126 73 32MB
German Pages 321 Year 1895
Die Aufgaben der Strafrechtspflege Von Richard Schmidt
Duncker & Humblot reprints
Die Aufgaben der
rafrechtspflege. Von
Dr. Richard Schmidt, Professor der Rechte i n F r e i b u r g i. B.
Leipzig, Verlag
von
Duncker 1895.
& Hum blot.
Alle
Rechte
vorbehalten.
ANSELM Z U M
FEUERBACH G E D Ä C H T
N I S.
V o r r e d e .
D
ie nachstehende Abhandlung verfolgt nicht nur
und
nicht einmal in erster L i n i e den Zweck, die persönliche Meinung des Verfassers in einer Frage zum Ausdruck und zu Gehör zu bringen,
über
die der Meinungsäufserungen
Jahren nur allzu zahlreiche geworden sind.
in den letzten
Sie bezweckt viel-
mehr vorwiegend, durch Zusammenfassung des kritischen und historischen Apparats über den Stand der Frage eine Übersicht zu bieten, wie sie durch die Zersplitterung des Materials neuerdings sehr erschwert worden ist, und das Verhältnis der verschiedenen sich durchkreuzenden
Gesichtspunkte
darzulegen,
die bei Beantwortung der Gesotzgebungsfrage Berücksichtigung fordern.
Durch dieses Bestreben wird die eingehaltene Methode
ihre Rechtfertigung finden.
Insbesondere wird
hinlänglich erklärt werden,
wenn bisweilen weiter ausgeholt
es
hierdurch
wurde, als der Fachverständige für nötig halten mag, oder wenn andrerseits in manchen, besonders geschichtlichen Punkten nur andeutungsweise vorgegangen wurde, spezialwissenschaftlicher
Darstellung
wo nach dem Mafsstab eine
gründlichere
Aus-
führung zu erwarten wäre. Freiburg
i. B., Weihnachten 1894.
Richard Schmidt.
Inhalt. Seit0
Einleitung. I . Der a l t e u n d der neue S t r e i t u m die Stral'e
1
I I . Der S t r e i t s t a n d
fj
Erste Abteilung;: D a s r e c h t s p o l i t i s c h e V e r h ä l t n i s d e r S t r a f z w e c k c. Erstes K a p i t e l : D e r W e r t d e r S t r a f r e c h t s t h e o r i e f ü r d i e
Rechts-
politik. I . Die A r b e i t e n der v o r k a n t i s c h e n Z e i t II
12
K a n t u n d seine Nachfolger
22
I I I . Die moderne Strafrechtstheorie
33
I V . Die Ergebnisse des bisherigen t h e o r e t i s c h e n Streits
42
Zweites K a p i t e l : D i e e i n z e l n e n
Str alz wecke.
I. Spezialprävention und Goneralprävention I I . S i t t l i c h e u n d r e c h t l i c h e Vergeltung·
46 51
I I I . Vergeltung und Genugthuung
67
IV. Vergeltung und Abschreckung
79
Drilles K a p i t e l : D i e U n v e r e i n b a r k e i t
der
Strafzwecke.
I . Die Versuche zur V e r e i n i g u n g der Strafzwecke I I . Der innere Gegensatz i m P r i n z i p des Strafmaises Viertes Kapitel : D i e V o r z ü g e
93 107
d e r V e r g e l t u n gs s t r a f e .
I . Der bisherige S t r e i t u m das System
123
I I . Die k r i m i n a l p o l i t i s c h e n Vorzüge der Vergeltungsstrafe I I I . Dio p o l i t i s c h e n Vorzüge dor Vergeltungsstrafe
131 134
Z w e i t e Abteilung': D a s g e s c h i c h t l i c h e V e r h ä l t n i s d e r S t r a f -
z w e c k c. Erstes Kapitel: D i e A u s g a n g s p u n k t e d e r
Entwicklung.
I . L e i t e n d e Gesichtspunkte
142
I I . Die Stammesstrafrechte
146
I I I . Die S t r a f r e c h t s b i l d u n g des fränkischen Reichs Zweites K a p i t e l : D i e S t r a f j u s t i z d e r
150
Lehnsstaaten.
I . Der Einfluss des Lehnssystems a u f die Strafrechtspflege I I . Das Strafensystem der Lehnsstaaten
158 163
VIII Seito
Drittes K a p i t e l : D i e V e r s u c h e z u r N e u g e s t a l t u n g d e s S t r a f r e c h t s . I . Die neue Z e i t u n d i h r Einfluss a u f die S t r a f j u s t i z
172
II. Italien
192
I I I . England
201
IV. Frankreich
205
V. Deutschland
213
Viertes K a p i t e l : D i e R e a k t i o n i n d e r
Strafrechtspflege.
I . Absoluter Staat und W i l l k ü r j u s t i z
222
I I . Das E i n d r i n g e n der F r e i h e i t s s t r a f e n Fünftes K a p i t e l :
Die
Reformbestrebungen
236 im
modernen
Straf-
recht
Dritte Abteilung: D i e gebung.
245
Grenzen
der m o d e r n e n
Erstes K a p i t e l : S t r a f r e c h t s p f l e g e
und
Strafgesetz-
Verbrechensprophylaxe.
I . Vermittlungsbestrebungen
266
I I . Die bedingte V e r u r t e i l u n g
285
I I I . Die u n b e s t i m m t e V e r u r t e i l u n g Zweites K a p i t e l : D i e M i t t e l
der
. .
290
Strafrechtspflege.
I . Die gesetzgeberische Aufgabe
299
I I . Die S t r a f a r t e n
301
I I I . Die Strafmafse
807
E i n l e i t u n g .
I. D e r a l t e u n d d e r n e u e S t r e i t u m d i e S t r a f e . Die Stellungnahme in einem wissenschaftlichen Streit, der schon eine lange und schicksalsreiche Vergangenheit besitzt, zwingt dem juristischen Schriftsteller stets eine doppelte Rechenschaftspflicht auf. E r hat zu prüfen, welchen Inhalt die Auseinandersetzung zur Zeit angenommen hat, und was die bisherigen Untersuchungen als bleibende Frucht zu Tage gefördert haben. Unsere Erfahrung weist uns auf die Notwendigkei' dieses Vorgehens hin. Die Geschichte der fortschreitenden Aufklärung des menschlichen Geistes lehrt uns einmal, dass sich diese auf die Dauer nie bei der steten unveränderten Wiederholung der gleichen theoretischen Meinungen und praktischen Forderungen beruhigt, — sie predigt uns aber auch die zweite Wahrheit, dafs neu auftauchende Ideen, so original sie erscheinen mögen, stets an schon vorhandene anknüpfen und durch sie bedingt werden. Möglich, dafs die Berufung auf solche Binsenwahrheiten manchen zum Lächeln reizt. Und doch ist sie nicht überflüssig, solange die Erörterung bedeutsamer Probleme die einfachen Sätze wissenschaftlicher Erfahrung unangewendet läfst. Gerade hierin beruht das Verhängnis der gegenwärtigen Auseinandersetzung der S t r a f r e c h t s w i s s e n s c h a f t ü b e r Z w e c k u n d Aufgabe der Verbrechensstrafe. Dieselbe hält thatsächlich das unglückliche Verfahren ein, beide Grundregeln einer methodischen Betrachtungsweise zugleich zu verkennen und so zwischen zwei extremen Irrtümern hin und herzuR i c h . S c h m i d t , A u f g . d. Strafrechtspfl.
1
2
Der alte und der neue Streit um die Strafe.
schwanken, zwischen einem unfruchtbaren Haften an veralteten und überwundenen Gegensätzen, und einer ebenso unheilvollen Verachtung vorausgegangener Geistesarbeit. Seit unvordenklicher Zeit bis zum heutigen Tag wird die Wissenschaft des Strafrechts durch das Suchen nach Lösung des Rätsels in Atem gehalten, welche Motive der Bestrafung sozialschädlicher und sozialgefährlicher Handlungen des Bürgers zu Grunde liegen und welche Wirkungen damit erzielt werden sollen. Der Streit darüber, heute so lebhaft wie in den Tagen Hegels und unter den Zeitgenossen Kants verliert sich mit seinen Wurzeln in den Anfängen der europäischen Rechtsphilosophie. Aber schon ein oberflächlicher und äufserlicher Rückblick auf seinen Verlauf lehrt, dafs innerhalb dieser Zeit die den Streit treibenden Kräfte, die vorwiegend daran beteiligten Interessen nicht immer die gleichen gewesen sind. I m siebzehnten, im achtzehnten und in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts hält sich die Erörterung wesentlich in der Sphäre einer philosophisch-dogmatischen Untersuchung, die allmählich die spekulierenden Geister aller Nationen, — zuletzt und am nachhaltigsten die der deutschen — in Mitleidenschaft zieht. Ihr beinahe ausschliefsliches Ziel ist es, festzustellen, wie die Institution der Verbrechensstrafe mit Weltanschauung und Staatskonstruktion zu vereinigen sei, welche höheren, allgemeineren Gedanken des menschlichen Gemeinschaftslebens darin zur Anwendung gelangen. I n Verfolgung dieses Ziels spitzt sich die Erörterung mehr und mehr auf die Frage zu, ob die schmerzhafte Schädigung des Angreifers der Gesellschaft lediglich aus ihren E i n w i r k u n g e n auf ihn selbst und die ü b r i g e n B ü r g e r motiviert werden könne, oder ob aus dem W e s e n des V e r b r e c h e n s 'vermöge e i n e s b e h e r r s c h e n d e n Prinzips der i d e a l - s i t t l i c h e n oder der s i n n l i c h - o r g a n i s c h e n W e l t das Wesen des Strafnachteils zu erklären sei. So zieht sich um die B e z i e h u n g der Strafe auf ihre unmittelbaren Zwecke und d i e L o s l ö s u n g ihrer begrifflichen Erscheinung von diesen Zwecken, um die r e l a t i v e oder a b s o l u t e Erklärung der Strafe der entscheidende Konflikt zusammen, und als Schlagworte der litterarischen Debatte treten einander die der Abschreckung, Unschädlichmachung, Besserung hier, — die der Vergeltung und Genugthuung dort gegenüber. Wesentlich nur
Der alte und der neue Streit um die Strafe.
als Mittel zur Klärung dieser dogmatischen Frage, werden die v e r s c h i e d e n e n denkbaren Nützlichkeitszwecke der Strafe, Abschreckung der G e s e l l s c h a f t oder Isolierung, Erziehung, abschreckende Züchtigung des s c h ä d 1 i c h en B ü r g e r s s e l b s t — i m G e g e n s a t z z u e i n a n d e r betont, und noch mehr treten die p r a k t i s c h e n K o n s e q u e n z e n der einen oder andern grundsätzlichen Auffassung der Strafe in den Schatten zurück. Nur zeitweise und vorübergehend — wesentlich nur an der Neige des vorigen und an der Schwelle dieses Jahrhunderts — wagen sich die Juristen mit Vorschlägen für die Gesetzgebung hervor, und auch in diesen Zeiten sind solche Projekte wesentlich durch besondere Verhältnisse bedingt, stehen sie mit dem theoretischen Hauptstreit nur in loser Verknüpfung. I m Laufe der siebziger Jahre trat augenblicklich eine Waffenruhe ein und so vollständig schien das Material der Untersuchung erschöpft, dass manche den Sieg der einen, der idealistisch-absoluten Betrachtungsweise, den Sieg des Vergeltungsgedankens, für entschieden hielten. Diese Anschauung erwies sich nun freilich sehr rasch als trügerisch, aber als seit dem Jahre 1879 vorwiegend auf Anstois von Mittelstadt und v. Liszt das Strafrechtsproblem von neuem der K r i t i k unterzogen wurde, zeigte sich doch wenigstens soviel, dass der Streitpunkt sich wesentlich verschoben hatte. Der neue Streit nahm die praktische, die gesetzpolitische Frage zum Ausgang. Nicht das Bedürfnis nach Ergründung des tieferen Zusammenhanges der Dinge, nicht die Bedenken der Rechtsphilosophen gaben dazu den Anlafs, sondern die Unzufriedenheit mit dem bestehenden Zustand des positiven Strafrechts, — nicht die Abrundung und präzise Formulierung des wissenschaftlichen Systems, die Schärfung der dogmatischen Begriffe bildeten das Ziel, sondern die Durchführung umgestaltender Vorschläge innerhalb der Behandlung und Bestrafung der Verbrechen. Und während sich ferner das Turnier der sogenannten absoluten und relativen Theorien zuletzt auf dem ausschliefslichen Tummelplatz deutscher Spekulation bewegt hatte, trat die modernste Reformpartei in Deutschland Hand in Hand mit entsprechenden Bestrebungen in Frankreich, Belgien, Holland, Skandinavien, Italien auf. Hierbei war es überall e i n e praktische Frage, die als wichtigster, als eigentlich prinzipieller Dissenspunkt herausschimmerte. 1*
4
Der alte und der neue Streit um die Strafe.
Es war die, welche ä u f s e r e n M e r k z e i c h e n f ü r d i e gesetzgeberische Gestaltung und r i c h t e r l i c h e Zum e s s u n g d e r S t r a f e i m k o n k r e t e n D e l i k t s f a l l mafsgebend und entscheidend sein sollen. Die herrschenden Rechtssysteme hatten aus Beweggründen, die nicht ohne weiteres zu durchschauen waren, übereinstimmend, wenn auch mit gröfserer oder geringerer Konsequenz die strafwürdige T h a t zum Maßstab erhoben. Je nach der äufseren Schädlichkeit und der inneren Verwerflichkeit des Vergehens, nach der Schwere des Erfolgs und der Schuld und dem Verhältnis derselben zu der Bedeutung anderer Thaten derselben oder ungleicher A r t sollte den Thäter eine Strafe treffen, deren Höhe entsprechend die Schwere des Delikts zum Ausdruck bringe. Die Verhältnismäfsigkeit der Verbrechen und Strafen sollte die Finclung der Strafarten und Strafmafse beherrschen, gleichviel in erster L i n i e welche W i r k u n g das Strafübel auf die Person des Thäters hervorbringe. Um dieses geltende Strafsystem scharte sich in Deutschland die herrschende Richtung der Kriminalistik. Zwar wurde auch ihrerseits nicht eine unkritische Konservierung des geltenden Rechtszustands befürwortet, aber die Reformvorschläge, die aus ihren Reihen hervorgingen und vorwiegend von Mittelstädt, Merkel, Wach vertreten wurden, galten nur der folgerichtigeren Durchführung des Prinzips, vor allem der energischeren Abstufung der Strafen nach der Differenzierung der Delikte mittels strenger Sonderung und w i r k samer Verschärfung der überkommenen Zuchtmittel, — das Prinzip des bisherigen Rechts wurde nicht nur nicht preisgegeben, sondern im Gegenteil mit wachsender Entschiedenheit verteidigt. I m Gegensatz hierzu machte sich die i n t e r n a t i o n a l e k r i m i n a l i s t i s c h e Vereinigung, in Deutschland geleitet von Franz v. Liszt, zum Organ einer ganz anderen und radikaleren Reformtendenz. Sie drängte zu einem entschiedenen Bruch mit dem herrschenden Prinzip. Nicht die That, sondern der T h ä t e r , — nicht der sozialschädliche oder -gefährliche Vorgang, sondern die s o z i a l s c h ä d l i c h e G e s i n n u n g des handelnden Menschen gewährt in ihren Augen den allein vernünftigen Mafsstab der Bestrafung. Jedes Strafmittel erscheint ihnen deshalb schablonenhaft und formalistisch, das nicht die Handhabe bietet, den einzelnen
Der alte und der neue Streit um die Strafe.
Verbrecher an seiner Individualität und Eigenart zu packen, und eine Organisation der Strafarten und Strafrechte ist erforderlich, ihn jenachdem durch dauernde Verwahrung unschädlich zu machen, ihn in mehr oder minder intensivem Erziehungsprozefs sozial zu bearbeiten und zu bessern oder ihn durch kräftige Zuchtmittel abzuschrecken. Dabei sind sich die Reformer darüber klar, dafs nur durch eine völlige Umwälzung, wenn nicht im äufsern Apparat, so doch im innern Betrieb der Strafjustiz dieser Zustand erreicht werden könnte, — nicht die technischjuristische Sonderung der Deliktsthatbestände nach ihrer verschiedenen Schwere, sondern die psychologische Prüfung des verbrecherischen Menschen auf Herz und Nieren würde die Aufgabe der Gerichte bilden, — nicht allein die Gerichte, sondern zu erheblichem Teil die strafvollziehenden Behörden würden zu befinden haben, welche Strafarten und -mafse im Einzelfalle angemessen wären, — neue Strafmittel, Verwahrungsanstalten und wirksame Zuchtmittel würden zu den vorhandenen hinzutreten müssen, und dafür würde in anderen Fällen von der Bestrafung des Verbrechers ganz abzusehen sein, wo das grofse W e r k , Bändigung des v e r b r e c h e r i s c h g e s i n n t e n Teils der Bevölkerung, dadurch gefördert würde 1 . 1 I n naher verwandtschaftlicher Beziehung m i t den Bestrebungen der internationalen kriminalistischen Vereinigung stand die „anthropologische" oder „positive" Schule, die Lombroso i n I t a l i e n ins Leben gerufen hatte. I h r Grunddogma, der Gewohnheitsverbrecher involviere einen durch gewisse körperliche und psychische Abnormitäten charakterisierten „Verbrechertypus", dessen Beschaffenheit das belastete I n d i v i d u u m dem Wilden, Urmenschen annähere und dessen verbrecherische A r t hervorbrechen müsse, sowie die Beanlagung durch kosmische Faktoren ( W i t t e r u n g , K l i m a , Ernährungsverhältnisse) oder soziale (Übervölkerung, Unmäfsigkeit) ausgelöst werde, führte zu ähnlichen praktischen Vorschlägen, wie sie von der Lisztschen Schule ausgingen. Die positive Schule wollte (mindestens für den Gewohnheitsverbrecher) ebenfalls m i t dem geltenden Strafprinzip gebrochen wissen und ging nur insofern weiter, als sie überhaupt j e d e s c h m e r z h a f t e Z ü c h t i g u n g verwarf und eine schmerzlose Internierung oder Behandlung verlangte. I m praktischen Hauptpunkte also, der Einrichtung der Strafen nicht nach der T h a t , sondern nach der Person des Thäters, kam sie m i t der i m Texte bezeichneten Reformrichtung überein, und es ist ein vergebliches Bemühen Liszts, sich — zuwider den Bemerkungen Merkels, Vergeltungsidee und Zweckgedanke S. 8 — aus jeder Verbindung m i t der anthropologischen Schule zu lösen (Zeitschrift für Strafrechtswissenschaft X I I I 382). Diese italienische Anschauung kann jedoch bereits als eine vorübergegangene Erscheinung angesehen werden. Nach dem Verlauf des zweiten kriminal-anthropologischen Kongresses zu Paris 1889 und mehr noch des dritten zu Brüssel 1892 ist die Hypothese des „Verbrechertypus" als unhaltbar konstatiert (vgl. v. L i s z t , K r i m i n a l p o l . Studien, Zeitschr. I X 465; Rosenfeld, Der dritte krim.-anthrop. K o n g r . , Zeitschr. X I I I 161). Die ganze Anschauung bleibt deshalb i m folgenden aufser Betracht.
6
Der Streitstand.
K u r z u m , die legislative Einrichtung der Strafjustiz ist es,, um die der neue Streit sich dreht ; die theoretischen Erörterungen interessieren, — wenn überhaupt, — nur insoweit,, als sie nicht nur für den Erbauer wissenschaftlicher Systeme, sondern gleichzeitig für den Gesetzgeber bestimmend sein müssen. So kann schon nach dieser flüchtigen Orientierung über die äufseren Schicksale der Strafrechts - Kontroverse keinem Zweifel unterliegen, dafs die sich jetzt bekämpfenden Gegensätze erheblich andere geworden sind, als die von ehedem waren. Dafs andererseits die älteren Erörterungen — und seien sie noch so überwiegend einem spekulativen Bedürfnis entsprungen,. auf die Herausbildung der heutigen praktischen Alternative nicht ohne Einflufs gewesen sein können, wird jeder auch ohne weitere Glaubhaftmachung auf Grund der Thatsache als wahr annehmen, dafs wir alle in der Ausbildung unserer Überzeugungen unter den Einflüssen der geistigen Atmosphäre stehen, in der wir aufwachsen. U n d doch bestätigt sich das zum Anfang vorausgeschickte Urteil, dafs die Hauptmasse der heutigen Juristen weder über das eine noch über das andere zu hinlänglicher Klarheit gediehen ist. E i n Blick auf den augenblicklichen Stand des Streits beweist dies. II.
Der
Streitstand.
Als die jetzt lebende Juristengeneration gegenüber dem neu aufflackernden Streite in konservativem oder in fortschrittlichem Sinne zuerst Partei ergriff, war die Neigung sichtbar, die Erörterung über die Strafe in den Gängen der alten theoretischen Auseinandersetzung festzuhalten. A n den Reformvorschlägen von Mittelstadt oder von L i s z t , so verschiedene Wege sie im übrigen gingen, wurde in erster Linie ihre Gegensätzlichkeit gegen die absolute Begründung der Strafe aus höheren Vorstellungsbeziehungen, ihre einseitige Betonung des sozialen Nützlichkeitszwecks gerügt. Die Verteidiger der bisher herrschenden Behandlungsmethode suchten sie als unliebsame und aussichtslose Erneuerung des längst ver jährten Streites wider die Vergeltungsidee, als Wiederholung alter, schon oft gehörter Argumente zurückzuweisen, und insbesondere pflanzte sich die Anschauung fort, als ob es sich hier nur um einen neuen
Der Streitstand.
Yorstofs der rein opportunistischen oder gar materialistischen Betrachtung des Strafrechts gegen die Förderer des idealistisch vertieften Verständnisses seiner Erscheinungen handle Dieser Auffassung leisteten die Gegner selbst um so mehr Vorschub, als sie den geltenden Rechtszustand nicht nur auf die Herrschaft des Vergeltungsgedankens, sondern vor allem auf eine vorwiegend spekulative Verwertung dieses Gedankens und der kriminalistischen Probleme überhaupt zurückführten, und den Älteren die Vernachlässigung der Zweckerwägungen im Strafrecht, die Indifferenz gegenüber den praktischen Wirkungen der Strafe zum Vorwurf machten 2 . Sie meinten, dafs die gesetzgeberische Gestaltung der Strafe — sei deren Zweck einmal fest ins Auge gefafst — ohne weiteres auf das von ihnen gesteckte Ziel, eine rationelle persönliche Behandlung und Bearbeitung des Sträflings hinauslaufen müsse, und noch jetzt lieben sie es, die Verteidiger des status quo als „Gegner der Zweckstrafe" zu bezeichnen oder sie zu einer „klassischen Schule" zusammenzufassen, offenbar mit der halb ironischen Hindeutung darauf, dafs dieselben ihre Kraft aus den ethischästhetischen Räsonnements der früheren Zeit entnehmen 3 . Aber immerhin werden solche Symptome für das Nachwirken des alten Gegensatzes der absoluten und relativen 1 Vgl. z. B. Hugo Meyer, Die Gerechtigkeit i m Strafrecht, Gerichtssaal X X X I I I (1881) 102: „Nachdem der alte Streit zwischen idealistischer und realistischer Richtung im Strafrecht lange Zeit zu Gunsten der ersteren entschieden zu sein schien, hält jetzt die realistische Richtung wieder m i t ziemlichem Geräusch ihren Einzug." v. B a r , Handbuch des Strafrechts I (1892) 307: „Ihrem letzten Grunde nach beruht diese ganze, jedes absolute Princip zurückweisende Richtung auf der Ansicht, dafs das Recht nur ein Produkt des Staatswillens sei. Der Gegensatz dieser Theorien gegen ein absolutes Princip des Strafrechts ist also eine Fortsetzung des alten Streits über das
δίκαιον
νόμφ
und
das δίκαιον
φύαει"
Binding,
Grundrifs
des
Strafrechts,
4. Aufl. 1890, S. 134 Anm. 1: „ — richtig ist, dafs Hand i n H a n d m i t dem Umsichgreifen des Materialismus auch die relative Theorie wieder mehr A n hänger gewinnt". 2 So besonders Mittelstädt i n seiner ersten anstofsgebenden Schrift (Gegen die Freiheitsstrafen 1879), v. Liszt, Zeitschrift f. Strafrechtsw. I I I 27: „Aus dem metaphysischen Prinzip der Strafe, welches alle absoluten Theorieen zu Grunde legen, läfst sich ein festes Prinzip des Strafmafses nicht ableiten." 31: „ W i r wollen die Vergeltungsstrafe — beiseite lassen —. - Der Zweckgedanke — soll auch weiterhin unser Führer sein." 46: „Seit Jahrzehnten hat die Wissenschaft des Strafrechts i n ihren bedeutendsten Vertretern dem Leben sich entfremdet. I n unfruchtbaren Kämpfen hat sie ihre Kraft zersplittert; i n rein abstrakter Gedankenarbeit befangen, hat sie nicht bemerkt, Avas draufsen vorging." Lammasch, Gerichtssaal X L I V (1891) 148 ff. 3 S. u. S. 41.
8
Der Streitstand.
Theorien, der idealistischen und realistischen Betrachtungsweise, in der gegenwärtigen Diskussion mehr und mehr vereinzelt. I m allgemeinen hat sich, wie sich nicht verkennen läfst, die Auffassung des Konflikts im Lauf der letzten zehn Jahre in einer Weise verschoben, dafs erjetst ein ganz anderes B i l d gewährt, als früher. Die oben bezeichnete Antithese : Strafzumessung nach der Bedeutung der That oder nach Gesinnung und Eigenschaften des Thäters — ist in einer rein p r a k t i s c h e n Schärfe hervorgetreten. Der Jurist, der seinerzeit in leidenschaftlichem Eifer die erste Lanze gegen das h e r r s c h e n d e t h e o r e t i s c h e Prinzip der Vergeltung gebrochen, — Mittelstadt — ist nichtsdestoweniger einer der lebhaftesten Verteidiger des g e l t e n d e n p r a k t i s c h e n Systems geworden, dessen Strafen er nach wie vor der Schwere des Delikts angepafst, das er verbessert, nicht beseitigt wissen will. E r vereinigt sich in seinen Bestrebungen mit anderen, die, wie Wach und Merkel das gleiche praktische System noch in Anlehnung an den Vergeltungsgedanken zu rechtfertigen suchen. Andrerseits kämpft er im Prinzip gegen von Liszt und seine Gesinnungsgenossen, obwohl er dessen t h e o r e t i s c h e n Ausgangspunkt, die Strafe habe unmittelbare äufsere Erfolge zu erstreben, teilt ; — er kämpft gegen Liszts praktische Ziele : die Einrichtung der Strafe nach der persönlichen Beschaffenheit des Thäters. Infolgedessen und im Bewufstsein dieser veränderten Parteigruppierung haben sich mit vereinzelten Ausnahmen 1 beide Parteien in der Anschauung zu einigen begonnen, dafs dem bisherigen t h e o r e t i s c h e n Streit jede Bedeutung für die vorliegende praktische Frage abzusprechen sei. Selbst Merkel, der dem Namen nach den Charakter der Strafe als einer Vergeltung des Übels mit dem Übel bewahrt, sagt sich in der inneren Erklärung des Strafübels von den Ergebnissen der spekulierenden deutschen Dogmatik ausdrücklieh los 2 , und was nun gar Mittelstadt angeht, so giefst dieser die volle Schale seines bittersten Sarkasmus über die unpraktische Ideologie des deutschen Michels 1 Solche Ausnahmen sind W a c h , Reform der Freiheitsstrafen 1879. H u g o Meyer, Lehrbuch des Strafrechts und Gerichtssaal X X X I I I 101 f., 161 f. 2 A m entschiedensten i n seiner neuesten Schrift: \ r ergeltungsidee und Zweckgedanke 1892.
Der Streitstand.
aus, der im ganzen Lauf des Jahrhunderts „Kartenhäuser der Dogmatik" gebaut, während Franzosen und Engländer praktische Politik trieben \ und der sich auch jetzt aus der überwuchernden Scholastik noch nicht zu unbefangener gesetzgeberischer Betrachtung der Strafaufgaben herauswinden könne. Die radikalen Reformer, wie Liszt acceptieren diese Zugeständnisse mit um so freudigerer Bereitwilligkeit, als sie ihnen die Polemik gegen das geltende praktische System noch mehr erleichtern. Sie schreiten auf Grund derselben bereits zu der Behauptung vor, nur in rechtsphilosophischen Fragen lasse sich überhaupt von zwei gegensätzlichen Auffassungen der Strafe reden, — in praktischer Beziehung dagegen beruhe der Unterschied des bestehenden alten Rechts von dem vorgeschlagenen neuen Recht nur darin, dafs es die Aufgaben der Strafjustiz einseitig, grundlos und willkürlich beschränke und sich noch nicht zum Verständnis der vielseitigen und recht wohl mit einander verträglichen Strafzwecke hindurchgerungen habe. M i t einem Worte also: bald führt man die Diskussion als den ererbten rechtsphilosophischen Prinzipienstreit weiter, — bald beteiligt man sich hüben und drüben an der Arbeit, den Kredit der früheren Strafrechtsdogmatik gründlich und geflissentlich zu ruinieren, um auf den Trümmern, unbekümmert um sie, weiter zu streiten. Durch solch widerspruchsvolles Verfahren hat aber die Erörterung nachgerade einen unerträglichen Grad der Verworrenheit erreicht. Entweder gehen die beiderseitigen Parteigänger in ihren Deduktionen aneinander vorbei, ohne auf den Gegner zu hören oder von ihm zu lernen 2 , — oder man befürwortet Kompromifsvorschläge und gesetzgeberische Vermittlungsexperimente und glaubt verdienstlich zu handeln, indem man „einseitige" Prinzipien aufgiebt und die Strafjustiz zu möglichst mannigfaltigen Aufgaben zu benutzen sucht. Die wenigst erfreuliche Rolle müssen dabei notwendig in den Augen des unbeteiligten Beobachters die Vertreter des geltenden Rechts 1
Gerichtssaal X L V I I 1, 2. Das t r i t t besonders deutlich i n den beiden neuesten entgegengesetzten Meinungsäufserungen von Mittelstadt (Gerichtssaal X L V I 387, X L V I I 1 ff. 1892) und v. L i s z t (Zeitschr. f. Strafrechtsw. X I I I (1893) 325 ff.) hervor. 2
10
Der Streitstand.
spielen, die sich gegen das Neue ablehnend verhalten und es doch verschmähen, eine tiefere Begründung des Alten zu erbringen, die — die Verbindung mit der früheren theoretischen Betrachtung abbrechend — an der Arbeit sind, die Stütze abzusägen, auf die sie sich früher verlassen hatten. Hier ist kein Weiterkommen, wenn Wissenschaft und Legislativpolitik sich nicht von dem hochmütigen Wahne frei machen, als könne man über die Gestaltung der Strafe, aus „rein praktischen Erwägungen" entscheiden und sich der theoretischen Analyse der Strafzwecke hierbei völlig entschlagen. Es ist logisch verkehrt, zwischen den dogmatischen Erörterungen der ersten Hälfte des Jahrhunderts und den gesetzgeberischen Räsonnements der jetzigen eine Grenze ziehen zu wollen, und deshalb ebenso unklug wie in hohem Mafse undankbar, auf die Alteren herabzusehen. I n dem sogenannten Streit der Strafrechtstheorieen offenbart sich in Wahrheit schon das ernstliche Bemühen, den Grundgedanken der Strafe derart zu erfassen und zu formulieren, dafs er p r a k t i s c h , g e s e t z g e b e r i s c h verwertet werden könne. Schrittweise ist die D o k t r i n diesem Ziele näher gekommen. Jetzt in diesen Bestrebungen nachlassen, hiefse die Untersuchung in dem Momente im Stich lassen, da sie ihrer Lösung am nächsten ist und damit alle Früchte der vorangegangenen Geistesarbeit achtlos dem Vermodern preisgeben. I m folgenden soll versucht werden, die gegenwärtigen, sich widerstrebenden Richtungen wieder in das Licht zu rücken,, das ältere Arbeiten unseres Geisteslebens, — die W i s s e n s c h a f t wie die G e s e t z g e b u n g der vergangenen Jahrhunderte — über die Strafe zu verbreiten bemüht waren. Der Versuch kann nicht als überflüssig oder müfsig angesehen werden, wenn die Prüfung, wie behauptet wird, folgende, von beiden jetzt üblichen Standpunkten abweichende Sätze als Resultat ergiebt: D i e S t r a f j u s t i z i s t n i c h t imstande, alle denkbaren Strafaufgaben in unb e g r e n z t e r V i e l s e i t i g k e i t zu e r f ü l l e n . Ihre Aufgaben lassen sich v i e l m e h r in d o p p e l t e r Weise denken, und die doppelten A u f g a b e n sind m i t einander unvereinbar. A n d r e r s e i t s aber ist die U n v e r e i n b a r k e i t der S t r a f z w e c k e keine i n n e r e , begriffliche, s o n d e r n eine äufsere, p r a k t i s c h e , g e s e t z g e b e r i s c h e .
Der Streitstand.
Es i s t n i c h t m ö g l i c h , d i e M i t t e l u n d G r ö f s e n d e r S t r a f e n l e g i s l a t i v so z u g e s t a l t e n , dafs s i e b e i d e n Zwecken gerecht werden. Der erste Schritt zum Erweis dieser Sätze mufs die Klarstellung des Verhältnisses zwischen dem alten und dem neuen Streit um die Strafe sein. Es kommt darauf an, das unbrauchbar gewordene aus der bisherigen Strafrechtstheorie auszuscheiden und das abzusondern, was von früher her für die moderne Untersuchung noch zu retten ist.
Erste Abteilung.
Das rechtspolitische Verhältnis der Strafzwecke. Erstes Kapitel.
Der Wert der Strafrechtstheorie für die Rechtspolitik. I. D i e A r b e i t e n d e r v o r k a n t i s c h e n Z e i t . Es ist nicht leicht, den Streit um das Wesen der Strafe an seiner ursprünglichen theoretischen Wurzel zu fassen; jedenfalls ist es unmöglich, hierin kritiklos der herkömmlichen Betrachtungsweise zu folgen. Dieselbe pflegt die Erörterung des kriminalistischen Grundproblems als den Kampf der a b s o l u t e n und der r e l a t i v e n Strafrechtstheorieen zu bezeichnen und beide als gegensätzliche Anschauungen der Strafe aufzufassen. Die relativen Theorieen sollen das Wesen der Strafe mit Hülfe der relatio ad effecturn, der Beziehung auf ihre Nützlichkeitswirkungen , erklären, die absoluten dagegen die absolutio ab effectu, die Erklärung der Strafe aus einem von ihrem Zweck losgelösten Gesichtspunkt, vor allem aus dem Weesen und der sozial-ethischen Bedeutung des Verbrechens, anstreben. Diese Darstellung rückt jedoch von vornherein die Frage in ein täuschendes Licht. Sie macht es unmöglich, die bisherigen Untersuchungen über die Strafe in ihrem genetischen Verlaufe zu verfolgen und die Summe daraus zu ziehen. Unleugbar findet sich zwar in der D o k t r i n einerseits das Bestreben, das Wesen der Strafe aus den speziellen praktischen Einwirkungen der Strafe auf das Rechtsleben zu erforschen, während sich andrerseits die Bemühung bethätigt, die Strafe aus dem Wesen
Die Arbeiten der vorkantischen Zeit.
13
des Verbrechens zu erklären. Nur handelt es sich hierbei nicht darum, abgeschlossene Auffassungen der Strafe, sondern darum, Gesichtspunkte für ihre Betrachtung zu gewinnen, — Gesichtspunkte, die nicht notwendig und auch thatsächlich nicht immer im Gegensatz zu einander stehen, sondern in verschiedener und sehr mannigfaltiger Weise miteinander verbunden werden können 1 . Und damit nicht genug. Das Wichtigste ist, dafs diese beiden Gesichtspunkte jenachdem allein oder verbunden zur Beantwortung z w e i e r g e s o n d e r t e r F r a g e n verwendet werden. Es ist ein doppelter Brennpunkt, um den sich die Auseinandersetzung über das sogenannte Strafrechtsproblem dreht. I h r Interesse spaltet sich zwischen der Frage, welche praktischen Wirkungen mit der Strafe zu erreichen seien, der eigentlich k r i m i n a l p o l i t i s c h e n Frage, wie w i r sie heute nennen würden, — und der anderen, s t a a t s r e c h t l i c h e n , Frage, woraus dem Staate das Recht erwachse, sich im Interesse der staatlichen Ordnung durch Strafzwang an der Person des Bürgers zu vergreifen. Logisch voneinander unabhängig, sind die Fragen doch innerlich eng miteinander verflochten, und so kann es kommen, dafs gelegentlich, indem bald die eine, bald die andere mit einseitiger Ausschliefslichkeit ins Auge gefafst wird, der Anschein einer gegensätzlichen Erklärung der Strafe erregt w i r d 2 . Wie die litterarische Debatte sich bald der einen, bald der anderen Frage mehr zuwendet und vor allem, wie die Beantwortung der einen die der anderen beeinflufst, gilt es in erster Linie klarzustellen, wenn man Gang und Ergebnis der theoretischen Untersuchungen „erkennen und die Beziehung zwischen ihnen und der heutigen praktischgesetzgeberischen Streitfrage klar beurteilen w i l l , und gerade hierauf haben die bisherigen Versuche, die Entwicklung der Strafrechtstheorieen im Zusammenhange zu begreifen, — selbst die neuesten — nur wenig oder gar keine Energie verwendet 3 . 1 Antezipierend darf beispielsweise schon hier darauf hingewiesen werden, dafs der Begriff der Vergeltung, der das meist umstrittene Objekt i n der heutigen Diskussion bildet, von seiner ersten Einführung durch K a n t bis jetzt eine praktische W i r k u n g der Strafe für das Rechtsleben bedeutet, aber eine Wirkung, die nur aus dem Vorausgehen des Verbrechens erklärbar ist. (Vgl. u. S. 62.) 2 Vgl. unten S. 18, 31. 3 A n solchen Versuchen ist unsere Litteratur nicht besonders reich. Das beste bleibt immer noch der E x k u r s Köstlins, Neue Revision der Grund-
14
D i e Arbeiten der vorkantischen Zeit.
Zum Glück liegt gerade für die früheste Zeit das gegenseitige Verhältnis des staatsrechtlichen und des kriminalpolitischen Problems offen zu Tage. Der Umstand, dafs sie sofort bei Beginn der Erörterung scharf nebeneinander gestellt wurden und die A r t und Weise, wie dies geschah, war ausschliefslich durch die staatsphilosophischen Grundanschauungen über die Beziehung der Staatsgewalt zum Bürger bedingt, die den Ausgangspunkt auch für die kriminalistische Betrachtung lieferten. Die Anfänge der modernen Strafrechtsdogmatik fielen mit der Ausarbeitung der naturrechtlichen Staatslehren zusammen. So geschah es, dafs auch der kriminalistischen Betrachtung das naturrechtliche A x i o m zu Grunde gelegt wurde, der Staat sei die Schöpfung der Individuen; das sinnliche, in seiner erfahrungsmäfsigen Erscheinung gegebene Ich habe durch W T illensakt die staatliche und rechtliche Ordnung zur Förderung seiner Wohlfahrt ins Leben gerufen. Setzte man aber eine derartige Entstehung des Staats durch den Vertrag der gleichgesinnten Bürger voraus, so konnte man sich nicht mit der Ermittelung begnügen, welchen N u t z e n die Bestrafung des Verbrechens der Majorität gesetzliebender Bürger bringe, sondern es ergab sich als näherliegende und schwierigere Pflicht der Wissenschaft die R e c h t f e r t i g u n g d e s F a k t u m s , dafs sich überhaupt die im egoistischen Interesse ihrer eigenen Wohlfahrt vorgehende Majorität der Bürger anmafse, den Mitmenschen zu ihrem Nutzen und Vorteil, gleichviel welchem, zu schädigen. begriffe des Criminalrechts, 1845. S. 788 ff. (auch System des deutsehen Strafrechts, 1855. S. 390 f.). Die Darstellung v. Bars (Handbuch des Strafrechts, 1882. I 202 ff.) und die Zusammenstellung der Theorien des älteren Naturrechts bei Günther, die Idee der Wiedervergelturig i n der Geschichte und Philosophie des Strafrechts, Abt. I I 1891, S. 74 ff. sind im wesentlichen nur chronologische Schilderungen ohne entwicklungsgeschichtlichen Wert. v. Bar beeinträchtigt den Nutzen seiner Arbeit aufserdem dadurch, dafs er an allen Theorieen unter dem Gesichtspunkt der von ihm selbst vertretenen Lehre der „sittlichen Mifsbilligung" (s. unten) eine einseitige K r i t i k übt, — Günthers sorgfältige und durch Heranziehung eines weitschichtigen und zum T e i l fernliegenden Materials sehr wertvolle Kompilation leidet an dem schweren Mangel, dafs er über die Idee der „Wiedervergeltung' 1 , deren Geschichte er verfolgt, unklare Vorstellungen besitzt und besonders die beiden grundverschiedenen Vorstellungen der Genugthuung und Vergeltung (s. unten) konstant verwechselt. E i n e scharfe Sonderung der beiden i m Text bezeichneten Fragen ist i n beiden Arbeiten zu vermissen. Letzteres g i l t auch von der übrigens sehr verdienstlichen und anregenden Studie Seegers, Die Strafrechtstheorieen Kants und seiner Nachfolger, i n Tübinger Festgabe für Berner, 1892, I I .
Die Arbeiten der vorkantischen Zeit.
15
I m steten Ringen mit diesem Hindernis arbeitete sich die konstruktive Kraft der älteren Naturrechtslehrer müde, — j e d e n falls standen die Versuche, das Strafrechtsproblem nach seiner staatsrechtlichen Seite hin zu lösen, von Grotius und Hobbes bis zu Rousseau und Beccaria, im Vordergrund ihrer Bemühungen. Keinem der exakten Denker ging das Gefühl dafür ab, dafs der Hinweis auf die N ü t z l i c h k e i t der Strafe allein — auf ihre „Zweckmäfsigkeit" — den Zwangseingriff in die Freiheit des Bürgers noch nicht zu r e c h t f e r t i g e n vermöge, solange der Staat selbst nur eine Zweckmäfsigkeitsschöpfung der Einzelnen war. Schon die Begründer der modernen Rechtsphilosophie, Grotius und Hobbes, trugen diesem spekulativen Bedürfnis Rechnung, jeder gemäfs seiner mehr idealistischen oder materialistischen Vorstellung von der Genesis des Staats. Für Grotius, der den Sporn zur Vereinbarung der staatlichen Ordnung im Instinkt, in dem natürlichen Geselligkeitstriebe der Menschen entdeckte, war der Rechtfertigungsgrund der Strafe das allen Zeiten und Generationen gemeinsame n a t ü r l i c h e G e f ü h l , dafs der, der durch Unrechthandeln andere schädige, sich nicht beklagen dürfe, wenn er selbst Übel dulde, und Hobbes, der die Triebfeder zur Staatsgründung in der Furcht des im Naturstand befindlichen Ich vor dem bestialischen und gefahrdrohenden Mitmenschen zu finden wähnte, trug für die Begründung des Strafzwanges wenigstens dadurch Sorge, dafs er die vertragsmäfsige Unterwerfung aller Einzelnen unter einen höheren Staatswillen als eine u n e i n g e s c h r ä n k t e Aufo p f e r u n g der individuellen Freiheit, die Strafe also als Konsequenz der selbstgewollten Rechtlosigkeit des Individuums gegenüber dem allesverschlingenden Staate darstellt. Braucht auch gegenwärtig über die Willkürlichkeit dieser Deduktionen kein Wort mehr verloren zu werden, so ist doch das Bestreben unverkennbar, unabhängig von der Nützlichkeit der Strafe einen besonderen staatsphilosophischen Rechtfertigungsgrund für sie nachzuweisen. Dieses Streben wirkte weiter. Die Erörterung der Doktrin über den R e c h t s g r u n d der Strafe ge1 Es ist also unzutreffend, von Hobbes zu sagen, er stünde „fast ganz auf dem Boden einer relativen Theorie'", d. h. er r e c h t f e r t i g e die Strafe aus ihrem N u t z e n (Günther I I 112).
16
D i e Arbeiten der vorkantischen Zeit.
staltete sich zu einem Prozefs fortschreitender Vertiefung der von den Vätern des Naturrechts übernommenen Gedanken. Immer klarer erwies sich mit der Zeit, dafs auch die Variationen Pufendorfs oder Wolffs die allgemeine Billigung und Erfahrung, auf die sich Grotius berief, nicht zu einer juristisch brauchbaren Stütze der Strafberechtigung des Staats gestalten konnten. Als verbesserungsfähig und brauchbar behauptete sich — durch Locke und Spinoza fortgepflanzt — nur die Idee, die der Lehre von Thomas Hobbes zu Grunde lag: nur der W i l l e des V e r b r e c h e r s s e l b s t konnte einem Staat, der von seinen Mitbürgern als eine Wohlfahrtseinrichtung geschaffen war, die Ermächtigung zur Bestrafung in die Hand spielen. Rousseau führte diesen Gedanken mit mehr Bewufstsein und Entschiedenheit ein, indem er das Wesen des Verbrechens in einen Bruch des Staats- und Bürgervertrags verlegte, der den Thäter gegenüber der Staatsgewalt rechtlos mache, und nur die endgiltige und breitere Fassung desselben Gedankens war es, wenn Beccaria die Selbstunterwerfung des Thäters unter die Strafe zum spezifischen Inhalt eines eignen Nebenvertrags, eines Verpfändungsoder Abbüfsungsvertrags erhob, der dem Bürgervertrag für den Fall des verbrecherischen Handelns akzessorisch angehängt werde. Mit dieser Wendung war die Formel gefunden, die vom Standpunkt einer rein l o g i s c h e n Betrachtung aus mit Sicherheit den Zweifel an der Gerechtigkeit der Strafe gegenüber dem betroffenen Individuum bannte. Aber während so die D o k t r i n , die sich mit d e r s t a a t l i c h e n R e c h t f e r t i g u n g d e r S t r a f e beschäftigte, allmählich die feinste juristische Prägung erhielt, deren sie bei Zugrundlegung des Axioms einer individualistischen Staatsbegründ.ung überhaupt fähig war, wurde die Untersuchung über die Z w e c k e u n d W i r k u n g e n d e r S t r a f e nur lässig und oberflächlich geführt. Dafs die Strafe für Erhaltung der Ordnung im menschlichen Zusammenleben dienlich und somit für die Wohlfahrt der einzelnen nützlich sei, wurde ohne weiteres — sei es ausdrücklich, sei es stillschweigend — zugegeben ; aber da die Gelehrten mit immer verstärkter Gewifsheit erkannten und bereitwillig einräumten, dafs die Nützlichkeit der Strafe für die Wohlfahrtszwecke sie nicht zu r e c h t f e r t i g e n vermöge, so verlor die genauere Ergründung jener Nützlichkeits-
17
Die Arbeiten der vorkantischen Zeit.
Wirkungen für die Wissenschaft der Zeit ihr Interesse. Demgemäfs stellte sich die Methode als die bequemste und nächstliegende heraus, die ausnahmslos alle Rechtslehrer des 17. und 18. Jahrhunderts verfolgen, — nämlich: alle nur überhaupt in Betracht kommenden Wohlfahrtszwecke einfach zu häufen und nebeneinander zu stellen. Ohne Bedenken wurden einerseits die Abschreckung des verbrecherischen Bürgers selbst, seine Unschädlichmachung, seine Besserung oder kurz die Abhaltung des Verbrechers von neuen Verbrechen, andererseits die abschreckende Einwirkung auf die am bestraften Verbrechensfall nicht beteiligten Bürger in ihrer Gesamtheit als gleichberechtigte Funktionen der Strafe nebeneinander aufgeführt, wozu vielfach auch noch die der Genugthuung für den Verletzten gefügt wurde. Diese Weitherzigkeit charakterisiert bereits die ältesten Philosophen des Naturrechts Grotius und Hobbes 1 , — sie ist nicht weniger den Theoretikern und Praktikern des achtzehnten Jahrhunderts eigen 2 . Es kommt zwar vor, dafs ein Gelehrter, wie vor allen Rousseau selbst, sich über die Wohlfahrtszwecke der Strafe überhaupt nicht des näheren ausspricht und ihre Förderlichkeit für den allgemeinen Nutzen einfach als gegeben voraussetzt. Es ist auch nicht in Abrede zu stellen, dafs gelegentlich der eine den, der andere jenen Strafzweck mehr in den Vordergrund rückt oder allein erwähnt 3 . Aber das ist nie der Aus1 Grotius, De jure belli ac pacis I I 20 § 8 n. 1. : ne qui laesus sit ab eodem malum patiatur tribus modis eurari potest; primum si tollatur q u i deliquit, deinde si vires ei nocendi adimantur (Unschädlichmachung), postremo si suo malo dedoceatur, delinquere quod cum emendatione eonjunctum est (Erziehung und abschreckende Züchtigung des Verbrechers). Ne ab aliis laedatur qui laesus est, punitione non quavis, sed aperta atque conspicua quae ad exemplum pertinet, obtinetur (Abschreckung der übrigen). Hobbes (english works of Thomas Hobbes, ed. Molesworth, vol. I V p. 253): „ D i e Absicht des Gesetzes ist nicht, den Ubelthäter zu peinigen für das, was vorbei ist und nicht ungeschehen gemacht werden kann, sondern i h n u n d a n d e r e g e r e c h t zu machen, welche es sonst nicht sein würden etc. 2 Filangieri, System der Gesetzgebung ( 1 7 8 0 - 8 5 ) I V 19: „ D e r Endzweck der Gesetze, wenn sie Verbrechen bestrafen, kann kein anderer sein, als den V e r b r e c h e r von fernerer Beunruhigung der Gesellschaft abzuhalten und a n d e r e von der Nachahmung seines Beispiels durch den Eindruck abzuschrecken, den die an ihm vollzogene Strafe auf ihr Gemüt machen soll." Über Globig und Husters Preisschrift über die Kriminalgesetzgebung (1783) vgl. v. Bar a. a. O. 8. 236 ff. 3 Beispielsweise basiert Justus Claproth (1774, vgl. Günther I I 213, 215 ff.) seine gesetzgeberischen Vorschläge nur auf den Abschreckungszweck; E.