Die Idee der republikanischen Verfassung: Rede zur Verfassungsfeier Am 11. August 1928 [Reprint 2022 ed.] 9783112629246


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Die Idee der republikanischen Verfassung: Rede zur Verfassungsfeier Am 11. August 1928 [Reprint 2022 ed.]
 9783112629246

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DIE IDEE DER REPUBLIKANISCHEN VERFASSUNG

REDE ZUR VERFASSUNGSFEIER AM i i . AUGUST 1928 G E H A L T E N VON

ERNST CASSIRER

DIE IDEE DER REPUBLIKANISCHEN VERFASSUNG

REDE ZUR VERFASSUNGSFEIER AM ii. AUGUST 1928 G E H A L T E N VON

ERNST CASSIRER

HAMBURG 1929 FRIED ERICH S EN, DE GRUYTER & CO. M.B.H.

Meine Damen und Herren!

Wenn mir von Seiten des Hamburgischen Senats der ehrenvolle Auftrag zuteil geworden ist, in dieser festlichen Stunde zu Ihnen zu sprechen, so drückt sich in diesem Auftrag, sofern ich ihn recht verstehe, eine allgemeine Überzeugung aus: die Überzeugung, daß die großen historisch-politischen Probleme, die unsere Gegenwart beherrschen und bewegen, von jenen allgemeinsten Grundfragen des Geistes, die die systematische Philosophie sich stellt, und um deren Lösung sie im Verlauf ihrer Geschichte unablässig gerungen hat, nicht schlechthin abgelöst werden können. Es sind nicht zwei heterogene, geschweige feindliche Mächte, die hier einander gegenüberstehen; sondern überall stellt sich eine lebendige Wechselwirkung zwischen der Welt des Gedankens und der Welt der Tat, zwischen dem Aufbau der Ideen und dem Aufbau der staatlichen und der sozialen Wirklichkeit dar. »Durch die Pendelschläge« — so

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sagt Goethe einmal — »wird die Zeit, durch die Wechselbewegung von Idee zu Erfahrung die sittliche und wissenschaftliche Welt regiert.« Aus dieser unablässigen Wechselbewegung möchte ich für die gegenwärtige Feierstunde eine einzelne Phase herausgreifen und sie in anschaulicher Bestimmtheit vor Sie hinzustellen suchen. Wovon ich sprechen will, das ist das Verhältnis von Theorie und Praxis, wie es sich in den naturrechtlichen und staatsrechtlichen Gedanken des deutschen philosophischen Idealismus herstellt. Die deutsche idealistische Philosophie gelangt zu ihrer Reife und ihrer Vollendung im Werke Kants — in der »Kritik der reinen Vernunft«, die 1 7 8 1 und in der »Kritik der praktischen Vernunft«, die 1 7 8 8 erscheint. Und unmittelbar darauf, am 26. August 1789, erfolgt durch die französische Konstituante die Erklärung der Rechte des Menschen und Bürgers, die den eigentlichen Durchbruchspunkt für die politischen Kräfte bildet, aus denen die französische Revolution sich nährt. Stehen diese beiden Tatsachen, von denen jede eine große weltgeschichtliche Wendung in sich faßt, einfach in der Zeit nebeneinander oder sind sie — in irgendeinem, wenn auch noch so mittelbarem Sinne — miteinander verwandt: folgen sie sich lediglich in der Reihe des äußeren G e s c h e h e n s , oder sind sie in ihrer inneren B e d e u t u n g , in der Ordnung der I d e e n miteinander verknüpft? Wenn ich versuchen will, auf diese Frage eine Antwort zu geben, 6

so kann und soll dies nicht bedeuten, daß ich die individuelle, die rein persönliche Stellung, die Kant zu den politischen Grundgedanken der französischen Revolution genommen hat, ausführlich vor Ihnen entwickeln will. Diese Frage der Kant-Biographie ist oft und gründlich behandelt worden, aber sie erschöpft keineswegs das i d e e n g e s c h i c h t l i c h e Problem, das sich hier vor uns auftut. Kant hat, wie fast alle Zuschauer des großen welthistorischen Dramas der französischen Revolution, in seinem Urteil über die einzelnen Ereignisse und Taten vielfach geschwankt — und er hat ihr gegenüber fast die gesamte Skala menschlicher Stimmungen und Gefühle, von der höchsten Bewunderung und Begeisterung für ihre Anfänge bis zu der entschiedensten Verwerfung der Gewalttaten, in denen sie endete, durchlaufen. Nur eines blieb in ihm stets gleich und unverändert: das leidenschaftliche Interesse, das er an ihrer Entwicklung nahm. Alle seine Biographen haben uns übereinstimmend von diesem Interesse erzählt. Und in diesen Erzählungen tritt uns oft ein ganz anderes Kant-Bild entgegen, als wir es uns sonst wohl, dem Herkommen gemäß, von dem abstrakten und gleichmütigen, von keinem Affekt beherrschten Denker zu machen pflegen. Mit innerster leidenschaftlicher Anteilnahme wendet Kant sich in den Revolutionsjahren den Ereignissen der Tagespolitik zu. Es war die Zeit, in der er — wie seine Biographen BOROWSKI

und JACHMANN berichten — von einem wahrhaften 7

Heißhunger nach den Zeitungen ergriffen wurde, und in der er der Post wohl meilenweit entgegengegangen wäre; die Zeit, in der man ihn mit nichts mehr erfreuen konnte, als mit einer frühen authentischen Privatnachricht. Und auch mit der A u s s p r a c h e seiner politischen Überzeugungen und Urteile hat Kant niemals zurückgehalten. »Es war eine Zeit in Königsberg« — so erzählt uns der Professor an der medizinischen Fakultät der Königsberger Universität, METZGER — »wo jeder, der von der französischen Revolution nicht etwa günstig, sondern nur glimpflich urteilte, unter dem Namen eines J a k o b i n e r s ins schwarze Register kam. Kant ließ sich dadurch nicht schrecken, an den vornehmsten Tafeln der Revolution das Wort zu reden, und man hatte so viel Achtung für den sonst so sehr geschätzten Mann, ihm diese Gesinnungen zugute zu halten.« Aber nicht in dieses biographische Detail dürfen wir uns versenken, wenn wir den Zusammenhang zwischen der Kantischen Ideenwelt und der Ideenwelt der französischen Revolution in seiner wahrhaften Bedeutung und in seiner eigentlichen Tiefe erfassen wollen. Hier erhebt sich vielmehr eine andere Frage: die Frage, ob und inwieweit die gedankliche Grundtendenz, durch welche Kants theoretische Philosophie und seine Ethik bestimmt wird, mit jenen Tendenzen sich berührt, aus denen die revolutionäre Bewegung in Frankreich entsprungen ist. Diese Frage läßt sich nicht beantworten, wenn wir uns damit begnügen, die »Revolution 8

der Denkart«, die Kant in der Philosophie vollzogen hat, der großen politischen Umwälzung einfach zur Seite zu stellen — wir müssen zu den Quellen beider zurückgehen, um in ihnen den eigentlichen Punkt der Vereinigung zu finden. Daß die stärksten Antriebe für die französische Revolution ged a n k l i c h e r Art gewesen sind, daß sie von ihren Anfängen an unter der Herrschaft einer bestimmten I d e o l o g i e stand, und daß diese Ideologie alle Einzelschritte, die sie in ihrer weiteren Entwicklung tut, entscheidend mitbestimmt hat: dies liegt überall klar und unverkennbar zutage. Es ist vor allem das Verdienst HIPPOLYTE TAINES, daß er in seinem großen Werk über die Entstehung des modernen Frankreich diesen Zusammenhang nach allen Seiten hin verfolgt und daß er ihn mit historischer Meisterschaft dargestellt hat. Für TAINE ist die gesamte französische Revolution nichts anderes als die reife Frucht des klassischen Geistes der französischen Philosophie: jenes »esprit classique«, wie er sich in den Werken MONTESQUIEUS u n d VOLTAIRES, ROUSSEAUS u n d

CONDORCETS,

DIDEROTS und HOLBACHS verkörpert. Wie zum Greifen deutlich scheint dieser Zusammenhang vor uns hinzutreten, wenn wir uns der tiefen und allseitigen Wirkung erinnern, die insbesondere von dem Werk Rousseaus ausgegangen ist. Bedeutete die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte überhaupt etwas anderes, als gleichsam das Siegel, das das reale Geschehen, das die Welt der 9

historischen Wirklichkeit auf die grundlegenden Ideen Rousseaus drückte — war sie etwas anderes, als die Umsetzung Rousseauscher Gedanken in eine politische Forderung und in eine entscheidende politische Tat? »Der Mensch, wie der Gott der Bibel« — so heißt es bei

HEINE

in der Schrift »Zur Geschichte der Religion und

Philosophie in Deutschland« — »braucht nur seine Gedanken auszusprechen, und es wird Licht oder es wird Finsternis, die Wasser sondern sich von dem Festland oder gar wilde Bestien kommen zum Vorschein. Die Welt ist die Signatur des Wortes. Dieses merkt euch, ihr stolzen Männer der Tat. Ihr seid nichts als unbewußte Handlanger der Gedankenmänner, die oft in demütigster Stille euch all euer Tun aufs bestimmteste vorgezeichnet haben. Maximilian Robespierre war nichts als die Hand von Jean Jacques Rousseau, die blutige Hand, die aus dem Schöße der Zeit den Leib hervorzog, dessen Seele Rousseau geschaffen.« Was

HEINE

hier in der Form

eines geistreichen Aperçu ausspricht — das galt lange Zeit hindurch auch innerhalb der Wissenschaft des Staatsrechts als sichere und allgemein anerkannte Wahrheit. Erst

G E O R G JELLINEK

ist es gewesen,

der in einer kurzen, aber eindringenden und gehaltvollen Abhandlung über die »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« diese Auffassung angegriffen, und der sie aufs bestimmteste verneint hat.

JELLINEK

weist mit Nachdruck darauf hin, daß zwischen der

Gedankenwelt von Rousseaus »Contrat social« und der Gedanken10

weit, aus der die Erklärung der französischen Konstituante vom 26. August 1789 erwachsen ist, keine Übereinstimmung, sondern vielmehr ein durchgängiger und scharfer Gegensatz besteht. Denn bei Rousseau opfert das Individuum, indem es durch den Gesellschaftsvertrag mit anderen in Gemeinschaft tritt, sich selbst, ohne Einschränkung, demWillen der Gemeinschaft auf. Es entäußert sich aller seiner ursprünglichen Rechte — und eben diese Entäußerung ist es, die das oberste Prinzip der Rousseauschen Staatstheorie bildet. Alle Bestimmungen des Gesellschaftsvertrages lassen sich, wie Rousseau ausdrücklich betont, auf eine einzige zurückführen : l'aliénation totale de chaque associé avec tous ses droits à toute la communauté. Dieser Verzicht kennt keine Grenzen und keinen Vorbehalt: l'aliénation se faisant sans réserve, l'union est aussi parfaite qu'elle peut l'être, et nul associé n'a plus rien à réclamer. Reicht somit der Rückgang auf Rousseaus Schriften — und ebenso, wie sich zeigen läßt, der Rückgang auf M O N T E S Q U I E U oder VOLTAIRE —

keinesfalls aus, um den eigentlichen Ursprung der

Forderung unveräußerlicher Grundrechte des Individuums aufzudecken, so müssen wir, um bis zu dem eigentlichen Quell dieser Forderung zurückzudringen, einen anderen, und einen freilich weiteren und mühsameren Weg einschlagen. Wir versetzen uns in den Mittelpunkt jener großen geistigen Bewegung, wie sie in Deutschland im siebzehnten Jahrhundert von L E I B N I Z eingeleitet

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worden ist. Was Leibniz als theoretischer Denker, was er als Metaphysiker, als Logiker, als Mathematiker geleistet hat und was er für die Entwicklung einer universellen, einer allgemein-europäischen Philosophie bedeutet: dies kann hier nicht näher erörtert werden. Je mehr das unabsehbar reiche Material aus den Archiven in Hannover uns zugänglich geworden ist, mit um so größerem Staunen werden wir über den Umfang und die Tiefe dieser rein theoretischen Leistung erfüllt. Und doch bildet sie nur e i n e Seite, nur ein besonderes Moment im Leben und Wirken dieses allumspannenden Geistes. Seine politischen Entwürfe und Denkschriften stehen, schon dem reinen Umfang nach, den philosophischen und mathematischen Schriften fast gleich: und auch sie sind voll von fruchtbaren und originalen Gedanken, von genialen Vorblicken und Ausblicken. Überall ruht hier die philosophische Theorie auf echter und tiefer staatsmännischer Einsicht; überall fühlt man in ihr den unmittelbaren Pulsschlag des geschichtlichen Lebens der Zeit und ihrer drängenden politischen und sozialen Probleme. Auch Leibniz' Staatstheorie steht unter dem Leitsatz, der seine gesamte Philosophie beherrscht: unter der Voraussetzung, daß es zwischen derWelt des Ideellen und der des Realen keine unübersteigliche Kluft geben kann; sondern daß beide, in einer wahrhaften Harmonie, sich aufeinander beziehen und sich miteinander durchdringen. »Le réel ne laisse pas de se gouverner par l'idéal et l'abstrait« — das wahrhaft 12

Ideelle ist es, das zuletzt der Wirklichkeit ihre Form, ihre Gestalt und ihr Gepräge gibt. UndLeibniz ist nun auch — soviel ich sehe — der erste unter den großen europäischen Denkern gewesen, der in der Grundlegung seiner Ethik und seiner Staats- und Rechtsphilosophie mit vollem Nachdruck und mit aller Entschiedenheit das Prinzip der unveräußerlichen Grundrechte des Individuums vertreten hat. Er stützt sich hierbei ohne Zweifel auf antike, vor allem auf stoische Vorbilder, wie auch auf H U G O GROTIUS, den Begründer der modernen naturrechtlichen Theorie. Aber andererseits werden bei ihm alle diese Gedankenelemente in einem neuen Zentrum geeint und gehen gleichsam in einen neuen geistigen Brennpunkt zusammen. Denn der Gegensatz von Individualismus und Universalismus und die Frage nach der Möglichkeit seiner Versöhnung bildet bei Leibniz kein isoliertes staatsphilosophisches Problem mehr; sondern er ist das große gemeinsame Motiv, das alle Teile seiner Philosophie durchdringt, und das sie zu einem einheitlichen geistigen Kosmos verbindet. Ich darf hier diesem Zusammenhang nicht weiter nachgehen — ich begnüge mich damit, aus Leibniz' politischen und ethischen Schriften eine Stelle zu zitieren, in der die Forderung bestimmter unveräußerlicher Grundrechte des Individuums auf den vielleicht schärfsten und prägnantesten Ausdruck gebracht worden ist. Indem Leibniz, nach Grundsätzen des Naturrechts, die Frage der Berechtigung der Sklaverei prüft, kommt er zu dem Ergebnis, 13

daß selbst dann, wenn rein juristisch ein Eigentumsrecht eines Menschen an einem anderen sich begründen lasse, der Ausübung dieses Rechtes immer bestimmte Schranken gesetzt sein müßten. Denn dem »strikten Recht« stellt sich hier ein anderes höheres gegenüber: das Recht der vernünftigen Seelen, die von Natur und in schlechthin unveräußerlicherWeise frei sind; das Recht Gottes, der der höchste Herrscher über Leiber und Seelen ist, und unter welchem die Herren die Mitbürger ihrer Knechte sind, weil diese im Königreich Gottes das Bürgerrecht ebensowohl wie sie selbst genießen. »Man kann daher sagen — so fährt Leibniz fort — daß das Eigentumsrecht am Leibe eines Menschen ausschließlich seiner Seele zusteht und ihr nicht entzogen werden kann. Da aber die Seele kein erwerblicher Besitz ist, so kann auch das Eigentum am Körper eines Menschen nicht erworben werden, so daß das Recht, das der Herr über den Sklaven besitzt, niemals als Eigentum im strengen Sinne des Wortes, sondern immer nur als eine Art Nießbrauch gedacht werden kann. Jeder Nießbrauch aber hat seine Grenzen: er muß salva re ausgeübt werden, d. h. derart, daß der Gegenstand, auf den er sich erstreckt, keine Schädigung oder Vernichtung erleidet.« Das Prinzip, das Leibniz hier aufstellt und auf welches er seine Behandlung des Naturrechts stützt, hat seine Durchbildung und seine allseitige Entwicklung bei seinem getreuesten Schüler, bei CHRISTIAN W O L F F erfahren. Wolff ist an spekulativer 14

Tiefe und an schöpferischer Kraft des Denkens mit Leibniz in keiner Weise zu vergleichen; aber sein unschätzbares geschichtliches Verdienst ist es gewesen, daß er das von Leibniz Geschaffene zusammengefaßt, bewahrt und in sorgsamster Gedankenarbeit gesichert hat. So konnte er im achtzehnten Jahrhundert die gleiche Funktion erfüllen, die in den ersten Jahrzehnten der Reformation Melanchthon zufiel — so konnte er zum eigentlichen » p r a e c e p t o r G e r m a n i a e « werden. Und diese Gründlichkeit ist es, die auch seine Rechts- und Staatsphilosophie auszeichnet. Was bei Leibniz nur aphoristisch angedeutet und aphoristisch verstreut war, das wird in Wolffs umfangreichen Werken, in seinem »Jus naturae methodo scientifica pertractatum« (1744) und in seinen »Institutiones juris naturae et gentium« (1750) in breitester Darstellung entwickelt. Der geistige Schatz Leibnizens wird erst jetzt im eigentlichen Sinne gehoben und ans Licht gefördert; er wird in die Form des Lehrbuchs und des wissenschaftlichen Handbuchs umgesetzt und auf viele Hunderte einzelner Paragraphen verteilt. Erst durch diese Umsetzung, die der Präzision, der Prägnanz, der Stringenz des Gedankens freilich wenig günstig war, ist Leibniz' Lehre gewissermaßen in gangbare Münze verwandelt worden. Und hier, in den Werken Wolffs findet sich denn auch die erste vollständige systematische Entwicklung, die der Gedanke der angeborenen und unveräußerlichen Rechte innerhalb der neueren Philosophie erfahren

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hat. Unter dem angeborenen Recht (jus connatum) versteht WolfF jedes Recht, das unmittelbar aus dem W e s e n des Menschen, aus seinem Begriff und seiner Essenz, quillt; während alle Rechte, die, statt im Wesen des Menschen nur in einer accidentellen Bestimmung, nur in einer zufälligen und veränderlichen Beschaffenheit, gründen, als erworbene Rechte (jura contracta) bezeichnet werden. Von dieser letzteren Art sind alle einzelnen Vorrechte, alle Prärogativen, wie sie dem Menschen durch seine Abstammung, seinen Stand usf. zuteil werden. Im Umkreis der wahrhaften Grundrechte aber hört jede solche Prärogative auf. Hier gilt der Grundsatz der absoluten Gleichheit der Rechtssubjekte. Zu dem Recht der Gleichheit tritt sodann als zweites das Recht der persönlichen Sicherheit, das jus securitatis, hinzu: jedem Individuum steht die ungestörte Ausübung aller Handlungen zu, auf denen sein Fortbestand als physisches Wesen und seineVervollkommnung als geistiges Wesen beruht. Die Fortwirkung dieser Grundgedanken Christian Wolffs läßt sich in der deutschen Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts nach allen Seiten hin verfolgen; aber sie ist keineswegs auf Deutschland beschränkt geblieben. Eines der wichtigsten und einflußreichsten Werke der e n g l i s c h e n Staatstheorie dieser Epoche: BLACKSTONES berühmte »Commentaries on the laws of England« vom Jahre 1765 zeigt neben dem Einfluß LOCKES deutlich die Spuren des Wolffschen Einflusses. Und damit stehen wir nun 16

bereits an dem Punkte, an dem der Gedanke der unveräußerlichen Grundrechte des Individuums aus der Sphäre der reinen Theorie in die der praktischen Politik übergreift. Denn Blackstones Kommentare, die die weiteste Verbreitung nicht nur in England selbst, sondern auch in Amerika gefunden haben, bilden das theoretische Vorbild, nach welchem die Verfassungen geschaffen wurden, die die amerikanischen Einzelstaaten, nach ihrer Losreißung vom englischen Mutterland, sich gegeben haben. Diese amerikanischen declarations of right, von denen die Erklärung des Freistaats Virginien vom 12. Juni 1 7 7 6 die früheste und wichtigste ist, gipfeln sämtlich in dem Gedanken, daß alle Menschen von Natur gleichmäßig frei und unabhängig sind, und daß sie bestimmte ihnen ursprünglich innewohnende Rechte besitzen, die ihnen durch den Eintritt in die staatliche Gemeinschaft nicht genommen werden, und auf die sie selber niemals, mit bindender Kraft für ihre Nachkommen, verzichten können. Und jetzt, nachdem wir alle diese Einzelphasen in der Entwicklung des Gedankens der ursprünglichen Menschen- und Bürgerrechte verfolgt haben, schließt sich für uns der Kreis der Betrachtung. Wir stehen wieder an dem Punkt, von dem wir ausgegangen waren. Denn nach den eingehenden Nachweisungen JELLINEKS, die durch die spätere Forschung noch erweitert und noch wesentlich gestützt worden sind, kann kein Zweifel daran bestehen, daß die bills of right der einzelnen

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amerikanischen Freistaaten das eigentliche Modell für die Erklärung der Nationalversammlung vom 26. August 1789 gebildet haben. Schritt für Schritt, ja nicht selten Wort für Wort läßt sich hier der Ubergang verfolgen. Nicht nur findet sich in der französischen Flugschriftenliteratur der Zeit überall der Hinweis auf die nordamerikanischen Erklärungen; auch in den sogenannten Cahiers von 1789, d. h. in den Schriftstücken, in denen die einzelnen Stände von Frankreich ihre Beschwerden und Forderungen niederlegten und ihren Abgeordneten mitgaben, treffen wir überall auf ihre Spuren. Und schließlich sind die Männer, die in der Nationalversammlung selbst die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte gefordert und ihren Wortlaut festgestellt haben, fast durchweg überzeugte Anhänger und Bewunderer der Verfassung der amerikanischen Freistaaten gewesen. In erster Reihe ist hier, als Mittler der Ideen und als ihr aktiver Verfechter, L A F A Y E T T E zu nennen, der als junger Mann nach Amerika gegangen war, und der in rühmlichster Weise an dem großen Freiheitskampf teilgenommen hatte. Er selbst hat in seinen Briefen und Memoiren diesen seinen Aufenthalt in Amerika und seine Freundschaft mit G E O R G E W A S H I N G T O N als die eigentliche Schule seiner politischen Anschauungen bezeichnet. So war er denn auch der erste, der mit einem ausgearbeiteten Projekt der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vor die Nationalversammlung hintrat: mit einem Projekt, das alle wesentlichen 18

Grundideen der späteren endgültigen Deklaration in sich faßt und sie im nächsten Anschluß an den Wortlaut der amerikanischen Verfassungen formuliert. Blicken wir nun von hier aus noch einmal zurück und lassen wir das Ganze der Entwicklung, wie sie sich uns bisher dargestellt hat, vor unserem geistigen Auge vorüberziehen, so zeigt sich uns eine merkwürdige Wanderung und Wandlung der Ideen. Ein umfassender philosophischer Geist, einer der eigentlichen Begründer der modernen europäischen Gedankenwelt, ist es, der dem Prinzip der ursprünglichen und unveräußerlichen Rechte des Individuums zuerst seine feste und bestimmte Prägung gibt, und der ihm seinen Platz innerhalb des Systems der Philosophie anweist. Er schafft nicht den I n h a l t dieses Gedankens; denn dieser lag als Erbgut der antiken, insbesondere der stoischen Philosophie und Ethik vor. Aber die neue F o r m , die er jetzt erhielt, die systematische Fassung und B e g r ü n d u n g , die ihm zuteil wurde, sicherte ihm fortan auch eine neue, nach allen Seiten des geistigen Kosmos ausstrahlende Wirkung. Was hier bei

LEIBNIZ

als große philosophische und als

große politische Konzeption erfaßt ist, das gewinnt sodann Bestand und Dauer dadurch, daß es von einer echten deutschen Gelehrtennatur, von

CHRISTIAN W O L F F ,

aufgenommen und allseitig durch-

gearbeitet wird. Mag manches in Wolffs Schriften uns Heutigen als veraltet, als unerträglich breit oder pedantisch erscheinen: so 19

entsprang doch diese Pedanterie selbst dem Geiste der logischen Pünktlichkeit und der logischen Gewissenhaftigkeit. Es ist, als hätte die neue weltbewegende Idee erst durch die Enge, aber auch durch die beschauliche Stille einer deutschen Gelehrtenstube hindurchgehen müssen, um ihre volle Bündigkeit und gewissermaßen ihre Solidität zu erlangen. Und jetzt zieht sie weitere Kreise; denn in der Gestalt, die ihr Wolff gegeben hatte, wirkt sie nun auf England hinüber. Damit aber erfährt sie freilich zugleich wieder eine charakteristische Wandlung.

BLACKSTONES

Commentaries on the

laws of England sind, wie schon der Titel besagt, nicht mehr rein abstrakt oder allgemein gedacht: sie sind von einem Engländer und für Engländer geschrieben. »Für

BLACKSTONE«

— so hat es

Jellinek formuliert — »ist trotz seiner naturrechtlichen Grundanschauung das berechtigte Individuum nicht der Mensch, sondern der englische Untertan.« Überall blickt in seinen, anscheinend ganz allgemeingültigen rationalen Deduktionen die Erinnerung an Vorgänge der englischen Geschichte und an Einzelprobleme der englischen Verfassung durch. Dieser Kreis der Betrachtung wird erst durchbrochen, indem nun abermals ihr politischer und kultureller S c h a u p l a t z wechselt — indem die Ideen Wolfis und Blackstones von den jungen Freistaaten Nordamerikas aufgenommen und proklamiert werden. Jetzt werden sie wieder wahrhaft universalistisch gesehen und gestaltet: das Individuum als solches

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(every individuell), die Menschheit als Ganzes (all mankind) bildet das eigentliche Rechtssubjekt für die unveräußerlichen Grundrechte. Und damit sind, was diese Rechte betrifft, nicht nur alle ständischen, sondern auch alle nationalen Schranken gesprengt und für kraftlos und nichtig erklärt. Jetzt springt von Nordamerika nach Frankreich der Funke gleichsam unmittelbar über, und indem er hier auf einen durch Jahrhunderte aufgehäuften Zündstoff trifft, wird damit der große Weltbrand entzündet. Die reine Idee als solche scheint damit freilich ihre Kraft verloren zu haben; sie vermag die Geister, die sie gerufen hat, nicht mehr zu bändigen und zu beherrschen, sondern sie muß — so scheint es — anderen, aus der Tiefe aufsteigenden Gewalten das Feld räumen. Aber wiederum setzt jetzt in Deutschland eine neue, rein geistige Gegenbewegung ein. Denn die deutsche Philosophie, wie sie nunmehr durch

KANT

vertreten wird, ist keineswegs gewillt, sich den

neuen Gewalten, denen sie sich jetzt in der wirklichen Welt gegenübersieht, einfach gefangen zu geben; sondern, indem sie sich ihnen hingibt, dringt sie zugleich auf ihre schärfste Kritik. Und diese Kritik war, so stark Kants innere Sympathie für die große Idee gewesen ist, die er in der französischen Revolution verkörpert sah, unbestechlich und unerbittlich, wenn es sich um das Urteil über ihren weiteren Verlauf handelte. Die Hinrichtung des Königspaares und die Ereignisse der Schreckensherrschaft hat er aus seinem 21

ethischen Grundprinzip heraus unbedingt verurteilt, die Epoche des Wohlfahrtsausschusses hat er als die Zeit»der öffentlichen und für gesetzmäßig erklärten Ungerechtigkeit eines revolutionären Zustandes« bezeichnet. Aber eines blieb für Kant auch in all diesen schroffen Verwerfungsurteilen über einzelne Ereignisse und Taten der französischen Revolution unerschütterlich: der »Vernunftglaube« an die Idee der republikanischen Verfassung selbst. Die politische Umwälzung als solche konnte ihn weder überraschen noch erschrecken, hatte er sie doch seit langem vorausgesehen. In der Kantischen Schrift »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«, die im Jahre 1784, also fünf Jahre vor Ausbruch der Revolution, verfaßt ist, wird als Ziel der politischen Geschichte der Menschheit, die Gewinnung einer innerlich — und zu diesem Zwecke auch äußerlich — vollkommenen Staatsverfassung bezeichnet. »Obgleich dieser Staatskörper« — so fügt Kant hinzu — »für itzt nur noch sehr im rohen Entwürfe dasteht, so fängt sich dennoch gleichsam schon ein Gefühl in allen Gliedern, deren jedem an der Erhaltung des Ganzen gelegen ist, an zu regen, und dieses gibt Hoffnung, daß nach manchen Revolutionen der Umbildung endlich das, was die Natur zur höchsten Absicht hat, ein allgemeiner w e l t b ü r g e r l i c h e r Z u s t a n d als der Schooß, worin alle ursprünglichen Anlagen der Menschengattung entwickelt werden, dereinst einmal zustande kommen werde.«Es ist somit nur 22

die Wiederholung dieser seiner eigenen ursprünglichen Forderung, nicht der Einfluß der äußeren Weltereignisse, wenn Kant, über zehn Jahre später, in der Schrift »Zum ewigen Frieden« den ersten Definitivartikel des ewigen Friedens dahin bestimmt, daß die bürgerliche Verfassung in jedem Staate republikanisch sein solle. Denn eine solche Verfassung allein entspricht nach ihm der Idee des »ursprünglichen Vertrags«, auf der alle rechtliche Gesetzgebung eines Volkes zuletzt beruhen müsse. Kant betont hierbei, daß es für die Echtheit und Lauterkeit der republikanischen Verfassung nicht auf die äußere Form der Beherrschung, sondern einzig auf das P r i n z i p der Gesetzgebung, gewissermaßen auf die innere Form des staatlichen Ganzen, ankomme. Dieses Prinzip muß so beschaffen sein, daß durch dasselbe nur solche Gesetze sanktioniert werden, wie sie aus dem vereinigten Willen des ganzen Volkes haben entspringen können. Jeder Untertan soll nicht nur Untertan, sondern er soll zugleich Bürger sein, d.h., er soll so angesehen werden, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmt habe: »denn das ist der Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes«. Hierbei ist es, wie Kant ausdrücklich hervorhebt, keineswegs notwendig, den Gesellschaftsvertrag etwa als ein historisches F a k t u m vorauszusetzen, gleichsam als ob allererst aus der Geschichte zuvor bewiesen werden müßte, daß ein Volk einmal einen solchen Aktus verrichtet haben müsse. Er ist viel23

mehr nichts anderes, aber er ist auch nichts geringeres als eine bloße Idee derVernunft, die aber ihre unbezweifelte praktische Realität hat, nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er von der Gesamtheit des Volkes nichts anderes fordere, als was diese Gesamtheit, aus ethischen Forderungen und Maximen heraus, über sich selbst beschließen könne. Hier sehen wir, wie die Bewegung, die wir verfolgt haben, sich wieder zu ihrem Ausgangspunkt hinlenkt, wie sie gewissermaßen rückläufig zu ihrem Ursprung zurückkehrt. Die Forderung der unveräußerlichen Rechte war in der Sphäre der Idee entsprungen, und sie hatte erst lange darauf ihren Durchbruch ins Reich der Erfahrung, ins Reich der wirklichen Geschichte vollzogen. Nun aber wird diese geschichtliche Realität und dieses geschichtliche Resultat von der deutschen Philosophie wieder ins Ideelle zurückgewandt, indem es aus dem Reich des S e i n s in das des S o l l e n s projiziert wird, indem an Stelle des historischen Faktums ein ethischer I m p e r a t i v tritt. — Zwei Männer hat es im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts gegeben, denen es im eminenten Maße verstattet war, die großen weltgeschichtlichen Ereignisse, in deren Mitte sie standen, nicht bloß als solche, nicht lediglich als empirische Fakta zu sehen, sondern sie zugleich geistig zu deuten und sie s y m b o l i s c h zu verstehen. Neben Kant steht hier GOETHE, der von sich selbst gesagt hat, daß er das Weltgeschehen und sein eigenes Wirken und 24

Treiben immer nur symbolisch angesehen habe. Aber Goethes Form der symbolischen Betrachtung geht hierbei in einer anderen Richtung, als diejenige Kants. Sie erinnern sich, meine Damen und Herren, aus der berühmten Schilderung Goethes in der »Campagne in Frankreich«, wie er, angesichts der Kanonade von Valmy, die große Weltenwende gespürt und voraus verkündet hat. »Von hier und heute« — so sagt er zu seinen Begleitern — »geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und Ihr könnt sagen, Ihr seid dabei gewesen.« In diesem Ausspruch bekundet sich Goethes eigenste geistige Gabe: jene Gabe, die er einmal gegenüber Eckermann als »Phantasie für die Wahrheit des Realen« bezeichnet hat. Sie war es, die ihn in den Stand setzte, den gegenwärtigen Moment, in dem er stand, über seine zeitlichen Grenzen zu erweitern und in ihm die Reihe der Folgen, die sich an ihn knüpfen sollten, zu überschauen. Das ist die Symbolik des großen Künstlers, für den sich auf dem Hintergrund eines konkreten Augenblickserlebnisses plötzlich ein Gesamtgeschehen, eine Welt der Menschenschicksale und der Völkerschicksale, abhebt. »Das« — so sagt Goethe selbst — »ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeinere repräsentirt, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen.« Diese Art, im Besonderen das Allgemeine sichtbar werden zu lassen, ist es, die ebensowohl für Goethe als 25

Dichter wie für den Naturforscher Goethe charakteristisch und entscheidend ist. Er selber fand, wenn er versuchte, das Ganze seinerNatur- und Weltbetrachtung aus e i n e m Prinzip heraus zuverstehen und zu erläutern, daß sein ganzes Verfahren immer wieder auf der Methode des »Ableitens« beruhe: »Ich raste nicht, bis ich einen prägnanten Punkt finde, von dem sich vieles ableiten läßt, oder vielmehr, der vieles freiwillig aus sich hervorbringt und mir entgegenträgt, da ich denn im Bemühen und Empfangen vorsichtig und treu zu Werke gehe.« Einen solchen »prägnanten Punkt« des politischen Geschehens hatte er in der Kanonade von Valmy gefunden: die unmittelbare Gegenwart war für ihn mit einem Schlage zukunftsschwanger geworden: »praegnans futuri«, wie

LEIBNIZ

es zu bezeichnen liebt. So fand er hier in der histo-

rischen Wirklichkeit bewährt, was er sonst im Poetischen suchte. Er sah einen »eminenten Fall« vor sich, der als Repräsentant von vielen anderen dastand, der eine gewisse Totalität in sich schloß und so von außen wie von innen auf eine gewisse Einheit und Allheit Anspruch machte. Die Symbolik des D e n k e r s Kant aber geht andere Wege als die des Künstlers und des Naturforschers Goethe. Sie bleibt nicht in der Reihe der Phänomene, der natürlichen oder geschichtlichen E r s c h e i n u n g e n stehen, um in e i n e r von ihnen die Mannigfaltigkeit und Totalität derselben zu ergreifen und darzustellen; 26

sondern sie bezieht das G a n z e der Erscheinungen auf ihren Urgrund zurück; sie läßt uns von der Welt des Sinnlich-Anschaulichen, des Empirisch-Realen einen Blick ins I n t e l l i g i b l e tun. Das Intelligible aber ist für Kant nichts anderes als die Welt der Freiheit. Historisches Geschehen symbolisch erfassen: das bedeutet ihm daher, daß man es in eine andere O r d n u n g , als die der Kausalität der Natur, emporhebt; daß man es nicht lediglich dem Reich der Natur, sondern zugleich, ja ursprünglicher, dem Reich der Z w e c k e angehörig denkt. Und wieder hat sich diese Denkart Kants vielleicht nirgends so deutlich, so bestimmt und so charakteristisch bewährt, wie an seiner Auffassung der französischen Revolution. Es genügt, hierfür eine einzige Stelle anzuführen, die um so bedeutsamer ist, als sie einer der letzten Schriften Kants, dem »Streit der Fakultäten« vom Jahre 1798 angehört. Noch einmal blickt Kant jetzt, alsVierundsiebzigjähriger, auf das Ganze der französischen Revolution zurück: aber jetzt beschäftigt und jetzt ergreift sie ihn nicht mehr als unmittelbar-nahes, als empirisch-wirkliches Geschehen, sondern jetzt rückt er sie in eine ideelle Ferne, um sie aus diesem geistigen Fernblick heraus zu verstehen und zu beurteilen. Wieder stellt er sich die Frage, die die gesamte Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts, die die Philosophie der Aufklärunginnerlichst beschäftigte und bewegte: die Frage, ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei? Aber er weiß wohl 27

und spricht es in höchster kritischer Schärfe aus, daß eine s o l c h e Frage keiner rein empirischen Lösung mehr fähig ist. Denn alle Versenkung in den Kausalnexus des Geschehens, in den empirischen Gang der Naturbegebenheiten, kann uns keinen Aufschluß verschaffen über den Weg, den die Menschheit als »intelligibles« Subjekt, als Subjekt der Freiheit, gehen kann und gehen wird. Aber eine andere mittelbare Beziehung des Empirischen auf das Intelligible, der Welt der geschichtlichen Erfahrung auf die Welt der sittlichen Idee läßt sich nach Kant denken. Mitten aus der Reihe des empirisch-historischen Geschehens heben sich bisweilen einzelne große Begebenheiten heraus, an denen der denkende, der philosophische Betrachter unmittelbar gewahr wird, daß sie nicht dieser Reihe a l l e i n verhaftet sind, sondern daß sie eine universelle ethische Bedeutsamkeit besitzen. Und eine solche prägnantethische Bedeutung wird nun von Kant vor allem der französischen Revolution zugeschrieben. Sie gilt ihm als diejenige Begebenheit der Zeitgeschichte, welche die »moralische Tendenz des Menschengeschlechts« am deutlichsten und überzeugendsten beweist. »Diese Begebenheit besteht nicht etwa in wichtigen, von Menschen verrichteten Taten oder Untaten, wodurch, was groß war, unter Menschen klein, oder was klein war, groß gemacht wird, und wie gleich als durch Zauberei alte, glänzende Staatsgebäude verschwinden, und andere an deren Statt wie aus den Tiefen der Erde 28

hervorkommen. Nein: nichts von allem dem . . . Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Greueltaten dermaßen angefüllt sein, daß ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie zum zweitenmale unternehmend glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde, — diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemütern aller Zuschauer . . . e i n e T e i l n e h m u n g dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt... Ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich n i c h t m e h r , weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Laufe der Dinge herausgeklügelt hätte, und welches allein Natur und Freiheit, nach inneren Rechtsprinzipien im Menschengeschlechte vereinigt . . . Wenn der bei dieser Begebenheit beabsichtigte Zweck auch jetzt nicht erreicht würde, wenn die Revolution oder Reform der Verfassung eines Volks gegen das Ende doch fehlschlüge, oder, nachdem diese einige Zeit gewähret hätte, doch wiederum alles ins vorige Gleis zurückgebracht würde (wie Politiker jetzt Wahrsagern), so verliert jene philosophische Vorhersagung doch nichts von ihrer Kraft. — Denn jene Begebenheit ist zu groß, zu sehr mit dem Interesse der Menschheit verwebt und ihrem Einflüsse nach auf die Welt in allen ihren Teilen zu ausgebreitet, als daß sie 29

nicht den Völkern bei irgendeiner Veranlassung günstiger Umstände in Erinnerung gebracht und zu Wiederholung neuer Versuche dieser Art erweckt werden sollte; da dann bei einer für das Menschengeschlecht so wichtigen Angelegenheit endlich doch zu irgend einer Zeit die beabsichtigte Verfassung diejenige Festigkeit erreichen muß, welche die Belehrung durch öftere Erfahrung in den Gemütern aller zu bewirken nicht ermangeln würde.« In diesen Sätzen stellt sich aufs reinste und klarste jene Art der symbolischen Betrachtung dar, die den Ethiker, die den philosophischen Idealisten Kant kennzeichnet. Er fragt nicht, was unmittelbar in der Reihe des realen Geschehens, aus einer Handlung f o l g t , sondern er fragt, aus welchem geistig-sittlichen Grunde sie stammt; er blickt, um sie zu beurteilen, nicht auf ihr R e s u l t a t , sondern auf ihr sittliches M o t i v , auf die »Maxime«, auf die sie sich stützt und auf die Grundrichtung des Willens, von der sie Kunde gibt. Mag dieser Maxime der äußere Erfolg versagt sein, so wird doch ihr Gehalt und ihr Wert dadurch nicht verändert: denn der Maßstab für diesen Wert liegt nicht in dem, was durch eine Handlung g e l e i s t e t , was durch sie in der Welt der empirischen Wirklichkeit unmittelbar hervorgebracht wird, sondern in der Form des G e s e t z e s , unter das sie sich stellt, und das sie in sich zu verkörpern sucht. Lassen sie mich damit, meine Damen und Herren, diese Betrachtung 30

beschließen. Daß ich, vom Standpunkt strenger Wissenschaft aus, das Thema, das ich mir gestellt, bei weitem nicht erschöpft, daß ich es nur in wenigen Zügen, nur fragmentarisch und unvollkommen, angedeutet habe: dessen bin ich mir wohl bewußt. Aber der Sinn der heutigen Feier kann auch nicht der sein, daß wir uns wissenschaftlich in ein rein geschichtliches oder ein rein philosophisches Problem vertiefen. Was meine Betrachtungen Ihnen nahebringen sollten, war dieTatsache, daß die Idee der republikanischen Verfassung als solche im Ganzen der deutschen Geistesgeschichte keineswegs ein Fremdling, geschweige ein äußerer Eindringling ist, daß sie vielmehr auf deren eigenem Boden erwachsen und durch ihre ureigensten Kräfte, durch die Kräfte der idealistischen Philosophie, genährt worden ist. Aber auch diese historische Einsicht bliebe unfruchtbar und unwirksam, wenn wir sie lediglich als ein Wissen vom Vergangenen, vom Gewesenen und Abgetanen verstehen wollten. »Das Beste, was wir von der Geschichte haben,« sagt Goethe, »ist der Enthusiasmus, den sie erregt«. So soll auch die Versenkung in die Geschichte der Idee der republikanischen Verfassung nicht lediglich rückwärts gewandt sein, sondern sie soll in uns den Glauben und die Zuversicht stärken, daß die Kräfte, aus denen sie ursprünglich erwachsen ist, ihr auch den Weg in die Zukunft weisen, und daß sie an ihrem Teile mithelfen werden, diese Zukunft heraufzuführen. 3i

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Zu Seite 5 f. GOETHE, Aphorismen zur Morphologie, Weimar. Ausgabe, 2. Abteilung V I , 3 54. Zu Seite 7. Näheres über Kants Stellung zur Politik seiner Zeit siehe z. B. bei KARL VORLÄNDER, Kants Leben (Philosophische Bibliothek, Band 126), Seite 61 ff., sowie in dem Aufsatz V O R L Ä N D E R S : Kants Stellung zur französischen R e v o l u t i o n (Philosophische Abhandlungen zu H. Cohens 70. Geburtstag, Berlin 1 9 1 2 , Seite 247 ff.). V g l . jetzt auch die zusammenfassende Darstellung v o n KURT BORRIES, Kant als Politiker. Zur Staats- und Gesellschaftslehre des Kritizismus, Leipzig 1928. Zu Seite 8. METZGER, Äußerungen über Kant, seinen Charakter und seine Meinungen. V o n einem billigen Verehrer seiner Verdienste (1805), Seite 15 f.; vgl. VORLÄNDER a. a. O., Seite 250. Zu Seite 9. Vgl. v o r allem TAINE, Les origines delaFrance contemporaine,L'ancien régime, Livre troisième.

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Zu Seite 1 6 . Näheres über das Verhältnis B L A C K S T O N E S ZU W O L F F s i e h e b e i R E H M ,

Allgemeine Staatslehre, Freiburg 1899, S 6 1 , Seite 239 ff. Zu Seite 1 7 . V g l . besonders den T e x t der Virginischen E r k l ä r u n g der Rechte v o m 1 2 . Juni 1776, bei JELLINEK, 3. A u f l a g e , Anhang II, Seite 81 ff, siehe jetzt auch die neueste Schrift über diesen Gegenstand: G.A.SALANDER, V o m Werden der Menschenrechte.EinBeitragzurmodernen Verfassungsgeschichte unter Zugrundelegung der virginischen Erklärung der Rechte v o m 1 2 . J u n i 1 7 7 6 (Leipziger r e c h t s w i s s e n s c h a f t l i c h e Studien, Heft 19), Leipzig 1 9 2 6 ; sowie den Aufsatz von ERICH VOEGELIN, Der Sinn der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, Zeitschrift f ü r öffentliches Recht, VIII(i928), Seite 82 ff. W i e stark das Bewußtsein der Abhängigkeit von den nordamerikanischen Erklärungen in der französischen Nationalversammlung selbst w a r , geht aus e i n e r Ä u ß e r u n g RABAUD DE SAINT-ETIENNE'S

WALTER JELLINEK, 1919.

in der Diskussion am 18. Augusthervor: »c'est que, comme les Américains, nous voulons nous régénérer: la déclaration des droits est donc essentiellement nécessaire».(VOEGELIN, a. a. O., S. 85.)

Zu Seite 14. LEIBNIZ, Méditation sur la notion commune de la justice. Mittheilungen aus Leibnizens ungedruckten Schriften. V o n GEORG MOLLAT, Leipzig 1893, Seite 68.

Zu Seite 18. Die näheren B e l e g e f ü r die Abhängigkeit der Erklärung der französischen N a t i o n a l v e r s a m m l u n g v o n den nordamerikanischen bills of right finden sich

ZuSeite i o f f . GEORGJELLINEK, DieErklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 2. A u f l a g e , Leipzig 1904; 3. A u f l a g e , herausgegeben von

jetzt in

Zu Seite 15 f. Näheres überWoLFFsNaturrecht siehe in meiner Schrift: «Freiheit und Form*, Studien zur deutschen Geistesgeschichte, J.Auflage, Berlin 1922, Seite 492 ff.

32

der Schrift v o n

FRITZ

KLÖVE-

KORN, D i e Entstehung der E r k l ä r u n g der Menschen- und Bürgerrechte (Historische Studien, Heft 90), Berlin 1 9 1 1 ; vgl. besonders Seite 129 ff.

Die hier vertretene Auffassung, daßdereigentliche Ursprung der Grundideen der amerikanischen 'declarations of right« nicht in religiösen Anschauungen und Forderungen, sondern in philosophischen und naturrechtlichen Gedanken zu suchen ist, stimmt in allem wesentlichen überein mit dem Ergebnis, zu dem J. H A S H A G E N auf Grund einer eingehenden Untersuchung der Vorgeschichte der einzelnen amerikanischen Erklärungen gelangt ist. «Von jeher« — so faßt H A S H A G E N dieses Ergebnis zusammen — »waren die Menschenrechte ein Zweig an dem altersgrauen Baume des Naturrechts. Unter dem befruchtenden Winde der Revolution stieg der uralte naturrechtliche Saft von selbst wieder empor. Die ursprünglich religiösen Bestandteile darin waren damals bereits vielfach säkularisiert. Jedenfalls bedurfte es zur Zeit der amerikanischen Revolution nicht mehr des Umwegs über die Religionsfreiheit, damit jener Saft emporstieg und ans Licht trat. . . So formulierten die Revolutionäre ihre Rechte nicht nur als englische oder amerikanische Volksrechte, sondern mit Hilfe des Naturrechts ganz allgemein als Menschenrechte... Die Wurzeln dieses nordamerikanischen Naturrechts liegen besonders in der Theorie des seit dem Ende des Zeitalters der Religionskriege ausgebildeten profanen europäischen Naturrechts, das den Führern der Unabhängigkeitsbewegung längst in Fleisch und Blut übergegangen

w a r . . . Auch anderes deutet darauf hin, daß das Naturrecht sowohl bei der gesetzlichen Aussprache der Menschenrechte wie bei ihrer inhaltlichen Formulierung nicht nur als Argument, sondern auch als Triebfeder diente.« HASHAGEN,

Zur

Entstehungsgeschichte

der nordamerikanischen Erklärungen der Menschenrechte; Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 78. Jahrgang, 1924, Seite 482 ff. Zu Seite 22. K A N T , Anthropologie, § 77; Werke (Ausgabe Cassirer) VIII, 149. Zu Seite 22. IV, 161 ff.

KANT,

Werke, Ausgabe Cassirer,

Zu Seite 2 3. KANT, Zum ewigen Frieden(I 79 5); Werke VI, 434 ff.; vgl. die Schrift: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis(i793), Werke VI, 3 80 f. Zu Seite 25. G O E T H E , Gespräche mit Eckermann, 25. Dezember 1825; Maximen und Reflexionen (Ausgabe HECKER) Nr. 314. Zu Seite 26. GOETHE, Weimarer Ausgabe, 2. Abteilung, XI, 63; vgl. Goethes Brief an Schiller vom 16. August 1797. Zu Seite 28. KANT, Der Streit der Fakultäten, 2. Abschnitt, Werke VII, 391 ff.

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GUSTAV

PETERMANN

/ DRUCKEREI-GESELLSCHAFT

M.B.H. / HAMBURG

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