Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919: Ein systematischer Überblick [Reprint 2020 ed.] 9783111599069, 9783111224046


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German Pages 246 [252] Year 1925

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Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919: Ein systematischer Überblick [Reprint 2020 ed.]
 9783111599069, 9783111224046

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DieVerfassung des Deutschen Reidis vom 11. August 1919 Ein systematischer Uberblick von

Dr. Fritz Siier~Somlo ordenilldier Professor des öffentlichen Rechts und der Politik an der Universität Köln

Dritte e r g ä n z t e und wesentlich v e r ä n d e r t e Auflage (9. und 10. T a u s e n d )

B o n n 1925 A. M a r c u s & E. W e b e r s V e r l a g (Dr. jur. Albert Ahn)

Nachdruck verboten. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Copyright 1925 by A.. Marcus und E. Webers Verlag in Bonn.

Otto WisanJ'sche Buchdruckerei G.m.b.H.. Leipzig.

Vorwort. Die erste Auflage dieses Werkes ist am 2. September 1919, die zweite E n d e April 1920 abgeschlossen worden. Daß die vorliegende dritte trotz seither erschienener anderweitiger Literatur m i t dem 9. und 10. Tausend notwendig wurde, zeigt, daß auch ein „systematischer Überblick" seinen Platz zu behaupten vermag. Als seine Aufgabe wurde von A n f a n g an bezeichnet, den I n h a l t der Reichs Verfassung, in ein wissenschaftliches System des Staatsrechts eingegliedert, n u r in großen Zügen vorzuführen. Nicht sollten die politischen Strömungen verfolgt werden, die die Grundeinstellung der Reichsverfassung beherrscht und zur Gestaltung ihrer Bestimmungen g e f ü h r t haben. D i e s e r interessante Vorwurf schied hier ebenso aus, wie die Absicht, jede Vorschrift auf ihren praktischen Wert zu p r ü f e n , ihre Tragweite bis ins einzelne zu bestimmen. I m Vorwort zur zweiten Auflage betonte ich, daß ich der Verlockung, aus dieser Schrift eine bis ins einzelne gehende Darstellung der Reichsverfassung oder gar des deutschen Staatsrechts zu machen, u m so eher widerstehen könne, als die A u s f ü h r u n g d i e s e r Absicht an einer anderen Stelle der Verwirklichung entgegenreife. Inzwischen ist diese Absicht verwirklicht worden. I n der Sammlung „Grundrisse der Rechtswissenschaft" — die unter meiner redaktionellen Leitung und Mitarbeit einer ansehnlichen Zahl n a m h a f t e r Fachgenossen, im Verlage Walter de Gruyter & Co. in Berlin erscheint (bisher zwölf Bände) — ist aus meiner Feder der (am 20. März 1924 abgeschlossene) erste Band eines Werkes über „Deutsches Reichs- und Landesstaatsrecht" erschienen. E s beschränkt sich n i c h t auf die Reichsverfassung, sondern stellt — außer den wichtigsten Lehren des allgemeinen Staatsrechts und einer Geschichte des deutschen Staatsrechts vom Ende des 18. J a h r h u n d e r t s bis heute — d a s g e l t e n d e R e i c h s - u n d L a n d e s s t a a t s r e c h t i n e i n g e h e n d s t e r W e i s e dar. In diesem Buche wird, bei Bearbeitung eines viel umfassenderen Stoffgebiets, auch d a s verwirklicht, was planmäßig dem

IV

Vorwort.

„Überblick der Reichsverfassung" nicht zukam: eine Auseinandersetzung mit fremden Meinungen, ein genaueres Eingehen auf die juristische Konstruktion der Verfassungseinrichtungen, speziellste Verwertung der Gesetzgebungsarbeiten und des Schrifttums. Andererseits erwies sich der erste, die geschichtliche Entwicklung der Reichsverfassung behandelnde Teil in der zweiten Auflage des „Überblicks" als zu groß im Verhältnis zu dem das g e l t e n d e R e c h t d e r V e r f a s s u n g s u r k u n d e enthaltenden zweiten Teile. Überdies ist bei einem weiten Kreise von nicht nur juristisch gebildeten Lesern das Interesse f ü r Einzelheiten jener historischen Vorgänge inzwischen stark abgeklungen. So habe ich denn die Darstellung der G e s c h i c h t e der geltenden Eeichsverfassung in dieser dritten Auflage auf ein sehr bescheidenes Maß eingeschränkt. D a f ü r konnte ich die frühere eingehende Behandlung dieses geschichtlichen Teils mit freundlicher Zustimmung des Verlags jenem „Reichs- und Landesstaatsrecht" zugute kommen lassen, dessen Umfang (der erste Band allein füllt 726 Seiten) eine so eingehende historische E i n f ü h r u n g wohl verträgt, ja verlangt. Wer mehr erfahren will, als im vorliegenden „Überblick" enthalten ist, sei auf jenes größere Werk verwiesen. Diesen selben Rat darf ich auch denjenigen erteilen, denen die Darstellung des hauptsächlichsten Inhalts der Reichsverfassungsurkunde in dieser Schrift nicht genügt, die den ganzen Umkreis des deutschen Reichs- und Landesstaatsrechts umschreiten, sich eingehender mit ihm befassen, das Schrifttum vollständig kennen lernen, vor allem das eigentlich Juristische ausführlicher aufnehmen wollen. Deshalb verweise ich nach Möglichkeit im „Überblick" auf das größere Werk dort, wo sich der Gegenstand beider berührt. Wurde die Ausführung der Absicht, n u r einen systematischen Überblick, nicht ein eingehendes Werk zu bieten, in der zweiten Auflage durch das starke Anwachsen des ersten geschichtlichen Teils gefährdet, so kann ich jetzt, nachdem das vornehmlich f ü r wissenschaftliche Kreise bestimmte, das gesamte Reichs- und Landesstaatsrecht umfassende große Werk vorliegt, auf den ursprünglichen Plan des „Überblicks" zurückgreifen, seine Eigenart und seinen Umfang wahren. Ich tue dies mit dem dankbaren Gefühl, daß auch der „Überblick" weiten Kreisen in Deutschland und auch im Auslande, wie die bisherige Verbreitung beweist, offenbar willkommen ist. U n i v e r s i t ä t K ö l n , 25. November 1924.

Stier-Somlo.

Inhaltsverzeichnis. Seite

Vorwort Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis

III/IV V/VI V1I/VIII

Erster

Teil.

Die geschichtliche Entwicklung der Beichsverfassung

1—32

I. Abschnitt.

Die Zeit vom Herbst 1918 bis zur Einberufung der Nationalversammlung •

1—10

n . Abschnitt

Der Zusammentritt der verfassunggebenden Nationalversammlung und das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt von 10. Februar 1919

JH. Abschnitt.

Der erste amtliche Reichsverfassungsentwurf.

Private Entwürfe .

IV. Abschnitt.

Das Übergangsgesetz vom 4. März 1919

10—13 14—24 24—28

Y. Abschnitt.

Die gesetzgeberische Arbeit an der Reichs verfassung und ihre Weiterentwicklung. Das Schrifttum

28—32

Zweiter Teil. Das Recht der Yerfassungsurkunde

33—201

I. Abschnitt,

Verfassungsrecht und Verfassungsurkunde

33—38

II. Abschnitt.

Die rechtliche Natur des Deutsehen Reiches Unitarismus, Föderalismus, Dezentralisation

III. Abschnitt.

Partikularismus,

38—49 Zentralisation und

49—54

IT. Abschnitt.

Das Verhältnis des Reiches zu den Ländern nach der Reichsverfassung

T. Abschnitt.

Die natürlichen Grundlagen des Reiches (Gebiet und'Staatsangehörige) Erstes Hauptstück. Das Gebiet . Zweites Hauptstück. Die Reichsangehörigen Erste Abteilung. Das Recht der Reichsangehörigen

54—64 64—124 64—74 74—124 74—122

VI

Inhaltsverzeichnis.

Erste Unterabteilung. Die Grundrechte im allgemeinen Zweite Unterabteilung. Die Grundrechte im einzelnen: A. Die wichtigsten Individualrechte Dritte Unterabteilung. Die Grundrechte im einzelnen: B. Die sozial-ethischen Grundsätze und ihre Beziehungen zum Staate "Vierte U n t e r a b t e i l u n g . Die Grundrechte im einzelnen: C. Politische Gemeinschaftsrechte . Fünfte Unterabteilung. Die Grundrechte im einzelnen: D. "Wirtschaftsleben und Sozialisierung Sechste Unterabteilung. Die Grundrechte im einzelnen: E. Kirche, "Wissenschaft, Kunst und Schule in der Reichsverfassung Siebente Unterabteilung. Die Grundrechte im einzelnen: F. Beamtenrecht Zweite Abteilung. Grundpflichten der Reichsangehörigen VI. Abschnitt.

Die Organisation des Eeiches Erster Unterabschnitt. Grundsätzliches Zweiter Unterabschnitt. Eeichsvolk. Reichstag Erstes Hauptstück. Das Reichsvolk als Reichsorgan Zweites Hauptstück. Der Reichstag Dritter Unterabschnitt. Der Reichspräsident Vierter Unterabschnitt. Die Reichsregierung Fünfter Unterabschnitt. Der Reichrat Sechster Unterabschnitt. Der Reichswirtschaftsrat VII. Abschnitt. Die Reichsfunktionen Erster Unterabschnitt. Die Gesetzgebung Zweiter Unterabschnitt. Die Rechtspflege Dritter Unterabschnitt. Die Reichsverwaltung Texte der Reichsverfassung vom 11. August 1919

Seite

74—80 80—94 94—97 97—104 104—107 107—118 118—122 122—124 125—177 125—126 126—150 126—132 132—150 151—161 162—169 169—174 174—177 178—201 178—182 183—186 187—201 202—238

Abkürzungsverzeichnis. B e i A n f ü h r u n g v o n m e h r b ä n d i g e n "Werken, Z e i t s c h r i f t e n und E n t s c h e i d u n g e n b e z e i c h n e t die f e t t g e d r u c k t e Zahl den B a n d , die d a h i n t e r s t e h e n d e die S e i t e n z a h l . Die Z a h l e n m i t „ A r t . " b e d e u t e n ( o h n e a n d e r e A n g a b e ) s t e t s d i e A r t i k e l d e r R e i c h s V e r f a s s u n g . „S." b e d e u t e t h i e r S a t z , z. B. A r t . 48 Abs. 2 S. 2 = A r t i k e l 48 A b s a t z 2 S a t z 2 d e r R e i c h s Verfassung, a. a. a. 0. ABl. Abs. a. E. AG. ALR. Anm. Ann. d. D. R. Arch. off. R. Art. a. RV. AusschBer. Bd. Bek. DJZ. EG. EGBGB. Erl. Jflschers Z. GeschäftsO. GewO. Gruchots Beitr. GrünhutsZ. GS. S. GVB1. GVG. Handb. d. Pol. Jahrb. öff. R.

= alte, in Verbindung mit früher in Geltung gewesenen Verfassungen, z. B. a. preuß. VerfUrk. = preußische Verfassungsurkunde v. 31. Januar 1850. = am angeführten Orte. = Amtsblatt. = Absatz, = am Ende. = Ausführungsgesetz. — Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten. = Anmerkung. = Annalen des Deutschen Reichs (Zeitschrift). = Archiv des öffentlichen Rechts. = Artikel. = Reichsverfassung v, 16. April 1871. = Bericht des Verfassungsausschusses der Nationalversammlung. = Band. = Bekanntmachung. = Deutsche Juristenzeitung. = Einführungsgesetz. = Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch. = Erlaß. = (Fischers) Zeitschrift für Verwaltung (Leipzig). = Geschäftsordnung, i. B. des Reichstags oder Reichsrats oder der Reichsregierung. = Gewerbeordnung für das Deutsche Reich. = Beiträge zur Erläuterung des Deutschen Rechts, begründet von J. A. Gruchot. •= Grünhuts Zeitschrift für privates und öffentliches Recht. = Gesetzsammlung, Seite. = Gesetz und Verordnungsblatt. = Gerichtsverfassungsgesetz. = Handbuch der Politik, 3 Bde., regelmäßig 3. Aufl. = Jahrbuch des öffentlichen Rechts, bgg. von Piloty und Koellreutter.

VIII

Abkürzungsverzeichnis.

JMBL JW. KG. KommBer. KontO. LeipzZ. MinErl. 0.

= = = = = == = =

ObLG. OLG. PrOVG. PrVerwBl. KAnz. Recht Rechtspr. d. OLG. RegBl. RG. ZS bzw. StS.

= = = = — = = = =

RGBl. S. RPWO.

= =

ReichsStimmO. RTDr. S. StenBer.

— = = =

StGB. StPO. VerfAusschBer.

= = =

VerwArch. VO. VU. WPO. ZB1. d. D. R.

= = = = =

Zeitschr. f. öff. R. ZPO. ZStaatsWisa. ZStrWiss.

= = = =

Jnstizministerialblatt. Juristische Wochenschrift. Bammergericht. Kommissionsbericht (des Reichstags). Konkursordnung. Leipziger Zeitschrift für deutsches Recht. Ministerialerlaß. Ordnung, z. B. Reichsversicherunga-, Reichshaushaltsordnung usw. Oberstes Landesgericht München. Oberlandesgericht. Preußisches Oberverwaltungsgericht Preußisches "Verwaltungsblatt. Reichsanzeiger. Zeitschrift „Das Recht". Rechtsprechung der Oberlandesgerichte. Regierungsblatt. Entscheidungen des Reichsgerichts, in Zivilsachen bzw. Strafsachen. Reichsgesetzblatt, Seite. Gesetz über die Wahl des Reichspräsidenten v. 4. Mai 1920, in der Fassung vom 6. März 1924. Reichsstimmordnung v. 14. März 1924. Reichstagsdrucksache. Seite, bei Artikeln oder Paragraphen = Satz. Stenographische Berichte, ohne Zusatz die der verfassunggebenden Nationalversammlung. Strafgesetzbuch. Strafprozeßordnung. Bericht des Verfassungsausschusses der NationalVersammlung. Verwaltungsarchiv (Zeitschrift). Verordnung. Verfassungsurkunde. Wahlprüfungsordnung v. 8. Oktober 1920. Zentralblatt des Deutschen Reichs (jetzt Reichsministerialblatt). [österreichische] Zeitschrift für öffentliches Recht Zivilprozeßordnung. Zeitschrift für die gesamten Staatswissenschaften. Zeitschrift für Strafrechtswissenschaft

Erster

Teil.

Die geschichtliche Entwicklung der Reidisverfassung.1) Erster

Abschnitt.

Die Zeit Yom Herbst 1918 bis zur Einberufung der Nationalversammlung. I. Mit dem an den damaligen Reichskanzler Grafen von Hertling gerichteten kaiserlichen Erlaß vom 30. September 1918, der einer Botschaft an das deutsche Volk und den Reichstag gleichkam, begann die grundlegende Änderung der bisherigen Reichsverfassung. Der Kaiser erklärte: „Ich wünsche, daß das deutsehe Volk wirksamer als bisher an der Bestimmung der Geschicke des Vaterlandes ^mitarbeite. Es ist daher mein Wille, daß Männer, die vom V e r t r a u e n d e s V o l k e s getragen sind, im weiten Umfang teilnehmen an den Rechten und Pflichten der Regierung."

Die vieldeutige Forderung der „Demokratie" fand hier staatsrechtlichen Widerhall. Es trat ein Systemwechsel in der Richtung der p a r l a m e n t a r i s c h e n R e g i e r u n g s 1 ) Zum Schrifttum vgl. W. J e l l i n e k , Revolution und Reichsverfassung, Bericht über die Zeit vota 9. November 1918 bis 31. Dezember 1919, Jahrb. d. öff. R. 9 (1920) 4ff. (mit zahlreichen Literaturangaben); P u r l i t z , Deutscher Geschichtskalender, Liefg. 49, 50, 55, 57 (Die deutsehe Revolution Bd. I), Liefg. 52, 59, 62 (Die deutsche Reichsverfassung, 1919); M e n c k e G l ü c k e r t , Die Novemberrevolution 1918, ihre Entstehung und Entwicklung bis zur Nationalversammlung (Die deutsche Revolution Bd. I), 1919; R u n k e l , Die deutsche Revolution, 1920; S c h e i d i n g , Das erste Jahr der Revolution, 1920; F r i t e r s , Rcvolutionsgewalt und Notstandsrecht, Rechtsstaatliches und Natufrechtliehes, 1919, S. 75 ff.; R i c h a r d S c h m i d t , Die Grundlinien des deutschen Staatswesens, 1919, S. 153 ff; S t i e r - S o t n l o , Die Vereinigten Staaten von Deutschland (Demokratische Reichspolitik). Ein Entwurf tnit Begründung, 1919, S. 37 ff.; G i e s e , Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, Taschenausgabe, 5. Aufl. 1923, S. 1—16; O e s c h e y , Die Stier-Somlo, Keichsverfassung. 3. Aufl. 1

2

Erster Teil. Die geschichtliche Entwicklung der Reichsverfassung.

w e i s e ein, der dann in der Programmrede des neuen Reichskanzlers Prinzen Max von Baden am 5. Oktober 1918 und insbesondere in der Wendung zum Ausdruck gelangte, die die Übereinstimmung der politischen Grundsätze des Kanzlers mit denen der Parteiführer, der Mehrheit der Volksvertretung und des ganzen Volkes betonte. Es setzte die „Parlamentarisierung der höchsten Ämter" ein. Nach Art. 21 Abs. 2 der a. E.V. verlor ein Mitglied des Reichstags Sitz und Stimme, wenn es ein besoldetes Reichsamt oder in einem Bundesstaat ein besoldetes Staatsamt annahm, oder im Reichs- oder Staatsdienst in ein Amt eintrat, mit dem ein höherer Rang oder ein höheres Gehalt verbunden war. Der Grund dieser Bestimmung lag in dem berechtigten Mißtrauen der "Wähler gegen Beamte und in der Vorbeugung einer Beeinflussung des Abgeordneten durch seine amtliche Beförderung. Diese Erwägung hatte aber jetzt keinen Sinn mehr, wenn einerseits einem Reichstagsmitglied der Ubergang in die Regierung nicht verschlossen, andererseits die unmittelbare Verbindung mit dem Reichstage aufrecht erhalten bleiben sollte. Deshalb wurde jene Vorschrift beseitigt 1 ). Dagegen konnte man sich nicht dazu aufraffen, den Art. 9 S. 2 a. RV. aufzuheben, der bestimmt, daß niemand gleichzeitig Mitglied des Bundesrats und des Reichstags sein könne. Infolgedessen war es nicht möglich, daß der Reichskanzler gleichzeitig Reichstagsmitglied sei. Denn er mußte gemäß Art. 15 a. RV. Mitglied des Bundesrats sein. Ohne Fortfall des Art. 9 S. 2 hätte das Reichstagsmitglied' als Reichskanzler nur den formellen Vorsitz im Bundesrat, nicht aber die preußischen Stimmen führen können. Verfassung des Deuschen Reiches, Textausgabe, 1919, S. 16—54; D e r s e l b e , Vom Umsturz der Verfassung, 1920, S. 53 ff.; v. H u s e n , Die staatsrechtliche Organisation des Deutschen Reichs von der Revolution bis zum Zusamentritt der Nationalversammlung, Münsterer Diss. 1920; P i l o t y , Umformung der Reichsregierung und die Reichverfassung, DJZ. 1918, Sp. 651—657; P o e t z s c h , Handausgabe der Reichsverfassung, 2. Aufl. 1921, S. 7—18; „Die deutsche Revolution", Aufsätze im Handbuch der Politik, 3. Aufl., 3 (1921) 255—297, von H ä n i s c h , K u t t n e r usw.; M e i n e c k e , Nach der Revolution, 1920; H ä r t u n g , Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundort bis zur Gegenwart, 2. Aufl. 1922, S. 190—202; E. H e i l f r o n , Die deutsche Nationalversammlung im Jahre 1919 (7 Bde., 1919, mit Einleitung über die Wahlen); W i e s e r , Die Revolution der Gegenwart, Deutsche Rundschau 182, 321 ff.; S t i e r - S o m l o , Reichs- und Landesstaatsrecht 1, 177 bis 188. Gesetz zur Abänderung der Reichsverfassung und des Gesetzes betr. die Stellvertretung; des Reichskanzlers vom 17. März 1878, vom 28. Oktober 1918 (RGBl. S. 1273).

Erster Abschnitt. Die Zeit v. Herbst 1918 bis z. Einberuf. d. Nat.-Vers.

3

Die rechtliche Zuständigkeit und politische Bedeutung des Kaisers erfuhr in mehrfacher Hinsicht Beschränkungen. Zunächst sprach ein weiteres Gesetz vom 28. Oktober 1918 1 ) in einem Zusatz zu Art. 15 a. RV. aus, daß der Reichskanzler zu seiner Amtsführung des Vertrauens des Reichstags bedarf; daß er die Verantwortung trägt sowohl f ü r alle Handlungen von politischer Bedeutung, die der Kaiser in Ausübung der ihm nach der RV. zustehenden Befugnisse vornimmt, als auch f ü r seine Amtsführung gegenüber dem Bundesrat und dem Reichstag. Damit war den Parteien ein politisches Mitbestimmungsrecht bei der Ernennung und Abberufung des Reichskanzlers verfassungsmäßig gewährleistet. Weder war es denkbar, daß ein Reichskanzler berufen werden würde, der des Vertrauens des Reichstags entbehrte, noch daß er sein Amt ohne dieses Vertrauen hätte ausüben können. Auch die Stellvertreter des Reichskanzlers sollten die Verantwortlichkeit wie er selbst tragen. Andererseits mußten sie im Reichstag auf Verlangen jederzeit gehört werden 2 ). Eine Änderung trat in dem Rechte des Kaisers zur Erklärung des Krieges namens des Reiches gemäß Art. 11 a. RV. ein. Hierzu war er allein berechtigt, wenn ein Angriff auf das Bundesgebiet oder dessen Küsten erfolgte, sonst bedurfte es der Zustimmung des Bundesrats. Jetzt wurde bestimmt, daß zur Erklärung des Krieges die Zustimmung des Bundesrats und des Reichstags erforderlich ist. Ferner galt, daß insoweit sich Verträge mit fremden Staaten auf solche Gegenstände beziehen, die nach Art. 4 a. R V . 3 ) in den Bereich der Reichsgesetzgebung gehörten, zu ihrem Abschlüsse die Zustimmung des Bundesrats und zu ihrer Gültigkeit die Genehmigung des Reichstags erforderlich war. Jetzt wurde dieser Satz durch den folgenden ersetzt: „Friedensverträge sowie diejenigen Verträge mit fremden Staaten, welche sich auf Gegenstände der Reichsgesetzgebung beziehen, bedürfen der Zustimmung des Reichstags" 4 ). Endlich wurde auch die Kommandogewalt des Kaisers in den Rahmen derjenigen Regierungshandlungen einbezogen, f ü r die der Reichskanzler dem Parlament verantwortlich sein 1) RGBl. S. 1274 zu 2. 2 ) § 2 des Gesetzes zur Abänderung der RV. und des Gesetzes die Stellvertretung des Reichskanzlers vom 17. März 1878 betreffend, vom 28. Oktober 1918 (RGBl. S. 1278). 8 ) Ito Art. 4 a. RV. waren die Angelegenheiten aufgeführt, die der Beaufsichigung und Gesetzgebung des Reichs unterlagen. Es sollte durch die Bestimmung des Artikels 11 Abs. 8 die Ausschaltung des Reichstags verhütet werden. *) Gesetz zur Abänderung der RV. vom 28. Oktober 1918 zu 1 (RGBl. S. 1274). 1*

4

Erster Teil. Die geschichtliche Entwicklung der Reiahsverfassung.

sollte: die Ernennung, Versetzung, Beförderung und Verabschiedung der Offiziere und Militärbeamten des Kontingents erfolgt unter Gegenzeichnung des Reichskanzlers bzw. des Kriegsministers des Kontingents. Die Kriegsminister sind dem Bundesrat und dem Reichstag f ü r die Verwaltung ihres Kontingents verantwortlich 1 ). I I . Der rechtliche T h r o n v e r z i c h t d e s K a i s e r s erfolgte erst am 28. November 1918; die Bekanntmachung des Reichskanzler vom 9. November (RAnz. Nr. 267), wonach der Kaiser nud König sich entschlossen habe, dem Thron zu entsagen, entspricht nicht den Tatsachen, wenn sie auch in der Annahme erlassen wurde, daß die Abdankung unmittelbar bevorstehe, um die Monarchie zu retten. Dies gelang aber nicht mehr. An jenem 9. November verkündete Staatssekretär Scheidemann von der Terrasse des Reichstagsgebäudes aus: „Das monarchische System ist zusammengebrochen. Ein großer Teil der Garnison hat sich uns angeschlossen. Die Hohenzollern haben abgedankt. Es lebe die große deutsche Republik" 2 ). Da die Krone verzichtbar ist, ohne daß ministerielle Gegenzeichnung erforderlich wäre, ging rechtlich die preußische Krone und das Amt des Kaisers auf den Kronprinzen über. Da er am 1. Dezember 1918 eine Thronverzichtserklärung abgab, hatte er nach Abdankung seines Vaters den Thron rechtlich drei Tage' inne (28. November bis 1. Dezember). Infolgedessen war der älteste minderjährige Sohn des Kronprinzen, der am 4. Juli 1906 geborene P r i n z Wilhelm, unter einer einzusetzenden Regentschaft König von Preußen und deutscher Kaiser geworden. Ein Regent trat aber nicht an, weil die Revolution gesiegt hatte und damit der Gedanke einer monarchischen Regentschaft von selbst erledigt war. *) Änderungen der Art. 53, 64, 66 a. RV. durch das in der vorgehenden Anmerkung erwähnte Gesetz zu 4—6. Für Bayern galt dies nicht. Vgl. auch B r e d t , Verfassung und Armee, DJZ. 1918, Sp. 721. 2 ) Vgl. RAnz. Nr. 283 v. 30. Novetaber 1918, ferner den Bericht über die Tatsachen im einzelnen bei P u r 1 i t z , Deutscher Geschichtskalender, Abt, „Die deutsche Revolution", 1919, Heft 1, S. 1 ff., 24fi., 32; W. J e l l i n e k , a. a. 0.; Denkschrift des Reichskanzlers Prinzen Max von Baden v. 31. Juli 1919 in der Neuen Preuß. Zeitung v. 9. August 1919 und 2. Morgenblatt der Frankfurter Zeitung v. 9. August 1919; Veröffentlichung des G r a f e n S c h u l e n b u r g über die Vorgänge des 9. Novetaber in der Deutschen Tageszeitung v. 17. Juli 1919 und der Abschnitt „Kriegsende und Abdankung" in dem Werke Kaiser W i l h e l m s II. „Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878—1918". Der Kaiser trat am 10. November auf holländisches Gebiet über. Vgl. T h o m a , Der Thronverzicht des Kaisers, Frankfurter Zeitung v. 21. August 1919, Nr. 615, 1. Morgenblatt; W. J e l l i n e k , Wilhelm II. in den Niederlanden, DJZ. 1919, Sp. 42 fi.

Erster Abschnitt. Die Zeit v. Herbst 1918 bis z. Einberuf. d. Nat.-Ver«.

5

III. Prinz Max von Baden legte sein Amt als Reichskanzler nieder und übertrug dessen Geschäfte nach Beratung mit den Staatssekretären vorbehaltlich gesetzlicher Genehmigung dem sozialdemokratischen Führer Ebert, der sich in einer Kundgebung an das Volk wendete als der „durch den Willen des Volkes berufene Reichskanzler", dessen Amt er „im Rahmen der RV." übernehme. E r schicke sich an, eine neue Regierung auf demokratischer Grundlage zu bilden, mit der Absicht, die Revolution durch eine deutsche Nationalversammlung zu sanktionieren 1 ). Noch herrschte die Diktatur der revolutionären Massen, deren Organe (zunächst die Berliner) Arbeiter- und Soldatenräte am 10. November die sozialistische Republik an Stelle der Monarchie und sich als Träger der politischen Macht proklamierten, aus Sozialdemokraten beider Riehtungen einen Vollzugsausschuß von 28 Mitgliedern bildeten, der bis zum Zusammentritt der Reichskonferenz sämtlicher Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands die F ü h r u n g der Reichsgeschäfte übernehmen sollte. Das Reichskabinett (Ebert, Scheidemann, Landsberg, Haase, Dittmann, Barth) konstituierte sich als Körperschaft mit gleichen Rechten unter dem Namen R a t d e r V o l k s b e a u f t r a g t e n , nahm die Regierungs-(Exekutiv-)Gewalt einschließlich der gesetzgebenden Gewalt, selbst das Recht der Amnestie in Landesstrafsachen f ü r sich in Anspruch und stellte in Aussicht: die Durchführung eines sozialistischen Programms, vor allem eine Nationalversammlung, bei der das allgemeine, gleiche, direkte, geheime Wahlrecht auf Grund des Verhältniswahlsystems f ü r alle über 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Deutschen Anwendung finden sollte 2 ). Der Rat der Volksbeauftragten bezeichnete sich auch als „Spitze der ausführenden Militärgewalt", erklärte, daß alle Behörden ihre Tätigkeit fortzusetzen haben, daß die Anordnungen der Reichsbehörden im A u f t r a g des Vollzugsrates des Arbeiterund Soldatenrates erfolgen und jedermann ihnen Folge zu leisten habe. Der Vollzugsrat ernannte eine preußische Regierung, die in Übereinstimmung mit ihm am 15. November das Abgeordnetenhaus f ü r aufgelöst und das Herrenhaus für Vgl. W a l d e c k e r , Zur augenblicklichen staatsrechtlichen Lage, JW. 1918, Sp. 747 fi.; D e r s e l b e , JW. 1919, Sp. 13211. 2) Aufruf an das deutsche Volk v. 12. November 1918 (RGBl. S. 1808). Vgl. auch A n s c h ü t z , Das Programm der Reichsregierung, JW. 1918, S. 751 f.; B a u m , Die, sozialrechtlichen Bestimmungen im Aufruf dna Rats der Volksbeauftragen v. 12. November 1918, daselbst S. 752 ff.; R o s e n b e r g , DJZ. 1918, Sp. 137.

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Krater Toil. Die geschichtliche Entwicklung der Reichsverfassung.

beseitigt erklärte 1 ). Der B e i c h s a u s s c h u ß des Vollzugsrats der Arbeiter- und Soldatenräte konstituierte sich am 1. Dezember. Am 6. Dezember wird E b e r t zum P r ä s i d e n t e n der s o z i a l i s t i s c h e n d e u t s c h e n B e p u b l i k ausgerufen. Aber noch immer maßte sich der Vollzugsrat eine mit dem Kabinett konkurrierende Verwaltungsgewalt a n ; ohne seine Zustimmung könne an der staatsrechtlich festgestellten Lage nichts geändert werden. Der Bat der Volksbeauftragten habe nur eine ihm übertragene Exekutive. Tatsächlich verstand das Kabinett unter der vom Zentralrat zu handhabenden Überwachung, daß alle Gesetzentwürfe dem Zentralrat vorgelegt werden; dieser müsse, da er die Volksbeauftragten jederzeit abberufen könne, diesen das Becht gewähren, auch o h n e seine vorherige Genehmigung Gesetze zu erlassen. Dagegen wurde es abgelehnt, dem Zentralrat das Becht der v o r h e r i g e n Zustimmung zu Gesetzen zuzusprechen. Das demokratische Prinzip schien sich durchzusetzen. IV. 2 ) Die staatsrechtliche Lage war nunmehr folgende: Beseitigt' war die bisherige S t a a t s f o r m . Ein K a i s e r t u m gab es nicht mehr. Nach der Eingangsformel der a, BV. schlössen der König von Preußen im Namen des Norddeutschen Bundes, die Könige von Bayern und Württemberg, die Großherzöge von Hessen und Baden „einen ewigen Bund, der den Namen Deutsches Beich führen wird". D i e s e s Deutsche Beich war versunken, weil es an das Bestehen der 22 Monarchien gebunden war, diese aber beseitigt wurden. Die Bepubliken Hamburg, Bremen und Lübeck waren ohnedies früher nur Ausnahmen in bezug auf die herrschende a ) Befehl des Rats der Volksbeauftragten an alle Groß-Berliner Truppen y. 12. November; „Amtliche Erklärung" vom selben Tage und eine „Vereinbarung" v. 22. November (RAnz. Nr. 277 v. 23. November 1918) über die Abgrenzung der Zuständigkeiten von Arbeiter- und Soldatenräten, dem Berliner Vollzugsrat und dem Rat der Volksbeauftragten, deren Berufung und Abberufung durch einen auch die Kontrolle übenden zentralen Vollzugsrat erfolgen sollte. Dieser war auch vor Berufung der Fachminister durch das Kabinett zu hören. Uber diese „Vereinbarung" W a 1 d e c k e r, a. a. 0. S. 750; R i c h a r d S c h m i d t , Die Grundlinien des deutschen Staatswesens, S. 163 ff.; E r w i n J a c o b i , Das Verordnungsrecht im Reiche seit dem November 1918, Arch. öff. R. 39 (1920) 291 ff. Vorgesehen wurde eine Reichsversammlung der Delegierten der Arbeiter- und Soldatenräte, die in der Zeit vom 16. bis 20. Dez. als R e i c h s k o n f e r e n z tagte und sich als „erstes deutsches Parlament" bezeichnete. Siehe den eingehenden interessanten Bericht, in dem auch, die Fragen: Nationalversammlung oder Rätesystem und die Sozialisierung des Wirtschaftssystems behandelt wurden, bei P u r l i t z , Die deutsche Revolution, 2. Heft, S. 201—259. 2 ) Eingehend über das Folgende bei S t i e r - S o m l o , Reichs- und Landesstaatsrecht 1, 51, 197 ff.

Erster Abschnitt. Die Zeit v. Herbst 1918 bis z. Einberuf. d. Nat.-Vers.

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Staatsform. Sie als Bepubliken hätten allein natürlich jetzt das bisherige Deutsche Reich nicht darstellen können, sondern n u r gemeinsam mit den Monarchien; diese aber waren verschwunden. Auch einen B u n d e s r a t gab es nicht mehr. E r war bisher Souverän des Deutschen Beiches, in dessen H a n d die Beichsgewalt lag, soweit sie nicht durch besondere Bestimmungen dem Kaiser übertragen war. Dieser hatte nur die ihm ausdrücklich gewährten Befugnisse; im Zweifel sprach die Vermutung der Zuständigkeit f ü r den Bundesrat. Jetzt waren die Landesherren fortgefallen, die (neben den Senaten von Hamburg, Bremen und Lübeck) Bevollmächtigte in den Bundesrat gesandt hatten. Die zeitweilige Aufrechterhaltung lediglich der früheren V e r w a l t u n g s b e f u g n i s s e des Bundesrats unter Beseitigung seiner Rechte in der Gesetzgebung (Art. 5 a. KV.) und seine Befugnisse in der Rechtspflege (Art. 76, 77 a. RV.) 1 ) verdeckte nur kurze Zeit die Ausschaltung des bisherigen Bundesrats als des wichtigsten Staatsorgans 2 ). Vom R e i c h s k a n z l e r war nur noch dem Namen nach die Rede. Denn er war nach Art. 15 a. RV. vom Kaiser zu ernennen. Ein von einem nicht mehr regierenden Kaiser eingesetzter Reichskanzler ist staatsrechtlich ein Unding. Auch der auf der bisherigen RV. ruhende R e i c h s t a g hatte zu sein aufgehört. Die revolutionären Gewalten lehnten ihn ab 3 ). Auch die rein k o n s t i t u t i o n e l l e Regierungsweise war beseitigt; das Ringen zwischen den Gruppen, die die Diktatur des Proletariats mit dem politischen Rätesystem f ü r die Dauer beibehalten wollten, und denjenigen, die zur d e m o k r a t i s c h - p a r l a m e n t a r i s c h e n Verfassungsform strebten, hatte begonnen. T r ä g e r d e r S t a a t s g e w a l t war d i e G e s a m t h e i t d e r A r b e i t e r - u n d S o l d a t e n r ä t e des Reiches, d. h. ihre Vollversammlungen, parlamentsähnliche Körperschaften. Ihre Macht hatte sich „in herrschender Weise be») Verordnung des Rats der Volksbeauftragten v. 14. November 1918 (RGBl. S. 1311). 2 ) Vgl. auch F r i t e r s , Revolutionsgewalt und Notstandsrecht, 1919, S. 98 f. 3 ) Nachdem sich die überwältigende Mehrheit des deutschen Volkes für die Wahl einer, später ja auch zustande gekommenen Nationalversammlung ausgesprochen hatte, war das Schicksal des auf Grund der a. RV. gewählten Reichstags besiegelt. Anderer Meinung S t r u p p , DJZ. 1919, Sp. 86ff. Vgl. G i e s e , Grundriß des Reichsstaatsrechts, 2. Aufl. 1922, S. 6: Einer ausdrücklichen Auflösung oder Aufhebung des Reichstags bedurfte es nicht. Staatsrechtlich nicht zu rechtfertigen war daher der Protest des letzten Reichstagspräsidenten, der gegen die Ignorierung des Reichstags Verwahrung einlegte, den Reichstag einberief und sich die Bestimmung von Ort und Zeit der Tagung vorbehielt.

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Erster Teil. Die geschichtlich« Entwicklung der Reichsverfassung.

gründet und in stetiger organischer Fortentwicklung aufrecht erhalten" 1 ). I n ihrer H a n d lag unangefochten die neue tatsächliche Staatsgewalt, anerkannt von der Mehrheit des Volkes, durch Heer und Beamtenschaft, die ihren Dienst weiter versahen. Der V o l l z u g s r a t der Arbeiter- und Soldatenräte Groß-Berlins war die von der Vollversammlung des Arbeiter- und Soldatenrats Groß-Berlins gewählte Exekutive, die revolutionäre Vertretung f ü r den Bezirk Groß-Berlin, dem weder allein noch in Gemeinschaft mit dem Rate der Volksbeauftragten die oberste Reichsgewalt zustand. Der Z e n t r a l r a t , aus Bevollmächtigten der Arbeiter- und Soldatenräte bestehend, war ein „parlamentarisches" Uberwachungsorgan gegenüber dem Rate der Volksbeauftragten, den er nötigenfalls auflösen und neu wählen konnte. Der R a t d e r V o l k s b e a u f t r a g t e n war nicht Träger der Staatsgewalt, sondern führte zunächst nur die Regierungsgeschäfte des Reiches und übte die Gesetzgebung o h n e Auftrag, aber auch o h n e Widerspruch der Arbeiter- und Soldatenräte. N u r der Berliner Arbeiter- und Soldatenrat anerkannte den Rat der Volksbeauftragten als Inhaber der vollziehenden Gewalt. Späterhin haben jedoch die Arbeiterund Soldatenräte teils stillschweigend, teils durch schlüssige Handlungen (Befolgung der Erlasse, Verordnungen und Bekanntmachungen des Rats der Volksbeauftragten) diesen als oberste Leitungsbehörde anerkannt. Erst am 18. Dezember 1918 übertrug der Rätekongreß „bis zur anderweitigen Regelung durch die Nationalversammlung die gesetzgebende Gewalt dem Rate der Volksbeauftragten" und genehmigte rückwärts die bisherige F ü h r u n g der Reichsgeschäfte durch ihn. Endlich waren die ö r t l i c h e n Arbeiter- und Soldatenräte, nämlich die von der Gesamtheit der Arbeiter- und Soldatenräte gewählten und von dem Rate der Volksbeauftragten zur Mitarbeit aufgerufenen exekutiven Arbeiter- und Soldatenräte, wenn und insofern es sich bei ihnen um die E r f ü l l u n g aufgetragener Reichsaufgaben handelte, Behörden und ihre Mitglieder besaßen Reichsbeamteneigenschaft. Sie waren keine bloßen Kontrollorgane, sondern sie übten unmittelbar die vollziehende Gewalt aus. Insbesondere versahen Entsch. d. Reichsgerichts in Zivilsachen Bd. 100, S. 27. Daß die oberste Gewalt in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte lag, wurde festgesetellt: in dein Übereinkommen des Rats der Volksbeauftragten und des Groß-Berliner Vollzugsrats v. 23. November 1918; in der über die Einigungsverhandlungen des Rats der Volksbeauftragten mit den Vertretern der Bundesstaaten aufgenommenen Niederschrift v. 25. November 1918, Ziff. 3; in dem ersten Beschluß des Rätekongresses, der dem Rate der Volksbeauftragten die gesetzgebende und vollziehende Gewalt übertrug.

Erster Abschnitt. Die Zeit v. Herbst 1918 bis z. Einberuf. d. Nat.-Vers.

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sie vielfach polizeiliche, auf die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung gerichtete Funktionen, nachdem die Umwälzungen sich lokal durchgesetzt hatten. Sie waren Organe der revolutionären Regierung 1 ). V. Was die R e c h t m ä ß i g k e i t d e r d u r c h d e n U m s t u r z e n t s t e h e n d e n R e g i e r u n g e n und der von ihnen vorgenommenen Staatsakte betrifft, so ist mit der heute herrschenden wissenschaftlichen Lehre und Rechtsprechung zu sagen: Der Staat kann keinen Augenblick ohne Träger der Staatsgewalt sein. Eine höchste herrschende Macht im Staate muß immer vorhanden sein. Geht der bisherige Träger der Staatsgewalt ihrer verlustig, so tritt sofort ein anderer an seine Stelle. L e g i t i m i t ä t i s t k e i n M e r k m a l d e r S t a a t s g e w a l t , d. h. es ist rechtlich belanglos, ob die neue Staatsgewalt vom Standpunkte des bisherigen Rechts aus legitim ist oder nicht. Sie braucht nicht notwendig auf dem Wege des Rechts entstanden zu sein. Die die t a t s ä c h l i c h e Macht besitzende Staatsgewalt ist zur Rechtsverwirklichung befugt. Es genügt zwar nicht die „vollzogene Tatsache" der Macht allein, sondern der Machtübende muß in der Lage sein, s i c h i n d e r S t a a t s g e w a l t z u behaupten. Geschieht dies, so ist er rechtmäßig, ohne Rücksicht auf die Entstehung der Staatsgewalt. Praktische Bedeutung hat diese Grundauffassung besonders in zwei Richtungen. Erstens ist das Gesetzgebungs- und Verordnungsrecht der revolutionären Regierung nicht zu bezweifeln, insbesondere sind die Amnestieverordnungen des Rats der Volksbeauftragten rechtsgültig. Zweitens ist die H a f t u n g des Reiches, der Länder und der Gemeinden f ü r die schädigenden Handlungen der Arbeiter- und Soldatenräte zu bejahen, falls im übrigen die Voraussetzungen der Beamtenhaftpflichtgesetze bzw. des BGB. § 839 gegeben sind. Dies hat auch das Reichsgericht anerkannt 2 ). VI. Es siegte die Richtung, die aus dem politischen revolutionären Rätesystem zu dem einer verfassungsmäßigen demokratischen parlamentarischen Regierungsform kommen wollte. Am 30. November 1918 erging (RGBl. S. 1345) die Verordnung über die Wahlen zur verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung („Reichswahlgesetz"). Die Wahlordnung vom selben Tage f ü h r t sie aus 3 ). Es sollten 421 Mit1 ) Eingehender hierüber S t i e r - S o m l o , Reichs- und Landesstaatsrecht 1, 188—195, 208—213. 2 ) S t i e r - S o t a l o , a. a. 0. S. 213—223. 3 ) Vgl. auch Abänderungen v. 6., 19. u. 28. Dezember 1918 (RGBl. 1918 S. 1403,1441,1479; v. 14. u. 21. Januar 1919 (RGBl. 1919 S. 15,19,32, 35, 93.

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Erster Teil. Die geschichtliche Entwicklung der ß«iehsverfassung.

glieder in allgemeiner, unmittelbarer, gleicher und geheimer Wahl nach den Grundsätzen der Verhältniswahl mit gebundenen Listen gewählt werden. Wahlberechtigt waren alle deutschen Männer u n d Frauen, die das 20. Lebensjahr vollendet haben, wählbar alle Wahlberechtigten, die am Wahltage seit mindestens einem Jahre Deutsche waren. Ausgeschlossen wurden nur noch entmündigte und der bürgerlichen Ehrenrechte entbehrende Personen. Konkurs und öffentliche Armenunterstützung galten nicht als Wahlausschließungsgründe. Auch die Personen des Soldatenstandes besaßen das Wahlrecht. Durchschnittlich sollte auf 150 000 Einwohner ein Abgeordneter fallen. Zweiter

Abschnitt.

Der Zusammentritt der verfassunggebenden Nationalversammlung und. das Gesetz über die vorläufige Reiehsgewalt vom 10. Februar 1919. I. Am 19. Januar 1919 wurde die verfassunggebende Nationalversammlung gewählt und durch Verordnung der Reichsregierung am 21. Januar berufen, um am 6. Februar in Weimar zusammenzutreten 1 ). Hiermit war ein höchst unerfreulicher und unsicherer staatsrechtlicher Zustand beseitigt worden, der dahin formuliert worden war, daß „das Kabinett nach seinem eigenen Willen Gesetzgebung und Vollziehung nur übt als jederzeit widerrufliche und kontrollierte subjektive Befugnisse gegenüber dem Zentralrat, der damit vom Kabinett als der eigentliche Träger der revolutionären Gewalt anerkannt ist, der er zu sein behauptet" 2 ). Am 6. Februar erklärte der Volksbeauftragte E b e r t in Weimar, daß die provisorische Regierung, die ihr Mandat der Revolution verdanke, es in die Hand der Nationalversammlung zurücklegen werde. I n der N a t i o n a l v e r s a m m l u n g begrüße die Eeichsregierung d e n h ö c h s t e n u n d e i n z i g e n Souverän Deutschlands. Daß sie Trägerin der Souveränität des Volkes sei, wurde auch vom Staatssekretär Dr. Preuß festgestellt. Ebenso erklärte der „Zentralrat der Deutschen sozialistischen Republik" in einem Schreiben vom 11. Februar 1919, daß er in der Erwartung, die Nationalversammlung werde ihre volle Souveränität durchführen, die ») RGBl. S. 98. 2 ) Vgl. W a l d e c k e r , JW. 1919, S. 133; E c k s t e i n , JW. 1919, S. 137 ff.; R e c h e n b a c h , PrVerwBl. 40, 400.

Zweiter Abschn. Zusatomentr. d. Nat.-Vers. Ges. üb. d. Vorlauf. Reichsgewalt.

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ihm vom Reichskongreß der Arbeiter- und Soldatenräte übertragene Gewalt in die Hand der deutschen Nationalversammlung lege. Es war zweifellos geworden, daß mit dem Zusammentritt der Nationalversammlung diese als die einzige Trägerin der Souveränität des deutschen Volkes anzuerkennen, ist, daß alle bisherigen Organisationen, insbesondere der Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte, nicht mehr als der Auftraggeber der Volksbeauftragten gilt. Mindestens nicht mehr nach dem Erlaß des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt. I I . D i e s e s Gesetz — das „vorläufige Verfassungsgesetz" — ist, mit dem Datum vom 10. Februar 1919 (RGBl. S. 169), auf der soeben festgestellten Rechtsgrundlage erlassen und verkündet worden. Die Nationalversammlung erhielt die Aufgabe überwiesen, die künftige Reichsverfassung und außerdem sonstige dringende Reichsgesetze zu b e s c h l i e ß e n (§ 1 ) ; darin lag, daß die souveräne Nationalversammlung mit niemandem etwas zu v e r e i n b a r e n hatte. Staatsrechtlich bedeutet das, daß d a s n e u e R e i c h n i c h t e i ü v e r t r a g s m ä ß i g e r B u n d ist, daß die einheitliche, auf der Volkssouveränität beruhende Reichsgewalt stark unitaristischen Charakter haben und von verbürgten Sonderrechten der Einzelstaaten frei sein sollte. Den Einzelstaaten war nur die Befugnis verliehen, in dem vorgesehenen S t a a t e n a u s s c h u ß vorzuberaten und zu dem Verfassungsentwurf Stellung zu nehmen. Bei den anderen n i c h t die Verfassungsgesetzgebung betreffenden d r i n g e n d e n Gesetzen wurde dagegen eine Z u s t i m m u n g der einzelstaatlichen Vertretung, eine Übereinstimmung zwischen dem Staatenausschuß und der Nationalversammlung vorgesehen. Im Staatenausschuß saßen die Vertreter derjenigen deutschen Freistaaten, deren Regierung auf dem Vertrauen einer aus allgemeinen, gleichen und direkten Wahlen hervorgegangenen Volksvertretung beruhte. In dem Staatenausschusse hatte jeder Freistaat mindestens eine Stimme. Bei den größeren Freistaaten entfiel grundsätzlich auf eine Million Landeseinwohner eine Stimme, wobei ein Überschuß, der mindestens der Einwohnerzahl des kleinsten Freistaates gleichkommt, einer vollen Million gleichgerechnet wurde. Kein Freistaat durfte durch mehr als ein Drittel aller Stimmen vertreten sein. Den Vorsitz im Staatenausschuß führte ein Mitglied der Reichsregierung (§ 2 Abs. 2). Der Staatenausschuß erinnerte an den Bundesrat, unterschied sich aber von ihm in bezug auf die Gesetzgebung. -Wenn eine Übereinstimmung zwischen der Reichsregierung und dem Staatenausschuß nicht

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Erster Teil. Die geschichtliche Entwicklung der Reichsverfassung.

zustande kam, durfte jeder Teil seinen Entwurf der Nationalversammlung zur Beschlußfassung vorlegen. Ferner war der Reichspräsident befugt, die Entscheidung durch eine Volksabstimmung herbeizuführen, wenn bezüglich der „sonstigen dringenden Reichsgesetze" eine Übereinstimmung zwischen der Nationalversammlung und dem Staatenausschuß nicht zu erzielen war (§ 2 Abs. 4; § 4 Abs. 2). Die Mitglieder der Reichsregierung und des Staatenausschusses hatten das Recht, an den Verhandlungen der Nationalversammlung teilzunehmen und dort jederzeit das Wort zu ergreifen, damit sie die Ansichten ihrer Regierung vertreten. Den Freistaaten wurde zugesichert, daß ihr Gebietstand nur mit ihrer Zustimmung solle geändert werden (§ 3, 4 Abs. 1 S. 2). Kriegserklärung und Friedensschluß erfolgen durch R e i c h s g e s e t z . Verträge mit fremden Staaten, die sich auf Gegenstände der Reichsgesetzgebung beziehen, bedürfen der Zustimmung der Nationalversammlung und des Staatenausschusses. Vorgesehen war auch, daß, sobald Deutschland einem V ö l k e r b u n d mit dem Ziele des A u s s c h l u s s e s a l l e r G e h e i m v e r t r a g e beigetreten sein wird, alle Verträge mit den im Völkerbunde vereinigten Staaten der Zustimmung der Nationalversammlung und des Staatenausschusses bedürfen (§ 6 Abs. 2—4) 1 ). An die Spitze des Reichs wurde ein R e i c h s p r ä s i d e n t gestellt. E r f ü h r t die Geschäfte des Reichs, vertritt es völkerrechtlich, geht im Namen des Reichs Verträge mit auswärtigen Mächten ein, beglaubigt und empfängt Gesandte, verkündet die beschlossenen Reichsgesetze und Verträge im Reichsgesetzblatt. E r wird von der Nationalversammlung mit absoluter Mehrheit gewählt, d. h. er muß mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen erhalten. Sein Amt dauert bis zum Amtsantritt eines neuen Reichspräsidenten, der auf Grund der künftigen Reichsverfassung gewählt wird (§ 6 Abs. 1 und 5, § 7). Der Reichspräsident beruft ein R e i c h s m i n i s t e r i u m , dem sämtliche Reichsbehörden und die oberste Heeresleitung unterstellt sind. I m Sinne der p a r l a m e n t a r i s c h e n R e g i e r u n g s w e i s e ist festgelegt worden, daß die Reichsminister zu ihrer Amtsführung des Vertrauens der Nationalversammlung bedürfen, f ü r die F ü h r u n g ihrer Geschäfte verantwortlich und nicht bloß, wie früher grundsätzlich die Staatssekretäre, nur Gehilfen des Reichskanzlers sind. Alle zivilen und militärischen Verordnungen und Verfügungen des Reichspräsidenten bedürfen zu Auf die Nationalversammlung finden die Art. 21—23, 26, 32 a. RV. (Geschäftsführung und Abgeordnetenimmunität) mit der Maßgabe Anwendung, daß Art. 21 sich auch auf Soldaten bezieht. § 5 des vorliegenden VerfGesetzes.

Zweiter Abschnitt. Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt.

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ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch einen Minister (§§ 8, 9). Vorausgesetzt wird, daß an der Spitze des Ministeriums ein M i n i s t e r p r ä s i d e n t steht; der Name Reichskanzler ist hier vermieden. Von dem Zeitpunkte des Inkrafttretens dieses Gesetzes über die vorläufige Reichsgewait ab, kamen Gesetze und Verordnungen, die nach dem bisherigen Reichsrecht der Mitwirkung des Reichstags bedurften, nur durch Übereinstimmung zwischen der Nationalversammlung und dem Staateuausschusse zustande (§ 1 0 ) 2 ) . Nach Annahme des Gesetzes vom 10. Februar 1919 erklärte der Volksbeauftragte Scheidemann die geschichtliche Mission der vorläufigen Regierung als beendet; sie lege die Macht, die sie von der Revolution empfangen habe, in die Hand der Nationalversammlung. — Das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt hatte, seinem Namen entsprechend, nur einen provisorischen Charakter, wollte der endgültigen Regelung der Dinge nicht vorgreifen, die Wege, die bei Schaffung der Verfassung zu gehen sein würden, nicht sperren, die Sonderrechte der Einzelstaaten nicht beseitigen. Nach dem Willen der Mehrheit sollte der Übergang vom rechtlosen Zustand zum Zustande einer Rechtsordnung möglichst beschleunigt werden 3 ). Jedoch ist ein wichtiger Teil der endgültigen Reichsverfassung bereits in diesem Gesetz vorgebildet. Ihre Umrißlinien, so weit sie die Organisation des Reichs betreffen, treten klar hervor. ') M e v e r - A n s c h ü t z , Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 7. Aufl., S. 1038; L u k a s , Die organisatorischen Grundgedanken der RV., 1920, S. 3; O t t o M a y e r , Zur vorläufigen RV., JW. 1919, S. 210. 2 ) Am 11. Februar 1919 wurde der Volksbeauftragte E b e r t von der Nationalversammlung mit 227 der abgegebenen 328 gültigen Stimmen zum R e i c h s p r ä s i d e n t e n gewählt. Er legte sein Abgeordnetenmandat für die Nationalversammlung nieder und berief auf Grund des § 8 des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt ein R e i c h s m i n i s t e r i u m , zu dessen Präsidenten Scheidemann Da auch der Abg. Dr. D a v i d zum Reichsminister (ohne Portefeuille) berufen wurde, legte er am 13. Februar das Amt des Präsidenten der Nationalversammlung nieder. An seine Stelle wurde am 14. Februar der Abg. F e h r e , n b a c h zum Präsidenten, der Abg. S c h u l z (Ostpreußen) zum Vizepräsidenten gewählt. Am 21. Februar wurde in allen drei Beratungen das Gesetz über G e w ä h r u n g e i n e r E n t s c h ä d i g u n g a n d i e M i t g l i e d e r der v e r f a s s u n g g e b e n d e n N a t i o n a l v e r s a m m l u n g angenommen, das dann, vom 22. Februar 1919 datiert, verkündet wurde (RGBl. S. 241). 3) StenBer. S. 15, 20, 21, 26.

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Erster Teil. Die geschichtliche Entwicklung der Reichsverfassung.

Dritter

Abschnitt.

Der erste amtliche ßeichsverfassungsentwurf. Private Entwürfe. I. Im Auftrage des Rats der Volksbeauftragten arbeitete der damalige Staatssekretär Dr. Preuß einen „Urentwurf" zu einer RV. aus, der eine Gliederung des Reichs in 16 „Gebiete" vorsah 1 ). Er ist zu unterscheiden von dem vorläufigen Entwurf des Staatssekretärs Dr. Preuß, der übrigens nur einen allgemeinen Teil enthielt und mit einer D e n k s c h r i f t im Reichsanzeiger vom 20. Januar 1919 veröffentlicht wurde 2 ). 1. Der Entwurf zerfiel in vier Abschnitte, von denen der erste „Das Reich und die deutschen Freistaaten" behandelte. Er ist nur im Zusammenhang mit den leitenden Gedanken jener Denkschrift verständlich. Sie kennzeichnet die bisherige Reichsverfassung als den Versuch Bismarcks, die Formen des Föderalismus zu benutzen, um in ihnen die preußische Hegetaonie fest zu verankern, der die Verbindung des deutschen Kaisertums und der preußischen Krone nur den äußeren Glanz und das feierliche Gepränge gegeben, während ihr die wirkliche Macht und Kraft die künstliche Konstruktion des Bundesrats gesichert habe. Das Reich wurde gegründet auf den Bund der Dynastien und Regierungen mit der unvermeidlichen Zutat des demokratisch gestalteten Reichstags. Demgegenüber müsse die neue deutsche Republik unzweifelhaft als ein im wesentlichen einheitlicher Volksstaat auf das freie Selbstbestimtaungsrecht der deutschen Nation in ihrer Gesamtheit gegründet werden. An Stelle der Untertänigkeit unter eine Dynastie trete das nationale Selbstbewußtsein eines sich selbst organisierenden Staatsvolkes. Die deutsche Republik — und darin wird sie durch den dem Charakter der Revolution entsprechenden Gedanken fortschreitender Sozialisierung bestärkt — könne nur die demokratische Selbstorganisation des deutschen Volkes als einer politischen Gesamtheit sein. Das neue Reich könne selbstverständlich kein Bund der Fürsten und einzelstaatlichen Regierungen sein, aber es k ö n n e e b e n s o w e n i g aus einem Bunde der b i s h e r i g e n E i n z e l s t a a t e n in i h r e r n e u e n G e s t a l t als F r e i s t a a t e n h e r v o r g e h e n . Das Entscheidende sei nicht das Dasein dieser Einzelstaaten, sondern des deutschen Volkes selbst als einer geschichtlich gegebenen politischen Einheit. Es gebe so wenig eine preußische oder bayrische wie eine lippische oder reußische Nation, sondern nur eine d e u t s c h e , die sich in der deutschen demokratischen Republik ihre politische Lebensform gestalten soll. Wenn sich die bisherigen 25 Einzelstaaten in ihrer Verfassung und in ihrem territorialen Bestände ohne Rücksicht auf die künftige Rcichsgestaltung jetzt nach der Revolution wieder konsolidieren, so sei die Möglichkeit freier Bahn für die politische Selbstorganisation des ganzen !) Näheres bei W. J e l l i n e k , a. a. 0 . S. 46 f. ) Herausgegeben im Auftrage des Reichsamt des Innern, Verlag von Reimar Hobbing in Berlin. Eine andere Ausgabe erschien als Teil des Deutschen Geschichtskalenders im Verlage von Felix Meiner in Leipzig unter dem Titei: Der Entwurf der deutschen Reichsverfassung (Januar 1919). 2

Dritter Abschnitt.

Der erste amtliche Reichsverfassungsentwurf.

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deutschen Volkes nach den inneren Lebensnotwendigkeiten des modernen Nationalstaates wieder beseitigt. Es würde eine geschichtlich verhängnisvolle, tragische Verschuldung des deutschen Volkes bedeuten, wenn es die glückliche Beseitigung seiner 22 Dynastien nicht besser für die neue Gestaltung seines politischen Schicksals zu verwerten wüßte, als durch Schaffung eines Bundes von 25 Freistaaten. Es könne dem neuen deutschen Volksstaate zwar nichts ferner liegen, als sich dem Zuge des deutsehen Völksgeistes zu widersetzen, der eine Abneigung gegen unbeschränkte Zentralisierung allen öffentlichen Lebens und gegen eine mechanische Leitung aller Verwaltung von einem einzigen Mittelpunkte aus besitzt. Aber das Eigenleben vornehmlich auf kulturellem Gebiet und in den Formen einer frei entwickelten Selbstverwaltung stehe nicht im Widerspruch mit der notwendigen und unentbehrlichen Staatseinheit in allen für das Gemeindeleben des gesainten deutschen Volkes entscheidenden politischen und wirtschaftlichen Dingen. Wold aber stehe damit in kaum überwindlichem Gegensatze die überkommene Gestaltung der bisherigen Einzelstaaten, in deren Abgrenzung die natürlichen Zusammenhänge der Landschaften und Stäinme mit ihrer kulturellen Eigenart keineswegs aueh nur annähernd zum Ausdrucke gelangten. Die Denkschrift entwickelt hierbei den Gedanken, daß die Einzelstaaten vielmehr samt und sonders l e d i g l i c h Zufallsbildungen rein dynastischer Hauspolitik seien, die fast überall die natürlichen Zusammenhänge der Landschaften und Stämme willkürlich durchschneiden, Zusammengehöriges trennen und Unzusammengehöriges verbinden. Nur die Republik habe die Möglichkeit, aber auch die Pflicht, Zusammengehöriges wieder zu vereinen; das gelte auch für die innere Gliederung der deutschen Landschaften und StämYne zu autonomem Eigenleben innerhalb des einheitlichen Reichsstaates. Als Kernproblem der künftigen inneren Gestaltung Deutschlands ist die Frage nach dem Fortbestande eines preußischen Einheitsstaates innerhalb der künftigen deutschen Republik bezeichnet und diese Frage wird nach eingehender geschichtsphilosophischer Betrachtung verneint, die Umgestaltung der territorialen Gliederung des Reichs auf Grund freier Selbstbestimmung der Bevölkerungen nach ihren wirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnissen und Neigungen verlangt, unter Leitung, Vermittlung und Sanktionierung des Reichs.

2. Diesen hier nur in knappster Form wiedergegebenen Gedanken entsprechen die im ersten Entwurf vorgesehenen Be^ Stimmungen, von denen hier nur die wichtigsten hervorgehoben werden können. Alle S t a a t s g e w a l t liegt beim d e u t s c h e n V o l k e (§ 2 Abs. 1). Das Deutsche Reich soll bestehen aus seinen bisherigen Gliedstaaten sowie aus den Gebieten, deren Bevölkerung kraft des Selbstbestimmungsrechts Aufnahme in das Reich begehrt und durch ein Reichsgesetz aufgenommen wird (§ 1). Die Staatsgewalt wird in Reichsangelegenheiten durch die auf Grund der Reichsverfassung bestehenden Organe ausgeübt, in Landesangelegenheiten durch die deutschen Freistaaten nach Maßgabe ihrer Landesverfassungen (§ 2 Abs. 2). Dem deutschen Volke steht es frei, ohne R ü c k s i c h t auf die b i s h e r i g e n Landesg r e n z e n , neue deutsche Freistaaten innerhalb des Reichs zu errichten, s o w e i t d i e S t a m m e s a r t d e r B e v ö l k e r u n g , die w i r t s c h a f t l i c h e n Verhältnisse

lg

Erster Teil. Die geschichtliche Entwicklung der Beichsvcrfassung.

und g e s c h i c h t l i c h e n B e z i e h u n g e n die Bildung solcher Staaten nahelegen. Neu zu errichtende Freistaaten sollen mindestens zwei Millionen Einwohner umfassen. Die Vereinigung mehrerer Gliedstaaten zu einem neuen Freistaat geschieht durch Staatsvertrag zwischen ihnen, der der Zustimmung der Volksvertretungen und der Reichsregierung bedarf. Will sich die Bevölkerung eines Landesteils aus dem bisherigen Staatsverbande loslösen, um sich mit einem oder mehreren anderen deutschen Freistaaten zu vereinigen oder einen selbständigen Freistaat innerhalb des Reichs zu bilden, so bedarf es hierzu einer Volksabstimmung. Sie wird auf Antrag der zuständigen Landesregierung oder der Vertretung eines oder mehrerer Selbstverwaltungskörper, die mindestens ein Viertel der unmittelbar beteiligten Bevölkerung umfassen, von der Eeichsregierung angeordnet und von den zuständigen Landesbehörden durchgeführt. Entstehen bei der Zerlegung oder Vereinigung deutscher Freistaaten Streitigkeiten über die Vermögensauseinandersetzung, so entscheidet hierüber auf Antrag einer Partei der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich (§ 11), 3. Reichsangelegenheiten, die ausschließlich der Gesetzgebung und Verwaltung des Reichs unterliegen, müßten sein: Die Beziehungen zum Ausland, die Verteidigung des Reichs zu Lande, zu Wasser und in der Luft, die Zölle, der Handel einschließlich des Bank- und Börsenwesens sowie des Münz-, Maß- und Gewichtswesens, des öffentlichen Verkehrswesens, und zwar der Eisenbahnen, soweit sie bisher Staatsbahnen waren: — „der schwere Fehler, der einst durch die Ablehnung des Reichseisenbahnwesen« begangen wurde, muß endlich wieder gut gemacht werden", — die Binnenschiffahrt auf den mehreren deutschen Freistaaten gemeinsamen Wasserstraßen, die- Post und Telegraphie: — „für das bayerische und württembergische Postreservat ist kein Platz mehr" — und der Verkehr mit Kraftfahrzeugen zu Lande und in der Luft (§ 3). In die gesetzgeberische Zuständigkeit des Reichs werden dann, was dem bisherigen Rechte entspricht, verwiesen: Die Staatsangehörigkeit, die Freizügigkeit, das Armenwesen, das Paßwesen, die Fremdenpolizei, die Ein- und Auswanderung; das Bürgerliche Recht, das Strafrecht und das gerichtliehe Verfahren, das Versicherungswesen; aber auch das Arbeitsrecht, insbesondere Arbeiterversicherung und Arbeiterschutz; das Gewerberecht, die Seeschiffahrt, das Presse-, Vereins- und Versammlungs- und das Gesundheitswesen. Neu ist und von besonderer Bedeutung die Zuständig-

Dritter Abschnitt.

Der erste amtliche Reichsverfassungsentwurf.

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keit bezüglich der f ü r das Reich zu erhebenden Steuern und Abgaben sowie der Einrichtung von Betrieben zu Reichszwecken, des Enteignungsrechts f ü r diese, der Bodengesetzgebung, sowie Kirche und Schule (§ 4). Unwirtschaftlich genutzter Großgrundbesitz, insbesondere der gebundene, ist zur Begründung ländlicher Heimstätten aufzuteilen, wenn nötig, im "Wege der Enteignung. Mittelund Kleingrundbesitz sind durch Schutz gegen Aufsaugung und Bewucherung zu festigen (§ 28). 4. Jeder Deutsche hat volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die freie Ausübung gottesdienstlicher Handlungen ist innerhalb der Schranken der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung gewährleistet. Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit gezwungen werden. Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung oder seine Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft zu offenbaren. Die Behörden haben nicht das Recht, danach zu fragen. Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig, ist aber den allgemeinen Gesetzen unterworfen. Keine Religionsgemeinschaft genießt vor anderen Vorrechte durch den Staat. Über die Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche wird ein Reichsgesetz Grundsätze aufstellen, deren Durchführung Sache der deutschen Freistaaten ist (§ 19). Der Unterricht soll allen Deutschen gleichmäßig nach Maßgabe der Befähigung zugänglich sein (§ 20 Abs. 2) x ). 5. Verlangt wird, daß jeder deutsche Freistaat eine L a n d e s v e r f a s s u n g haben muß, die u. a. auf den Grundsätzen des Einkammersystems beruht; die Volksvertretung ist in allgemeiner, unmittelbarer, gleicher und geheimer Wahl unter Beteiligung der Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl zu wählen. Die Landesregierung muß dieser Volksvertretung verantwortlich und von ihrem Vertrauen abhängig sein (§ 12 Nr. 1 und 2). Über V e r f a s s u n g s s t r e i t i g k e i t e n innerhalb eines deutschen Freistaates sowie über Streitigkeiten nicht privatrechtlicher Art zwischen verschiedenen deutschen Freistaaten entscheidet auf Antrag einer Partei der Staatsgerichtshof f ü r das Deutsche Reich, dessen Urteil erforderlichenfalls der Reichspräsident vollstreckt (§ 13). 6. .Jeder deutsche Freistaat, reichsverfassungsmäßig gesichert, soll eine Landesverfassung haben, die den Gemeinden und Gemoindeverbürulen die S e l b s t v e r w a l t u n g ihrer Angelegenheiten zuweist. Ihre Vorstände werden entweder un1 ) Die §§ 19, 20 und 2fi sind in dem zweiten Abschnitt über die Grundrechte des deutschen Volkes eingefügt, jedoch in § 4 m Bezug genommen. S t i e r - S o m l o , Bc'ichsv«rl'u8«u»tr. 11. Aul). 2

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Erster Teil. Die geschichtliehe Entwicklung der Reichsverfassung.

mittelbar nach. den. für die Volksvertretung geltenden Grundsätzen oder durch eine aus solchen Wahlen hervorgegangene Vertretung gewählt. Die Aufsicht des Staates beschränkt sich auf die Gesetzmäßigkeit und Lauterkeit der Verwaltung und die Grundlagen der Finanzgebarung- (§ 12 Nr. 3). 7. Soweit die Ausführung der Reichsgesetze nicht den Reichsbehörden zusteht, sollen die Landesbehörden verpflichtet sein, den Anweisungen der Reichsregierung Folge zu leisten. Die Reichsregierung hat die Pflicht und das Recht, die Ausführung der Reichsgesetze zu überwachen und kann zu diesem Zwecke in die deutschen Freistaaten Beauftragte senden, denen die Akten vorzulegen sind und jede gewünschte Auskunft erteilt werden muß. Bei Zuwiderhandlungen kann gegen die schuldigen Landesbeamten auf Grund der für die Reichsbeamten geltenden Disziplinarvorschriften vorgegangen werden (§ 8). 8. Die; bisherigen Reichsgesetze sollten in Kraft bleiben, soweit ihnen nicht die Verfassung entgegensteht; die Befugnisse, die nach den bisherigen Reichsgesetzen dem Kaiser zustanden, auf den Reichspräsidenten unter verantwortlicher Mitwirkung der Reichsminister, die Verwaltungsbefugnisse des Bundesrats auf die zuständigen Reichsministerien übergehen, die sie nach Anhörung der Reichsräte ausüben. Der Übergang von Befugnissen, die der bisherige Reichstag hatte, auf das Volks- und Staatenhaus war ebenfalls vorgesehen (§ 6). Altes Recht übernimmt der Satz, daß Reichsrecht Landesrecht bricht (§ 5), daß Reichsgesetze mit dem 14. Tage nach dem Ablauf des Tages in Kraft treten, an dem das betreffende Stück des Reichsgesetzblattes in Berlin ausgegeben worden ist, wenn nicht in dem Gesetze selbst ein anderer Zeitpunkt für den Beginn seiner verbindlichen Kraft bestimmt wird (§ 7). 9. Ein Reichsgesetz soll die V e r w a l t u n g s r e c h t s p f l e g e in Fragen des Reichsrechts sowie die Errichtung von Verwaltungsgerichten der Länder regeln (§ 9); nach Maßgabe eines Reichsgesetzes soll ein S t a a t s g e r i c h t s h o f für das Deutsche Reich errichtet werden; bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes soll seine Befugnisse ein' Senat von sieben Mitgliedern ausüben, den das Plenum des Reichsgerichts aus seiner Mitte wählt. Das Verfahren vor diesem Senat werde vom Plenum des Reichsgerichts geregelt (§ 10). 10. Die R e g i e r u n g e n der deutschen Freistaaten sollen das Recht haben, zur Reichsregierung Vertreter zu entsenden (§ 14). Bei den einzelnen Reichsministerien sollten aus den Vertretern der Freistaaten nach Bedarf R e i c h s r ä t e bestellt werden, deren Gutachten vor der Einbringung von Ge-

Dritter Abschnitt. Der erste amtliche Reichsverfassungsentwurf.

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setzesvorlagen beim Reichstag und vor dem Erlaß der zur Ausführung der Reichsgesetze erforderlichen allgemeinen Verwaltungsvorschriften einzuholen ist. Die Vertreter der Freistaaten sind berechtigt, im Reichstag den Standpunkt ihrer Regierung zu dem Gegenstande der Verhandlung zur Geltung zu bringen und müssen zu diesem Zwecke während der Beratung auf Verlangen jederzeit gehört werden (§§ 15, 16). 11. Die O r d n u n g d e r o b e r s t e n O r g a n e sollte im I I I . und IV. Abschnitt ihre rechtliche Bestimmung finden. Dort wird vom Reichstag, hier vom Reichspräsidenten und der Reichsregierung gesprochen. Der R e i c h s p r ä s i d e n t soll vom ganzen deutschen Volke gewählt werden, sein Verhältnis zur Volksvertretung durch das parlamentarische System bestimmt sein, derart, daß er sein Kabinett unter Rücksicht auf die Mehrheitsverhältnisse der Volksvertretung bildet, deren Vertrauen die Minister f ü r ihre Amtsführung besitzen müssen und der sie politisch verantwortlich sind. Die Ernennung des Reichskanzlers und der anderen Mitglieder der Reichsregierung ist die wichtigste Aufgabe des Reichspräsidenten. Seine rechtliche Stellung ist im übrigen die eines Vertreters des deutschen Volkes nach außen, insbesondere in völkerrechtlicher Beziehung (Schließung von Bundes- und anderen Verträgen, durch die Mitwirkung des Reichstages beschränkt, Gesandtschaftsrecht). Kriegserklärung und Friedensschluß erfolgt durch Reichsgesetz. Das Recht zur Ernennung von Beamten und Offizieren, zur Begnadigung, Durchführung der Exekution gegen Freistaaten, Anwendung bewaffneter Macht bei inneren Unruhen usw. unterstreichen die Ähnlichkeit der Stellung des Reichspräsidenten mit der des bisherigen Kaisers. Bei der Schaffung von Gesetzen ist dem Reichspräsidenten ein Veto eingeräumt: Kommt eine Übereinstimmung zwischen den beiden Häusern des Reichstags über eine Gesetzesvorlage nicht zustande, so ist der Reichspräsident berechtigt, eine Volksabstimmung über den Gegenstand der Meinungsverschiedenheit herbeizuführen (§§ 50—60, 62—64). Im Verhältnis des Reichspräsidenten zum Parlament mußte der Fall der ausgleichbaren politischen Konflikte in dem Sinne der Entscheidung des Volkes geregelt werden. Der Präsident sollte befugt sein, durch Auflösung des Parlaments Berufung von der Volksvertretung an das Volk selbst einzulegen. I n besonders schweren politischen Konfliktsfällen war auch dem Reichstag die Befugnis zugedacht, das Volk zu einem Urteil über die politische Haltung des Präsidenten anzurufen, indem der Reichstag durch Beschluß einer Zweidrittelmehrheit die Volksabstimmung über die Weiterführung der Präsidentschaft ver2*

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Erster Teil. Die geschichtliche Entwicklung der Reichsverfassung.

anlaßt. Bestätigt dabei das Volk die politische Haltung des Präsidenten, so schien es sich zur Vermeidung einer allzu großen H ä u f u n g solcher Aktionen zu empfehlen, dieses durch Referendum erteilte Vertrauensvotum zugleich als Wiederwahl des Präsidenten f ü r einen neuen Amtstermin gelten zu lassen. Dieser Amtstermin selbst wird bei solcher Möglichkeit, in ernsten und wichtigen Fällen auch während seiner Dauer an das Volk appellieren zu können, auf einen längeren Zeitraum — sieben Jahre — bemessen, um im Amte des Reichspräsidenten ein Element ruhiger Dauer in den staatlichen Organismus einzufügen (Denkschrift S. 26). Vorgesehen war auch seine Befugnis, innerhalb einer bestimmten Frist Gesetzentwürfe zur nochmaligen Beratung und Beschlußfassung an den Reichstag zurückzuverweisen. Die politische Verantwortlichkeit des Reichspräsidenten kommt in der durch Reichstagsbeschluß herbeizuführenden Volksabstimmung über seine Absetzung zur Geltung, wie die politische Verantwortlichkeit des Reichskanzlers und der Reichsminister durch die Abhängigkeit ihrer Amtsführung von der parlamentarischen Mehrheit. Wegen Verfassungs- oder Gesetzesverletzung kann der Reichspräsident (übrigens auch der Reichskanzler und die Reichsminister) durch Beschluß einer Zweidrittelmehrheit des Reichstags vor dem Staatsgerichtshof angeklagt werden (§§ 60, 67, 73). 12. Das p a r l a m e n t a r i s c h e S y s t e m kommt in den Vorschriften zum Ausdruck, daß der Reichskanzler und auf dessen Vorschlag die Reichsminister (zusammen bilden sie die Regierung) vom Reichspräsidenten ernannt werden, daß sie zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Volkshauses bedürfen und jeder von ihnen zurücktreten muß, wenn ihm das Volkshaus das Vertrauen durch einen ausdrücklichen Beschluß entzieht. Der Reichskanzler trägt dem Reichstag gegenüber die Verantwortung f ü r die Richtlinien der Reichspolitik, jeder Reichsminister selbständig die Verantwortung f ü r die Leitung des ihm anvertrauten Geschäftszweiges. Jedes Haus kann die Anwesenheit des Reichskanzlers und der Reichsminister verlangen; sie müssen im Reichstage auf Verlangen- jederzeit gehört werden (§ 68—72). 13. Den R e i c h s t a g wollte der vorläufige Verfassungsentwurf mit zwei Kammern ausstatten. Das V o l k s h a u s sollte aus Abgeordneten des einheitlichen deutschen Volkes bestehen und nach dem später f ü r die verfassunggebende Nationalversammlung bereits angewandten Wahlsystem gewählt werden. Das S t a a t e n h a u s sollte aus den Abgeordneten der deutschen Freistaaten zusammengesetzt sein. Die Abgeord-

Dritter Abschnitt. Der erste amtliche Reichsverfassungsentwurf.

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neten sollten von den Landtagen der deutschen Freistaaten aus der Mitte der Staatsangehörigen nach Maßgabe des Landesrechts gekoren werden. Bei der Bildung des Staatenhauses sollte grundsätzlich auf eine Million Landeseinwohner ein Abgeordneter entfallen, dagegen war nicht zu ersehen, auf wie viel Reichsangehörige ein Abgeordneter des Volkshauses kommen sollte, wie groß die Zahl der Mitglieder dieser Kammer zu sein hätte. Kein deutscher Freistaat hätte durch mehr als ein Drittel aller Abgeordneten vertreten sein dürfen. I m übrigen wurden die aus der bisherigen Reichsverfassung bekannten Rechtsätze über die Berufung, Vertagung, Schließung und Auflösung des Reichstages, über Geschäftsgang, Disziplin, Geschäftsordnung, Wahl des Präsidenten usw. mit einigen Änderungen wiederholt. Nicht nur Beamte, sondern auch Militärpersonen bedürfen zur Teilnahme an den Reichs'tagswahlen eines Urlaubs nicht. Die Wahlperiode soll nicht mehr fünf, sondern drei Jahre dauern. Die Sitzungsperioden beider Häuser des Reichstages sollten die gleichen sein. Geheimsitzungen können stattfinden, wenn über Beziehungen des Reichs zu auswärtigen Staaten beraten wird. Zur Untersuchung der Frage, ob ein Mitglied des Reichstages das Recht der Mitgliedschaft verloren hat, sollte beim Reichstag selbst ein W a h l p r ü f u n g s g e r i c h t gebildet werden. E s sollte bestehen aus der erforderlichen Zahl von Mitgliedern des Reichtages und des R e i c h s v e r w a l t u n g s g e r i c h t s oder, bis zu dessen Errichtung, des Reichsgerichts. Zum Beschluß eines jeden Hauses des Reichstages sollte die Teilnahme von mindestens der Hälfte der gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder und einfache Stimmenmehrheit erforderlich sein, sofern nicht die Reichsverfassung ein anderes Stimmenverhältnis vorschreibt. E i n Reichsgesetz erfordert die Übereinstimmung der Mehrheitsbeschlüsse beider Häuser des Reichstages. Verfassungsänderungen können vorgenommen werden, wenn in beiden Häusern des Reichstages mindestens zwei Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl anwesend sind und mindestens zwei Drittel der Anwesenden zustimmen. Nach Ablauf von fünf Jahren nach dem Inkrafttreten dieser Verfassung sollte jede Verfassungsänderung der Bestätigung durch eine V o l k s a b s t i m m u n g bedürfen. Die Vorschriften über die I m m u n i t ä t der Abgeordneten, über die Zulässigkeit wahrheitsgetreuer B e r i c h t e hinsichtlich der Verhandlungen des Reichstages und über die Entschädigungen der Reichstagsmitglieder, denen auch freie Fahrt zukommen soll, entsprechen im großen und ganzen dem bisherigen Rechtszustand. Hervorgehoben sei noch, daß jedes Haus des Reichs-

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Erster Teil. Die geschichtliche Entwicklung der Reichsverfassung.

tages das Recht und auf Verlangen von einem F ü n f t e l seiner Mitglieder die Pflicht hat, A u s s c h ü s s e z u r U n t e r s u c h u n g v o n T a t s a c h e n e i n z u s e t z e n , wenn die Gesetzlichkeit oder Lauterkeit von Regierungs- oder Verwaltungsmaßnahmen des Reichs angezweifelt wird. Die Ausschüsse erheben in öffentlicher Verhandlung die Beweise, die sie oder die Antragsteller f ü r erforderlich erachten. Alle Gerichte und Verwaltungsbehörden sind verpflichtet, dem E r suchen dieser Ausschüsse um Beweiserhebungen Folge zu leisten. Alle behördlichen Akten sind diesen Ausschüssen auf Verlangen vorzulegen (§§ 30—57). 14. Endlich hat der vorläufige Entwurf im I I . Abschnitt „ D i e G r u n d r e c h t e d e s d e u t s c h e n V o l k e s " formuliert. Das ist größtenteils altes K u l t u r g u t . Wie in den meisten Verfassungsurkunden des Erdballs finden wir hier mit denselben oder ähnlichen Wendungen die Freiheit der Person, des Eigentums, der Wohnung, der Meinungsäußerung, der Wissenschaft und ihrer Lehre und die Gleichheit vor dem Gesetz verbürgt. Hervorgehoben sei nur, was von dem allgemein Üblichen abweicht. Es wird besonders betont, daß alle Vorrechte oder rechtlichen Nachteile der Geburt, des Standes, Berufes oder Glaubens beseitigt sind und daß ihre Wiederherstellung durch Gesetz oder Verwaltung verfassungswidrig ist. Die auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit bezüglichen Sätze sind schon erwähnt worden. Auch die Beschränkung der Koalitionsfreiheit ist verboten. Fremdsprachigen Volksteilen innerhalb des Reichs darf durch die Gesetzgebung und Verwaltung nicht ihre eigene volkstümliche Entwicklung beeinträchtigt werden. Sie dürfen insbesondere nicht im Gebrauch ihrer Muttersprache beim Unterricht sowie bei der inneren Verwaltung und der Rechtspflege innerhalb der von ihnen bewohnten Landesteile benachteiligt werden (§§ 18—29). Die Kritik des scharf unitarischen Entwurfes war sehr lebhaft und für die endgültige Gestaltung der RV. fruchtbar. In der Wissenschaft, in der gesalnten Öffentlichkeit und in der Presse fanden heftige Angriffe wegen der Stellung des Entwurfs zum preußischen Staate statt. Vgl. auch A n s c h ü t z , Der Aufbau der obersten Gewalten im Entwurf der deutschen RV., DJZ. 1919, S. 199, s. auch daselbst S. 118 ff., 203 und in, der Zeitschrift „Deutsche Politik" 1918, S. 112ff.; F r i e d b e r g , Preußen in dem Entwurf der künftigen RV., DJZ. 1919, Sp. 193; S t i e r - S o m l o in Artikeln der Köln. Ztg. v. 8., 9. u. 10. Februar 1919, Nr. 92 8.; R a c h f a h l , Preußen und Deutschland 1919, besonders S. 25ff.; E r i c h K a u f m a n n , Grundfragen der künftigen Reichsverfassung, 1919 und d e s s e l b e n Aufsätze im „Tag" v. 27. Februar, 9. und 11. März 1919 über Reichsheer und Reichseisenbahnen sowie über den Reichsrat; G m e 1 i n , Warum ist der Reichsverfassungsentwurf für uns Süddeutsche unannehmbar? Gießen 1919; Z o r n , Reich und Einzelstaaten im deutschen Staatsbau der Zukunft, im „Tag" vom 11. Februar 1919, Nr. 29; G ö p p e r t ,

Dritter Abschnitt. Der erste amtliche Reichsverfassungsentwurf.

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Vor der Beratung des endgültigen Verfassungsentwurfs in der Nationalversammlung schritt man zur formellen Legalisierung des vpr- und nachrevolutionären Hechts. Es geschah dies durch das sog. Übergangsgesetz. II. Erwähnt werden müssen auch nichtamtliche Entwürfe. Als zeitlich erster legte Verfasser dieses Buches am 22. Dezember 1918 der Öffentlichkeit einen vollständigen Entw,urf einer Reichsverfassung vor in der Schrift „Verfassungsurkunde der Vereinigten Staaten von Deutschland (Demokratische Reichsrepublik)", Tübingen 1919, J. C. B. Mohr (Dr. Paul Siebeck). Vgl. darüber R i c h a r d H e t z , Deutsche Rundschau (Berlin), Mai 1919, S. 319 ff. Die in meiner Schrift festgehaltene Grundauffassung eines Bundesstaates mit Berücksichtigung eines ausreichenden Föderalismus habe ich ausgebaut in den Abhandlungen „Die neue Reichsverfassung, Grundsätze und Umrisse" in der Kölnischen Zeitg. v. 8., 9. und 10. Januar 1919, Nr. 18, 23, 24. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem ersten Entwurf des Staatssekretärs Dr. P r e u ß findet sich von mir in der Aufsatzreihe „Die künftige Verfassung des Deutschen Reichs" in der Köln. Zeitg. vom 8., 9. u. 10. Febr. 1919, Nr. 92, 96, 98. Die seitherige Entwicklung im Deutschen Reiche hat meine Grundeinstellung, die den Ländern Schutz vor allzu schroffem Unitarismus geben wollte, gerechtfertigt. Es sind dann noch erschienen: K u r t L ö w e n s t e i n und F r i t z S t e r n , Entwurf einer deutschen Verfassung (Königsberg i. Pr., T e l e m a n n ) 24 S.; A. R o t h , Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs (Mannheim 1919, J. Bensheimer, 31 S.); Die deutsche Nation, Eine Zeitschrift für Politik, Sonderheft: Entwurf für die Verfassung des neuen Deutschen Reichs, Ende Dezember 1918, 31 S.; Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs, herausgegeben vom Verfassungsausschuß des Vereins „Recht und Wirtschaft" e. V. in Berlin (Verlag von Reimar Hobbing in Berlin), 39 S. Die hierzu fehlende Begründung hat teilweise nachgeliefert der Mitarbeiter jenes Entwurfes E r i c h K a u f m a n n in der Schrift: Grundfragen der Zur neuen Reichsverfassung, im „Tag" vom 18. und 19. März 1919, Nr. 56, 57. Vgl. ferner: „Das Werk des Herrn Preuß oder Wie soll eine Reichsverfassung nicht aussehen?" Mit Beiträgen von J o h . V i k t o r B r e d t , F l o r e n s C h r . R a n g , W i l h . v. F l ü g g e und O t t o H o e t z s c h , nebst Gegenentwurf einer Reichsverfassung, herausgegeben von J o h . V i k t o r B r e d t , Berlin 1919; Kritische Bemerkungen zum Regierungsentwurf der künftigen Reichsverfassung, Zeitschrift „Die Deutsche Nation", Febr.-Heft 1919, S. 15ff.; P o e t z s c h , Das Staatenhaus, daselbst März-Heft S. 29ff.; S t i e r - S o m 1 o , Die rechtliche Stellung des Reichspräsidenten, daselbst Juni-Heft S. 23 ff.; R o t h e n b ü c h e r in der Zeitschr. f. Rechtspflege in Bayern Bd. 15 (1919 Nr. 4, S. 65 ff.; K o c h in der Deutschen Allg. Ztg. v. 15. Februar 1919, Abendausg., Beiblatt; G i e s e in den Frankf. Nachrichten Nr. 50, 52 v. 28. u. 29. Januar 1919. Auch der preußische Ministerpräsident hat sich mit größter Entschiedenheit gegen den vorläufigen Entwurf ausgesprochen, ebenso der preußische Minister H e i n e in der Nationalversammlung voln 3. März und 29. Juli 1919 (StenBer. 457 f., 481, 1808 f.). Auch die Frage des Ein- oder Zweikammersystems (Staatenhaus neben dem Volkshaus), des Einflusses, den das Reich "hinsichtlich der Landesverfassungen erhalten sollte, der Reichsaufsicht über die Länder, Gewährung weitgehender Provinziadautonomie wurden viel erörtert. Auch die einzelstaatlichen Regierungen regten sich energisch und führten eine Zusammenkunft mit der Reichsregierung am 25. und 26. Januar 1919 herbei.' Hier wurden die Länder beruhigende Erklärungen abgegeben. Über all dies im einzelnen S t i e r - S o m l o , Reichs- und Landesstaatsrecht 1 248—258.

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Exster Teil. Die geschichtliche Entwicklung der Reichsverfassung. künftigen Reichsverfassung (Berlin 1919, Vossische Buchhandlung) 52 S., sowie im März-Heft 1919 der Zeitschrift: Recht und Wirtschaft; B i n d i n g , daselbst April-Heft. Zu beachten sind ferner noch W e c k , Die neue Rfiichsverfassung. Ein Vorschlag 1919; B i n d i n g , Die staatsrechtliche Verwandlung des deutschen Reichs (Leipzig 1919, Emanuel Reinicke) 50 S.; T h o m a , Deutsche Verfassungsprobleme, Annalen für soziale Politik usw. 6 409ff.; M e i n e c k e , Bemerkungen zum Entwurf der Reichsverfassung, Februar-Heft der „Deutschen Politik"; H ü b n e r , Was verlangt Deutschlands Zukunft von» der neuen Reichsverfassung? 1919; Kleinere Aufsätze von G e r 1 a n d , Preuß. VerwBl. 40 321; v. M i l t n e r , Leipzig, Zeitschr. f. d. Recht, 1919, Sp. 169; G m e l i n , Warum ist der Reichsverfassungsentwurf für uns Süddeutsche unannehmbar? 1919; K o c h , Deutsche Allg. Zeitg. v. 15. Februar 1919, Abendausg., Beiblatt; Z o r n im „Tag" v. 11. Februar 1919, Nr. 29; G ö p p e r t , daselbst Nr. 56, 57 v. 18. und 19. März 1919; R o t h e n b ü c h e r , Zeitschr. f. Rechtspflege in Bayern, 1919, S. 65 ff.; G i e s e , Frankfurter Nachrichten Nr. 50, 52 v. 28. und 29. Januar 1919; B a t o c k i , Hat der preußische Staat noch Daseinsberechtigung? Deutsche Allg. Zeitg. v. 10. Dezember 1918, Morgenausgabe. Vgl. auch den privaten Verfassungsentwurf von Staatsminister Dr. D r e w s und die Schrift von E r i c h B r a n d e n b u r g , Wie gestalten wir unsere künftige Verfassung? Leipzig 1919.

Vierter Abschnitt.1) Das Übergangsgesetz Tom 4. März 1919. Die mit Gesetzeskraft erlassenen Verordnungen der revolutionären Regierungen waren rechtsgültig, weil die Legitimität der Staatsgewalt nicht erfordert wird (vgl. oben S. 9). Es waren jedoch starke Strömungen erwachsen, die, wegen der politischen Unerwünschtheit gewisser Anordnungen, zu einer heftigen Befehdung mancher Rechtssetzungen der revolutionären Regierung geführt haben und sich an die Möglichkeit ihrer Rechtsungültigkeit klammerten. Zur Überwindung aller Schwierigkeiten und zwecks Schaffung der Rechtssicherheit wurde in dem Ü b e r g a n g s g e s e t z vom 4. März 1919 (RGBl. S. 285) eine abschließende Regelung getroffen. Auf dieses ist nunmehr, seine einzelnen Bestimmungen prüfend, näher einzugehen 2). 1. Die bisherigen Gesetze und Verordnungen des Reichs bleiben bis auf weiteres in Kraft, soweit ihnen nicht dieses Gesetz oder das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar 1919 entgegensteht (§ 1 Satz 1 des Übergangsgesetzes). Die Revolution hat also n i c h t alle Gesetze beseitigt, „an deren Beseitigung jemand gerade ein Interesse hatte". !) Sachlich übereinstimmend, doch viel eingehender S t i e r - S o m l o , Reichs- und Landesstaatsrecht 1 259—267. 2 ) Siehe für das Folgende: Drucksachen der Verfassunggebenden Nationalversammlung Nr. 43, 65, 74, 78, 93, 100. StenBer. S. 344 C bis 367 B, 371 B, 418D bis 446 C, sowie E r w i n J a c o b i , a, a. O. S. 299fi

Vierter Abschnitt. Das Übergangsgesetz vom 4. März 1919.

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2. I n K r a f t bleiben auch alle von dem Rate der Volksbeauftragten oder der Reichsregierung bisher (d. h. bis zum Inkrafttreten des Übergangsgesetzes, am 7. März 1919) erlassenen und verkündeten Verordnungen (§ 1 Satz 2). Was das Verhältnis eines vorrevolutionären Gesetzes oder einer vorrevolutionären Verordnung einerseits und einer Verordnung des Eats der Volksbeauftragten andrerseits betrifft, so ist dahin zu entscheiden, daß jene nur in K r a f t geblieben sind, wenn das Übergangsgesetz nicht mehr im Wege steht. Da dieses die Rechtsgültigkeit der Verordnungen des Rats der Volksbeauftragten bestätigt, gelten die vorrevolutionären Rechtsnormen nur, wenn sie mit den revolutionären Verordnungen nicht zusammenstoßen. Denn das jüngere Gesetz geht dem älteren vor. § 1 Satz 2 des Übergangsgesetzes ist so gefaßt worden, daß die Rechtsgültigkeit auch der n a c h dem 10. Februar erlassenen Verordnungen gedeckt wird. Vorausgesetzt sind Verordnungen sowohl des Rats der Volksbeauftragten als auch die der Reichsregierung, wenn sie erlassen u n d verkündet sind. Ein Verzeichnis dieser Verordnungen ist der Nationalversammlung innerhalb der Frist von einem Monat nach Inkrafttreten des Übergangsgesetzes vorzulegen gewesen. Das Verzeichnis war im Reichsanzeiger zu veröffentlichen; Verordnungen, die in diesem Verzeichnis fehlen, treten mit dieser Veröffentlichung außer K r a f t (§ 1 Satz 3 und 5)*). Diese Verordnungen werden vielfach auch als „Gesetze" bezeichnet, z. B. der A u f r u f der Volksbeauftragten vom 12. November 1918 in den Verfügungen des preußischen Justizministers vom 23. und 26. November 1918 über Gewährung von Straffreiheit. Das ist insofern nicht ganz unrichtig, „als mit Inkrafttreten der von dem Aufruf verkündeten Regierungsgewalt eine besondere, das Gesetz von der Verordnung unterscheidende Form zu bestehen aufhörte" 2 ). 3. Nach § 1 Satz 4 ist eine Verordnung v o n d e r R e i c h s r e g i e r u n g außer K r a f t zu setzen, wenn die Nationalversammlung dies innerhalb dreier Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes beschließt. Natürlich ist in dieser Befugnis auch das Recht enthalten, einen T e i l der Verordnung seiner Rechtskraft zu entkleiden. Doch muß sie gewissermaßen teilbar sein; ist sie das nicht, so kann sie nur im ganzen aufgehoben werden; z. B. kann nicht etwa eine J ) Ein „Verzeichnis der von dein Eate der Volksbeauftragten oder der Regierung erlassenen und verkündeten Verordnungen" ist am 29. März 1919 als Drucksache Nr. 223 der verfassunggebenden Nationalversammlung vorgelegt worden. 2 ) S c h w a l b , a. a. 0. S. 286.

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Erster Teil. Die geschichtliche Entwicklung der Reichsverfassung.

anordnende Vorschrift beibehalten, die sie sichernde Strafbestimmung aber außer K r a f t gesetzt werden. Es ist also n i c h t so, daß alle Verordnungen automatisch außer K r a f t traten, die nicht innerhalb einer Frist von drei Monaten die Genehmigung der Nationalversammlung gefunden haben. Tatsächlich ist in dieser Sperrfrist keine einzige Verordnung aufgehoben worden. 4. Andere Vorschriften des Übergangsgesetzes haben d a s Verfassungsrecht weiter entwickelt. a) Soweit in den Gesetzen oder Verordnungen des Reichs auf den Reichstag verwiesen wird, tritt an seine Stelle die Nationalversammlung (§ 2). b) Soweit in den Gesetzen und Verordnungen des Eeichs auf den Bundesrat verwiesen wird, tritt an seine Stelle der Staatenausschuß (§ 3 Satz l ) 1 ) . Das Recht zur Mitwirkung an der Gesetzgebung sowie Befugnisse gegenüber der Nationalversammlung standen dem Staatenausschusse nur im Rahmen des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt zu. Es bedurften danach die Vorlagen der Reichsregierung (abgesehen von der Bestimmung des § 2 Abs. 4 des letzterwähnten Gesetzes) der Zustimmung des Staatenausschusses und Reichsgesetze konnten mit Ausnahme der künftigen Reichsverfassung nur durch Übereinstimmung zwischen Staatenausschuß und Nationalversammlung zustande kommen, vorbehaltlich des Rechts des Reichspräsidenten eine Volksabstimmung herbeizuführen, wenn eine solche Übereinstimmung nicht zu erzielen war. Der Ausdruck „Befugnisse gegenüber der Nationalversammlung" wurde mit Rücksicht darauf gewählt, daß dem Bundesrat das Recht der Mitwirkung bei der Auflösung des Reichstags zustand, das —• weder richterlicher noch gesetzgeberischer Natur — ein Ausfluß seiner Verwaltungsbefugnisse war. Bei glatter Übernahme der Verwaltungsbefugnisse des Bundesrats auf den Staatenausschuß wäre die Annahme nicht ausgeschlossen gewesen, der Staatenausschuß habe auch das Recht, bei der Auflösung der Nationalversammlung mitzuwirken. Die Nationalversammlung wollte aber unauflösbar sein, wie sich aus ihrer Souveränität ergab. Welche Befugnisse des Staatenausschusses g e g e n ü b e r der Nationalversammlung gemeint waren, bleibt unklar. Der Bundesrat hatte solche nur in Ü b e r e i n s t i m m u n g mit dem Reichstag. Der „Die Einsetzung des Staatenausschusses verdankt man einem Führer der unabhängigen Sozialdemokratie." Reichsjustizminister L a n d s b e r g in der Sitzung der Nationalversammlung vom 27. Februar 1919, StenBer. S. 344. Doch galt dies nur bis zum Inkrafttreten der neuen RV., weil diese die Bezeichnung „Reichsrat" aufnimmt; s. Art. 60—67.

Vierter Abschnitt. Das Übergangsgesetz vom 4. März 1919.

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Bundesrat war nach der herrschenden Meinung das eigentliche Organ der Gesetzgebung, beschloß Uber die dem Reichstag zu machenden Vorlagen und die von ihm gefaßten Beschlüsse (Art. 7 Ziff. 1 der a. R'V.) mit rechtlicher Freiheit und durch seinen Beschluß erfolgte die Sanktion der Reichsgesetze ')• Weder in seiner Eigenschaft als Organ der V e r w a l t u n g noch als Organ der R e c h t s p f l e g e hatte der Bundesrat „Befugnisse g e g e n ü b e r dem Reichstag" 2 ). c) E i n V e r o r d n u n g s r e c h t i s t d e m S t a a t e n a u s s c h u s s e n i c h t b e i g e l e g t w o r d e n ; es ist auch das aus dem Ermächtigungsgesetz vom 4. August 1914 hervorgegangene Verordnungsrecht des Bundesrats n i c h t auf den Staatenausschuß übergegangen 3 ). Im wesentlichen waren es die V e r w a l t u n g s befugnisse des früheren Bundesrats, die durch das Übergangsgesetz dem Staatenausschuß übertragen wurden. Doch fehlte es ganz an der Festsetzung der Befugnisse des Staatenausschusses als Organ der Verwaltung, übrigens auch der Rechtspflege. 5. Die Befugnisse, die nach den Gesetzen oder Verordnungen des Reichs dem Kaiser zustehen, gehen auf den Reichspräsidenten über (p 24 des Übergangsgesetzes). Weil auch die a. RV. in gewissen Grenzen grundsätzlich in K r a f t blieb, ging auf den Reichspräsidenten auch das Recht über, f ü r das Gebiet des Deutschen Reichs oder einen Teil davon ohne das Parlament den Belagerungszustand zu verhängen (Art. 68 a. RV.; hiervon ist auch mehrfach Gebrauch gemacht worden), den Landsturm aufzurufen, den Grenzschutz aufzustellen, die militärische Verwendung der einzelnen Truppenteile, die militärischen Formationen zu bestimmen usw. (Art. 63 ff. a. RV.); die Truppen sind verpflichtet, den Befehlen des Reichspräsidenten unbedingt Folge zu leisten; diese Verpflichtung ist in den Fahneneid aufzunehmen (Art. 67 a. RV.) 4 ). 3 ) L a b a n d , Deutsches Reichsstaatsrecht, 7. Aufl., bearbeitet von O t t o M a y e r , 1919, S. 65. 2 ) Vgl. a. a. 0., S. 65—69. 3 ) Dies ist wichtig wegen Art. 179 Abs. 2 RV. und nach dem aus den Geset.zgebungsiiiaterialien hervorgehenden deutlichen Willen des Parlaments zweifellos; doch ist anderer Meinung E r w i n J a c o b i a.a.O. Arch. f. öff. R. 39 (1920) 308. Vgl. auch das Gesetz über eine vereinfachte Form der Gesetzgebung für die Zwecke der Übergangswirtschaft v. 17. April 1919 (RGBl. S. 394) und hierzu P O e t z s c h , Arch. f. öff. R. 40 (1921) 156 ff. 4 ) Siehe auch das Gesetz über die Bildung einer vorläufigen R e i c h s w e h r vota 6. März 1919 (RGBl. S. 295) nebst Ausführungsverordnung vom selben Tage (daselbst S. 296) und Ergänzungen vom 31. März (daselbst S. 369), ferner das Gesetz über die Bildung einer vorläufigen R e i c h s m a r i n e vom 16. April 1919 nebst Ausführungsverordnung vom selben Tage (daselbst S. 431, 432).

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Erster Teil. Die geschichtliche Entwicklung der Reichsverfässung.

6. Die Befugnisse, die nach den Gesetzen oder Verordnungen des Reichs dem Reichskanzler zustehen, gehen auf das Reichsministerium über. Soweit dieses nicht ein anderes bestimmt, werden sie von jedem Reichsminister f ü r seinen Geschäftsbereich selbständig ausgeübt (§ 5 des Übergangsgesetzes). Ein Erlaß des Reichspräsidenten vom 21. März 1919 (RGBl. S. 327) ordnete des Näheren die Organisation und die amtliche Bezeichnung der Mitglieder des Reichsministeriums. Außer einem Präsidenten und Ministern ohne Portefeuille waren 11 Ressortminister vorgesehen. Fünfter Abschnitt. Die gesetzgeberische Arbeit an der Reielisrerfassung und ihre Weiterentwicklung. Das Schrifttum. I. Der unter dem 21. Februar 1919 an die verfassunggebende deutsche Nationalversammlung gebrachte E n t w u r f e i n e r V e r f a s s u n g d e s D e u t s c h e n R e i c h s (Drucksache Nr. 59) e n t b e h r t e , wie übrigens auch der Entwurf der Verfassung des Norddeutschen Bundes 1867 und des Deutschen Reichs 1871, e i n e r s c h r i f t l i c h e n B e g r ü n d u n g . Dagegen hat der damalige Reichsminister des Innern Dr. Preuß in der Sitzung der Nationalversammlung vom 24. Februar eine m ü n d l i c h e B e g r ü n d u n g vorgebracht 1 ). Der endgültige Entwurf unterschied sich von dem vorläufigen in grundlegender Weise dadurch, daß die schon in dem ersteren erkennbare Milderung des Gedankens einer grundsätzlich unitarischen Reichsverfassung weitere Fortschritte machte und der föderalistische Charakter mehr zur Geltung kam 2 ). Eine vertragsmäßige Grundlage erhielt aber die RV. hierdurch nicht. Das V e r h ä l t n i s v o n R e i c h u n d E i n z e l s t a a t e n ist in manchen Beziehungen anders gedacht, die Zuständigkeitsabgrenzung klarer gezogen, f ü r die Neubildung von Gliedstaaten eine genauere Regelung beabsichtigt. Dem Reichsrat, nach dem vorläufigen Entwurf nur zu gutachtlicher Tätigkeit berufen, .wird ein stärkerer Einfluß eingeräumt, insbesondere bei der Einbringung vön Gesetzesvorlagen und gegenüber den vom Reichstag beschlossenen Gesetzen (I. Abschnitt) 3 ). Während die Bestimmungen über die G r u n d r e c h t e d e s deutschen !) StenRer. S. 284 B bis 293 A.

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) A p e l t , Das Werden der Deutschen Reichsverfessung, DJZ. 1919, Sp. 208. 3 ) Schrifttum hierzu bei S t i e r - S o m l o , Reichs- und Landesstaatsrecht 1 268.

Fünfter Abschnitt. Die gesetzgeberische Arbeit an der Reichsverfassung.

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V o l k e s (II. Abschnitt), über den R e i c h s t a g ( I I I . Abschnitt) , den R e i c h s p r ä s i d e n t e n und die R e i c h s r e g i e r u n g (IV. Abschnitt), i m w e s e n t l i c h e n dieselben blieben, wurden jetzt noch weitere hinzugefügt: über das Finanz- und Handelswesen (V. Abschnitt), das V e r k e h r s wesen, und zwar A) die Post, die Telegraphie und da» Fernsprechwesen, B) das Eisenbahnwesen, C) die Wasserstraßen, D) das Kraftwagenwesen (VI. Abschnitt), die R e c h t s p f l e g e (VII. Abschnitt) und die die S o n d e r r e c h t e behandelnden Schlußbestimmungen ( V I I I . Abschnitt). Gegenüber den 73 Paragraphen des Vorentwurfs gab es jetzt 118 Artikel. Die erste Beratung des Entwurfs fand in den Sitzungen vom 27. und 28. Februar, 3. und 4. März statt*); hierauf wurde der Entwurf dem Verfassungsausschuß überwiesen, der seine Arbeiten am 5. März aufnahm und die Referate über die Einzelfragen verteilte 2 ). Am 18. J u n i beendete der Ausschuß seine Arbeit und ließ einen mündlichen Bericht erstatten 3 ). Der vom Verfassungsausschuß durch Umarbeitung des zweiten Entwurfs hergestellte dritte Entwurf weist zahlreiche Änderungen auf. Äußerlich zerfiel der Text in zwei Hauptteile, von denen der erste „Aufbau und Aufgaben des Reichs", der zweite „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen" überschrieben war. Innerhalb des ersten sind in sieben Abschnitten behandelt: Reich und Länder, der Reichstag, der Reichspräsident und die Reichsregierung, der Reichsrat, die Reichsgesetzgebung, die Reichsverwaltung, die Rechtspflege. Die Grundgedanken des Entwurfs sind hier zwar überall festgehalten worden, die Änderungen im einzelnen sind aber außerordentlich zahlreich. Eine vollständige Umwälzung weist der zweite Hauptteil auf, der vielfach benutzt wurde, um nach Möglichkeit den politischen Gesamtströmungen, den aus der reformatorischen und revolutionären Ideenwelt hervorgegangenen Wünschen und Erwartungen programmatischen Ausdruck zu verleihen, neben i) StenBer. S. 371 C bis 407 A, 449 D bis 481 D, 485 D bis 502 A. 3 ) Es sollten berichten über den allgemeinen Abschnitt „Das Reich" die Abgeordneten Dr. Kahl und Dr. Quarck, über „Gesetzgebung" Dr. Spahn und Dr. Heinze, über „Gliedstaaten" Dr. Beyerle und Koch-Kassel, über „Grundrechte" Dr. Naumann und Dr. Düringer, über „Kirche und Schule" Gröber und Meerfeld, über „Sozialisierung" Katzenstein und Stegerwald, über „Reichstag" Schütze und Dr. Cohn, über „Reichspräsident" Fischer-Berlin und Dr. Ablaß, über „Reichsregierung" Dr. v. Delbrück und Fischer-Berlin, über „Finanz- und Handelswesen" Dr. Spahn und Kaufmann, über „Verkehrswesen" Dr. Zöphel und Vogel, über „Wasserstraßen" Koch-Kassel und endlich über „Rechtspflege und Beamtenrecht" Trilnborn und Dr. Ablaß. 3 ) Drucksache Nr. 391. Der amtliche Bericht des Verf.-Ausschusses ist erst im Februar 1920 in Carl Heymanns Verlag in Berlin erschienen.

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Erster Teil. Die geschichtliche Entwicklung der Reichsverfassung.

den herkömmlichen Grund r e c h t e n die Grund p f l i c h t e n zu formulieren, die „Einzelperson" wie das „Gemeinschaftsleben" (I. und I I . Abschnitt, umfassend Ehe, Familie, Bevölkerungspolitik, Erziehung, Selbstverwaltung, Beamtenstellung, persönlichen Staats- und Gemeindedienst, Militärdienst und Steuerpflicht) betreffende Sätze niederzulegen, die als Richtschnur und Schranke f ü r die Gesetzgebung, die Verwaltung und die Rechtspflege gedacht waren. Religion und Religionsgesellschaften, Bildung und Schule und das Wirtschaftsleben haben besondere Abschnitte ( I I I . bis V.) erhalten. Ist in den beiden ersten die Kulturpolitik, so ist in dem letzten der Niederschlag von Ideen einer Wirtschaftspolitik zu finden, die auf Vergesellschaftung, sozialen Ausgleich, Produktionserhöhung und Konsumenteneinfluß gerichtet ist. Die Übergangs- und Schlußbestimmungen enthalten hier nicht n u r besondere Regeln über Sonderrechte der Einzelstaaten, sondern auch eine Reihe anderer Vorschriften, die den Anschluß der Zeit o h n e Reichsverfassung an die Zeit m i t Reichsverfassung lückenlos herstellen wollen. Am 2. Juli 1919 trat die Nationalversammlung in die z w e i t e Beratung des Verfassungsentwurfs ein und setzte die Beratungen fort am 3. bis 5., 7., 10., 11., 15. bis 18., 21. und 22. J u l i 1 ) . Die d r i t t e Beratung in der Vollversammlung fand am 29. bis 31. Juli statt 2 ). An letzterem Tage ist die Reichsverfassung mit 262 der abgegebenen 338 Stimmen endgültig angenommen und „verabschiedet" worden. Sie ist mit dem Datum vom 11. A u g u s t 1919 am 14. August 1919 im Reichsgesetzblatt (S. 1383) veröffentlicht worden und an diesem Tage nach Art. 181 in K r a f t getreten. I I . Die W e i t e r e n t w i c k l u n g der RV. hat auf den verschiedensten Gebieten stattgefunden. I n der Reihenfolge !) StenBer. S. 1201 B bis 1236 A, 1239 A bis 1275 B, 1281 B bis 1323 B, 1318 C bis 1348 B, 1350 A bis 1351 D, 1462 B bis 1487 C, 1495 C bis 1507 B, 1556 B bis 1579 D, 1584 B bis 1614 A, 1621 B bis 1664 C, 1673 B bis 1719 B, 1747 D bis 1789 A, 1800 A bis 1839 B. Siehe auch die Zusammenstellung des Entwurfs einer Verfassung des Deutschen Reichs nach den Beschlüssen des 8. Ausschusses mit den Beschlüssen der Nationalversammlung in zweiter Beratung. Drucks. Nr. 656. Berichterstatter waren für den Ersten Hauptteil die Abg. Dr. Kahl (1. Abschn.), Katzenstein (2.), v. Delbrück (3.), Haußmann (4.), Koch (5.), Quarck (6.), Spahn (7.); für den Zweiten Hauptteil die Abg. Dr, Düringer (1. Abschn.), Beyerle (2.), Mausbach (3.), Weiß (4.), Sinzheimer (5.); für die Übergangs- und Schlußbestimmungen Gröber. 2 ) StenBer. S. 2017 B bis 2083 D, 2088 D bis 2136 A, 2141 B bis 2195 A. Eine Zusammenstellung des Textes der Entwürfe und der Beschlüsse des Ausschusses hat G. J. E b e r s angefertigt (Berlin 1919). Siehe auch die Drucks. Nr. 780, die die Beschlüsse der Nationalversammlung in dritter Lesung wiedergibt und Bericht und Protokolle des 8. Ausschusses über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs (Berlin, Carl Heymanns Verlag, 1920).

Fünfter Abschnitt. Weiterentwicklung u. Schrifttum d. Reichsverfassung.

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der Verfassungsartikel gedacht, handelt es sich im wesentlichen um folgendes: 1. Im G e b i e t s r e c h t sind hinzugekommen: das Gesetz zur Ausführung des Art. 18 RV. vom 8. Juli 1922 x) und die sog. Neugliederungsordnung vom 29. Dezember 1922 2 ), die Gesetze betr. das Land Thüringen und die Vereinigung Koburgs mit Bayern 3) und über die Vereinigung von Pyrmont mit Preußen vom 24. März 1922 4 ). 2. Das R e i c h s w a h l r e c h t ist auf Grund des Art. 22 gesondert geschaffen und mehrfach abgeändert worden 5 ). D i e Befriedung der Gebäude des Reichstages und der Landtage vom 8. Mai 1920 6 ), die Wahlprüfungsordnung vom 8. Oktober 1920 7 ), die Gesetze über die Entschädigung der Mitglieder des Reichstages 8 ), auch die Geschäftsordnung des Reichstages 9 ) gehören in diese Gruppe. 3. Die Wahl des R e i c h s p r ä s i d e n t e n 1 0 ) und der V o l k s e n t s c h e i d 1 1 ) sind näher geordnet, die Bestimmung über die Vertretung der Länder im Reichsrat neu g e f a ß t " ) . Der Text der RV. ist geändert in den Artikeln 35, 61, 178, 180 usw. Weitere Wandlungen der RV. sind auf den Gebieten 1) RGBl. S. 545, ReichsabstimmO. v. 14. März 1924 (RGBl. I S. 173> und ÄnderungsVO. v. 3. November 1924 (RGBl. I S. 726). 2) RGBl. 1923 I S. 26. s) RGBl. S. 841 f. ) Vgl. Art. 68 ff., 45 Abs. 2, 85 Abs. 2, 73 Abs. 4, 76, auch einen Staatsvertrag vollziehendes Gesetz kann in Frage stehen. 2 ) Unter ministerieller Gegenzeichnung, also des Reichskanzlers, Art. 50,56. 3 ) Maßgebend ist die amtlich ermittelte Zahl bei der letzten Reichstagsoder Reichspräsidentenwahl oder allgemeinen Volksabstimmung.

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Zweiter Teil.

Das Hecht der Verfassungsurkunde.

worden ist 1 ). Der ausgearbeitete, zuerst dem Reichsrat zu unterbreitende Gesetzentwurf ist von der Reichsregierung (Art. 57) unter Darlegung ihrer Stellungnahme dem Reichstage vorzulegen. Das Volksbegehren unterliegt einem Zulassungs- und einem Eintragungsverfahren nach §§ 26 ff. des Volksentscheidgesetzes. Der Volksentscheid findet nicht statt, wenn der begehrte Gesetzentwurf im Reichstag unverändert angenommen worden ist (Art. 73 Abs. 3 S. 4 R V . ) , freilich unbeschadet der Art. 73 Abs. 1, 2, 74; denn a) es kann der Reichspräsident das vom Reichstag unverändert angenommene Gesetz dem Volksentscheid unterbreiten. E s handelt sich dann um einen Volksentscheid nach Art. 73 Abs. 1. Auch kann b) das vom Reichstag unverändert angenommene Gesetz oder es können Teile dieses Gesetzes Gegenstand einer unausgeglichenen Meinungsverschiedenheit zwischen Reichstag und Reichsrat bilden, so daß über diese Meinungsverschiedenheit ein Volksentscheid (Art. 74 Abs. 3) stattfinden muß. Wenn der Reichstag die nach dieser Vorschrift unterbreitete Gesetzesvorlage ändert oder ablehnt, muß die Regierung den Volksentscheid herbeiführen. 4. Der Reichspräsident kann, wenn im Falle des Einspruches des Reichsrats das Gesetz dem Reichstag zur nochmaligen Beschlußfassung vorgelegt wird, und hierbei keine Übereinstimmung zwischen Reichstag und Reichsrat zustande kommt, binnen drei Monaten über den Gegenstand der Meinungsverschiedenheit den Volksentscheid anordnen (Art. 74 Abs. 3 S. 1, 2). Auch gegen auf Volksbegehren eingebrachte und vom Reichstag unverändert angenommene Gesetze kann der Reichsrat Einspruch erheben. Der Einspruch kann sich auf das Gesetz als Ganzes oder Teile des Gesetzes beziehen. Gegenstand des Volksentscheids ist hier nur die Meinungsverschiedenheit. Die nochmalige Beschlußfassung des Reichstags hat sich auf das ganze bereits beschlossene Gesetz zu erstrecken, doch ist keine Frist gesetzt. Stimmt der Reichstag dem Einspruch des Reichsrats gegen das ganze Gesetz zu, so ist die erste Beschlußfassung gegenstandslos geworden, das Gesetz gefallen. Stimmt der Reichstag den vom Reichsrat gewünschten Ergänzungen, Abänderungen oder Streichungen zu, so ist das Gesetz mit dem neuen Text und neuer Sanktion zustande gekommen. Geht der Reichstag über den Einspruch des Reichsrats noch hinaus und nimmt er von diesem nicht *) Volksentscheid auf Volksinitiative, s. Art. 73 Abs. 3 S. 1 und 2 RV.; § 81 Volksentscheidgesetz: „Gegenstand des Volksentscheids ist im Falle des § 1 Nr. 3 (Art. 73 Ahs. 3 RV.) das begehrte und ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz."

Sechster Abschn. Organisation des Reichs. Reichsvolk als Reichsorgan.

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begehrte Ergänzungen, Abänderungen, Streichungen vor, so ist hiergegen ein neuer Einspruch des Eeichsrats zulässig. Erst wenn keine Übereinstimmung zwischen ihm und dem Eeichstag zustande kommt, entsteht die Möglichkeit, daß der Reichspräsident einen Volksentscheid anordnet, und die Dreimonatsfrist beginnt zu laufen. Dagegen ist es nicht der Reichstag, sondern das Reichsvolk, das durch Volksentscheid über das Gesetz entscheidet, wenn gemäß Art. 73 Abs. 1 der Reichspräsident ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz zum Volksentscheid bringt. Er hat nach Art. 74 Abs. 3 S. 2 den Volksentscheid binnen drei Monaten (gerechnet von dem Tage, an dem die fehlende Übereinstimmung zwischen Reichstag und Reichsrat feststeht) unter Gegenzeichnung des Reichskanzlers anzuordnen. Macht der Präsident von diesem Rechte keinen Gebrauch, so gilt das Gesetz als nicht zustande gekommen (Art. 74 Abs. 3 S. 3), und zwar: bei sofortiger Ablehnung des Volksentscheids sogleich, sonst nach Ablauf der Dreimonatsfrist. Der Reichspräsident hat nur in dem Falle das Recht, das Gesetz (auch wenn der Einspruch sich nur gegen einzelne Bestimmungen richtet) scheitern zu lassen oder den Volksentscheid anzuordnen, wenn der durch den Einspruch veranlaßte Reichstagsbeschluß mit einfacher Mehrheit gefaßt worden ist. Ist er dagegen mit Zweidrittelmehrheit gefaßt, d. h. der Reichstag hält mit dieser Mehrheit an seinem früheren Beschlüsse fest und entspricht dem Einspruch des Reichsrats nicht oder nur teilweise, so kann er das Gesetz nicht scheitern lassen. Er hat die Wahl, es so wie der Reichstag es zuletzt beschlossen hat, auszufertigen und binnen Monatsfrist zu verkünden (Art. 70) oder den Volksentscheid darüber anzuordnen, ob die streitige Frage im Sinne des Reichstags oder des Reichsrats zu beantworten ist. Wird der Volksentscheid auf den Punkt beschränkt, der Gegenstand der Meinungsverschiedenheit zwischen Reichstag und Reichsrat war, so hat das Volk mit J a oder Nein die Frage zu beantworten, ob es den Beschluß des Reichstages oder den des Reichsrats billigt (Volksentscheidgesetz §§ 15, 18 Nr. 5). Ist das erstere der Fall, so ist die Sanktion des Gesetzes statt einer parlamentarischen eine plebiszitäre; wird dagegen der Reichsratsbeschluß bestätigt, so wird dadurch das vom Reichstag beschlossene Gesetz ganz oder teilweise beseitigt, ebenso, ganz oder teilweise, die parlamentarische Sanktion. Sind einzelne Bestimmungen des vom Reichstag beschlossenen Gesetzes geändert, so wird die bisher in der Schwebe gelassene parlamentarische Sanktion des Reichstags durch eine neue, endgültige plebiszitäre Sanktion ersetzt. Falls neue Bestimmungen in S t i e r - S o m l o , Keichävßriassung. 3. Aufl.

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Zweiter Teil.

Das Recht der Verfassungsurkunde.

das vom Reichstag beschlossene Gesetz eingefügt sind, wird eine neue plebiszitäre Sanktion erteilt. Zum Erlaß des Volksentscheids kann der Reichspräsident gezwungen werden, wenn ein Drittel des Reichstags die Aussetzung der Verkündung eines Reichsgesetzes verlangt und ein Zwanzigstel der Stimmberechtigten es beantragt: Art. 72 S. 1, 73 Abs. 2; s. oben zu 2. 5. Gemäß Art. 85 Abs. 4 kann der Reichstag im Entwurf des Haushaltplans ohne Z u s t i m m u n g des Reichsrats (die an keine Frist gebunden ist, im Gegensatz zum Einspruch nach Art. 74) Ausgaben nicht erhöhen oder neu einsetzen. Der Verweigerung der Zustimmung des Reichsrats steht es gleich, wenn er bis zum Beginn des Rechnungsjahres keine Erklärung abgibt. Einen Unterfall des Volksentscheids nach Art. 74 Abs. 3 (s. oben zu 4) stellt der Fall dar, daß der Reichspräsident den Volksentscheid deshalb herbeiführt, weil der Reichstag jener Vorschrift zuwider handelt, d. h. im Entwürfe des Haushaltplanes, ungeachtet der mangelnden Zustimmung des Reichsrats, bei der von ihm beschlossenen Erhöhung oder Neueinsetzung von Ausgaben durch wiederholten Beschluß verharrt. Dann kann die verweigerte Zustimmung des Reichsrats gemäß den Vorschriften des Art. 74 Abs. 3 ersetzt werden. Nochmals beschlossen wird im Reichtage nicht über das ganze Gesetz, sondern über den Posten, dem der Reichsrat nicht zugestimmt h a t ; nur dieser bedarf auch der Zweidrittelmehrheit im Reichstage und gegebenenfalls der Annahme durch Volksentscheid. Wird die Zustimmung nicht ersetzt, so findet eine Erhöhung oder Neueinsetzung der fraglichen Ausgabeposten nicht statt; der Reichsrat kann aber auch gegen den Rest des Gesetzes den normalen Einspruch einlegen (Art. 74). 6. Hat der Reichstag entgegen dem Einspruch des Reichsrats eine V e r f a s s u n g s ä n d e r u n g beschlossen, so darf der Reichspräsident dieses Gesetz nicht verkünden, wenn der Reichsrat binnen zwei Wochen einen Volksentscheid verlangt (Art. 76 Abs. 2). Es besteht entweder die Möglichkeit, daß der Reichstag entgegen dem Einspruch des Reichsrats mit doppelter Zweidrittelmehrheit des Art. 76 Abs. 1 seinen früheren verfassungsändernden Beschluß aufrecht erhält oder daß er ihn zwar dem Einspruch gemäß, aber nicht vollständig ändert. Der Reichspräsident hat dann die von der Schlußabstimmung des Reichstags laufende zweiwöchige Frist abzuwarten, in der der Reichsrat sich entschließen muß. Verlangt dieser keinen Volksentscheid, so kann der Reichspräsident wählen zwischen Verkündung des Gesetzes und Anordnung des Volksentscheids (Art. 74 Abs. 3 S. 4). Dagegen wird das

Sechster Abschn. Organisation des Reichs. Reichsvolk als Reichsorgan.

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Recht des Reichspräsidenten bei Verfassungsänderungen eingeschränkt, wenn der Reichsrat fristgerecht den Volksentscheid verlangt; jener hat nicht die Wahl, ob er von seinem Verkündungsrecht oder dem Recht auf Anordnung des Volksentscheids Gebrauch machen will; der Volksentscheid m u ß stattfinden. 7. Eine Volksabstimmung ist vorgesehen auf Antrag des Reichstages mit Zweidrittelmehrheit auf A b s e t z u n g d e s R e i c h s p r ä s i d e n t e n vor Ablauf seiner Wahlzeit (Art. 43 Abs. 2). Das ist kein Fall der unmittelbaren Volksgesetzgebung, vielmehr ein Sonderfall des sog. Abberufungsrechts (Recall), d. h. des Rechts, Inhaber staatlicher Funktionen ihrer Ämter f ü r verlustig zu erklären (§ 2 Volksentscheidgesetz). I I I . Das V o l k s b e g e h r e n findet nach der RV. statt a) zugunsten des Antrages auf Volksentscheid über ein Gesetz, dessen Verkündung auf Antrag eines Drittels des Reichstags ausgesetzt ist (Art. 73 Abs. 2, s. oben zu I I 2); b) zugunsten eines ausgearbeiteten Gesetzentwurfs, den die Antragsteller durch die Reichsregierung dem Reichstage vorlegen (Art. 73 Abs. 3, s. oben zu 113). Die Verbindung von Volksentscheid und Volksbegehren ist unverkennbar. IV. G e g e n s t a n d des V o l k s e n t s c h e i d s sind nach der RV. f o r m e l l e G e s e t z e s b e s c h l ü s s e , also nicht Mißtrauenserklärungen, Resolutionen zum Haushaltgesetz, Genehmigung von Verordnungen und Staatsverträgen (letzteres bestritten!), es sei denn, daß der Vertragsinhalt in die Form eines Gesetzes gekleidet wird. Gegenstand des V o l k s e n t s c h e i d s kann sein das ganze Gesetz (z. B. Art. 73 Abs. 1) oder bloß ein Teil eines Gesetzes (Art. 74 Abs. 3). Gegenstand des Volksbegehrens kann jeder Gegenstand der Reichsgesetzgebung sein, z. B. die Aufnahme Tirols in das Reichsgebiet (Art. 2, 178 Abs. 2 S. 2 RV.), die Auflegung einer Reichsanleihe (Art. 87), sogar Kriegserklärung (Art. 45 Abs. 2). Dagegen können nicht Gegenstände des Volksbegehrens sein, obwohl es sich um formelle Gesetze handelt: Haushaltplan, Abgabengesetze und Besoldungsordnungen. V. Haben dem Reichstag mehrere Volksbegehren über denselben Gegenstand vorgelegen, so ist auch ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz, durch welches einer der begehrten Gesetzentwürfe unverändert angenommen wurde, zusammen mit den anderen begehrten Gesetzentwürfen dem Volksentscheid zu unterbreiten (§ 3 Abs. 2 Volksentscheidgesetz). 9*

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Zweiter Teil.

Das Recht der Verfassungsurkunde.

V I . S t i m m b e r e c h t i g u n g u n d V e r f a h r e n . Stimmberechtigt ist, wer das Wahlrecht zum Eeichstag hat. Die Abstimmung ist unmittelbar und geheim. Jeder Stimmberechtigte hat e i n e Stimme. Abstimmen kann nur, wer in einer Stimmliste eingetragen ist oder einen Stimmschein hat. Die Stimme lautet nur auf J a oder N e i n ; Zusätze sind unzulässig. Die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen entscheidet. Ein Beschluß des Reichstages kann durch einen Volksentscheid n u r dann außer K r a f t gesetzt werden, wenn sich die Mehrheit der Stimmberechtigten an der Abstimmung beteiligt (Art. 75 RV.). Soll auf Volksbegehren durch Volksentscheid eine Verfassungsänderung beschlossen werden, so ist die Zustimmung der Mehrheit der Stimmberechtigten erforderlich (Art. 76 Abs. 1 S. 4). Bei Gleichheit der Stimmen f ü r die Bejahung und f ü r die Verneinung einer Frage gilt die Frage als verneint. Bei Gleichheit der Stimmen f ü r die Bejahung zweier Fragen entscheidet das Los, das der Reichswahlleiter zieht (Volksentscheidgesetz §§ 7, 6, 5, 11, 15, 21). I n diesem Gesetz und in der ReichsStimmO. v. 14. März 1924 (RGBl. I S. 173) §§ 38—40, 41—47, 63—97, 112—119, 120—153, 155—162, ist das Nähere enthalten über das Verfahren, so über Bildung der Stimmbezirke; Unterlagen f ü r die Abstimmung und sonstige Vorbereitung; Stimmabgabe; Ermittelung des Abstimmungsergebnisses im Stimmbezirke; Feststellung jenes Ergebnisses in den Stimmkreisen; Feststellung des Gesamtabstimmungsergebnisses; neue Abstimmung und Wiederholung der Abstimmung ; Verbindung der Reichsabstimmungen mit anderen Abstimmungen; Verfahren auf Zulassung von Anträgen und Begehren; Eintragungsverfahren. Vgl. auch VO. über die Kosten, eines Volksbegehrens vom 14. Februar 1924 (RGBl. I S. HO) 1 ). Zweit«s Hauptstück. Der Reichstag. 2 )

I. R e c h t l i c h e N a t u r . Der Reichstag ist ein einheitliches körperschaftliches Organ des Reiches, Repräsentant des Trägers der Reichssouveränität, des deutschen Volkes. E r „vertritt" das ganze deutsche Volk (nicht das Volk der Länder 1 ) Die unmittelbare Demokratie im. Reich kommt auch in der Wahl des Reichspräsidenten zum Ausdruck. Vgl. oben S. 31 Anm. 8. 2 ) Vgl. zur Literatur noch: B i n d i n g , Zum Werden und Leben der Staaten, 1920, S. 297—317, über das Problem der Bildung der Parlamente und der Volksversammlung des Freistaates; ferner W i t t m a y e r , Weitaarer RV., S. 68ff., 326ff.; B r i e im Handb. der Politik, 3. Aufl., 3 52ff.; S c h e i d t s * , Arth. öff. R. 41 323 ff

Sechster Abschnitt.

Organisation des Reichs.

Der Reichstag.

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und nicht die Länder als Staaten). Er ist zwar keine Körperschaft im Rechtssinne, d. h. ihm steht keine Rechtsfähigkeit wie einer juristischen Person zu. Doch liegt darin kein Widerspruch zu seiner Rechtsnatur als Staatsorgan, daß er historisch entstandene eigene Rechte besitzt, die an die einer ' Körperschaft erinnern: die sog. Autonomie (RV. Art. 26), das Selbstversammlungsrecht (Art. 23 Abs. 2, 24 Abs. 1 S. 1), die Bestimmung des Schlusses der Tagung und des Tages des Wiederzusammentritts (Art. 24 Abs. 2), das Hausrecht (Art. 28), Beteiligung am Wahlprüfungsgericht (Art. 31), Verlangen des Erscheinens der Regierungsvertreter im Reichstag (Art. 33). Der Reichstag ist heute der G e s e t z g e b e r , nicht, wie früher, Bundesrat und Reichstag. Reichsregierung, Reichspräsident, Reichsrat, unter Umständen Reichswirtschaftsrat sind nicht Gesetzgeber, wenn sie auch in verfassungsmäßig geordneter Weise an der Legislative m i t wirken und deshalb als „gesetzgebende Faktoren" immerhin bezeichnet werden dürfen. Soweit nicht das Reichs v o 1 k unmittelbar als Souverän durch Volksabstimmung, Volksentscheid und Volksbegehren Gesetze g i b t , tut dies immer nur der Reichstag. Er erteilt die sog. Sanktion, den Gesetzesbefeh 1. Der I n h a l t des Gesetzes kann von anderen Stellen, auch von der Wissenschaft, gegeben sein. Der Reichstag beeinflußt maßgebend die B i l d u n g d e r R e i c h s r e g i e r u n g infolge der parlamentarischen Regierungsweise, da der Reichspräsident zwar Reichskanzler und Reichsminister ernennt und entläßt (Art. 53), diese jedoch zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags bedürfen (Art. 54). Somit ist der Reichstag auch das Organ, von dem die A b b e r u f u n g der Reichsregierung abhängt. Es hat aber der Reichstag auch das Recht der Ü b e r w a c h u n g der mit den politischen Grundsätzen und Absichten seiner jeweiligen Mehrheit notwendigerweise übereinstimmenden Reichsregierung. Der Reichstag überwacht auch den R e i c h s p r ä s i d e n t e n hinsichtlich der Verfassungs- und Gesetzmäßigkeit seiner Handlungen und Unterlassungen, so in bezug auf die Auflösung des Reichstags (Art. 25 Abs. 1), Gegenzeichnung (Art. 50), durch die zwar die Verantwortung des Reichskanzlers oder anderen Reichsministers begründet wird. Doch richtet sich die parlamentarische Kontrolle und Kritik auch gegen den Reichspräsidenten, z. B. im Falle der Reichsexekutive, des Ausnahmezustandes (Art. 48), des Begnadigungsrechts (Aft. 49); die Mittel der unmittelbaren Einwirkung sind im Recht der Absetzung (Art. 43 Abs. 2) und der Anklage wegen schuldhafter Verletzung der RV. oder eines Reichs-

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Zweiter Teil. Das Recht der Verfassungsurkunde.

gesetzes (Art. 59) gegeben. Andererseits ist der Reichspräsident als eines der verfassungsrechtlichen Gegengewichte zum Reichstag gedacht. Wie dieser, vom Volk unmittelbar gewählt, hat er das Recht, gegen Gesetze, die der Reichstag beschlossen hat, die Entscheidung des Volkes anzurufen. Endlich hat der R e i c h s t a g a u c h d i e V e r m u t u n g d e r Z u s t ä n d i g k e i t , im Verhältnis zu den übrigen Reichsorganen, f ü r sich. II. Z u s a m m e n s e t z u n g u n d W a h l d e s R e i c h s tags. Der Reichstag setzt sich zusammen aus den Abgeordneten des deutschen Volkes, d. h. der aktiven (Voll-) Reichsbürgerschaft, des einheitlichen, ungeteilten R e i c h s volks, nicht des Auslandsdeutschtums. Es besteht n u r e i n e Parlamentkörperschaft im Reiche, weder der Reichsrat, noch der Reichswirtschaftsrat sind Volksvertretungen. Das Einkammersystem schließt jedes andere Parlament (Herrenhaus, I. Kammer od. dgl.) aus. Dieser kommt auch darin zum Ausdruck, daß die Wahlkreiseinteilung keine Landesgrenzen berücksichtigt. Die Abgeordneten („Mitglieder des Reichstags") werden in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von den über zwanzig Jahre alten Männern und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt (Art. 22 Abs. 1 S. I ) 1 ) .

Das Wahlrecht ist: 1. a l l g e m e i n , d. h. es steht jedem deutschen Reichsbürger („Reichstagswähler") zu, der das Wahlfähigkeitsalter (20 Jahre) hat (RWG. § 1), mit Ausnahme der Ausgeschlossenen (s. unten S. 135). Den Gegensatz zum allgemeinen Wahlrecht'bildet das durch Bildungs- "oder Vermögenszensus beschränkte ; Die außer dieser Vorschrift der RV. vorhandenen Rechtsquellen sind oben S. 31 Anm. 3 angegeben. Zutn Schrifttum s. A l f r e d S c h u l z e , Das Wahlrecht für die verfassunggebende deutsche Nationalversammlung. Im amtlichen Auftrage herausgegeben und erläutert, 1918; B. W e i ß , Reichswahlgesetz, 1919; S i e g f r i e d v. V o l k m a n n und E r n s t B ö t t g e r , Die Wahlordnung des Rats der Volksbeauftragten v. 30. November 1918 (Reichswahlgesetz), gemeinverständlich dargestellt und erläutert, 1919. Zu'ra geltenden Recht: Vorentwürfe im Januar 1920 (vgl. DJZ. 1920, S. 220, PrVerwBl. 41 203), endgültiger Entwurf eines Reichswahlgesetzes v. 27. März 1920 (Drucks. Nr. 2490). K a i s e n b e r g und v. W e l s e r , Reichswahlgesetz und das Gesetz über die Wahl des Reichspräsidenten, 1920; S c h u l z e , Das Reichstagswahlrecht, 1920; H. v o n J a n , Reichswahlgesetz mit Reichswahlordnung und dem Gesetz über die Wahl des Reichspräsidenten, 1920; D e r s e l b e , Wahlrecht und Volksabstimmungen, Jahrb. d. öff. R, 10 (1921) 177 fl.

Sechster Abschnitt.

Organisation des Reichs.

Der Reichstag.

2. g l e i c h : jeder Wähler hat e i n e Stimme (EWG. § 1 Abs. 2). Den Gegensatz bildet das abgestufte (Plural- oder Klassen-) Wahlrecht; 3. u n m i t t e l b a r : ein Mittels-(Wahl-)Mann ist ausgeschlossen. Abwesende können sich weder vertreten lassen, noch Bonst an der Wahl teilnehmen (EWG. § 27 S. 2 ) ; 4. g e h e i m : die Abstimmung erfolgt nicht öffentlich, sondern durch verdeckte Stimmzettel in amtlich abgestempelten Umschlägen (EWG. § 27 S. 1, EeichsstimmO. § § 4 5 , 117). Die Einführung des V e r h ä l t n i s w a h l s y s t e m s 1 ) für den Reichstag ist neu. A. Das a k t i v e Wahlrecht setzt außer den schon angegebenen Merkmalen voraus, daß eine Eintragung in einer Wählerliste oder Wahlkartei erfolgt ist oder der Staatsbürger einen Wahlschein hat (EWG. § 3). Die Gemeinden führen für jeden Stimmbezirk eine Liste der Stimmberechtigten. Die Listen können in Heftform ( W ä h l e r l i s t e ) oder in Kartothekform ( W a h l k a r t e i ) angelegt werden (EeichsStimmO. §§ 2, 4 Abs. 1, S. 5—8). E i n Wähler, der in diesen Listen eingetragen ist, kann auf Antrag einen S t i m m s c h e i n erhalten, wenn er sich am Abstimmungstage während der Abstimmungszeit aus zwingenden Gründen außerhalb seines Stimmbezirks aufhält; wenn er nach Ablauf der Einspruchsfrist seine Wohnung in einen anderen Stimmbezirk verlegt; wenn er infolge eines körperlichen Leidens oder Gebrechens in seiner Bewegungsfreiheit behindert ist und durch den Stimmschein die Möglichkeit erhält, einen für ihn günstiger gelegenen Abstimmungsraum aufzusuchen 2 ). A u s g e s c h l o s s e n vom Wahlrecht ist nach E W G . § 2 Abs. 1 wer entmündigt ist oder unter vorläufiger Vormundschaft oder wegen geistigen Gebrechens unter Pflegschaft steht (§§ 6, 1896 ff., 1906, 1910 B G B . ) ; wer rechtskräftig durch Richterspruch die bürgerlichen Ehrenrechte verloren hat (§§ 32 ff. StGB.). Die Ausübung des Stimmrechts r u h t für die Soldaten während der Dauer der Zugehörigkeit zur Wehrmacht 3 ). B e h i n d e r t in der Ausübung ihres Stimmrechts sind Personen, die wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche in einer Heil- oder l ) Grundsätzliches, Geschichte, Literatur s. S t i e r - S o m l o , a. a. 0 . S. 542 ff.; ilbcr Wahlrecht als Recht oder Pflicht und Schrifttum dazu daselbst S. 545 f. 3 ) ReichsStimmO. § 9, auch §§ 10—17; RWG. § 11 Abs. 1 und § 12, §§ 73, 74 hier wie überhaupt in der Fassung v. 6. März. 1924 (RGBl. I S. 159). 3) RWG. § 2 Abs. 2; ReichsStimmO. § 4 Abs. 2; ReichswehrG. § 36 Abs. 3.

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Pflegeanstalt untergebracht sind, ferner Straf- und Untersuchungsgefangene, sowie Personen, die infolge gerichtlicher oder polizeilicher Anordnung in Verwahrung gehalten werden. Ausgenommen sind Personen, die sich aus politischen Gründen in Schutzhaft befinden 1 ). B . P a s s i v w ä h l b a r ist jeder W a h l b e r e c h t i g t e , der am Wahltag 25 Jahre alt und seit mindestens einem Jahre (berechnet vom Tage der Wahl) Reichsangehöriger ist (EWG. § 4). Gewählt werden können auch Personen, deren Wahlrecht am Tage der Wahl r u h t oder die in der Ausübung ihres Wahlrechts behindert sind, weil sie wahlberechtigt sind. Der Beichspräsident kann nicht Mitglied des Reichstags sein (KV. Art. 4 4 ) 2 ) . I I I . J ) i e A u f g a b e n u n d R e c h t e des R e i c h s tags. 1. Die Willensbildung des Reichstags äußert sich in den Formen der Beschlußfassung, Zustimmung, Mitwirkung, Genehmigung, Kenntnisnahme. A. Der Reichstag hat die B e s c h l u ß f a s s u n g über: a) Die einfachen und die verfassungsändernden Reichsgesetze (Art. 68, 73, 74, 76). Die Form des Gesetzes ist nicht nur notwendig für Rechtsregeln, sondern auch vorgeschrieben f ü r : Kriegserklärung und Friedensschluß, die Feststellung des Haushaltplanes, Beschaffung von Geldmitteln im Wege des Kredits und Übernahme einer Sicherheitsleistung zu Lasten des Reichs (Art. 45, 85, 87). Ferner ist sie u. a. vorgesehen in folgenden Fällen: für die Neubildung von Ländern (Art. 18), für die nähere Bestimmung über die Beichstagswahlen (Art. 22 Abs. 2 und RWG.), Vorschriften über Entschädigung der Reichstagsmitglieder (Art. 40), über die Wahl des Reichspräsidenten (Art. 41 Abs. 3, Gesetz über die Wahl des Reichspräsidenten vom 4. Mai 1920 [RGBl. S. 8 4 9 ] ) ; jetzt in der Fassung vom 6. März 1924 (RGBl. I S. 168); über den Ausnahmezustand (Art. 48 Abs. 5); Reichsamnestien (Art. 49 Abs. 2 ) ; Regelung der Vertretung des Reichspräsidenten bei voraussichtlich längerer Verhinderung (Art. 51 Abs. 1 S. 2 ) ; das Verfahren beim Volksentscheid (Art. 73 Abs. 5 und Gesetz vom 27. J u n i 1921 [RGBl. S. 790] mit Abänderungsgesetz vom 31. Dezember 1923 [RGBl. 1924 S. 1 ] ) ; Wehrverfassung (Art. 79); bei Vorschriften über die Einrichtung der Abgabenverwaltung der Länder usw. (Art. 84); bei Regelung der 1) RWG. § 2 Abs. 3, ReichsStimmO. § 4 Abs. 3. 2 ) Das Wahlverfahren im einzelnen s. in den oben S. 31 Anm. 3 bezeichneten Gesetzen nnd S t i e r - S o m 1 o , a. a. 0 . S. 548—555.

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Organisation des Reichs.

Der Reichstag.

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Rechnungsprüfung des Reichsfinanzministers (Art. 86 S. 2); Reichshaushaltungsordnung vom 31. Dezember 1922 (RGBl. 1923 S. 17); Reichsschuldenordnung vom 13. Februar 1924 (RGBl. I S. 95); bei Anlegung von Reichseisenbahnen auf eigene Rechnung (Art. 94 Abs. 2); bei Heranziehung der Beteiligten zu Beiträgen f ü r die Unterhaltung und den Ausbau des deutschen Wasserstraßennetzes (Art. 99 Abs. 6); zur Bestimmung der Kostendeckung f ü r Unterhalt und Bau von Binnenschiffahrtswegen (Art. 100); f ü r die Regelung der Militärgerichtsbarkeit in Kriegszeiten und an Bord der Kriegsschiffe (Art. 106); f ü r die Errichtung eines Staatsgerichtshofs (Art. 108, Gesetz über den Staatsgerichtshof vom 9. Juli 1921 [RGBl. S. 905]). b) Aussetzung der Verkündung eines Gesetzes (Art. 72, 73 Abs. 2). c) Schluß der Tagung und Tag des Wiederzusammentritts des Reichstags (Art. 24 Abs. 2). d) Ausschluß der Öffentlichkeit der Verhandlungen (Art. 29 S. 2). e) Absetzung des Reichspräsidenten (Art. 43 Abs. 2) und seine Anklage (Art. 59). f) Außerkraftsetzung von Maßnahmen des Belagerungszustandes (Art. 48 Abs. 3, 4). g) Entziehung des Vertrauens gegenüber dem Reichskanzler oder den Reichsministern (Art. 54). B. Der Reichstag hat die Z u s t i m m u n g zur strafrechtlichen Verfolgung des Reichspräsidenten (Art. 43 Abs. 3), zu Bündnissen und Verträgen mit fremden Staaten, die sich auf Gegenstände der Reichsgesetzgebung beziehen (Art. 45 Abs. 3), zur Verfolgung oder persönlichen Freiheitsbeschränkung gegenüber einem Abgeordneten (Art. 37); in Art. 48 bedeutet das Verlangen der Außerkraftsetzung nachträgliche Zustimmungsverweigerung. E r hat C. die M i t w i r k u n g beim Wahlprüfungsgericht (Art. 31 und WahlprüfungsO. vom 8. Oktober 1920 [RGBl. S. 1773]); D. die G e n e h m i g u n g bei Ausnahmen von der Abgeordneten-Immunität (Art. 37); E. die K e n n t n i s n a h m e von der Reichsexekution, vom Ausnahmezustand und ähnlichen Maßnahmen (Art. 48). Über die Verwendung aller Reichseinnahmen legt der Reichsfinanzminister in dem folgenden Rechnungsjahre Rechnung. Der Reichstag entlastet ihn, d. h. anerkennt die E r f ü l l u n g gesetzlicher Verpflichtungen (Art. 86). Hierher iet auch das Recht zu schriftlichen Bitten und Beschwerden an die Volksvertre-

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Zweiter Teil. Das Reeht der Verfassungsurkunde.

tung zu rechnen (Art. 126), weil sie Anlaß geben, sie der Jteichsregierung zur Kenntnisnahme oder Erwägung mitzuteilen oder Abhilfe von Übelständen in Anregung zu bringen. 2. Das Eecht des Reichstages zur K o n t r o l l e der Reichsregierung ergibt sich sowohl aus der Gesamtstellung des Parlaments zur Regierung, als aus der besonderen Regelung des Vertrauensproblems und der Verantwortlichkeit (Art. 52, 54, 56, auch Art. 126 als Mittel der Kontrolle); es zeigt sich im Recht zur Anklage des Reichskanzlers und der Reichsminister (Art. 59) und in dem Recht, die Anwesenheit des Reichskanzlers und der Reichsminister zu verlangen (Art. 33 Abs. 1). Zu den Aufgaben des Reichstags gehört auch die Kontrolle des Reichspräsidenten (Art. 43 Abs. 2, 59). 3. Weitere Rechte des Reichstags: A. Die W a h l p r ü f u n g 1 ) ist zunächst durch Art. 31 RV. geregelt. E r hat beim Reichstag die Errichtung eines Wahlprüfungsgerichts vorgeschrieben und bestimmt, daß es aus Mitgliedern des Reichstags und des Reichsverwaltungsgerichts zusammenzusetzen ist; jene werden f ü r die Wahlperiode g e w ä h l t , diese vom Reichspräsidenten auf Vorschlag des Präsidiums dieses Gerichts b e s t e l l t . Außerhalb der Verhandlungen vor dem Wahlprüfungsgerichte wird das Verfahren von einem Reichsbeauftragten geführt, den der Reichspräsident ernennt. I m übrigen wird das Verfahren von dem Wahlprüfungsgerichte geregelt. Nach Art. 166 RV. t r i t t bis zur Errichtung desselben an seine Stelle das Reichsgericht. I n Ausführung des Art. 31 RV. ist die Wahlprüfungsordnung (WPO.) vom 8. Oktober 1920 (RGBl. S. 1773) erlassen. Die Errichtung des Wahlprüfungsgerichts erfolgt B e i m Reichstag, d. h. es tagt am Sitze des Reichstags, die Sitzungen finden im Reichstagsgebäude statt; das Wahlprüfungsgericht f ü h r t ein Siegel mit der Umschrift „Wahlprüfungsgericht beim Reichstag" (WPO. § 2 Abs. 3). Das Hilfspersonal wird aus den Bureaubeamten des Reichstags entnommen, die Veröffentlichung des einzelnen Sitzungstages und seiner Tagesordnung erfolgt durch Aushang im Reichstagsgebäude; der Reichspräsident wird ersucht, die Gerichtstermine in den Vollsitzungen zu verkünden, wenn der Reichstag versammelt ist, das Wölfische Telegraphenbureau um Bekanntgabe (WPO. § 4). Das Wahlprüfungsgericht erkennt auf Grund mündlicher Verhandlung durch d r e i Mitglieder des Reichstags und z w e i richterliche Mitglieder (Art. 31 Abs. 3). J

) Geschichte und Schrifttum bei S t i e r - S o m l o , a. a. 0. S. 557 ff.

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Das Gericht e r k e n n t , d. h. e n t s c h e i d e t endgültig (s. auch Art. 31 Abs. 1); das Urteil wird mit seiner Verkündung rechtskräftig. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens ist nicht zulässig (WPO. § 14). Die Verhandlung ist mündlich und öffentlich. Außerhalb der Verhandlungen vor dem Wahlprüfungsgericht wird das Verfahren von einem Reichsbeauftragten geführt, den der Reichspräsident ernennt 1 ). Das Wahlprüfungsgericht wählt einen Vorsitzenden und einen Stellvertreter. Einer von ihnen muß ein Mitglied des Reichsgerichts sein. Der Vorsitzende vertritt das Wahlprüfungsgericht nach außen, läßt die WPO. im RGBl, verkünden (s. 1920 S. 1773), verteilt die Geschäfte, ernennt, sobald das Wahlprüfungsgericht in Tätigkeit getreten ist (das ist nach Eingang der Akten mit den Ermittelungen des Reichsbeauftragten), einen oder zwei Berichterstatter und beraumt den Termin zur öffentlichen mündlichen Verhandlung an (WPO. §§ 2 Abs. 1 u. 2, 3) 2 ). B. Das B u d g e t r e c h t 3 ) (Art. 85 Abs. 1,2 RV.) schreibt vor: Alle Einnahmen und Ausgaben des Reichs müssen f ü r jedes Rechnungsjahr veranschlagt und in den Haushaltsplan eingestellt werden. Dieser wird vor Beginn des Rechnungsjahres durch ein Gesetz festgestellt. Das H a u s h a l t s g e s e t z ist richtiger Ansicht nach ein formelles, aber nicht materielles Gesetz. Das Verbot, in das Reichshaushaltsgesetz Vorschriften aufzunehmen, die über das Rechnungsjahr hinausreichen oder sich nicht auf die Einnahmen und Ausgaben des Reichs oder ihre Verwaltung beziehen (Art. 85 Abs. 3 S. 2), bestätigt, daß der Inhalt des Reichshaushaltsgesetzes kein Rechtssatz, sondern ein Verwaltungsakt ist. E i n jährliches S t e u e r b e w i l l i g u n g s r e c h t des Reichstags gibt es n i c h t ; es besteht kein u n b e s c h r ä n k t e s E i n n a h m e bewilligungsrecht, sondern ein solches in bezug auf Einnahmen aus neuen und aus der Erhöhung der bestehenden Steuern, ferner aus Anleihen und aus der Veräußerung von Teilen des Reichsvermögens. Praxis und Wissenschaft behaupteten ein unbeschränktes A u s g a b e bewilligungsrecht, das aber nur insoweit besteht, als gesetzlich nicht eine Deckungspflicht vorgesehen ist. E i n unbeschränktes A u s g a b e n v e r w e i g e r u n g s r e c h t besteht n i c h t , weil sonst rechtlich begründete Einrichtungen, die E r f ü l l u n g der staatlichen Pflichten aus i) Z. B. Erlaß v. 10. Juli 1920 (RGBl. 8. 1439). ) Über das Verfahren im einzelnen S t i e r - S o m l o , a. a. 0. S. 560 bis 568. Schrifttum und eingehendere Behandlung bei S t i e r - S o m l o , a. a. 0. S. 684 ff. 3

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Verträgen und Verwaltungsakten gefährdet sein würden. Das ergibt auch der erwähnte Art. 85 Abs. 3 S. 2, der die Aufnahme solcher N o r m e n (nicht aber von Verwaltungsakten) verbietet, die über das Rechnungsjahr hinausreichen, also in rechtliche Einrichtungen und Verpflichtungen des Reichs eingreifen, als auch solcher N o r m e n , die sich nicht auf Einnahmen und Ausgaben des Reichs oder ihre Verwaltung beziehen, also das Rechtsverhältnis zwischen Staat und Bürger betreffen. Alle voraussichtlich eingehenden Einnahmen und a l l e nach möglichst genauer Abschätzung zur Bedarfsdeckung f ü r erforderlich gehaltenen Ausgaben des R e i c h s müssen v e r a n s c h l a g t und in den Haushaltsplan (Budget, Etat, Hauptetat) gebracht werden. Die Einnahmen wie die Ausgaben sind ordentliche und außerordentliche. Ordentliche Einnahmen sind vor allem die Finanzeinnahmen, wie Besitz-, Verkehrs-, Verbrauchssteuern, Zölle, Monopoleinnahmen, Betriebseinnahmen, z. B. aus der Reichsdruckerei; außerordentliche Einnahmen sind vor allem die aus Anleihen. Die ordentlichen Ausgaben dienen der Bedarfsdeckung der Reichsverwaltung, der Verzinsung und Tilgung der Reichsschuld, der Reichssteuerüberweisungen an die Länder, die außerordentlichen Ausgaben der Ausführung des Friedensvertrags. Veranschlagung bedeutet die Aufstellung des Etats durch die Reichsregierung unter M i t w i r k u n g d e s R e i c h s t a g s . Der Haushaltplan muß dann in der Form des Gesetzes f e s t g e s t e l l t werden (Art. 68 ff. oder Volksentscheid). Veranschlagung und Etatisierung darf also nur f ü r s ä m t l i c h e Einnahmen und Ausgaben erfolgen, das Veranschlagsjahr ist zur Erleichterung der rechtzeitigen Fertigstellung auf die Zeit vom 1. April bis 31. März verlegt worden. Der Entwurf des Haushaltsplans soll dem Reichsrat spätestens am 1. November, dem Reichstag spätestens am 5. Januar vor Beginn des Rechnungsjahrs, f ü r welches es gelten soll, zur Beschlußfassung vorgelegt werden (§§ 2, 22 der ReichshaushaltsO. vom 31. Dezember 1922, RGBl. 1923 I I S. 17). Die Finanzperiode ist eine einjährige. Ein E t a t kann daher nicht f ü r m e h r e r e J a h r e durch e i n Gesetz geregelt werden. Dagegen können in einer Sitzungsperiode des Reichstags die Etats auch f ü r eine längere Dauer bewilligt werden (Art. 85 Abs. 3 S. 1), also z. B. die Etats der beiden folgenden Jahre — etwa Ausgaben f ü r Bauten, sog. Raten — in zwei besonderen, je ein J a h r betreffenden Gesetzen festgestellt werden. Aus der grundsätzlichen Einjährigkeit des Etats folgt auch die Unzulässigkeit von viertel-, halbjährigen oder monatlichen Etats, sog. Notetats. Ist der E t a t des kommenden Rechnungsjahres nicht vor

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dem 1. April festgestellt, so gilt nicht der letzte Haushaltsplan. Das Etatgesetz ist die Grundlage f ü r die Einnahme- und Ausgabebewirtschaftung a ). Die R e c h n u n g s p r ü f u n g liegt dem R e c h n u n g s h o f e d e s D e u t s c h e n R e i c h s ob. Das ist. eine der Reichsregierung gegenüber selbständige, nur dem Gesetz unterworfene 'oberste Reichsbehörde. E r bildet ein Kollegium mit einem Präsidenten, Direktoren und Räten, die vom Reichspräsidenten ernannt werden, die neu hinzutretenden nach Zustimmung des Reichsrats. Alle Mitglieder haben die Stellung von Richtern (Art. 104). Sie dürfen nicht dem Reichstag angehören 2 ). Vor allem hat der Rechnungshof eine die p a r l a m e n t a r i s c h e R e c h n u n g s k o n t r o l l e vorbereitende Tätigkeit auszuüben, unter selbständiger und unbedingter Verantwortlichkeit B e m e r k u n g e n bestimmter Art aufzustellen. Über die Verwendung aller Reichseinnahmen legt der Reichsfinanzminister in dem folgenden Rechnungsjahre zur E n t l a s t u n g der Reichsregierung dem Reichstag und dem Reichsrat Rechnung (Art. 86 S. 1). Die Rechnungsprüfung ist durch die ReichshaushaltsO., die Reichsgesetz ist, geregelt (s. S. 2 daselbst). Der R e i c h s t a g p r ü f t die Vorlage der allgemeinen Rechnung und die Bemerkungen des Rechnungshofs in einmaliger Beratung, nachdem der Rechnungsausschuß vorberaten hat (GeschäftsO. § 36). Die Rechnungslegung des Reichsfinanzministers erstreckt sicli auf Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der Verwaltung nach Maßgabe des Haushaltsplans, der RV., der Reichsgesetze, insbesondere der ReichshaushaltsO.' und der VerwaltungsVorschriften des Reichs. Entlastet wird die R e i c h s r e g i e r u n g , was die Befreiung von jeder staatsrechtlichen und politischen Verantwortung hinsichtlich der Finanzverwaltung des vorhergehenden Etatjahrs bedeutet. Es kann auch eine Entlastung unter Vorbehalt der späteren Beschlußfassung über die Bemerkungen des Rechnungshofs hinsichtlich der über- und außerplanmäßigen Ausgaben erfolgen (ReichshaushaltsO. § 83). Werden Ausgaben der letzterwähnten Art nicht nachträglich genehmigt, so sind sie von den dafür verantwortlichen Personen insoweit einzuziehen, als dies nach den gesetzlichen Vorschriften möglich ist. Über das Veranlaßte ist dem R e i c h s t a g und dem Reichsrat Mitteilung zu machen (§ 84 a. a. 0.). J ) Eine zusammenfassende Regelung als Niederschlag gewohnheitsrechtlieher Bildung findet die A u f s t e l l u n g und A u s f ü h r u n g des Haushaltsplans (die sog. K o m p t a b i l i t ä t ) in der ReichshaushaltsO. r. 81. Dezember 1922 (RGBl. 1923 II S. 17 ff.). *) ReichshaushaltsO. §§ 118—126.

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C. Der Reichstag hat ein Recht auf S e l b s t o r g a n i s a t i o n : er wählt seinen P r ä s i d e n t e n , d e s s e n S t e l l v e r t r e t e r u n d s e i n e S c h r i f t f ü h r e r (Art. 26 S. 1). Diese Bestimmung über die Wahl des Reichstagspräsidiums (Vorstandes) ist durch die GeschäftsO. ausgebaut. D. Der Reichstag hat das Recht, U n t e r s u c h u n g s a u s s c h ü s s e , einen „ A u s w ä r t i g e n " und einen sog. Ü b e r w a c h u n g s ausschuß einzusetzen. a) Die U n t e r s u c h u n g s a u s s c h ü s s e entsprechen den früheren Enquete-Kommissionen, die sich besonders in England entwickelt haben 1 ). Nach RV. Art. 34 Abs. 1 S. 1 hat der Reichstag das Recht und auf Antrag von einem F ü n f t e l seiner Mitglieder die Pflicht, sie einzusetzen; hierin kommt der Gedanke des Schutzes der Minderheit, die gerade beim parlamentarischen System von besonderer Wichtigkeit ist, zum* Ausdruck. Die Mitglieder der Ausschüsse üben in diesen ein öffentliches Amt aus, das aus ihrer Abgeordneteneigenschaft fließt; eine Behörde ist der Untersuchungsausschuß nicht, wenn ihm auch, als einem Teil des Reichstags, bei seiner besonderen Funktion gewisse Rechte zustehen. Inhaltlich kann Gegenstand der Untersuchung an sich jede Tatsache und jedes Ereignis sein; eine Beschränkung auf die Fälle, daß die Gesetzlichkeit oder Lauterkeit von Regierungs- oder Verwaltungsmaßnahmen angezweifelt wird, ist nicht Gesetz geworden. Die Aufgabe dieser Ausschüsse ist sachlich begrenzt auf die Sammlung und Sichtung von Tatsachen, während eine kritische Beurteilung, eine inquisitorische oder richterliche Funktion ihnen nicht zusteht; zeitlich bildet die Wahlperiode des Reichstags eine Beschränkung. Sie sind keine Gerichte, sondern haben nur vorbereitende Arbeit f ü r die gesetzgeberische und Aufsichtstätigkeit des Reichstags zu verrichten. Sie erheben in einer auch f ü r das Publikum grundsätzlich öffentlicher — gerichtsähnlicher, kontradiktorischer — Verhandlung die Beweise, die sie oder die Antragsteller f ü r erforderlich erachten. Die Öffentlichkeit kann vom Untersuchungsausschuß mit Zweidrittelmehrheit ausgeschlossen werden 2 ). Das Verfahren des Ausschusses regelt die GeschäftsO., sie bestimmt die Zahl seiner Mitglieder 8 ). Die Gerichte und Verwaltungsbehörden sind verpflichtet, dem Ersuchen der Untersuchungsausschüsse um Beweiserhebungen Folge zu leisten; die Akten der Behörden sind ihnen auf Verlangen vorzulegen (Art. 34 Schrifttum und Einzelheiten bei S t i e r - S o m 1 o, a. a. 0. S. 590 ff. 2) Art. 34 Abs. 1 S. 2 und 3; AusschBer. S. 265 f.; Ges«häftsO. § 34 I S. 1. ") Art. 34 Abs. 1 S. 4.

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Der Reichstag.

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Abs. 2). Die G e r i c h t e können die Zeugen und Sachverständigen nach allgemeinen Grundsätzen beeidigen. Die Beweiserhebungen erstrecken sich iiuf Vorladung, Vernehmung, Beschlagnahme, Durchsuchung, Verhaftung. Auf die Erhebungen der Ausschüsse und der von ihnen ersuchten Behörden finden die Vorschriften der StPO. §§ 48 ff., 239 ff. sinngemäße Anwendung, doch bleibt das Brief-, Post-, Telegraphen* und Fernsprechgeheimnis unberührt (Art. 34 Abs. 3; s. auch Art. 117). Die Zeugen sind danach verpflichtet, vor dem Ausschuß zu erscheinen und auszusagen, sie können vereidigt und in Ordnungsstrafe genommen werden 1 ). b) Der Reichstag bestellt einen s t ä n d i g e n A u s s c h u ß f ü r a u s w ä r t i g e A n g e l e g e n h e i t e n , der die Rechte der Untersuchungsausschüsse hat. E r kann auch außerhalb der Tagung des Reichstags und nach Beendigung der Wahlperiode oder der Auflösung des Reichstags bis zum Zusammentritte des neuen Reichstags tätig werden. Im Gegensatz zu den Untersuchungsausschüssen m u ß er bestellt werden. Er hat sich in dem Rahmen der verfassungsmäßigen Zuständigkeit des Reichstages, dessen vorbereitendes Hilfsorgan er ist, zu halten, übt weder Justiz noch Verwaltung, hat aber selbständiges Beweiserhebungsrecht und die Befugnis, die Gerichte um Amtshilfe zu bitten. E r überwacht die Tätigkeit der Regierung in auswärtigen Angelegenheiten, bereitet die auf solche bezüglichen Beschlüsse des Reichstages vor, insbesondere Bündnisse und Verträge mit fremden Staaten, Kriegserklärung und Friedensschluß. Die Sitzungen dieses Ausschusses sind nicht öffentlich, wenn nicht der Ausschuß mit Zweidrittelmehrheit die Öffentlichkeit beschließt 2 ). Der Ü b e r w a c h u n g s a u s s c h u ß ist in Art. 35 Abs. 2 RV. vorgesehen als ständiger z u r W a h r u n g d e r R e c h t e der V o l k s v e r t r e t u n g g e g e n ü b e r der Reichsr e g i e r u n g f ü r die Zeit außerhalb der Tagung und nach Beendigung einer Wahlperiode oder der Auflösung des Reichstags bis zum Zusammentritt des neuen Reichstags s ) mit den Rechten von Untersuchungsausschüssen. Nicht auf der RV., sondern auf der GeschäftsO. § 26 beruht die Einsetzung s t ä n d i g e r Ausschüsse zur Vorbereitung der Verhandlungen f ü r : die GeschäftsO., Petitionen, den Iteiohshnuühult, Steuerfragen, die Rechnungen, Volkswirt«chaft, soziale Angelegenheiten, Bevölkerungspolitik, Wohi) Kür HoamUi gilt StPO. §§ 53, 76, für Abgeordnete RV. Art. 38 Abs. 1, •) RV. Art. 8ü Abs. 1, 3; GeschäftsO. § 34 I S. 4. ») Fassung des Gesetzes v. 15. Dezember 1923 (RGBl. I S. 1185).

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Zweiter Teil.

Das Recht der Verfassungsurkunde.

nungswesen, Bildungswesen, Rechtspflege, Beamten- und Verkehrsangelegenheiten. Der Reichstag kann auch noch andere ständige Ausschüsse einsetzen. Neben den ständigen Ausschüssen kann der Reichstag für e i n z e l n e Angelegenheiten auch S o n d e r a u s s c h ü s s e bestellen (GeschäftsO. § 27). E . Der Reichstag hat das Recht zur S e l b s t v e r s a m m l u n g (Art. 24) und ein Recht auf s t a t u t a r i s c h e R e g e l u n g s e i n e r i n n e r e n A n g e l e g e n h e i t e n durch die GeschäftsO. (s. oben S. 31 Anm. 1) und Beschlüsse. IV. Die rechtliche S t e l l u n g der R e i c h s t a g s abgeor dneten1). A. D i e A b g e o r d n e t e n s i n d V e r t r e t e r d e s ganzen Volkes. Sie sind nur ihrem Gewissen u n t e r w o r f e n und an A u f t r ä g e n i c h t g e b u n d e n (Art. 21). Die Abgeordneteneigenschaft e n t s t e h t durch Volkswahl (Art. 22) und nur durch sie 2 ). Der V e r l u s t der Abgeordneteneigenschaft tritt ein 1. durch Verzicht, der dem Reichstagspräsidenten zu erklären und unwiderruflich ist, 2. durch nachträglichen Verlust des Wahlrechts (Entmündigung, Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte), 3. durch Ablauf der Legislaturperiode (Art. 23 Abs. 1 S. 1), 4. durch strafgerichtliche Aberkennung der Rechte aus öffentlichen Wahlen, 5. durch Ungültigkeitserklärung der Wahl und sonstiges Ausscheiden beim Wahlprüfungsverfahren 3 ), 6. durch nachträgliche Änderung des Wahlergebnisses im Anschlüsse an Nachoder Wiederholungswahlen 4 ). Das Wahlprüfungsgericht hat auch darüber zu entscheiden, ob ein Abgeordneter (nach seiner Schrifttuin und eingehende Behandlung bei S t i e r - S o m 1 o , a. a. 0 . ß. 563—581. 2 ) Von der Wählbarkeit ausgeschlossen sind die Mitglieder des Rechnungshofs (ReichshaushaitsO. v. 31. Dezember 1922 [RGBl. 1923 S. 17] § 123). Ob Wählbarkeit vorliegt, ist schon vor der Wahl bei Prüfung der Wahlvörschläge durch Kreis-, Verbands- und Reichswahlausschuß festzustellen (RWG. §§ 21 ff.) Vgl. auch ReichsStimmO. §§ 139, 152, 153. 3 ) Letzteres kann eintreten, wenn das Wahlprüfungsgericht entscheidet, daß ein Abgeordneter zu Unrecht als gewählt erklärt worden ist, weil a) entweder die Abgeordnetensitze nicht nach der Reihenfolge der Bewerber in den Wahlvorschlägen verteilt worden sind (RWG. §§ 33, 35 Abs. 2) oder b) weil bei Feststellung des Wahlergebnisses Rechenfehler unterlaufen sind oder c) weil im Wahlprüfungsverfahren infolge der Ungültigkeitserklärung von Stimmzetteln oder der Gültigkeitserklärung der vom Wahlvorstand (RWG. § 28) für ungültig erklärten Stim'mzettel ein anderes Wahlergebnis festgestellt wird, als das von den Wahlausschüssen ermittelte.