Dem Bürger kann sich allerdings ein anderes Problem stellen: Durch das Zusammenwirken von Bundes- und Landesrecht kann insgesamt die Belastungsintensität des Grundrechtsberechtigten steigen. Eingriffe, die einzeln betrachtet über keine große Intensität verfügen, können durch die Bündelung verschiedener Vorgaben des Bundes- als auch des Landesrechts eine erdrückende Wirkung entfalten. Beispielsweise können Berufsausübungsbeschränkungen für Ärzte sowohl aus dem ärztlichen Berufsrecht (Landesrecht) als auch aus dem Kassenarztrecht (Bundesrecht) folgen und kumulative Grundrechtsbelastungen erzeugen. Ein anderes denkbares Beispiel sind die verschiedenen polizeilichen Grundrechtseingriffe, die sowohl auf das allgemeine Gefahrenabwehrrecht der Länder als auch auf die StPO gestützt werden und ebenfalls wechselseitige Belastungen begründen. Solche Belastungskumulationen lassen sich nur sinnvoll würdigen, wenn man in der Zumutbarkeitsprüfung die tatsächliche Wirkung der Gesamtheit aller staatlichen Maßnahmen in den Blick nimmt.539 Das weitere „Draufsatteln“, egal durch welchen Hoheitsträger, ist stets vor dem Hintergrund der Gesamtbelastung rechtfertigungsbedürftig. Anderenfalls könnte sich der Staat seiner Grundrechtsverpflichtung dadurch entziehen, dass er die öffentlichen Aufgaben durch unterschiedliche Hoheitsträger wahrnimmt.540 Insofern gilt, dass, „wenn es um den Grundrechts-
535
BVerfGE 98, 106 (131). Barthelmann, Der gestaltende Steuergesetzgeber, S. 98 ff.; Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, S. 297 f.; a. A. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, S. 159. 537 Etwa BVerfGE 117, 1 (30); 120, 1 (29, 45); 123, 111 (121); vgl. zum Zusammenhang von Art. 3 GG und Folgerichtigkeit P. Kirchhof, StuW 2000, 316 ff. 538 BVerfGE 122, 1 (25); siehe auch BVerfG NJW 2018, 361 (372 Rn. 183). 539 Kromrey, Belastungskumulation, S. 103; vgl. auch Klement, AöR 134 (2009), 35 (70 ff.). 540 Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, S. 95; Kromrey, Belastungskumulation, S. 93. 536
III. Schranken übergreifender Kompetenzausübungen
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schutz des Staatsbürgers geht, der sowohl dem Bundesrecht wie dem Landesrecht untersteht, der Gesetzgeber in Bund und Ländern sich als Einheit behandeln lassen“541 muss. Da diese grundrechtlichen Determinanten eine andere Blickrichtung verfolgen, sollen sie hier nicht weiter vertieft werden.542 Wechselbezüge zwischen rechtsstaatlicher und bundesstaatlicher Sphäre sind gleichwohl denkbar. Belastet eine übergreifende Kompetenzausübung den Grundrechtsadressaten bereits derart intensiv, dass der andere (und eigentlich zuständige) Gesetzgeber nicht mehr legiferien kann, weil sonst die Addition der Grundrechtseingriffe insgesamt zur Unverhältnismäßigkeit führen würde, so erscheint es durchaus möglich, dass die übergreifende Kompetenzausübung die Gestaltungsmöglichkeiten nachhaltig schädigt und dadurch gegen den Grundsatz der Bundestreue verstößt.543 8. Zusammenfassung Der Abschnitt hat sich mit der Frage beschäftigt, inwiefern die bundesstaatliche Kompetenzordnung geeignet ist, widersprüchliche Regelungskonzeptionen aufzulösen. Diese können entstehen, wenn Bund und Länder einen vergleichbaren oder auch identischen Gegenstand ausgehend von unterschiedlichen Gesetzgebungskompetenzen gestalten. Die meisten Versuche, solche übergreifenden, d. h. in fremde Angelegenheiten ausstrahlende Kompetenzausübungen einzuschränken, beruhen letztlich auf einem fehlerhaften Kompetenzverständnis. Dies gilt sowohl für die Etablierung einer widerspruchsfreien Rechtsordnung544, für den sorglosen Gebrauch der Bundestreue545 als auch für die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes546 sowie des Art. 31 GG547. Alle diese Ansätze verkennen den eigenverantwortlichen Ermächtigungsgehalt einer Kompetenznorm, indem sie über den Umweg von Kompetenzausübungsschranken die Regelungsvielfalt im Bundesstaat unitarisieren möchten. Sie unterschätzen zugleich die Bedeutung der Normkonkretisierung, insbesondere unter dem Aspekt der Beidseitigkeit der Kompetenzordnung. Wird berücksichtigt, dass jede ausdehnende Auslegung einer Kompetenznorm den Befugnisbereich des jeweils anderen vermindern und jede zurückhaltende Auslegung den Befugnisbereich des anderen erweitern kann548, so lassen sich ungewollte 541 BVerfGE 33, 303 (357 f.) unter Verweis auf 7, 377 (443); siehe auch BVerfG NJW 2018, 361 (372 Rn. 183). 542 Umfassende Darstellung bei Kromrey, Belastungskumulation, S. 88 ff., die auf S. 96 zutreffend ausführt, dass die Einschränkung kumulativer Grundrechtseingriffe über den Weg der Bundestreue aufgrund der unterschiedlichen Zielsetzung nicht zielführend sein kann. 543 Dazu Viertes Kapitel III. 4. b) cc) (3). 544 Gliederungspunkt Viertes Kapitel III. 3. 545 Gliederungspunkt Viertes Kapitel III. 4. 546 Gliederungspunkt Viertes Kapitel III. 6. 547 Gliederungspunkt Viertes Kapitel III. 5. 548 Gliederungspunkt Zweites Kapitel IV.
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
Nebeneffekte „ausstrahlender Regelungen“ sehr viel besser kontrollieren. Auch die Beschränkung des Sachzusammenhangs auf punktuelle Regelungen549 beruht auf diesem Ansatz. Kommt es dennoch zu überwirkenden Effekten, so beruhen auch diese Kompetenzausübungen auf eigene zugewiesene Zuständigkeiten. Damit wird nicht geleugnet, dass auf der Ebene der Kompetenzanwendung wechselseitige Störwirkungen zwischen Bund und Ländern ausgeschlossen sind. Eine messerscharfe Kompetenztrennung ohne Berührungspunkte wäre sicherlich eine Illusion. Aber im Hinblick auf die Bedeutung der Kompetenzauslegung erscheint es fragwürdig, einem Kompetenzträger einen Befugnisbereich zuzuerkennen, diesen Befugnis bereich aber anschließend durch homogenisierende Vorkehrungen einzuschränken. Derartige Auffassungen werden dem eigenverantwortlichen Charakter von Gesetzgebungszuständigkeiten nicht gerecht. Dies gilt insbesondere für das Gebot der widerspruchsfreien Rechtsordnung. Auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kann die Probleme der hier relevanten Art nicht zufriedenstellend auflösen. Als eine Möglichkeit, gravierende Störungen zwischen Bundes- und Landesgesetzgebung zu vermeiden, hat sich das Prinzip der Bundestreue bewährt, das immerhin auf eine wechselseitige Rücksichtnahme drängt. Doch auch mit diesem Prinzip wird keine Pflicht zur Kooperation und Homogenität begründet. Die Bundestreue hat sich im Bereich der Gesetzgebung auf die Einhaltung der äußersten Grenzen, also auf Missbrauchsfälle zu beschränken. Eine überschreitende und den jeweils anderen Kompetenzträger „störende“ Gesetzgebung führt nur dann zu einem Verstoß gegen das Gebot der Bundestreue, wenn es in bereits abgeschlossene Ordnungsmodelle des anderen Gesetzgebers eingreift und zugleich seine Gestaltungsmöglichkeiten nachhaltig vereitelt. Die Hürden für einen solchen Verstoß sind ausreichend hoch angesetzt. Normkonflikte sind im Hinblick auf übergreifende Kompetenzausübungen im Bundesstaat grundsätzlich zu akzeptieren und bedürfen keiner zwingenden Auflösung. Widersprüchliche Regelungskonzeptionen sind zwar unerwünscht, treten sie aber auf, so besteht keine verfassungsrechtliche Handlungspflicht. Aus einer rechtsstaatlichen Perspektive können widersprüchliche Regelungskonzeptionen dennoch unzulässig sein. Hierfür gelten die grundrechtlichen Maßstäbe. Eine nicht aufeinander abgestimmte Gesetzgebung kann nicht nur widersprüchlich, sondern unverhältnismäßig und unbestimmbar sein oder gegen Vertrauensgrundsätze verstoßen. Gesteigerte Aufmerksamkeit ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu schenken. Die Kumulation von Grundrechtseingriffen durch mehrere Hoheitsträger stellt Rechtsprechung und Rechtswissenschaft vor schwierige Herausforderungen, die noch nicht abschließend geklärt sind.
549
Gliederungspunkt Zweites Kapitel VI. 3. c) cc) (3).
IV. Zusammenfassung des vierten Kapitels
431
IV. Zusammenfassung des vierten Kapitels Nachdem in den vorangegangenen Kapiteln Normkonkretisierungsfragen im Vordergrund standen, hat sich das vierte Kapitel der Frage gewidmet, wie im Bundesstaat Kompetenzkonflikte zu lösen sind. Sie kennzeichnen sich durch logische oder teleologische Unvereinbarkeiten von kompetenzgerecht erlassenen Bundesoder Landesnormen, die durch Norm- oder Wertungswidersprüche hervorgerufen werden. Von Normkonkretisierungskonflikten unterscheiden sie sich dadurch, dass es um Konflikte zwischen formal kompetenzgerecht erlassenen Normen geht. Normkonflikte treten im Bundesstaat in verschiedenen Facetten in Erscheinung. Am häufigsten sind dies Konflikte innerhalb der konkurrierenden Gesetzgebung, die unter Inanspruchnahme des Instrumentariums aus Art. 72 GG bewältigt werden. Seltener – aber nicht unmöglich – sind Normkonflikte in Gestalt von Normkollisionen. Sie treten auf, wenn Landesgesetze bestimmten Homogenitätsgeboten (Art. 28 Abs. 1 GG, Art. 142 GG) widersprechen oder sie sich nicht mit dem Normgehalt von Bundesrecht vereinbaren lassen (Art. 31 GG). Die am schwierigsten zu beurteilenden Fälle sind widersprüchliche Regelungskonzeptionen. Sie werden durch übergreifende Kompetenzausübungen ausgelöst.550 Auf einen gemeinsamen Nenner lässt sich das vierte Kapitel anhand der Frage bringen, wie das Grundgesetz mit der Existenz abgeschlossener und konkretisierter Ordnungsmodelle umgeht.551 Diese stehen im Zusammenhang mit dem abschließenden Charakter von Regelungen und dem erschöpfenden Gebrauch von Zuständigkeiten. Abgeschlossene Ordnungsmodelle sind die gesetzlich konkretisierten Resultate von legislativen Konzepten und dienen dem Zweck, widersprüchliche Regelungskonzeptionen zu verhindern. Sie geben Antworten auf konkrete Interessen- und Machtkonflikte und gestalten Lebenswirklichkeiten normativ aus. Zur Bestimmung, ob ein abgeschlossenes Ordnungsmodell vorliegt, kann an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 72 Abs. 1 GG angeknüpft werden. Ein mögliches Indiz ist der Kompromisscharakter einer Regelung innerhalb eines Konzepts. Ein Kompromiss lässt jedenfalls den abschließenden Charakter erkennen, wenn weitere ergänzende oder modifizierende Regelungen das Ergebnis der Interessenabwägung wieder zunichtemachen würden. Hieraus erklärt sich auch die Sperrwirkung des sogenannten absichtsvollen Regelungsverzichts. Solange und soweit ein Hoheitsträger ein Ordnungsmodell getroffen hat, das durch abschließende Kompromisse oder durch gezielte Eingrenzungen geprägt ist, soll jedes weitere Tätigwerden im Anwendungsbereich dieses Modells versperrt werden.552 Normkonflikte können nur entstehen, sofern der eine Hoheitsträger eine konkretisierte und abgeschlossene Konzeptionierung getroffen hat, der andere
550
Zur Entstehung dieses Phänomens Viertes Kapitel III. 1. Viertes Kapitel II. 2 a). 552 Viertes Kapitel II. 2 b). 551
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4. Kap.: Dogmatik der Existenz und Bewältigung von Normkonflikten
Hoheitsträger aber durch eigenes Tätigwerden genau dieses Konzept ergänzt, modifiziert, verstärkt oder Regelungen trifft, die dem Konzept widersprechen oder seine Wirkung schmälern. Damit ist das Symptom des Normkonflikts beschrieben, aber noch nicht seine Behandlung. In welchem Umfang abgeschlossene Ordnungsmodelle tatsächlich Sperrwirkung und somit eine derogative Kraft entfalten, hängt von der Art des Normkonflikts und davon ab, wie der Verfassungsgeber diesen Normkonflikt auflösen möchte. Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung hat er sich für ein Modell alternativ-ausschließlicher Zuständigkeiten entschieden.553 In diesem Bereich werden Landesgesetze, die potentielle Widersprüchlichkeiten hervorrufen können, von der Sperrwirkung des Bundesrechts vernichtet.554 Solange und soweit der Bund im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung abschließende Regelungen getroffen hat, sind alle Regelungen im Anwendungsbereich der bundesgesetzlichen Konzeption nichtig. Die Vorranggesetzgebung verhindert den Anschein des Widerspruchs durch parallele föderale Regelungen, unabhängig, ob sich Bundesund Landesrecht konkret widerspricht, verunklart oder vereitelt. Das Grundgesetz hat sich also innerhalb des Art. 72 Abs. 1 GG – sowie in den Grenzen von Art. 72 Abs. 2 GG – für das System einer möglichst eindeutig getrennten Zuständigkeitsund Zuordnungssphäre entschieden. Die damit einhergehende Sperrwirkung abgeschlossener Ordnungsmodelle durch den Bundesgesetzgeber ist aus Gründen des rechtsstaatlichen Prinzips der Gesetzesklarheit rigide zu handhaben. Hat der Bund zu einem späteren Zeitpunkt keinen Sperrwillen, so muss er durch ein förmliches Bundesgesetz zum Ausdruck bringen, dass seine Regelungen nicht mehr abschließend sind. Weder genügt ein konkludentes, unförmliches Verhalten, noch hebt sich die Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 1 GG nachträglich durch eine Veränderung des Normumfelds („umfassend veränderte legislative Situation“) auf.555 Alternativlos ist dieses System nicht. Wird nach Art. 72 Abs. 1 GG schon der Anschein eines Widerspruchs ausgeschlossen, so nimmt der verfassungsändernde Gesetzgeber auf dem Feld der Abweichungsgesetzgebung (Art. 72 Abs. 3 GG) diese Gefahr zugunsten eines auf Innovation, Regionalität und Wettbewerb ausgerichteten Systems billigend in Kauf. Im Unterschied zu Art. 72 Abs. 1 GG hat der Bundesgesetzgeber hier nicht die Macht, seine abgeschlossenen Ordnungsmodelle mit Sperrwirkung auszustatten; bei der Abweichungsgesetzgebung ist der abschließende Gebrauch seinerseits gesperrt.556 Dahinter steht das Anliegen des verfassungsändernden Gesetzgebers, den Ländern zu ermöglichen, „abweichend von der Regelung des Bundes eigene Konzepte zu verwirklichen und auf ihre unterschiedlichen strukturellen Voraussetzungen und Bedingungen zu reagieren“.557 553
Gliederungspunkt Viertes Kapitel II. 1. Gliederungspunkt Viertes Kapitel II. 2. a). 555 Viertes Kapitel II. 2. c). 556 Germann, in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 84, 85 GG Rn. 37. Viertes Kapitel II. 3. a). 557 BT-Drs. 16/831, S. 11. 554
IV. Zusammenfassung des vierten Kapitels
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Hierdurch werden die Länder auf dem tatbestandlich umgrenzten Feld der Abweichungsgesetzgebung zu gleichberechtigten Gesetzgebern. Bis auf die festgelegten Bereichsausnahmen erhalten sie ein vollständiges und im Umfang unbegrenztes Zugriffsrecht der Länder auf die Titel der Art. 72 Abs. 3 GG.558 Mit der Abweichungsgesetzgebung hat der Verfassungsgeber aufgezeigt, dass widersprüchliches Recht in einem auf Vielfalt beruhenden Bundesstaat auszuhalten ist. Mit dieser Feststellung kann auf die Problematik widersprüchlicher Regelungskonzeptionen übergeleitet werden. Diese können entstehen, wenn Bund und Länder einen vergleichbaren oder auch identischen Gegenstand, ausgehend von unterschiedlichen Gesetzgebungskompetenzen, gestalten. Die Ausführungen haben deutlich gemacht, dass die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung nicht erzwungen werden kann und Widersprüche grundsätzlich hinzunehmen sind.559 Der Grund liegt darin, dass auch übergreifende Kompetenzausübungen, d. h. solche Kompetenzausübungen, die zwar auf eigenen Gesetzgebungstiteln beruhen, aber deren Wirkungen in fremde Zuständigkeiten ausstrahlen, immer noch auf eigenen Zuständigkeiten beruhen. Der Fall der Lenkungssteuer macht das deutlich. Auch wenn eine Lenkungssteuer sachliche Bezüge und somit fremde Kompetenzen berührt, so findet sie dennoch ihre Grundlage in der eigenen steuerlichen Gesetzgebungskompetenz, die zum Erlass auch lenkender Steuern berechtigt. Dem eigenverantwortlichen Charakter von Gesetzgebungskompetenzen werden Kompetenzausübungsschranken nicht gerecht. Eine überschreitende und den jeweils anderen Kompetenzträger „störende“ Gesetzgebung führt nur dann zu einem Verstoß gegen das Gebot der Bundestreue, wenn es in bereits abgeschlossene Ordnungsmodelle des anderen Gesetzgebers eingreift und zugleich seine Gestaltungsmöglichkeiten nachhaltig vereitelt.560
558
Gliederungspunkt Viertes Kapitel II. 3. b) cc). Gliederungspunkt III. 3. 560 Viertes Kapitel III. 4. b). 559
Thesen 1. Kompetenzen sind die Folge von Aufgabenzuweisungen. Sie regeln das Innenverhältnis zwischen Bund und Ländern, ohne die Wahrnehmung der Kompetenzen im Verhältnis zum Bürger in den Blick zu nehmen. Eine Kompetenz ist das Ergebnis der Zuweisung einer Staatsaufgabe an eine Organisation bzw. an ein Organ mit der Folge der Ermächtigung, im zugewiesenen Bereich unter Ausschluss anderer Einheiten verbindliche Rechtsakte zu erlassen. In bundesstaatlicher Hinsicht bedeutet Kompetenz die Möglichkeit eines Kompetenzträgers (Bund oder Länder), Aspekte der Staatsgewalt eigenverantwortlich und unter Ausschluss des jeweils anderen wahrnehmen zu können. Kompetenzen haben hypothetischen Charakter. Sie verpflichten nicht zum Tätigwerden. Handlungsaufträge und auch sonstige materielle Gehalte können zwar zur Kompetenz hinzukommen, sie sind aber kein charakterisierender Bestandteil hiervon. 2. Der Kompetenzordnung kommt vorrangig eine Ordnungs-, Schutz- und Begrenzungsfunktion zu. 3. Sie ist zugleich eine Abgrenzungsordnung. Aus Art. 70 Abs. 1 GG folgt ein Verteilungsprinzip, das auf Trennung und Alternativität ausgerichtet ist. Damit einher geht die Schlussfolgerung, dass in der bundesstaatlichen Kompetenzordnung keine Doppelkompetenzen auftreten können. Die Kompetenzordnung ist beidseitig ausgestaltet. Bund und Länder verfügen über eigene bestimmbare Gesetzgebungskompetenzen. Jede Zuweisung von Kompetenzen an einen Kompetenzträger legt zugleich mittelbar die Kompetenzen des anderen Kompetenzträgers fest. Deshalb sind die Zuständigkeiten der Länder bei der Kompetenzinterpretation beidseitig und gleichwertig zu berücksichtigen. Ihr Gebrauch hat ferner vom Grundsatz der statischen, rigiden und unverfügbaren Kompetenzzuweisung auszugehen. Abwägende Prinzipien wie das Subsidiaritätsprinzip oder der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sind keine leitenden Maßstäbe der bundesstaatlichen Ordnung. 4. Kompetenznormen sind auf Klarheit, Bestimmbarkeit und auf Starrheit angewiesen. Sie sind strikt, aber nicht notwendig restriktiv auszulegen. Systematisch ist der Grundsatz der Beidseitigkeit der Kompetenzordnung zu beachten. Zuständigkeiten dürfen nicht so ausdehnend interpretiert werden, dass die Zuständigkeiten der Länder rechtlich und faktisch ausgehöhlt werden. 5. Der historische Zusammenhang in der Gesetzgebung verdient für die Kom petenzinterpretation besondere Aufmerksamkeit; dem Traditionellen oder Herkömmlichen kommt eine wesentliche Bedeutung zu. Die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, zwischen faktisch-deskriptiven und normativ-rezeptiven Kompetenzzuweisungen zu unterscheiden, ist abzulehnen.
Thesen
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6. Verwendet der Verfassungsgeber Begrifflichkeiten, die an einen rechtlich vorgeprägten Begriff anknüpfen, so darf der Verfassungsinterpret fingieren, dass der Verfassungsgeber von dem vorgefundenen Sprachgebrauch nicht abrücken wollte (Mutmaßung der inhaltsgleichen Übernahme). Um zu ermitteln, welchen Sprachgebrauch der Verfassungsgeber bzw. verfassungsändernde Gesetzgeber verwendete, eignet sich das Kriterium der Staatspraxis. Die Staatspraxis ist auf den Zeitraum bis zur Beschlussfassung beschränkt. Eine nachkonstitutionelle Staatsund Gesetzgebungspraxis scheidet als Interpretationsmittel aus. Ihr fehlt die Repräsentativität, um als „Wille des Kompetenznormsetzers“ zu gelten. 7. Grundsätzlich kann und darf jedes vorverfassungsrechtliche Material herangezogen werden, das geeignet erscheint, den (mutmaßlichen) Willen des Verfassungsgebers näher auszuleuchten. Einschränkungen gelten im Hinblick auf rechtsund verfassungswidrige Materialien. Besonders kritisch sind nationalsozialistische Gesetze zu bewerten. Mangels eines zu diesem Zeitpunkt nicht mehr existenten Bundesstaats dürfen sie nicht bedenkenlos in die Verfassungswelt des Grundgesetzes übertragen werden. Die Einbeziehung ist nur möglich, wenn erstens ausgeschlossen werden kann, dass das Gesetz rein nationalsozialistischen Ursprungs ist und zweitens ein solches Gesetz schon in der Zeit vor 1933 dem Kompetenzbild der Weimarer Reichsverfassung entsprochen hätte. 8. Der Verfassungsinterpret steht vor dem Spagat, Vergangenheit und Zukunft in Einklang zu bringen. Er muss das Herkömmliche bewahren, soll aber zugleich genügend Freiraum lassen, damit der Gesetzgeber auf neuartige Entwicklungen reagieren kann. Die Lösung liegt im typisierenden Fallvergleich. Nicht sämtliche Regelungen des vorgefundenen Rechts bilden für alle Zeiten den Kompetenzgehalt ab, sie bilden nur das Begriffsminimum, auf dessen Grundlage die Baupläne und Strukturen abstrahiert werden können. Die traditionellen Regelungssysteme, die das vorgefundene Recht prägten, sollen den typischen Gehalt (Begriffskern) der Kompetenz ausformen. Will der Gesetzgeber auf Grundlage des Kompetenztitels neue politische Ideen verwirklichen, so müssen seine Gesetze zwar nicht bis ins kleinste Detail dem vorgefundenen Recht (Begriffsminimum) entsprechen, sie müssen aber zumindest in den Grundstrukturen hinreichend vergleichbar sein. 9. Die Gesetzgebungskompetenz kraft Natur der Sache ist eine „ungeschriebene“ Kompetenz. Sie ist nicht im Grundgesetz ausdrücklich geregelt, sondern findet ihren Grund in bestimmten Staats- oder Funktionsnotwendigkeiten, die es erforderlich machen, dass nur der Bund unter Ausschluss der Länder die Angelegenheiten wahrnehmen kann. 10. Die ungeschriebenen Kompetenzen kraft Sachzusammenhangs und die Annexkompetenz sind den Kompetenznormen stillschweigend mitgeschrieben, mithin Gesichtspunkte einer teleologischen Kompetenzinterpretation. Sie sind Instrumente zur Zielerreichung. 11. Durch den Sachzusammenhang wird ein Junktim zwischen den Sachregelungen und den Fremdregelungen begründet. Unerlässlichkeit liegt vor, wenn
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das Herausbrechen der Fremdmaterie die Gesamtkonstruktion des legislativen Konzepts gefährden würde. Das ist insbesondere der Fall, wenn die Sachmaterie ihre Tragfähigkeit verlöre, wenn die Regelung der Fremdmaterie entfiele. Neben der Unerlässlichkeit verlangt der Sachzusammenhang einen akzessorischen und punktuellen Bezug. 12. Ordnet der Gesetzgeber Lebenswirklichkeiten, so verlangt der Sachzusammenhang, dass die gesetzlichen Festlegungen dem Sachverhalt, den sie erfassen sollen, und seinen relevanten Veränderungen gerecht werden müssen. Der Sachzusammenhang dient lediglich der Anpassung an veränderte Umstände, er darf der Wirklichkeit nicht willkürlich eine Regelung aufzwingen. Die Anpassung der veränderten Lebenswirklichkeiten unterliegt einer „Wirklichkeitskontrolle“: Dem Bundesverfassungsgericht obliegt die Prüfung, ob die Lebenswirklichkeiten, die zum Anlass des Sachzusammenhangs erklärt werden, auch empirisch erfassbar sind. 13. Ein Übergreifen auf Materien der Länder mit der Begründung, dass die bundesgesetzlichen Regelungen nur so grundrechtskonform möglich sind, genügt grundsätzlich nicht zur Begründung eines Sachzusammenhangs. Unerlässlichkeit im Sinne der Sachzusammenhangsformel liegt im Hinblick auf den gebotenen Grundrechtsschutz nur dann vor, wenn die Fremdregelung integraler Bestandteil für die Tragfähigkeit der Sachregelungen ist, sie akzessorisch und punktuell wirkt und ein rechtzeitiges Tätigwerden der Länder ausgeschlossen ist. Ausgeschlossen ist ein rechtzeitiges Tätigwerden, wenn der Bund wegen der unbedingten Eilbedürftigkeit des Gesetzes nicht auf ein zeitnahes Tätigwerden der Länder warten kann oder mindestens ein Land die Bereitschaft verneint hat, grundrechtskonform tätig zu werden. 14. Die Annexkompetenz berechtigt, das Ziel einer Sachregelung durch vor- oder nachgelagerte Durchführungsmaßnahmen zu erreichen. Die Voraussetzungen der Sachzusammenhangsformel finden nicht auf die Annexkompetenz Anwendung. Die Annexkompetenz setzt voraus, dass die als Annex zu betrachtenden Regelungen dem Ziel der jeweiligen Sachregelung zu dienen bestimmt sind. Sie müssen zur Sachregelung ein akzessorisches Verhältnis im Sinne eines spezifischen Zusammenhangs aufweisen. 15. Die Methodik der Kompetenzanwendung geht von der Vorstellung aus, dass sämtliche Regelungen einer Kompetenznorm möglichst eindeutig einer einzigen Kompetenznorm zugeordnet werden können. Doppelkompetenzen sind der Kompetenzordnung fremd; es existiert kein „idealkonkurrierendes Sonderrecht“. 16. Die Zuordnung einer Regelung zu einem Kompetenztitel erfolgt nach dem objektivierten Willen des Gesetzgebers. Maßgeblich zu berücksichtigen sind dabei der unmittelbare Regelungsgegenstand, Normzweck, die Wirkung und der Adressat der Norm. Berührt eine Regelung verschiedene Kompetenzbereiche, so erfolgt die Zuordnung nach dem Hauptzweck der Norm, der sich nach dem Schwerpunkt ermitteln lässt. Die Konkretisierung des Schwerpunkts erfolgt nach den Kriterien des Sonderrechts und des Regelungszusammenhangs.
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17. Die Konkretisierung von Kompetenznormen ermöglicht zwar eine eindeutige Zuordnung einer Regelung zu einem Kompetenztitel, sie ist aber nicht in der Lage, Regelungskumulationen im Bundesstaat zu verhindern. Diese existieren, weil es Bund und Ländern möglich ist, gleichartige Sachgebiete unter verschiedenen Gesichtspunkten zu regeln, die jeweils auf eigene Zuständigkeiten gestützt werden. 18. Regelungskumulationen können Normkonflikte auslösen. Normkonflikte bezeichnen logische oder teleologische Unvereinbarkeiten von gesetzlichen Vorgaben, die jeweils auf eigenen Zuständigkeiten beruhen. Normkonflikte sind im Bundesstaat innerhalb der konkurrierenden Gesetzgebung sowie in Gestalt von Normkollisionen und Wertungswidersprüchen denkbar. 19. Art. 72 Abs. 1 GG ist der Prototyp zur Vermeidung von Normkonflikten. Er schließt Landesrecht von der Gesetzgebung aus, solange und soweit der Bundesgesetzgeber eine bestimmte Frage erschöpfend geregelt hat. Hinter der Norm steht der Gedanke des Schutzes eines abgeschlossenen Ordnungsmodells. Innerhalb eines abgeschlossenen Ordnungsmodells, das auch den absichtsvollen Regelungsverzicht umfassen kann, sperrt Art. 72 Abs. 1 GG ergänzendes Landesrecht und verhindert umfassend die Entstehung widersprüchlicher Regelungskonzeptionen. 20. Unterschiedliche und unter Umständen auch widersprüchliche Regelungskonzeptionen hat der verfassungsändernde Gesetzgeber innerhalb der Abweichungs gesetzgebung ermöglicht. Abgeschlossene Ordnungsmodelle haben auf diesem Feld keine sperrende Kraft. Der Tatbestand der Abweichung ist weit zu verstehen, er beinhaltet, abgesehen von den Bereichsausnahmen, ein vollständiges und im Umfang unbegrenztes Zugriffsrecht der Länder auf die Abweichungsgesetzgebung. 21. Wertungswidersprüche im Bundesstaat entstehen, wenn Bund und Länder einen vergleichbaren oder identischen Gegenstand ausgehend von unterschied lichen Gesetzgebungskompetenzen gestalten und sie sich bei der Verwirklichung ihrer Rechtsfolgen gegenseitig behindern. Während Normwidersprüche, die gem. Art. 31 GG zwingend aufzulösen sind, voraussetzen, dass zwei kollidierende Normen zwei miteinander unvereinbare Normbefehle enthalten, sind Wertungs widersprüche teleologische Widersprüche. Sie kennzeichnen sich dadurch, dass die Rechtsfolgen zweier Normen miteinander vereinbar sind, aber wegen unterschiedlicher Wertungen gegenläufige Wirkungen erzeugen. 22. Die Bundes- und Landesgesetzgebung muss nicht im Sinne einer wider spruchsfreien Rechtsordnung aufeinander abgestimmt sein. Die Bundestreue verhindert Störungen im Bundesstaat nur dann, wenn ein Hoheitsträger in abgeschlossene Ordnungsmodelle des anderen Hoheitsträgers eingreift und seine Gestaltungsmöglichkeiten nachhaltig vereitelt. Sonstige Wertungswidersprüche zwischen Bundes- und Landesgesetzen sind mit Rücksicht auf den Grundsatz der eigenverantwortlichen Kompetenzausübung hinzunehmen und unterliegen keinen weiteren bundesstaatlichen Beschränkungen.
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Sachwortverzeichnis Abfallwirtschaft 50, 131, 397, 401 Abgeordnete 113, 209, 424 Abgeschlossenes Ordnungsmodell 346 ff., 361, 389, 412 – bei der Abweichungsgesetzgebung 370 – bei der Bundestreue 412 – bei der konkurrierenden Gesetzgebung 346 ff. Abweichungskompetenz 57, 66, 214, 266, 344, 362 ff., 390 – abweichungsfeste Sektoren und Kerne 366, 367, 371 – Abweichungsintention 378 – als Sperre für den abschließenden Gebrauch einer Bundeskompetenz 364, 369 ff. – als unbegrenztes Zugriffsrecht der Länder 372, 373, 377 – Anwendungsvorrang 66, 367, 387, 390 – Bundestreue s. bei Bundestreue 383, 387 – Inhaltsgleiche Übernahme 375 – Karenzzeit 368, 382, 388 – Negativgesetzgebung 374 – „Ping-Pong“-Gesetzgebung 367, 382 ff., 388 – punktuelles Abweichen 373 – Raumordnung s. bei Raumordnung – Zitiergebot 378 – zu den Voraussetzungen der Abweichung 367 ff. Aktuale Verfassungsauslegung 58, 182 Altenpflege-Urteil 89, 111, 133, 176, 181, 224, 233, 362 Amerikanische Verfassungslehre 125, 97 – implied powers 58, 197 Analogie 164, 196, 217 Annexkompetenz 59, 195, 250 ff., 278, 281 – als implizite Ermächtigung 195 ff., 254 – Polizei- und Ordnungsgewalt 251, 256 – Spezifischer Zusammenhang als Voraussetzung 256
– Verhältnis zu Schwerpunktkriterien 319 – Verhältnis zum Sachzusammenhang 250, 319 Anwendungsvorrang, s. auch Abweichungskompetenz 343 Arbeitsrecht 285, 326, 356 – Arbeitszeit s. Ladenöffnungsgesetz Ärzte 161, 189 – Ärztliches Berufsrecht 239, 285, 330, 352, 391, 420 – Gebührenrecht 189 ff. – Kassenarztrecht 292, 428 Auftragsverwaltung des Bundes s. Bundesauftragsverwaltung Auslegung von Kompetenznormen – Auslegungsziel 94, 113 – flexible Auslegung 139, 141, 182 – hermeneutischer Zirkel s. bei Hermeneutischer Zirkel – historische Auslegung s. bei historische Auslegung – nach Art des Zuweisungsgehalts s. unter Kompetenzzuweisung – Objektivierter Wille des Gesetzgebers 96, 111 – strikte Interpretation 99, 100, 103, 279, 352 – Systematik 106 – teleologische Verfassungsauslegung 182 ff., 277 – Wille des Gesetzgebers 113 – Wortlaut s. Wortlautauslegung Ausschließliche Gesetzgebung 56 Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) 213 Außenwirtschaftsrecht 219, 251 Auswärtige Gewalt und Angelegenheit 61, 109, 204, 207, 210, 212, 257, 270, 329 Authentische Interpretation 113 (mit Fn. 142), 144 Baumschutzsatzung 340, 392
Sachwortverzeichnis Baurechtsgutachten 206, 213, 219, 224, 225, 233, 252 Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsge setz s. Schwangerenhilfeergänzungsgesetz Bedarfskompetenz s. Erforderlichkeitsklausel Beidseitigkeit der Kompetenzordnung 68 ff., 107, 248, 316 f., 333, 407, 411, 429 Berliner Mietendeckel 69, 350 Beschussgesetz, Beschluss 252, 256 Bestimmtheit der Kompetenzordnung 98, 279, 360, 381 Betreuungsgeld-Urteil 69, 108, 174, 181, 224, 229 Bundesärzteordnung, Beschluss 189 ff. Bundesauftragsverwaltung 45, 415 Bundeseigene Verwaltung 264 Bundesflagge 59, 209 bundesfreundliches Verhalten s. Bundestreue Bundeskriminalpolizei 264 Bundesnachrichtendienst 257, 270, 329 Bundesrat 28, 193, 245, 266, 368, 387, 415 Bundesstaat 27 ff., 32, 207 – unitarischer Bundesstaat s. bei unitarischer Bundesstaat – Vielfalt s. Vielfalt im Bundesstaat – zwei- und dreigliedriger Bundesstaat 31, 207 Bundesrecht bricht Landesrecht, s. auch Normkollision 65, 292, 365, 422 Bundessymbole 59, 202, 211 Bundeswasserstraßen-Urteil 59, 107, 221 Bundestreue 49, 248, 292, 345, 383 ff., 408 ff., 426, 430 Bürgerliches Recht 94, 131, 136, 152, 158 Bürgerversicherung 161 Chamäleonhafte Regelungen 289, 312, 316, 328, 391 Datenschutz 224, 261 Deutsche Nationalbibliothek 210 Dienstrecht 207 Doppelkompetenzen 20, 37, 64, 178, 284, 290, 297, 328, 340, 391 – Idealkonkurrierendes Sonderrecht 67, 312 – Regelungskumulationen, s. bei Regelungskumulation Doppelzuständigkeit s. Doppelkompetenz
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Eigenverantwortlichkeit des Staates 37, 385, 426, 430 Einheit der Rechtsordnung, s. auch Rechtseinheit 395, 404 Einheitsstaat 27, 208 Enteignung 262 Entstehungsgeschichte, s. auch Genese Erforderlichkeitsklausel 56, 88, 185, 343, 360 Europäische Union 74, 83, 212, 388 – Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 83 – Subsidiaritätsprinzip 83 Ewigkeitsklausel 28 (mit Fn. 28), 87 Fernmeldewesen s. Telekommunikation Filmförderungs-Urteil 69, 210, 305 Finanzausgleich 48 (mit Fn. 48) Finanzverfassung 53, 78, 171 Föderalismus 27 Föderalismusreform 57, 72, 88, 116, 186, 207, 213, 265, 272, 325, 344, 356, 362 Freigabegesetz 360 Funktionen der Kompetenzordnung 53, 90 – Begrenzungsfunktion 53, 170, 237 – Ordnungsfunktion 53, 78, 142, 170 – Prinzipien 62 – Schutzfunktion 53 Gattungsbegriff 133, 159, 173 Gebühren 189, 261 – ärztliches Gebührenrecht 189 Gefahrenabwehr 148, 183, 251 ff., 256, 302, 353, 393, 428 Geltungsvorrang 66, 77, 343, 374 Gentechnik 103, 325 Gerichtliches Verfahren 77, 296, 353 – Auflagenbeschlagnahme s. unter Presse – Zeugnisverweigerungsrecht für Journalisten s. unter Presse Gesetzgebungsbeschluss 144 Gesetzgebungskompetenz s. Kompetenz Gesichtspunktetheorie des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs 331 Gewaltenteilung 28, 33, 55, 62, 237 Gewerbe s. Recht der Wirtschaft Gewohnheitsrecht s. Verfassungsgewohnheits recht
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Sachwortverzeichnis
Grundrechte 76, 99, 104, 237, 270 – Kumulative Grundrechtseingriffe 419, 428 – Schutzpflichten 76, 237, 244 Hausgut der Länder 87, 108 Heilberufe 133, 176, 189, 233, 330 Heilpraktikergesetz 133, 177 Hermeneutischer Zirkel 92, 184, 284, 322 Herrenchiemsee 136, 344 Historische Interpretation 110 ff., 279 – affirmativer Gebrauch 111 – Bedeutung für Auslegung 111 ff. – bei normativ-rezeptiver Kompetenzzuwei sung 130 ff., 279 – bei presserechtlichen Auskunftsansprüchen 271 – Entstehungsgeschichte 112, 135 – genetische Auslegung 115, 168, 220 – Herkömmliches 111, 145, 158, 163, 176, 222 – Informations- und Kontrollfunktion 120 – Kompetenz als Typus s. Typusbegriff – Maßstabsumkehr 138 – Mutmaßung der inhaltsgleichen Übernah me 135 ff., 143 ff., 215, 280, 298 – Staatspraxis s. bei Staatspraxis – Tradition 111, 120 ff., 135, 145, 289 – Übernahme verfassungswidriger Praxis s. bei verfassungswidrige Praxis Idealkonkurrierendes Sonderrecht s. Doppelkompetenzen Informationszugangsansprüche 267 – Presserechtliche Auskunftsansprüche s. unter Presse Janusköpfige Regelungen 317, 328 Jugendhilfe-Urteil 59, 202 f. Jugendmedienschutz 329 Jugendschutz 329 Kaiserreich s. Reichsverfassung Kalkar-Urteil 76, 237, 409, 415, 424 Kassenarzt 161 Kernbrennstoffsteuer-Beschluss 167 Kernkompetenz s. konkurrierende Gesetzgebung
Kindergartenbeschluss 317 Kommunale Verpackungssteuer, Urteil 337, 397 ff., 420, 427 Kommunalrecht 56, 75, 108, 175, 261 Kompetenz 32 ff. – als Organisationsbegriff 52, 90 – als Rechtliches Können 35, 152 – als Regeln 425 – als Relationsbegriff 40, 52, 55, 89 – ausschließlich 55 – Befugnis 40 – Befugnisbereich 37, 46, 53, 289 – Begriff 33 ff., 128 – deklaratorische Kompetenzen 61 – Erlaubnis 36 – Ermächtigung und Ausgrenzung 37, 62, 129, 326 – konkurrierend 55 – materieller Gehalt 51 – Residualkompetenz 55 – Titulierte 55 – Typologie 55 – Verpflichtung zum Tätigwerden 47, 211 – Zuständigkeit 42 Kompetenz kraft Natur der Sache 59, 195, 200, 268, 275, 278 – Anschütz-Formel 59, 201 – Baurechtsgutachten 206 – Bundessymbole 203, 209 – Funktionsnotwendigkeit 206 ff., 211, 218 – für die Raumordnung 213 – Repräsentation des Bundes 207 – Selbstorganisation des Bundes 203 – Staatsnotwendigkeit 206 ff., 208, 218 Kompetenz kraft Sachzusammenhangs 178, 185, 195, 218 ff., 268, 274, 278, 281, 337, 411, 421 – Akzessorietät 230 – als implizite Ermächtigung 195, 219, 248, 323 – als Konzept-Kompetenz 224, 234 – Baurechtsgutachten s. bei Baurechtsgutachten – formelhafter und formelgebundener Sachzusammenhang 221, 321 – Grundrechtliche Schutzpflichten 244 – Kompetenz der Länder 221, 228, 248 – Unerlässlichkeit 227, 232
Sachwortverzeichnis – Verhältnis zu Schwerpunktkriterien 319 Kompetenz-Kompetenz 31, 208, 209, 241 Kompetenzauslegung s. Auslegung von Kompetenznormen Kompetenzausschluss und Kompetenzeinschluss 57, 72, 120 Kompetenzausübung 43, 337 Kompetenzausübungsschranken 43, 383, 394, 400, 408 Kompetenzkombination s. Mosaikkompetenzen Kompetenzkonkurrenz s. auch Normkonkurrenz 291 Kompetenztitel 43 Kompetenzzuordnung 223, 284 ff., – funktionale Qualifikation 286 – nach dem Adressaten der Norm 286 – nach dem objektivierten Willen des Gesetzgebers 286, 333 – nach dem Schwerpunkt s. bei Schwerpunkt – nach dem unmittelbaren Regelungsgegenstand 287, 303 – nach der Verfassungstradition 288 – nach der Wirkung 287 f. – Regelungszusammenhang s. bei Regelungszusammenhang Kompetenzzuweisung 37, 46 – faktisch-deskriptiv 46, 129 ff., 279 – normativ-rezeptiv 46, 129 ff., 158, 279 – Unverfügbarkeit 78 – Statik und Rigidität 78, 85, 98 Konkurrierende Gesetzgebung 56, 66, 338, 389 – Abgeschlossenes Ordnungsmodell s. bei abgeschlossenes Ordnungsmodell – Absichtsvoller Regelungsverzicht 351 – Art. 72 I GG 342 ff. – Erschöpfender Gebrauch 346 – Minimalgarantien 350 – Sperrwirkung 344 – Wegfall der Sperrwirkung 354 ff. – Wert- und Zielvorstellungen 350 – Zur Bedeutung von Kompromissen 349 f. Konvergenz der Medien 309 Krankenhäuser 49 f., 183 Kreislaufwirtschaft s. Abfallwirtschaft Kultur 30, 68, 70, 107, 210, 218 Künstlersozialversicherung 161
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Kurzberichterstattung, Urteil 305 Ladenöffnungsgesetz, Beschluss 130, 320, 356 Ladenschluss s. Ladenöffnungsgesetz Lenkungssteuern 23, 287, 292, 337, 391, 397 ff., 422 Luftverkehr 131, 258 Mehrfachqualifikationen s. Doppelkompetenzen Mosaikkompetenzen 304, 325 Nachträgliche Sicherungsverwahrung s. Sicherungsverwahrung Natur der Sache s. Kompetenz kraft Natur der Sache Neue Medien 391, 418 Neugliederungsurteil 31, 207 f. Norddeutscher Bund 189 Normative Kraft des Faktischen 198, 235 Normkollision 292, 299, 339, 392 Normkonflikt 23, 336 Normkonkretisierungskonflikt 23, 336 Normkonkurrenz 291 Normwidersprüche 392 Öffentliche Fürsorge 57, 103, 107, 108, 172 ff., 329 – Betreuungsgeld s. Betreuungsgeld-Urteil Organkompetenz 43 Österreichisches Verfassungsrecht 122 – s. Gesichtspunktetheorie des Österreichi schen Verfassungsgerichtshofs – s. Versteinerungstheorie des Österreichi schen Verfassungsgerichtshofs Parallele Gesetzgebungskompetenzen s. Abweichungskompetenz Parlamentarischer Rat 94, 136, 144, 157 Parteien 209, 308 Pflegeversicherung 161 Polizei s. Gefahrenabwehrrecht Polizeilicher Schusswaffengebrauch 393 Polizeipflichtigkeit 274 Presse 72, 77 – Auflagenbeschlagnahme 297 – Auskunftsansprüche 269 ff., 301 ff.
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Sachwortverzeichnis
– Pressefreiheit 77 – Verjährungsvorschriften137, 222, 289, 295 – Zeugnisverweigerungsrecht für Journalisten 77, 184, 296, 309 Prinzipien als Optimierungsgebote 350, 386, 425 Rahmengesetzgebung 214, 269, 272, 362 – Fortgeltung 369 Raumordnung 206, 213 Recht der Wirtschaft 57, 69, 103, 106, 107, 116, 186, 189, 252 f., 256, 302 Rechtschreibreform 203, 210 Rechtseinheit 184, 278 Rechtsstaatsprinzip 427 Rechtswesensbegriff 34 Regelungskumulation 310 f., 328 ff., 340, 391 Regelungszusammenhang 304, 311, 323, 327, 334 Regionalprinzip 119, 185, 278 Reichsverfassung 32, 148, 190, 198, 227, 298 Reine Rechtslehre 128 Relativität des Kompetenzrechts 73, 89 Residualkompetenz 56, 68, 279 Richtigkeit als regulative Idee 314 Rundfunk 210, 305, 308, 310, 418 – 1. Rundfunkentscheidung 100, 147, 216, 231 f. – Kurzberichterstattung s. bei Kurzberichterstattung, Urteil – Privatrundfunkgesetz 308 Sach- und Wahrnehmungskompetenz 44 Sachzusammenhang s. Kompetenz kraft Sachzusammenhangs Satzung 75, 340, 420 Schwangerenhilfeergänzungsgesetzgesetz, Ur teil 77, 224, 228, 236 ff, 352, 403, 420 Schwangerschaftsabbruch 238, 340 Schwerpunkt 256, 273, 289 ff., 312, 318, 392 – als Hilfsgesichtspunkt 291, 318 – Kern- und Randbereich 302 – Ordnungsschwerpunkt 294 – Regelungszusammenhang s. bei Regelungs zusammenhang – Sonderrecht 293 f., 302, 309, 327, 334
– Spezialität 293 Selbststand der Verfassung 21, 138 Selbstverwaltung 81, 162, 424 Sicherungsverwahrung 129, 132, 148, 236, 355 – Gewohnheitsverbrechergesetz 149 Souveränität 32 Sozialversicherung 136, 159, 285, 330 – als Gattungsbegriff 159 – Kindergeldurteil 160 – Reichsversicherungsordnung 136, 159 Spezialität 341 Spielbanken 258, 288, 302 Spielhallen-Beschluss 116, 131, 146, 187 Sportwetten, Urteil 259, 288 Staatsangehörigkeit 207 f. Staatsaufgabe 32, 38 ff., 63, 65, 128, 218 Staatshaftung, Urteil 112, 131, 157, 410 Staatspraxis 121, 144, 147, 187 ff., 191, 271, 278, 280 Staatsverträge 216 Staatsvolk 32, 208 Statistik 262 Steuern 167, 287, 292 – Kernbrennstoffsteuer s. Kernbrennstoffsteuer-Beschluss – Lenkungssteuern s. bei Lenkungssteuer – Steuerzuständigkeit 167, 398 Strafrecht 131, 137, 147, 238, 348, 393, 420 – Zeugnisverweigerungsrecht für Journalis ten 77, 184 Subsidiaritätsprinzip 30, 80 ff. Subsumtion s. Kompetenzzuordnung Systematische Auslegung 106 Systemdenken 26 Telekommunikation 147, 232, 310 Teleologische Auslegung 277 ff. Teleologische Widersprüche s. Wertungswidersprüche Therapieunterbringungsgesetz, Beschluss 130 Tierschutz 257 Titulierte Kompetenzen 55 Trennung und Alternativität 64, 99, 333 Typusbegriff 30, 153 ff., 165 ff., 179 ff., 272, 280, 284 – Begriffskern 155, 180, 272, 280 – Begriffsminimum 157, 179, 271, 280
Sachwortverzeichnis – Steuerarten als Typusbegriffe 167 ff. – Verfassungspraxis 158 ff. Übermaßverbot s. Verhältnismäßigkeitsgrund satz Überregionalität s. Rechtseinheit Umweltgesetzbuch 325 Ungeschriebene Kompetenzen 58, 195 ff. – Begriff 196 – s. Annexkompetenz – s. Kompetenz kraft Natur der Sache – s. Kompetenz kraft Sachzusammenhangs Unitarischer Bundesstaat 27 (mit Fn. 5), 343, 414 Unverfügbarkeit der Kompetenzordnung 78, 98 Urheberrecht 131, 306 Vage Begriffe 164 Verbandskompetenz 43 Verfassungsänderung 198 Verfassungsgewohnheitsrecht 193 Verfassungskonvent von Herrenchiemsee s. Herrenchiemsee Verfassungsreform 1994 88, 345 Verfassungswandel 191, 235 Verfassungswidrige Praxis 146 – Nationalsozialistische Gesetze 147 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 423 ff., 427 Versteinerung des Rechts 142, 151, 179, 280, 288 Versteinerungstheorie des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs 122 ff., 150, 153, 280 – Intrasystematische Interpretationsmethode 124 Verteilungsprinzip 62, 84, 196 Verwaltungskompetenzen 264, 265
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Verwaltungsorganisation 261 Verwaltungsverfahren 261, 263 ff. Verwaltungszuständigkeit s. Verwaltungskompetenzen Vielfalt im Bundesstaat 28, 53, 211, 416, 423 Vollständigkeit der Kompetenzverteilung 64, 102 Vorranggesetzgebung 344 Vorratsdatenspeicherung, Urteil 236 Wahlrecht 207, 208 Währungs-, Geld und Münzwesen 207 Warenverkehr 136 Weimarer Reichsverfassung s. Weimarer Republik Weimarer Republik 31 (mit Fn. 31), 70, 108, 136, 145, 147, 149, 170, 189, 191, 198, 227, 279 – Nationalsozialismus s. Verfassungswidrige Praxis Wertungswidersprüche 392 Wettbewerbsföderalismus 344, 366 Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung 292, 337, 347, 395 ff., – als Verfälschungstatbestand 402 – Kritik 404 – Widersprüchliche Regelungskonzeptionen 311, 341, 366, 391, 400 ff., 424, 430 Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland 202, 212 Wohlfahrtspflege 172 (mit Fn. 487) Wohnungsbauförderung 95 Wortlautauslegung 105 Zollkriminalamt-Beschluss 219, 251 Zuständigkeit s. Kompetenz Zuständigkeitsvermutung 100, 101 ff., 318 Zustimmungsgesetze 266