Die Inkorporation als Tatbestand der Staatensukzession [1 ed.] 9783428485529, 9783428085521

Die politischen Umwälzungen der Jahre 1989-1992 haben die praktische Bedeutung der völkerrechtlichen Staatensukzession v

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German Pages 435 Year 1995

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Die Inkorporation als Tatbestand der Staatensukzession [1 ed.]
 9783428485529, 9783428085521

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OLIVER DÖRR

Die Inkorporation als Tatbestand der Staatensukzession

Schriften zum Völkerrecht Band 120

Die Inkorporation als Tatbestand der Staatensukzession

Von Oliver Dörr

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Dörr, Oliver: Die Inkorporation als Tatbestand der Staatensukzession I von Oliver Dörr. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Schriften zum Völkerrecht ; Bd. 120) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1995 ISBN 3-428-08552-3 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten

© 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0251 ISBN 3-428-08552-3

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 @l

FürMotte

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1995 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. Das Manuskript war Ende Januar 1995 abgeschlossen, doch konnte ich vor Drucklegung einzelne Nachweise bis einschließlich Juli desselben Jahres nachtragen. Einigen Menschen, die zur Entstehung dieser Arbeit beigetragen haben, bin ich sehr zu Dank verpflichtet. Dies gilt an erster Stelle fiir meinen verehrten akademischen Lehrer, Prof. Dr. Albrecht Randelzhofer, der mich als Studenten fiir das Völkerrecht begeistert hat und mir als wissenschaftlichem Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl neben vielfältigen sachlichen Hinweisen stets den nötigen Freiraum gab, um diese Untersuchung abzuschließen. Zahlreiche Anregungen im Umgang mit dem historischen Material verdanke ich der Arbeit mit Prof. Dr. Wilhelm Grewe am 1. Band seiner Fonfes Historiae Juris Gentium. Prof. Dr. Philip Kunig habe ich fiir die zügige Erstellung des Zweitgutachtens zu danken. Im privaten Bereich bin ich meinen Eltern sehr dankbar dafiir, daß sie mir die juristische Ausbildung ermöglicht haben und während dieser sowie während der Arbeit an der Dissertation stets Zeit fanden fiir weiterfUhrende Gespräche und aufmuntemde Worte. Besondere Dankbarkeit empfinde ich gegenüber meiner Frau Ulrike, die die Entstehung dieser Arbeit nicht nur durch wertvolle Ratschläge und geduldiges Korrekturlesen gefbrdert hat, sondern mir trotz eigener Berufstätigkeit vor allem in der Schlußphase der Dissertation im gemeinsamen Haushalt und bei der Betreuung unserer Kinder den Rücken freigehalten hat. Vor allem durch die Selbstverständlichkeit, mit der sie dies tat, hat mir meine Frau beim Abschluß dieser Arbeit sehr geholfen; ihr ist sie daher gewidmet. Berlin, im August 1995

O.D.

Inhaltsverzeichnis Einleitung

21

A Problemstellung ................................. .................................... .......................................................... 21 B. Begriff der Staatensukzession ......................................................................................................... 26 C. Gang der Untersuchung .................. ................................................................................................. 30

Erster Teil

Der Tatbestand der Inkorporation

31

A Die Grundkonstellation ....................................................... ............................................................ 31 I. Behandlung in Literatur und Staatenpraxis ......... ......... ........................................................... 31 1. Als Sukzessionstatbestand .......................................... ... ........................ ...... ....... ................. . 31 2. Tenninologie ........................................................................................................................ 36 II. Eigene Defmition ............................................. ........................................................ ................. 39 1. Inkorporalionsobjekt ............................................................................................................ 40 2. Inkorporationssubjekt .......................................................................................................... 40 3. Inkorporationshandlung ....................................................................................................... a) Erstreckung der territorialen Souveränität ... ........................................ ...... ... .................. b) Kontinuitlt des inkorporierenden Staates ..................................................... .................. c) Untergang des inkorporierten Staates als souvertnes Völkerrechtssubjekt ....................

41 41 43 44

111. Der Einfluß des völkerrechtlichen Effektivitätsprinzips .......................................................... 46 B. Freiwillige Aufuahme in den Staatsverband als Tatbestandsvoraussetzung- Die Abgrenzung von der Annexion ............................................................................................................................ 51 I. Begriff der Annexion ................................................................................................................ 52 II. Historischer Beginn der Völkerrechtswidrigkeit der Annexion ............................................... 54 1. Annexionsverbot als Konsequenz eines allgemeinen Gewaltverbots .................................. 55 a) Maßstäblichkeit des Gewaltverbots ................................................................................. 55 b) Historische Entwicklung des völkerrrechtlichen Gewaltverbots ....... ..... .. .. ... ................. 58

2. Annexionsverbot als Konsequenz des Interventionsverbots ................................................ 67 3. Annexionsverbot als Konsequenz der sog. "Stimson-Doktrin" ........................................... 69 a) Die "Stimson-Erkllinlng" ................................................................................................. 70 b) Die nachfolgende Staatenpraxis ...................................................................................... 72 4. Annexionsverbot als Konsequenz des Selbstbestinunungsrechts der Völker ...................... 78 5. Die Annexion als Gebietserwerbstitel bis 1945 ................................................................... 81 a) "Conquest" als Tatbestand des Gebietserwerbs ............................................................... 82

10

lnhaltsveneiclmis b) Eroberungen des 2. Weltkriegs im Spiegel der Rechtsprechung .................................... 86 c) Deutschlands Rechtslage nach dem 8. Mai 1945 ........................................................... 95 aa) Praxis der alliierten Siegennächte ............................................................................ 96 bb) Deutsche Rechtsprechung der Nachkriegszeit ......................................................... 99 cc) Schrifttum ............. .. .... ......................... .. .. .. ........ .......................... . ........ ............. .... ... I 00 6. Ergebnis .............................................................................................................................. 102 111. Rechtsfolgen der völkerrechtswidrigen Annexion ............ ................................... ................... I 06 l. Nachträgliche Legalisierung des Gebietserwerbs? ............................................................. 106 2. Nichtigkeit als allgerneine völkerrechtliche Deliktssanktion? ........................................... III 3. Staatenpraxis und opinio iuris ........................................................................................... 119 a) Keine Nichtigkeit als Folge einer Vertragsverletzung ................................................... 119 b) Nichtigkeit wegen Verstoßes gegen das völkergewohnheitsrechtliche Gewaltverbot .. 121 4. Ergebnis .............................................................................................................................. 126 IV. Folgerungen filr den Tatbestand der Inkorporation ............................................................... 127

C. Abgrenzung vom Tatbestand der Fusion ....................................................................................... 132 I. Das Kriterium der Staatsidentität .............. .......... .. .... ...... ............... .. .... .... .............. .. ..... ......... 132 II. Die Ermittlung der Staatsidentität im Einzelfall .................................................................... 138 1. Objektive Anhaltspunkte .................................................................................................... 140 2. Der Wille der beteiligten Staaten ....................................................................................... a) Ausdrückliche Erklärung ............................................................................................... b) Implizite Betätigung ....................................................................................................... aa) Beispiel Deutschland 1990 ...................................................................................... bb) Beispiel Jemen 1990 .. .. .... .. .. .. .. .. .. .. .. .. ...... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .... ...... .. .. .. .. .. cc) Beispiel Tansania 1964 ............................................................................................ c) Die Behandlung bestehender Verträge als Indikator ..................................................... aa) Behauptung des Erlöschens ..................................................................................... bb) Erklärung oder Annahme der Fortgeltung .............................................................. ( 1) Grundsätzlich als Indiz filr Identitätswillen unergiebig .. .... .. .. .. .. .. .. .. .. .... .. .. ...... . (2) Ausnahmsweise Relevanz als Indiz möglich ...................................... ...............

142 144 146 148 151 152 154 155 157 157 161

3. Bewertung durch die Staatengemeinschaft ........................................................................ 165 a) Ausdrucklieh .................................................................................................................. 167 b) Implizit ..... ..... ................... ..... ..... ................ ..... ........ ...... ..................... .......... .. . ........ ....... 172 4. Fazit . .................................. ..... ......................................................................... ... ................ 176 D. Andere Differenzierungen ............................................................................................................. 178 I. Abgrenzung von der Zession .. ............................................................................. ................... 178 II. Abgrenzung vom Eintritt in einen Bundesstaat? .................................................................... 180 111. Abgrenzung von der Zentralisierung eines Bundesstaates ..................................................... 183 IV. "Ink:orporationsihnliche" Eingliederungen ............................................................................ 183 l. Gebietsteile eines anderen Staates ...................................................................................... 185 2. Von anderen Staaten abhängige Gebiete ............................................................................ 186 3. Eigene abhängige Gebiete .................................................................................................. 186 4. Andere nicht-souveräne Gebietseinheiten .......................................................................... 189 E. Zusammenfassung .......................................................................................................................... 190

Inhaltsverzeichnis

11

Zweiter Teil

Historische Beispiele

191

A Eingrenzung der zu behandelnden Sachverhalte ................ .... ......................... .......... .................... 191 B. Die Einzeltalle ................................................................................................................................ 195 1. Schottland 1707 ............... .. .. .... .......... .............. .......... .... .. ............. ............. ......... .. . ............ .... 195 2. Ostseeprovinzen 1721? ........................................................................................................... 197 3. Krim 1783 ............................................................................................................................... 197 4. Danzig 1793 ............................................................................................................................ 199

5. Herzogtum Kurland 1795 ....................................................................................................... 202 6. Polen 1795 ............................................................................................................................... 204 7. Die napoleonischen "reunions" 1791-1810 ........................................................................... 205 a) Fürstentum Monaco 1793 ................................................................................................... 206 b) Basel 1793 .......................................................................................................................... 209 c) Republik Venedig 1797 ...................................................................................................... 210 d) Herzogtum Modena 1797 ................................................................................................... 211 e) MOlhausen 1798 ................................................................................................................. 212 f)Genf1798 ............................................................................................................................ 212 g) Malta 1798 .......................................................................................................................... 213 h) GraubOnden 1799 ............................................................................................................... 214 i) Genua 1805 ......................................................................................................................... 215 j) Herzogtum Parma 1808 ...................................................................................................... 217 k) Großherzogtum Toskana 1808 .......................................................................................... 218 I) Republik Ragusa 1808/09 ................................................................................................... 220 m) Kirchenstaat 1809/10 ........................................................................................................ 221 n) Holland 1810 ...................................................................................................................... 222 8. Irland 1801? ............................................................................................................................ 224 9. Georgien 1801 ......................................................................................................................... 226 10. Herzogtum Holstein 1806 ........................................................................................................ 228 11. Großfiirstentum Finnland 1808? ............................................................................................ 230 12; Der Wiener Kongreß 1814/15 ................................................................................................ 231 a) Belgien? ............................................................................................................................... 232 b) Polen? .................................................................................................................................. 234 c) Danzig? ............................................................................................................................... 236 d) Basel? .................................................................................................................................. 237 e) Genua? ................................................................................................................................ 238 13. Algier 1830? ............................................................................................................................ 239 14. Texas 1845 .............................................................................................................................. 243 15. Krakau 1846 ........................................................................................................................... 246 16. Hohenzollern-Fürstentümer 1850 ........................................................................................... 249

12

Inhaltsverzeichnis 17. Die italienische Einigung 1860 .............................................................................................. 251 18. Dominikanische Republik 1861 ............................................................................................. 254 19. Ionische Inseln 1864 ............................................................................................................... 256 20. Die preußischen Annexionen 1866 ........................................................................................ 259 a) Schleswig und Holstein? .................................................................................................... 259 b) Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt .................................................................... 261 21. Kirchenstaat 1870 ................................................................................................................... 264 22. Die Gründung des Deutschen Reiches 1870171 .................................................................... 265 23. Fidschi-Inseln 1874? ............................................................................................................... 271 24. Herzogtum Lauenburg 1876? ................................................................................................ 272 25. Transvaall877 ....................................................................................................................... 273 26. Gesellschaftsinseln 1880 ........................................................................................................ 275 27. Binna 1886 ............................................................................................................................. 277 28. Madagaskar 1896 ....................... ...................................... ...................................................... 279 29. Hawaii 1898 ........................................................................................................................... 281 30. Samoa 1899/1900? ................................................................................................................. 284 31. Burenstaaten 1902 .................................................................................................................. 290 32. Kongo 1908 ............................................................................................................................ 293 33. Korea 1910 ............................................................................................................................. 299 34. Tripolitanien 1911? ................... ....................................... ...................................................... 302 35. Samos und Kreta 1913? ......................................................................................................... 305 36. Montenegro 1918 .................................................................................................................... 309 37. Ausdehnung Sowjetrußlands 1922 ......................................................................................... 316 a) Fernöstliche Republik ......................................................................................................... 316 b) Georgien, Ascrbaidschan und Armenien? .......................................................................... 317 38. Fiume 1924 ............................................................................................................................. 320 39. Äthiopien 1936 ....................................................................................................................... 323 40. österreich 1938 ...................................................................................................................... 327 41. Tschechoslowakei 1939? ........................................................................................................ 333 42. Albanien 1939? ....................................................................................................................... 336 43. Freie Stadt Danzig 1939 ......................................................................................................... 339 44. Polen 1939? ............................................................................................................................ 343 45. Die baltischen Staaten 1940 ................................................................................................... 345 46. Die indischen Fürstenstaaten 1947/48? ................................................................................ 355 47. Neufundland 1949 .................................................................................................................. 359 48. Tibet 1951 ............................................................................................................................... 363 49. Eritrea 1952? .......................................................................................................................... 369 50. Freies Territorium von Triest 1954? ...................................................................................... 373 51. Saarland 1957 ......................................................................................................................... 376

Inhaltsverzeichnis

13

52. Singapur 1963? ....................................................................................................................... 382 53. Sikkim 1975 ............................................................................................................................ 387 54. Vietnam 1976 .......................................................................................................................... 390

55. Deutschland 1990 ................................................................................................................... 399 C. Fazit ................................................................................................................................................ 405

Wesentliche Ergebnisse

408

Literaturveneichnis

410

Register

431

Abkürzungsverzeichnis aaO

ABl-EG ABIS Abs. ActaScand. AD. ADAP

a.E. a.F. AFDI

AJIL AJPIL allg. Anm.

AöR

AP App. APSR Arab L.Q.

Arch.Dipl. 2 Art. ASIL-Proc. AsYIL Aufl. AustrYIL AVR

Az.

BayObLGZ BayVBI Bek.; bek.

BerDGVR

BFH BFSP BGBI BGE BGH BGHSt BGHZ BStBI BT-Drs.

am angegebenen Ort Amtsblatt der Europlisehen Gemeinschaften Amtsblatt des Saarlandes Absatz Acta Scandinavica Juris Gentium Annual DigestandReports ofPublic International Law Cases Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik amEnde alte Fassung Annuaire Frantrais de Droit International American Journal oflntemational Law Austrian Journal ofPublic International Law allgemein Anmerkung

Archiv des öffentlichen Rechts (Neue Folge) Arbeitsgerichtliche Praxis Appendix Arnerican Political Science Review Arab Law Quarterly Archives Diplomatiques, Deuxieme Serie Artikel Arnerican Society oflntemational Law, Proceedings ofthe Annual Meeting

Asian Yeari>ook of International Law Auflage Australian Yearbook oflnternational Law Archiv des Völkerrechts Aktenzeichen

Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Zivilsachen Bayerische Verwaltungsblätter Bekanntmachung; bekanntgemacht Berichte der Deutschen Gesellschaft filr Völkerrecht Bundesfinanzhof British and Foreign State Papers Bundesgesetzblatt Entscheidungen des schweizerischen Bundesgerichts Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundessteuerblatt Verhandlungen des Deutschen Bundestages- Drucksachen

Abkürzungsverzeichnis Buii.BReg BVerfG, BVerfGE BVerwG, BVerwGE BYIL bzw.

15

Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung (Entscheidungen des) Bundesverfassungsgericht(s) (Entscheidungen des) Bundesverwaltungsgericht(s) British Yearoook oflntemational Law beziehungsweise

CanYIL eh. C.l. CTS

La Comunita Internazionale The Consolidated Treaty Series, ed. by C. Parry

DDR Dep'tSt. Bull. ders., dies. d.h. Diss. DÖV DRZ DtZ DV DVBI

Deutsche Demokratische Republik Department of State Bulletin derselbe, dieselbe(n) dasheißt Dissertation Die Öffentliche Verwaltung Deutsche Rechts-Zeitschrift Deutsch-Deutsche Rechts-Zeitschrift Deutsche Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt

EA

Europa-Archiv ebenda edition, edition Europäische Gemeinschaft(en) Vertrag Ober die Gründung der Europäischen Gemeinschaft flir Kohle und Stahl Europäischer Gerichtshofflir Menschenrechte European Journal oflnternational Law Emory International Law Review Encyclopaedia Britannica englisch Europaisches Parlament Encyclopedia ofPublic International Law, published under the auspices ofthe Max Planck Institute for Comparative Public Law and International Law ... , 12 lnstalments, 1981-90 Europäische Politische Zusammenarbeit Europäische Grundrechte-Zeitschrift Einigungsvertrag (Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR Ober die Herstellung der Einheit Deutschlands vom

ebd ed., ed. EG EGKSV EGMR

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EmoryiLR Encycl. Brit. eng!. EP EPIL

EPZ EuGRZ EV

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f , ff. F.2d FamRZ FAO

FAZ

FinnYIL Fn. For. Aff.

Canadian Y earbook of International Law

Chapt.er

31.8.1990)

Europaisches Wirtschafts- und Steuerrecht

folgende Seite(n) Federal Reporter, Second Series (USA) Zeitschrift filr das gesamte Familienrecht Food and Agriculture Organisation Frankfurter Allgemeine Zeitung Finnish Yearlx>ok oflnternational Law Fußnote Foreign Affairs

16

franz.

Abkürzungsverzeichnis

FRJ FRUS FS F. Supp. FW

französisch "Föderative Republik Jugoslawien" (Papers relating to the) Foreign Relations ofthe United States Festschrift Federal Supplement (USA) Friedenswam

GAIT GBI-DDR GG GUS GV GYIL

General Agreement on Tariffs and Trade Gesetzblatt der DDR Grundgesetz Gemeinschaft Unabhlngiger Staaten Generalversammlung (der Vereinten Nationen) Gennan Y earbook of International Law

HarvardL.R HbStR HLKO h.M.

Harvard Law Review Handbuch des Staatsrechts, hrsg. v. P. Kirchhof und J. Isensee Haager Landkriegsordnung herrschende Meinung Human Rights Law Journal Herausgeber, herausgegeben

HRLJ

Hrsg., hrsg.

IBRD ICJ ICLQ IGH

ILC

ILM ILO ILR IMF Indiana L.J. IndJIL lndYIA Int.Conc. Int'l Studies IP

IPrax

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i.V.m IWB

JBI

JDI

Jhdt. JIAÖR JIR J.Leg. J.O. JöR JR JRMP J.T.

International Bank for Reconstruction and Development International Court of Justice International and Comparative Law Quarterly Internationaler Gerichtshof International Law Comrnission International Legal Materials International Labour Organisation International Law Reports International Monetary Fund Indiana Law Journal Indian Journal oflnternational Law Indian Y earbook of International Affairs International Conciliation International Studies Internationale Politik Praxis des Internationalen Privat- und Vmalu·ensrechts Italian Yearbook oflnternational Law in Verbindung mit Internationale Wirtschaftsbriefe Juristische Bllltter Journal du Droit International (Ciunet) Jahrhundert Jahrbuch filr internationales und auslAndisches öffentliches Recht Jahrbuch fiir Internationales Recht Journal ofLegislation Journal Officiel de Ia Republique Fran~ Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Juristische Rundschau Jugoslovenska Revija za Medunarodno Pravo Journal des Tribunaux (Belgien)

Abkürzungsverzeichnis

17

Jura NR JZ

Juristische Ausbildung Jahrbuch des Völkerrechts Juristenzeitung

KG KSZE

Kammergericht Konferenz filr Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

LdRIVR LNOJ LNTS LSG

Lexikon des Rechts I Völkerrecht, hrsg. v. I. Seidi-Hohenveldern Landgericht Buchstabe League ofNations Official Journal League ofNations Treaty Series Landessozialgericht

MAP MDR MichJlL mwN

Monatshefte filr Auswärtige Politik Monatsschrift fur Deutsches Recht Michigan Journal oflnternational Law mit weiteren Nachweisen

NATO n.F. NILR NJ

North Atlantic Treaty Organization neue Folge Netherlands International Law Review Neue Justiz N ederlandsche Jurisprudentie .Neue Juristische Wochenschrift Nummer Nouveau Recueil Gen6ral de Traites, I. - 3. Serie Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Neue Zeitschrift filr Verwaltungsrecht Netherlands Yearbook oflnternational Law New York Law School Journal oflnternational and Comparative Law

LG lil

N.J.

NJW No.,Nr. NRGI,2,3 NSDAP NVwZ NYIL NYLSnCL

OEEC ÖHdV ÖJZ OER OGHZ ORGE OVG

Organisation ofEuropean Economic Co-operation Osterreichisches Handbuch des Völkerrechts Osterreichische Juristenzeitung Osteuropa-Recht Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes filr die Britische Zone in Zivilsachen Oberlandesgericht Entscheidungen des Obersten ROckerstattungsgerichts ftlr Berlin Oberverwaltungsgericht

P. P. 2d Pas. Beige PCIJ PoiYIL PrGS PrOVGE

The Law Reports, Probate Division Pacific Reporter, Second Series (USA) Pasicrisie Beige Permanent Court oflnternational Justice Polish Yearbook oflnternational Law Gesetz-Sammlung ftlr die Königlichen Preußischen Staaten Entscheidungen des Preußischen Oberverwaltungsgerichts

RabclsZ Rac.Uff.

Raheis Zeitschrift ftlr ausllndisches und internationales Privatrecht Raccolta Ufficiale delle Leggi e dei Decreti del Regno d'ltalia Revue Beige de Droit International

OLG

RBDI

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18 RdC

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Rdn. Res. Rev. Dr. Int. RGBI RGDIP RGSt RGZ RHDI

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ROW RSFSR RzW

S. SchlHA schweiz. Schweiz.nR SchwJZ SEW

S.l. SJZ SpanYIL Spec. Suppl. SR S. R. &0. SSR Sta. Clara L. stellv. StGBI StiGH STS StuW Suppl.

sz

SZIER

TAM TranspR TulaneL.R.

u.a. UdSSR UN UNESCO UNJYB UNTS

Abkürzungsverzeichnis Recueil des Cours Rivista di Diritto Internazionale Revue de Droit International et de Ugislation Comparee Randnununer Resolution Revue du Droit International, fondee et dirigee par A de Geou:ffre de Ia Pradelle (Paris) Reichsgesetzblatt Revue Generale de Droit International Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Revue Hellenique de Droit International Reportsoflnternational Arbitral Awards Recht der Internationalen Wirtschaft Recht in Ost und West Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik Rechtsprechung zum Wiedergutmachungm:cht Seite Schleswig-Holsteinische Anzeigen schweizerisch Schweizerisches Jahrbuch fllr Internationales Recht Schweizerische Juristen-Zeitung Sociaal-Economische Wetgeving Statutory Instruments (Vereinigtes Königreich) Süddeutsche Juristenzeitung Spanish Y earbook oflnternational Law Special Supplement Sicherheitsrat (der Vereinten Nationen) StatutDry Rules & Orders (Vereinigtes Königreich) Sozialistische Sowjetrepublik Santa Clara Lawyer stellvertretend Staatsgesetzblatt filr die Republik Osterreich Ständiger Internationaler Gerichtshof Soviet Treaty Series Steuer und Wirtschaft Supplement Süddeutsche Zeitung Schweizerische Zeitschrift fllr internationales und europäisches Recht Recueil des Decisions des Tribunaux Arbitraux Mixtes institues par les traites de paix Transportrecht Tulane Law Review und andere; unter anderem Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken United Nations United Nations Educational, Scientific and Cultural Organisation United Nations Juridical Y earbook United Nations Treaty Series

Abkürzung,werzeichnis

UNYB u.ö. UPU U.S.

U.S. V.

Va.flL Verf VG

vgl. VN

VRÜ VVDStRL WdV West. Pol. Quart. WEU WMO WVK

United Nations Y earbook und öfter Universal Postal Union United States ( of America) United States Reports von, vom; gegen Virgina Journal oflnternational Law Verfasser Verwaltungsgericht vergleiche Vereinte Nationen Verfassung und Recht in Übersee Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Wörterbuch des Völkerrechts, begr. v. K. Stropp, in 2. Aufl. hrsg. v. H.-J. Schlochauer, 3 Bände, 1960-62 The Western Political Quarterly Westeuropäische Union World Meteorological Organisation Wiener Vertragsrechtskonvention (= Wiener Übereinkonunen über das Recht der Verträge vom 23.5.1969)

"·-.

YbiLC Yb. World Aff.

Y earbook ofthe International Law Commission Y earbook ofWorld Affairs

ZaöRV z.B. ZflR

Zeitschrift filr auslindisches öffentliches Recht und Völkerrecht zum Beispiel Zeitschrift filr Internationales Recht, hrsg. v. Th. Niemeyer Zeitschrift filr Politik Ziffer zitiert Zeitschrift filr öffentliches Recht Zeitschrift fllr osteuropäisches Recht Zeitschrift filr Parlamentsfragen Zeitschrift filr Vergleichende Rechtswissenschaft

ZfP Ziff.

zit. ZöR ZOR ZParl ZVgiRWiss

19

Einleitung Die revolutionären Umwälzungen in den vormals sozialistischen Staaten Osteuropas haben das Interesse am Recht der Staatensukzession neu belebt. Ein Gebiet des Völkerrechts, das, so scheint es, seit jeher nicht behandelt werden kann, ohne daß man es als besonders unklar und schwierig bezeichnet1, ist unvermittelt in den BlickpUnkt nicht nur des völkerrechtswissenschaftlichen, sondern auch des außenpolitischen Interesses getreten. Nachdem angesichts einer immer weiter ausgreifenden zwischenstaatlichen Integration bereits der Abgesang auf den Nationalstaat angestimmt worden war, belegen die Herstellung der deutschen Einheit 1990 sowie noch mehr die Zerfallsprozesse in der Sowjetunion, Jugoslawien und der Tschechoslowakei 1991/92 eindrucksvoll seine fortbestehende Anziehungskraft und zentrale Bedeutung fiir die Praxis der internationalen Beziehungen2 . Mit dem wiedererwachten Streben nach Eigenstaatlichkeit und staatlicher Souveränität haben auch die völkerrechtlichen Grundsätze zu Staatsentstehung und -untergang eine neue praktische Aktualität erhalten. Die Völkerrechtslehre, die noch bis vor kurzem die unterschiedlichen Konstellationen der Staatensukzession überwiegend anband zeitlich weit zurückliegender Fälle erläutern mußte, hat neues Anschauungsmaterial erhalten.

A. Problemstellung Die neu gewonnene Relevanz der Thematik steht allerdings in einem auffälligen Gegensatz zum Fehlen gesicherter Erkenntnisse über den Normenbestand des geltenden Völkerrechts zur Staatensukzession. Diese Unsicherheit kommt in der Praxis zum einen durch in Rechtsform gegossene Ratlosigkeiten zum Ausdruck, wie zum Beispiel Art. 12 Abs. I des deutschen Einigungsvertrags, der das Schicksal der völkerrechtlichen Verträge der DDR zu regeln 1 Vgl. schon Jellinek, Staatslehre, 278, Fn. 2: "Wenige Punkte des Völkerrechts dOrften so wenig geklärt sein wie die Lehre von der Staatensukzession"; Liszt/Fleischmann, 273; aus neuerer Zeit statt aller Verdross!Simma, § 973; Weiss, SEW 1994, 670: "still one of the least settled, almost chaotic areas of internationallaw". 2 Ebenso Weiss, SEW 1994,662.

22

Einleitung

vorgibt, tatsächlich aber an mangelnder Regelungsklarheit kaum zu überbieten sein dürfte. Zum anderen zwingt das Fehlen gesicherter abstrakter Regeln die Praxis, zu pragmatischen und ergebnisorientierten ad-hoc-Regelungen des Einzelfalls zu greifen, was wiederum die Herausbildung einer einheitlichen, normbildenden Staatenpraxis oder einer allgemeinen Theorie der Staatensukzession erschwert. Die ungesicherte völkerrechtliche Rechtslage und die Orientierungslosigkeit der Praxis bedingen sich somit gegenseitig. Die beiden im Rahmen der Vereinten Nationen betriebenen Kodifikationsvorhaben zur Staatensukzession konnten nur wenig zur Klärung der Rechtslage beitragen. Die nach Vorarbeiten der International Law Commission verabschiedeten Entwürfe, die Wiener Konvention über die Staatennachfolge in bezugauf Verträge vom 23. August 19783 und die Wiener Konvention über die Staatennachfolge in bezug auf Staatsvermögen, -archive und -schulden vom 8. April 19834 , sind auf eine äußerst geringe Resonanz in der Staatengemeinschaft gestoßen und trotz der auffällig geringen Mindestzahl von jeweils 15 Vertragsstaaten bislang nicht in Kraft getreten5. Hauptpunkte der gegen die Konventionen vorgebrachten Kritik sind die fehlende Entsprechung zur tatsächlichen Staatenpraxis sowie ihre einseitige Ausrichtung auf das abgeschlossene Kapitel der Dekolonisation und auf die Interessen der ehemaligen Kolonien6. Den Konventionsbestimmungen über die Staatenvereinigung wird darüber hinaus ihre fehlende Praktikabilität entgegengehalten7 . Unter Hinweis auf diese Defizite erklären manche den unternommenen Kodifikationsversuch bereits für gescheitert8, während andere überhaupt an der Kodifizierbarkeit des 3 Text in ILM 17 (1978), 1488; AJIL 72 (1978), 971; ZaöRV 39 (1979), 279; AVR 18 (1979/80), 226. 4 Text in ILM 22 (1983), 306. 5 Am 31.12.1994lagen zur Konvention von 1978 20 Unterzeichnungen und 13 Ratifikationen bzw. Beitritte (Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Dominica, Ägypten, ~land, Äthiopien, Irak, Marokko, Seychellen, Slowenien, Tunesien, Ukraine, Jugoslawien), zur Konvention von 1983 6 Unterzeichnungen und 4 Beitritte (Kroatien, Estland, Georgien und Ukraine) vor, vgl. Multilateral Treaties deposited with the Secretary-General, Status as at 31 December 1994 (UN-Doc. ST/LEG/SER.E/ 13), 896 bzw. 82. 6 Vgl. z.B. Treviranus, Za6RV 39 (1979), 275-277; O'Connell, Za6RV 39 (1979), 726-733; Fiedler, GYIL 24 (1981), 31-47; Heintschel v. Heinegg, RIW 1990, Beilage 12, 14; Mullerson, ICLQ 42 (1993), 473; Weiss, SEW 1994, 670f.

1 Vgl. z.B. Oeter, ZaöRV 51 (1991), 355-357; Heintschel v. Heinegg, RIW 1990, Beilage 12, ll f.; Dtez de Velasco I, 278: "un tanto dificil de aplicar en muchos casos"; ebenso schon Treviranus, Za6RV 39 (1979), 272. 8 So z.B. Beemelmans, OER 1994, 340; ders., OER 1995, 76; Thum, 42; Epping, in: Ipsen, Völkerrecht, § 25 Rdn. 6; Prugger, 47; vgl. auch Weiss, SEW 1994, 670: "unsuccessful codification

attempts".

A Problemstellung

23

Rechts der Staatensukzession zweifeln9 . Selbst wenn die Konventionen möglicherweise durch die Beteiligung der neu entstandenen Staaten Osteuropas eines Tages in Kraft treten werden, so wird ihr Gewicht als dogmatische Grundstruktur oder als Beitrag zu konkreten Problemlösungen in der Staatenpraxis angesichts der überwiegenden Ablehnung durch Praxis und Wissenschaft doch gering bleiben. Generelle Handlungsanleitungen fiir die Praxis sind daher weiterhin vor allem von der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Problemen der Staatensukzession auf der Grundlage der in der Staatenpraxis gefundenen konkreten Einzelfallslösungen zu erwarten. Die verbreitete Unsicherpeit in diesem Bereich der Völkerrechtswissenschaft, die schon der britische Völkerrechtler Hall in einer vielzitierten Formulierung beschrieben hat10, scheint im wesentlichen zwei Ursachen zu haben. Zunächst wird vielfach nicht oder nicht hinreichend genau zwischen den verschiedenen Tatbeständen der Staatensukzession als Auslöser fiir ein bestimmtes Staatenverhalten unterschieden. Während man bei den völkerrechtlichen Rechtsfolgen eines Gebietswechsels vielfaltige Differenzierungen anstellt und etwa fiir die Frage nach einer Bindung des Nachfolgestaates zwischen verschiedenen Arten völkerrechtlicher Verträge unterscheidet, läßt ein Teil der Literatur eine vergleichbare Sorgfalt in bezug auf die Tatbestandsebene vermissen und handelt die jeweils relevante Staatenpraxis ohne Rücksicht auf typologische Besonderheiten der einzelnen Sukzessionskonstellationen ab. Besonders fiir die beiden völkerrechtlichen Tatbestände der Staatenvereinigung lassen sich solche Pauschalisierungen häufig beobachten und sogar bis zu Grotius' Standardwerk De iure belli ac pacis zurückverfolgen 11 • Am Ende steht dann meistens die Feststellung, daß die Praxis zu disparat sei, um daraus abstrakte Rechtsregeln ableiten zu können. Allgemeine theoretische Grundlegungen, die aufgrund einer solchen pauschalen Betrachtungsweise versucht

9 So O'Connell, ZaöRV 39 (1979), 726; partiell auch Treviranus, ZaöRV 39 (1979), 275. 10 "The subject is one upon which writers on international law are generally unsatisfactory. They are incomplete, and they tend to copy one another", vgl. Hall, 98, Fn. l. 11 In lib. II, cap. IX, § 9 untersuchte Grotius die Rechtsfolgen fllr den Fall "quando uniantur duo populi" - worunter er sowohl die Unterwerfung der Sabiner und Albaner durch Rom als auch den vollständigen Zusammenschluß von Königreichen ("sed vera unitate iunguntur") faßte. Weiter unten wird dann die gewaltsame Angliederung eines Staates ausdrücklich behandelt: "Polest amplius fieri, nernpe ut, qua civitas fuit, civitas esse definat, sive ita, ut accessio fiat alterius civitatis ..." (Grotius, lib. 111, cap. VIII, § 2).

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Einleitung

werden- man denke nur an die Modelle von "Universalsukzession" und "clean slate" 12 -,haben mit der tatsächlichen Staatenpraxis in der Regel nichts zu tun. So hat sich mittlerweile in der Völkerrechtslehre weitgehend die Erkenntnis durchgesetzt, daß fiir die Ableitung sukzessionsrechtlicher Rechtsfolgen aus der Staatenpraxis eine genaue Unterscheidung und Abgrenzung der verschiedenen Sukzessionskategorien unabdingbar ist 13 und allgemeine Regeln nur induktiv durch eine Analyse der Praxis im Rahmen der einzelnen Sukzessionstypen herzuleiten sind14. Denn die Ermittlung der völkerrechtlichen Konsequenzen von Gebietsveränderungen setzt zunächst Klarheit über die Erscheinungsformen dieser Veränderungen, die Sukzessionstatbestände also, voraus. Diejenigen Untersuchungen aber, die sich dementsprechend um eine typologisch differenzierte Analyse der Staatenpraxis bemühen, weisen in der Regel wiederum eines von zwei anderen Defiziten auf. Einerseits wurde die Inkorporation bis 1990 kaum noch als eigenständiger Sukzessionstatbestand zur Kenntnis genommen15 . Die recht seltene Praxis nach dem 2. Weltkrieg sowie die Konzentration auf die Folgeprobleme der Dekolonisierung hatten den Tatbestand auch in der Völkerrechtswissenschaft weitgehend in Vergessenheit geraten lassen. Zum anderen zieht selbst die völkerrechtliche Spezialliteratur fiir jede behandelte Sukzessionskategorie oft nicht mehr als eine Handvoll Beispiele heran und kommt dann zu dem Ergebnis, der betreffende Sukzessionsfall komme selten vor, die Praxis sei zu spärlich, um den Schluß auf eine entwickelte Regel des Völkergewohnheitsrechts zuzulassen. Das Problem im Umgang mit der Staatensukzession reduziert sich in diesen Fällen auf eine Unklarheit über das fiir die Analyse relevante und verfügbare Praxismaterial.

12 Dazu vgl. nur Wittkowski, 39-42. Zu den Theorien der Staatensukzession z.B. Caflisch, NILR 10 (1963), 351-358 und ausfUhrlieh O'Connell, Succession I, 8-30. 13 So z.B. Akehurst, Introduction, 159 ("vital"); Oppenheim/Lauterpacht I, 158; Jones, BYIL 24 (1947), 361 f.; Dahm I, 103; Fiedler, GYIL 24 (1981 ), 55 ("auf die Typisierung von Fallkonstellationen angewiesen"). Auf den engen Zusammenhang zwischen der Art des Gebietswechsels und dem Übergang von Rechten und Pflichten weisen auch Hailbronner, EJIL 2 (1991), 31 und Torres Bernardez, 386 ~ fllr die deutsche Vereinigung 1990 ebenso Prugger, 6. Aus der Praxis z.B. die Opinion No. 13 der sog. Badinter-Komrnission der Internationalen Jugoslawienkonferenz v. 16.7.1993, ILM 32 (1993), 1591 (1592), Ziff. 1: "depending on the circumstances proper to each form of succes-

sion".

14 Wittkowski, 43 nennt dies die "Theorie von der Spezialsukzession", während diese Bezeichnung von der herrschenden Terminologie zur Kategorisierung der Sukzessionsobjekte nur auf die Rechtsfolgen der Staatensukzession bezogen wird, vgl. z.B. Goerdeler, 21 mwN. 15 Dazu unten I. Teil, A 1.1 (S. 33 ff.).

A Problemstellung

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Die vorliegende Arbeit versucht, diesem unbefriedigenden Zustand in der Völkerrechtslehre wenigstens partiell durch einen Ansatz beizukommen, der Beschränkung und Ausdehnung in der Sache miteinander vereint. In der Breite beschränkt sich diese Untersuchung auf eine einzige Kategorie der Staatensukzession, die durch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahre 1990 eine neue Aktualität erfahren hat und daher auch eine vertiefte wissenschaftliche Beachtung verdient. Die Ausdehnung liegt in der Ausfiihrlichkeit, mit der diese eine Sukzessionskategorie behandelt und von anderen Kategorien abgegrenzt wird, vor allem aber in der Anzahl der historischen Beispielsfälle, die zur Ermittlung ihrer Präzedenztauglichkeit für die Inkorporation gesichtet und analysiert werden. Dieser hier verfolgte Ansatz unterstreicht die Bedeutung, welche den typologischen Besonderheiten jeder einzelnen Sukzessionkategorie beizumessen ist, wenn das Forschen nach Völkergewohnheitsrechtlichen Regeln der Staatensukzession Aussicht auf Erfolg haben soll. Die Fülle der bei der Tatbestandsabgrenzung auftretenden Probleme sowie der schiere Umfang des zutage geförderten historischen Materials zwingen zu einer weiteren Eingrenzung des Themas. Um den ihr gesetzten Rahmen nicht weit zu überschreiten, muß sich die vorliegende Arbeit auf den Tatbestand der Inkorporation im eigentlichen, normtheoretischen Sinne beschränken, also auf die Darstellung ihrer Tatbestandsmerkmale, ihre Abgrenzung gegenüber anderen Sukzessionstatbeständen sowie auf die Analyse der relevanten historischen Beispielsfälle. Denn eine genaue Definition und Abgrenzung der völkerrechtlichen Sukzessionskategorien ist eine entscheidende Voraussetzung für die Auswahl der jeweils passenden Präzedenzfälle aus der Staatenpraxis und damit für den Nachweis völkergewohnheitsrechtlicher Regeln zu den Rechtsfolgen des jeweiligen Sukzessionstyps. Die Inkorporation als eigenständigen und von anderen Erscheinungsformen des Gebietswechsels abzugrenzenden Tatbestand zu erkennen und in das System der völkerrechtlichen Staatensukzession einzuordnen, ist daher ein Gebot der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit Auf diese Weise sollen hier die dogmatischen Grundlagen gelegt und das historische Praxismaterial in bezug auf den Tatbestand der Inkorporation eröffnet werden, anband dessen in einem weiteren, selbständigen Arbeitsschritt die Staatenpraxis nach gewohnheitsrechtliehen Verfestigungen ihrer Rechtsfolgen analysiert werden könnte. Ansätze in puncto Rechtsfolgenermittlung haben in jüngerer Zeit einige Darstellungen untemommen 16, doch begnügten auch diese sich, soweit es die Inkorporation betrifft, mit einer Be-

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Einleitung

handlung der üblicherweise in diesem Zusammenhang erörterten historischen Beispielsfälle und konnten daher nur "gefestigte Grundsätze" oder "Tendenzen", kaum aber echte völkergewohnheitsrechtliche Regeln nachweisen 17. Ein neuer Anlauf zur Ermittlung der gewohnheitsrechtliehen Rechtsfolgen der Inkorporation muß daher dogmatisch auf einer gesicherteren und in bezug auf das verfiigbare Praxismaterial auf einer breiteren Grundlage erfolgen. Die Grundlagen für einen solchen, dann unter Umständen erfolgversprechenderen Anlauf zu bereiten, ist Anliegen dieser Untersuchung.

B. Begriff der Staatensukzession Am Anfang einer jeden Arbeit zum Recht der Staatensukzession hat jedoch eine Klärung der in diesem Bereich oft schillernden Begrifilichkeiten zu stehen. Die Verwendung des Begriffs "Staatensukzession" ist in der Völkerrechtslehre seit jeher von einer einzigartigen terminologischen Dichotomie gekennzeichnet. Denn dieselbe Bezeichnung wird sowohl für die Umschreibung des tatsächlichen Geschehens, der tatbestandliehen Gebietsveränderung, als auch für die daraus resultierenden Rechtsfolgen, also ggf. den Übergang der Rechte und Pflichten des Vorgängerstaates, benutzt, ohne daß das jeweilige Begriffsverständnis immer sofort klar erkennbar ist18 . Jones hat das terminologische Dilemma durch die Unterscheidung von succession in fact und succession in law gekennzeichnet19. Im Deutschen versuchen manche eine ähnliche Differenzierung zwischen "Staatensukzession" für den Tatbestand des Gebietswechsels und "Staatennachfolge" für seine völkerrechtlichen Kon-

16 Vgl. z.B. Wirtkowski, 63-70, der immerhin 11 Präzedenzflute-allerdings sehr pauschal - auffUhrt; Blumenwitz, Staatennachfolge, 26 f. begnügt sich mit einer knappen Auflistung von 7 Fällen in Fn. 45, 46, bringt anstelle einer Einzelanalyse aber eine pauschale Bewertung; Gornig, Staatennachfolge, 21-25, 101-116, 157-160 nennt insgesamt ca. ein Dutzend Beispielsfllle, un~cheidet die verschiedenen Formen des Staatsuntergangs aber nicht; Prugger, 38 f behandelt selbst nur einen einzigen Fall und verweist im übrigen aufGornig. 17 Vgl. Witrkowski, 11;Blumenwitz aaO, 27; Gornig aaO, 117, 161 f.;Prugger, 39. 18 Einen auf die Rechtsfolgen bezogenen Sukzessionsbegriff verwenden z.B. Gareis, 67; Schönborn, 6; Liszt!F7eischmann, 273; Guggenheim, Beiträge, 44, 52; Kämmerer, 4 f ; Castren, RdC 78 (1951-1), 386 f; Berber I, 253; Mochi Onory, 19; Gon(:alves Pereira, 11; Nguyen-Huu-Tru, 4 f; Poulose, 6-8; Thum, 37; wohl auch Oppenheim/Lauterpacht I, 157; Kimminich, Einfiihrung, 166. Für die Verwendung des Begriffs mit einem doppelten Inhalt z.B. der Dictionnaire de Ia Terminologie du Droit International, 581; Herbig, II ("Inhalt oder Folge eines Gebietswechsels"); Verzijl VII, 3; Gruber, 35 f.;Agarwal, 2. 19 Jones, BYL 24 (1947), 360; ihm folgend z.B. Ronzitri, 1; Riccioli, 32; Caflisch, NILR 10 (1963), 358 f.

B. Begriff der Staatensukzession

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sequenzen20, die sicherlich den Vorzug einer begrifilichen Klärung hätte. Da jedoch nicht recht einsichtig ist, warum der deutschen Übersetzung eine vom lateinischen Begriff abweichende Bedeutung zukommen soll, hat sich diese Terminologie in der Völkerrechtslehre nicht durchsetzen können. "Staatensukzession" und "Staatennachfolge" werden daher weiterhin synonym verwendet21. Die vorliegende Untersuchung bezieht beide termini nur auf die Tatbestandsebene, also den eigentlichen Vorgang der Gebietsveränderung, da dieses Begriffsverständnis in Wissenschaft und Praxis überwiegend zugrunde gelegt wird. Auch hier ist die Terminologie allerdings wiederum sehr vielfältig. Zum Teil wird die "Staatensukzession" an jede Veränderung des völkerrechtlichen Status' oder der völkerrechtlichen Zuständigkeit eines Gebiets geknüpft22. Diese Umschreibung erscheintjedoch nicht nur zu vage, sondern auch zu weit, da sie zum Beispiel Veränderungen innerhalb eines bestehenden Bundesstaates ebenso umfassen würde wie die mit Kompetenzverlusten der Mitgliedstaaten verbundene Integration in eine Staatenverbindung23 . Demgegenüber beschränkt das ganz herrschende Verständnis die Staatensukzession auf den Wechsel der völkerrechtlichen Zuordnung eines Gebiets zu einem Staat, kurz: den Gebietswechsel oder die Gebietsnachfolge, die Max Huber etwa beschrieben hat als "die Nachfolge im Staatsgebiet in der Weise, daß der Gebietsherr seine Staatsgewalt setzt an die Stelle oder über diejenige seines Vorgängers"24.

20 So z.B. Schweitzer, in: LdRIVR, 302; Ebenroth/Grashojf, ZVgiRWiss 92 (1993), 3; angedeutet auch in der Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesarbeitsministerium, Günther, v. 18.6.1991, BT-Drs.12/840, 18, unter 35.

21 So ausdrücklich in jüngerer Zeit Wittkowski, 10 f; Prugger, 13; Drinhausen, Fn. 7. Es fällt allerdings auf; daß das völkerrechtliche Schrifttum der DDR fast ausschließlich die Bezeichnung "Staatennachfolge" verwendete, den latinisierten Begriff dagegen vermied, vgl. nur die Arbeiten von Kirsten, PoeggeVMeißner/Poeggid und Staatennachfolge (DDR). 22soz.B.Berber1,253;Herbst, 17f; Goerdeler, 19.

23 So in der Tat Guggenheim I, 423 f

24 Huber, Staatensuccession, 8. Ebenso z.B. Fiedler, Staatskontinuität, 19: "Gebietsnachfolge"; Drinhausen, 4 f; Hershey, AJIL 5 (1911), 285; Feilchenfeld, 2: "transfer ofterritory"; Torres Bernardez, 385: "physical replacernent of one State by another"; Diez de Velasco l, 266; Nguyen Quoc/Daillier/Pellet, § 356; Weiss, SEW 1994, 668 f: replacernent of one state by another with respect to a given territory"; ähnlich Strupp, Theorie, 20: "Zut1lckziehung einer und Ausdehnung einer anderen Staatsgewalt".

28

Einleitung

Für die Beherrschung von Territorium durch einen souveränen Staat unterscheidet das Völkerrecht heute zwischen territorialer Souveränität und Gebietshoheit25. Während letztere nur die ausschließliche Beherrschung eines bestimmten Gebiets bezeichnet, begründet die territoriale Souveränität als gebietliebes Vollrecht nicht nur das Recht zur Ausübung der Gebietshoheit, sondern vor allem die umfassende Verfugungsbefugnis über ein Gebiet. Die völkerrechtliche Zuordnung eines Gebietes zu einem Staat knüpft also an die territoriale Souveränität an, diese muß daher der für die Staatensukzession maßgebliche Parameter sein. Dementsprechend formulierte der Internationale Gerichtshof in seiner Entscheidung über die Abgrenzungsstreitigkeiten im Golf·von Fonseca: "A State succession is one of the ways in which territorial sovereignty passes from one State to another ... "26.

Derjenige Teil der Literatur, der - mangels einer Differenzierung der Gebietsrechte - den Wechsel der Gebietshoheit für das Vorliegen einer Staatensukzession genügen läßt27, kommt in den Fällen in Schwierigkeiten, in denen territoriale Souveränität und Gebietshoheit auseinanderfallen, wie zum Beispiel bei der Verwaltungszession, der militärischen Besetzung und im Vorfeld der Ersitzung. Da in diesen Fällen eben nur die Gebietshoheit, nicht aber das Vollrecht, die territoriale Souveränität, übergeht, wechselt auch die formale völkerrechtliche Zuordnung des betreffenden Gebiets nicht - eine Staatensukzession scheidet aus28. Eine solche liegt somit (nur) dann vor, wenn die territoriale Souveränität über ein Gebiet von einem Staat auf einen anderen übergeht29. 25 Grundlegend fiir die deutsche Völkerrechtslehre die Schriften von Verdross, vgl. z.B. Jus Gentium 1 (1949), 247-253; ders., Völkerrecht, 265-270; Verdross/Simma, §§ 1038 f.; Verdross/Simmai Geiger, 15-17, 34-38. Ebenso z.B. Verosta, ÖJZ 1954, 242; Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rdn. 1111-1113; Vitzthum, in: HbStR I,§ 16 Rdn. 4;Dahm!Delbrück/Wolfrum I.l, 318; Geiger, 273 f. 26 Case concerning the Land, /sland and Maritime Frontier Dispute (EI Salvdor!Honduras; Nicaragua intervening), ICJ Reports 1992, 351 (598), § 399. 27 So z.B. Menzel, in: WdV III, 306; Zemanek, BerDGVR 5 (1964), 58; Epping, in: Ipsen, Völkerrecht,§ 25 Rdn. 4;Ebenroth/Wilken, RIW 1991, 890;Rodi!Prokisch, StuW 1992,50. 28 Dementsprechend unterscheidet Art. 40 der Konvention über die Staatennachfolge in Verträge ausdrücklich die militärische Besetzung von den Fällen der Staatensukzession und schließt sie aus dem Anwendungsbereich der Konvention aus.

29 Ebenso z.B. Wittkowski, 11; Blumenwitz, Staatennachfolge, 19; Raap, 223; Prugger, 15; SeidlHohenveldern, Völkerrecht, Rdn. 1383; ders. , in: ÖHdV I, Rdn. 749; Feilchenfeld, 621 f. ("replacement ofterritorial sovereignty"); Paenson, 9; Riccioli, 35 ("mutamenti di sovranita territoriale"). Als Übergang oder Wechsel von Souveränität z.B. bei Cavaglieri, 59; O'Connell, Succession I, 3; Chen, Succession, 11; Brownlie, Principles, 654; Wilkinson, 16; Fran.ois, RdC 66 (1938-IV), 80; PoeggeVMeißner!Poeggel, 15.

B. Begriff der Staatensukzession

29

Dieser Übergang ist stets ein vollständiger, da die territoriale Souveränität über ein bestimmtes Gebiet begriffsnotwendig unteilbar ist: Entweder einem Staat steht insoweit die wnfassende völkerrechtliche Dispositionsbefugnis zu oder nicht; besitzt er nur einzelne, daraus abgeleitete Hoheitsrechte oder verliert er solche in bezug auf ein Territorium, so ist er völkerrechtlich nicht (mehr) der territoriale Souverän. Der Übergang von Teilen der Hoheitsgewalt ist daher - wenn dies die Entstehung oder den Untergang eines souveränen Staates bewirkt -eine Staatensukzession im umfassenden Sinne, die Klassifizierung als "Teilsukzession" kommt insoweit nicht in Betracht30. Eine Staatensukzession, definiert als ein Wechsel der territorialen Souveränität, ist nur dann "partiell", wenn sie lediglich einen Teil des Staatsgebiets betrifft31 . Zu eng ist dementsprechend die Auffassung, die nur einen Übergang der territorialen Souveränität über das gesamte Staatsgebiet, also den vollständigen Untergang eines Staates, als Fall der Staatensukzession rechnen wil132. Auf diese Weise würden die praktisch wichtigen Fälle einer "partiellen" Staatensukzession, wie z.B. durch Abspaltung und Zession, überhaupt nicht erfaßt. Die beiden Konventionen über die Staatennachfolge beziehen den Sukzessionsbegriff ebenfalls auf die Gebietsveränderung selbst, ersetzen in ihrer gleichlautenden Definition aber die territoriale Souveränität durch die "Verantwortlichkeit fiir die internationalen Beziehungen von Gebiet" ("responsibility for the international relations ofterritory")33 . Grund fiir diese ungewöhnliche und in Abgrenzung vom Bereich der Staatenverantwortlichkeit nicht gerade glückliche Terminologie dürfte vor allem das Bestreben gewesen sein, den hauptsächlichen Regelungsgegenstand der Konventionen, den Fall der Dekolonisierung, aus Rücksicht auf die ehemaligen Kolonien nicht als einen Über-

30 So aberz.B. Zemanek, BerDGVR 5 (1964), 58; Dahm l, 101.

31 So z.B. die Terminologie bei Huber, Staatensuccession, 32, Oppenheim!Lauterpacht l, 157, Epping, in: lpsen, Völkerrecht, § 25 Rdn. 4, Fischer!Köck, 75. 32 So aber Guggenheim, Beiträge, 24-26, der als "Staatenwechsel" nur die Diskontinuität von Staaten ansah, die Zession also davon ausnahm; ähnlich in neuerer Zeit v. Hoffmann, IPrax 1991, 5, Fn. 59: "Wechsel der Staatsidentität"und Vogel, in: FS Bernhardt, 1151. 33 Vgl. Art. 2 I (b) Konvention 1978 und Art. 2 I (a) Konvention 1983. Als allgemeine Definition der Staatensukzession llbemommen z.B. bei Verdross/Simma, § 972; Fischer!Köck, 75; Fastenrath, VRÜ 25 (1992), 68; dems., AJPIL 44 (1992) I ; Beemelmans, OER 1994, 339. Aus der Praxis vgl. z.B. die Opinions der von der internationalen Jugoslawienkonferenz eingesetzten sog. BadinterKommission No. 1 v. 29.11.1991, ILM 31 (1992), 1494 (1495) und No. 11 v. 16.7.1993, ILM 32 (1993), 1587.

30

Einleitung

gang von Souveränität darstellen zu müssen34. Der Preis fiir diese Rücksichtnahme ist in Form einer deutlichen terminologischen Unschärfe zu zahlen, die oben gegen eine Anknüpfung am völkerrechtlichen Statuswechsel geäußerten Bedenken gelten auch fiir die in den Konventionen zugrunde gelegte Sukzessionsdefinition. Da die Kolonialfälle in der vorliegenden Untersuchung keine Rolle spielen, kann es hier bei dem oben entwickelten, klareren Begriffsverständnis bleiben. Als Staatensukzession oder Staatennachfolge ist daher nur der Übergang der territorialen Souveränität in bezug auf ein bestimmtes Gebiet von einem Staat auf einen anderen zu verstehen.

C. Gang der Untersuchung Die vorliegende Untersuchung gliedert sich in einen dogmatischen und einen historischen Teil. Der 1. Teil wendet sich zunächst der dogmatischen Grundstruktur des völkerrechtlichen Inkorporationstatbestandes zu (A.) und grenzt diesen sodann von der typologisch verwandten Annexion (B.) sowie von der anderen Kategorie der Staatenvereinigung, der Fusion, ab (C.). Weitere Differenzierungen am Ende dieses Teils (D.) runden die Stellung der Inkorporation im System der völkerrechtlichen Staatensukzession ab und stellen ihr insbesondere die "inkorporationsähnliche" Eingliederung als Sukzessionsform an die Seite. Der 2. Teil der Arbeit analysiert die- vermeintlichen und wirklichen - historischen Beispielsfälle fiir Inkorporation und "inkorporationsähnliche" Eingliederung seit Beginn des 18. Jhdts. Er identifiziert die fiir die Inkorporation als Sukzessionskategorie relevanten Präzedenzfälle und stellt damit das historische Praxismaterial zusammen, welches zur Ermittlung völkergewohnheitsrechtlicher Regeln über die Rechtsfolgen der Inkorporation herangezogen werden kann.

34 Ebenso Fiedler, GYIL 24 (1981), 30. Mit der fehlenden Souveränität der Kolonialstaaten begrilnden dann auch z.B. PoeggeVMeißner/Poeggel, 73 und Staatennachfolge (DDR), 33 die gewählte Terminologie. Vgl. den Konunentar zum ILC-Entwurf: "... more appropriate to cover in a neutral manner any specific case independently of the particular status of the territory in question (national territory, trusteeship, mandate, protectorate, dependent territory etc.)", YbiLC 1974 11.1, 175 f., § 4.

Erster Teil

Der Tatbestand der Inkorporation Die dogmatische Annäherung an den völkerrechtlichen Inkorporalionstatbestand muß zunächst die in den relevanten Fällen bestehende Grundkonstellation betrachten, bevor sie den auf diese Weise definierten Tatbestand von anderen durch das Völkerrecht geregelten Gebietsveränderungen abgrenzen kann.

A. Die Grundkonstellation Die vollständige Eingliederung eines souveränen Staates in einen anderen stellt, wenn sie wirksam vollzogen wird, einen Gebietswechsel, d.h. einen Übergang der territorialen Souveränität in bezug auf ein bestimmtes Gebiet auf einen anderen Staat, dar. Nach der oben gegebenen Definition handelt es sich also um einen Tatbestand der Staatensukzession.

I. Behandlung in Literatur und Staatenpraxis In dieser Eigenschaft hat der Staatsuntergang durch Absorption seit Beginn des sog. modernen Völkerrechts in wissenschaftlichem Schrifttum und internationaler Staatenpraxis stets eine Rolle gespielt. Bemerkenswert ist dabei aber nicht nur das in der zweiten Hälfte des 20. Jhdts. offensichtlich stark gesunkene Interesse an dem Tatbestand überhaupt, sondern auch der Variantenreichtum der zu seiner Umschreibung verwendeten Terminologie.

1. Als Sukzessionstatbestand Als Sukzessionsfall erfuhr die Inkorporation in der völkerrechtlichen Literatur des 19. und frühen 20. Jhdts. eine rege Beachtung, insbesondere weil zu einer Zeit, da Gewalt- und Annexionsverbot noch nicht zum gesicherten Normenbestand des geltenden Völkerrechts gehörten, ihre gewaltsame Vollziehung einen praktisch häufigen Fall von Gebietsveränderung und Staatsunter-

32

I. Teil: Der Tatbestand der Inkorporation

gang bildete. Das Aufgehen eines Staates in einem anderen fand in nahezu jeder Darstellung zum Recht der Staatennachfolge Berücksichtigung und wurde dem Stand der Rechtsentwicklung entsprechend unabhängig von der Art seiner Vollziehung nach einheitlichen materiellen Grundsätzen behandelt. So wurde in dieser Zeit vor der "epochalen Wendung" 1 des Völkerrechts hin zum allgemeinen Gewaltverbot begrifflich zwischen der gewaltsamen und der konsentierten Variante der Eingliederung in einen anderen Staat kaum unterschieden, die äußeren Begleitumstände und die Form des Gebietswechsels waren fiir seine völkerrechtliche Beurteilung unerheblich2 • Die Bezeichnung "Annexion" diente entweder als Oberbegriff' oder wurde jedenfalls anderen Begriffsbildungen wie "Einverleibung" oder eben "Inkorporation" gleichbedeutend an die Seite gestellt4. Andere bezeichneten die kriegerische Eroberung überhaupt als den Hauptfall der Staatensukzession5 . Es entsprach daher durchaus dem Geist der Zeit, wenn etwa U.S. Außenminister Sherman 1897 mit Blick auf die geplante Aufnahme von Hawaii in den Staatsverband der USA formulierte, daß "it is the fact, not the manner of absorption that detennines treaties. "6

Die sukzessionsrechtliche Gleichstellung von gewaltsamer und einverständlicher Eingliederung, die fiir die englische Rechtsprechung Vice-Chancellor Sir R. Malins bereits 1875 verkündet hatte7, unterstrich 1925 auch die American and British Claims Commission mit den Worten:

1 So die Formulierung von Randelzhofer, in: Simma, UN-Charta, Rdn. 10 vor Art. 2; Kimminich,

84.

2 So ausdrücklich Cavaglieri, 60. Zur Irrelevanz der Unterscheidung von freiwilliger und erzwungener Inkorporation für den Staatsuntergang siehe nur Kiatibian, 26; Huber, Staatensuccession, 279, Anm. 433. 3 Z.B. bei Kiatibian, 8 f.; Appleton, 5 f., 25; Strupp, Theorie, 20, 26; dems., GrundzQge, 82, 92 f.; Schätze/, Annexion, 165 ff.; Sack, 3, 70. 4 Z.B. von Bluntschli, 82, v. Martens I, 277-280; Gareis, 67; v. Ullmann, 129 f. ; Sch6nborn, 14, 19 f., 85 ff.; Calvo I, 216; Hershey, AJIL 5 (1911), 285; dems. , Essentials, 215; Fauchille 1.1, 373: "incorporation, annexion ... volontaire ou forcee"). Jellinek, Staatenverbindungen, 68, scheint "lncor-

poration" als Oberbegriff für Union, Fusion und Annexion gebraucht zu haben; in seiner Staatslehre,

284 f. verwendete er dann "Inkorporation" und "Einverleibung" gleichermaßen für die gewaltsame und die konsentierte Variante.

5 So z.B. Michel, 5. FOr die "Eroberung" als Sukzessionsfall auch z.B. Brie, 56, 57; Kämmerer, 86. 6 Note an denjapanischen Botschafter in Washington vom 25.6.1897, zitiert von Hyde, AJIL 26 (1932), 133 (134). Dementsprechend formulierte Hyde dann, daß ''the method of process whereby extinction is wrought is believed tobe immaterial" (ebd., 133). 7 Im Fall Dass v. Secretary ofState for India in Council, zitiert bei Feilchenfeld, 288 f., Fn. 100.

A. Die Grundkonstellation

33

"Nor do we see any valid reason for distinguishing termination of a legal unit of international law through conquest from termination by any other mode of merging in, or swallowing up by, some other legal unit" 8.

Unter Geltung der Charta der Vereinten Nationen trat die Inkorporation dann bei der Behandlung des Rechts der Staatensukzession deutlich in den Hintergrund und erfuhr in Wissenschaft und Praxis der Zeit bis 1990 eine regelrecht stiefmütterliche Behandlung. Die konsentierte Aufnahme in einen bestehenden Staat wurde entweder überhaupt nicht mehr als Sukzessionstatbestand behandelt oder aber mit der Fusion zu einem einzigen Tatbestand der Staatenvereinigung vermengt, und zwar sowohl in allgemeinen Darstellungen zum Völkerrecht9 als auch im Spezialschrifttum zur Staatennachfolge10 und gelegentlich sogar in der opinio iuris von Staaten 11 . Der Grund für diese nachlässige Behandlung dürfte nicht nur darin zu sehen sein, daß die Inkorporation in der Staatenpraxis nach dem 2. Weltkrieg eine deutlich weniger gewichtige Rolle spielte als vorher, sondern vor allem in der Anfang der sechziger Jahre einsetzenden Dominanz der Dekolonisierungsfälle. Das Recht der Staatennachfolge schien in diesem Zeitabschnitt fast ausschließlich der Bewältigung deljenigen Fragen gewidmet zu sein, die durch die Entlassung der Kolonien in Asien und Afrika in die staatliche Unabhängigkeit aufgeworfen wurden. Selbst in den völkerrechtlichen Untersuchungen, die die Inkorporation grundsätzlich als eigene Sukzessionskategorie erkannten, wurde sie dadurch in den Hintergrund gedrängt, daß die Erörterung in der Sache nahezu ausschließlich auf die Dekolonisationspraxis beschränkt blieb 12.

8 Schiedsspruch v. 10.11.1925 im Fall der Hawaiian Claims, zit. bei Smith 1, 362 f.; Feilchenfeld, 569; dazu auch Garner, AJIL 32 (1938), 430. 9 Z.B. von Verdross/Simma, § 982; Brownlie, Principles, 654; Epping, in: lpsen, Völkerrecht, § 25 Rdn. 4, der bei den Fallgruppen der Staatennachfolge lediglich die Annexion nennt; v. Glahn, 1o9 f.; Nguyen Quoc/Dail/ier/Pellet, § 353, 2; DDR-Lehrbuch Völkerrecht 1, 166 f 10 Z.B. beiJones, BYIL 24 (1947), 363 f.; Chen, Succession., 10; Kordt, BerDGVR 5 (1964), 1 f ; Herbig, 48-52; Geers, 4-13; Bokor-Szeg6, Identity, 17, 28; Poeggel/Meißner/Poeggel, 19 f ; Staatennachfolge (DDR), 36; früher schon Brie, 56. In der Klassiftzierung der deutschen Vereinigung 1990 auch noch E. Klein, NJW 1990, 1065 (1072); Schweisfurth, AVR 32 (1994), 119. Aus den Arbeiten der ILC z.B. im 5. Bericht des Sonderberichterstatters zur Staatennachfolge in Verträge, Waldock, YbiLC 1972 II, 1 (18-32), und im I. Bericht des Sonderberichterstatters zur Staatennachfolge in andere Materien als Verträge, Bedjaoui, YbiLC 1968 II, 94 (I 00 f), §§ 46 f. 11 So z.B. in einem Vermerk des Völkerrechtsbüros der schweizerischen Bundesregierung zu den Formen der Staatensukzession vom 28.10.1991, SZIER 1992, 579 f 12 So z.B. in den Arbeiten von Gonf alves Pereira und Gruber, in den Berichten von Kordt und Zemanek in BerDGVR 5 (1964).

3 Dön·

34

1. Teil: Der Tatbestand der Inkorporation

Diese Fixierung auf die Kolonialfälle zeigte sich insbesondere in der Abfassung der erwähnten Konventionen über die Staatennachfolge von 1978 und 1983, deren geringe Akzeptanz in der Staatengemeinschaft13 dann auch überwiegend ihrer einseitigen "kolonialen Ausrichtung" zugeschrieben wird14. Welchen Stellenwert die Autoren der Konventionen der Inkorporation zumaßen, zeigt sich darin, daß keines der beiden Vertragswerke diesen Tatbestand auch nur erwähnt, geschweige denn ihm eine ausdrückliche Bestimmung widmet. Ein Grund dafür scheint gewesen zu sein, daß man in der International Law Commission alle Fälle der Eingliederung eines Staates in einen anderen als völkerrechtlich ungültig ansah, da man ausschließlich die Annexion, also die gewaltsame Einverleibung, vor Augen hatte, an die einverständliche Variante aber überhaupt nicht dachte 15 . Auf diese Weise wurden die grundlegenden Unterschiede zwischen den beiden Konstellationen der Staatenvereinigung offensichtlich schlichtweg übersehen 16. Eine Regelung erfährt in den Konventionen allein der Vorgang der freiwilligen Vereinigung von Staaten ("Uniting of states"), ohne daß nach dem Fortbestand eines der beteiligten Staaten unterschieden wird. Dem scheint ein Konzept der ILC zugrunde zu liegen. das die Figur des "uniting of states" als ein von den anerkannten Vereinigungstatbeständen der Fusion und der Inkorporation zu unterscheidendes tertium ansah. So faßte die Kommission die Staatenpraxis aus Anlaß der Vereinigung von Ägypten und Syrien zur "Vereinigten Arabischen Republik" (1958) sowie von Tanganjika und Sansibar zum späteren Tansania (1964) - beide Fälle liegen den Regeln der Konventionen über die Staatenvereinigung im wesentlichen zugrunde - dahingehend zusammen, daß "in each case the process of uniting was regarded not as the creation of a wholly new sovereign State or as the incorporation of one State into the other but as the uniting of two existing sovereign States into one;" 17

13 Siehe oben Einleitung, Fn. 5. 14 Nachweise zur Kritik oben in der Einleitung, Fn. 6. 15 Vgl. den 6. Bericht des Sonderberichterstatters zur Staatennachfolge in andere Materien als Verträge, Bedjaoui, YbiLC I973 li, 3 (33), § 46, der dementsprechend in seinem 7. Bericht die betreffenden Bestimmungen aus dem Entwurf strich, vgl. YbiLC 1974 II.I , 91 (114); im Ansatz ähnlich der 1. Bericht des Sonderberichterstatters zur Staatennachfolge in Verträge, Val/at, YbiLC 1974 li.!, I (66), § 371. 16 Ebenso Oeter, ZaöRV 51 (1991), 349 (355). Differenzierter jetzt der 1. Bericht des Sonderberichterstatters der ILC zu den Auswirkungen der Staatensukzession auf die Staatsangehörigkeit natürlicher undjuristischer Personen,Mikulka, v. 17.4.I995 (UN-Doc. A/CN.4/467), § 93. 17 YbiLC 1974 Il.l, 258, Ziff. 24.

A Die Grundkonstellation

35

Fügt man auf diese Art und Weise den anerkannten völkerrechtlichen Formen der Staatenvereinigung eine - nicht näher bestimmte - weitere hinzu, was im übrigen weder dogmatisch erklärbar noch von der Staatenpraxis wirklich gefordert ist, so ist es kein Wunder, daß der Tatbestand der Inkorporation selbst eher in den Hintergrund gerät18 . Erst mit der Herstellung der deutschen Einheit im Jahre 1990 gelangte die Inkorporation als Tatbestand des Staatsuntergangs und der Staatensukzession wieder stärker in das Bewußtsein der Völkerrechtswissenschaft 19 . Dabei erschien der Tatbestand manchem derart ungewöhnlich, daß der deutschen Vereinigung der Charakter einer "Vereinigung" ("unification") im rechtstechnischen Sinne überhaupt abgesprochen20 oder der Vorgang mit dem Prädikat eines Sukzessionsfalles "sui generis" belegt wurde21 . Bezeichnend ist die Sichtweise von Herber, der sich den völkerrechtlichen Zusammenschluß zweier Staaten offenbar nur als Fusion vorstellen konnte und daher einen Beitritt nicht der DDR als solcher, sondern der auf ihrem Staatsgebiet gebildeten Länder annahm22; auch v. Hoffmann zögerte, die Herstellung der deutschen Einheit als Staatenvereinigung zu klassifizieren, da es ihm dazu an der Schaffung eines neuen Völkerrechtssubjekts fehlte23 . Diejenigen aber, die den Vorgang im System der Konventionen über die Staatennachfolge festmachen wollten, waren nun gezwungen, deren Bestimmungen über die Vereinigung von Staaten (Art. 31 der Konvention von 1978, Art. 29 derjenigen von 1983) unter Hinweis auf ihre Entstehungsgeschichte auch auf die Inkorporation zu bezie-

18 Trotzdem sollen nach Auffassung der ILC Fusion und Inkorporation von den Konventionsbestimmungen erfaßt sein, vgl. den Kommentar in YbiLC 1974 11.1, 253, Ziff I. 19 Aus der großen Zahl der Beiträge, die aus diesem Anlaß die Inkorporation als eigenständigen Sukzessionstatbestand "wiederentdeckt" haben, vgl. nur Randelzhofer, WDStRL 49 (1990), 110; Lagoni, 4; Fastenrath, AJPIL 44 (1992), 7, 10-12; v. Bogdandy, RDI 73 (1990), 57, 64 f Gleiches gilt nun auch filr die Arbeit der ILC, vgl. oben Fn. 16. 20 SoPiotrowicz, ICLQ 40 (1991), 635, 648, der der "unification" von Staaten die Aufuahme eines Staates in den anderen gegenüberstellt; gegen das Vorliegen einer eigentlichen "unificaciön" auch Diez de Velasco I, 279. 21 So etwa Müller, Fortgeltung, 43. Auch v. Hoffmann. IPrax 1991, 7 meinte, daß sich die deutsche Einigung nicht unter "die herkömmlichen Vorgänge der Staatensukzession" subsumieren lasse; ähnlich Rodi/Prokisch, StuW 1992, 51; Diez de Velasco I, 279: "un caso peculiar". Stern, Staatsvertrag, 40 wollte, nachdem er die Vorschriften der Staatennachfolgekonvention sämtlich abgelehnt hatte, filr die "besondere Situation der Wiedervereinigung" auf die allgemeine Figur der c/ausula rebus sie stanhbus zurückgreifen. 22 Vgl. Herber, RIW 1990, Beilage 20, 3 f; ders., TranspR 1991,4. 23 v. Hoffmann, IPrax 1991, 7 f 3*

36

1. Teil: Der Tatbestand der Inkorporation

hen24 oder sogar die Vorschriften über die Zession (insbesondere Art. 15 der Konvention von 1978) analog anzuwenden25 . Insgesamt aber wirkte sich die Vernachlässigung des Inkorporationstatbestandes durch die UN-Konventionen dahingehend aus, daß deren Regeln in der Praxis der deutschen Vereinigung, wie auch aus Anlaß des Zerfalls der Sowjetunion und Jugoslawiens nicht einmal als rechtlich unverbindliche Leitlinien eine wesentliche Rolle spielten26.

2. Terminologie So wechselhaft in der Vergangenheit das Maß an Beachtung war, das der Tatbestand der Inkorporation in Praxis und Wissenschaft fand, so schillernd sind auch die Bezeichnungen, die zu seiner Umschreibung verwendet wurden und heute immer noch werden. Im Deutschen sind die am häufigsten zu findenden Bezeichnungen "Einverleibung"27, "Inkorporation"28 und "Eingliederung"29 . Durch den jüngsten Präzedenzfall der deutschen Vereinigung scheint zur allgemeinen Kennzeich24 So z.B. Randelzhofer. VVDStRL 49 (1990), 110 Fn. 23; ders., MichJIL 13 (1991/92), 133; wohl auch Hailbronner, EJIL 2 (1991), 33; zurückhaltend insoweit Fastenrath, AJPIL 44 (1992), 20-22; dagegen wohl Heintschel v. Heinegg, RIW 1990, Beilage 12, II, 12 f. Für eine analoge Anwendung z.B. Diez de Velasco I, 279. 25 So z.B. Müller, Fortgeltung, 44; Mansel, in: Jayme/Furtak (Hrsg.), Der Weg zur deutschen Rechtseinheit., 57; Reinhart, IPrax 1990, 291; Grabitzlv. Bogdandy, NJW 1990, 1076. Diese Vorschrift muß auch Doehring, Anwendung, 12 im Auge gehabt haben, wenn er von der Vertragserstreckung gern. Art. II EV sagte, sie "entspricht der Konvention von 1978"; ebenso Hailbronner, EJIL 2 (1991), 32 f. Für die- verfehlte- Einordnung der deutschen Vereinigung als tatbestandliehe Zession sogar Horn, NJW 1990, 2173 f. ; Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rdn. 1159.

26 Vagts, Va.JIL 33 (1993), 295; Frowein, AJIL 88 (1992), 158 f. 27 So schon Bluntschli, 80, 82; Jellinek, Staatenverbindungen, 68; ders., Staatslehre, 284 f. ; Huber,

Staatensuccession, 35, 148 ff.; Michel, 13. 87 u.ö.; Schönborn, 14, 19, 85; Guggenheim, Beiträge, 27; ders. I, 403; Kämmerer, 85. In neuererZeitetwa Dahm I. 104 f.; Dahm!Delbrück/Wolfrum 1.1, 163 f.; Verdross, Völkerrecht, 251 f.; H. Jellinek, Erwerb, 111; Herbst, 21; Fiedler, Staatskontinuität., 21; Geiger, 26, 116.

28 Als Unterbegriff ("Inkorporation im engeren Sinn") schon bei Huber, Staatensuccession, 36, und Schönborn, 85; als Oberbegriff bei Jellinek, Staatenverbindungen, 68; später dann z.B. bei v. Ullmann, 9 1, 130; Kämmerer, 85; Strupp. Theorie, 19; H. J ellinek, Erwerb, 111; Verosta, ÖJZ 1954, 244; Böttcher, 88; Gornig, Staatennachfolge, 47. Für die Klassifizierung der deutschen Vereinigung 1990 z.B. bei Jsensee, VVDStRL 49 (1990), 47; Randelzhofer, VVDStRL 49 (1990), 110; Lagoni, 4; Fastenrath, AJPIL 44 (1992), 7, 10-12; Heldrich!Eidenmüller, JBI 1991, 274; Wahl, Staat 30 (1991), 184; Prugger, 20 u.ö.

29 Z.B. Dahm I, 98; Dahm!Delbrück/Wolfrum l.l, 154; Menzel, in: WdV 111, 306; Frowein, ZaöRV 30 (1970), 1 ff.;Isensee, VVDStRL 49 (1990). 46; Randelzhofer. VVDStRL 49 (1990), llO; v. Hojfmann, IPrax 1991, 5; Gusy, AVR 30 (1992), 399; Raap, 222 unten; Wittkowski, 22, 28 u.ö.; Blumenwitz, Staatennachfolge, 26 L Prugger, 20 u.ö. Aus der Staatenpraxis z.B. Art. 5 Abs. 4 des Londoner Schuldenabkommens v. 27.2.1953, 80811953 II, 334 (341); 8GHSt 39,260 (265).

A Die Grundkonstellation

37

nung des völkerrechtlichen Vorgangs, d.h. unabhängig vom Wortlaut des Art. 23 Satz 2 GG a.F., der "Beitritt" hinzugekommen zu sein30, der aber auch als "Integration" bzw. "Staatsintegration" klassifiziert wird31 . Gelegentlich spricht man auch von der "Absorption" eines Staates32 . Herz grenzte die friedliche "Angliederung" von der gewaltsamen Annexion ab33 , Brie faßte Inkorporation und Fusion unter der Bezeichnung "Union" zusammen34. Kimminich spricht in seinem Lehrbuch von der "freiwilligen Verschmelzung mit einem anderen Staat" 35, was allerdings im Hinblick auf die terminologische Abgrenzung vom Tatbestand der Fusion36 nicht sehr hilfreich ist. Gleiches gilt fiir die Terminologie von Berber, der die einverständliche Aufnahme eines Staates in einen anderen überhaupt als "Fusion" bezeichnet37. Manche gebrauchen fiir die hier behandelte Sukzessionskategorie die Bezeichnung "Anschluß" 38, die im allgemeinen Sprachgebrauch durch die Einvernahme Österreichs durch das Deutsche Reich 193839 besetzt und daher zur Beschreibung des allgemeinen völkerrechtlichen Phänomens wenig glücklich ist. Vereinzelt findet sich noch die begriftliche Gleichstellung mit der Annexion40, die jedoch angesichts der Sonderstellung, die dieser Tatbestand unter Geltung des allgemeinen Gewaltverbots heute auch in terminologischer Hinsicht einnimmt41, verfehlt erscheint. Wegen der sprachlich neutralen Fassung empfehlen sich "Einglie-

30 So als allgemeine Kategorie der Staatensukzession z.B. bei Thum, 23; Beemelmans, OER 1994, 339, 342; dems. , OER 1995, 77; Mansel, JR 1990, 442; Wahl, Staat 30 (1991), 184, 190, der den Begriff auch als "Eintritt" variiert; wohl auch Geiger, 116. Aus der deutschen Staatspraxis vgl. z.B. BVerfG, EuGRZ 1995, 203 (215) und den Bericht des Beauftragten der Bundesregierung fiir die Verhandlungen betreffend die Überleitung der völkerrechtlichen Verträge der DDR v. 31.8.1992 (Az. 50A-505.27/4 DDR), S. 3.

31 So Raap, 222 f.; fiir "Staatsintegration" auch schon Jsensee, VVDStRL 49 (1990), 47. 32 So etwa schon v. Martens !, 278; neuerdings auch Gornig, Staatennachfolge, 47; Prugger, 54. 33 Herz, ZöR 15 (1935), 241. 34 Brie, 56.

35 Kimminich, 166 (in Abgrenzung zum "Zusamrnenschluß mehrerer Staaten zu einem neuen

Staat"); von "Verschmelzung" bei gleichzeitigem Fortbestehen eines der "verschmolzenen Staaten" spricht auch Wengier !, 397, 611 und II. 981. 36 Zur tatbestandliehen Abgrenzung siehe unten C . (S. 132 ff.) 37 Berber!, 356. 38 Z.B. Zemanek, BerDGVR 5 (1964), 60 f.; Schweitzer, in: LdRIVR, 303; Stejfens, 34. Für die deutsche Vereinigung 1990 ebenso Walder, SchwJZ 1990, 366; ähnlich Hailbronner, JZ 1990, 449 (453), der diesen Vorgang einen "Gebietsanschluß" nannte. 39 Dazu unten 2. Teil, B. 40 (S. 327 ff.). 40 Z.B. bei

Verosta, ÖJZ 1954, 242; Dahm !, 589; Schweitzer, in: LdRIVR, 303; Fischer!Köck, 74; Drinhausen, 9 f. 41 Dazu unten B. mit Folgerungen unter B.IV (S. 127 ff.).

38

I. Teil: Der Tatbestand der Inkorporation

derung", "Angliederung" oder auch "Einverleibung" für die allgemeine Kennzeichnung des Vorgangs, daß ein Staat durch seine Aufnahme in einen anderen untergeht, während "Inkorporation" und "Annexion" als termini technici vorbehalten bleiben für die Bezeichnung des eigentlichen Sukzessionstatbestandes sowie seiner gewaltsamen Variante. die, wie sich zeigen wird, heute sukzessionsrechtlich der Vergangenheit angehört. In der anglophonen Literatur finden sich zur Beschreibung des Sukzessionstatbestandes am häufigsten "absorption"42 und "incorporation"43 . Daneben wird noch recht häufig "annexation" als Sammelbegriff für die einverständliche und die erzwungene Aufnahme eines Staates in einen anderen gebraucht44. Das Lehrbuch von Oppenheim!Lauterpacht hat die Formulierung "merger of one State into another" geprägt45, die Oeter als "integration of one state into another" variierte46 . Jones grenzte von der unfreiwilligen "annexation" die "fusion" als freiwillige Eingliederung ab47, Degan spricht von "association"48 . Im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung von 1990 findet sich auch im englisch-sprachigen Schrifttum neuerdings der Begriff "accession" in einem über den konkreten Einzelfall hinausweisenden sukzessionsrechtlichen Kontext49.

42 Z.B. bei Hall, !05; Oppenheim!Lauterpacht I, 158-163; Oppenheim!Jennings!Watts I, 210; Hershey, AJIL 5 (1911), 285; dems., Essentials, 216 f.; Hyde l, 415, ll, 1529; dems., AJIL 26 (1932), 133; Lawrence!Winfield, 89; Torres Bernardez, 385; Val/at als ILC-Berichterstatter, YbiLC 1974 11.1, 66, § 371; Mikulka als ILC-Berichterstatter (oben Fn. 16), §§ 93, 100; Restatement I, § 210 (2); Taking Reichs seriously, Harvard L.R. 104 (1990), 592 f.; Vagts, Va.JIL 33 (1993), 285. Der von Hyde, AJIL 26 (1932), 134 zitierte U.S. Außenminister Sherman sprach 1897 von "constrained or voluntary absorption". 43 Z.B. bei Crandall, 426,431, 433; Hershey, Essentials, 215, 217; Hyde ll, 1529; dems., AJIL 26 (1932), 133; Fastenrath, in: EPIL 10, 466; dems., EJIL 4 (1993), 318; ebenso in der zweiten "Bosnien"-Entscheidung des IGH, ICJ Reports 1993, 325 (345), § 42. 44 Z.B. von Feilchenfold, 613, 669-675; Garner, AJIL 32 (1938), 421; McNair, Treaties, 592; de Muralt, 17; Caflisch, NILR 10 (1963), 347; O'Connell I, 365; dems. , Law, 16-26; Mugerwa, Subjects, 291 ; Verzijl III, 361-366; Lehner, AJPIL 44 (1992), 65; dementsprechend scheint Brownlie, Principles, 82 zwischen "union" und "lawful annexation" zu unterscheiden. 45 Vgl. Oppenheim!Lauterpacht I, !55 f, auch variiert als "voluntary merger" (ebd., !57); jetzt auch bei Oppenheim/Jennings!Watts I, 206, 210 f; ebensoKelsen, Principles, 260; Verzijlll, 127, III, 363 sowie- in Abgrenzung von "annexation"- Agarwal, II, 71-74. 46 Oeter, ZaöRV 51 (1991), 357. 47 Jones, BY1L 24 (1947), 361 f, 364. 48 Degan, FinnYIL 4 (1993), 132.

49 Z.B. bei Oppenheim/Jennings/Watts I, 210; Piotrowicz, ICLQ 40 (1991), 640; dems., BYIL 63 (1992), 411; Oeter, ZaöRV 51 (1991), 370 oben, 382 oben.

A Die Grundkonstellation

39

Das französisch-sprachige Schrifttum verwendet etwa die Bezeichnungen "incorporation" 50, "absorption" 51 , "adhesion" 52 oder "annexion pacifique" oder "annexion volontaire" 53 . Gelegentlich wird für den freiwilligen Beitritt zu einem anderen Staat sogar der Begriff "fusion" gebraucht54. Im Italienischen findet sich überwiegend "incorporazione" 55 oder "assorbimento" 56. Das Spanische verwendet "incorporaci6n" 57, "reuni6n voluntaria" 58, aber auch "anexi6n"59 sowie für die deutsche Vereinigung von 1990 "integraci6n" 60 . Festzuhalten bleibt, daß die Inkorporation als Kategorie der Staatensukzession nach dem 2. Weltkrieg in der völkerrechtlichen Literatur weitgehend vernachlässigt wurde und ihre terminologische Umschreibung dementsprechend ein Bild der verwirrenden Vielfalt bietet. Nachdem nun die Herstellung der deutschen Einheit den Sukzessionstatbestand als solchen wieder stärker in das allgemeine Bewußtsein gerückt hat, geht es im folgenden darum, ihn auch dogmatisch im tatbestandliehen System der Staatensukzession zu verankern.

ll. Eigene Definition Inkorporation meint im hier behandelten Zusammenhang den Untergang eines souveränen Staates als geborenes Völkerrechtssubjekt durch seine vollständige Aufnahme in einen anderen Staatsverband, der schon vorher bestanden hat. Dessen souveräne Staatsgewalt tritt an die Stelle der über das betreffende Gebiet bis dahin herrschenden obersten Hoheitsgewalt 50 So z.B. der Dictionnaire de Ia Terminologie du Droit International, 324; Calvo I, 150; Rousseau 111, 191 unter I; Parlavantzas, RHDI16 (1963), 58, 62; Czaplinski, AFDI36 (1990), 98, ders. , RBDI26 (1993), 376.

51 So z.B. Raestad, RDILC, Je serie 20 (1939), 445; Rousseau 111, 338; Mochi Onory, 40; Cansacchi, RdC 130 (1970-11), 20 f.; Schricke, AFDI36 (1990), 57.

52 So z.B. mit Bezug auf die deutsche Vereinigung von 1990 Schricke, AFDI 36 (1990), 72; Kranz, AVR 30 (1992), 423; Czaplinski, RBDI26 (1993), 383.

53 So Gonf:alves Pereira, 17 unten; Kiatibian, 9. Für "annexion" als Oberbegriff auch z.B. Franf:ois, RdC 66 (1938-IV), 79; Cansacchi, RdC 130 (1970-11), 35, 37; Gruber, 31 ; Nguyen-HuuTru, 3, Fn. 1.

54 Z.B. von Nguyen Quoc/Daillier!Pellet, § 353, 2; in Abgrenzung von der "annexion" als gewaltsamer Einverleibung ebenso Paenson, 10 55 So z.B. Ronzitti, 17-25, 63-66; Moresca, 27; Riccioli, 3.5; v.Bogdandy, RDI 73 (1990), 57, 64 f. 56 So Cavaglieri, 59.

57 Z.B. Aguilar Navarra 1111, 294; H errero y Ru bio, 140, 235. 58 Z.B. H errero y Ru bio, 235. 59 Z.B. H errero yRubio,

140, 228; Diez de Velasco l, 269 unten; Sepulveda, 275.

60 So Diez de Velasco l, 267, 279.

40

1. Teil: Der Tatbestand der Inkorporation

1. Inkorporationsobjekt Objekt einer völkerrechtlichen Inkorporation ist der souveräne Staat, also ein Gemeinwesen, das als sog. geborenes Völkerrechtssubjekt eine umfassende völkerrechtliche Rechtsfähigkeit allein kraft seiner objektiven Existenz besitzt. Ob ein in diesem Sinne taugliches lnkorporationsobjekt vorliegt, ist für den Zeitpunkt vor der Eingliederung durch eine Prüfung der Staatsmerkmale sowie der völkerrechtlichen Kriterien der Souveränität festzustellen. Nicht selten wird insbesondere bei der Betrachtung historischer Sachverhalte die Anlegung der modernen Maßstäbe souveräner Staatlichkeil allerdings Probleme bereiten. In diesen Fällen empfiehlt es sich, statt dessen auf die Anerkennung des (möglichen) Inkorporationsobjekts als eigenständiges Rechtssubjekt im völkerrechtlichen Verkehr seiner Zeit abzustellen61 . Genügt der festgestellte völkerrechtliche Status des eingegliederten Gemeinwesens nicht den Anforderungen des Inkorporationstatbestandes, so kommt - um die relevante Staatenpraxis als Präzedenzmaterial für die sukzessionsrechtliche Behandlung der Inkorporation zu erhalten - unter bestimmten Voraussetzungen die Einordnung als "inkorporationähnliche" Eingliederung in Betracht62 . In jedem Fall aber erfordern Inkorporation wie auch "Inkorporationsähnlichkeit" die vollständige Absorption eines völkerrechtlich "relevanten" Gemeinwesens; betrifft eine Eingliederung nur Gebietsteile einer anderen politischen Ordnung, so scheidet sie aus dem Rahmen der vorliegenden Untersuchung aus.

2. Inkorporationssubjekt Grundvoraussetzung der Inkorporation ist die Aufnahme in ein auf staatsrechtlicher Grundlage bestehendes Gemeinwesen. Der Beitritt zu einem völkerrechtlichen Staatenzusammenschluß, auch wenn es sich um einen stark integrierten Verband mit "staatsähnlichen" Zügen handeln sollte, führt in keinem Fall zu einem Wechsel der territorialen Souveränität, so daß die Einordnung als Tatbestand der Staatensukzession, mithin auch als Inkorporation, von vornherein ausscheidet. Auch die gelegentlich zu findende Bezeichnung einer solchen Konstellation als "unechte" oder "uneigentliche" Staatensukzes-

61 Vgl. dazu die Vorbemerkung im 2. Teil unter A (S. 193 f.) 62 Dazu unten D.IV (S. 183 ff.).

A Die Grundkonstellation

41

sion63 kann über diese klare Trennung nicht hinwegtäuschen. Zumindest sprachlich verunglückt ist daher die Umschreibung der Inkorporation als Aufnahme in einen "Staatenverband" 64, da diese Vokabelaufgrund des verwendeten Plurals ein Gebilde mit einer völkerrechtlichen Geltungsgrundlage impliziert. 3. Inkorporationshandlung

Der als Inkorporation bezeichnete Sukzessionsvorgang verlangt schließlich die Aufnahme des Inkorporationsobjekts in den bestehenden Staatsverband des Inkorporationssubjekts. a) Erstreckung der territorialen Souveränität

Die Aufnahme in den Staatsverband impliziert völkerrechtlich die Erstrekkung der territorialen Souveränität auf das Gebiet des Inkorporationsobjekts. Die Begründung eines völkerrechtlichen Beherrschungsverhältnisse unterhalb des gebietliehen Vollrechts, etwa in Form eines Protektorats, oder einer hegemonialen Staatenverbindung, zum Beispiel als Personal- oder Realunion, unterscheidet sich signifikant von der fur die Inkorporation erforderlichen Herstellung eines staatsrechtlichen Bandes zum Inkorporationsobjekt und ist daher als lnkorporationshandlung nicht geeignet65 . Auf der anderen Seite berühren die Besonderheiten der internen Staatsorganisation des inkorporierenden Staates den völkerrechtlichen Tatbestand nicht, so daß etwa die staatsrechtliche Zuweisung einer besonderen Rechtsstellung oder einer eigenen Rechtspersönlichkeit an das inkorporierte Gebiet dem Vorliegen einer lnkorporationshandlung nicht entgegensteht66. Entscheidend wird daher stets sein, ob der inkorporierende Staat das Territorium des Inkorporalionsobjekts als

63 Z.B. bei Schönborn, 119 f ; Fiedler. Staatskontinuität, 21 ; vorsichtig fiir den Eintritt in die EWG so auch O'Connell I, 367. 64 So aber Heldrich!Eidenmüller, JBl 1991, 274. 65 Für die Ausgrenzung der Protektoratsverhältnisse vgl. auch unten D.IV., vor 1. (S. 184 f); zur

Ausscheidung der 1939 erzwungenen italienisch-albanischen Realunion vgl. 2. Teil, B. 42 (S. 336 ff.). 66 So war es z.B. völkerrechtlich irrelevant, daß ein belgisches Gesetz dem inkorporierten Gebiet des Belgisch-Kongo eine "persoiUialite distincte de celle de Ia metropole" zuwies, vgl. im 2. Teil unter B. 32 (S. 298); bezeichnend auch ein italienisches Dekretsgesetz v. 9.1.1 939, das die Kolonie Libia als "parte integrante del territorio del Regno d'Italia" ansah, ihr aber gleichzeitig eine "personalita giuridica" zuerkaiUite, vgl. Racc. Uff. 1939, 109. Zur Integration als Gliedstaat in einen Bundesstaat siehe sogleich unter c) (S. 45 f) und unten D.II (S. 180 ff.).

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1. Teil: Der Tatbestand der Inkorporation

integralen Bestandteil seines ihm völkerrechtlich zur ausschließlichen Beherrschung zugewiesenen Staatsgebiets ansieht oder nicht. Für die Art und Weise der Einbeziehung in den Souveränitätsbereich des inkorporierenden Staates sind drei Grundkonstellationen denkbar: Zunächst kann die Aufnahme des Inkorporalionsobjekts in den fremden Staatsverband durch einseitige Handlungen des lnkorporanten selbst geschehen. Dies war der Fall etwa bei den einverständlichen Eingliederungen von Texas (1845) und Hawaii (1898) in den Staatsverband der USA, die jeweils durch Joint Resolution of Congress erfolgten67. Historische Beispiele für diese Inkorporalionsvariante liefert im übrigen vor allem die Annexion gegen den Willen des Inkorporationsobjekts68. Unter Geltung des allgemeinen völkerrechtlichen Gewaltverbots kommen jedoch mittlerweile nur noch Inkorporalionshandlungen gewaltloser Art in Betracht69 Grundlage einer Inkorporation kann zweitens eine einseitige Rechtshandlung des Inkorporalionsobjekts sein, also eine Erklärung des Beitritts zum aufnehmenden Staatsverband. Auch wenn ein solcher Beitritt natürlich nur im Einvernehmen mit seinem Adressaten erfolgen kann und sich der Vollzug der Eingliederung daher oft nach einer konkretisierenden völkerrechtlichen Vereinbarung richten wird, bleibt völkerrechtliche Rechtsgrundlage der Inkorporation dennoch die einseitige Willenserklärung des beitretenden Staates. Nach den Voraussetzungen für ihre Rechtswirksamkeit und nach dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens, nicht nach dem eines etwaigen "Durchführungsvertrages", richtet sich die völkerrechtliche Wirksamkeit des Eingliederungsvorgangs. So lag es z.B. im Fall der deutschen Vereinigung 1990, deren Wirksamkeit in Art. 1 Abs. 1 des Einigungsvertrages ausdrücklich an diejenige der einseitigen Beitrittserklärung der DDR vom 23.8.199070 geknüpft war; das lokrafttreten des Einigungsvertrages selbst am 29.9.199071 war dafür unwesentlich72 . Hi67 Vgl. Moore I, 454 ff. , 509 ff.; Frowein, ZaöRV 30 (I970), 2. Für die Einzelheiten dieser beiden Fälle siehe unten 2. Teil, B. I4 (S. 243 ff) bzw. 29 (S. 28I ff).

68 Vgl. im 2. Teil z.B. unter B. I3,

I7, 20b), 25, 27, 3I, 39, 40, 45. 69 Vgl. im einzelnen unter 8., insbesondere B.IV (S. I27 ff). 70 BGBI I990 I, 2058. Zur Herstellung der deutschen Einheit siehe näher unten C 11.2b.aa (S. 148 ff) und im 2. Teil, B. 55 (S. 399 ff.). 71 Vgl. BGBI 1990 II, 885. 72 Ebenso Schricke, AFDI 36 (1990), 72; aus verfassungsrechtlicher Sicht z.B. Epping, JZ 1990, 807 f.; Tomuschat, VVDStRL 49 (1990), 79 f.; Scholz, in: Maunz/Dürig, Rdn. 11 zu Art. 23 a.F. (1991): "konstitutiv-einseitige Qualität der Beitrittsentscheidung"; Pestalozza, Jura 1994, 562, 563. Ungenau ist es daher, wenn gesagt wird, der Einigungsvertrag habe den Beitritt der DDR "bewirkt", so z.B. Rodi!Prokisch, StuW 1992, 48; ähnlich Geiger, 65 f., der meint, der Beitritt der DDR sei "durch"

A Oie Grundkonstellation

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storisch frühere Beispiele fiir den einseitig erklärten Beitritt zu einem bestehenden Staatsverband finden sich etwa anläßlich der Begründung des indischen Gesamtstaates 194773 . Schließlich kann einer Inkorporation auch ausschließlich ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen Inkorporant und Inkorporalionsobjekt zugrunde liegen. In diesem Fall knüpft sich die völkerrechtliche Wirksamkeit der Inkorporation, insbesondere der Untergang des inkorporierten Vertragspartners, an den tatsächlichen Vollzug des Vereinbarten, d.h. an die faktische Eingliederung des betroffenen Territoriums in die neue Staats- und Verfassungsordnung74. Den Beginn dieses Vollzuges dürfte in den meisten Fällen ein Gesetz entsprechend den verfassungsrechtlichen Regeln des Inkorporanten kennzeichnen. Beispiele fiir diese dritte Variante, die sich von der zweiten unter Umständen nur schwer abgrenzen läßt, bieten etwa die englisch-schottische Union von 1707, die Eingliederung Koreas in Japan 1910 oder diejenige Neufundlands in Kanada 194975 . b) Kontinuität des inkorporierenden Staates Staatlichkeil und Völkerrechtssubjektivität des aufnehmenden Staatsverbandes bleiben durch die Inkorporation unberührt, seine territoriale Souveränität erstreckt sich vielmehr zusätzlich auf das inkorporierte Gebiet. Die völkerrechtliche Kontinuität des inkorporierenden Staates ist ein wesentliches Merkmal des Inkorporationstatbestandes und grenzt diesen von dem anderen Tatbestand der Staatenvereinigung, der Fusion, ab76 . Da die Rechtspersönlichkeit eines der beteiligten Staaten auch nach der Inkorporation fortbesteht, dieser mithin mit einem der vor der Vereinigung bestehenden Altstaaten völden Einigungsvertrag etfolgt bzw. dieser habe "zu dem völkerrechtlich wirksamen Beitritt der DDR gefiihrt"; von einer "vertraglichen Eingliederung" sprach auch BGHSt 39, 260 (265). Regelrecht falsch BGH, DtZ 1995, 88 (89) und 201 (203), wo es jeweils heißt, die DDR sei "mit dem Jnkrafttreten des Einigungsvertrags untergegangen". 73 Dazu unten 2. Teil, B. 46 (S. 355 ff). 74 So schon Schönborn, 19 f., 86; Jellinek, Staatslehre, 284 f.; ebenso Frowein, ZaöRV 30 (1970), 2. Demgegenüber wollte Guggenheim, Beiträge, 55 f., den "völkerrechtlichen Zuständigkeitswechsel" bereits an das Jnkrafttreten einer entsprechenden Vereinbarung zwischen den betroffenen Staaten knüpfen. Richtigerweise wird man in der Rechtswirksamkeit eines Inkorporalionsvertrages den völkerrechtlichen Rechtsgrund fiir den Staatsuntergang zu sehen haben, nicht jedoch schon dessen HerbeifiihTung. Dementsprechend meinte auch Guggenheim an anderer Stelle (S. 27), daß "Einverleibungsvereinbarungen" die "Tathandlung der Einverleibung" zur Folge hätte: wie hier dann auch Guggenheim I, 405. 75 Vgl. unten 2. Teil, B. I (S. 195 ff), 33 (S. 299 ff) bzw. 47 (S. 359 ff). 76 Dazu ausfiihTiich unten C. (S. 132 ff).

l. Teil: Der Tatbestand der Inkorporation

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kerrechtlich identisch bleibt, ist die pauschale Aussage, Identität und Sukzession würden sich gegenseitig ausschließen77, in dieser Allgemeinheit unzutreffend. Vielmehr sind beide, wie eben im Fall der Inkorporation, zeitlich nebeneinander denkbar78 , so daß die Identität von Staaten richtiger als Gegenbegriff zum Staatsuntergang denn zur Staatensukzession gesehen wird79 . Lediglich bezogen auf die konkrete Völkerrechtspersönlichkeit eines bestimmten Staates schließen sich Fortbestehen und Sukzession notwendig aus80. c) Untergang des inkorporierten Staates als souveränes Völkerrechtssubjekt Demgegenüber ist es Tatbestandsmerkmal der Inkorporation und zugleich ihre unmittelbare Rechtsfolge, daß die aus der souveränen Staatlichkeit fließende, umfassende Völkerrechtssubjektivität des inkorporierten Staates erlischt, dieser mithin als originäres ("geborenes") Völkerrechtssubjekt untergeht. In der Regel wird die Unterstellung des inkorporierten Territoriums unter eine neue oberste Staatsgewalt die Auflösung der auf diesem Gebiet bislang als einheitliche Allzuständigkeit bestehenden Staatsgewalt zur Folge haben. Das eingegliederte Gebiet und das dort lebende Volk verlieren ihre Fähigkeit zu Selbstherrschaft und Selbstorganisation81 , so daß die alte Staatsgewalt vollständig entfällt. Mit der Staatsgewalt aber geht ein unverzichtbares Tatbestandsmerkmal des herrschenden, an der Drei-Elemente-Lehre Georg Jel/inekSl2 orientierten Staatsbegriffes verloren, der inkorporierte Staat erlischt als 77 Wie z.B. von Geers, 12; Marek, 10; Epping, in: lpsen, Völkerrecht, § 25 Rdn. 5; Bothe/Schmidt, RGDIP 96 (1992), 814. 78 Ebenso Fiedler, Staatskontinuität, 23 f. 79 So schon Kunz, AJIL 49 (1955), 72, 74; daran anschließend z.B. Hausmann, 155 f. 8 Fiedler, Staatskontinuität, 24. Allerdings ist diese Aussage auf die umfassende Völkerrechtspersönlichkeit des souveränen Staates zu beschränken. Denn zwar stellen auch die Herabstufung eines souveränen Staates zum partiellen Völkerrechtssubjekt (z.B. die Eingliederung als Gliedstaat in einen Bundesstaat, vgl. unten D Il.) oder im Gegenteil die Erlangung der Souveränität durch ein vorher nur partielles Völkerrechtssubjekt (z.B. in den Fällen Indien 1947, Belarus und Ukraine 1991) Fälle der Staatensukzession dar. Dennoch aber nimmt die Staatenpraxis auch in diesen Fällen in der Regel eine Identität der Völkerrechtspersönlichkeit an: zu Indien vgl. Yb!LC 1962 Il, 101 fundunten C 11.3a (S. 167 f.), zu Belarus und Ukraine vgl. Antonowicz, PoiYIL 19 (1991), 12; Reschke, 261 f.; Weyer, ROW 1992, 175. Zu diesem Problem Zemanek, BerDGVR 5 (1964), 88;Mugerwa, Subjects, 296. 81 Zu diesen Merkmalen der Staatsgewalt vgl. Jellinek, Staatslehre, 489-496; Randelzhofer, Aspekte, 125; der Sache nach auch OVG Münster, NVwZ 1989, 790 (791); BVerwG, NVwZ 1994, 387 (388) ("Palästina"). 82 Jellinek, Staatslehre, 394-434.

°

A Die Grundkonstellation

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Staat und damit als unmittelbares Subjekt des Völkerrechts. Sein gesamtes Staatsgebiet unterfällt der sich erstreckenden Staatsgewalt des inkorporierenden Staates und geht auf diesen über83 . Gleichzeitig verliert das Staatsvolk des inkorporierten Staates seine Eigenschaft als eigenständiges Staatsvolk, wodurch es auch - vorausgesetzt, die Eingliederung ist Ausdruck seiner Selbstbestimmung - als autonomer Träger des (äußeren) Selbstbestimmungsrechts wegfällt84. Selbst wenn aber auf dem inkorporierten Gebiet auch im Rahmen des vergrößerten Staatsverbandes eine einheitliche Staatsgewalt fortbestehen sollte, organisiert etwa als Gliedstaat eines föderativen Verbandes, so ändert dies nichts am Untergang des alten Staates als geborenes Völkerrechtssubjekt. Denn für diesen Status, auf den der völkerrechtliche Inkorporalionstatbestand abstellt, kommt es entscheidend auf die Souveränität der staatlichen Strukturen an: Nur der souveräne Staat ist geborenes Völkerrechtssubjekt85 und als solches taugliches Objekt einer Inkorporation. Das - hier allein maßgebliche äußere Element der Souveränität wird als Völkerrechtsunmittelbarkeit umschrieben, so daß Staaten nur dann souverän sind, wenn sie keiner anderen Staatsgewalt, sondern allein und unmittelbar dem Völkerrecht unterworfen sind86. Dieses Kriterium fand seinen Ausdruck zum Beispiel in den bekannten Worten des italienischen Völkerrechtlers Anzilotti, der als Richter am StiGH 1931 in einem Sondervotum formulierte: "... sovereignty (suprema potestas), or extemal sovereignty, by which is meant that the State has over it no other authority than that of intemationallaw. "87

Dieses Element der Völkerrechtsunmittelbarkeit unterscheidet die souveränen von den abhängigen Staaten. wie eben zum Beispiel den Gliedern eines

83 So fiir den Beitritt der DDR BGH NJW 1991, 929 (931), wenngleich mit der mißverständlichen Formulierung, daß die DDR als "Folge" des Übergangs ihres Staatsgebietes auf die Bundesrepublik untergegangen sei. Richtigerweise wird man den Gebietsübergang seinerseits als Konsequenz des Erlöschens der alten einheitlichen Staatsgewalt anzusehen haben; ebenso wohl Epping, JZ 1990, 808. 84 Gusy, A VR 30 (1992), 401. Demgegenüber meintE. Klein, Selbstbestinunungsrecht, 41, Fn. 144, daß die Gemeinschaft der bisherigen Mitglieder des Staatsvolkes als "Nation" Träger des Selbstbestinunungsrechts bleibe. 85 Statt aller Randelzhofer, in: HbStR I, § 15 Rdn. 25.

86 Verdross, Völkerrecht, 193 f; Verdross!Simma, § 34; Dahm l, I 54. Für die Deutung von "Souveränität" im Sinne von Völkerrechtsunmittelbarkeit auch z.B. Kunz, Staatenverbindungen, 38-41; Kelsen, in: WdV III, 281; Guggenheim l, 163 f ; ergänzt um den Begriff"Unabhängigkeit" bei Randelzhofer, Aspekte, 156 f; dems., in: HbStR I, § 15 Rdn. 25. Geiger, 23 schlägt statt dessen denwenig scharfen - Begriff "rechtliche Unabhängigkeit" vor. 87 Customs Regime

between Germany and Austria, PCIJ, Series NB, No. 41, 37 (57).

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I. Teil: Der Tatbestand der Inkorporation

Bundesstaates. Abhängige Staaten sind gerade keine geborenen, sondern allenfalls partielle Völkerrechtssubjekte, deren völkerrechtliche Rechtspersönlichkeit sich nicht allein aus ihrer Existenz ergibt, sondern im Bestehen wie in ihrem Umfang von einer Verleihung durch die ihnen übergeordnete Staatsgewalt abhängig ist. Deshalb verliert ein Staat, der einem anderen eingegliedert und damit dessen Staatsgewalt untergeordnet wird, mit der Völkerrechtsunmittelbarkeit seinen Status als geborenes Völkerrechtssubjekt, selbst wenn die alte Staatsgewalt als Gliedstaatsgewalt erhalten bleibt. Auch diese Art der Aufnahme in einen anderen Staatsverband bildet daher einen Fall der Inkorporation im oben definierten Sinne.

m. Der Einfluß des völkerrechtlichen Effektivitätsprinzips Auch wenn die Konturen des Inkorporalionstatbestandes selbst damit vorläufig umrissen sind, so ist wegen des Grundsatzes der "größtmöglichen Kontinuität des Staates" 88, einer Ausformung des völkerrechtlichen Effektivitätsprinzips, doch bei der Feststellung der Voraussetzungen eines Staatsuntergangs Zurückhaltung geboten89. Die Völkerrechtsordnung stellt ihren wichtigsten Subjekten, den souveränen Staaten, mit dem Effektivitätsgrundsatz ein Instrument zur Verfügung, welches durch seinen grundsätzlichen Widerstand gegen existenzbedrohende Veränderungen den Fortbestand der Staaten schützt9°. Manche proklamieren sogar eine regelrechte Vermutung zugunsten der Kontinuität eines etablierten Staates91 . Ein Untergang durch Inkorporation kommt daher erst dann in Betracht, wenn die bis dahin bestehende souveräne Staatsstruktur ohne konkrete Aussicht auf Restauration in eine andere integriert worden ist. Hat sich dieser Integrationszustand aber mit dem vorbehaltslosen Verschwinden der alten Staatsorganisation92 endgültig verfestigt, so muß die Aufnahme in den Staatsverband des Inkorporanten als effektiv und der eingegliederte Altstaat als erloschen gelten. Hierbei wird es stets auf eine ver-

88 So die Formulierung von Dahm l, 85; Krülle, 77. 89 Ebenso z.B. Verdross/Simma!Geiger, 12; Marek, 548 sowie die sog. Badinter-Kornrnission der EG-Jugoslawienkonferenz in ihrer Opinion No. 8 v. 4.7.1992, ILM 31 (1992), 1521 (1522).

90 Ruiz Fabri, AFDI 38 (1992), !54 f 91 Z.B. Crawford, 417; Antonowicz, PoiYIL 19 (1991 /92), 8; Ruiz Fabri, AFDI 38 (1992), 162; Czaplinski, RBDI 26 (1993), 375; ebenso schon Kämmerer, 82. 92 So der Maßstab fiir den Staatsuntergang bei Scheuner, Funktionsnachfolge, 20 f

A Die Grundkonstellation

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ständige Betrachtung ex ante ankommen93, so daß die letztendliche Dauer des Eingliederungszustandes unerheblich ist. In einigen Fällen der Einverleibung von Staaten hat man demgegenüber den Versuch unternommen, im nachhinein eine lückenlose Kontinuität des inkorporierten Staates zu behaupten, nachdem dieser aufgrund einer grundlegenden Änderung der politischen Situation seine Unabhängigkeit wiedererlangt hatte. Konstruktionen dieser Art wurden vor allem für die Annexionsfalle Äthiopien, Österreich, und Tschechoslowakei bemüht94, wobei eine treibende Kraft der Wunsch gewesen sein dürfte, die als moralisch verwerflich empfundene Eroberungspolitik Deutschlands und Italiens nach ihrer Überwindung auch mit den Mitteln des Völkerrechts ungeschehen zu machen. Zu diesem Zweck wurde zum Teil das typlogische Vorliegen einer Einverleihung einfach geleugnet und das historische Geschehen etwa in eine reine occupatio bellica "umgedeutet", die die Existenz des betroffenen Staates nicht berührt habe95 . Derlei Konstruktionsversuche basieren auf der Fiktion des Fortbestandes eines Staates und sind daher mit den Grundsätzen der Effektivität im Völkerrecht nur schwer zu vereinbaren96 . Wie bereits Dahm und Scheuner betont haben97, ändern derartige politisch motivierte Fiktionen nichts an den für den Fortbestand eines Staates als soziologische Realität maßgeblichen Fakten, die etwa im Falle Österreichs für einen 1938 erfolgten Staatsuntergang durch Eingliederung in das Deutsche Reich sprechen98 . Eine gewohnheitsrechtliche Regel, die zur Anerkennung der von dem betroffenen Staat bean-

93 Ebenso Dahm I, 91; Dahm/D elbrück!Wolfrum 1.1, 144: Hausmann, 205 mwN. 94 Vgl. den Überblick bei Cansacchi, RdC 130 (1970-11), 52-56; fiir die Sicht der Österreichischen Rechtslehre z.B. Verosta, ÖJZ 1954, 241. 95 So fiir die Annexion Äthiopiens z.B. Marek, 268; fur den "Anschluß" Österreichs z.B. Verdross, Identität, 20 f ; Verosta, ÖJZ 1954, 244 f; Schweltzer. AVR 23 (1985), 137-140; Hummer, in: ÖHdV I, Rdn. 2561-2566; fiir eine "occupatio quasi-bellica" in diesem Fall z.B. Verdross, Völkerrecht, 251; Verdross/Simma, § 391 a.E.; zurückhaltend insoweit Fischer/Köck. 74 96 So auch Scheuner, Funktionsnachfolge, 20 f ; Kunz, ATlL 49 (1955), 75; Marek, 6. Auch Frawein, ZaöRV 30 (1970), 13, hält die Fiktion des Fortbestandes eines eingegliederten Staates fiir "im Völkerrecht schwer möglich". 97 Dahm I, 91 f und daran anknüpfend Dahm/Delbrück!Wolfrum 1.1. 144; Scheuner, Funktionsnachfolge, 20. Ebenso z.B. Riccioli, 31. 98 Ebenso z.B. Chen, Recognition, 67-70; Kelsen, Principles, 262; Paenson, 140; Cansacchi, RdC 130 (1970-11), 48, 62. In diesem Sinne wurde die Wiedererrichtung Österreichs 1945 auch ausdrücklich als ein Fall der Staatensukzession bezeichnet, vgl. z.B. BGHZ 3, 178 (185); OLG Celle, NJW 1947/48, 593. Zu diesem Fall näher unten 2. Teil, B. 40 (S. 327 ff).

I. Teil: Der Tatbestand der Inkorporation

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spruchten Fiktion einer lückenlosen Staatskontinuität zwänge, hat sich nicht durchgesetzt99 . Daneben wurden für die genannten Fälle auch ein Ansatz entwickelt, der, ohne das kontinuierliche Bestehen der Staaten zu behaupten, ebenfalls im Wege der Fiktion wenigstens von der Identität des jetzigen mit dem - als untergegangen akzeptierten- ehemaligen Staatswesen ausgeht 100 . Diese Variante der "wiedererstandenen" Staaten kann sich durchaus auf eine gewisse "Tradition" in der politischen Praxis stützen, Geschichte durch Fiktionen ungeschehen machen zu wollen 10 1 So nahmen zum Beispiel viele der deutschen Einzelstaaten, die in der Zeit des napoleonischen Rheinbunds ab 1806 untergegangen und nach dessen Überwindung wiederhergestellt worden waren, für sich eine rechtliche Identität in Anspruch, da die überwundenen Herrschaftsverhältnisse auf rechtlose Usurpation gegründet gewesen seien 102. Weiter reklamierten die Gerichte Polens nach 1918 für den neu entstandenen polnischen Staat eine rechtliche Identität mit dem Staatswesen, das bis 1795 bestanden hatte 103 . Eine ähnliche Zeitspanne wollten mit Hilfe der Fiktion diejenigen überbrücken. die für den 180 1 von Rußland annektierten Staat Georgien, als er nach der russischen Revolution 1918 kurzzeitig wieder erstanden war, den Versuch einer Begründung völkerrechtlicher Kontinuität untemahmen 104 Schließlich sprach auch die vorläufige Regierung des nach knapp 130 Jahren wieder unabhängig gewordenen algefischen Staates 1958 von einer "n!surrection h!gale d'un etat preexistant", der wegen seiner rechtlichen Identität mit dem von Frankreich annektierten Staat keiner Anerkennung als Neustaat bedürfeios. Auch wenn es in der Vergangenheit somit einige Ansätze zur Begründung einer fiktiven Staatsidentität gegeben hat, so ist doch das zu diesem Zweck entwickelte Rechtsinstitut der rückwirkenden "Wiederherstellung" ("re-

99 Cansacchi, RdC 130 (1970-II), 51

f 100 Zur Unterscheidung beider Konstruktionen vgl. Cansacchi, RdC 130 (1 970-ll), 52, 59 f 101 So die Formulierung von Huber. Verfassungsgeschichte I, 497. 102 Huber ebd.

103 Nachweise bei Crawford, 408 sowie in YblLC 1970 II, 149, § 26 und Fn. 99; dazu auch Kämmerer, 119 f 104 Vgl. Nippold, 56,62 f 105 Vgl. Bed.faoui, 16, der selbst von einer "restauration de I'Etat Algerien" sprach, vgl. 18 u.ö.; dagegen z.B. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rdn. 1394.

A. Die Grundkonstellation

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stablishment") eines Staates 106 angesichts der primär an Faktizität und Effektivität orientierten völkerrechtlichen Lehre vom Staatsuntergang dogmatisch nicht unzweifelhaft 107. Das innovative Bemühen wird etwa deutlich, wenn zur Erklärung Rechtsfiguren wie "scheintote" Staaten 108 oder die "qualifizierte Kontinuität" von Staaten 109 erdacht werden. Die Bedenken verstärken sich, wenn die wirksame Restauration eines untergegangenen Staates an die Anerkennung durch andere Staaten geknüpft wird 110, da die These von der für die staatliche Existenz konstitutiven Wirkung der Anerkennung heute als überwunden gelten kann111 . Allerdings fand die Konstruktion einer rückwirkenden Wiedererrichtung zumindest fiir den Fall Österreich in Schrifttum und Staatenpraxis überwiegend Anerkennung 112 und erlebte in jüngerer Zeit durch die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der baltischen Staaten 1991 eine wahre "Renaissance" 113 . Zwar mag ein politisch-soziologisches Wiederaufleben eines durch Inkorporation untergegangenen Staates möglich und die Anknüpfung an die verlorene Rechtsstellung in Fällen der gewaltsamen Einverleibung politisch-moralisch wünschenswert sein 114, eine juristische "Wiederauferstehung" als identisches 106 Vgl. dazu z.B. Scheuner, Funktionsnachfolge. 23; Crawford, 414f. spricht von "reversion to sovereignty". 107 Dagegen schon Kämmerer, 83. Kritisch auch z.B. Marek. 6; Brownlie, Principles, 675; Fiedler, Kontinuitätsproblem, 15; Riccioli, 31. Die Unvereinbarkeit der "Wiedererrichtungsthese" mit dem überkommenen völkerrechtlichen Verständnis der Identität von Staaten sieht auch Fiedler, Staatskontinuität, 75-84; er folgert daraus jedoch nicht, daß die These unhaltbar ist. sondern daß der völkerrechtliche Kontinuitätsbegriff der speziellen Staatenpraxis im Falle Österreichs anzupassen sei. 108 Vgl. etwa Verdross. Völkerrecht, 193; Seidl-Hohenveldern, Kontinuitäten, 66; dens., in: ÖHdV I, Rdn. 781; vorsichtiger ders., Völkerrecht, Rdn. 1394. 109 Brownlie, Principles, 84. Älmlich konstatiert Waitz v. Eschen, Osteuropa 42 (1992), 320 eine "recht flexible Handhabung der Kontinuitätsfrage" durch die Staatenpraxis. 110 So ausdrücklich Scheuner, Funktionsnachfolge, 23.

111 Statt aller Kimminich, 130 f.; Verdross/Simma., § 961; Gloria, in: Ipsen, Völkerrecht, § 22 Rdn. 31; pointiert gegen die konstitutive TheorieMarek. 130-153. Vgl. im übrigen auch unten S. 109 f. 112 Vgl. z.B. Art. I des Österreichischen Staatsvertrages vom 15.5.1955 und unten 2. Teil, B. 40 (S. 327 ff.). Die "Theorie der wiederhergestellten Staatsgewalt" als juristische Fiktion vertrat fiir den Fall der Tschechoslowakei ausdrücklich auch das BayObLG in seiner "Waldsassen"-Entscheidung vom 23.3.1965, BayObLGZ 1965, 108 (114). 113 Vgl. z.B. Bothe/Schmidt, RGDIP 96 (1992), 822; Kherad, RGDIP 96 (1992), 857; Tichy, AJPIL 44 (1992), 127 f.; Mullerson, ICLQ 42 (1993), 482 f.; dens., Va.nL 33 (1993), 309-311; sogar fiir eine bruchlose Kontinuität in diesen Fällen z.B. Waitz v. Eschen, Osteuropa 42 (1992), 321. Zu diesem Fall näher unten 2. Teil, B. 45 (S. 345 ff.). 114 Treffend insoweit schon Jellinek, Staatslehre, 286, der das "Wiederaufleben" eines untergegangenen Staates allein in einer "sozialen" Betrachtung, ausdrücklich nicht in einer formal-juristischen filr möglich hielt und die Kontinuität der Rechtsverhältnisse eines "wiedererstandenen" Staates "nur gemäß einer über dem Rechte stehenden Billigkeit" zugestehen wollte; älmlich Cansacchi, RdC 130 (19704 Dörr

l. Teil: Der Tatbestand der Inkorporation

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Rechtssubjekt ist jedoch mit den Strukturen der Völkerrechtsordnung nur schwer vereinbar. Diesen Konflikt von politisch motivierten Identitätsansprüchen mit den vorgegebenen rechtlichen Strukturen beschreibt auch Crawford, wenn er sagt: "... whatever the validity or usefulness ofreversion as a political claim, there is little authority, and even less utility, for its existence as a legal claim" (Hervorhebung d. Verf) 115

Zu begrüßen ist es daher, daß eine Bestimmung über "reversion", die noch im ersten Entwurffür die Konvention über Staatennachfolge in andere Materien als Verträge enthalten war, in den Beratungen der ILC gestrichen wurde 116. Denn, wie es Krystyna Marek in ihrem Standardwerk zur Staatsidentität treffend ausgedrückt hat: "There is no legal resurrection in intemationallaw.... Thus the final extinction of a state disposes of any further enquiry into the problern of its identity and continuity" 117

II), 57: "consideration d'ordre politique et de courtoisie internationale"; Koskenniemi!Lehto, AFDI 38 (1992), 198: "pour des raisons de symbolisme politique". 115 Crawford, 415. 11 6 Dazu Crawford, 415, Fn. 83. 117 Marek, 6 .

B. Freiwillige Aufnahme in den Staatsverband als Tatbestandsvoraussetzung Die Abgrenzung von der Annexion Die unter A. versuchte Definition der Inkorporation bedarf der Ergänzung durch eine Abgrenzung des Tatbestandes von verwandten Konstellationen. Hier soll zunächst das Verhältnis des Inkorporalionstatbestandes zur gewaltsamen Einverleibung eines anderen Staates interessieren. Gefragt wird mit anderen Worten, ob es schon fiir die begriffiiche Einordnung als Tatbestand der Staatensukzession darauf ankommt, daß der Untergang des Altstaates und seine Aufnahme in den fremden Staatsverband nicht unter Anwendung oder Androhung von Gewalt, sondern in Übereinstimmung mit seinem völkerrechtlich wirksam erklärten Willen erfolgt. Diese Fragestellung zielt mithin auf die Einordnung des im modernen Völkerrecht anerkannten Annexionsverbots in den Kontext des Rechts der Staatensukzession. Wie gesehen, behandelte die Staatenpraxis des 19. und frühen 20. Jhdts., ebenso wie die ältere völkerrechtliche Literatur, die Einverleibung eines Staates in einen anderen, im wesentlichen ohne Differenzierung nach der Art ihrer Vollziehung. Die einvernehmliche und die gewaltsame Variante standen, dem Stand der Völkerrechtsentwicklung entsprechend, gleichberechtigt nebeneinander, die Begriffe "Einverleibung", "Inkorporation" und "Annexion" waren gleichbedeutende und austauschbare Bezeichnungen desselben völkerrechtlichen Vorgangs 118 . Erst mit der zunehmenden völkerrechtlichen Beschränkung der freien Gewaltanwendung zwischen den Staaten und der daraus resultierenden Ächtung auf Gewaltanwendung beruhender Gebietsveränderungen erhielt die Annexion allmählich auch terminologisch eine besondere Stellung. Sie entwickelte sich zu einem mit dem Makel der unerlaubten Gewaltanwendung behafteten besonderen Tatbestand der Gebietsausdehnung. An diesen Rechtsmakel knüpfen sich heute Zweifel an der völkerrechtliche Wirksamkeit der Annexion, mithin an ihrer Tauglichkeit, die gewünschten territorialen Veränderungen rechtsverbindlich herbeizufiihren. Sollten sich diese Zweifel 118 Nachweise oben in Fn. 3 und 4. Die begriffliche Gleichstellung von "Einverleibung" und "Annexion" fmdet sich auch bei Dahm I, 589 und sogar noch bei Schweitzer, in: LdRIVR. 303. 4*

52

I. Teil: Der Tatbestand der Inkorporation

erhärten, so wäre der einverständlichen - und damit ohne Zweifel wirksamen Inkorporation terminologisch die unwirksame Annexion gegenüberzustellen und der völkerrechtliche Tatbestand der Inkorporation entsprechend einzugrenzen. Da nun bei den historischen Beispielen im 2. Teil auch Fälle aus einem Zeitabschnitt einzuordnen sein werden, in dem das Völkerrecht in bezug auf Eroberungsrecht und Gewaltverbot einen fundamentalen Wandel erlebte, muß die tatbestandliehe Abgrenzung auch das zeitliche Moment einbeziehen: Der Eintritt des allgemeinen Annexionsverbots in das positive Völkerrecht markiert den historischen Beginn der Unterscheidung zwischen Inkorporation und Annexion. Die genaue zeitliche Verankerung des Annexionsverbots in der Völkerrechtsentwicklung trägt daher maßgeblich zur Eingrenzung des Inkorporalionstatbestandes bei. Nach einer kurzen Skizzierung des Annexionsbegriffes (I.) wird es daher im folgenden um den historischen Beginn ihrer - heute nicht mehr bestrittenen völkerrechtlichen Unzulässigkeil (II.) und um die Folgen dieser Unzulässigkeil (III.) gehen. Schließlich sind aus dem Ergebnis Folgerungen für die Behandlung der Inkorporation als Sukzessionstatbestand zu ziehen (IV.).

I. Begriff der Annexion Der Annexionstatbestand wird definiert als der gewaltsame Gebietserwerb zu Lasten eines anderen Staates mit dem Willen, das betreffende Gebiet endgültig in das eigene Staatsgebiet einzugliedem 119• Als historische Grundlage verweist man auf die römische Rechtsregel Corpore et animo acquiritur possessio120. Unverzichtbare Tatbestandsmerkmale sind demnach die Anwendung oder Androhung von Gewalt 121 , daraus resultierende Gebietsveränderungen (corpus) sowie der Einverleihungswille (animus) des annektierenden Staates. Die gewaltsame Einverleibung eines ganzen Staates wird in der Regel auch als "Vollannexion" bezeichnet122 119 Z.B. Bindschedler, in: WdV I, 68; Dahm!Delbrück/Wolfrum 1.1, 356 f.; etwas ausfiihrlicher z.B. Blumenwitz, "ex factis", 45 f.; Böttcher, 98 f. 120 Strupp, RGDIP 44 (1937), 44. 121 Manche Autoren begnügen sich damit, daß die Inbesitznahme des Gebiets gegen oder ohne den Willen des betroffenen Staates erfolgte: z.B. Berber l, 36I, 362; Schätze/, Annexion, 84, 103; Schulz, Entwicklung, 20; wohl auch Scupin, Annexion, 2I6 f. 122 Z.B. bei Dahm l, 589; Dahm!Delbrück/Wolfrum I.1, 355; Gloria, in: Ipsen, Völkerrecht, § 23 Rdn. 36; Wittkowski, 60. Andere sprechen von "Totalannexion", z.B. Verosta, ÖJZ 1954, 242; H. Jellinek, Erwerb, l I 1; Berber I, 360 verwendet den Begriff der "Unterwerfung"; ebenso Mähler, 97. Im Englischen werden fiir die Annexion die Bezeichnungen "annexation", "conquest" und

8. Die Abgrenzung von der Annexion

53

Umstritten ist, ob die Annexion nur durch einseitige Erklärung des annektierenden Staates erfolgen kann oder ob auch der unter Androhung von Gewalt erzwungene Eingliederungsvertrag als Annexion zu bezeichenn ist 123 . Einige wollen die Annexion strikt von dem auf einem staatlichen Willensakt beruhenden Gebietsverlust abgrenzen und erklären zu diesem Zweck das Motiv der Willensbildung fiir die formal-vertragliche Gebietsaufgabe fiir unerheblich 124. Gegen diese Auffassung und fiir einen weiten Annexionsbegriff spricht zumindest heute der Stand des modernen Völkerrechts, das in seiner in diesem Zusammenhang zentralen Norm, Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta, die Androhung zwischenstaatlicher Gewalt gleichrangig neben die tatsächliche Gewaltanwendung stellt. Diese Gleichbehandlung kehrt wieder in Art. 52 WVK, der auch den unter Gewaltandrohung aufgezwungenen Vertrag fiir nichtig erklärt und damit die "vertragliche Annexion" im heute geltenden Völkerrecht ihrer rechtlichen Grundlage beraubt. Schließlich sprechen auch die erhebliche Mißbrauchsgefahr sowie die praktischen Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen einer gewaltsam vollzogenen Einverleibung und einer mit Gewaltandrohung erzwungenen Einwilligung in eine solche dagegen, an den formalen Abschluß eines Vertrages allein das Nichteingreifen des Annexionstatbestandes zu knüpfen. Auch die vertragliche Gebietsaufgabe ist somit, wenn sie unter Androhung von Gewalt geschieht, eine völkerrechtliche Annexion 125 . Bereits im sog. klassischen Völkerrecht war die Rechtswirksamkeit der Annexion an die objektive Voraussetzung geknüpft, daß der annektierende Staat das beanspruchte Gebiet effektiv in Besitz genommen und die bislang dort herrschende Staatsgewalt vollständig und endgültig ausgeschaltet hat. Die völkerrechtlich wirksame Vollannexion setzt daher voraus: "... the subjugation of the enerny effected so thoroughly and completely that his possible resistance may fairly and safely be regarded as a negligible potentiality" 126.

"subjugation" gebraucht, wermgleich oft mit unterschiedlichen Begritfsinhalten, vgl. die kurzen Übersichten beiMcMahon, 8-14, undH. Jellinek, Erwerb, 111 f. 123 Für die Einbeziehung des aufgezwungenen Vertrages in den Annexionsbegriff z.B. Scheuner, FW 49 (1949), 81; Bindschedler, in: WdV 1, 68 f.; Rousseau lll, 174; Gloria, in: lpsen, Völkerrecht, § 23 Rdn. 41; Dahm!Delbrück/Wolfrum 1.1, 356. 124 So z.B. Scupin, Annexion, 216 f.; Schätzet, Annexion, 82; Dahm l, 592. Auch Blumenwitz, Annexion, 158 f. nermt die Annexion einen einseitigen Rechtsakt und grenzt sie von der Zession lediglich im Hinblick auf deren vertragliche Grundlage ab; ebenso z.B. Krülle, 198; Kimminich, 157; Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rdn. 1158. 125 Mähler, 97 hat fiir die auf diese Weise erzwungene Selbstaufgabe eines Staates den Begriff der "Gewaltfusion" geprägt und die Aufgabe von Gebietsteilen als "Gewaltzession" bezeichnet. 126 So die Fonnotierung vonPhillipson, 21 f.

54

l. Teil: Der Tatbestand der Inkorporation

Eine vor Erfüllung dieser objektiven Voraussetzung erklärte Annexion wird seitdem einhellig als vorzeitig und daher unwirksam angesehen 127. Dazu gehört sowohl der Fall, daß sich die effektive Herrschaftsgewalt des annektierenden Staates nur auf einen Teil des beanspruchten Gebiets erstreckt, als auch die Annexion während der noch andauernden Kampfhandlungen ("durante bello"), also vor einer endgültigen Debellation des von der Annexion betroffenen Staates. Im Hinblick auf die deutschen Eroberungen im 2. Weltkrieg wird ein den objektiven Annexionstatbestand hindemdes Andauern der Kampfhandlungen auch dann angenommen, wenn die Verbündeten des militärisch besiegten Staates für diesen den Kampffortsetzen 128 .

II. Historischer Beginn der Völkerrechtswidrigkeit der Annexion Die so definierte Annexion gehört insoweit zum völkerrechtlichen Handlungsinstrumentarium der souveränen Staaten, als sie nicht vom geltenden Völkerrecht untersagt wird 129. Ihre Zulässigkeil kann anband verschiedener völkerrechtlicher Normen hinterfragt werden, die in Schrifftum und Staatenpraxis auch regelmäßig im Zusammenhang mit dem gewaltsamen Gebietserwerb genannt werden. Im Mittelpunkt steht die völkerrechtliche Rechtmäßigkeil der mit der Annexion verbundenen Gewaltanwendung (1.). Aber auch das Interventionsverbot (2.) oder das als "Stimson-Doktrin" bekannt gewordene Verbot der Anerkennung gewaltsamer Gebietsveränderungen (3.) können einen Ansatz bieten. Schließlich ist die Annexion aus der Sicht des Selbstbestimmungsrechts der Völker problematisch (4.). Es sei vorweggenommen, daß heute an der grundsätzlichen völkerrechtlichen Unzulässigkeil der Annexion keine Zweifel mehr bestehen können. Jedenfalls die zumindest partielle130 Erstarkung des allgemeinen Gewaltverbots 127 Vgl. z.B. Phillipson, 22; Liszt!F1eischmann, 150; Strupp, RGDIP 44 (1937), 45; Bindschedler, in: WdV I, 69; Marek, 103 f.; Dahm l, 590 f.; O'Connelll, 435; Berber I, 360 f.; Rousseau III, 191; Gloria, in: lpsen, Völkerrecht,§ 23 Rdn. 37 f. 128 Vgl. nur Bindschedler, in: WdV I, 69; Marek, 103; Akehurst, 148; zur Unwirksamkeit der Annexion Polens 1939 siehe unten 2. Teil, B. 44 (S. 345). 129 Der philosophische Ansatz von Herbig, 111. wonach die Annexionper se "mit der Existenz einer Völkerrechtsgemeinschaft unvereinbar" sei und die völkerrechtlichen Vorschriften zu ihrer Eindämmung dementsprechend die Rechtswidrigkeit der Annexion nicht begründeten, sondern nur aussprächen, hat mit dem geltenden Recht in keiner Epoche der Völkerrechtsgeschichte etwas zu tun. 130 Zum Verhältnis zwischen Art.2 (4) UN-Charta und dem gewohnheitsrechtliehen Gewaltverbot vgl. Randelzhofer, in: Simma, UN-Charta, Rdn. 60 zu Art.2 (4); Bruha, Gewaltverbot, Rdn. 14 f.; fiir

8. Die Abgrenzung von der Annexion

55

in Völkergewohnheitsrecht hat im heute geltenden Völkerrecht auch ein allgemeines gewohnheitsrechtliches Annexionsverbot zur Folge 131 . Die Bildung einer besonderen Kategorie der "rechtswidrigen Annexion" 132, die impliziert, es gäbe auch eine rechtmäßige Variante, erübrigt sich daher bei der Beschreibung der gegenwärtigen Rechtslage. Da im Laufe dieser Arbeit aber auch historische Vorgänge völkerrechtlich zu bewerten sein werden, soll im folgenden insbesondere der Zeitpunkt interessieren, von dem an ein gewohnheitsrechtliches Annexionsverbot als Bestandteil des geltenden Völkerrechts angesehen werden muß. Daß es dabei weniger um die exakte Festlegung einer genauen Jahreszahl, als vielmehr nur um die Ermittlung eines historischen Zeitabschnitts gehen kann, ergibt sich aus der grundsätzlichen Schwierigkeit im Umgang mit Staatenpraxis bei der Ermittlung von Völkergewohnheitsrecht

1. Annexionsverbot als Konsequenz eines allgemeinen Gewaltverbots Die Stellung von Eroberung und Annexion im Rahmen der Völkerrechtsordnung hing zu jeder Zeit unmittelbar mit der rechtlichen Beurteilung von Krieg und Gewalt im zwischenstaatlichen Verhältnis zusammen. Montesquieu formulierte diese Erkenntnis folgendermaßen: "Du droit de Ia guerre, derive celui de conquete, qui en est Ia consequence; il en doit donc suivre l'esprit'" 33

a) Maßstäblichkeit des Gewaltverbots

Dementsprechend ist allgemein anerkannt, daß die Zulässigkeil der Annexion untrennbar mit dem Bestehen eines allgemeinen Gewaltverbots verknüpft ist134. Denn wenn die Gewaltanwendung als solche rechtswidrig ist, dann liegt es nahe, daß auch die durch sie erzielte Gebietsveränderung grundsätzlich keiner anderen Beurteilung zugänglich ist 135 . Dies gilt umso mehr, wenn es um das Erlöschen eines so zentralen Rechts wie der territorialen Souveränität die Deckungsgleichheit beider Normen z.B. E. Klein, Selbstbestimmungsrecht, 54, Fn. 228; Fischer, in: Ipsen, Völkerrecht, § 57, Rdn. 27. 131 Statt aller: Dahm!Delbrück/Wolfrum I.!, 359 f; Gloria, in: Ipsen, Völkerrecht,§ 23 Rdn. 43. 132 Wie sie z.B. Fastenrath, in: EPIL 10, 466, vornimmt.

133 De l'esprit des lois, Iivre X, eh. IJI. 134 Vgl. nur Bindschedler, in: WdV I, 69.

135 Statt aller Menzel, Annexionsverbot, 33.

56

1. Teil: Der Tatbestand der Inkorporation

geht 136. Hersch Lauterpacht hat diesen Gedanken in diesem Zusammenhang, soweit ersichtlich, zuerst mit der Formel ex iniuria ius non oritur umschrieben137, welche die Dinge zwar etwas vereinfacht, als einprägsames Schlagwort aber durchaus ihren Wert besitzt. Die Reichweite dieser Formel muß sich erweisen, wenn es darum geht, ob eine zunächst rechtswidrige Annexion nachträglich von diesem Makel befreit und der Gebietserwerb dadurch sanktioniert werden kann138. Im Gegensatz zur ganz herrschenden Meinung hat Starck noch 1972 das Annexionsverbot selbst unter Geltung des allgemeinen Gewaltverbots der UNCharta als reinen Programmsatz, als nur "moralische Forderung" bezeichnet, da es an einem wirksamen Sanktionsverfahren zu seiner Durchsetzung fehle139_ Dieser Ansatz ist aber zu Recht vereinzelt geblieben, da er das Bestehen verbindlicher Rechtsnormen mit ihrer zwangsweisen Durchsetzung gegenüber dem einzelnen Rechtsunterworfenen vermengt. Die letzte Konsequenz dieser Auffassung wäre die Leugnung jeglichen Rechtscharakters des Völkerrechts, eine Behauptung, die das abendländische Völkerrecht seit seinen Anfangen begleitet hat 140. Demgegenüber hat sich heute die Ansicht durchgesetzt, daß die Erzwingbarkeit durch äußere Gewalt nicht Teil der Definition von "Recht" ist141 und das Völkerrecht trotz der nur seltenen Zwangsmaßnahmen gegen Staaten als "genossenschaftliche" Rechtsordnung 142 dennoch verbindliche Normen für seine Subjekte enthält.

136 Daraufstellte z.B. Wehberg, Krieg, 102 ab. 137 Noch zögernd in RdC 62 (1937-IV), 99 (287); ausfiihrlicher dann in Recognition, 420-425, und erneut als Sonderberichterstatter der ILC in YbiLC 1953 II, 148. Ebenso z.B. Guggenheim, RdC 74 (1949-1), 226.

138 Dazu unten 111. (S. 106 ff.). 139 Starck, Annexionsproblern, 860-867, aufS. 860 ausdrücklich als Ansatz "de lege lata" bezeich-

net. Eine ähnliche Auffassung deutete Scupin, Annexion, 219 f an, wenn er das Nichtbestehen eines Kriegsverbots arn Ende des l. Weltkrieges damit erklärte, daß es noch "an einer Organisation (fehlte), welche ent~prechende Bindungen der Staaten allein hätte herbeifiihren können"; in dieselbe Richtung Cohn, Sta. Clara L. 3 (1962/63), 41 f

140 Vgl. nur den kurzen Abriß bei Berber l, 9-16. 141 Statt aller Berber l, 13 f und früher schon Kämmerer, 49,

Fn. l. Zu der von seiner Durchsetzbarkeil unabhängigen Bindungswirkung des Völkerrechts siehe kürzlich auch das Sondervotum des Richters Weeramantry in ICJ Reports 1993, 370 (375).

142 Zum Begriffvgl. Berber l, 16-19; Verdross/Simma, § 40, die auch von "Koordinationsrecht" sprechen.

8. Die Abgrenzung von der Annexion

57

Im übrigen stellt Starck. wenn er die "Aktualisierung" des Programmsatzes Annexionsverbot von einem Einsatz der Staatengemeinschaft für seine zwangsweise Durchsetzung im Einzelfall abhängig macht 143. die Rechtsgültigkeil einer Annexion in das Ermessen von ihr nicht betroffener Drittstaaten. Im Falle einer Vollannexion würde dies bedeuten. daß die Existenz eines souveränen Staates als Völkerrechtssubjekt rechtlich vom Willen anderer Staaten abhinge - eine Auffassung, die mit dem für das moderne Völkerrecht konstitutiven Prinzip der souveränen Gleichheit nicht vereinbar wäre 144 Das heute geltende allgemeine Gewaltverbot hat somit eo ipso, ohne daß es auf die Ergreifung kollektiver Sanktionen durch die Staatengemeinschaft ankommt, ein grundsätzlich umfassendes Annexionsverbot zur Folge. Die Verknüpfung von Gewalt- und Annexionsverbot führt weiter zur Frage nach der Möglichkeit eines völkerrechtlichen Gebietserwerbs aufgrund einer rechtmäßigen Gewaltanwendung. Eine solche wurde unter dem Stichwort "Gegenannexion" vor allem für den Fall einer erfolgreichen Selbstverteidigung zuweilen angemommen14S_ Jedenfalls zwei Argumente aber sprechen gegen ein solches Annexionsrecht zu Lasten des Aggressors. Zum einen ist die heute einzige vom Völkerrecht sicher gebilligte Form der zwischenstaatlichen Gewaltanwendung, die Selbstverteidigung, durch das Gebot der Verhältnismäßigkeit begrenzt 146. Diese Begrenzung wird auch von denen anerkannt, die grundsätzlich eine "Gegenannexion" zum Zwecke der Kompensation für zulässig halten 147. Eine der Intensität des Angriffs angemessene Reaktion aber wird in aller Regel nur eine Zurückschlagung des Angriffs und die Wiederherstellung des territorialen status quo zulassen, nicht aber eine darüber hinausgehende "expansive" Sank-

143 Starck, Annexionsproblem, 665 ( 144 Vgl. schon Art. 3 der Montevideo Convention an the Rights and Duties of States v. 26.12.1933, LNTS 165, 19 (25). Zur rein dek.laratorischen Wirkung der Anerkennung eines Staates vgl. statt aller Gloria, in: lpsen, Völkerrecht, § 22 Rdn. 23, 31 sowie unten Fn. 421 zu lll. l .

145 Nachweise bei Gloria, in: lpsen, Völkerrecht, § 23 Rdn. 48 und Dahm/Delbrück/Wolfrum 1.1, 363 (;daneben z.B. Dinstein, 169 (("not without its legallogic: Iet the aggressor pay for its crimes"); so allgemein filr die rechtmäßige Gewaltanwendung Oppenheim/Lauterpachtl, 574 (

146 Statt aller Randelzhofer, in: Simma., UN-Charta., Rdn. 37 zu Art. 51 rnwN; Fischer, in: lpsen, Völkerrecht, § 57 Rdn. 39 f.; ebenso das "Nicaragua"-Urteil des IGH, ICJ Reports 1986, 14 (94), § 176. 147 Wie z.B. Blumenwitz, Grundlagen, 156.

1. Teil: Der Tatbestand der Inkorporation

58

tion 148 . Ein angegriffener Staat, dessen Willen zur Selbstverteidigung sich mit deren Erfolg zum Erwerbswillen wandelt, würde seinerseits zum Angreifer149 . Zum zweiten ist rechtspolitisch zu bedenken, daß die Schwierigkeiten der Abgrenzung zwischen rechtswidriger und durch Selbstverteidigung gerechtfertigter Gewaltanwendung eine besondere hohe Mißbrauchsgefahr begründeten, wenn das Etikett "Selbstverteidigung" die Behauptung eines wirksamen Gebietserwerbs rechtfertigen könnte. Ein dem erfolgreichen Verteidiger zugestandenes Annexionsrecht wäre in der Praxis nichts anderes als ein Annexionsrecht des Siegers und würde dadurch die Wirksamkeit des Annexionsverbots erheblich vermindem 150 . Deshalb ist die Möglichkeit gewaltsamer Gebietsveränderungen aufgrund einer im Grunde rechtmäßigen Selbstverteidigung abzulehnen. Das völkerrechtliche Verbot der zwischenstaatlichen Gewalt bedingt daher ein umfassendes Annexionsverbot, dem auch die sog. "Gegenannexion" unterfverbrecher v. l.l0.1946, in dem es hieß, daß Böhmen und Mähren "niemals dem Reich eingegliedert", sondern nur als Protektorat behandelt worden seien, vgl. Prozeß I, 285.

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2. Teil: Historische Beispiele

gesamte Staatsgebiet der Tschechoslowakei betrafen und somit keine Vollannexion darstellten. Unter Auschluß von Slowakei und Karpatho-Ukraine konnte der Führererlaß vom 16.3.1939, wie es in seinem Art. 1 selbst hieß, nur noch einzelne "Landesteile" des tschechoslowakischen Staates betreffen, nicht aber diesen insgesamt. Es wäre gekünstelt und entspräche auch nicht dem historischen Zusammenhang, wollte man die wenige Stunden zuvor erklärten Abspaltungen von Slowakei und Karpatho-Ukraine von der deutschen Annexion trennen, so daß letztere dann einem auf Böhmen und Mähren geschrumpften Staat gegolten hätte. Vielmehr handelte es sich um ein Gesamtgeschehen, das zur Aufteilung der Tschechoslowakei führte und an dem das Deutsche Reich - rechtlich! - nur in Form einer Teilannexion beteiligt war. Der tschechoslowakische Staat wurde mit anderen Worten auseinandergerissen und nicht insgesamt in einen anderen einverleibt959. Der historische Sachverhalt läßt daher die Einordnung als Präzedenzfall für die Inkorporation nicht zu. Im übrigen konstruierten auch in diesem Fall Staatenpraxis und Literatur ein rückwirkendes Wiedererstehen der Tschechoslowakei nach dem Kriege, das mit der Fiktion einer ununterbrochenen Kontinuität des tschechoslowakischen Staates verbunden wurde960.

42. Albanien 1939? Das Fürstentum Albanien war nach jahrhundertelanger türkischer Herrschaft 1912/13 im Zuge der Balkankriege als eigenständiger Staat entstanden961, seine Unabhängigkeit jedoch erst im Dezember 1920 mit der Aufnahme in den Völkerbund wirklich gefestigt. 1925 erfolgte die Umwandlung in eine Republik unter Präsident Ahmed Zogu, der 1928 den Königstitel annahm.

959 Vgl. O'Connell, Succession I, 389 u.ö., II, 379 f.; Verzijl VII, 93: "dismemberment"; Maresca, 35: "smembrata"; z.B. Guggenheim, RdC 74 (1949-I), 241; Williams, ICLQ 43 (1994), 787, Fn. 64: "dissolution". Ungenau daher die Sichtweise, die eine Annexion der (Rest-)Tschechoslowakei annimmt, wie z. B. Berber I, 360; Dahm !I, 136; Oppenheim/Lauterpacht li, 252, Fn. I; H. Jellinek, Erwerb, 165. 960 Vgl. z.B. Marek, 303-330, die allerdings aufS. 329 einräumen muß, daß "the Czechoslovak State survived for a certain time as a purely ideal notion ..."; Cansacchi, RdC 130 (1970-II), 54 f.; aus der Rechtsprechung z.B. BayObLGZ 1965, 108 (114 f.); zur diplomatischen Praxis nach Ausbruch des Weltkriegs siehe Langer, 234-244. Aus jüngerer Zeit vgl. z.B. den 7. Absatz der Präambel zum deutsch-tschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrag v. 27.2.1992 (BGBl li, 463) sowie das Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts zu den sog. BeneS-Dekreten v. 8.3.1995, vorläufige Übersetzung der deutschen Botschaft in Prag v. 24.3.95, S. 5-14, sowie FAZ v. 9.3.1995, S. 4. 961 Historischer Abriß in Encycl. Brit. 1, 509 f.; fiir die Ereignisse der Jahre 1913/ 14 vgl. auch Ydit, 29-33.

B. Die Einzelfälle- Albanien 1939

337

Nach dem Wegfall der osmanischen Ordnungsmacht war das Land stets durch Ansprüche und Übergriffe seiner Nachbarn gefahrdet. Vor allem Italien, das bereits in dem gescheiterten Londoner Geheimvertrag von 1915 als Schutzmacht eines verkleinerten Albanien vorgesehen gewesen war962, sicherte sich durch bilaterale Verträge von 1926 und 1927 erheblichen Einfluß963 . Am 7. April 1939 marschierte die italienische Armee in Albanien ein und besetzte nach nur wenigen Tagen dessen Staatsgebiet vollständig. Statt der zu erwartenden Annexionserklärung beriefen die italienischen Behörden am 12.4. eine von ihnen gelenkte Nationalversammlung ein, die König Zogu für abgesetzt erklärte, eine Regierung einsetzte und dem König von Italien die albanische Krone anbot, die dieser am 16.4.1939 annahm964. Am 20.4. schloß Italien mit der albanischen "Marionetten"-Regierung einen völkerrechtlichen Vertrag965, durch den unter anderem eine Zollunion zwischen beiden Staaten begründet wurde, der aber vom äußerlichen Fortbestand eines eigenständigen Staates Albanien ausging. Dementsprechend sprach eine am seihen Tag getroffene Absprache über die Gleichberechtigung der Angehörigen beider Staaten von der "unione spirituale esistente fra i due Stati" 966 • Gut sechs Wochen später, am 3.6.1939, wurde ebenfalls durch völkerrechtlichen Vertrag die gemeinsame Wahrnehmung der internationalen Beziehungen durch das Außenministerium in Rom vereinbart967 mit der Folge, daß die bis dahin eigenständigen diplomatischen Beziehungen Albaniens endeten. Die von Italien mit militärischer Gewalt erzwungene Staatenverbindung beseitigte ohne Zweifel die albanische Souveränität und machte Albanien zu einem abhängigen Staat968. Man mag dies eine "verschleierte" Annexion nen-

962 Dazu Verzijlll, 453. 963 Vgl. den Freundschafts- und Sicherheitspakt v. 27.11.1926 (NRG3

17, 12) und das Verteidigung~>bündnis v. 22.11.1927 (NRol 19, 7). Manche hieHen Albanienaufgrund dieser Vereinbarungen bereits fiir ein italienisches Protektorat, vgl. Sereni, APSR 35 (1941), 331 f.

964 Text des Beschlusses der albanischen "Nationalversammlung" bei Cansacchi, RDI 32 (1940), ll4, Fn. 1; engl. Übersetzung in BFSP 143, 326; italienisches Gesetz über die Annahme der albanischen Krone v. 16.4.1939 (Rac.Uff. 1939, 1071). 965 NRG3 40, 308; BFSP 143, 332.

966 NRG3 40, 308; BFSP 143, 337 (Hervorhebung d. Verf.). 967 NRG3 40, 313; BFSP 143, 337. 968 Zutreffend daher Oppenheim/Lauterpacht I, 255, Fn. 2: "brought her independence to an end";

Sereni, APSR 35 (1941), 316 stellte sogar einige Charakteristika eines VasalliWsverhältnisses nach osmanischem Vorbild fest. 22 Dörr

338

2. Teil: Historische Beispiele

nen969, dennoch änderte die faktische italienische Beherrschung Albaniens nichts daran, daß formal die albanische Staatlichkeit unbeliihrt blieb, da es an der fur den Annexionstatbestand objektiv erforderlichen Äußerung eines Annexionswillens fehlte970. Im Gegenteil erklärte Italien am 18.4.1939 ausdrücklich, die neuen Beziehungen zu Albanien seien auf dessen "Unabhängigkeit und Souveränität" gegründet971 . Auch die vom italienischen König am 3.6.1939 erlassene neue Verfassung ("Statuto") fur das Königreich Albanien972 sprach ausdrücklich von einem separaten Staat Albanien. Die formal fortbestehende Eigenstaatlichkeit Albaniens kam auf der internationalen Ebene dadurch zum Ausdruck, daß Italien auch mit Wirkung gegen das Völkerrechtssubjekt Albanien Verträge abschloß973 und etwa mit dem Deutschen Reich eine Ausdehnung bestimmter deutsch-italienischer Verträge auf das "Königreich Albanien" vereinbarte974. Am 13.4.1939 notifizierte Albanien dem Völkerbund seinen Austritt, seine völkerrechtliche Rechts- und Handlungsfahigkeit wurde in diesem Zusammenhang nicht angezweifelt975 . Darüber hinaus scheint Albanien unabhängig von Italien dem Vereinigten Königreich im Juni 1940 den Krieg erklärt zu haben976. Schließlich wurde die äußerlich fortbestehende "Hülle" des albanischen Staates in Anspruch genommen, als nach der Kapitulation Italiens (3.9.1943) deutsche Besatzungstruppen an die Stelle der italienischen traten und die Einsetzung einer albanischen "Quisling"-Regierung durch das Deutsche Reich ermöglichten, die erst am 28.10.1944 zurücktrat977.

969 So z.B. H. Jellinek, Erwerb, 236; Cansacchi, RdC 130 (1970-11), 56. Berber I, 137 nennt die fortbestehende Eigenstaatlichk.eit Albaniens eine "schlecht verhüllte Fiktion"; ebenso schon Sereni, APSR 35 (1941), 316 f. 970 Dies übersehen diejenigen Autoren, die eine echte Annexion annehmen, wie z.B. Langer, 252; Fenwick, International Law, 138; Verosta, ÖJZ 1954, 241; Gomig, Staatennachfolge, 36 f.; wohl auchMarek, 332 f., die allerdings den Staatscharakter Albaniens mit seiner Unabhängigkeit vermengt. Auch die USA gingen offensichtlich von einer italienischen Annexion Albaniens aus, vgl. die bei Langer, 248-250 zitierten Erklärungen. 971 Vgl. Sereni, APSR35 (1941), 316. 972 Text in eng!. Übersetzung in BFSP 143, 327. 973 Z.B. das Abkommen über einen europäischen Post- und Fernmeldeverein v. 24.10.1942 (RGBI 1943 II, 122; NRG3 40, 712); Rousseau II, 112, Fn. I nennt darüber hinaus ein Verkehrsabkommen mitBulgarienv. 7.10.1942. 974 Abkommen v. 27.5.1939 (RGBI1939 II, 837). 975 Vgl. Sereni, APSR 35 (1941), 314. 976 Sereni aaO. 977 Vgl. Langer, 249 f.

B. Die Einzelfalle - Danzig 1939

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Albanien wurde, soweit ersichtlich, niemals zum integralen Bestandteil des italienischen Staatsgebiets erklärt oder als solcher in Anspruch genommen; im Gegenteil bestätigte auch die italienische Rechtsprechung den Fortbestand rechtlicher getrennter Staaten978 . Die Beziehungen zwischen beiden Staaten, eine Kombination aus Realunion und Protektorat, besaßen daher weiterhin eine - wenngleich von italienischer Seite diktierte - völkerrechtliche Grundlage979. Die nach Kriegsende fingierte rückwirkende Wiederherstellung der von den Aggressionshandlungen der Achsenmächte betroffenen Staaten betraf im Falle Albaniens also nicht die Staatlichkeit also solche, sondern lediglich die 1939 verlorene Unabhängigkeit980. Mangels Staatsuntergang lag ein Fall der Inkorporation nicht vor.

43. Freie Stadt Danzig 1939 Die erste Gebietsveränderung des 2. Weltkrieges, die Wiedereingliederung der nach dem 1. Weltkrieg als Freistaat errichteten Stadt Danzig in das Deutsche Reich, wird ebenfalls als Staatensukzession durch Inkorporation angesehen981. Bevor auf die Inkorporationshandlung und ihre Wirksamkeit näher eingegangen wird, ist zunächst der besondere völkerrechtliche Status der Freien Stadt Danzig982 im Hinblick auf deren Tauglichkeit als Inkorporationsobjekt kurz zu skizzieren.

978 Vgl. z.B. die Entscheidung der Corte Suprerna di Cassazione v. 6.2.1961, Foro Italiano 1961 I, 430 (432) = JDI 89 (1962), 224; vorher hatte das Berufungsgericht in Bari eine Verbindungzweier Staaten zu einem einzigen Völkerrechtssubjekt als "unio reale" angenommen (Entscheidung v. 24.11.1942, Foro Italiano, Repertorio 1943-45, 34).

979 Cansacchi, RDI 32 (1940), 135. Für einen formalen Fortbestand des albanischen Staates in einer völkerrechtlichen Staatenverbindung z.B. auch Castren, Acta Scand. 24 (1954), 61; Paenson, 63; Rousseau li, 110-112; He"ero y Rubio I, 142; O'Connell I, 293; v. Treskow, 178. Die Kennzeichnung als Realunion ist der in diesem Zusammenhang häufig gebrauchten Personalunion vorzuziehen, da die Gerneinsamkeit des Monarchen auf einem bewußten Willensakt beruhte, vgl. Berber I, 137 und oben Fn. 282. Für eine Realunion in diesem Fall z.B. auch Wengier li, 1144, Fn. 5; Cansacchi, RDI 32 (1940), 126-129; Sereni, APSR 35 (1941), 314.

980 Dazu Marek, 334-337. Dementsprechend formulierte der britische Außeninister Eden arn 17.12.1942 als ein Kriegsziel: "to see Albania freed from Italian yoke and restored to her independence", zit bei Langer, 248.

981 Z.B. von Castren, Acta Scand. 24 (1954), 62 ("re-incorporation"); Verzifl VII, 93; ebenso ein Gutachten des 5. Senats des deutschen Obersten Finanzgerichtshofs v. 5.4.1946, JIAÖR 1 (1948), 189 (193). 982 Zu diesem vgl. nur die Literaturhinweise bei Kunz, Staatenverbindungen, 298 f; v. Hagens, in: WdV I, 310. 22*

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2. Teil: Historische Beispiele

Art. 102 des Versailler Vertrages sah die Errichtung einer Freien Stadt Danzig auf einem gemäß Art. 100 des Vertrages von Deutschland abgetrennten Gebiet unter dem Schutz des Völkerbundes vor. Mit Inkrafttreten des Vertrages am 10.1.1920 trat an die Stelle der deutschen Staatsgewalt in Danzig die Herrschaftsgewalt der Alliierten, die am 11. Februar in der Person eines zur Verwaltung Danzigs bestellten Kommissars die Regierungsgeschäfte übernahmen983. Durch eine Errichtungsurkunde der alliierten Botschafterkonferenz vom 27.10.1920, die am 9 .11. von den Vertretern Danzigs angenommen wurde und am 15.11.1920 in Kraft trat, entstand die Freie Stadt Danzig als eigenständiges Gemeinwesen984. Die Verfassung nach hansischem Vorbild, die sich Danzig am 19.8.1920 gegeben hatte, fand zunächst nicht die Billigung des Völkerbundsrates, so daß sie nach mehrfachen Änderungen erst am 14.6.1922 in Kraft trat. Das Verhältnis des Freistaates zu Polen wurde nach Maßgabe von Art. 104 des Versailler Vertrages durch einen Grundvertrag über die gegenseitigen Beziehungen (9.11.1920) sowie durch eine Vielzahl bilateraler Verträge geregelt. Eine Gesamtschau der getroffenen Vereinbarungen ergab einen unmittelbar auf Völkerrecht beruhenden Status Danzigs, das damit nicht ein mit besonderen Autonomierechten ausgestatteter Bestandteil Polens, sondern ein selbständiges Gemeinwesen mit allen Attributen einer eigenen Staatlichkeit war985 . Obwohl unter der Aufsicht des Völkerbundes stehend, die durch einen Hohen Kommissar ausgeübt wurde, war die Freie Stadt Danzig selbständiges Völkerrechtssubjekt und insbesondere aus eigenem Recht Partei völkerrechtlicher Verträge986 . Zwar war die Führung seiner auswärtigen Angelegenheiten Polen übertragen, dennoch aber wurde die Einordnung Danzigs als polnisches Protektorat überwiegend abgelehnt987. Als anerkanntes, wenngleich nicht sou-

983 Zu diesen Ereignissen vgl. Schroeder, 9-14.

984 Böttcher, 18 f ; Text des Errichtungsbeschlusses in NRG3 15,452 und bei Grewe, Fontes 11112, 847; fiir die Verfassungsstruktur der Freien Stadt vgl. den Überblick bei Ydit, 191-194.

985 Für die Freie Stadt als Staat z.B. Kunz, Staatenverbindungen, 300; Ktimmerer, 127 f.; Schücking/Wehberg I, 120-124; Verdross, Völkerrecht1, 57; Guggenheim I, 210; Schroeder, 18-27; Brierly, 98; H. Jellinek, Erwerb, 213; Menzel, Annexionsverbot, 17; Verzijl II, 534-536; Schweisfurth, in: EPIL 12, 86. Gegen eine Staatsqualität z.B. Rousseau II, 425 f

986 Neben den zahlreichen Verträgen mit Polen vgl. nur die Übersicht vom Oktober 1924 in LNOJ 1925, 779; fiir die Beteiligung am Briand-Kellogg-Pakt siehe LNTS 94, 58; zur Völkerrechtssubjektivität Danzigs z.B. Schroeder, 27-33, 41-47; Verzijl II, 533 f.

987 Z.B. von Kunz, Staatenverbindungen, 300 f; Liszt!Fleischmann, 102; Schücking!Wehberg I, 127 f; Strupp, Grundzüge, 49 f; Brierly, 97 f.; Schroeder, 74-77, der dann aufS. 89 von einem

B. Die Einzelflille - Danzig 1939

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veränes und in seiner Handlungsfahigkeit beschränktes Völkerrechtssubjekt war die Freie Stadt Danzig taugliches Objekt einer wenigstens "inkorporationsähnlichen" Eingliederung. Die Hinwendung Danzigs zum Deutschen Reich verstärkte sich, als im Mai 1933 die Nationalsozialisten die absolute Mehrheit im Parlament des Freistaates, dem Volkstag, errangen und am 20.6.1933 die Regierung übernahrnen988 . Den sich in der Folge verändernden Machtverhältnissen trug eine Verordnung des Danziger Senats vom 23.8.193 9 Rechnung, die den örtlichen Gauleiter der NSDAP zum Staatsoberhaupt der Freien Stadt erklärte989. Der polnischen Protest dagegen bzw. die zwischen Polen und dem Deutschen Reich permanent schwelende "Danzig-Frage" insgesamt war einer der Anlässe fiir den am Morgen des 1. September 193 9 beginnenden deutschen Angriff auf Polen. Die polnischen Stützpunkte im Gebiet von Danzig wurden von deutschen Truppen besetzt. Der Gauleiter Forster erließ als Staatsoberhaupt der Freien Stadt ein "Staatsgrundgesetz", durch das er die Danziger Verfassung für aufgehoben und Danzig zum Bestandteil des Deutschen Reiches erklärte990. In einem Telegramm an Hit/er vom 1.9.1939 bat er um die Vollziehung der Wiedervereinigung durch Reichsgesetz, die Hit/er in einem Antworttelegramm zusagte991 . Noch am gleichen Tag wurde das deutsche "Gesetz über die Wiedervereinigung der Freien Stadt Danzig mit dem Deutschen Reich" 992 verkündet, welches das Danziger "Staatsgrundgesetz" zum Reichsgesetz erhob. Durch Führererlaß über die Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete vom 8.10.1939 wurde das Gebiet der Freien Stadt Danzig in den "Reichsgau Westpreußen" einbezogen, der später in "Danzig-Westpreußen" umbenannt wurde993 . Die völkerrechtliche Wirksamkeit dieser Eingliederung der Freien Stadt Danzig in das Deutsche Reich, die effektiv bis zur Eroberung Danzig durch sowjetische Truppen im März 1945 Bestand hatte, ist aus verschiedenen Gründen bestritten. Während gelegentlich der wirksame Abschluß eines lnkorpora"Rumpfjlrotektorat" sprach; v. Hagens, in: WdV I, 309; Verzijl II, .541 f.; fiir ein protektoratsähnliches Verhältnis z.B. Anzilotti I, 173, Fauchille 1.1, 283 ("une sorte de protectorat"); Dahm II, 134 f. 988 v. Hagens, in: WdV I, 310; zur politischen Entwicklung der Jahre 1933-39 vgl. den Abriß bei Böttcher, 23-3.5. 989 Böttcher, 34; Text der Verordnung ebd., 172; Rousseau II, 430 sah zu Unrecht bereits hierin eine Eingliederung in das Reich. 990 Böttcher, 36; Text des Gesetzes ebd., 173. 991 Böttcher, 36; Texte ebd., 174. 992 RGB11939 I, 1547; NRG3 38, 15; Böttcher, 175. 993 Böttcher, 37.

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2. Teil: Historische Beispiele

tionsvertrages zwischen Deutschland und Danzig bezweifelt wird994, steht die Einordnung des historischen Geschehens als einseitige deutsche Maßnahme im Vordergrund. Hält man das Einverständnis des als "Staatsoberhaupt" handelnden NSDAP-Gauleiters wegen des Staatsstreichcharakters seiner Machtergreifung fiir unbeachtlich995, dann kommt nur eine gewaltsame Einverleibung, d.h. eine Annexion durch das Deutsche Reich in Betracht. Diese verstieß zweifellos gegen die Danzig betreffenden Bestimmungen des Versailler Vertrages sowie das darauf aufbauende Geflecht völkerrechtlicher Verträge. Wie aber zum "Anschluß" Österreich bereits dargelegt wurde, fiihrte ein "einfacher" Vertragsverstoß als solcher zwar zur Völkerrechtswidrigkeit, nicht aber zur Nichtigkeit der Annexion996. Eine Verletzung des Briand-Kellogg-Paktes scheidet auch in diesem Fall aus, da ein Kriegszustand zwischen Danzig und dem Deutschen Reich nicht bestand997. Ein allgemeines Gewaltoder Annexionsverbot, dessen Verletzung unter Umständen die Nichtigkeit der Einverleibung zur Folge hätte haben können, bestand im Jahre 1939 noch nicht998 . Schließlich handelte es sich bei der Eingliederung Danzigs mangels eines Kriegszustandes mit dem Deutschen Reich auch nicht um eine vorzeitige und daher unwirksame Annexion "durante bello" 999. Demgegenüber hat Böttcher eine analoge Anwendung des Rechts der occupatio be/lica auf den Fall Danzig mit der Begründung vertreten, die Eingliederung der Freien Stadt habe in einem engen Zusammenhang mit dem Krieg gegen Polen gestanden; im übrigen müsse der "militärische Friedensokkupant" a fortiori den für den Kriegsokkupanten geltenden kriegsrechtliehen Beschränkungen unterliegen 1000• Diese Auffassung übersieht jedoch den Zweck 994 Bottcher, 88-96 nennt Zweifel an der völkerrechtlichen Vertretungsbefugnis des fiir Danzig handelnden Organs sowie- als Wirksamkeitshindernis kaum überzeugend- die Verletzung bestehender Verträge, jeweils aber ohne ein konsequentes Ergebnis; Schweisfurth, in: EPIL 12, 87 verneint insoweit bereits die Vertragsschlußflihigkeit Danzigs. 995 So Böttcher, 99. 996 Vgl. oben S. 331 sowie allgemein im 1. Teil unter 8.III.3a (S. 119ff.). 997 Ebenso Böttcher, 94-96; zum insoweit begrenzten Regelungsgehalt des Paktes siehe oben im 1. Teil unter B.II.1b (S. 60 f.). 998 Dazu im I. Teil, B.II. (S. 54 ff.). Anders, aber nicht überzeugend fiir den Fall Danzigs Böttcher, 102-104, der die Völkerrechtswidrigkeit der nichtkriegerischen Annexion aus dem "Wesen" des Kriegsverbots sowie aus einem undifferenzierten Überblick über die Staatenpraxis herleitete; ohne nähere Begründungfiir die Völkerrechtswidrigk:eitB/umenwitz, Grundlagen, 68, 165. 999 Zu dieser Figur siehe oben l. Teil, B.I. (S. 53 f.).

1000 Bottcher, ll0-ll4; eine occupaho be/lica Danzigs nahm z.B. auchH. Jellinek, Erwerb, 213 f.

an, eine unwirksame Annexion "durante bello" z.B. Schweisfurth, in: EPIL 12, 87 und wohl auch v.

Hagens, in. WdV I, 310.

B. Die Einzellalle-Polen 1939

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der mit der vorzeitigen Annexion verknüpften Nichtigk:eitsfolge, die allein im völkerrechtlichen Effektivitätsgedanken begründet war. Solange der endgültige Ausgang des Kriegsgeschehens unklar war, eine Rückgängigmachung der zunächst erfolgten Eroberung also noch möglich erschien, wurde die Besetzung des gegnerischen Gebiets als nicht effektiv und daher unwirksam angesehen. Eine solche Bedrohung des gewaltsam erworbenen Besitzstandes bestand jedoch grundsätzlich nicht im Falle der vollständigen Besetzung eines Staates im Frieden. Entsprechend war die Eingliederung Danzigs in das Deutsche Reich mehr als fünf Jahre lang effektiv vollzogen; eine Konterkarierung dieser Effektivität dadurch, daß die "Befreiung" Danzigs zu den Kriegszielen der Alliierten gehörte, ist nicht erkennbar. Weder abstrakt noch im konketen Fall sind daher die logischen Voraussetzungen fiir eine Ausdehnung des Rechts der kriegerischen Besetzung im Wege der Analogie oder gar eines Argumentes a fortiori gegeben. Die als einseitige Gebietsaneignung von Seiten des Deutschen Reiches interpretierte Eingliederung Danzigs war somit völkerrechtlich wirksam1001 und stellte daher eine - wegen der fehlenden Souveränität des Inkorporationsobjekts: nur - "inkorporationsähnliche" Eingliederung dar.

44. Polen 1939? Der am Ende des 1. Weltkrieges entstandene polnischen Staat wurde, nachdem er im September 1939 der deutsch-sowjetischen Aggression zum Opfer gefallen war, von einigen als durch Debellation untergegangen angesehen1002, so daß auf die Relevanz dieses historischen Vorgangs fiir den Inkorporationstatbestand kurz einzugehen ist. Eine Aufteilung des polnischen Staatsgebiets hatte Ziff. 2 des geheimen Zusatzprotokolls zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag vom 23 .8.1939, dem sog. Hitler-Stalin-Pakt, vorgesehen, wonach die "Interessensphären

1001 Dementsprechend wurden Personen mit Danziger "Staatsangehörigkeit" in den USA als "enemy aliens" interniert, vgl. z.B. United States ex rel. Zeller v. Watkins, 167 F.2d 279; zur in bezug auf die Wirksamkeit der Inkorporation Danzigs widersprüchlichen Rechtsprechung in den Niederlanden vgl. ILR 1951, 258-262. 1002 Von deutscher Seite z.B. F Klein, AöR 32 (1941), 229, 252; Grewe, MAP 7 (1940), 686 f; RGZ 167, 274 (277); weitere Nachw. bei H. Jellinek, Erwerb, 119 f ; von sowjetischer Seite z.B. die Note des stellv. Volkskommissars filr auswärtige Angelegenheiten, Potemkin, v. 17.9.1939 an den polnischen Botschafter in Moskau, zit. bei Marek, 428 f. Eine debellatio nimmt z.B. Rousseau III, 192 an, eine Annexion z.B. Herrero y Ru bio I, 228; wohl auchMaresca, 35.

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2. Teil: Historische Beispiele

Deutschlands und der UdSSR ungefähr durch die Linie der Flüsse Narew, Weichsel und San" voneinander abgegrenzt werden sollten 1003 . Nachdem Deutschland den Angriff gegen Polen am 1.9.1939 begonnen hatte, marschierten sowjetische Truppen am 18.9. von Osten in polnisches Staatsgebiet ein. Im Anschluß an die vollständige militärische Besetzung bestimmte ein deutschsowjetischer Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28.9.1939 die "Grenze der beiderseitigen Reichsinteressen im Gebiete des bisherigen Polnischen Staates", deren genauer Verlauf durch ein Zusatzprotokoll vom 4.10.1939 festgelegt wurde1004. Während die Sowjetunion den ihr zugefallenen Gebietsanteil durch Dekrete vom 1. und 2.11.1939 in ihr Staatsgebiet integrierte 1005 , unterstellte das Deutsche Reich die von ihm beanspruchten Teile des polnischen Staatsgebiets einem differenzierten Regime: Bestimmte westliche Gebietsteile, die man in der Folge unter der Bezeichnung "eingegliederte Ostgebiete" zusarnmenfaßte, wurden als integrale Bestandteile des deutschen Staatsgebiets inkorporiert1006. Aus den östlich davon gelegenen Gebieten bildete ein Führererlaß das "Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete", welches 1940 in "Generalgouvernement" umbenannt wurde1007. Die rechtliche Einordnung dieses Territorialgebildes entzog sich weitgehend den traditionellen Figuren des Staats- und Völkerrechts. Einerseits sollte dem "Generalgouvernement" keine eigene völkerrechtliche Subjektsqualität zukommen, so daß es im Verhältnis zu Drittstaaten als Teil des "Großdeutschen Reiches" galt. Andererseits sollte es staatsrechtlich nicht in das Gebiet des Reiches, sondern nur in dessen "allgemeine staatliche Ordnung" bzw. in den "großdeutschen Machtbereich" eingegliedert sein und dem Deutschen Reich gegenüber Ausland (sie!) darstellen1008. Wollte sich das Deutsche Reich das als "Generalgouvernement" bezeichnete Gebiet somit nur in einem allgemeineren Sinne völkerrechtlich zuordnen, so bestehen schon am Vorliegen einer

1003 Text des Vertrages z.B. in RGBI 1939 II, 968; NRG3 37, 637; Text des Zusatzprotokolls in ADAP, Serie D VII, 206, geändert durch das geheime Zusatzprotokoll v. 28.9.1939 (ADAP, Serie D VIII, 129); beide auch in EA 1947, 1043 und Grewe, Fontes III/2, 1129; fiir eine rechtliche Würdigung vgl. etwa Gornig, ROW 1989, 395-407. 1004 Text von Vertrag und Protokoll in RGBI1940 II, 4; NRG3 37, 638. 1005 Marek, 431. 1006 Vgl. den Erlaß über Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete v. 8.10.1939 (RGBI I, 2042)

undF Klein, AöR 32 (1941), 230.

1007 Vgl. den Erlaß über die Verwaltung der besetzten polnischen Gebiete v. 12.10.1939 (RGBI I, 2077) undF Klein aaO, 231-234. 1008 Dazu vgl. F Klein aaO, 255-260; Grewe, MAP 7 (1940), 687 f.

B. Die Einzeltlilie - Baltische Staaten 1940

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wirklichen lnkorporationshandlung einige Zweifel. Der äußere Sachverhalt der deutsch-so\\jetischen Aggression gegen Polen stellt sich vielmehr als eine besondere Form der Staatsteilung dar, die nur in bezugauf einzelne Gebietsteile des polnischen Staates dem völkerrechtlichen Inkorporationstatbestand unzweifelhaft genügte. Selbst wenn man aber das äußerliche Vorliegen einer Inkorporationshandlung annähme, stünde ihre fehlende Wirksamkeit der Einordnung als Präzedenzfall der Inkorporation entgegen. Die Annexion polnischen Staatsgebiets durch das Deutsche Reich erfolgte während eines andauernden Krieges ("durante bello"), den die Verbündeten Polens nach dessen militärischer Niederwerfung unter Beteiligung polnischer Verbände weiterführten. Die administrative Kontinuität des polnischen Staates kam darüber hinaus in der Anerkennung einer polnischen Exilregierung zum Ausdruck1009. Unter diesen Voraussetzungen wurde der deutschen Besetzung polnischen Gebiets in Staatenpraxis und Literatur die für eine wirksame Annexion erforderliche Effektivität abgesprochen, so daß es bereits am objektiven Annexionstatbestand fehlte. Die deutsche Alleignung polnischen Gebiets war aus diesem Grund nach ganz h.M. unwirksam1010. Der polnische Staat bestand auch nach dem September 193 9 rechtlich fort, so daß eine Inkorporation ausscheidet.

45. Die baltischen Staaten 1940 Zu den am meisten diskutierten Inkorporationsfallen gehört die fast zeitgleich erfolgte Eingliederung der baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland in die So\\jetunion, die mehr als fiinfzig Jahre andauerte und erst im Sommer 1991 ihr friedliches Ende fand. Die drei Staaten waren am Ende des 1. Weltkrieges aus den Trümmern des russischen Zarenreiches als souveräne Staaten entstanden1011 . Sie wurden in der Folge als anerkannte Mitglieder der Staatengemeinschaft voll in das Geflecht der völkerrechtlichen Beziehungen der Nachkriegszeit einbezogen und bereits im September 1921 in den Völkerbund aufgenommen. 1009 Da:z.uMarek, 439 f. mwN.

IOIO Vgl. z.B. Bindschedler, in: WdV I, 69; v. Puttkammer, in: WdV ll, 776; Berber ll, 133, Fn. 2; Dahm I, 90; H. Jel/inek, Erwerb, 122 f.; B6ttcher, 106; O'Connel/I, 436; Akehurst, 148; Randelzhofer/D6rr, 13; aus der Praxis z.B. das Nürnberger Urteil gegen die Hauptkriegsverbrecher v. 1.10.1946

(Prozeß I, 285); BGH MDR 1959, 561 (562). Zur unwirksamen Annexion "durante bello" siehe schon oben I. Teil, unter B.l. (S. 53 f.). 1011 Dazu Baade, in: WdV I, 143-I45; Hough, NYLSJICL 6 (I984/85), 355-358.

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2. Teil: Historische Beispiele

Stellvertretend fiir ihre Teilnahme am völkerrechtlichen Verkehr seien die Vertragsbeziehungen der baltischen Staaten zur Sowjetunion hervorgehoben. Nachdem alle drei Staaten im Jahre 1920 noch mit der RSFSR Friedensverträge abgeschlossen hatten 1012, fiihrte die "Normalisierung" des Verhältnisses zur mittlerweile entstandenen Sowjetunion zur Schaffung eines veritablen Vertragssystems. Für den vorliegenden Zusammenhang relevant sind insbesondere die jeweils im bilateralen Verhältnis abgeschlossenen Nichtangriffsverträge von 1926 bzw. 1932 1013 , in denen sich die Parteien gegenseitig zum Gewaltverzicht und zur Achtung von Souveränität und territorialer Integrität verpflichteten, sowie das sog. Litwinow-Protokoll vom 9. Februar 1929, durch das der Briand-Kellogg-Pakt zwischen den beteiligten Staaten in Kraft gesetzt wurde 1014. Ebenso wie die Sowjetunion waren auch alle baltischen Staaten dem Pakt selbst beigetreten1015 . Schließlich sei noch das Londoner Abkommen über die Definition der Aggression vom 3. Juli 1933 genannt, an dem unter anderen die Sowjetunion, Lettland und Estland beteiligt waren und dessen Inhalt auch in einem bilateralen Vertrag zwischen Litauen und der Sowjetunion vom 5.7.1933 vereinbart wurde 1016. Im Verhältnis zueinander schlossen Litauen, Lettland und Estland am 12.9.1934 einen Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit, in dem sie regelmäßige Konsultationen in Fragen der Außenpolitik verabredeten1017. Als souveräne Staaten und Völkerrechtssubjekte waren die drei baltischen Staaten zweifellos taugliche Objekte einer Inkorporation. In den ausschließlichen Einflußbereich der Sowjetunion gerieten die baltischen Staaten infolge der förmlichen deutsch-sowjetischen Interessenabgrenzung im Jahre 1939 1018 . Nachdem noch das Geheime Zusatzprotokoll zum

1012 Friedensverträge mit Estland v. 2.2.1920 (LNTS 11, 29), Litauen v. 12.7.1920 (LNTS 3, 105) und mit Lettland v. 11.8.1920 (LNTS 2, 195); zum Ganzen vgl. Makarov, ZaöRV 10 (1940/41), 688691. 1013 Nichtangriffspakte der Sowjetunion mit Litauen v. 18.9.1926 (LNTS 60, 145), verlängert bis zum 31.12.1945 (vgl. LNTS 125, 255 und 186, 267); mit Lettland v. 5.2. 1932 (LNTS 148, 113), verlängert bis zum 31.12.1945 (vgl. LNTS 148, 118); mit Estland v. 4.5.1932 (LNTS 131, 297), ebenfalls bis zum 31.12.1945 verlängert (vgl. LNTS 150, 87). 1014 Text in LNTS 89, 369. Parteien waren zunächst die Sowjetunion, Polen, Estland, Lettland und Rumänien; Litauen trat am 5.4.1929 gleichzeitig dem Litwinow-Protokoll und dem Pakt selbst bei, vgl. Meissner, Sowjetunion, 5. 1°15 Makarov, ZaöRV 10 (1940/41), 694. 1016 Meissner, Sowjetunion, 6; Texte in LNTS 147, 67 und 148, 79. 1017 Text in LNTS 154, 93; dazuMeissner, Sowjetunion, 10 f 1018 Dazu die SchilderungbeiMeissner, Sowjetunion, 49-56.

B. Die Einzelfälle - Baltische Staaten 1940

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Nichtangriffsvertrag vom 23.8.1939 die Nordgrenze Litauens als Grenze der deutschen "Interessensphäre" bezeichnet hatte, änderte das Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28.9.193 9 dies dahingehend ab, daß auch das Gebiet Litauens vollständig in die "Interessensphäre der UdSSR" falle 1019. Auf Druck Moskaus schlossen die baltischen Staaten in der Folge Beistandspakte mit der Sowjetunion ab, die dieser Stützpunkt- und Stationierungsrechte auf dem Gebiet ihrer Vertragspartner einräumten; alle drei Verträge enthielten jedoch die Bestimmung, daß ihre Durchführung nicht die souveränen Rechte der vertragschließenden Parteien, insbesondere ihre Staats- und Wirtschaftsordnung beeinträchtigen dürfe102o. Im Juni 1940 spitzte sich die Situation zu, als die Sowjetunion unter anderem eine von ihr behauptete militärische Zusammenarbeit der baltischen Staaten untereinander zum Vorwand nahm, diese weiter zu bedrängen 1021 . Am 14. Juni forderte der sowjetische Außenminister Molotow gegenüber dem in Moskau befindlichen litauischen Außenminister Urbsys in ultimativer Form die Umbildung der litauischen Regierung sowie das Einverständnis zum Einmarsch sowjetischer Truppen in Litauen 1022. Am Morgen des 15. Juni teilte die litauische Regierung die Annahme des Ultimatums mit. Während sich der sowjetische Einmarsch nach Litauen vollzog, richtete Molotow am 16. Juni gleichlautende Noten mit denselben ultimativen Forderungen an die Gesandten Estlands und Lettlands. Nachdem auch diese Ultimaten erfüllt wurden, begann am 17. Juni der Einmarsch sowjetischer Truppen nach Estland und Lettland. Parallel zur militärischen Besetzung durch sowjetische Truppen kam es in allen drei baltischen Staaten unter dem Einfluß von Beauftragten der Sowjetregierung zur Bildung volksdemokratischer, prosowjetischer Regierungen1023 . Der Vertrag über eine baltische Entente von 1934 wurde am 3.7.1940 einvernehmlich aufgehoben1024. Die in den drei Staaten am 14. und 15.7.1940 abge1019 Vgl. ADAP, Serie D VIII, 129; Grewe, Fontes III/2, 1192 (1194 f.). 1020 Vertrag mit Estland v. 28.9.1939 (LNTS 198, 223), Lettland v. 5.10.1939 (LNTS

198, 381) und Litauen v. 10.10.1939 (NRfrl 38, 21); daz.uMeissner, Sowjetunion, 57-67;Makarov, ZaöRV 10 (1940/41), 695-698.

1021 Vgl. die Schilderung der Ereignise bei Meissner, Sowjetunion, 71-90; Makarov, ZaöRV 10 (1940/41), 698-705; Hough, NYLSRCL 6 (1984/85), 374-384. 1022 Wortlaut der sowjetischen Note beiMakarov, ZaöRV 10 (1940/41), 699 f. 1023 Dazu vgl. Meissner, Sowjetunion, 78 f. 1024 Vgl. die Erklärung des estnischen Staatspräsidenten, NRG3 38, 340.

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2. Teil: Historische Beispiele

halteneo Neuwahlen erbrachten mit Hilfe erheblicher Manipulationen die von Moskau gewünschten Ergebnisse zugunsten der kommunistischen Verbände1025. Die neugewählten Parlamente verabschiedeten am 21. und 22.7.1940 Deklarationen zur Umwandlung ihrer Staaten in Sozialistische So\\jetrepubliken und über die Beantragung des Beitrittes zur UdSSR1026. Nachdem Abordnungen der drei Staaten deren Anträge auf Beitritt zur So\\jetunion vor dem Obersten Sowjet der UdSSR begründet hatten, verabschiedete das sowjetische Bundesparlament die jeweiligen Gesetze über die Eingliederung der litauischen (3.8.), lettischen (5.8.) und der estnischen (6.8.1940) So\\jetrepubliken in die So\\jetunion1027. Durch Gesetz vom 7. August 1940 nahm der Oberste So\\jet der UdSSR diejenigen Änderungen und Ergänzungen der so\\jetischen Bundesverfassung vor, die durch die Aufnahme der vierzehnten, fünfzehnten und sechzehnten Bundesrepublik in die So\\jetunon notwendig geworden waren 1028. Am 11.8.1940 teilte die so\\jetische Regierung betroffenen Drittstaaten mit, daß mit der Eingliederung der baltischen Staaten in die Sowjetunion die Tätigkeit der diplomatischen und konsularischen Vertretungen dieser Länder eine Ende habe, und forderte die fremden Regierungen auf, ihre Vertretungen in den baltischen Staaten aufzulösen. Dieser Aufforderung sind die einzelnen Staaten nachgekommen1°29 . In der Folgezeit entstand aus der ideologischen Spaltung der Staatengemeinschaft ein Konflikt um die Anerkennung der beschriebenen Eingliederungen. Vor allem die USA übertrugen die auf dem amerikanischen Kontinent entwikkelte Politik der Nichtanerkennung gewaltsamen Gebietserwerbs auf den Fall der baltischen Staaten1030. Dieser politische Standpunkt wurde von den meisten westlichen Staaten übernommen, ohne daß man diese Haltung jedoch mit letzter Konsequenz durchhielt. Schon im Juli 1942 erkannte die niederländische Exilregierung in London die so\\jetische Souveränität über die baltischen

1025 Meissner, Sowjetunion, 83-87. 1026 Meissner aaO, 88-90. 1027 Meissner aaO, 92 f.; Makarov, ZaöRV 10 (1940/41), 703 f.;

(1940/41), 182 f.; engl. Übersetzung in BFSP 144, 526 f.

Wortlaut der Gesetze in ZOR 7

1028 Text in ZOR 7 (1940/41), 183; engl. Übersetzung in BFSP 144, 528 f. 1029 Makarov, ZaöRV 10 (1940/41), 706; filr die Schließung der U.S. Gesandtschaften in Kaunas,

Tallinn und Riga vgl. z.B. Dep't St. Bull. 3 (1940), 199.

1030 Vgl. nur die Erklärung des amtierenden U.S. Außenministers Welles v. 23.7.1940, Dep't St. Bull. 3 (1940), 48; das af!idavit des Secretary of State in 188 F.2d 1000 (1003) (1951); weitere Nachw. beiMeissner, Sowjetunion, 291-297 undHough, NYLSßCL 6 (1984/85), 391-412. Zur sog. Stimson-Doktrin siehe oben l. Teil, B.Il.3 (S. 69 ff.).

B. Die EinzeLtalle - Baltische Staaten 1940

349

Staaten ohne Vorbehalte de iure an 1031 . Wie schon Frankreich, Schweden und Italien im Herbst 19401032, erklärten in der unmittelbaren Nachkriegszeit das Vereinigte K'nigreich und Kanada die de:facto-Anerkennung der Inkorporationen1033. Die Haltung Australiens schwankte zwischen der Anerkennung de facto und de iure 1034, Spanien erkannte die Einverleibung wenigstens implizit an1035. Durch den Abschluß von Entschädigungsabkommen mit der So\\jetunion, die an die Annexionen von 1940 anknüpften, behandelten einige westliche Staaten die baltischen Republiken in der Folge als zum Staatsverband der UdSSR gehörend 1036. Während das Deutsche Reich die Annexion der baltischen Staaten entsprechend der mit der So\\jetunion getroffenen Interessenabgrenzung zunächst anerkannt hatte 1037, schloß sich die Bundesrepublik Deutschland der westlichen Nichtanerkennungspolitik an1038. Die meisten 1031 So die Rechtbank Rotterdam, NILR 2 (1955), 420 (421); bestätigt zuletzt in einer Erklärung des niederländischen Außenministers v. 30.8.1991, NYIL 23 ( 1992), 297 (298). 1032 Meissner, Sowjetunion, 300, 302; fiir eine de-facto-Anerkennung durch Dänemark Baade, in: WdV I, 149; eine de-iure-Anerkennung durch Schweden nimmt z.B. Yakemtchouk, AFDI 37 (1991), 268 an.

1033 Erklärung des britischen Foreign Office in einem Verfahren vor dem Court of Appeal, AD. 1946, 12 (13); Stellungnahme von Unterstaatssekretär Mayhew im Unterhausam 23.5.1947, zit. bei Meissner, Sowjetunion, 298; certificate des kanadischen Secretary of State for Externat Affairs v. 2.1.1947 (AD. 1948, 177); Erklärung des Staatssekretärs im kanadischen Außenministerium v. 19.5.1987, CanYIL 26 (1988), 336 f. 1034 Im Juli 1974 erkannte die australische Labour-Regierung die Inkorporation de iure an, vgl. Dunsdorfs, The Baltic Dilemma, 37-73, doch bereits am 12.11.1975 zog die neugewählte konservati-

ve Regierung diese Anerkennung zurück, vgl. RGDIP 80 (1976), 890; in der Folge betonte die australische Regierung stets die verweigerte de-iure-Anerkennung und räumte nur eine Anerkennung der Realitäten ein, vgl. Erklärungen von Außenminister Hayden v. 16.9.1986 und des australischen Parlaments v. 25.9.1986, beide AustrYIL 11 (1991), 237 sowie auch AustrYIL 13 (1992), 223-225.

1035 Vgl. die Erklärung des spanischen Außenminsters, Ordoiiez, vor dem Auswärtigen Ausschuß des Parlaments v. 29.8.1991, SpanYIL 1 (1991), 48 f.

1036 Ginsburgs, Soviet Views, 214-218 nennt den Abschluß solcher Abkommen u.a. mit Schweden (1941, 1964), Norwegen (1959), Dänemark (1964) und den Niederlanden (1967); dabei soll z.B. in dem Vertrag mit Norwegen von der baltischen "decision to join the USSR" die Rede gewesen sein. 1968 schloß das Vereinigte Königreich mit der Sowjetunion einen Vertrag über die Beilegung britischer Ansprüche in bezug auf die baltischen Staaten, wozu auch das den baltischen Zentralbanken gehörende, in London eingelagerte Gold herangezgen wurde, vgl. Oppenheim!Jennings/Watts I, 214 f., Fn. 24; Hough, NYLSnCL 6 (1984/85), 418-423.

1037 Ebenso z.B. Baade, nR 7 (1957), 45-52; LG Düsseldorf, nR 7 (1957), 411 f.; LG Lübeck, FamRZ 1957, 223 (224). Anhaltspunkt dafiir ist z.B. die Präambel des deutsch-sowjetischen Grenzvertrages v. 10.1.1941, NRG3 39, 450; daß der Austausch der bereits ausgefertigten Ratifikationsurkunden infolge des zwischenzeitliehen Kriegsausbruchs zwischen beiden Staaten unterblieben ist, änderte entgegen Meissner, Sowjetunion, 305 -an der zum Ausdruck gebrachten Anerkennung nichts mehr, da der Vertrag bereits mit seiner Unterzeichnung in Kraft getreten war.

1038 Vgl. z.B. Stellungnahme des Bundesinnenministers v. 3.8.1951 und Rundschreiben desselben an die Landesinnenminister V. 12.9.1952, beide nR 7 (1957), 410; Antworten der Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Adam-Schwätzer, v. 23.10.1990 (BT-Drs. 1118305, S. 1) und v. 17.12.1990 (BT-

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2. Teil: Historische Beispiele

neuen Staaten, die erst nach dem 2. Weltkrieg diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion aufnahmen, dürften jedoch die baltischen Republiken als integrale Gliedstaaten der UdSSR angesehen haben1039, so daß der Untergang der souveränen baltischen Staaten mit der Zeit vom größeren Teil der Staatengemeinschaft stillschweigend anerkannt wurde1040. Selbst die USA begannen in der Mitte der achtziger Jahre der andauernden Effektivität der sowjetischen Inkorporation Tribut zu zollen: 1984 stimmte das U.S. State Department im Fall Linnas zum ersten Mal der Überstellung eines (ehemaligen) Staatsangehörigen eines baltischen Staates an die Sowjetunion zu mit der Folge, daß das zuständige Einwanderungsgericht in seiner Entscheidung vom 9.4.1985 anerkannte, daß die UdSSR die Souveränität über das Heimatland des Betroffenen, die Republik Estland, erworben habel041. In der älteren nationalen Rechtsprechung finden sich sowohl Anerkennung wie Ablehnung der Einverleibungen1042, wobei allerdings diejenigen Gerichte, die es ablehnten, aus den tatsächlich erfolgten Inkorporationen rechtliche Konsequenzen zu ziehen, sich dafür überwiegend an Vorgaben der Exekutive oder einer Besatzungsmacht orientierten1043 . Drs. 11/8546, S. 2); Verbalnote des Auswärtigen Amtes an die Botschaft des Königreichs Saudi-Arabien v. 1.12.1993 (Az. 500-500.34/3); weitere Nachw. beiMeissner, Kontinuität, 83-86; zur Bindung der mit dem Deutschen Reich identischen Bundesrepublik vgl. aber Baade, nR 7 (1957), 57-68.

1039 Meissner, Kontinuität, 87; Yakemtchouk, AFDI 37 (1991), 267. 1040 Ebenso in jüngerer Zeit z.B. Tichy, AJPIL 44 (1992), 127; Ruiz Fabri, AFDI 38 (1992), 162;

Czaplinski, RBDI 26 (1993), 386 f.; Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rdn. 1394.

1041 Den Fall berichtetHough, NYLSnCL 6 (1984/85), 482 f., Fn. 568. 1042 Für eine wirksame Inkorporation in die UdSSR z.B. OLG Stuttgart, SJZ 1946, 153; LG Düs-

seldorf, nR 7 (1957), 411 f.; LG Lübeck, FarnRZ 1957, 223 (224); OLG Zweibrücken, RzW 1975, 328; Rechtbank Rotterdam, NILR 2 (1955), 420 (422 f.), besWigt durch das Berufungsgericht (Hof) im Haag, NILR 5 (1958), 92, das sogar ausdrücklich das Vorliegen einer Annexion ablehnte und einen freiwilligen Beitritt annahm; Hof Amsterdam, N.J. 1943, No. 340; Tribunal Civil de Bruxelles, Pas. Beige 1952, III, 40 f(siehe schon oben l. Teil, zu Fn. 318). Anders z.B. OLG Celle, MDR 1949,357 mit dem Argument, die Einverleibungen seien "völkerrechtlich niemals anerkannt worden".

1043 Dies gilt insbes. fiir die Rechtsprechung im Nachkriegsdeutschland; deutlich z.B. OLG Stuttgart, SJZ 1947, 383, wo das Gericht zunächst einräumte, daß der estnische Staat "infolge der Annexion durch die UdSSR aufgehört (habe) zu bestehen", sich aber gehindert sah, daraus rechtliche Konsequenzen zu ziehen, da die amerikanische Besatzungsmacht die Annexion nicht anerkannt habe; das KG stellte im Fall eines der Republik Lettland gehörenden Gebäudes auf die Ansicht der USA ab, da das Gehlude im amerikanischen Sektor Berlins belegen war, RzW 1955, 211 (212); ebenso auf Anweisung der britischen Besatzungsbehörden z.B. OLG Kiel, SchlHA 1946, 372 (373); LG Göttingen, MDR 1948, 361 f.; fiir eine Bindung an die Auffassung aller drei westlichen Besatzungsmächte z.B. ORGE 13, 236 (242). Für die Bindung U.S.-amerikanischer Gerichte an die Nichtanerkennungspolitik der U.S. Regierung vgl. z.B. 35 F.Supp. 983 (1940); 37 F.Supp. 819 (1941); 39 F.Supp. 810 (1941); 40 F.Supp. 92 (1941); 80 F.Supp. 683 (1948); 116 F.Supp. 717 (1953); 133 F.2d 719 (1943); 145 F.2d 431 (1944); 188 F.2d 1000 (1951); ebenso der High Court von Irland, AD. 1941-42,91. Anders dagegen 127 F.2d 404 (1942) filr den Fall, daß nur die Rechte litauischer Bürger betroffen seien, da

8. Die Einzelfälle- Baltische Staaten 1940

351

Die völkerrechtliche Würdigung der so\\jetischen Einverleibungen kann zunächst danach unterscheiden, ob diese mit dem völkerrechtlich wirksam erklärten Einverständnis der baltischen Staaten erfolgten oder nicht. Für eine äußerlich konsentierte Eingliederung spricht die förmliche Beantragung des Beitritts zur UdSSR durch die jeweils faktisch im Amt befindlichen baltischen Regierungen oder Volksvertretungen. Auch wenn ihre Machtübernahme mit Hilfe so\\jetischer Drohungen und unter Verletzung der bis dahin geltenden baltischen Verfassungen erfolgt war, so hatten sie sich doch in allen drei Staaten als Inhaber der Staatsgewalt effektiv durchgesetzt und waren daher fiir das grundsätzlich "verfassungsblinde" Völkerrecht prinzipiell als fiir die Vertretung ihrer Staaten zuständigen Organe anzusehen 1044. Eine aufgezwungene So\\jetisierung der baltischen Staaten verstieß zwar wohl gegen die mit der UdSSR bestehenden Verträge, doch ist nicht erkennbar, daß das damals geltende Völkerrecht aus dem "einfachen" Vertragsverstoß die Konsequenz der fehlenden Vertretungsbefugnis einer effektiven Regierung gezogen hätte. Sieht man eine verfassungsrechtliche Legalität und demokratische Legitimität einer Regierung fiir ihre völkerrechtliche Vertretungsbefugnis als unerheblich an, so könnte man also immerhin zu dem Schluß kommen, daß die baltischen Staaten aus der Sicht des Völkerrechts mit ihrem Einverständnis in die UdSSR eingegliedert wurden. Die Wirksamkeit dieses Einverständnisses dürfte allerdings daran scheitern, daß es unter offensichtlichem Verstoß gegen grundlegende formelle und materielle Bestimmungen der baltischen Verfassungen erteilt wurde 1045 . Einen originären revolutionären Akt, der diese Vorschriften als "materielle" Verfassungsordnung der baltischen Staaten beseitigt hätte, wird man angesichts der "Fernsteuerung" der So\\jetisierung aus Moskau nicht annehmen könnenl 046. Geht man demzufolge von einer nicht konsentierten Eingliederung aus, so ist bei ihrer völkerrechtlichen Beurteilung als abgeschlossener Vorgang zunächst der Grundsatz des intertemporalen Rechts zu beachten 1047. Diese Madann zu beachten sei, daß die Sowjetregierung zum fraglichen Zeitpunkt "did actually exercise govenunental authority in Lithuania". 1044 Ebenso Baade, in: WdV I, 148 f.; allgemein dazu Dahm l, 132; Oppenheim/Lauterpacht l, 131-133; Fenwick, International Law, 182-184. Gloria, in: Ipsen, Völkerrecht, § 22 Rdn. 40 weist daraufhin, daß "(a)lle Versuche, an die Anerkennung neuer Regierungen neben der Effektivität weitere Voraussetzungen zu knüpfen, sich bisher nicht (haben) durchsetzen können". 1045 Dazu Meissner, Sowjetunion, 248 f; anders Baade, in: WdV I, 148 f; zur völkerrechtlichen Relevanz dieser Verfassungsverstöße vgl. heute Art. 46 WVK. 1046 Marek, 387-389. 1047 Baade, nR 7 (1957), 37; vgl. schon oben 1. Teil, 8 Il.6 a.E. (S. 105 f).

352

2. Teil: Historische Beispiele

xime, die gerade in bezug auf die "Baltenannexionen" häufig übersehen wird1048, zwingt dazu, der völkerrechtlichen Subsumtion diejenigen Regeln zugrunde zu legen, die im 1940 geltenden Völkerrecht nachweisbar waren. Im Vordergrund steht auch hier die Verletzung bestehender Verträge. Eine Annexion verstieß jedenfalls gegen das in den bilateralen Nichtangriffsverträgen enthaltene Gebot der Achtung von Souveränität und territorialer Integrität. Aus diesen Vertragsverletzungen folgt aber entsprechend den Ausführungen zum "Anschluß" Österreichs 1049 nicht ohne weiteres die völkerrechtliche Nichtigkeit der einseitigen so\\jetischen Maßnahmen. Eine Verletzung des Briand-Kellogg-Paktes muß auch hier ausscheiden, da ein Kriegszustand zwischen der So\\jetunion und den baltischen Staaten nicht bestand. Aus demselben Grund fand zwischen ihnen auch das damals geltende Kriegsvölkerrecht keine Anwendung, so daß die Rechtswidrigkeit der Annexion nicht auf Art. 43 HLKO gestützt werden kann1050. Ein Verstoß gegen Art. 10 der Völkerbundsatzung kommt ebensowenig in Betracht, da die UdSSR bereits im Dezember 1939 aus der Organisation ausgeschlossen worden war1051 . Schließlich führt die Tatsache, daß die Einverleibungen von der Drohung mit militärischer Gewalt begleitet waren, nicht zu ihrer Völkerrechtswidrigk.eit, da ein entsprechendes Verbot im Jahre 1940 ebensowenig Bestandteil des geltenden allgemeinen Völkerrechts war wie ein allgemeines Annexionsverbot1052. Die Eingliederungen der baltischen Staaten waren daher zum Zeitpunkt ihrer Vornahme zwar wegen Verstoßes gegen partikuläres Völkervertragsrecht rechtswidrig, jedenfalls aber als Annexionen völkerrechtlich wirksam und werden

1048 Z.B. wenn das Gewaltverbot der UN-Charta herangezogen wird, wie z.B. von Webb, J.Leg. 17 (1990/91), 315; Kherad, RGDIP 96 (1992), 856; oder wenn sogar die Verletzung von ius cogens gerügt wird, wie z.B. von Himmer, Emol)' ILR 6 (1992), 253 f., 272; Seiffert, Selbstbestimmungsrecht. 31, der zudem ausdrtlcklich auf Art. 53, 64 WVK verweist. Zumindest irritierend daher die Antwort der Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Adam-Schwätzer, v. 23.10.1990, die in diesem Zusammenhang eine Anwendung der "Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen" betonte, vgl. BT-Drs. 11/8305, S. 1 f. 1049 Vgl. oben S. 331 und allgernein oben l. Teil, B.III.3a (S. 119 ff.). 1050 Wie dies z.B. Meissner, Sowjetunion, 250 f. tut. 1051 Beschluß des Völkerbundsrates v. 14.12.1939 (LNOJ 1939, 505-508); übersehen z.B. von

Hough, NYLSllCL 6 (1984/85), 390; Himmer, Emory ILR 6 (1992), 266.

1052 Siehe oben l. Teil, B II mit Zusammenfassung unter 6. (S. 102 ff.). Wie hier auch z.B. Baade, in: WdV I, 149; ders., nR 7 (1957), 40 f Nicht überzeugend daher z.B. Meissner, Sowjetunion, 25 1; ders., Kontinuität, 78 f.; Marek, 390; Dolzer, FAZ v. 21.10.1989, S. 6; Waitz v. Eschen, Osteuropa 42 (1992), 321; Gornig, Staatennachfolge, 58, Fn. 206.

B. Die Einzelftlle - Baltische Staaten 1940

353

daher .zu Recht als Beispiele fiir Staatensukzessionen durch Inkorporation genannti053_ Dennoch hat sich auch in diesen Fällen in Staatenpraxis und Schrifttum die fiktive Betrachtung durchgesetzt. Als Litauen, Lettland und Estland 1991 im Zuge des "Zerfalls" der Sowjetunion erneut als souveräne Staaten entstanden, wurde entweder dieser Vorgang als das Wiederaufleben einer juristisch nie erloschenen Eigenstaatlichkeit fingiert oder wenigstens die Identität der "wiedererstandenen" mit den 1940 annektierten Staaten konstruiert 1054. Die drei Staaten, die in ihren Souveränitätserklärungen aus den Jahren 1988/89 noch von ihrer Eingliederung in die UdSSR ausgegangen waren1055, erklärten letztlich nicht die Abspaltung von bzw. den Austritt aus diesem Staatsverband, sondern die "Wiederherstellung ihrer staatlichen Unabhängigkeit" im Sinne einer restitutio ad integrum 1056• Die Staatengemeinschaft übernahm ganz über1053 Z.B. von Castren, Acta Scand, 24 (1954), 62 f; Verzijl II, 128 und VII, 93; Dahm I, 105 oben; Oppenheim/Lauterpacht I, 156; O'Connell, Succession I, 214; Fenwick, International Law, 170; de Muralt, 40; Paenson, 142; Mochi Onory, 40 Fn. 3; Ronzitti, 25; Herrero y Rubio I, 235; Randelzhofer, VVDStRL 49 (1990), 146; v. Bogdandy, RDI 73 (1990), 65; Fischer/Köck, 74; Fastenrath, AJPIL 44 (1992), 24; Gornig, Staatennachfolge, ll5, 160; Ebenroth/Grashojf, ZVglRWiss 92 (1993), 5 f ("aus ordnungspolitischen Gründen"). Für einen Staatsuntergang auch schon Grewe, MAP 7 (1940), 686; Cansacchi, RdC 130 (1970-11), 20; flir eine "debellatio" z.B. Rousseau 111, 192, v. Treskow, 179.

1054 Vgl. nur Waitz v. Eschen, Osteuropa 42 (1992), 320-323; Kherad, RGDIP 96 (1992), 853857; Schilderung der Ereignisse.l990/9l z.B. bei Yakemtchouk, AFDI 37 (1991), 275-282. Allgemein zum Problem der "wiedererstandenen" Staaten oben l. Teil, Alll. (S. 46 ff.).

1055 Vgl. die Deklaration des Obersten Sowjets Estlands über die Souveränität der Estnischen SSR v. l6.ll.l988: "Im Jahre 1940 wurde der ... souveräne estnische Staat Bestandteil dei Sowjetunion" (Meissner, Baltische Nationen, 384); Deklaration des Obersten Sowjets der Litauischen SSR über die Souveränität Litauens v. 18.5.1989: "wurde im Jahre 1940 der souveräne litauische Staat ... der Sowjetunion angeschlossen ... " (ebd., 386); Deklaration Ober die Souveränität Lettlands v. 28.7.1989: "Im Jahre 1940 verlor Lettland ... seine staatliche Souveränität, die Republik Lettland wurde ... in die Sowjetunion eingeschlossen" (ebd., 385).

1056 Schweisforth, ZaöRV 52 (1992), 627. Vgl. z.B. den Akt des Obersten Rates der Republik Litauen über die Wiederherstellung des Litauischen Staates v. 11.3.1990: "Ausübung der souveränen Rechte des litauischen Staates wiederhergestellt" (Meissner, Baltische Nationen, 3 87); Gesetz der Litauischen Republik über die Wiederherstellung der Geltung der Verfassung Litauens vom 12.5.1938 v. 11.3.1990: "Wiederbelebung der verletzten souveränen Rechte des Volkes und litauischen Staates" (Meissner aaO, 388); Beschluß des Obersten Rates der Estnischen SSR Ober den staatlichen Status Estlands v. 30.3.1990: "staatliche Existenz der Republik Estland de jure nicht unterbrochen", "Unabhängigkeit der Republik Estland wiederherzustellen" (Meissner aaO, 389; FinnYIL 2 (1991), 523); Beschluß des Obersten Rates der Republik Estland v. 20.8.1991 (FinnYIL aaO, 525); Deklaration des Obersten Rates der Lettischen SSR Ober die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Republik Lettland v. 4.5.1990: "Eingliederung der Republik Lettland in die Sowjetunion völkerrechtlich nichtig, Republik Lettland besteht de jure weiterhin als Subjekt des Völkerrechts fort", "de-factoWiederherstellung der ... Republik Lettland" (Meissner aaO, 390). Dementsprechend bezog sich die Verfassung der Republik Estland v. 28.6.1992 in ihrer Präambel auf den 1918 proklamierten estnischen Staat, vgl. ROW 1994, 25. 23 Dörr

354

2. Teil: Historische Beispiele

wiegend diese Sichtweise und sprach von der "Wiedererlangung der Souveränität und Unabhängigkeit, die die baltischen Staaten 1940 verloren" hätten1057. Dementsprechend hielt man eine förmliche völkerrechtliche Anerkennung der "wiedererstandenen" Staaten fiir entbehrlich und sprach lediglich von der "Wiederaufnahme" der diplomatischen Beziehungen1058. Immerhin aber wurde der Vorgang zuweilen auch ausdrücklich als eine Staatensukzession durch Abspaltung eingestuft 1059 oder die Anwendung der völkerrechtlichen Sukzessionsregeln angemahnt 1060. Aber auch die herrschende Auffassung impliziert mit der Formel von der "wiedererlangten Unabhängigkeit" bei genauer Betrachtung das Vorliegen zweier Sukzessionsvorgänge: Daß die baltischen Staaten als Sowjetrepubliken auch im Staatsverband der UdSSR ihren Staatscharakter behielten, ist unbestritten. Entscheidend fiir das Vorliegen einer Staatensukzession in Form der Inkorporation ist aber der Verlust der Souveränität, d.h. der Untergang als souveräner Staat und "geborenes" Völkerrechtssubjekt1061 . Dieser Souveränitätsverlust im Jahre 1940 ist nun sprachlogische Voraussetzung dafiir, daß die drei Staaten im Jahre 1991 ihre "Unabhängigkeit wiedererlangen" konnten1062. Auch die in der Praxis vorherrschende Terminologie zur Bewertung der Vorgänge von 1991 beschreibt somit - unbewußt?- eine 1940 erfolgte wirksame Inkorporation der baltischen Staaten in die Sowjetunion.

1057 So z.B. die EPZ-Erkllinlng v. 27.8.1991, Buii.BReg 1991, 722; ebenso die von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichneten Gemeinsamen Erklärungen mit Lettland v. 20.4.1993 (EA 1993, D 331), Estland v. 29.4.1993 (ebd., D 339) und Litauen v. 21.7.1993 (ebd., D 349); ein Beschluß des AG Tiergarten v. 23.9.1991 (Az. 50 VIII 3940) sprach davon. daß der estnische Staat "nunmehr seine staatliche Unabhängigkeit von der UdSSR erlangt" habe.

1058 So z.B. der deutschen Außenminister Genscher, FAZ v. 28.8.1991, S. 1, und Bundeskanzler Kohlamselben Tag, Buii.BReg 1991, 721; ebenso schon der belgisehe Außenminister am 29.3.1990, RBDI 24 (1991), 262; fiir die Beziehungen zum Vatikan vgl. FAZ v. 5.10.1991, S. 6. 1059 So z.B. Webb, J.Leg. 17 (1990/91), 309-330;Fischer!Köck, 13;Ebenroth!Wilken, RIW 1991, 890; Schweisfurth, AVR 32 (1992), 102; Ebenroth/Gr