Die Heutigen Aufgaben der Kunstwissenschaft [Reprint 2020 ed.] 9783112383308, 9783112383292

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Die Heutigen Aufgaben der Kunstwissenschaft [Reprint 2020 ed.]
 9783112383308, 9783112383292

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KUNSTWISSENSCHAFTLICHE STUDIEN BAND XVII

Hans Weigert

DIE HEUTIGEN AUFGABEN

DER KUNSTWISSENSCHAFT

19 3 5

DEUTSCHER KUNSTVERLAG BERLIN

INHALT

VORWORT................................................................................................................5

DIE LAGE............................................................................................................... 7

DIE AUFGABEN................................................................................

14

Die Vollendung des großen Inventars.......................................................... 14 Klärung der Methode............................................................................................ 17

Die Frage nach dem Werden........................................................................... 24 Die Frage nach dem Sein

40

Die politische Aufgabe................................................................................... 54

VORWORT

Diese Schrift veröffentliche ich erst nach langem Zögern. Denn über Methoden soll man nicht streiten, sondem sie vorbildgebend anwenden, Aufgaben soll man nicht predi­

gen, sondem bewältigen, und eine starke Einseitigkeit ist ftuchtbarer, als das Wissen um

vielseitige Möglichkeiten. Zudem will ich mir nicht die Rolle eines Praeceptors in meinem Fache anmaßen, zu der andere, verdienstreichere eher berufen wären. Den­ noch glaube ich die hier gegebenen Anregungen zur Diskussion stellen zu müssen, weil

mir die Lage der Kunstgeschichte als von innen und außen überaus bedroht erscheint.

Von außen, weil viele die gewaltige Verpflichtung, vor welche die Politik unser Fach stellt, und die ftuchtbarm Möglichkeiten, die sie ihm bietet, verkennen oder verfälschen. Und von innen, weil der Nachwuchs sich keine rechten Ziele zu setzen weiß. Das zeigen die Veröffentlichungen, zumal die Dissertationen der letztm Zeit, und das zeigten noch

bedmklicher Gespräche mit meinen Studenten. Ihnen möchte ich weilerzuhelfen ver­ suchen, ihnen seien diese Seilen gewidmet. Bonn, im Frühjahr 1935

HanS Weigert

DIE LAGE Die Kunstgeschichte hat eine Entfaltung hinter sich, deren Fmchtbarkeit andere Geisteswissenschaften kaum Vergleichbares zur Seite zu stellen haben. 3m Dienste der klassischen Schönheit mit einer normativen Aesthetik aufgewachsen, von der Romantik zu gedankmreicher Spekulation vertieft, hat sie in dm hundert Jahren seit der Wende zur empirischm Tatsachenforschung des Positivismus in triumphalem Entdeckungszuge

die Kunst fast des ganzen Weltraumes und fast der ganzen Weltgeschichte gewonnen und mit Hilfe der vervielfältigenden Technikm zugänglich gemacht. Unser eigmeS Erbe

ist bis zu seinen entlegensten und geringsten Werken erschloffm und in DehioS Ge­ schichte der deutschen Kunst wie in seinem Handbuch der Kunstdenkmäler verarbeitet. Über die italimische Kunst, den ersten und lange Zeit dm meist geliebten Gegenstand

unserer Kunstgeschichtsschreibung griff die Forschung über auf die anderm Länder Europas und stieß über Byzanz bis ins Innere AsimS vor. Die Nachbarwissmfchaftm

der Archäologie und Prähistorie erweckten die Geschichte bis zu dm Surnerem, die Vor­

geschichte bis zur Eiszeit. Die Ethnologie umfaßte dm Erdball. Die ungeheurm Stoffmassen ordnm sich historisch in Kunstgeschichtm aller Ieitm und Völker, biographisch in Thierne-BeckerS Künstlerlexikon, topographisch, vorläufig auf das deutsche Sprach­ gebiet beschränkt, in dm Jnventarm und im Handbuch der Kunstdenkmäler, enzyklo­

pädisch in Otto SchmittS Reallexikon. Mit der Sammlung des Stoffes entwickeltm sich die Methoden zu seiner Ordnung. Die Stilkritik hat ein so feinmaschiges Vorstellungsnetz gesponnen, daß man selbst in baten- und nammlosm Bereichen des Mittelalters eine Fixierung der Werke auf Jahr­ zehnte wagt. Jakob Burckhardt und Carl Justi dehntm die Bettachtung ins Kultur­ geschichtliche. Riegl öffnete mit dem Begriff des wechselndm „Kunstwollens" vorher

dunkle Epochm dem Verständnis und stellte dm anonyrnm Gang der Formentwicklung

dar, aus der Wölfflin Begriffsanttthesen zur Erfassung der Sttlcharaktere und die Möglichkeit gewann, den periodischm Wechsel der Forrntmdmzm zu erkennen. Dvorak unterbaute die Geschichte der Kunst mit der Geschichte der Weltanschauung. Die Bildbeschreibungm wurdm durch die Erziehung des EinfühlungSverrnögmS, zumal bei dm Meistem des Fachs in der Linie Burckhardt, Wölfflin, Pinder zu Kunstwerken von

hoher Sprachkultur. Dies« steile Aufstieg der Kunstgeschichte, der sie schon dm Anspruch auf Führung der GeisteSwissmschaftm erhebm ließ, scheint sich jetzt zu vttlangsarnm, wenn nicht gar

in ein Absinken umzuschlagm. Schuld daran ttägt die immanente Entwicklung der Wissenschaft. WaS sie groß gemacht hat, wird ihr nun zur Last. Das historische Zeit­

alter hat ihr dm Zauberstab in die Hand gegebm, mit dem sie VttgangmeS und Ver­

schüttetes wird« gegenwärttg macht, aber sie gleicht dem Zauberlehrling, der nun der Masse der aufgttufenen Dinge nicht mehr Herr wird. Mufem und Büchtt sind über-

8

DIE LAGE

füllt. In den ersteren beginnt eine rückläufige Bewegung, eine Scheidung von Wesent­ lichem und Unwesentlichem. In dm Büchem aber schwellm die Stoffmassen immer

weiter an. Am sichtbarsten ist die Hypertrophie in der Inventarisation der deutschen Kunstdenkmäler. Dm Bearbeitem wuchs in ihrer Gewissenhaftigkeit der Stoff über den

Kopf, so daß ein Ende des großen UntemehmenS gar nicht mehr abzusehm war, bis ein gewaltsamer Spruch des Tage- für Denkmalpflege eS einschränkte. Auch der deutsche

Verein für Kunstwissmschaft betreibt die Veröffmtlichung der deutschm mittelalter­ lichen Malerei und Skulptur mit solcher Weitläufigkeit, daß etwa Koehlers Bearbeitung

der karolingischm Miniaturm über dm vorbereitenden Teil des vorbereitendm Bandes, die Omamentik der Schule von Tours, vorläufig noch nicht hinauSgekommm ist. Von

Schrades Ikonographie der christlichm Kunst bient ein ganzer, der einzige erschimme Band dm Darstellungen der Auferstehung Christi. Die Folge solch breiter Anlage der Werke ist, daß sie für Herstellung und Erwerb un­

bezahlbar werben. Nicht nur bte öffentlichen Mittel schrumpfen, bie der Veröffentlichung der Forschungen dienen, zugleich schwindet auch das Interesse des Publikums, das noch

nach 1915 von einem esoterischen methodischen Fragen gewidmeten Buch wie WölfflinS

Grundbegriffm mehrere Auflagen aufnahm und in der Inflation eine Hochkonjunktur

in kunstgeschichtlichm Publikationen möglich machte. Heute bleiben wichtige Arbeiten als unzugängliche Handschriften liegen. Schwerer noch wiegt die Tatsache, daß die von

ihrm Stoffmaffm aufgeblähten und überlasteten Werke undurchsichtig und selbst für die Forschung immer schwerer benutzbar werden. Kaum noch vermag der Spezialist den

chn angehmdm Wissensstoff zu übersehen, dessen Gebirge für den, der einen Weg durch das Ganze sucht, vollends unübersteigbar werben. Wir haben „mit unseren Tugenden zugleich unsere Fehler angebaut", indem wir den Satz des Aristoteles vergaßen, daß bie Tugend die Mitte zwischm zwei Lastem ist, die wissenschaftliche Tüchtigkeit die Mitte zwischen zwei Arten der Kritiklosigkeit, liederlicher Ungenauigkeit und instinktloser Über­

genauigkeit. Das Überflüssige ist aber — nach Nietzsche — der Feind des Notwendigen.

Der Stoff ist selbstherrlich geworben, er bient nicht mehr. Wie in allen Bereichen heutigen LebmS hat sich baS Mittel zum Selbstzweck aufgeworfen. Ein ungeheurer Aufwand an Fleiß und Gelehrsamkeit wird letztlich um seiner selbst willen, wird ohne Ziel getrieben.

Denn je größer die „Andacht zum Belanglosm", je mehr die Forschung zmttifugal

wurde, desto mehr verlor sie die Maßstäbe und die Achse des gesamten Geschehens. Die Voraussetzung für die Erschließung aller Kunst war ja die Aufspaltung deS Stiles in

viele Stile, die sich mit der Anerkennung verschiedener Richtungm des KunstwollenS

durch Riegl vollendete, und die Relativierung der normativen und subjektiven Wettungen durch das Sttebm nach einer wertfreien Objektivität. Seitdem ist theoretisch und metho­ disch jede Wettung illegitim, denn es gibt heute keine gültige Norm mehr für die Ver­

teilung der Akzmte. Grundsätzlich hat daS kunstgeschichtliche Matenal eine demokratische

Verfassung, in der alle Objette gleich berechtigt sind. Deshalb gibt es auch heute keine Achse mehr, um die sich der Stoff ordnen könnte, wie sie die Humanisten von Vasatt

DIE LAGE

9

bis Burckhardt aus dem Erreichen und Verlassm der klassischen Schönheit und wie sie die Naturalisten aus dem allmählichen Aufstieg zur Naturwahrheit konstruierten. Beide Theorien vom Sinn und Ziel der Kunst, sowohl die auf die absolute Schönheit, wie die auf die absolute Wahrheit gerichtete, sind von dem alle Werte relativierenden und die

Werke vorauSsetzungSloS betrachtenden Positivismus entthront worden, ohne daß er ein neues Prinzip der Ordnung gesetzt hätte. Indem er aber selbst nicht wertet, vermag er nicht vom Werte seiner Gegenstände zu überzeugen, und damit verliert er die höchste Fähigkeit, die der Wissenschaft gegeben ist, die Kraft, auf Menschen zu wirken, sie zu erziehen und zu bilden im letzten Sinne dieses Wortes „bilden" gleich prägen, zur Ge­

stalt formen, so wie Winckelmann und Burckhardt mit Kunstgeschichte Menschen ge­ bildet und geprägt haben. Der Stoff, den diese beiden beherrschten, war kärglich, ver­

glichen mit dem heute erschlossenen, und er war mit dogmatischen Wertungen, wir sagen heute: mit Vorurteilen belastet. Aber jene Vorurteile waren mehr wert, als die von historischer Kritik geläuterten Urteile, die wir geben. Sie wirkten, sie formten die Haltung dieser Männer selbst, wie die ihrer Hörer und Leser. Winckelmann hat seiner

Zeit nichts Geringeres gegeben, als ihre Religion. Denn der von der Archäologie genährte Idealismus der klassizistischen Epoche war eine säkularisierte Religion, die mehr geistzeugende und menschenprägende Kraft hatte, als das Christentum seit dem Ende

von Reform und Gegenreform. Welche Archäologen aber wissen heute noch zu sagen, warum es für den Laien einen Sinn hat, sich mit Archäologie zu befassen? Und Jakob Burckhardt hat nicht nur der Kunst der Neurenaiffance von Feuerbach bis Wallot ihren Gmnd gegeben, er hat Wesentliches zur Geistesbildung seiner Zeit beigetragen. Ja, man könnte das Paradox wagen, daß seine Wirkung bis zur Gegenwart reicht auf dem Wege von Nietzsche, der seinen Übermenschen aus Burckhardts Kultur der Renais­

sance konzipiert hat, über Mussolini, der den „Willen zur Macht" gelesen hat, zu Hitler, auf dessen Wege auch Mussolini als Anregung steht. So bediente sich der Schöpfer einst

der Kunsthistoriker, um Leben zu wecken. Bei unseren Untersuchungen über „Unbeachtete Bilder des X in P" oder „Über den Einfluß der Kathedrale in A auf die Kirchen in B" hat er seine Hand nicht mehr im Spiele. Winckelmanns und Burckhardts Bücher, die auf subjektiven und dennoch ewigen Werten ruhen, bleiben gegenwärtig, während die

unseren, auf Objektivität gerichteten, vergänglich sind. Die UrauSgabe des Cicerone ist

voller Fehler, dennoch begleitet den Jtalienfahrer sie und nicht eine richtiggestellte Neu­ auflage, und auf welches der jüngeren Werke könnte man wohl Nietzsches Forderung

übertragen: Sm Cicerone sollte man allabendlich eine Seite lesen. Die Kunstgeschichte, einst intensiv auf den Menschen, den großen Künstler als Gegen­

stand der Forschung und auf den geistigen Leser als Gegenstand der Formung gerichtet,

dient heute vorwiegend extensiv der Gewinnung immer entlegeneren Stoffes, der Er­ kenntnis anonymer Stil- und Entwicklungsprobleme, der Konstruktion abstrakter BegriffSgebäude, insgesamt dem „stetigen Fortschritt der Wissenschaft", die ihr Ziel

in den Nebeln einer unendlichen Ferne sucht, weil sie sich kein rechtes und greifbares

IO

DIE LAGE

Ziel mehr zu setzen vermag. Dieser optimistische Fortschrittsglaube, der letztlich aus dem RattonaliSmuS der Aufklämng stammt und die endliche völlige Durchleuchtung der

Welt durch die Ratio erwartet, begegnet heute in allen Lebensbereichen steigenden Zwei­ feln. Allenthalben sind ja nicht der Geist und der Mensch fortgeschritten, sondem nur seine Mittel, und dies bis zu einem Grade, der die Herrschaft des Menschen über seine Mittel in Frage stellt. Wie in Wirtschaft und Technik dienen nicht mehr die Mittel, bei

unS die der Wiffmschaft zur Verfügung stehenden Stoffmassen, dem Menschen, sondern sie werben von ihm be-dient. Zudem beginnt der Fortschritt dieser Mittel selbst an seine Grenzen zu stoßen. Der kunstgeschichtliche Entdeckungsfeldzug geht seinem Ende ent­ gegen. Man täuscht sich wohl über seine Aussichten, weil noch das letzte Menschenalter

selbst in unserer Heimat Größtes aufgedeckt hat. Vöge konnte den Gipfel der hochmittel­ alterlichen Buchmalerei, die Reichenauer Miniaturenschule, Clemen die romanische Monumentalmalerei, H.A. Schmid den Grünewald, Pinder weite Bereiche der mittel­

alterlichen Plastik erschließen und erst die letzten zehn Jahre haben unsere Barockskulptur bekannt gemacht. Schon heute aber sind in ihr wie auch in der Miniaturmalerei wohl

bestenfalls noch Dinge zweiten, in der mittelalterlichen Plastik kaum mehr als solche dritten Ranges zu publizieren. Die Aufgaben verschieben sich immer mehr an die Peripherie und man muß sich schon wie Frobenius in das alte Flußbett des Nils be­ geben, um noch SensattonelleS finden zu können. Es scheint nur noch eine Frage des Aufwandes an Kräften und Mitteln zu sein, wann das große Inventar der Weltkunst wenigstens im Groben zum Abschluß kommt. 3n der Richtung weiterer Material­ gewinnung scheint also kein erheblicher Fortschritt möglich zu sein, und ebenso dürfte

eS mit dem anderen Ziel des PosittviSmuS stehen, mit der Spezialisierung und Rattonalisierung der Methode. Die Spezialisierung hat, seit Kunstgeschichte und Archäologie

ihre für beide Fächer verhängnisvolle Trennung vollzogen haben, durch

das An­

schwellen des Materials und die Differenzierung der Methoden so weit geführt, daß ein

Forscher kaum mehr als ein räumlich und zeitlich enges Gebiet völlig beherrschm kann. Schlimmer noch als diese Beschränkung nach der Breite ist die nach der Tiefe. Der Spezialist kann nur ein Kenner, nicht aber ein Deuter sein. Denn Deutung ist nur aus

der Fühlung mit dem Ganzen möglich, die eben durch die spezialistische Atomisierung der Geschichte verloren geht. Deshalb ist der kennerische Spezialist notwendig Rattonalist.

Weil er den Kräften, die aus der ihm unbekannten Lebensmitte quellen und Geschichte

schaffen, mit Unbehagen und Mißttauen gegenübersteht, läßt er als wissenschaftlich nur die Erklärung des Geschehens aus rattonalen Faftoren gelten. Sein Ideal ist das auf­ klärerische, zuletzt von Max Weber formulierte, ein „System von Berechnungen aufzu­ stellen, in das keine irrattonalen Mächte mehr hineinspielen". Ein solches System rattonaler Kausalbeziehungen wäre eine Kunstgeschichte, die alles Geschehen auf Fakten, Daten und äußere Umstände zurückzuführm vermöchte. Das Handwerkszeug solcher Forschung sind der Zettelkasten, der die Fakten enthält, und die Photographiensammlung, die alle

Einflüsse und Entlehnungen nachzuweisen erlaubt. Ein Prominenter hat gesagt, in der

DIE LAGE

II

Kunstgeschichte würde der gewinnm, der die meisten Photographien besäße. Solches

die Kunst nur von außen betrachtende Verfahren setzt den großen Prozeß des Rationalis­ mus, die Entzauberung der Welt, durch eine Entzauberung der Kunst fort. Wenn, wie

eS einmal geschah, eine Exkursion einer großen Universität in den Bamberger Dom kommt und sich, ohne das Ganze eines Blickes zu würdigen, auf die Reliefs der Chor­ schranken stürzt, um hier nichts anderes zu tun, als Meister und Gesellen zu rekonstru­ ieren, so wird deutlich, wie das als Grundlegung unentbehrliche Feststellen von äußeren

Tatsachen, wenn eS als einziges und letztes Ziel betriebm wird, die Geschichte zu einem Haufen von membra disiecta atomisiert und die Kunstwissenschaft um ihren Sinn bringt, indem eS sie vom Sinn der Kunst, von dem, was Kunst ist in der Kunst, immer weiter entfernt. ES ist doch schon ein groteskes Paradoxon, daß man sich dessen, was aus Gefühl, Intuition und irrationalem Erlebnis stammt, fast ausschließlich auf dm Stegen

der ratio bemächtigen will. Nicht zu unrecht muß sich deshalb die Kunstgeschichte den Spott der Künstler gefallen lassen. Wie eS stets geschieht, wenn eine geistige Möglichkeit bis ans Ende verfolgt ist, so erfolgte auch gegen die Inzucht und Überzüchtung der alles spezialisierenden und

rationalisiermdm Methode der Kunstgeschichte in der autoritätsfeindlichen und neue Wege suchendm Nachkriegszeit eine Revolte. Die zentrifugale Tendenz wurde von vielm in ein Streben nach dem Ganzen, der Mitte gewendet. Ihnen galt intuitive Schau mehr als philologische Akribie. Was der bei Verdun gefallene Fritz Burger, ein Künstler-

temperammt, das feine Hörer zu faszinieren wußte, kurz vor dem Kriege mit Schriften wie „Kunst und Weltanschauung" und der „Einführung in die modeme Kunst" be­ gonnen hatte, setzte Worringer mit den „Formproblemen der Gotik" fort, die weniger

Formprobleme behandeln, alö psychische und den gotischen Menschen als Prototyp des nordischm deuten. Scheffler nahm den Gedankm auf, populäre Schriftsteller warben

mit einer Hochflut von Büchern ein breites Publikum für diese aus dem Gefühl schaffende

Kunstgeschichtsschreibung. Tolnai versuchte dichterische Deutungen von Breughel und Michelangelo. Neue Zeitschriften wie der „Genius" feierten in hymnischer Sprache das irrational Schöpferische. Spengler entwickelte die Kunst aus den Seelen der Kultur­ kreise, Nohl wandte Diltheys Lehre auf Weltanschauungstypen in der Kunst an. StrzygowSki schrieb eine „Krisis der Geisteswissenschaften", Gantner eine „Revision

der Kunstgeschichte", die den Bruch mit dem Historismus fordert und die Kunstgeschichte der schaffendm Kunst bienen lassen will.

Dieser Vorgang in der Kunstgeschichte war nur ein Ausschnitt aus einem allgemeinm in dm GeisteSwiffmschaften. 1920 begann v. Kahler seine mit programmatischem Anspruch auftretende Schrift „Der Beruf der Wissenschaft" durch den Satz: „Die alte Wissenschaft ist in ihrm Grundlagen erschüttert, sie ist in ihren menschlichen Grund­ lagen erschüttert." Was er sagt, ist eine leidenschaftliche Auflehnung gegen die Fest­

stellung, die Max Weber ein Jahr zuvor in seinem Vorttage „Wissenschaft als Bemf"

gegeben hatte: „Daß Wissenschaft heute ein fachlich betriebener Beruf ist und nicht ein

DIE LAGE

12

Bestandteil des Nachdenkens von Weisen und PHÜosophen über den Sinn der Welt,

das ist eine unentrinnbare Gegebenhest unserer historischen Situation, aus der wir,

wenn wir uns selbst treu bleiben, nicht herauskommen können." Was aber seitdem in der Wiffenschaft geschah, scheint Max Weber Recht geben zu wollen.

Die Auflehnung gegen Rationalismus und Spezialisierung wurde nicht zur Revolution, sie blieb eine Revolte sehnsüchtiger Jugend, oder sie versandete im Dilettantismus oder

es ist, wie gerade bei den reifsten Werken dieser Richtung, den Büchern Schelers, Keyser­ lings und des George-Kreises, sehr fraglich, ob chnen eine Nachfolge beschieden sein

wird. Worringer hatte diese Leistungen 1921 als den „wahren Expressionismus, als Produkte einer neuen Denksinnlichkeil, als Exaktvisionen" gefeiert, aber es scheint, als

bliebe dies alles in wenigen individuellen Würfen oder, soweit es in der Linie SchopenHauer-Nietzsche-Bergson liegt, in der Anbetung eines richtungslosen Lebenswillens

stecken,

ohne

sich

zu

allgemeiner

Gültigkeü,

zur

Grundlegung

einer

neuen

Wiffenschaft festigen zu können. Die Jugend selbst scheint heute resigniert zu haben

und

in

die alten Bahnen zurückzulenken.

Die Studenten, die aus dem Kriege

heimkehrten und Erkenntniffe über den Kenntnissen suchten, auf ihrer Wanderung

durch die Universitäten vergeblich suchten, sie sind, als sie in di« Jahre des eigenen Schaffens kämm, fast alle in den überwunden geglaubtm Positivismus zurückgekehrt.

Iwischm die beidm Gefahrm des Dilettantismus und des SpezialismuS gestellt, nahmm sie lieber die zweite auf sich. Über die gleich« Lage in der Literaturwissmschaft

sagt Ermatinger: „Seit einigm Jahren habm gegmüber dieser philosophisch-künstlersschm Geisteswiffmschaft die Vertreter der altm positivistischm Richtung mit ihrer

Berutteilung aller geistig deutendm Wissmschast wieder angefangen, aus der Not eine

Tugend zu machm, und erklärm es heute als notwendig, über die Episode der Un­

sicherheit und Kriegspsychose in der Wissmschast hinweg wieder zu der alten, sicherm Beschränkung auf die nüchteme Einzelforschung zurückzukehrm

und Philosophie

Philosophie sein zu lassen." Dem Aufbmch in der Kunstgeschichte und dm Geisteswiffmschastm überhaupt und

seinem Zusammenbmch mtsprechen gmau die Borgänge in der jüngstm Kunst. Die Kunstgeschichte hat ja stets, wmn auch meist unbewußt, dem Geschehen in der gleich­

zeitigen Kunst mtsprochm, ihre Ziele und Wertmaßstäbe geteilt. So hatte auch der Expressionismus mit dm Rmolutionärm in der Wissmschast das Suchm nach dm irrationalen Hintergründen und die Verachtung des handwerklichm Könnens gemein,

und er war aus demselbm Glauben an das Nahm einer hohen Erfüllung aufgebrochm. „Man erwatte einen Sonnmaufgang, er wird hiermit vorausgrsagt", hieß es bei

Waldm im „Sturm", und v. Kahler verkündete in seiner erwähnten Schrist: „Ein

Tag ist angrbrochm, wie er fett vielm Jahrhundertm nicht geschimm hat." Die Revo­ lution in der Kunst hat sich aber ebmsoschnell in eine Reaktion gewmdet, wie die der Wissmschast.

Die Baukunst pstegt nur noch die rationalm, zweckhaften Elemente

und ist zudem von einem mtsagendm Historismus bedroht. Die Bildkünste der „Nmm

DIE LAGE