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German Pages 336 [338] Year 2017
Marianna Butenschön
Die Hessin auf dem Zarenthron Maria, Kaiserin von Russland
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Der Konrad Theiss Verlag ist ein Imprint der WBG. © 2017 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Lektorat: Jutta Unser M.A., Aachen Satz: Martin Vollnhals, Neustadt a. d. Donau Einbandabbildung: Kaiserin Maria Alexandrowna, Ölgemälde von Franz Xaver Winterhalter (1857) © akg-images/IAM Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt am Main Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-3436-7 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-3519-7 eBook (epub): 978-3-8062-3520-3
Inhalt
„… sehr klug und ernst, aber schrecklich schüchtern“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1
„Herzensmarie“
2
„Sascha“
3
„Eine neue Familie, eine neue Heimat“
4
„Sie lasen zusammen alle Nachrichten“
5
„Alle fühlen, dass es irgendwie leichter wird“
6
„Die Kaiserin ist ein Engel“
7
„Von einfacher und vornehmer Güte“
8
„Die Zukunft ist keine rosige“
Kindheit und Jugend in Darmstadt
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Kindheit und Jugend in St. Petersburg
Großfürstin von Russland
Ein glücklicher Anfang
Thronwechsel
. . . . . . . . . . . . . . . . . 34
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Auf dem Thron
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Pädagogen, Schriftsteller und ein Zauberkünstler
Reformjahre
97
119
. . . . . . . . . 140
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
6 I n h a l t
9
„Abends am Ufer des Meeres“ Tod des Thronfolgers
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
„Mir ist eben ein Unfall passiert“ 10 Attentate und Kriege
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
„Ein Schatten ihrer selbst“ 11 Letzte Jahre
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
„Niemand konnte sie ohne Tränen ansehen“ 12 Lebensende
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
Die vergessene Kaiserin
Spurensuche / Erinnerungsorte
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
„… sehr klug und ernst, aber schrecklich schüchtern“ Marie von Hessen und bei Rhein, eine Zeitgenossin der Queen Victoria und Kaiser Wilhelms I., Tolstojs und Dostojewskijs, stand nicht auf der Liste der potentiellen Heiratskandidatinnen, unter denen Großfürst Alexander Nikolajewitsch,* der russische Thronfolger und spätere Kaiser Alexander II., Ende der 1830er Jahre seine Wahl treffen sollte. Ihre Bekanntschaft war eher Zufall, ihre Heirat nicht geplant. Dennoch kam sie zustande, und der Petersburger Hof war begeistert von der 16-jährigen Hessin. „ … jeder stand im Bann ihres jugendlichen Zaubers, verheißungsvoll lag das Leben vor ihr“, schreibt ihre Schwägerin Olga Nikolajewna, die spätere Königin von Württemberg. Die Ehe sollte vierzig Jahre dauern, die Liebe hielt nicht so lange. Marie war ein großes, schlankes, nachdenkliches Mädchen, keine Schönheit, aber „von jenem ganz besonderen, eigenartigen Reiz, den man auf alten deutschen Gemälden, in den Madonnen Albrecht Dürers, finden kann […]“. So schildert sie die schriftstellernde Hofdame Anna F. Tjuttschewa, eine Tochter des Dichter-Diplomaten Fjodor I. Tjut tschew, deren „Erinnerungen“ zu den Juwelen der russischen Memoi* Russen haben einen Vor- und einen Vatersnamen, mit denen sie auch angeredet werden, also: Alexander Nikolajewitsch (Sohn Nikolajs), Olga Nikolajewna (Tochter Nikolajs), Nikolaus Alexandrowitsch (Sohn Alexanders), Elisabeth Petrowna (Tochter Peters). Maria Alexandrowna erhielt ihren Vatersnamen zu Ehren Alexanders I., des Befreiers Europas von Napoleon. Aus Gründen der Verständlichkeit werden alle russischen Namen und Begriffe im Fließtext phonetisch transkribiert. Nachnamen werden in der in Russland üblichen männlichen und weiblichen Form genannt, also: Tjuttschew/Tjuttschewa, Tolstoj/ Tolstaja. – Die Daten folgen dem Gregorianischen Kalender bzw. Kalender neuen Stils, der erst im Februar 1918 in Russland eingeführt wurde. Bis dahin galt der Julianische Kalender bzw. Kalender alten Stils, der im 18. Jahrhundert 11 Tage, im 19. Jahrhundert 12 Tage und im 20. Jahrhundert 13 Tage hinter dem Gregorianischen zurück war. Nur in den zitierten russischen Quellen sind die Daten alten Stils erhalten.
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renliteratur gehören. Viel zu schüchtern und viel zu verschlossen für die hohe Stellung, die sie erwartete, wurde Marie aus der kleinen, engen Darmstädter Residenz ausgerechnet an den großmächtigen Petersburger Hof versetzt, der sie mit seinem unerhörten Glanz, s einem sagenhaften Reichtum und seiner strengen Etikette mehr erschreckte als blendete. Beim Übertritt zur russischen orthodoxen Kirche im Dezember 1840 erhielt Marie den Vor- und Vatersnamen Maria Alexandrowna. Die andere Konfession hat sie gern und voller Ernst angenommen und sich – wie alle Konvertiten – eifrig an die Dogmen gehalten, während Alexander („Sascha“) seiner Schwester Olga zufolge „das Leichte und Freudige in Dingen des Glaubens“ liebte. Auch das Russische erlernte sie schnell und sprach es bald fließend, so dass es später hieß, seit Katharina II. habe keine Herrscherin den Glauben und das Volkstum der Russen so gründlich studiert und erfasst wie sie. „Das ist vor allem eine außergewöhnlich aufrichtige und zutiefst religiöse Seele“, schreibt Anna Tjuttschewa, „aber diese Seele wie auch ihre körperliche Hülle schien aus dem Rahmen eines mittelalterlichen Gemäldes herausgetreten zu sein. Die Seele der Großfürstin ist eine von denen, die dem Kloster gehören.“ Als Marie nach St. Petersburg kam, war Nikolaus I., der „Gendarm Europas“, auf dem Höhepunkt seiner Macht und seines Ruhms, gefürchtet und gehasst, aber auch respektiert und geachtet, eine glänzende Erscheinung zwar, liebenswürdig und galant, aber auch ein Mann, der kalt und abweisend sein konnte und keinen Widerspruch und keine Kritik duldete, weder in der Öffentlichkeit noch in der Familie. Dennoch galt der Despot als vorbildlicher Familienvater, und Marie konnte von Glück sagen, dass der Kaiser sie vom ersten Augenblick an mochte. In der hohen Gesellschaft der Hauptstadt gab Kaiserin Alexandra Fjodorowna den Ton an. Die gebürtige Preußin, älteste Tochter der legendären Königin Luise, war eine schöne, außerordentlich charmante, lebensfrohe Frau, die den Luxus und glanzvolle Auftritte liebte und leidenschaftlich gern tanzte, Menschen für sich einzunehmen verstand und von ihrem Gemahl, Nikolaus I., auf Händen getragen wurde. Unter den Augen dieser Schwiegereltern ist Marie wohl nicht
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einmal auf die Idee gekommen, ihre Zurückhaltung aufzugeben, zumal diese vollkommen ihrem Temperament entsprach. Sie legte es nicht darauf an zu glänzen und zu gefallen, ließ ihren Schmuck lieber im Schrank und verabscheute jeglichen Luxus. Wenn sie aber bei offiziellen Anlässen Schmuck tragen musste, dann bevorzugte sie Perlen. Die glänzende Hofhaltung, die Nikolaus I. als unerlässlichen Bestandteil seiner Herrschaftsausübung ansah, war und blieb ihr fremd. Aber sie wurde von ihrer neuen Familie herzlich aufgenommen, und das allein zählte. „Marie gewann die Herzen aller Russen, die ihr nahekamen, durch ihre angeborene Würde, die mit großer Natürlichkeit vereint war“, schreibt Olga Nikolajewna. „Einem jeden sagte sie, was am Platze war, ohne ein Wort zu viel, voll des natürlichen Taktes, der schöne Seelen auszeichnet. Sascha schloss sich täglich mehr an sie an, fühlend, dass seine Wahl gesegnet war. Ihr gegenseitiges Vertrauen wuchs, je näher sie sich kennenlernten, und ihre Briefe atmeten ein vollkommenes Glück.“ Und: „Papa beobachtete mit Freude die Stärke dieses jungen Charakters und seine Fähigkeit zur Selbstbeherrschung. Hier sah er den Ausgleich für Saschas Mangel an Energie, der ihm beständig Sorge machte. Tatsächlich rechtfertigte Marie die Hoffnungen, die Papa in sie setzte, indem sie Schwierigkeiten niemals auswich und ihre Interessen in allem mit denen des Landes gleichsetzte.“ Gemälde aus den ersten fünfzehn Jahren in Russland zeigen Maria Alexandrowna als hübsche junge Frau mit schmalem Gesicht, großen blauen Augen und prachtvollem dunklem Haar, die Zuversicht und Glück ausstrahlt. Immerhin hatte sie aus Liebe geheiratet, und nach übereinstimmender Aussage der Zeitgenossen war die Ehe des Thronfolgerpaares bis weit in die 1850er Jahre glücklich. Sie war sein „Engel Marie“ und seine „Mascha“, er war ihr „Sascha“. Doch auch eine Spur von Skepsis und Ironie liegt in Marias Zügen. Schüchtern, wie sie war, hielt sie mehr auf Distanz als auf Nähe und wirkte dadurch bisweilen kühl und unnahbar. Man kann sie sich nur schwer hoch zu Pferde, auf einem rauschenden Ball oder als Mittelpunkt einer fröhlich lärmenden Gesellschaft vorstellen. Nikolaus I. starb überraschend am 2. März 1855, die drohende Niederlage im Krimkrieg vor Augen. Maria war 30 Jahre alt, als ihr Mann die Nachfolge seines Vaters antrat. Es war ein schweres Erbe, das auch
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sie belastete. Die ersten Jahre als regierende Kaiserin sind Maria jedenfalls nicht leicht gefallen. Sie stand nun noch stärker im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, musste noch mehr höfische Pflichten erfüllen und war sich selbst doch immer wieder im Wege. „Wer die Kaiserin nicht kannte, hielt sie für kalt, aber das ist vollkommen falsch“, schreibt Maria Patkul, die Frau eines Adjutanten des Kaisers, die Zugang zur kaiserlichen Familie hatte, „sie war sehr klug und ernst, aber schrecklich schüchtern; und dieses unüberwindliche Gefühl hat ihr sehr geschadet.“ Der auffallende Mangel an Initiative und Tatkraft, der ihr oft vorgeworfen wurde, lässt sich womöglich auf diese Schüchternheit zurückführen, die zu überwinden ihr tatsächlich nicht gelang. Nach Ansicht mancher Zeitgenossen war Maria nicht für den Thron geschaffen, und das empfand sie selbst womöglich auch so. „Die Kaiserin Maria Alexandrowna war zweifellos eine kluge, gebildete Frau von gehobener Gesinnung“, schreibt Boris N. Tschitscherin, der bedeutende Rechtsgelehrte, einer der Lehrer ihres ältesten Sohnes. „Sie hatte einen etwas kalten und zurückhaltenden Charakter und besaß nicht dieses freundliche Entgegenkommen mit der Gabe, die Herzen zu bezaubern, aber ihre gesellschaftliche Rolle spielte sie klug und mit großer Würde; und im engen Kreis war sie außergewöhnlich angenehm. Ihr Gespräch war klug, scharfsinnig und lebhaft, im Umgang zeigte sie Weichheit und Umgänglichkeit. Ihre Umgebung liebte sie, und einige ihrer Kinder, darunter der Älteste, waren besonders zärtlich zu ihr. Aber alle diese hohen Eigenschaften wurden durch einen Zug untergraben, der sie an der Wurzel paralysierte. Sie war von einer erstaunlichen Passivität, die sie unfähig zu jedweder Aktivität machte. Aus ihrer gewohnten Bahn herauszukommen, war für sie eine Heldentat, die unermessliche Kräfte erforderte.“ Die Tatsache, dass ihr innig geliebter Gatte es schon nach wenigen Jahren mit der ehelichen Treue nicht mehr so genau nahm, dürfte ihr Selbstwertgefühl auch nicht gerade gestärkt haben. Wie sein Vater und sein Großvater hatte auch Alexander II. eine Schwäche für hübsche Hofdamen, so dass ihr seine zahlreichen Affären nicht verborgen blieben, zumal ihm jede neue Verliebtheit sogleich anzusehen war. Andererseits hatte Alexander eine Herkulesaufgabe vor sich, für die er auch die Unterstützung seiner Frau brauchte. Der unglückliche Verlauf des
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Krimkrieges hatte die technische und ökonomische Rückständigkeit Russlands offenkundig gemacht, und der Hauptgrund für die Rückständigkeit war die Leibeigenschaft. Die dringendste Aufgabe des neuen Kaisers war also deren längst überfällige Aufhebung. Sie erfolgte Anfang 1861 nach jahrelangen kontroversen Debatten gegen den Widerstand des grundbesitzenden Adels und der hohen Bürokratie und brachte Alexander II. den Beinamen „Zar-Befreier“ ein. Aber auch die Bereiche Justiz, Bildung und Militär bedurften der Modernisierung, die nicht ohne Glasnost zu haben war. Der Begriff stammt aus dem ersten Regierungsjahr Alexanders II. und meinte damals wie heute Transparenz der Entscheidungsprozesse in staatlichen Institu tionen, u. a. öffentliche Gerichtsverhandlungen und Abschaffung der Zensur. Russland schien einer neuen Zeit entgegen zu gehen. In den Jahren der großen Reformen war Maria die beste Stütze ihres Mannes, was jedoch nicht bedeutet, dass sie eine Liberale war. Alexanders Reformwille erlahmte schnell. Er war nicht der konsequente Willensmensch, der sein Vater gewesen war, und unter dem Eindruck des polnischen Aufstandes von 1863/64 und der auf ihn verübten Attentate blieb er letztlich, was Nikolaus I. war, ein Despot, der die Macht nicht teilen konnte, ohne das System der Selbstherrschaft zu gefährden. Als er sich doch noch entschloss, seinem Volk wenigstens ein Minimum an Mitbestimmung zu gewähren und es womöglich auf den Weg in eine konstitutionelle Monarchie zu führen, war es zu spät. Die Terroristen kamen ihm zuvor, das siebente Attentat gelang. Acht Geburten hatten Maria bereits erschöpft, als sie zu Beginn der 1860er Jahre an der Lunge erkrankte. In den Tagebüchern der Zeit ist nun ständig die Rede davon, dass die Kaiserin bei den höfischen Veranstaltungen fehlt, weil sie sich nicht wohl fühlt oder krank ist. An Heilung war im rauen, nasskalten Petersburger Klima nicht zu denken, und bald zwang die Krankheit sie immer häufiger zu langen Kuren im Ausland oder auf der Krim. Aus diesen Jahren datiert eine bemerkenswerte Beobachtung des Fürsten Peter Kropotkin. Der „Vater“ des russischen Anarchismus, ein bedeutender Geograph und Schriftsteller, der 1857 in das Kaiserliche Pagenkorps in St. Petersburg eingetreten war, eine Militärlehranstalt für Angehörige des Hochadels, konnte die Kaiserin fünf Jahre lang aus nächster Nähe beobachten. „Die sympa-
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thischste Erscheinung in der ganzen kaiserlichen Familie war zweifellos die Kaiserin Marija Aleksandrovna“, schreibt Kropotkin, der wahrlich keinerlei Sympathie für die Monarchie hatte. „Sie war aufrichtig, und sagte sie einem etwas Angenehmes, so meinte sie es auch so. Die Art, wie sie mir einmal für eine kleine Höflichkeit dankte, machte einen tiefen Eindruck auf mich, es war so gar nicht die Art einer durch die größten Höflichkeitsbezeugungen verwöhnten Frau, wie man es doch bei einer Kaiserin von vornherein erwartet. In ihrem häuslichen Leben war sie zweifellos nicht glücklich, auch bei den Hofdamen war sie nicht beliebt, ihre Strenge missfiel ihnen, und sie fanden es unbegreiflich, wie sie sich die Flatterhaftigkeit ihres Gatten so zu Herzen nehmen konnte.“ Alexander II. habe eine „ungewöhnliche Schwäche für Frauen“ gehabt, scheibt Boris Tschitscherin. „Menschen, die ihm nahestanden und ihn aufrichtig liebten, sagten, dass er in Gegenwart von Frauen ein ganz anderer Mensch wurde.“ Er liebte es, die Institute zu besuchen, wo die Schülerinnen sich um ihn drängten und ihn anhimmelten. Aber es waren nicht nur die Seitensprünge ihres Mannes, die Maria Kummer bereiteten. Es war auch die zunächst rätselhafte Krankheit ihres ältesten Sohnes, des Thronfolgers Nikolaus Alexandrowitsch („Nixa“), den die Ärzte nicht heilen konnten. Im April 1865 starb Nixa im Alter von nur 21 Jahren in Nizza an tuberkulöser Meningitis. Seinen Tod hat sie nie verwunden. Das Jahr 1865 gilt daher als Wendepunkt im Leben der Kaiserin Maria Alexandrowna. Ein Jahr später fand das erste Attentat auf den „Zar-Befreier“ statt. Gleichzeitig begann Alexander eine Liaison mit der 30 Jahre jüngeren Fürstin Katharina M. Dolgorukowa, die wider Erwarten andauerte und die Dynastie in eine ernste Krise stürzte, als auch aus dieser Verbindung mehrere Kinder hervorgingen. Maria nahm die Demütigung hin, tat fast fünfzehn Jahre so, als wisse sie von nichts. „Die helle Gestalt der Kaiserin ist umso erhabener, als sie ihren Weg gleichsam schweigend ging. Im Laufe vieler Jahre Tag für Tag aufs Neue zum Verzeihen berufen, äußerte sie nicht eine Klage, nicht einen Vorwurf. Das Geheimnis ihrer Leiden und Demütigungen hat sie mit ins Grab genommen“, hielt die ebenfalls schriftstellernde Hofdame Alexandra A. Tolstaja fest, eine Großtante Leo N. Tolstojs. In Hofkreisen wurde die Kaiserin nun „die Heilige“ genannt.
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Und so zeigen die meisten Gemälde und die ersten Fotos der Jahre nach 1865 sie nur noch in dunkler Kleidung – abgemagert, verhärmt und verbittert. Sie lächelt nicht mehr, deutet nicht einmal mehr ein Lächeln an. Als Bernhard von Bülow, der spätere Reichskanzler, 1875 als Botschaftsrat nach St. Petersburg kam, war die Kaiserin, nun bereits schwer krank, sich selbst schon nicht mehr ähnlich. Maria mochte Preußen erklärtermaßen nicht, und vielleicht urteilte Bülow deshalb – oder weil er ein Mann war? – nicht gerade verständnisvoll über die Herrscherin, nachdem er den „hochgewachsenen, sehr gut aussehenden Kaiser“ einen „Causeur“ und „vollkommenen Gentleman“ genannt hatte, der „natürlich, einfach und liebenswürdig“ war und dessen Charme sich niemand entziehen konnte: „Neben Alexander II. hatte seine Gemahlin, die Kaiserin Maria Alexandrowna, etwas Missmutiges, Gedrücktes, StillPikiertes“, schreibt er. „Obwohl damals erst fünfzig Jahre alt, war sie schon völlig verblüht. Auch wer nicht gewusst hätte, dass sie seit fünf Jahren eine glückliche Nebenbuhlerin hatte, würde ihr die wenn auch nicht verstoßene, so doch vernachlässigte, zurückgesetzte und als lästige Fessel empfundene Ehefrau angesehen haben.“ Doch ihre Haltung nötigte den Zeitgenossen Respekt ab. Resigniert erfüllte sie ihre höfischen Pflichten, so gut sie konnte, und beaufsichtigte das „Ressort der Einrichtungen der Kaiserin Maria“, ein landesweites Netzwerk von Bildungs- und Sozialeinrichtungen, das die Kaiserin Maria Fjodorowna, die Frau Pauls I. und Mutter Nikolaus’ I., eine gebürtige Württembergerin, begründet hatte und das der jeweils regierenden Kaiserin unterstand. Ihre eigene große Leistung war die Gründung von Mädchengymnasien, die von Mädchen aus allen Schichten besucht werden konnten und nach ihr „Mariengymnasien“ genannt wurden. Damit hat sie der Frauenbildung in Russland wichtige Impulse gegeben. Derweil verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand kontinuierlich. Erst um 1870 stellte Dr. Sergej P. Botkin, der neue Leibarzt der kaiserlichen Familie, bei ihr Tuberkulose fest, die ihre Lungen langsam zerfraß. Unter den Romanow-Kaiserinnen des 19. Jahrhunderts ist Maria Alexandrowna diejenige, über die am wenigsten bekannt ist. In den Tagebüchern, Memoiren und Korrespondenzen der Zeitgenossen und in den zahlreichen Biografien Alexanders II. wird sie nur am Rande erwähnt. Die Nachwelt hat sich stets mehr für die unbedeutende junge
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Geliebte des „Zar-Befreiers“ als für die stille Frau interessiert, die vierzig Jahre an seiner Seite verbracht und nach Aussagen vieler Zeitgenossen nur für ihren Mann und ihre Kinder gelebt hat. Und während über Alexander und seine Geliebte Romane erschienen wie Le roman tragique de l’Empereur Alexandre II von Maurice Paléologue, während Filme und Fernsehserien über das Paar gedreht wurden wie Katia (1938) von Maurice Tourneur mit Danielle Darrieux in der Rolle der Dolgorukowa und Katja, die ungekrönte Kaiserin (1959), ein Remake von Robert Siodmark mit Curd Jürgens und Romy Schneider in den Hauptrollen, sowie Die Liebe des Kaisers (2002) mit russischen Schauspielern, ist Maria Alexandrowna in Vergessenheit geraten. Dabei zeigt allein die Tatsache, dass diese Herrscherin von außergewöhnlichen Männern und Frauen umgeben war, überzeugend, dass die kleine Marie, die 1840 nach St. Petersburg zog, mit den Jahren zu einer Persönlichkeit herangewachsen war, die verehrt und geschätzt wurde. So kamen drei Dichter zu ihren abendlichen Zusammenkünften im Winterpalast, die – jeder auf seine Art – eine wichtige Rolle in der russischen Literaturgeschichte gespielt haben. Der Lyriker Alexej K. Tolstoj, auch Autor von historischen Romanen und Dramen, ein entfernter Verwandter Leo N. Tolstojs, nannte sie „hochherzig“ und „furchtbar zartfühlend“. Viele seiner Gedichte und Stücke hat er ihr vorgelesen, bevor sie veröffentlicht wurden, und sie hat die Lesungen genossen. „Mit ihrem Verstand übertrifft sie nicht nur die anderen Frauen, sondern auch die meisten Männer“, fand der Dichter. „Das ist eine beispiellose Mischung von Intelligenz, weiblichem Charme und einem noch reizenderen Charakter.“ Tolstoj war der Ansicht, dass die Kaiserin „nicht genügend geschätzt“ wurde, und widmete ihr den einzigen zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Gedichtband (Gedichte, 1867). Fürst Peter A. Wjasemskij, der zur sog. „Puschkinschen Plejade“ gehört hatte und eine ungewöhnliche Wandlung vom Kritiker der Autokratie zu ihrem Diener durchmachte, und Fjodor I. Tjuttschew – der Dichter-Diplomat, der vor allem durch die in einen Vierzeiler gekleidete Erkenntnis berühmt geworden ist, dass man Russland mit dem Verstand nicht begreifen, sondern nur an das Land glauben kann – haben sie in mehreren Gedichten gewürdigt. Auch Anna F. Tjut tschewa und Alexandra A. Tolstaja, die beiden Memoirenschriftstelle-
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rinnen, denen wir unmittelbare Einblicke in das Leben der Kaiserin verdanken, waren kluge, hochgebildete Frauen, wenn auch strenggläubige Sittenwächterinnen, in deren Augen die Untreue des Kaisers eine schwere Sünde war. Schließlich gilt, dass die Hessin auf dem Zarenthron politisch stets ungewöhnlich gut informiert war. Wie keine andere folgte sie der dramatischen innenpolitischen Entwicklung Russlands und nahm daran Anteil. Das geht auch aus dem umfangreichen Briefwechsel mit ihrem Lieblingsbruder Alexander von Hessen hervor. Dabei konnte nicht ausbleiben, dass die große Grundsatzdebatte, die Russland Mitte des 19. Jahrhunderts erfasste und spaltete, der Streit zwischen „Slawophilen“ und „Westlern“, auch in der kaiserlichen Familie und bei Hofe aufbrach. Welchen Weg sollte Russland gehen? Den eigenen, ganz besonderen Weg zusammen mit allen anderen Slawen unter der Ägide der russischen orthodoxen Kirche? Oder den Weg der westlichen Zivilisation und des Laizismus, den Peter I. einst so brutal eingeschlagen hatte? Maria Alexandrowna hat sich unter dem Einfluss ihrer Hof damen und des Hofgeistlichen von slawophilen Kreisen vereinnahmen lassen, während Alexander II. ein überzeugter Westler war und blieb. Darin und in ihrem übermäßigen Glaubenseifer liegt sicher einer der Gründe für die zunehmende Entfremdung der Ehegatten. Anfangs war sie dabei, wenn die Minister zum Vortrag beim Kaiser erschienen, bis die Männer in seiner Umgebung ihm eingaben, er werde von seiner Frau gegängelt. „Sie hat von sich das Gemeine ferngehalten, aber sie hatte nicht die Initiative zum Herrschen […]“, urteilt Alexander Graf Keyserling, der bedeutende deutschbaltische Naturwissenschaftler und Forschungsreisende, der auch Oberhofmeister war und die Kaiserin gut kannte. – In der Tat, Herrscherehrgeiz hatte Maria Alexandrowna nicht. Aber selbst als sie schon schwer krank war, ließ sie sich von den Ministern des Kaisers berichten, und so manche Äußerung, die jene festhielten, lässt auf eine feine Beobachtungsgabe schließen. „Ihr Einfluss ist nicht zu unterschätzen, da Ihr der Kaiser alles mitteilt“, meldet Prinz Heinrich VII. Reuß, der preußische Gesandte, 1870 seinem Chef, dem Bundeskanzler Bismarck, der die Kaiserin in seiner eigenen Zeit als preußischer Gesandter in St. Petersburg als „eine Frau von Geist und lebhafter, witziger Unterhaltung“
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kennen und schätzen gelernt hatte. Ein paar Jahre später kritisiert Botschafter von Schweinitz sie allerdings wegen ihres aktiven Engagements für die Südslawen, das er verhängnisvoll fand, weil er – zu Recht, wie sich zeigen sollte – einen Aufstand gegen die Türkenherrschaft auf der ganzen Balkanhalbinsel und womöglich einen europäischen Krieg befürchtete. Doch fällt es schwer, den politischen Einfluss Maria Alexandrownas im Einzelnen zu beschreiben. Selbst Graf Keyserling, Schwiegersohn des aus Hessen stammenden Finanzministers Georg Graf Cancrin, tat sich schwer damit, obwohl er der Kaiserin so nahe stand, dass sie ihn „bei allen Gelegenheiten als treu ergebenen Freund“ behandelte. „Wie weit ihre Macht reichte, habe ich aus der Ferne nicht beurtheilen können“, schreibt Keyserling einem Freund wenige Tage nach ihrem Tod Anfang Juni 1880 von Gut Rayküll (Raikküla) in Estland, „glaube aber, dass von ihr gilt, was Cancrin von sich mit geringerem Recht sagte: ‚Was ich verhindert habe, wird man nie wissen, und doch ist das mein Hauptverdienst‘.“ Ähnlich drückt es eine andere Zeitgenossin aus. „Russland wird nie erfahren“, schreibt Elisabeth N. Lwowa, eine Verwandte des Komponisten Alexej F. Lwow, „was es seiner Kaiserin infolge des enormen wohltuenden, herzlichen und sittlichen Einflusses verdankt, den sie immer auf den Herrscher hatte.“ Wir werden nicht mehr nachweisen können, was Maria Alexan drowna verhindern konnte. Doch Russland hat erfahren, was es der Herrscherin aus Hessen ganz sicher verdankt: die ersten Mädchengymnasien und die Entstehung einer nationalen Rotkreuz-Gesellschaft. Und das ist viel. Auch begründete sie die öffentliche Blindenfürsorge. Ihrer Aufsicht unterstanden fünf Krankenhäuser, 12 Armenhäuser, 36 Heime, zwei Institute, 38 Gymnasien, 156 Schulen und fünf private Wohltätigkeitsorganisationen. In den letzten Lebensjahren nahm sie Geschenke nur noch in Form von Geld an, das ihre Kanzlei umgehend in ihre sozialen Einrichtungen weiterleitete. Sie war auch Schirmherrin der zahlreichen russischen Einrichtungen in Palästina, die aus der „JerusalemKasse“ ihrer Kanzlei finanziert wurden. Das Volk nannte die Kaiserin aus Hessen „Mutter der Armen und Leidenden“.
1 „Herzensmarie“ Kindheit und Jugend in Darmstadt Deutsche Prinzessinnen in Russland – Vorfahren und Eltern – August Ludwig von Senarclens de Grancy – Heiligenberg – Darmstadt – Tod der Mutter – Marianne de Grancy – Karl Zimmermann – Besuch aus Russland – In der Oper – Hohenzollern, Romanow und Hessen 1824–1838
Maximiliane Wilhelmine Auguste Sophie Marie von Hessen und bei Rhein, geboren am 8. August und feierlich getauft am 26. August 1824 in Darmstadt, war nicht die erste deutsche Prinzessin, die einen russischen Thronfolger heiratete. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts hatten die Romanow-Herrscher ihre Söhne mit deutschen Prinzessinnen verheiratet, und die deutschen Duodez-Fürsten hatten ihre Töchter gern nach Russland vergeben. Denn eine Verbindung mit dem Haus Romanow galt als ausgesprochen gute Partie. Aber auch für die Romanows hatten Ehen mit westeuropäischen Partnern Vorteile. Hatten die Moskauer Zaren ihre Söhne bis zum Ende des 17. Jahrhunderts mit Frauen aus dem russischen Hochadel verhei ratet und damit endlose Intrigen und Machtkämpfe unter den großen Bojarenfamilien des alten Moskowien ausgelöst, so hatte Peter I. seinen Sohn Alexej 1711 mit einer Prinzessin von Braunschweig-Wolfenbüttel und seine Tochter Anna 1725 mit einem Herzog von Schleswig-Holstein-Gottorf verheiratet, und seine Nachfolger waren seinem Beispiel gefolgt. Denn diese Ehen waren geeignet, die Öffnung Russlands nach Europa zu fördern, die Peter mit der Gründung St. Petersburgs (1703) und der Verlegung seiner Hauptstadt an die östliche Ostseeküste (1712) eingeleitet hatte. Auch die Nachfolger Peters I., der 1721 den Titel „Kaiser“ angenommen und befohlen hatte, den Zarentitel durch den Kaisertitel zu
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ersetzen, waren bemüht, die Europäisierung ihres Landes und damit dessen Modernisierung durch dynastische Ehen ihrer Söhne und manchmal auch ihrer Töchter zu fördern und zu festigen. Dabei fiel die Wahl der Petersburger Kaiser auf Prinzessinnen aus den protestantischen deutschen Fürstenhäusern, weil die Protestantinnen – im Gegensatz zu den Katholikinnen – bereit waren zu konvertieren. Mit einer Ausnahme, der dänischen Prinzessin Dagmar, haben die russischen Thronfolger und vielfach auch ihre jüngeren Brüder fast zwei Jahrhunderte lang deutsche Prinzessinnen geheiratet, so dass die Romanows ethnisch eine deutsche Dynastie waren. In der langen Reihe der deutschstämmigen russischen Kaiserinnen war Marie auch nicht die erste Hessin. Es war zwar schon lange her, dass sich Karoline Henriette von Hessen-Darmstadt, die „Große Landgräfin“, wie Goethe sie genannt hatte, im Mai 1773 mit ihren Töchtern Amalie, Wilhelmine und Luise auf den langen Weg nach St. Petersburg gemacht hatte, um sie Katharina II., einer gebürtigen Prinzessin von Anhalt-Zerbst, vorzustellen, die eine Braut für ihren Sohn Paul suchte. Doch das tragische Schicksal Wilhelmines, ihrer mittleren Tochter, für die sich Katharina und Paul entschieden hatten, war unvergessen. Im Oktober 1773 wurde Wilhelmine, die beim Übertritt zur russischen orthodoxen Kirche den russischen Vor- und Vatersnamen Natalja Alexejewna erhalten hatte, mit dem Großfürsten-Thronfolger Paul Petrowitsch getraut. Es war eine äußerst günstige Partie, die eine nachhaltige Sanierung der hessischen Staatsfinanzen ermöglichte und dem Landgrafen Ludwig IX., Wilhelmines Vater, die russische Generalsuniform einbrachte. Doch der Preis, den die junge Frau zahlte, war hoch. Natalja verstrickte sich in Hofintrigen und verdarb es schnell mit ihrer mächtigen Schwiegermutter, die ihr unterstellte, sie stürzen zu wollen, um Paul, ihren ungeliebten Sohn, auf den Thron zu bringen. Natalja starb im April 1776 lange und qualvoll nach einer Totgeburt. Katharina II. aber fühlte sich betrogen, weil die Obduktion ergab, dass Wilhelmine aufgrund einer ihrer Familie bekannten Missbildung der Wirbelsäule gar nicht imstande war, ein lebendes Kind zur Welt zu bringen.1 Wilhelmine war Maries Großtante.
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Unvergessen war auch, dass Wilhelmines älterer Bruder Ludwig, der Erbprinz, nach dem Studium in Leiden und einer Bildungsreise nach London und Paris seiner Schwester nach St. Petersburg gefolgt war und Anfang 1774 als General der Donau-Armee Katharinas II. noch ein paar Wochen gegen die Türken gefochten hatte. Doch dann war er wegen Streitigkeiten während eines längeren Aufenthaltes der Kaiserin in Moskau ungnädig aus ihren Diensten entlassen und im Herbst 1775 von ihr nach Hause geschickt worden, wo er sich prompt abfällig über Katharina und die frivolen Zustände an ihrem Hof äußerte. In ihrer Korrespondenz nennt sie ihn denn auch einen „dummen langen Lulatsch“.2 Seine „abgelehnten“ Schwestern Amalie und Luise waren mittlerweile anderweitig verheiratet worden, die eine im Juli 1774 nach Karlsruhe, die andere im Oktober 1775 nach Weimar. Amalie wurde Markgräfin von Baden-Durlach, Luise Großherzogin von SachsenWeimar-Eisenach, somit Nachfolgerin der berühmten Anna Amalia und Landesherrin Goethes. Ludwig aber war aus St. Petersburg zunächst nach Potsdam gegangen und hatte dann eine Zeitlang am Hof seiner Schwester Luise in Weimar gelebt. Dort hatte er den bereits berühmten Goethe kennengelernt, der ihn „eine große, feste, treue Natur mit einer ungeheuren Imagination und einer graden, tüchtigen Existenz“ nannte und in der Folge mit ihm korrespondierte. Auch Schiller gehörte zu Ludwigs Korrespondenten. Der Erbprinz war ein gelehriger und weitblickender junger Mann. Der Aufenthalt in Paris, die engen Kontakte mit den französischen Enzyklopädisten, der Einfluss Friedrichs II., die Atmosphäre am Weimarer „Musenhof“, vor allem aber die Russland-Erfahrung haben dazu beigetragen, dass er einer der fortschrittlichsten Monarchen seiner Zeit wurde. Ludwig war Maries Großvater. Nach Ludwigs Entlassung und Wilhelmines Tod kühlten die politischen Beziehungen zwischen Darmstadt und St. Petersburg wieder ab. Nur die Korrespondenz, die Landgräfin Karoline mit Katharina II. geführt hatte und die im Großherzoglichen Archiv in Darmstadt aufbewahrt wurde, erinnerte noch an die russische Heirat der Prinzessin Wilhelmine und ihr trauriges Ende.
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Insbesondere ihre Schwester Amalie von Baden hat die demütigende Fahrt in den „Norden“ – für das „aufgeklärte“ Europa des 18. Jahrhunderts lag Russland nicht im Osten, sondern im Norden – offenbar nicht vergessen. Als Katharina II. in den 1790er Jahren wieder eine Braut suchte, diesmal für Alexander, ihren ältesten Enkel, den künftigen Kaiser Alexander I., und ihr Auge auf Amalies mittlere Töchter Luise und Friederike gefallen war, mussten die beiden Mädchen, Kinder noch – Luise war 12, Friederike 11 Jahre alt – allein nach St. Petersburg reisen. Katharinas Wahl fiel auf Luise, die künftige Kaiserin Elisabeth Alexejewna, während Friederike 1797 mit Gustav IV. Adolf von Schweden verheiratet wurde. Elisabeth und Friederike waren Maries Tanten. Ihr Großvater, der 1790 als Ludwig X. regierender Landgraf von Hessen-Darmstadt wurde, mag mit seinen beiden Nichten gefühlt haben, als sie nach St. Petersburg zogen – sofern Gefühle in der dynastischen Heiratspolitik des 18. Jahrhunderts überhaupt eine Rolle spielten. In der Regel spielten sie keine Rolle. Ludwig hatte 1777 seine lebenslustige Cousine Luise Henriette von Hessen-Darmstadt geheiratet, die ihm sechs Kinder gebar: Ludwig (II.), Louise, Georg, Friedrich, Emil und Gustav. Im August 1806 trat der Landgraf unter französischem Druck dem Rheinbund bei, einer Konföderation deutscher Staaten, die aus dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation ausgeschieden und eine Militärallianz mit Frankreich eingegangen waren. Dafür erhielt Ludwig von Napoleon den aus Florenz entlehnten Titel „Großherzog“ mit dem Prädikat „Königliche Hoheit“ und herrschte nunmehr als Großherzog Ludewig I. über sein kleines Land. Er und seine Frau Luise führten eine „offene“ Ehe. Als Rheinbundfürst musste dann auch Ludewig im Jahre 1812 Napoleons Großer Armee ein Kontingent für den Russland-Feldzug stellen, das sein vierter Sohn Emil befehligte. Unter Emils Führung gelangten die drei Regimenter bis Moskau und erlebten alle Schrecken des Brandes und des Rückzugs im russischen Winter. Von den 5000 Hessen, die meisten von ihnen Infanteristen, kehrten weniger als 300 nach Hause zurück. Prinz Emil selbst war nur durch Zufall beim berühmt-berüchtigten Übergang der Großen Armee über die Beresina im November 1812 mit dem Leben davongekommen. Der Übergang im
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Feuer der russischen Artillerie kostete die Große Armee rund 17 000 Tote und Verwundete. Es war die Hölle. Über den Russland-Feldzug dürfte daher noch lange in der Familie geredet worden sein, zumal im Krieg von 1812 auf beiden Seiten Wittgensteins kämpften. Feldmarschall Graf Ludwig Adolph Peter zu Sayn-WittgensteinBerleburg, dessen Vater in der Mitte des 18. Jahrhunderts in die Dienste der Kaiserin Elisabeth Petrowna getreten war, versperrte den Franzosen im Juli 1812 den Weg nach St. Petersburg, Prinz AugustLudwig zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Kommandeur der hessischen Chevauxlégers, zog mit Napoleon nach Moskau, und er war es, der den Prinzen Emil beim Rückzug vor dem Ertrinken in der eisigen Beresina rettete. Er war es auch, der 1839/1840 als Hauptbevollmächtigter des Hauses Hessen die Heiratsverhandlungen mit dem russischen Kaiserhaus führte und im Auftrag des Großherzogs den Heiratsvertrag unterschrieb. Die Tatsache, dass die Hessen in den Befreiungskriegen 1813/14 die Fronten wechselten und schließlich gegen Napoleon fochten, unter Prinz Emils Führung schließlich sogar bis Paris gelangten, hat sicher dazu beigetragen, dass Ludewig I. sein Territorium auf dem Wiener Kongress 1814/1815 um Gebiete jenseits des Rheins (Rheinhessen mit Mainz und Worms) vergrößern konnte (Artikel 47 der Wiener Kongressakte), worauf er seinem Namen „und bei Rhein“ hinzufügte. Im Juni 1815 trat das Großherzogtum dem neugegründeten Deutschen Bund bei, der bis 1866 existieren sollte, und der Großherzog verpflichtete sich, gemäß Artikel 13 der Bundesakte eine landständische Verfassung „stattfinden“ zu lassen. Dazu kam es erst Ende 1820 nach längeren Verhandlungen mit der liberalen Opposition im ersten gewählten Landtag. Mit der Unterzeichnung der Verfassungsurkunde vom 17. Dezember 1820 vollzog Ludewig den Übergang von der absoluten zur konstitutionellen Monarchie. Seine dankbaren Untertanen haben ihm dafür ein knapp 40 Meter hohes Säulendenkmal auf dem nach seiner Frau benannten Luisenplatz in Darmstadt errichtet, das Ludwigsmonument, im Volksmund „Langer Ludwig“ oder „Langer Lui“ genannt. Auch für die Volksbildung hat Ludewig viel getan, indem er die großherzogliche Hofbibliothek öffnen und ein neues Hoftheater mit
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1800 Plätzen bauen ließ, das nur bedingt ein Theater für den Hof war. Beide Einrichtungen, die Bibliothek und das Theater, waren vorrangig „zur Beförderung wahrer Aufklärung und Verbreitung nützlicher Kenntnisse“ unter den Bürgern gedacht. Außerdem übergab Ludewig I. seine bedeutenden Kunst- und Naturaliensammlungen, darunter das gesamte druckgraphische Werk Albrecht Dürers und Rembrandts, schon 1820 dem Staat und machte sie der Öffentlichkeit im Neuen Schloss (heute: Hessisches Landesmuseum Darmstadt) zugänglich. Erbprinz Ludwig, sein ältester Sohn, hatte im Juni 1804 in Karlsruhe die 15-jährige Prinzessin Wilhelmine von Baden geheiratet, die jüngste Schwester Luises und Friederikes. Die eine war nun Kaiserin von Russland, die andere Königin von Schweden, und Karoline, eine dritte Schwester, wurde 1806 die erste Königin des neugeschaffenen Königreichs Bayern. Elisabeth und Friederike hatten kein Glück in der Ehe, und auch Wilhelmine wurde in Darmstadt nicht glücklich. Die temperamentvolle junge Frau, die 1802 als Heiratskandidatin für Napoleon Bonaparte im Gespräch gewesen war, langweilte sich unendlich mit dem elf Jahre älteren Ludwig, der als unordentlich, kleinkrämerisch, träge und antriebslos geschildert wird, und fühlte sich in der Gesellschaft von Militärs und alten Würdenträgern am Darmstädter Hof nicht wohl.3 Das Zuschauen bei Paraden und beim Exerzieren der Truppen fand sie ermüdend, nur bei Ausflügen in die Umgebung blühte sie auf. Sie war eine sensible, sehr kunstsinnige Frau. Auch Ludwig war ein gebildeter Mann. Er hatte in Leipzig studiert und schrieb sogar Gedichte, fing zum Leidwesen seiner Frau aber schon „bey dem blossen Namen Lecture“ an zu gähnen.4 Die beiden hatten – außer der Liebe zur Natur und zu Gärten – nichts gemeinsam. Sie waren nicht füreinander geschaffen. Nach der Geburt der Söhne Ludwig (1806) und Karl (1809) lebten sie sich vollends auseinander. Im Herbst 1814 hätte Wilhelmine ihren Mann gern auf den Wiener Kongress begleitet, um auch einmal die große Welt kennenzulernen, doch ihre Mutter Amalie billigte die Idee nicht, worauf Wilhelmine eigene Pläne machte und zum ersten Mal in die Schweiz und nach Italien reiste. Das Interesse für die Schweiz hatte ihre Gouvernante,
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die aus der Nähe von Lausanne stammte, bereits in Karlsruhe in ihr geweckt, doch Wilhelmine folgte auch der allgemeinen SchweizBegeisterung ihrer Zeit. Sie kam hingerissen von der Landschaft, der Architektur und den Menschen zurück und reiste bis 1834 noch mehrfach in ihr Traumland. Womöglich hat sie bereits während ihres ersten Aufenthalts in der Nähe von Lausanne von Auguste Louis Senarclens de Grancy gehört, einem Offizier aus waadtländischem Uradel, der in den Gardes Suisses des Königs von Frankreich gedient hatte. Vielleicht hat sie ihn sogar schon kennengelernt. Womöglich kam die Empfehlung aber auch von ihrer Schwester Friederike, der Ex-Königin von Schweden, die seit dem Sturz ihres Mannes 1809 im heimatlichen Karlsruhe im Exil lebte und bereits einen Schweizer Gouverneur aus dem Waadtland für ihre ältesten Söhne engagiert hatte. Jedenfalls veranlasste Wilhelmine ihren Mann nach ihrer Rückkehr, Grancy zu ihrem Reisestallmeister und Oberaufseher (Gouverneur) über die Erziehung des Erbprinzen Ludwig, des späteren Ludwig III., zu ernennen. Die Tatsache, dass Grancy als Freiwilliger gegen Napoleon gekämpft hatte, mag den Erbgroßherzog, der aus seiner antinapoleonischen Gesinnung nie einen Hehl gemacht hatte, gleich für ihn eingenommen haben. Grancy wurde engagiert und trat seinen Dienst in Darmstadt Mitte 1815 an. Zwei Jahre später engagierte Wilhelmine auch für ihren Sohn Karl einen Schweizer Gouverneur. Wann Wilhelmines Liebesverhältnis mit dem blendend aussehenden, sechs Jahre jüngeren Kavalleristen begann, der 1820 Major und 1825 Obrist-Leutnant wurde, wissen wir nicht, und wie es sich entwickelte, wissen wir auch nicht. Etwaige Aufzeichnungen, Briefe oder Tagebücher wurden nach Wilhelmines Tod wohlweislich vernichtet. Aber die Liaison ist historisch verbürgt, sie hielt bis zu Wilhelmines Tod und lieferte den europäischen Höfen jahrzehntelang Gesprächsstoff, zumal Ludwig II. das Verhältnis seiner Frau hinnahm und die vier Kinder, die Wilhelmine von Grancy bekam, als seine eigenen anerkannte: Elisabeth (1821), Karoline (1822), Alexander (1823) und Marie (1824). Er war ein gutmütiger Mann, hatte – das Beispiel seiner Eltern vor Augen – auch Affären, und einen Skandal
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mit europaweitem Nachhall, den vor allem die kaiserlich-königliche Verwandtschaft seiner Frau wohl höchst ungern gesehen hätte, wollte er vermeiden. Maries Taufpaten waren die Königin von Bayern, die Königin der Niederlande, die Kurfürstin von Hessen und Markgräfin Leopold von Baden, die sich offensichtlich nichts aus den Gerüchten machten. Somit blieb die Form gewahrt, und 1825 wurden Alexander und ein Jahr später auch Marie ordnungsgemäß in den alljährlich erscheinenden Gothaischen genealogischen Hofkalender bzw. Almanach de Gotha, kurz „Gotha“, aufgenommen, der an allen Höfen Europas aufmerksam gelesen wurde.5 Ihre Mutter lebte seit 1820 vorwiegend auf der von ihr sogenannten Rosenhöhe östlich von Darmstadt. Hier, auf dem 1810 erworbenen Gelände eines ehemaligen Weinberges, des Busenberges, hatte sie einen englischen Landschaftsgarten anlegen und von Hofbau direktor Georg Moller ein relativ einfaches zweigeschossiges Wohnhaus errichten lassen, das sie als Sommersitz nutzte, nicht ahnend, dass der Park Rosenhöhe einmal die Begräbnisstätte ihrer Familie werden würde. Die erste Beisetzung fand hier 1831 statt. Es war die kleine Elisabeth, ihre älteste Tochter, die 1826 im Alter von fünf Jahren in Lausanne an Scharlach gestorben und zunächst in der Darmstädter Stadtkirche beigesetzt worden war und hier ihr letzte Ruhe fand. Das sog. Alte Mausoleum auf der Rosenhöhe, auch ein MollerBau, hat Wilhelmine für Elisabeth errichten lassen. 1831 wurden ihre sterblichen Überreste hierher umgebettet. Wir können annehmen, dass Marie, inzwischen 7 Jahre alt, an der Zeremonie teilnahm. Der Tod der ältesten Tochter war nicht der einzige Schlag, der Wilhelmine im Jahre 1826 traf. Auch der Tod ihrer Schwestern, der Kaiserin von Russland im Mai und der Ex-Königin von Schweden im September, hatte sie schwer mitgenommen. Sie brauchte Abstand und vielleicht auch einen Ort, an dem sie sich darüber klar werden konnte, wie es um ihre Beziehung zu Grancy bestellt war. Außerdem liebte sie das Landleben. Zwar besaß sie bereits das Haus auf der Rosenhöhe, doch 1827 kaufte sie als weiteren Rückzugsort einen auf dem Heiligenberg oberhalb Jugenheims an der Bergstraße gelegenen ehemaligen Gutshof mit Obstgärten und Weinbergen, dessen Haupt-
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gebäude sie nach Plänen von Georg Moller zu ihrem Sommerwohnsitz ausbauen ließ. Nachdem Wilhelmine 1830 Großherzogin geworden war, standen ihr auch die nötigen Mittel dafür zur Verfügung. So entstand Schloss Heiligenberg, eine fürstliche Bleibe mit nunmehr neun Schlafzimmern, Weinkeller und zehn Pferdeställen, in denen auch Esel standen, und so ritt auf dem Heiligenberg später selbst die Kaiserin von Russland auf Eseln aus. Die Gestaltung des Gartens nahm die Großherzogin selbst vor und ließ neue Alleen, Plätze und Wege anlegen. Ein Wildgehege mit Wildhäuschen, ein Brunnen im Innenhof und eine Terrasse zur Rheinseite hin kamen noch zu ihren Lebzeiten dazu, später erhielt der Heiligenberg in Schlossnähe ein kleines Schwimmbad, das erste in Hessen, dazu ein Badehäuschen. Von der Terrasse auf dem westlichen Ausläufer des Heiligenberges, ihrem Lieblingsplatz, hatte Wilhelmine einen phantastischen Blick auf die Rheinebene und den Fluss, der die Ebene weit im Westen wie ein silbernes Band begrenzt. In diesem Idyll lebte sie nun im Sommer mit ihren Kindern, während Grancy auf halber Höhe des Heiligenberges zunächst in einer Villa, später im Pfarrhaus von Jugenheim seinen ständigen Wohnsitz hatte. Dort wohnte er auch weiterhin, nachdem er 1830 zum Kammerherrn in Darmstadt ernannt und in den Freiherrenstand erhoben worden war, worauf er sich August-Ludwig Freiherr von SenarclensGrancy nannte. So kam es, dass Marie und Alexander ihre Kindheit überwiegend auf dem Heiligenberg verbrachten, dessen Zauber noch Jahrzehnte später auch ihre Kinder in seinen Bann zog, eine „ideale, schöne Gegend“, über die Alexanders Tochter Marie zu Erbach-Schönberg schreibt: „Überall Blumen, Vogelgesang, Lebensfreude und strahlende Gesichter, in allen das intensive Heimatgefühl, die Dankbarkeit über den Besitz all dieser Schönheit! Auch den Gästen teilte sich die Freude mit und allen Bewohnern, ebenso der Dienerschaft. Alle hatten frohe Augen dort oben auf dem lieben Berge.“6 Die beiden Kinder, der „liebste Alex“ und seine „Herzensmarie“ – so nannten sie einander in ihrer lebenslangen Korrespondenz – waren unzertrennlich. Sie liefen, sprangen und tobten auf dem Heiligenberg herum, kletterten auf Bäume, spielten Verstecken und trieben
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den Schabernack, den Kinder eben treiben. Marie machte alles mit, wenn nur Alex, der große Bruder, dabei war. Um Maries Erziehung kümmerte sich Wilhelmine persönlich, wobei sie besonderen Wert auf Literatur- und Geschichtskenntnisse legte. Dabei waren die Romane von Walter Scott förderlich, die Marie besonders gern las. Sie weckten ihr Interesse an historischen Werken. Natürlich gehörte auch das Französische zum Lernprogramm, das an den Höfen Europas immer noch bevorzugt gesprochen wurde. In der Sammlung der zumeist in Sütterlin abgefassten Aufsätze, Diktate, Konspekte, Auszüge und Schreibübungen der Prinzessin Marie des Hessischen Staatsarchivs findet sich, leider ohne Quellenangabe, ein sorgfältig in großer Kinderschrift notierter Merksatz in französischer Sprache, nach dem Marie sich wohl ihr Leben lang gerichtet hat: „Ne parlez jamais, mon enfant, sans réfléchir à ce que vous voulez dire, et souvenez-vous bien du proverbe qui avertit les éventés de tourner sept fois leur langue dans leur bouche, avant de proférer un mot. Marie, Princesse de Hesse.* Am russischen Hof fand man später freilich, dass Marias Französisch nicht vollkommen war. Religionsunterricht erhielt die Prinzessin – sie war ein frommes Mädchen – ab 1832 von Karl Zimmermann, dem bedeutenden hessischen Theologen und Autor zahlreicher literarischer Arbeiten, der 1835 zweiter Hofprediger in Darmstadt wurde. Seine Predigten fanden weite Verbreitung. Zu Maries Verlobung im April 1840 in Darmstadt schrieb auch Karl Zimmermann Glückwünsche und Gedichte. Zum Erzieher Alexanders wurde im November 1829 Hauptmann (Kapitän) Christian Conrad Frey ernannt, der ihn und teilweise auch seine Schwester in den Fremdsprachen Latein, Französisch und Englisch, in Religion und Deutsch unterrichtete.8 Für Alexander, der auf eine militärische Karriere vorbereitet werden musste, kamen die Fächer Mathematik, Botanik, Zeichnen und Geographie hinzu, s päter * „Reden Sie nie, mein Kind, ohne darüber nachzudenken, was Sie sagen wollen, und erinnern Sie sich gut an das Sprichwort, das die Oberflächlichen mahnt, siebenmal ihre Zunge im Munde zu drehen, bevor sie ein Wort aussprechen. Marie, Prinzessin von Hessen.“ Das Sprichwort wird seit 1832 im Dictionnaire der Académie française zitiert, dort lautet es: „Il faut tourner sept fois sa langue dans sa bouche avant de parler“. Soll heißen: Man muss gut nachdenken, ehe man spricht.
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noch Geschichte und Physik sowie eine Einführung in die verschiedenen Waffengattungen. Aber auch Klavier, Reiten und Tanzen standen auf dem Stundenplan. Im Alter von zehn Jahren war Alexander bereits Secondelieutenant (Oberleutnant) im Darmstädter Leibregiment, 1839 wurde er zum Hauptmann ernannt, 1840 bereits zum Obersten befördert. Das war auch ein Verdienst seines Erziehers, der später mit dem russischen Wladimir-Orden ausgezeichnet wurde. Hauptmann Frey war ein gewissenhafter, verständiger Mann, aber auch ein Pedant, der für beide Kinder sog. „Grimassen- und Tränenregister“ anlegte. Darin vermerkte er täglich, wie oft sie ein Gesicht geschnitten oder Tränen vergossen hatten. Wenn sich am Ende des Monats herausstellte, dass Alexander häufiger geweint hatte als seine Schwester, hielt der Hauptmann ihm vor, „dass er sein Geschlecht beschäme […]“.9 Das große Hobby des Jungen war die Numismatik, in der er es weit bringen sollte. Alexander von Hessen wurde ein bedeutender Numismatiker und publizierte über seine umfangreiche Sammlung mehrere Arbeiten.* Bevor er 1840 mit seiner Schwester nach Russland ging, übergab er einen Teil davon dem Landesmuseum in Darmstadt. Über Maries Hobbys ist nichts bekannt, vermutlich war sie eine Leseratte. Die Kindheit der beiden war angesichts der getrennt lebenden Eltern wohl nicht ganz wolkenlos, auch wenn Ludwig und Wilhelmine bemüht waren, die Form zu wahren, und einander freundlich und respektvoll begegneten. Sie gingen einander jedenfalls nicht aus dem Weg. In Darmstadt waren Marie und Alexander allerdings nicht so gern gesehen, die Hofgesellschaft hat die beiden wohl spüren lassen, dass etwas mit ihnen nicht stimmte. Wussten Marie und Alexander als Kinder, dass nicht der Großherzog, sondern der Baron ihr Vater war? Wir wissen es nicht. Ihnen wird aber schon aufge fallen sein, dass der Stallmeister immer in der Nähe war und sich liebevoll um sie und um die Mutter kümmerte, während der Groß* Dazu zählt Das Heiligenberger Münzkabinett (Graz und Darmstadt 1854–1856), die erste Beschreibung seiner 40 000 Stücke umfassenden Sammlung in drei Bänden, die den Prinzen als Experten berühmt machte. Von seinem Werk Hessisches Münzcabinet des Prinzen Alexander von Hessen (Darmstadt 1877), ist 1974, ebenfalls in Darmstadt, ein Nachdruck erschienen.
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herzog nur selten aus Darmstadt herüber kam. Wir können nur annehmen, dass sie später von ihrer wahren Herkunft erfuhren, aber nicht unbedingt darüber sprachen und auch ihre Kinder nicht informierten. Jedenfalls fällt auf, dass sich in den Memoiren der Fürstin Marie zu Erbach-Schönberg, Alexanders Tochter, nicht der geringste Hinweis darauf findet, dass sie wusste, wer „der alte Baron“ war, der „in idyllischer Zurückgezogenheit“ am Heiligenberg lebte, nämlich ihr Großvater. An den europäischen Höfen war das Thema auch nach Maries Hochzeit noch nicht erledigt, man tratschte und klatschte weiter. Selbst Otto von Bismarck, der im Juli 1853 als preußischer Gesandter beim Bundestag in Frankfurt dort einmal die Ankunft der Großfürstin Maria Nikolajewna und die Begrüßung durch Alexander von Hessen beobachtete, konnte sich in einem Brief an einen Bekannten die Bemerkung nicht verkneifen, der Prinz sehe „dem alten Herrn von Grancy auf eine ganz unschickliche Art ähnlich“.10 Und noch dreißig Jahre später war das Thema nicht erschöpft, wie wir aus den Erinnerungen Bernhard von Bülows wissen. „In der russischen Kaiserfamilie war die Abstammung der späteren Kaiserin Maria Alexandrowna und des Prinzen Alexander von Hessen von dem schönen Oberststallmeister wohlbekannt“, schreibt der spätere Reichskanzler. „Als ich, damals Botschaftsrat in St. Petersburg, 1885 oder 1886, einmal mit dem Großfürsten und der Großfürstin Wladimir von Zarskoje Selo nach Petersburg fuhr und der Großfürst, der wie gewöhnlich zu spät zu Bett gegangen war, unterwegs einschlief, machte mich seine Frau Großfürstin Maria Pawlowna [geb. Marie zu Mecklenburg-Schwerin, M.B.] auf sein gut geschnittenes Antlitz und seine Gesichtszüge aufmerksam, die fast etwas Klassisches hätten. Man sehe, meinte sie, dass ihr Mann nicht der Enkel des berühmt hässlichen Ludwig II. von Darmstadt sei, sondern des ‚schönen‘ Grancy. Übrigens seien die Grancy eine gute Familie. Die Familie Senarclens von Grancy ist in der Tat eine sehr gute Familie. Sie stammt aus dem Waadtland, wo, nicht weit von Lausanne, ihr Stammschloss steht.“11 Der allgemeinen Schweiz-Begeisterung ihrer Zeit folgend war Wilhelmine von 1814 bis 1834 insgesamt sechsmal in die Schweiz gereist
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und hatte auch die Familie des Geliebten kennengelernt, ihren Stammsitz besucht und ihr seine Kinder vorgestellt.12 Im April 1830 trat Erbgroßherzog Ludwig, der zurückgezogen und öffentlichkeitsscheu in Darmstadt gelebt und wenig Anteil an den Regierungsgeschäften gehabt hatte, die Nachfolge seines Vaters an. Wie sich bald zeigen sollte, war Ludwig II. weniger liberal gesonnen als Ludewig I. Großherzogin Wilhelmine starb im Januar 1836 im Alten Palais in Darmstadt an einem Lungenleiden, möglicherweise an Tuberkulose, deren Anlage sie Marie vererbte. Sie wurde im Alten Mausoleum auf der Mathildenhöhe neben ihrer Tochter Elisabeth beigesetzt. Noch im gleichen Jahr heiratete Senarclens de Grancy eine bayerische Gräfin, mit der er weitere sechs Kinder bekam. Louise von OttingFünfstetten war Hofdame der Großherzogin gewesen und noch zu deren Lebzeiten der Prinzessin Marie beigeordnet worden. Grancy blieb auch nach Wilhelmines Tod im Dienst des Groß herzogs, zunächst als Generalmajor à la suite, ab 1842 als Oberstall meister. Mit Wilhelmines Tod wurde die Hofhaltung auf dem Heiligenberg aufgegeben, und Alexander und Marie, die den Heiligenberg gemeinsam geerbt hatten, kamen nach Darmstadt, wo sie sich wahrscheinlich fremd fühlten und sich mehr oder weniger selbst überlassen blieben. Möglicherweise wurde ihnen hier zu verstehen gegeben, dass sie nicht „richtig“ dazu gehörten. Man kann sich leicht vorstellen, dass die beiden sich nun noch enger zusammenschlossen und sehnsüchtig auf die Sommermonate auf dem Heiligenberg warteten. Maries Erziehung lag jetzt ganz in den Händen ihrer Gouvernante Marianne de Grancy, die den Vorgaben der Großherzogin genauestens folgte. Sie war eine Schwester des Stallmeisters, also Maries Tante, und ersetzte ihr fortan die Mutter.13 Das Verhältnis der beiden war so innig, dass „Mlle Grancy“ später mit Marie nach Russland ging, wo sie zur Hofdame der Großfürstin und späteren Kaiserin ernannt wurde und noch viele Jahre ihre Vertraute blieb. Das Wenige, das wir über Marianne de Grancy wissen, stammt denn auch aus russischen Quellen. Wassilij A. Schukowskij, der Dichter und spätere Russisch-Lehrer der Prinzessin, lernte „Mlle Grancy“ schon im April 1840 in Darm-
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stadt kennen und sah „nur Güte des Charakters und wenig Verstand“ in ihr.14 Anna F. Tjuttschewa, die sie 1853 bei Hofe kennenlernte und für eine Elsässerin hielt, schildert sie in ihren „Erinnerungen“ als hochgewachsene, hagere Frau, die „wie aus einem Stück“ wirkte. Sie hatte grobe, regelmäßige Züge, hellblaue Augen, einen offenen, treuherzigen Blick und vollkommen weiße Haare, die „dieses noch sehr junge Gesicht in silbernen Locken umrahmen und einen seltenen Kontrast zu ihm bilden. Tatsächlich ist sie noch nicht einmal 40 Jahre alt. Sie erzählte mir, dass ihre Haare während einer Krankheit der Prinzessin von Darmstadt […] binnen weniger Tage weiß geworden sind, als diese 12 Jahre alt war. Sie hatte eine Lungenentzündung, und ihr Leben hing an einem seidenen Faden. Mir scheint, dass Mlle Grancy die Großfürstin ganz einfach liebt, ohne jeden Hintergedanken. Sie hat sie von frühester Kindheit an erzogen, und sie selbst war erst 18 Jahre alt, als ihr die Großherzogin von Darmstadt ihre Tochter anvertraute. Das Mädchen war ungefähr sieben [Marie war elf, M.B.] Jahre alt, als ihre Mutter starb, und nur Mlle Grancy blieb bei ihr … Wenn Mlle Grancy auch nicht die Qualitäten hatte, die für eine allseitige Entwicklung der Fähigkeiten ihrer Schülerin nötig gewesen wären, so hat sie sie wenigstens mit einer gesunden und reinen sittlichen Atmosphäre umgeben, in die keine Nebeneinflüsse eindrangen, die sich schlecht auf die von der Natur so reich beschenkte Prinzessin hätten auswirken können. Dieses Feingefühl und die Originalität, die in der Zesarewna sind und die ihr den Anschein großen Edelmuts verleihen, hängen zweifellos in beträchtlichem Maß von jener poetischen Umgebung ab, in der sie ihre Kindheit und ihre Jugend verbrachte. Als die Prinzessin mit 16 Jahren die Braut des russischen Thronerben wurde, brachte Mlle Grancy sie nach Petersburg und blieb bis zur Hochzeit bei ihr. Jetzt erhält sie eine Rente von 3000 Rubel vom russischen Hof und besucht von Zeit zu Zeit die Großfürstin, die sich ihr wie einem Mitglied ihrer Familie gegenüber verhält.“15 Das Milieu, in dem Marie und Alexander aufwuchsen, war provinziell und eng, aber es war anheimelnd und überschaubar. Die Tatsache, dass Marie Zeit ihres Lebens an ihrem „lieben Heiligen Berg“ hing und auch als Kaiserin gern dorthin zurückkehrte, spricht dafür,
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dass sie sich hier geborgen fühlte. Auch Ludwig und Karl, den beiden sehr viel älteren Brüdern, blieb sie zeitlebens verbunden. Am 25. März 1839 wurde dem Großherzog überraschend die Ankunft des Großfürsten-Thronfolgers Alexander Nikolajewitsch von Russland und seiner Suite in Darmstadt gemeldet. Derart hoch gestellte Gäste hatten sich in der kleinen Residenz mit ihren rund 25 000 Einwohnern noch nie sehen lassen, und die Prinzessin war vermutlich genauso überrascht wie ihr Vater. Was will der denn hier?, mag sie sich gefragt haben. Gleichviel, während sie sich fürs Theater ankleidete, begaben sich der Vater, Onkel Emil und die Brüder vom Alten Palais am Luisenplatz in das nahegelegene Hotel Traube, wo die Russen abgestiegen waren, um sie ins Großherzogliche Hoftheater einzuladen. Die „Traube“, natürlich das erste Haus am Platz, in dem der Hof Gäste unterbrachte, die nicht im Schloss logierten, hatte ein Vierteljahrhundert zuvor Aufsehen erregt, weil 1814 auf dem Dachboden die verschollenen Bauzeichnungen des Kölner Doms gefunden worden waren, der seit mehr als 600 Jahren in Bau und immer noch erst halbfertig war. Der Fund erleichterte den Weiterbau, der 1823 fortgesetzt und 1880 vollendet wurde. Was Marie von all dem wusste, lässt sich nicht mehr feststellen. Ausgerechnet an jenem Märztag, an dem die russischen Herrschaften in Darmstadt ankamen, war sie tüchtig erkältet, und ein starker Husten machte ihr zu schaffen. Ein Erbe ihrer Mutter?16 Für alle Fälle hatte sie vorsorglich einen Schal umgebunden. Die Familie erwartete den Großfürsten-Thronfolger im Vorraum der großherzoglichen Loge im Hoftheater, wo die berühmte Vestalin von Gaspare Spontini, eine lyrische Tragödie in drei Akten, auf dem Programm stand. Wie immer hielt sich Marie im Hintergrund. Und dann kamen sie, die Russen. Der Großfürst war ein hochgewachsener, stattlicher junger Mann mit großen blauen Augen in kleidsamer Husarenuniform, jeder Zoll ein Gardeoffizier. Auf den ersten Blick war ihm anzusehen, dass er aus einer ganz anderen Welt kam. Ein Märchenprinz! Er muss einen umwerfenden Eindruck auf die aparte Vierzehnjährige gemacht haben, die sich vermutlich einen gewaltigen Ruck gegeben hat, um ihre Schüchternheit zu überwinden und einen Hofknicks zu machen. „Schon das erste Wort, das sie
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zu ihm sprach, ließ ihn aufhorchen; sie war keine Puppe wie die anderen, zierte sich nicht und wollte nicht gefallen“, schreibt Olga Nikolajewna.17 Alexander sprach ein gutes, wenn auch etwas hartes Deutsch. Das wunderte Marie nicht, denn sie wusste, dass seine Mutter eine gebürtige Preußin war, mit der sie sogar entfernt verwandt war. Ja, die Kaiserin von Russland und sie hatten in Landgraf Ludwig VIII. von Hessen-Darmstadt, dem „Jagdlandgrafen“, der seine Kutsche von weißen Hirschen ziehen ließ, einen gemeinsamen Ururgroßvater! Natürlich wusste Marie auch, dass Königin Luise, die Mutter der Kaiserin, einen Großteil ihrer Kindheit (1785–1793) zusammen mit ihren beiden Schwestern bei der Großmutter mütterlicherseits, der warmherzigen, klugen „Prinzessin George“ im später sog. „Mecklenburgischen Palais“ in Darmstadt (heute: Kaufhaus Henschel am Markt) verbracht und besser Hessisch „gebabbelt“ als Französisch parliert hatte. Auch Alexander Nikolajewitsch muss bewusst gewesen sein, dass seine preußische Großmutter am Darmstädter Hof erzogen worden war und dass sie hier jene häusliche Geborgenheit erfahren hatte, die ihre Tochter Charlotte, seine Mutter, ihm und seinen Geschwistern weitergegeben hat. Und natürlich wird Alexander Nikolajewitsch auch gewusst haben, dass sich seine Großmutter im April 1793 in Darmstadt offiziell mit dem preußischen Kronprinzen Friedrich-Wilhelm verlobt hatte. Schließlich war Maries Bruder Karl seit 1836 mit Elisabeth von Preußen, einer Kusine der Kaiserin, verheiratet. Es gab also vielfältige und langjährige Verbindungen zwischen dem Haus Hessen, den Romanows und den Hohenzollern, so dass Marie von Hessen und bei Rhein und Alexander von Russland sich schon aus diesem Grund füreinander interessiert haben könnten. Was Marie zu diesem Zeitpunkt sonst noch über Russland wusste, lässt sich nicht mehr ermitteln. Ihre Mutter dürfte ihr von ihrer Schwester Luise, der Kaiserin Elisabeth, und ihrem treulosen Gatten Alexander erzählt haben, und auch von ihrer 1823 verstorbenen älteren Schwester Amalie Christiane, die Elisabeth in St. Petersburg besucht und sogar mehrere Jahre am russischen Hofe gelebt hatte. Vermutlich wusste Marie auch von dem umfangreichen Briefwech-
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sel, den ihre kluge Großmutter Amalie von Baden mit Elisabeth geführt hatte, so dass Amalie so manches über den Petersburger Hof erfuhr, was nie öffentlich wurde. Ob Amalie, die 1832 starb, ihrer Enkelin davon und von ihrer eigenen Russlandreise 1774 erzählt hat, wissen wir nicht. Fest steht aber, dass sich Marie Zeit ihres Lebens für Kaiserin Elisabeth, ihre unglückliche Tante, interessiert und alles gesammelt hat, was sie über sie finden konnte. Ebenso wenig wissen wir, ob Ludewig I. seiner Enkelin von seinem Russland-Abenteuer erzählt hat. Was immer die Fünfzehnjährige über Russland wusste, ihre Vorstellungen können nur vage gewesen sein und dürften noch am ehesten auf den Erzählungen in der Familie beruht haben. Wie eine russische Zeitzeugin kurz nach Maries Ankunft in St. Petersburg beklagt, hatten nicht nur die Prinzessin, sondern „viele in Darmstadt eine ziemlich wirre und falsche Vorstellung“ von Russland und St. Petersburg, „sie hatten Angst vor unserem Winter, und überhaupt hielten sie uns beinahe für Wilde“.18
2 „Sascha“ Kindheit und Jugend in St. Petersburg Eltern und Geschwister – Erziehung – Heulsuse Sascha – Wassilij A. Schukowskij – Hauptmann Merder – Olga Kalinowska – RusslandReise – Europa-Reise – Brautschau – Begegnung in Darmstadt – London – Queen Victoria – Widerstand der Kaiserin – Verlobung in Darmstadt1818–1839
Anders als Marie war Alexander in einer intakten Familie aufgewachsen. Die Heirat seiner Eltern im Juli 1817 war eine Liebesheirat gewesen, und als Alexander am 29. April 1818 im Moskauer Kreml geboren wurde, war ihr Glück vollkommen. Nikolaus I. vergötterte seine Frau Alexandra, die eine der schönsten Frauen ihrer Zeit war. Auch nach zwanzig Ehejahren trug der Kaiser seine Frau, die er zärtlich „Muffi“ nannte, immer noch auf Händen und las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Sie hatte nach Alexander noch die Töchter Maria (1819), Olga (1822) und Alexandra (1825) sowie die Söhne Konstantin (1827), Nikolaus (1831) und Michael (1832) zur Welt gebracht, aber auch mehrere Fehlgeburten erlitten. Und so war sie schnell gealtert, kränkelte viel und war ständig in ärztlicher Behandlung. Obwohl sie in St. Petersburg heimisch geworden war, hatte sie Zeit ihres Lebens Heimweh nach Berlin. Alexander Nikolajewitsch, der in der Familie Sascha gerufen wurde, war nach seiner Mutter geraten. Er hing sehr an ihr, und da sie engste Beziehungen zu ihren Verwandten unterhielt, entwickelte auch Alexander eine Vorliebe für Preußen. Ganz besonders hing er an seinem Onkel Wilhelm, dem späteren ersten deutschen Kaiser, der als junger Mann ein gern gesehener Gast in St. Petersburg war. Seinerseits reiste Nikolaus I. gern nach Berlin, ging ohne Begleitung in der Stadt spazieren und unterhielt sich mit den Berlinern. Seit 1836 war er Ehrenbür-
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ger der preußischen Hauptstadt, und Friedrich Wilhelm III., seinen Schwiegervater, liebte er wie einen Vater. Der König hatte seinem ersten russischen Enkel schon 1829 das in Fürstenwalde stationierte Dritte Preußische Ulanen-Regiment verliehen, das nach ihm benannt wurde und dessen Uniform Alexander anzulegen pflegte, wenn er nach Berlin kam. Der Großfürst-Thronfolger hatte eine vielseitige Erziehung unter Leitung des bedeutenden romantischen Dichters Wassilij A. Schukows kij erhalten, der auch als Übersetzer aus dem Deutschen und Eng lischen bekannt geworden war und aus Sascha vor allem einen guten Menschen machen wollte. Schukowskij suchte die Fachlehrer aus und führte die Oberaufsicht. Er fand Sascha wissbegierig, aber auch träge. Zu seinem Leidwesen konnte er ihn für Literatur und Kunst nicht so begeistern, wie er es sich vorgenommen hatte. Wie bei den Romanows üblich, wurde der Thronfolger vor allem zum Soldaten erzogen, und wie alle Romanows liebte auch Alexander das Militär über alles. Für die militärische Erziehung war Hauptmann Karl K. Merder zuständig, ein Petersburger Deutscher, den der kleine Sascha nicht weniger liebte als Schukowskij. Er war ein sensibler Junge, weich, sentimental und träumerisch, ein Junge, der viel weinte, vor allem wenn seine Mutter wieder einmal verreiste. Russische Historiker nennen ihn denn auch einen „plaksa“, was so viel wie „Heulsuse“ bedeutet. Aber auch Nikolaus konnte öffentlich Tränen vergießen. Überhaupt waren Tränen in jener Zeit keine Schande, man weinte viel in der Romantik, und man weinte auch aus geringem Anlass. Sascha war gutmütig und bescheiden, galt aber auch als willensschwach und wankelmütig. Ein Mann schneller Entschlüsse war er jedenfalls nicht, und manchmal schlug das Erbe seines Großvaters durch. Wie Paul I., der im März 1801 einem Mordanschlag adliger Offiziere zum Opfer gefallen war, brauste er leicht auf und verlor schnell die Selbstbeherrschung. Viele meinten, sein jüngerer Bruder Konstantin wäre der geeignetere Thronfolger gewesen, und Konstantin Nikolajewitsch selbst fand das wohl auch. Eine Rivalität zwischen den beiden, die besonders von Alexander empfunden wurde, blieb ihr Leben lang bestehen. Doch Konstantin, der schon als Kind von seinem Vater zum General-Admiral der russischen Flotte ernannt
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worden war, wurde ein loyaler Mitarbeiter seines Bruders und sollte sich um die Reformen der 1860er Jahre verdient machen. Kurzum, Alexander Nikolajewitsch, der Großfürst-Thronfolger, der im März 1838 so überraschend in Darmstadt auftauchte, war nicht nur ein außerordentlich gut aussehender junger Mann mit ausgezeichneten Manieren, sondern auch ein gebildeter Mann, der außer Deutsch fließend Französisch, Englisch und Polnisch sprach und sich in den Staatswissenschaften auskannte. Seit 1838 zog sein Vater ihn zu den Regierungsgeschäften hinzu. Er war der erste (und einzige) Romanow, der einigermaßen auf sein schweres Amt vorbereitet wurde. Zum Herrschen erzogen, aber unsicher, zögerlich und leicht zu beeinflussen, schien Alexander das Gegenteil seines Vaters zu sein. Seit frühester Jugend hatte er sich in Hofdamen seiner Mutter verliebt und schnell den Ruf eines Don Juan erworben. Eigentlich war er ständig verliebt oder „entliebt“, und das sah man ihm jeweils an. Um 1837 verliebte er sich so ernsthaft in Olga Kalinowska, eine polnische Hofdame seiner Mutter, die seine Liebe erwiderte, dass die besorgten Eltern ihn auf eine große Russland-Reise schickten. Eine katholische Polin an der Seite des Thronfolgers war natürlich unvorstellbar! So kam es, dass Alexander Nikolajewitsch einer der wenigen Romanows war, die ihre Petersburger Paläste verließen und ihr Land wenigstens oberflächlich kennenlernten. Er war auch der erste Romanow, der seinen Fuß auf sibirischen Boden setzte. Der Russland-Reise sollte eine Europa-Reise folgen, die jedoch nicht nur als Abschluss seiner Ausbildung gedacht war, sondern auch der Brautschau an den kleinen deutschen Höfen dienen sollte. Außerdem hatten die Ärzte Alexander geraten, sich in Ems einer Kur zu unterziehen, da er seit der Russlandreise an Brustschmerzen und Hustenanfällen litt, die auf eine Bronchitis hindeuteten. Die Reise war auf ein Jahr angelegt und sollte in Preußen beginnen. Von Berlin aus sollte Sascha mit Ausnahme Frankreichs und der Länder der Iberischen Halbinsel alle westeuropäischen Länder besuchen, in England sogar mehrere Monate verbringen, um dort wie einst sein Vater die politischen Institutionen zu studieren. Die Reiseroute war im Detail von Nikolaus I. festgelegt worden und musste befolgt werden. Begleitet wurde der Thronfolger wieder – wie schon auf der RusslandReise – von seinem Erzieher und Mentor, dem Dichter und Deutsch-
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land-Kenner Wassilij A. Schukowskij, der schon seiner Großmutter Maria Fjodorowna als Vorleser und seiner Mutter als Russischlehrer gedient hatte. Er war der kaiserlichen Familie, besonders aber der Kaiserin, seit mehr als zwanzig Jahren aufs Engste verbunden, ohne Höfling geworden zu sein. Den Verlauf der Reise hat Schukowskij in seinem Tagebuch dokumentiert, so dass wir noch heute nachvollziehen können, wo die illustren Reisenden Halt gemacht, wen sie getroffen und was sie besichtigt haben. In den ersten Junitagen des Jahres 1838 verließen die Russen die preußische Hauptstadt, nachdem Sascha zusammen mit dem König auch das Grab seiner Großmutter Luise in Charlottenburg besucht hatte, und gingen in Stettin an Bord der „Herkules“, die sie unter der Flagge des Thronfolgers nach Stockholm brachte. Zwei Wochen später ging es über Kopenhagen zurück nach Deutschland und von Travemünde über Lüneburg, Hannover, Kassel und Frankfurt zum ersten Mal nach Ems (Ankunft 7. August), wo Sascha seine Bronchitis vier Wochen lang behandeln ließ, während Schukowskij an seinem Bett saß. Eigentlich sollte er schon von Ems aus nach England reisen, aber die Ärzte verlangten, dass er den Winter im wärmeren Klima Italiens verbrachte.1 Nikolaus I. stimmte widerwillig zu, und so ging die Reise Anfang September über Weimar, Nürnberg, Regensburg, München, Innsbruck und Bozen nach Oberitalien. Von Rom waren alle entzückt, und da mag Alexander an den Aufenthalt seiner Großeltern väterlicherseits in der Ewigen Stadt vor fast sechzig Jahren gedacht haben und an die beiden Porträts in Pawlowsk, die Paul I. und seine Frau Maria Fjodorowna als glückliche junge Leute zeigen.2 Er fühlte sich nun wieder vollkommen gesund und reiste weiter nach Neapel, während Schukowskij sich ausruhen musste. Anfang 1839 machte sich die Gruppe auf den Rückweg und reiste über Wien, wo man fast zwei Wochen verbrachte, nach München und Stuttgart. Schon von Stuttgart aus wäre Alexander am liebsten direkt weiter in die Niederlande zu seiner Tante Anna Pawlowna, der Erbprinzessin, und dann weiter nach London gereist. Doch in Karlsruhe musste ein zweitägiger Halt eingelegt werden, weil die Prinzessin Alexan drine von Baden als Braut in Frage kam und begutachtet werden musste. Aber sie gefiel ihm nicht. „Sie saß an der Tafel neben ihm“,
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schreibt Olga Nikolajewna, „man gab ihm Gelegenheit, sie lange und ungestört zu sprechen. Was aber sprach sie? Über Goethe und Schiller, bis Sascha entmutigt das Gespräch aufgab. Es gab eine gegenseitige Enttäuschung, und Sascha reiste ab.“3 Alle waren erschöpft, wie aus einem Brief Schukowskijs an die Kaiserin hervorgeht: „Unsere Reise verläuft im allgemeinen ganz gut“, schreibt er ihr am Tag vor der Abreise aus Karlsruhe. „Das heißt, dass die Gesundheit des Großfürsten ständig gut ist, dass die Straßen ungeachtet der Jahreszeit leidlich sind und uns erlauben, die Reiseroute streng einzuhalten, so dass die Equipagen nicht brechen und dass die darin Sitzenden heil und ganz sind. Aber über die Hauptsache, also über die Reise, gibt’s nichts zu erzählen; wir reisen nicht, sondern galoppieren, weil in dieser Jahreszeit nichts anderes zu tun ist; wir halten nur an, um zu übernachten, auf nichts anderes schauen wir, weil wir auf nichts anderes schauen möchten: vor Kälte oder vor Schnee und Regen; außerdem bleiben in den Städten nur wenige Stunden, um sie zu besichtigen, stattdessen werden wir erstickt von Vorstellungen und Bällen, mit einem Wort, von all dem, was man auch in Petersburg hätte sehen können, ohne die Stadt zu verlassen; die Besichtigungen enden so schnell, dass sie weder Befriedigung noch Nutzen bringen; wir haben keine Zeit, uns zu besinnen und uns ein wenig frei zu fühlen. Wir haben den Frühling hinter den Alpen gelassen und galoppieren vor ihm besinnungslos davon nach Norden. Er wird uns bis Den Haag nicht einholen, und dort werden wir ihn in den niederländischen Nebeln ertränken. Gebe Gott, dass er sich nicht mit Fieber rächt […] Morgen um 8 Uhr fahren wir aus Karlsruhe ab, und in einer Woche werden wir im Haag sein.“4 Aus dem Brief geht hervor, dass Schukowskij am 24. März noch nichts von einem Abstecher nach Darmstadt wusste. Die Entscheidung, doch einen kurzen Halt in der Stadt ein zulegen, ist also kurzfristig gefallen, entweder noch in Karlsruhe, ohne dass Schukowskij sofort davon erfuhr, oder im Laufe des 25. März. Sicher ist aber, dass Alexander Darmstadt gern gemieden hätte, weil er einen langweiligen „Etikettenabend“ beim Großherzog fürchtete. Doch seine Begleiter überzeugten ihn davon, dass das eine Kränkung für Ludwig II. gewesen wäre. Außerdem war vom Frankfurter Botschaftsrat Iwan I. Markelow, der Darmstadt gut kannte, überraschend
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der Hinweis gekommen, „dass sich an diesem Hof eine junge Prinzessin befinde, die es in jeder Hinsicht wert sei, die Aufmerksamkeit des erlauchten Reisenden auf sich zu lenken“.5 Daraufhin willigte Alexander doch in einen Kurzbesuch ein, lehnte einen offiziellen Empfang im Schloss jedoch ab und wollte dort auch nicht übernachten. Also fuhr Geheimrat Markelow voraus, um ein Privatquartier zu suchen, und reservierte für eine Nacht das Hotel Traube am Luisenplatz, wo die Reisegesellschaft am 25. März gegen 18 Uhr eintraf. Bereits Minuten später erschienen Ludwig II., sein Bruder Emil und seine Söhne Ludwig und Karl dort, um den Großfürsten-Thronfolger zu begrüßen und ihn in die Oper einzuladen. Alexander konnte die Einladung nicht ablehnen und begab sich mit ein paar Angehörigen seiner Suite ins Hoftheater, während Schukowskij es vorzog, früh zu Bett zu gehen. Tags darauf raufte er sich nach eigener Aussage die Haare, weil er den wichtigsten Augenblick der ganzen Reise, nämlich die erste Begegnung Alexanders und Maries in der Großherzoglichen Loge, verpasst hatte. Die schüchterne kleine Prinzessin hatte seinen Zögling durch ihre bescheidene Zurückhaltung vom ersten Augenblick an für sich eingenommen. Nach der Oper fand im Schloss ein opulentes Essen „mit Musik“ statt. „Man sprach viel, man lachte viel, und nach dem Essen ging man einige innere Gemächer des Schlosses besichtigen, in denen, wie es hieß, hin und wieder ein Gespenst in Gestalt einer weißen Dame erschien“, notiert Geheimrat Markelow, der dabei war.6 Der Großfürst und seine Begleiter kehrten spät ins Hotel zurück, und statt am nächsten Morgen abzureisen, wohnte Alexander einer Parade bei und frühstückte beim Erbprinzen. Er hatte sich entschieden. „Mir scheint, dass Gott das Seine getan hat, und alle Seelen beten für das künftige Glück unseres Engels“, schreibt Schukowskij am Abend an die Kaiserin. „Das Ziel unserer Reise ist erreicht, und vor mir lächelt alles. Ich nehme dieses klare Gefühl der Seele als Vorgefühl, als Versicherung, dass das geschehen ist, was geschehen musste.“7 Das Herz des Dichters war übervoll, er liebte seinen kaiserlichen Zögling. Im Überschwang seiner Gefühle war er sogar bereit, eine ernste Erkrankung vorzutäuschen, um Alexander zu ermöglichen, sozusagen ihm, seinem Erzieher, zuliebe, weitere drei Tage in Darmstadt zu
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bleiben. Aber das lehnte der „Engel“ ab, er wollte erst einmal das Einverständnis seiner Eltern einholen, bevor er seinen Gefühlen folgte. Also schickte er Geheimrat Markelow noch am Abend mit einem Brief an den Kaiser nach St. Petersburg, den er dem Herrscher persönlich aushändigen sollte. Außerdem sollte er ihm bei der Gelegenheit alles mitteilen, „was ihm persönlich über die Prinzessin Marie bekannt sei“. Damit waren mit Sicherheit die Gerüchte über Maries Herkunft gemeint, die allgemein bekannt waren und dem Kaiser sicher auch von anderer Seite zugetragen wurden. Markelow brauchte neun Tage und traf an Mariä Verkündigung 1839 in der russischen Hauptstadt ein. „Der heutige Tag ist vielleicht entscheidend für mein Leben. In Darmstadt habe ich Prinzessin Marie, die Tochter des regierenden Großherzogs, kennengelernt“, teilt Alexander dem Vater mit. „Sie wird am 27. Juli (8. August n.St.) 15 Jahre alt. Schlank, gewandt und lieb, unter allen Prinzessinnen habe ich keine bessere gesehen. Dabei hat sie, sagt man, einen guten Charakter, sie ist klug und gut erzogen. Zwei Jahre kann man warten.“8 Nikolaus freute sich über die gute Nachricht, sah in der Tatsache, dass sie ihm an Mariä Verkündigung überbracht worden war, ein gutes Zeichen und fragte Markelow nach Alter, Gestalt, Erziehung und Charakter der Prinzessin. Gegen einen neuerlichen Halt und längeren Aufenthalt seines Sohnes in Darmstadt hatte er nichts einzuwenden und gab sein Einverständnis postwendend. „Wir sind bereit, uns auf Deine Wahl zu verlassen, wenn Ihr Euch auch bei reiflicher Überlegung lieben werdet.“ 9 Auch Graf Orlow, der offizielle Reisebegleiter des Thronfolgers, machte dem Kaiser Meldung. „Wer hätte ahnen können, dass in Darmstadt, das der Großfürst meiden wollte und das auch ich aus Trägheit und der deutschen Prinzen und Prinzessinnen überdrüssig meiden wollte, dass gerade dort eine Prinzessin lebt, die den Großfürsten vom ersten Augenblick an bezaubert hat. Ich hatte nur aus dem Gefühl des Anstands darauf bestanden, dort einen Halt einzulegen. […] Sie hat eine ausgezeichnete Figur und tadellose Manieren; ihr Gesicht ist ziemlich hübsch, anziehend und sehr gescheit; sie ist hervorragend erzogen, redet klug und geistreich. […] Sie hinterließ bei ihm einen starken und tiefen Eindruck, denn er ist seitdem außer sich vor Freude und behauptet fest, dass sie voll und ganz zu ihm passe und der gesam-
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ten Familie gefallen wird. Ich habe ihn nicht im geringsten beeinflusst und lediglich geäußert, dass eine Ehe mit der Nichte der Kaiserin Elisabeth Alexejewna und der Königin von Bayern sowie der Cousine der künftigen Königin von Preußen und vieler anderer Prinzessinnen meiner Meinung nach völlig akzeptabel sei. […] Die junge Prinzessin wird erst im September konfirmiert, und ich habe keinerlei Zweifel, dass ihre Verwandten mit allen Bedingungen einverstanden sein werden, die Ihr für erforderlich haltet. Sie ist hervorragend erzogen, ihre Unterhaltung ist klug und geistreich. Mit einem Wort, alles, was ich über sie erfahren konnte, spricht für sie.“10 Doch es gab ein Problem, das Olga Nikolajewna wie folgt formuliert: „Niemand hatte bisher etwas von dieser Prinzessin gehört, da sie ziemlich abgeschlossen mit ihrem Bruder Alexander aufwuchs, indes die älteren Brüder längst verheiratet waren. Erkundigungen wurden eingezogen.“11 Die Erkundigungen betrafen Maries zweifelhafte Herkunft, über die ganz Europa klatschte. Sie wurden eingeholt, während sich Alexander in den Niederlanden aufhielt. Das Ergebnis warf zunächst einen Schatten auf das freudige Ereignis. Doch Nikolaus I. machte sich nichts aus den Gerüchten. „Steht sie im Gotha?“, fragte er kurz und bündig, wie es seine Art war. Sie stand, also war aus seiner Sicht alles in Ordnung. Davon hätte er sich in der Bibliothek seiner Frau im Cottage in Peterhof, wo Alexandra die Almanache des Gotha der letzten Jahre gesammelt hatte, auch selbst schnell überzeugen können. „Die Zweifel hinsichtlich der Rechtmäßigkeit ihrer Herkunft sind berechtigter, als Du annimmst“, schreibt er dem Grafen Orlow. „Es ist ja bekannt, dass man sie deshalb bei Hofe und in der Familie kaum duldet, aber sie ist offiziell als Tochter ihres Vaters anerkannt und trägt seinen Namen, folglich kann niemand etwas in diesem Sinn gegen sie sagen.“12 Dass Maries Vater ein konstitutioneller Monarch war, scheint den russischen Selbstherrscher nicht gestört zu haben. Hingegen hatte Alexandra Fjodorowna Bedenken, schließlich war sie eine Hohenzollern, eine Tochter des Königs von Preußen! Doch Nikolaus war sehr wohl bewusst, dass die Romanows auch keinen lupenreinen Stammbaum hatten. Schließlich war Katharina I. eine litauisch-lettische Magd, bevor sie die Geliebte, dann die Frau Peters
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des Großen und schließlich Kaiserin wurde. Und natürlich wusste Nikolaus auch, dass Paul I., sein Vater, möglicherweise nicht der Sohn Peters III., sondern der Sohn eines Geliebten seiner Großmutter Katharina II. war, die er verachtete. Überdies waren sie ja auch schon lange keine echten Romanows mehr. Denn seit Peter III., der zwar ein Enkel Peters des Großen war, aber als Herzog Karl Peter Ulrich von SchleswigHolstein-Gottorf geboren wurde und 1762 nur ein paar Monate regierte, bevor seine Frau Katharina ihn entthronte, waren sie eigentlich Holstein-Gottorps, zogen aber den russischen Namen „Romanow“ vor. „Liebe Mama, was gehen mich die Geheimnisse der Prinzessin Marie an“, schreibt Alexander im Mai seiner Mutter. „Ich liebe sie, und ich verzichte eher auf den Thron als auf sie. Ich werde nur sie heiraten, das ist mein Entschluss.“13 Bedenken bestanden offenbar auch hinsichtlich Maries Gesundheit, immerhin war ihre Mutter an einer Lungenkrankheit, möglicherweise an Schwindsucht gestorben, und es gab keine Garantie, dass Marie die Veranlagung dazu nicht geerbt hatte. Letztlich war nicht vergessen, dass die Familie Hessen dem russischen Hof einst die Behinderung Wilhelmines verschwiegen hatte. Alexandra gab nach, und auch sonst verstummte das Gerede über Maries Herkunft bei Hofe umgehend. „Du schreibst, dass, wenn die Sache glatt geht, ich mich erklären kann. Ich zweifle nicht, dass der Vater Marie erlaubt, früher zu uns zu kommen, um sich einzugewöhnen, die Sprache zu lernen und sich darauf vorzubereiten, unseren Glauben anzunehmen“, schreibt Alexander aus Den Haag an den Vater.14 Seinen 21. Geburtstag verbrachte er in Den Haag, wo er wohl miterlebte, dass es um die Ehe seiner Tante Anna Pawlowna, der Erbprinzessin, nicht zum Besten stand. Aber Nikolaus Pawlowitsch war zufrieden, dass sein Sohn nichts übereilen wollte. „Alle Ihre Details über die Freude meines Sohnes, unser Einverständnis für Darmstadt erlangt zu haben, haben mir ein wahres Vergnügen bereitet“, schreibt der Kaiser dem Grafen Orlow. „Er beurteilt die Dinge sehr nüchtern, aber ich sehe in allem, dass er sehr mit der Sache beschäftigt ist, und das freut mich. Ich bestehe aber darauf, dass Sie nach Ihrer Rückkehr nach Rumpenheim gehen, wenn man dort ist. Mein Sohn versteht den Nutzen, denn was er im Haushalt von Den Haag gesehen hat, ist geeignet, ihn vorsichtig zu
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machen […]. Man entscheidet nicht im Flug über das Glück des Lebens, und ich werde sagen: fast eines Reiches. Möge der Himmel machen, dass in London alles gut geht.“ 15 In London, wo die Reisenden am 3. Mai ankamen und im Hotel Mivards abstiegen, ging alles gut, sogar sehr gut. Am Tag nach der Ankunft machte Alexander der Königin Victoria im Buckingham Palace seinen Antrittsbesuch. Der Aufenthalt, angefüllt mit Hofbällen, Opernund Konzertbesuchen, Empfängen, Besichtigungen, Paraden und Ausflügen, dauerte fast einen Monat, und die Engländer waren begeistert von ihrem hohen Gast, der Oxford als Dr. iur. h.c. verließ. Vor allem die jungen Engländerinnen waren hingerissen von dem schönen jungen Mann, und das gefiel seinem Vater im fernen St. Petersburg ganz außerordentlich. „Die Erfolge bei den Frauen machen mir Vergnügen“, lässt Nikolaus den Grafen Orlow wissen. „Sie hätten mir Angst gemacht, wenn die enorme Welt schöner Frauen nicht ein Linderungsmittel wäre und Darmstadt in Aussicht. Beim Warten ist man in Darmstadt ernsthaft an einer Lungenentzündung erkrankt, und man erholt sich noch.“16 Doch während Marie sich erholte, folgte Alexander nicht nur seinem Besuchsprogramm, sondern verliebte sich in die Gastgeberin, diese „kleine Königin, die trotz ihrer Jugend ihren eigenen Willen hat“. Die 19-jährige Victoria, die ihren ersten Vornamen Alexandrina zu Ehren des russischen Kaisers Alexander I. erhalten hatte, war noch ledig, und glaubt man ihren Tagebucheintragungen, beruhte die Zuneigung auf Gegenseitigkeit. Auf einem Ball am 10. Mai tanzte sie gleich zweimal mit ihm. „Sie tanzt sehr nett. Auf ihren Wunsch hin haben wir eine kleine Mazurka hingelegt“, teilt Alexander dem Vater mit. Sie beendeten den Ball mit einer Quadrille. „Ich verließ den Ballsaal um ¼ nach 3 Uhr, in einer sehr zufriedenen und glücklichen Stimmung“, notiert die Königin.17 „Ich bin wirklich ganz verliebt in den Großfürsten, er ist ein lieber, reizender junger Mann“, trägt sie zwei Wochen später in ihr Tagebuch ein.18 Und: „Der Großfürst sprach von seinem schönen Empfang hier und sagte, er würde es nie vergessen. ,Ce ne sont pas seulement des paroles, je vous assure, Madame‘,* sagte er, aber es war der * „Das sind nicht nur Worte, das versichere ich Ihnen, Madame.“
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Ausdruck seines Gefühls, er würde diese Tage hier niemals vergessen. Ich bin sicher, ich werde es auch nicht, denn ich liebe diesen liebenswürdigen, jungen Mann, der ein so reizendes Lächeln hat, wirklich.“19 An eine russisch-englische Ehe auf höchster Ebene war natürlich nicht zu denken, und als die Lage kritisch wurde, weil die beiden sich immer näher kamen, ließ Nikolaus die England-Reise vorzeitig abbrechen. Er kannte seinen Sohn, wusste, wie schnell er sich immer verliebte, und so musste Alexander London früher verlassen als geplant. „Nach dem letzten Walzer, der 20 Min. vor 3 vorüber war, nahm ich mit wirklichem Bedauern von allen Herren des Großfürsten Abschied, da ich sie alle gern habe […]. Der Großfürst nahm meine Hand und drückte sie herzlich; er sah blass aus, und seine Stimme zitterte, als er sagte: ‚Les paroles me manquent pour vous exprimer tout ce que je sens‘;* und er erwähnte, dass er tiefe Dankbarkeit für alle Freundlichkeit fühlte, mit der man ihm begegnet wäre, dass er wiederzukommen hoffte und zuversichtlich erwartete, dass alles dies nur dazu beitragen würde, die Bande der Freundschaft zwischen Russland und England zu festigen. Er drückte mir dann die Hand und küsste sie, und ich küsste ihn auf die Wange, worauf er meine Wange in einer sehr warmen, liebevollen Art und Weise küsste und wir uns wieder herzlich die Hände schüttelten. Ich hatte wirklich eher das Gefühl, von einem Verwandten Abschied zu nehmen als von einem Fremden; ich war so betrübt, diesem netten, liebenswürdigen jungen Manne Lebewohl zu sagen, denn ich glaube wirklich (im Scherz gesprochen), ich war etwas verliebt in ihn und auf jeden Fall ihm sehr zugetan. Er ist so freimütig, so jung und wirklich lustig, hat einen so netten, offenen Ausdruck und ein so liebenswürdiges Lächeln, und seine Figur und ganze Erscheinung ist von so schöner Männlichkeit.“20 Victoria war wirklich traurig, weil sie nun wieder nur von lauter alten Leuten und selten von jungen Menschen ihres Ranges umgeben sein würde, während sich Nikolaus I. in Petersburg immer noch für die „Londoner Schönheiten“ interessierte. Ob sie „Darmstadt nicht geschadet hätten“, will er von seinem Sohn wissen. „Das ist ein guter Test. Ich hoffe, Du hast durchgehal* „Mir fehlen die Worte, um Ihnen all das auszudrücken, was ich fühle.“
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ten“, schreibt er ihm.21 Am 4. Juni 1839 kam Alexander wieder in Ems an. Hier hatte gerade ein französischer Schriftsteller Halt gemacht, der auf dem Weg nach St. Petersburg war. Es war der Marquis de Custine, ein Legitimist, der nach Russland reiste, „um Argumente gegen die repräsentative Regierung zu suchen“, und als „Anhänger der Constitutionen“ zurückkommen sollte. Sein Buch „Russland im Jahre 1839“ wurde ein europäischer Bestseller. Aber soweit war es noch nicht. Einstweilen beobachtete der Marquis die Ankunft des Großfürsten-Thronfolgers „mit zehn oder zwölf Wagen und einem zahlreichen Gefolge“. Er fand den hochgewachsenen jungen Mann „etwas zu dick“, sein Gesicht „zu voll“, sah darin aber auch „eine milde und wohlwollende Gemüthsstimmung“. Der junge Prinz schien „die Güte selbst“, sein Gang und seine Haltung waren „anmuthig, leicht und edel“. Kurzum, er war „wahrhaft ein Prinz“.22 Tags darauf betrachtete der Franzose den Großfürsten noch etwas genauer: „Das Gesicht des Prinzen hat trotz seiner Jugend nicht eben so Gefälliges als sein Wuchs; die Farbe ist nicht mehr frisch; man sieht es ihm an, dass er sich unwohl fühlt; das Augenlid senkt sich über den äußeren Augenwinkel mit einer Melancholie herab, welche bereits die Sorgen eines höheren Alters verräth; sein anmuthiger Mund ist nicht ohne Sanftmuth; sein griechisches Profil erinnert an die antiken Münzen oder an die Porträts der Kaiserin Katharina; aber durch dieses gutmüthige Aussehen hindurch […] bemerkt man hier eine Kraft der Verstellung, die an einem so jungen Manne erschreckt. Dieser Zug ist ohne Zweifel der Stempel des Geschickes; er leitet mich zu dem Glauben, dass der Prinz berufen sei, den Thron zu besteigen. Seine Stimme hat einen melodischen Klang – eine Seltenheit in seiner Familie […]. Er glänzt unter den jungen Leuten seiner Gesellschaft, ohne dass man weiß, worin der Unterschied liegt, den man unter ihnen bemerkt, wenn es nicht die vollendete Anmuth seiner Persönlichkeit ist. Die Anmuth verräth immer eine liebenswürdige Gemüthsstimmung; es liegt ja so viel Seele in dem Gange, so viel Ausdruck in der Gesichtsbildung und der Haltung eines Menschen! Der Großfürst ist zugleich imponirend und gefällig.“ Kurzum, Custine hielt Alexander Nikolajewitsch für „eines der schönsten Musterbilder eines Fürsten“, die er jemals gesehen hatte.23
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Von Ems aus fuhr Alexander noch einmal nach Darmstadt, und da Schukowskij immer noch dabei war, können wir einen Blick in sein Tagebuch werfen und ihm entnehmen, dass er diesmal nicht in der „Traube“ abstieg, sondern im Schloss. „28. Mai (9. Juni). […] Ball in der Orangerie. Die Erbprinzessin, Prinzessin Elisabeth und Prinz Emil. Wittgenstein. Prinzessin Marie. Gewandtheit und Würde […]“, notiert der Dichter.24 Seinem Vater schreibt Sascha: „Da bin ich also in Darmstadt. Ich bin direkt in den Palast des Großherzogs gefahren. Zusammen begaben wir uns zur Prinzessin. Maria hat gerade erst angefangen, sich von der Krankheit zu erholen. In diesen zwei Monaten ist sie gewachsen und hat abgenommen […]. Mir hat sie genauso gut wie beim ersten Mal, wenn nicht besser gefallen.“25 Dem Grafen Orlow vertraut er nun an, dass sie diejenige sei, um deren Hand er den Kaiser bitten wolle.26 Nikolaus und Alexandra waren hochzufrieden. Noch in Ems hatte Orlow einen weiteren Brief des Kaisers erhalten, aus dem hervorgeht, dass seine Berliner Verwandten die Heiratspläne Alexanders mit der Hessin nicht billigten. „[…] möge Gott meinen Sohn inspirieren und ihm die nötige Klarsicht gewähren, damit er sich erst dann entscheidet, wenn er die Gewissheit hat, sein zukünftiges Glück und das Glück des Reiches zu sichern. Derweil hört die infame Spielhölle in Berlin mit meinem Schwager Carl [Carl von Preußen, M.B.] an der Spitze nicht auf, die arme Marie zu diffamieren, en criant au scandale d’un marriage avec elle et à la mésalliance.* Das ist bedauernswert, und Sie verstehen vollkommen, dass wir dieses Geschwätz verachten, aber Sascha wird schlechte Augenblicke in Berlin haben, während er mit der größten Ruhe antworten, aber auch beweisen muss, dass niemand außer uns das Recht hat, seine Wahl zu billigen oder abzulehnen und noch weniger zu wagen, sich da einzumischen.“27 Wie immer die Preußen sich in der Heiratsangelegenheit verhalten haben, während der Woche, die Alexander noch in Darmstadt verbrachte, lernten er und Marie sich ein bisschen besser kennen, und Victoria war schnell wieder vergessen. Schließlich erklärte Alexander sich dem Großherzog und bat ihn, mit seiner Tochter zu sprechen. „Er hat sie gefragt: wenn ich mit der Zeit um ihre Hand * indem sie wegen der Heirat mit ihr „Skandal“ und „Mesalliance“ schreien
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bitte, wird sie einverstanden sein?“, teilt er seinem Vater mit. „Sie ist in Tränen ausgebrochen und hat ihr Einverständnis gegeben. Wegzufahren, ohne mich erklärt zu haben, wäre unmöglich gewesen. Ich fühle die ganze Bedeutung der moralischen Verpflichtung, die ich eingegangen bin.“28 Von einem Verlobungs- oder Hochzeitstermin war noch keine Rede, da Marie immer noch zu jung war. Aber eines Tages vertraute Sascha dem Grafen Orlow an, am liebsten würde er gar nicht herrschen, sondern es vorziehen, mit seiner Frau das höchste Glück auf Erden zu genießen, nämlich das Glück der Elternschaft. Einen ähnlichen Wunsch hatte auch Alexander I., sein berühmter Onkel, der „Befreier Europas“, einst seinem Erzieher anvertraut. Er hätte sich am liebsten mit Elisabeth am Rhein niedergelassen. Schukowskij verließ Darmstadt am 16. Juni 1839, verbrachte noch ein paar Tage in Frankfurt und kehrte nach Russland zurück. Am Freitag, dem 5. Juli, kam er in Peterhof an und wurde von der kaiserlichen Familie herzlich begrüßt. Inzwischen hatte sich auch Alexander auf den Heimweg gemacht, noch einmal seinen Großvater Friedrich Wilhelm III. in Berlin besucht und sich in Stettin an Bord eines Kriegsschiffes begeben, das ihn nach Kronstadt brachte. Eine Woche vor der Vermählung seiner Schwester Maria mit Maximilian de Beauharnais, Herzog von Leuchtenberg, am 14. Juli traf er zu Hause ein. Am Tag nach der Vermählung schreibt Nikolaus I. seinem Schwiegervater Friedrich Wilhelm III., die Zukunft des Großfürsten-Thronfolgers sei gesichert. Der Großherzog von Hessen-Darmstadt [sic!] habe seine vorläufige Zustimmung zur Verlobung seiner Tochter und zu einem Besuch Alexanders im Sommer 1840 gegeben, „damit er sie besser kennenlernt“.29 Doch kaum war Alexander wieder zu Hause, flammte die Liebe zu Olga Kalinowska wieder auf. Die Familie war entsetzt. „Er äußerte mehrfach, dass er bereit sei, ihretwegen auf alles zu verzichten […]“, schreibt seine Schwester Olga. „Papa war von tiefstem Unwillen erfüllt über Saschas Schwäche. Im März hatte er die Absicht geäußert, die Prinzessin von Darmstadt zur Frau zu nehmen, nur um vier Monate später wieder mit ihr zu brechen? Es waren schlimme Tage.“30 Die schlimmen Tage endeten am 22. August mit einer erregten Auseinandersetzung zwischen Nikolaus und seinem Sohn, in deren Ver-
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lauf Sascha erklärt, dass er nicht von Olga lassen könne, dass er sie heiraten und das Verhältnis mit Hessen-Darmstadt wieder lösen wolle. Ratlos notiert die Kaiserin in ihrem Tagebuch: „[…] que deviendra un jour la Russie en ces mains d’un homme qui ne sait pas se vaincre lui-même, qui se laisse dominer par sa passion sans y résister le moins du monde.“*31 Alexandra konnte nicht ahnen, dass sich ihr Sohn ein Vierteljahrhundert später tatsächlich von seiner Leidenschaft überwältigen lassen und die Dynastie in eine ernste Krise stürzen würde. Am Ende musste Olga Kalinowska gehen. Polnische Verwandte nahmen sie auf, und bei Hofe sah man sie erst als verheiratete Gräfin Ogińska wieder. „Er bereute seine Verirrung und reiste im Frühling nach Deutschland“, schreibt seine Schwester.32 Die Abreise erfolgte am 17. März 1840. Schukowskij, der am Tag der Abreise zum Russischlehrer der Prinzessin Marie ernannt worden war, begleitete den Thronfolger wieder. Sie reisten über Warschau, Breslau, Berlin, Wittenberg, Weimar, Fulda und Frankfurt und kamen am 12. April in Darmstadt an. Es war Palmsonntag, und das Wetter war schön. Auf dem Platz vor dem Schloss wartete viel Volk, in den Sälen hatten sich die Höflinge versammelt. „Auf diese Weise stellte sich der Großfürst seiner Braut vor: staubbedeckt und nicht festlich gekleidet […]“, vermerkt Schukow skij in seinem Tagebuch.33 Aber das sei nicht weiter schlimm gewesen. „Um vier Uhr war ein Essen im Schloss“, notiert der Dichter weiter. „Ich sah bekannte Gesichter, aber die Namen waren alle aus dem Gedächtnis getilgt. […] Die Braut ist gewachsen und aufgeblüht. Sie konnte sich nicht entschließen, an einen von uns heranzutreten, und als sie an uns allen vorbeigehen musste, errötete sie wie eine Rose. Langes, ovales Köpfchen, große Augen […], die zur Seite schauen, geschmeidiger Hals, wunderbar geformte Schultern; schlanke Gestalt, leichter, luftiger, gewandter Gang. Weder Hände noch Füße gesehen. Kastanienbraune weiche Haare. Etwas verlegen, aber nicht linkisch; Schüchternheit, sehr passend in ihrer Lage. Nach dem Essen sagten * „ … was wird eines Tages aus Russland in den Händen eines Mannes werden, der sich selbst nicht zu besiegen weiß, der sich von seiner Leidenschaft beherrschen lässt, ohne ihr auch nur im Geringsten zu widerstehen.“
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wir einander ein paar Worte; ich bemerkte, dass sie frischer geworden und gewachsen war.“ Der Abend im Schloss war langweilig.34 Marie hatte sich wirklich gut entwickelt. Sie war nun fünfzehn Jahre alt, kein Kind mehr, aber auch noch nicht erwachsen. Anderntags erschien Fürst Wittgenstein, der Generaladjutant des Großherzogs, bei Schukowskij, und wie sich aus der etwas sibyllinischen Eintragung vom 1./13. April ergibt, haben die beiden Herren noch einmal über Maries Herkunft gesprochen. „Morgens war Fürst Adolf Wittgenstein bei mir. Das Gespräch neigte sich endlich unserer Hauptsache zu. Ich sagte, und er stimmt mit mir überein, dass alles, was vom Herrscher abhängt, getan wurde, und dass jetzt niemandem außer dem Großfürsten und der Prinzessin etwas zu tun bliebe. Was das Herz des einen und der anderen sagt, muss geschehen. Die Hauptsache besteht darin, dass der eine und die andere glauben, dass sie zusammen glücklich werden und einer sich das vom anderen wünscht. Er stimmt zu, dass die Sache nicht als vollkommen abgeschlossen angesehen werden könne und man nicht fordern dürfe, sie unverzüglich zu ihren Gunsten abzuschließen, dass man das nur wünschen könne und man niemanden beschuldigen dürfe, wenn der Erfolg ausbleibt.“35 Die „Sache“ war tatsächlich noch nicht endgültig entschieden. Am 2./14. April sah Schukowskij, wie Alexander und Marie von einem Spaziergang zurückkehrten, und überlegt: „Ob die Sache klappt?“36 Am gleichen Tag fragte Graf Orlow, der Vertraute des Kaisers, der auch wieder mitgereist war, den Großfürsten direkt, ob sein Herz denn wirklich frei sei: „Betrügen Sie sich selbst und die anderen in dieser wichtigen Sache nicht. Hier ist Betrug ein leichtsinniges Vergehen.“37 Schukowskij schien aber, als sei der Großfürst nun „voll eines neuen lebendigen Gefühls“. Er kenne ja keine starken Leidenschaften, und dass Leidenschaften in ihm kämpften, brauche man nicht zu erwarten. „Er ist kaum zu starken Gefühlen fähig. Eine reine Seele wird eine Stütze seines Charakters oder seiner Charakterlosigkeit sein. Es ist nur wichtig, dass seine Frau Charakter hat, dass sie versteht, ihn zu erobern und ohne Zwang seine Herrschaft zu unterstützen. Über die Prinzessin Marie sagen alle einstimmig viel Gutes. Besonders lobt man ihre bescheidene Wohltätigkeit, die keine Geld-
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verschwendung ohne Teilnahme ist, sondern Teilnahme, die auch kleine Arbeiten nicht scheut …“38 Am 16. April trägt Schukowskij in sein Tagebuch ein: „Heute ist der entscheidende Tag im Leben des Großfürsten und des Russischen Reiches. Möge mit ihm der höchste Segen sein. Um 11 Uhr kam der Großfürst mich abholen und erklärte mir, dass er sich entschlossen habe und in einer Stunde mit dem Großherzog sprechen werde. So geschah es.“39 Das Gespräch verlief positiv. „Nachdem ich um 8 Uhr aufgestanden war und aufrichtig zu Gott gebetet hatte“, trägt Sascha seinerseits an diesem Abend in sein Tagebuch ein, „entschloss ich mich zu dem wichtigsten Schritt meines Lebens. […] Um halb 12 ging ich in der Uniform des Preobraschensker Regiments (Maria war gerade aus der Kirche gekommen, während wir Frühmesse auf unseren Zimmern hielten) nach unten zum Großherzog, der mich überhaupt nicht erwartete (noch im Morgenrock). Nachdem ich ihm meine Absicht erklärt und ihm gesagt hatte, dass ich dazu die vorherige Zustimmung meiner Eltern habe, bat ich ihn um seinen Segen für den ewigen Bund mit Prinzessin Marie von Darmstadt. Er ließ sie sofort kommen und ging ihr entgegen. Er erteilte uns hier unten in seinen Räumen seinen Segen. Ich kann nicht sagen, was ich in dieser Minute fühlte, als ich zum ersten Mal meine Marie umarmte. Ich werde nie im Leben den engelhaften Ausdruck in ihren Augen in dieser für uns so wichtigen Minute vergessen.“40 Noch am selben Tag, Gründonnerstag 1840, wurde die Verlobung in Darmstadt bekannt gegeben, und eine Flut von Glückwünschen, Gedichten und Lobpreisungen ergoss sich über das junge Paar, das „Nordlicht“ und die „Rose“. „Beim Großfürsten traf ich Prinz Emil und Alexander, den Bruder der Prinzessin; wir gratulierten einander und umarmten uns“, notiert Schukowskij. „Bei Tisch war mein Großfürst ziemlich kindisch und fröhlich; aber die Braut war nachdenklich und schaute manchmal auf mich. Er hat ihr bereits ein Geschenk gemacht, der Besuch bei der Kaiserin wurde festgelegt; ich würde damit nicht eilen; darin liegt etwas Taktloses, aber unsere Formalisten wollen das Befohlene ,à la lettre‘ ausführen. Nach dem Essen gingen wir spazieren und fingen an zu frieren, obwohl die Sonne hell und klar schien. Ich kam mit einem
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Schnupfen nach Hause.“41 Freilich fand der Dichter das „hiesige“ Essen „tödlich schlecht“: „Pfeffer und Dreck“.42 Später erfuhren die Petersburger noch aus anderen Quellen, dass am Hofe des Großherzogs nicht gerade exquisit gespeist wurde. Dort wurde zweimal in der Woche ein Galaessen veranstaltet, zu dem unbedingt Stockfisch mit Kartoffeln, Rührei und Buttersoße serviert wurde. Bei Tisch bedienten Frauen, denn der Großherzog habe gesagt: „Die Männer brauche ich als Soldaten.“ Einmal habe der Großfürst den Großherzog zum russischen Essen eingeladen, aber Schtschi und Kascha hätten ihm nicht gefallen. Das eine wie das andere sei aber gut genug für seine Soldaten, habe er gemeint.43 Ein paar Tage später wurden die Petersburger durch 101 Schuss Salut aus der Peter-und-Paul-Festung von dem freudigen Ereignis, der Verlobung in Darmstadt, in Kenntnis gesetzt.44 Der Russisch-Unterricht begann am 6. Mai. „Heute Morgen um 9 Uhr rief mich der Großfürst zu sich und erklärte, dass die Prinzessin mich um 2 Uhr erwartet“, notiert Schukowskij. „Gleichzeitig sagte er, dass Prinz Alexander wünscht, bei dem Unterricht dabei zu sein und daran teilzunehmen. Das erschreckte mich: ich ging zu ihm und überarbeitete die Sache, obwohl es doppelte Arbeit sein wird. Um zwei Uhr zu meiner Schülerin. Netter Anfang. Der Großfürst half und störte. Die Stunde verging fröhlich. Das gleiche wie vor 22 Jahren mit der Kaiserin. Mit einem Wort, der Anfang ist gelungen. Die Sache wird klappen.“ Der Eintrag endet mit den Worten: „Sascha. Mascha. Die Jugend. Jetzt liegt eine neue Welt vor mir.“45 An den folgenden Tagen hält Schukowskij fest: „25. April (7. Mai), Donnerstag. […] Zweite Stunde. Überblick über die philosophische Grammatik. Reizende Aufmerksamkeit. […] 26.(8.), Freitag. Vorstellung bei Hofe. Der gesamte Hof, Militärs, Minister, Abgeordnete, das Diplomatische Corps, die Prinzen des Hauses. Zuerst letztere, dann die russische Suite; dann die Militärs, die Damen und der Hof. Unsere Prinzessin benahm sich, wie es sich gehört, aber der Großfürst vermag nicht, sich zu verbeugen; sehr unangenehme, ärgerliche und kühle Zerstreutheit. Morgens Zimmermann, der Geistliche der Prinzessin, bei mir, gute Einzelheiten. […]
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27.(9.), Samstag. […] Großes Festbankett im Schloss. Bei Tisch neben Fürst Wittgenstein. Abends bei mir zu Hause. 29.(10.), Montag. […] Vierte Stunde: Bildung der ersten Sätze. Große Schwierigkeiten bei der Aussprache. […] 30.(11.), Dienstag. Morgens bis zwei Uhr zu Hause. Fünfte Stunde für die Prinzessin. Wir übersetzten „Gott schütze den Zaren“ und lasen „Undine“. Essen im Schloss. […] Mai 2.(14.), Donnerstag. Morgens zu Hause. Zimmermann eine Minute bei mir, dann zur Prinzessin. Sechste Stunde. Wir übersetzten „Tri putnika“.* 3.(15.), Freitag. […] Siebente Stunde, Übersetzung der „Tri putnika“. 4.(16.), Samstag. Morgens gearbeitet. Unterricht wie gewöhnlich. 6.(18.), Montag. Unterricht wie gewöhnlich. Es wird kompliziert. Ob meine Prinzessin mit der Langweile fertig wird, weiß ich nicht. Dass unser nettes far niente sie bloß nicht vereinnahmt? 7.(19.), Dienstag. Morgens zu Hause. Verben diktiert. Zusammenstellung eines Systems der Verben. Unterricht. Bildung einfacher Sätze. Essen im Schloss. […] 8.(20.), Mittwoch. Unterricht, Satzbildung. Zerstreutheit. Gespräch über die Kaiserin Elisabeth. […] 9.(21.), Donnerstag. […] Zwölfte Stunde. Gespräch über die Kaiserin und den Großfürsten. Essen im Schloss. Ich neben Mlle Grancy […] Pastor Zimmermann bei mir. […] Schlimme Nachrichten vom preußischen König. […] 10.(22.), Freitag. Dreizehnte Unterrichtsstunde. Lektüre der wunderbaren Briefe des Kaisers und der Kaiserin an Prinzessin Marie. Im Theater die dumme Oper „Lumpaci Vagabundus“. 11.(23.), Samstag. […] Um 12 Uhr Großherzogin Stephanie von Baden mit Tochter. Unser alter Großherzog ist in letztere verliebt, erzählt man sich. […] Heute war kein Unterricht 13.(25.), Montag. Heute war kein Unterricht * Drei Wanderer, Poem Schukowskijs (1820), d. h. freie Nachdichtung von Ludwig Uhlands Der Wirthin Töchterlein (1815)
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14.(26.), Dienstag. Schlechte Stunde. Fahrt des Großfürsten nach Aschaffenburg. […] 15.(27.), Mittwoch. Ganz schlechte Stunde. […] Schlimme Nachrichten vom König. […] Essen im Schloss. „Norma“ hervorragend. Abschied. 16.(28.), Donnerstag. Morgens um 10 Uhr fuhr der Großfürst nach Biberach, die Prinzessin nach München, wohin Prinz Karl sie begleitet. Der Abschied war herzlich. Was erwartet den Großfürsten auf seinem Weg? Ich blieb bis 8 Uhr nach dem Essen in Darmstadt […] Um 10 Uhr war ich in Frankfurt und fand die Unsrigen, wie es sein muss, beim Kartenspiel. Beim Großfürsten der Herzog von Nassau.“46 Parallel zum Russisch-Unterricht sollte auch der Religionsunterricht beginnen, den Schukowskij seltsamerweise nicht erwähnt. Schon Anfang Mai war Gawriil T. Meglizkij, der Frankfurter Botschaftsgeistliche, in Darmstadt eingetroffen. Er sollte Marie in die Lehre der orthodoxen Kirche einführen. Vater Gawriil war ein kluger Mann. Bevor er Marie vorgestellt wurde, verlangte er den Hofprediger Karl Zimmermann zu sehen, Maries Religionslehrer, der „Aufzeichnungen über die Religion“ für sie verfasst hatte. Die beiden Geistlichen führten ein langes Gespräch, und Vater Gawriil sah die „Aufzeichnungen“ durch. So konnte er sich besser in die Gedankenwelt der Braut versetzen. Während die Vorstellung bei Marie auf sich warten ließ, wurde Vater Gawriil vom Bräutigam empfangen. „Diese engelhafte Sanftmut, dieses himmlische Lächeln, diese Aufmerksamkeit für jeden, der das Glück hat, dem Großfürsten vorgestellt zu werden, sind unerklärlich und nur dem erstgeborenen Sohn des Zaren eigen. Seine Hoheit geruhte, die Aufmerksamkeit auf Ihre Hoheit zu lenken und zu sagen, dass ich in ihr die unschuldigste Seele finde, bereit, alles Gute anzunehmen.“47 Erst nach einem orthodoxen Gottesdienst, an dem auch Marie bereits teilnahm, wurde er ihr endlich vorgestellt. Seine Worte über ihre hohe Bestimmung hätten sie „zu Tränen gerührt“, schreibt er.48 Mit dem Unterricht sollte er dann aber doch erst drei Wochen später in Ems beginnen, wo Kaiserin Alexandra erwartet wurde. Bereits in Darmstadt hatte Vater Gawriil den Eindruck gewonnen, dass es in Maries Fall nicht reichen würde, nur
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einen „leichten Blick auf die Religion zu werfen und sie nur in einigen wichtigen Zügen zu beschreiben“, und dass die junge Braut über „ungewöhnliche Qualitäten des Verstandes und des Herzens“ verfügte. Er war sicher, dass der Thronfolger keine bessere Wahl hätte treffen können.49 Alexander aber eilte nach Berlin, um an der Grundsteinlegung für das monumentale Reiterstandbild Friedrichs II. am 1. Juni 1840 Unter den Linden teilzunehmen und Friedrich Wilhelm III. zu besuchen, seinen Großvater, der ernsthaft erkrankt war. Als der alte König sich einmal besser fühlte, verlangte er seinen Enkel zu sehen, gratulierte ihm zur Verlobung und fügte seinem Glückwunsch hinzu: „Auch meine Mutter war aus Darmstadt.“50 Königin Friederike von Preußen, von Friedrich Wilhelm II., ihrem Mann, „das hessische Lieschen“ genannt, war auch eine Tochter der Großen Landgräfin und eine Schwester Ludewigs I., somit Maries Großtante.
3 „Eine neue Familie, eine neue Heimat“ Großfürstin von Russland Berlin – Tod Friedrich Wilhelms III. – Nikolaus I. in Frankfurt – Vorstellung Maries – Schukowskijs Tagebuch – Russisch-Unterricht in Darmstadt – Ems – Reise nach Russland – Fischbach – Warschau – Zarskoje Selo – Amalia Utermark – Einzug in St. Petersburg – Die Romanows – Firmung und orthodoxe Verlobung – Hochzeit – Moskau – Peterhof 1840/1841
Im Sommer 1840 wollte Kaiserin Alexandra endlich einen seit längerem geplanten Kuraufenthalt in Ems antreten. Als im Mai die Nachricht aus Berlin kam, dass der Gesundheitszustand ihres Vaters sich weiter verschlechtert hatte und er sich wohl nicht mehr erholen werde, beschleunigte sie ihre Abreise. Ihre Tochter Olga („Olly“) begleitete sie. Die beiden trafen am 3. Juni in Berlin ein, der Kaiser kam nach. Friedrich Wilhelm III. starb am 7. Juni 1840 im Kreise seiner Familie, Friedrich Wilhelm IV. folgte ihm auf den Thron.1 Eine Woche später reisten Nikolaus und Alexandra mit Sascha und Olly über Weimar, wo Nikolaus’ ältere Schwester Maria Pawlowna bemüht war, die große Tradition der Stadt als „Deutschlands literarischer Olymp“ (Olga) aufrechtzuerhalten, weiter nach Frankfurt am Main, wo sie im Hotel de Russie abstiegen.2 Dort sollte ihnen Marie vorgestellt werden, die mit Vater und Brüdern im Darmstädter Hof auf der Zeil wohnte. Schukowskij war schon am 16. Juni in Frankfurt eingetroffen und privat in einer Dachkammer untergekommen. Die Russen erzählten einander vom Tod des Königs, ihres verehrten alten Verbündeten aus den Koalitionskriegen gegen Napoleon. „Langes Warten auf den
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aiser“, notiert Schukowskij. „Er kam kurz nach fünf zusammen mit K der Kaiserin. Sofort zur Prinzessin. Sie dann zur Kaiserin zusammen mit den Ihrigen.“3 Die kaiserliche Familie war aufgeregt. „Das Herz klopfte uns in Erwartung auf die Familie Hessen“, schreibt Olga. „Wir wechselten unsere schwarzen Kleider mit weißen Trauergewändern nach russischem Brauch. Ich entsinne mich genau, und es ist mir unvergesslich, wie nach der ersten offiziellen Begrüßung und dem Austausch von Glückwünschen anlässlich der Verlobung Marie Darmstadt mich umarmte und als Schwester begrüßte, die sie mir blieb bis zum Tode.“4 Nikolaus war begeistert von der künftigen Schwiegertochter, die älter wirkte als fünfzehn, und „wurde nicht müde, sie anzusehen“. Er habe Saschas und Russlands Zukunft in ihr gesehen, schreibt Olga, und ihr versichert, in seinem Herzen seien sie „eines“.5 Auch Ludwig II., der Großherzogvater, wurde dem russischen Herrscherpaar vorstellt, doch Olga fand ihn „ziemlich unbedeutend“. Von seinen drei Söhnen erwähnt sie nur Alexander, „ein Jahr älter als Marie und unzertrennlich von ihr“, „dünn und schmächtig, mit kleinen, aber gescheiten Augen“.6 Schon in Frankfurt forderte Nikolaus den knapp Siebzehnjährigen auf, in seine Dienste zu treten, „um den Geschwistern das Glück des Zusammenseins auch für die Zukunft zu bewahren“.7 Alexander nahm an und wurde im Range eines Rittmeisters in das Eliteregiment der Chevaliers gardes aufgenommen, deren Chef die Kaiserin war. Es bestand nur aus Adligen. Marie dürfte erleichtert gewesen sein. Dann ging es weiter nach Ems. „Man vertraute uns Marie für den Aufenthalt in Ems an“, schreibt Olga. „Wir schliefen im gleichen Zimmer. Noch heute sehe ich sie vor mir in ihrem Bett, die schönen Arme nackt, im Nachtkleid, das Hals und Schultern frei ließ, das reiche, braune Haar gelöst. ‚Gute Nacht, schlaf gut!‘, sagten wir uns zu verschiedenen Malen, und immer wieder begannen wir von neuem zu plaudern statt zu schlafen, so viel hatte sie zu fragen, so viel ich ihr zu berichten. Vom ersten Tag an war nichts als Neigung und Vertrauen zwischen uns. Auch für mich war sie ja ein besonderes Wesen als zukünftige Frau meines vielgeliebten Bruders; nun kam die sanfte, ja bezaubernde Gewissheit hinzu, dass sie über alles Erwarten hinaus
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lieb und reizend war.“8 Marie aber wusste nun schon, dass sie in Olga eine Freundin gefunden hatte, die ihr das Einleben in Russland erleichtern und immer zur Seite stehen würde. Auch Schukowskij reiste weiter nach Ems, wo er am 19. Juni eintraf. Seinem Tagebuch können wir entnehmen, wie es weiter ging: „7.(19.), Freitag. Ankunft um ½ 7. Spaziergang. […] Bei Mlle Grancy. […] Ausritt des Herrschers und der Herrscherin auf Eseln. […] Am Abend zu Hause. Brief an den Herrscher. 9.(21.), Sonntag. Morgens Brief beendet. Gegessen. Brief noch mal geschrieben. Zum Großfürsten. […] Zum Herrscher. Ritt auf Eseln nach Jägersdorf. Gespräch mit dem Herrscher. […] Abreise des Herrschers. 10.(22.), Montag. […] Am Abend bei der Kaiserin, Essen bei ihr im großen Saal. 100 Taler verloren. 11.(23.), Dienstag. Am Morgen Abreise der Prinzessin. Beim Herzog. Bei Olga Nikolajewna, Zeichnungen gezeigt. Bei der Kaiserin, Essen bei ihr. Abschied. […] Abreise nach Koblenz. […] 12.(24.), Mittwoch. Fahrt auf dem Rhein. Französischer Maler. Zeichnen. Nach Mainz. Blick auf den Gutenberg-Platz. Abreise. Statt nach Frankfurt nach Darmstadt. […] 13.(25.), Donnerstag. Ankunft des Großfürsten, Visiten bei den Prinzessinnen. Kein Unterricht. Gespräch mit dem Geistlichen. […] 14.(26.), Freitag. Morgens zu Hause. Unterricht. Übersetzung des „Vaterunsers“. Essen beim Großherzog. […] 15.(27.), Samstag. Heute ist der Großfürst nach Ems abgereist. […]. Speiste bei mir, nach dem Essen bei der Prinzessin. Langweilige und ärgerliche Stunde. Sie ist ein unterentwickeltes und etwas verwöhntes Kind. Schrecklich, sollte unsere Erziehung ihre dummen Eigenschaften verstärken und die guten lähmen. Der Nachmittag war ganz verdorben, aber der Abendspaziergang hat alles gerichtet. 17.(29.), Montag. Kein Unterricht. Verlor den Morgen zu Hause mit Plänen. Fahrt nach Seeheim, wo wir aßen. […] Nach dem Essen mit Grancy nach Jugenheim. Wunderschöner Ort und wunderschöner Spaziergang, aber seine Erzählung über die Großherzogin und ihr zurückgezogenes Landleben war seltsam zu hören.
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18.(30.), Dienstag. Wieder einen Vormittag mit Plänen verloren. Ankunft des Großfürsten. Unterricht und angenehmes Gespräch mit aufrichtigem Herzausschütten. […] 19. Juni (1. Juli), Mittwoch. Morgens zu Hause mit der Abrechnung. Unterricht. Lektüre meiner Gedichte. Allein bei mir gegessen. […]“9 Am 2./14. Juli verließ Alexander abends um 23 Uhr Ems, um nach Russland zurückzukehren. Sein Vater erwartete ihn in Zarskoje Selo, um ihn zur großen Truppeninspektion und zu Manövern in den westlichen Gouvernements mitzunehmen. Von dort sollte er nach Fischbach in Schlesien reisen, um seine Mutter und seine Verlobte abzu holen und sie über Warschau nach St. Petersburg zu geleiten. Schukowskij verließ Ems am 3. Juli und fuhr über Frankfurt wieder nach Darmstadt, wo er der Prinzessin weitere Russisch-Stunden gab, mit Pastor Zimmermann zusammentraf, beim Großherzog im Gartenhaus speiste und mehrfach mit Baron Grancy nach Jugenheim fuhr, wo er viel zeichnete. Er blieb noch bis Ende Oktober in Deutschland. In den ersten Augusttagen machte sich auch die Kaiserin mit Olga und Marie auf den Heimweg nach St. Petersburg, wo der Kaiser den am 22. Juli von den Bevollmächtigen unterzeichneten Heiratsvertrag* am 25. Juli, „im 15. Jahr unserer Herrschaft“, ratifiziert hatte.10 Sie reisten in kurzen Etappen mit dem Wagen bis Leipzig, nahmen dort die erst 1839 eröffnete erste deutsche Ferneisenbahn nach Dresden, wo Marie Verwandte hatte, und fuhren von dort aus weiter nach Fischbach im Riesengebirge, wo sie in der malerisch gelegenen Sommerresidenz des Prinzen Wilhelm von Preußen auf Sascha warten wollten.11 Wir können annehmen, dass Alexandra der zukünftigen Schwiegertochter während der langen Fahrt erzählt hat, wie sie ihre Rolle an der Seite des Kaisers verstand, nämlich vor allem als „liebende Ehefrau“, wie wir von ihrer Tochter Olga wissen: „Ihr Gatte war ihr Lenker und Beschützer, besaß ihr ganzes Vertrauen, und sie hatte nur einen Ehrgeiz, ihn glücklich zu machen.“12 Das kannte Marie von ihren Eltern nicht, aber das war ein Vorbild, dem sie nacheifern konnte. * Das Pergamentlibell in Samteinband mit der Unterschrift des Kaisers wird im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt aufbewahrt.
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Wir können auch annehmen, dass Alexandra der Sechzehnjährigen erzählt hat, wie sie selbst im Sommer 1817 durch Ostpreußen, das Memelland und die russischen Ostseeprovinzen Kurland, Livland und Estland nach St. Petersburg gereist war, wie Großfürst Nikolaus, ihr Bräutigam, ihr bis Memel entgegengekommen war und wie er mit ihr zusammen die Reichsgrenze bei Polangen (Palanga) überquert hatte.13 Und nun würde auch Sascha seine Marie über die Grenze geleiten. Vielleicht hat Alexandra ihrer zukünftigen Schwiegertochter auch vor geschlagen, ihrem Vater noch einmal zu schreiben, so wie sie selbst damals ihrem Vater geschrieben hatte. „Mein lieber, mein teurer Vater“, schreibt Marie jedenfalls am 8. September aus Kalisz, wo im September 1835 die berühmte preußisch-russische Große Revue stattgefunden hatte, nach Darmstadt. „Das sind meine ersten Zeilen aus dem Land, das nun mein zweites Vaterland werden soll. (Dass es mir so teuer wie das erste werden wird, bezweifle ich und möchte ich auch nicht hoffen, denn mir scheint, dass wir immer dem Land, in dem wir geboren wurden, den Vorzug geben sollen.) Dennoch empfinde ich für Russland eine außerordentliche Zuneigung. An der Grenze begrüßten uns Kosaken; wir warteten ungefähr eine halbe Stunde auf Sascha; die Herrscherin wünschte nicht, dass ich die russische Grenze ohne ihn überschreite. Ich nutzte die Zeit, um noch einen letzten Blick auf mein liebes Deutschland zu werfen und mich nochmals an die freudigen und glücklichen Tage, die ich in ihm erlebt habe, zu erinnern. Ich habe allen Grund, an Gott zu denken. Mein zweiter Blick fiel auf das russische Land, und ich dachte, dass nun der schwerste Teil meines Lebens beginnt, und bat Gott um seine gnädige Hilfe. […]“14 Wahrscheinlich war Marie nicht bewusst, dass sie noch gar nicht in Russland selbst angekommen war, sondern erst in Kongresspolen, dem russischen Teil des dreigeteilten Landes, der seit dem Wiener Kongress 1815 ein mit Russland in Personalunion verbundenes Königreich war. Doch Alexandra mag sich daran erinnert haben, wie Nikolaus und sie im Mai 1829 im Senatssaal des Warschauer Königsschlosses zum König und zur Königin von Polen gekrönt worden waren, aber auch daran, wie brutal der Kaiser den Aufstand von 1830/31 hatte niederschlagen und die Aufständischen bestrafen lassen. Jetzt, zehn Jahre
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später, war der Einzug der Kaiserin und der Braut des Thronfolgers in Warschau ein großartiges freudiges Ereignis, und Marie wunderte sich, wie gut ihr Bräutigam auch Polnisch sprach. Am 15. September kamen die Damen in Gattschina an, der Lieblingsresidenz Pauls I., wo der Kaiser seine Gäste aus Westeuropa zu begrüßen pflegte und wo nun ein Galaessen im Prioratspalast für die Kaiserin, die Braut, Olga und ihre „kleine“ Schwester Alexandra („Adini“) stattfand, die ihnen entgegen gekommen war.15 Zwei Stunden später, bei der Ankunft in Zarskoje Selo, der berühmten Sommerresidenz Katharinas II. südlich von St. Petersburg, goss es in Strömen. Der Kaiser und der Thronfolger erwarteten ihre Damen vor dem Paradeeingang des Großen Palastes, der auch Katharinenpalast genannt wurde. Auf der Freitreppe standen die höchsten Würdenträger des Reiches, im Korridor die Zöglinge des Alexander-Lyzeums, und in der Kirche warteten die Hofdamen. Nach einem Gottesdienst fuhr man hinüber in den Alexander-Palast, wo Nikolaus und Alexandra im Sommer mit den jüngeren Kindern lebten. Die Kaiserin führte Marie in die für sie vorbereiteten Räume im ersten Stock, wo die Kammerjungfer Amalia Utermark auf ihre Herrin wartete. Amalia hatte gerade, im April 1840, das Petersburger ElisabethInstitut beendet und war auch erst 16 Jahre alt. Sie war die Tochter eines Moskauer Architekten, der die modernen runden Eisenöfen erfunden hatte, die auch in den kaiserlichen Palästen standen, und jeder kannte die Utermark-Öfen. Ihre Mutter war Musiklehrerin. Vor Maries Eintreffen hatte sie eine Art Praktikum bei Alexandra Nikolajewna absolviert. Ihren Erinnerungen, die sie Ende der 1880er Jahre unter ihrem Familiennamen Jakowlewa veröffentlichte, verdanken wir einen Eindruck von den ersten Tagen, Wochen und Monaten Maries in St. Petersburg. Da Amalia auch nach ihrer Heirat Zutritt zur kaiser lichen Familie behielt und ihre Verbindungen zum Hof nicht abrissen, reichen ihre niedergeschriebenen Erinnerungen bis zum Jahr 1881. Als erstes bat die Kaiserin die Kammerjungfer, mit der Prinzessin immer Russisch zu sprechen, das sie selbst auch nach mehr als zwanzig Jahren in Russland nur notdürftig beherrschte. Dann erteilte sie Amalia eine erste Lektion. Alexandra, die auch als Kaiserin von Russland immer Preußin geblieben war, hatte Maries Zimmer inspiziert, rief
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Amalia nun zu sich und flüsterte auf Russisch, damit die Darmstädter Kammerfrauen sie nicht verstanden: „Ich sehe, dass hier noch deutsch aufgeräumt wird; das dürfen Sie nicht zulassen: auf dem Bett darf außer den Bleuel nichts liegen, Plumeau und Kissen gehören weggeräumt in den Korb.“ Amalia fand dann auch, dass das Bett der Prinzessin, voll bepackt mit Kissen, Wäschebleuel und Plumeau, darüber eine Decke, wellenförmig aussah, und das „war nicht schön“. Die Darmstädter Kammerjungfern waren jedenfalls überrascht vom „Pedantismus unserer Ordnung“.16 Am Petersburger Hof waren die Plumeaus durch weite, warme Mäntel ersetzt worden, und ein solcher Mantel, eine „Salope“, gehörte zu den ersten Geschenken, die Marie erhielt. Drei Tage später war der feierliche Einzug in St. Petersburg, dieser sagenhaften, jungen Stadt, die von ihrem Gründer so großzügig geplant worden war und nun an die 400 000 Einwohner zählte. Russlands „nördliche Hauptstadt“, die in Westeuropa auch „Venedig des Nordens“ oder „Russisches Amsterdam“ genannt wurde, war nun schon ein beliebtes Reiseziel, eine faszinierende multikulturelle Metropole, die in Europa nicht ihresgleichen hatte. Marie mochte gar nicht mehr glauben, was in Darmstadt über die Stadt erzählt wurde: dass dort Wölfe auf der Straße herumlaufen und dass die Petersburger im Winter pelzgefütterte Masken tragen.17 Natürlich wusste sie nicht, dass die russische Literatur soeben ihren Höhenflug begonnen hatte und dass St. Petersburg ihr „Startplatz“ (Joseph Brodsky) war. Aber wir können annehmen, dass sie Puschkins Ehernen Reiter, Gogols Petersburger Geschichten, vor allem seine Erzählungen Newskij Prospekt oder Der Mantel, die ersten Komponenten des „Petersburger Textes“, gelesen hat, sobald sie genug Russisch konnte. Nicht umsonst war Wassilij A. Schukowskij ihr Lehrer. Er hatte sie die Sprache und die Literatur ihrer neuen Heimat schon in Darmstadt lieben gelehrt und sie auch in die Landesgeschichte eingeführt. Das Wetter konnte nicht besser sein. Die goldene Karosse mit ihren acht Glasfenstern, in der die Kaiserin mit Marie und ihren Töchtern saß, glänzte und glitzerte in der Sonne. Die Damen hatten sich umgezogen und trugen nun russische Kleider aus silberdurchwirktem rosa Brokat. Der Kaiser folgte der Karosse zu Pferde, der Thronfolger befehligte die Eskorte.18 Vom Stadtrand bis zum Winterpalast säumten
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Garderegimenter in ihren prächtigen Uniformen den Weg, und wahrscheinlich hat Marie noch nie so viel Militär auf einmal gesehen. Ein endloses Hurra ertönte vom Straßenrand, alle Kirchenglocken läuteten, und aus der Festung auf der Haseninsel schossen die Kanonen Salut. Auf dem Palastplatz wartete eine große Menschenmenge auf die goldene Karosse, die nicht wie sonst vor dem Seiteneingang des Winterpalastes hielt, sondern gegenüber der Alexander-Säule durch die Großen Tore mit dem goldenen Doppeladler in den Großen Palasthof fuhr. Der Kaiser, der Bräutigam und der Hof erwarteten die Kaiserin, die beiden Großfürstinnen und die Braut vorm Paradeeingang. „Wir traten auf den Balkon hinaus, damit das Volk die Braut sehe“, schreibt Olga, „dann folgten die Zeremonien in der Kirche, das Te Deum und schließlich der große Empfang bei Hof. Alle Damen und Herren der Stadt, auch die Kaufleute und ihre Frauen, hatten das Recht, der Braut vorgestellt zu werden. Die prächtigen Säle waren überfüllt.“19 Marie war eher erschrocken als geblendet von der ungewohnten Pracht und unendlich erleichtert, dass zwei liebe Menschen aus der Heimat um sie waren: Bruder Alex und Marianne de Grancy. Zwischen Alexander von Hessen und Alexander von Russland sollte sich eine enge Freundschaft entwickeln. Fürs erste hatte Marie ein Appartement neben den Räumen Olgas und Alexandras im Erdgeschoss des Winterpalastes zur Newa-Seite hin bezogen, „schön, gemütlich, wenngleich es nach Norden lag“, wie Olga schreibt.20 Marie war angenehm überrascht: „Meine Zimmer sind reizend, gar nicht groß und mit sehr schönen Möbeln eingerichtet“, schreibt sie ihrem Bruder Karl im ersten Brief, „mir scheint, dass sie immer bewohnt waren, aber es zeigte sich, dass sie nur für mich vorbereitet wurden.“21 Jedenfalls waren sie gemütlich, und das gefiel Marie. Zur Erinnerung an den Tag der Ankunft fand sie in ihrem Zimmer „vom Herrscher eine wunderschöne Türkisbrosche mit Brillanten und von Sascha ein Armband mit Brillanten und einem Rubin“.22 In den Zimmern wartete die Kammerjungfer Amalia Utermark auf die Prinzessin, um ihr den kostbaren Kopf- und Halsschmuck abzunehmen. So viele Brillanten auf einmal hatte Amalia noch nie gesehen. „Die Prinzessin trug eine blaue Schleppe, die ganz mit Silber durchwirkt war, und einen seidenen Sarafan, dessen Vorderteil ebenfalls
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silberdurchwirkt war, aber statt Knöpfen waren Brillanten mit Rubinen angenäht worden; das Kopfband aus dunkelhimbeerfarbenem Samt war mit Brillanten besetzt, vom Kopf fiel ein silberdurchwirkter Schleier.“23 Die schüchterne kleine Prinzessin aus Darmstadt, die den größeren Teil ihres Lebens auf dem ruhigen Heiligenberg verbracht hatte, war am reichsten und glanzvollsten Hof Europas angekommen und fand sich vom ersten Tag an erdrückt von einer ihr fremden Pracht und eingebunden in ein ermüdendes Zeremoniell. Von ihrer neuen Familie hatte sie bisher nur die Schwiegereltern und die Schwägerinnen Olga und Alexandra kennengelernt. Nun lernte sie Saschas älteste Schwester Maria Nikolajewna („Mary“), die stolze Herzogin von Leuchtenberg, und ihren charmanten bayerischen Mann Maximilian („Max“) kennen, der ein Enkel Joséphines, der Kaiserin der Franzosen, war, und sie lernte Saschas Brüder kennen: Kon stantin („Kosty“), den General-Admiral, und die Kadetten Nikolaus („Nisi“) und Michael („Mischa“), die sog. „kleinen Brüder“, die viel jünger als sie waren und immer alles gemeinsam machten. Da in der Familie alle einen kurzen Kosenamen hatten, wurde aus Maria Alexandrowna privat wieder „Marie“ oder auch „Mascha“. Und dann waren da natürlich noch Großfürst Michael Pawlowitsch, der jüngere Bruder des Kaisers, der die Deutschen nicht mochte, und seine kluge Frau Jelena Pawlowna, eine gebürtige Württembergerin, die Nikolaus einmal die „Wissenschaftlerin“ der Familie genannt hatte. Von ihren fünf Töchtern hatten Michael und Jelena bereits früh Alexandra und Anna verloren, Maria, Elisabeth und Katharina, 15, 14 und 13 Jahre alt, waren als nächste zu verheiraten. Jelena und Michael waren ein kurioses Paar und sicher nicht glücklich miteinander. Er interessierte sich nur für Militärisches und war für seine Witze in ganz Russland berühmt, ihr Salon im eleganten Michael-Palast* am Platz der Künste war eines der geistigen Zentren der Hauptstadt, in dem angesehene Intellektuelle, Künstler, Musiker und Schriftsteller verkehrten, unter ihnen auch solche, deren Werke verboten waren. Nach der Hochzeit nahm das junge Paar später gern an den berühmten lite-
* In diesem Palast wurde im März 1898 das Russische Museum offiziell eröffnet.
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rarisch-musikalischen Soireen der Großfürstin teil; beide konnten so auch ihre Bildung vervollständigen. Von St. Petersburg hatte Marie außer dem Newskij Prospekt noch nicht viel gesehen, aber ihrem Bruder Karl schreibt sie schon in ihrem ersten Brief: „Petersburg ist viel schöner, als ich dachte. Dazu trägt die Newa viel bei; das ist ein wunderbarer Fluss; ich denke, es ist schwer, eine majestätischere Stadt zu finden: dabei ist sie belebt; der Blick aus dem Winterpalast auf die Newa ist außergewöhnlich schön.“24 Dann ging es auch schon wieder nach Zarskoje Selo, wo die kaiser liche Familie den Rest des Herbstes verbrachte – bei „großen Vergnügungen“, wie Amalia Utermark schreibt. „Jeden Sonntag war ein Festessen bei der Kaiserin; die Toiletten waren nahezu Balltoiletten: elegante Kleider mit offenen Miedern und kurzen Ärmeln, weiße Schuhe, Blumen und Brillanten. Im kleinen Zarskoselsker Theater, das sich im Garten des Alexander-Palastes befand, wurden französische Stücke aufgeführt. […] Gelegentlich fuhr man nach Petersburg in die Oper oder ins Ballett.“25 In Zarskoje Selo erhielt Marie weiteren Religionsunterricht. Den Russischunterricht erteilte ihr nun eine Hofdame, denn Schukowskij weilte noch in Deutschland. Sie lernte schnell. „In unserer Familie sprachen wir vier älteren Geschwister untereinander wie auch mit den Eltern immer französisch“, schreibt Olga Nikolajewna. „Die drei jüngeren Brüder hingegen sprachen russisch. Dies entsprach der wachsenden nationalen Bewegung unter Papas Regierung, die nach und nach alles Fremdländische, das bisher die Kultur bestimmte, zurückdrängte und versinken ließ“.26 Eines Morgens betrat ein Mann den Dienstraum der Hofdamen, den Amalia als „hochgewachsen, ziemlich beleibt, mit kleinem Kopf, glatt frisiertem Haar und Stern auf der Brust“ schildert.27 Der Mann verbeugte sich sehr höflich und sagte: „Darf ich Sie bitten, der Prinzessin zu melden, dass Schukowskij, ihr Lehrer, sich ihr vorzustellen wünscht.“ Die „Darmstädter“, d. h. Marie und Sascha, hätten „lange Gesichter“ gemacht, als Schukowskij bei ihnen eintrat.28 „Die Prinzessin ist hübscher geworden“, trägt dieser in sein Tagebuch ein.29 Dem Dichter blieb nicht viel Zeit für weiteren Unterricht, denn er wollte nach Deutschland heiraten, und alle warteten darauf, dass er Elisabeth von Reutern, seine sehr viel jüngere Braut, vorstellte, was er aber nicht tat.
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Wie Amalia berichtet, erschien in der ersten Zeit „eine große Zahl Bittsteller“ aus Hessen in Zarskoje Selo. „Die Großfürstin half allen, nur sehr wenige kamen, um sich in Russland niederzulassen und Arbeit zu finden; sie kamen eher in der Hoffnung, dass die Großfürstin ihren Landsleuten Hilfe nicht abschlägt. Schließlich wurden Maßnahmen gegen sie ergriffen … man gab ihnen das Geld für den Rückweg, und so wies man sie in Massen aus; es blieben nur diejenigen, die Arbeit fanden.“30 Im Spätherbst ging der Hof traditionell nach Gattschina. Hier musste Marie erst einmal den Palast besichtigen, den der italienische Architekt Antonio Rinaldi Mitte des 18. Jahrhunderts für den Fürsten Grigorij G. Orlow gebaut hatte, einen Favoriten Katharinas II., der sie bei ihrem Staatsstreich 1762 unterstützt hatte. Dann folgte eine zweistündige Ausfahrt der Majestäten und Hoheiten in die Menagerie des Parks, des ersten englischen Landschaftsparks in Russland, wo man aus den Equipagen auf Hirsche schoss.31 Auch am nächsten Morgen ging der Kaiser mit den beiden Alexander und mehreren Herren seiner Suite auf Hirschjagd, und Marie begriff, dass ihr Zukünftiger ein leidenschaftlicher Jäger war. Sie mochte die Jagd nicht, nahm auch in Zukunft nie daran teil. Mitte November kehrte der Hof nach St. Petersburg zurück, und dann begann auch schon die Wintersaison, und all die Feste, Bälle, Empfänge und Theateraufführungen, die immer auch die Anwesenheit des Thronfolgers und seiner Braut erforderten, wurden Marie schnell zu viel. Bald bildete sich auf einer Wange ein roter Fleck, groß wie ein Taubenei, der nicht wieder verschwand. Sie selbst war nicht beunruhigt, doch die Ärzte rieten ihr, bei Frost nicht auszufahren. Wenn sie erhitzt war, wurde der Fleck noch röter. Sie ging dann nicht mehr an die frische Luft, sondern zog es vor, in ihren Räumen zu bleiben. Am 4./16. Dezember leistete Prinzessin Marie gemäß dem Brauch des Hauses Hessen und den grundgesetzlichen Bestimmungen des Großherzogtums Verzicht auf ihre Ansprüche. Tags darauf fand ihre Firmung (Myronsalbung) in der Kleinen Kirche des Winterpalastes in Anwesenheit der kaiserlichen Familie und des diplomatischen Corps statt. Sie trug einen weißen Atlassarafan mit Schleppe und als einzigen Schmuck das Taufkreuz. Ihre Haare waren nach vorn gekämmt und
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umrahmten ihr Gesicht in zwei langen Locken. Amalia Utermark fand, dass diese Frisur ihr sehr gut stand.32 Die Patinnen waren Großherzogin Maria Pawlowna von Sachsen-Weimar-Eisenach, und Mutter Maria, die Gründerin und Äbtissin des Erlöser-Klosters von Borodino,* eine hochgewachsene strenge, asketische Frau, die in ihrem schwarzen Habit neben Marie im weißen Sarafan nahezu bedrohlich wirkte. „Mit großem Ernst hatte sie sich den Vorbereitungen hingegeben, wie allem, was sie zu erfüllen hatte und was dessen wert war“, schreibt Olga Nikolajewna. „So nahm sie nicht nur die äußere Form des neuen Glaubens auf, sie versuchte, in die Wahrheit seines Bekenntnisses einzudringen und in den Sinn der Worte, die sie als Katechumenin am Tor der Kirche vor allem Volk zu lesen hatte, der Kirche, als deren Kind sie dann eintreten sollte. – Sie sprach die ersten Worte: ‚Ich glaube und will …‘ leise und zaghaft, dann aber festigte sich ihre Stimme und tönte laut und klar bis zum Schluss des Gebetes […]. Als sie die heilige Kommunion empfing, strahlte ihr Antlitz in freudiger Ergebenheit. Beim Te Deum wurde ihr Name als der einer Rechtgläubigen zum erstenmal genannt.“33 Ihr Name war nun Maria Alexandrowna, den Vatersnamen hatte sie zu Ehren Alexanders I., des „Gesegneten“, erhalten. Nach dem Übertritt erhob Nikolaus I. die nunmehr rechtgläubige Prinzessin per Manifest zur Großfürstin Maria Alexandrowna von Russland, erst als solche konnte sie mit dem Thronfolger verlobt und verheiratet werden. Die Verlobung fand am 6./18. Dezember, dem Namenstag des Kaisers, in der Großen Palastkirche statt. „Die Verlobungsringe waren früher gebracht und auf goldenen Tellern auf den Altartisch gelegt worden; zur gebotenen Zeit brachte der Beichtvater des Herrschers den Ring für den Zesarewitsch, und der Obergeistliche der Armee und der Flotte den für die Großfürstin. Der Metropolit steckte dem Thronfolger und der Großfürstin die Ringe während des bekannten Gebets an die Finger, worauf die Herrscherin herantrat und ihnen die Ringe wechselte. Am Ende der Zeremonie beglückwünschten alle den Kaiser, * Margarita Michajlowna Tutschkowa, geb. Naryschkina (1780–1852), Witwe eines 1812 bei Borodino gefallenen Offiziers, gründete das Erlöser-Kloster zum Andenken an ihren Mann.
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die Kaiserin und die Verlobten. Nach dem Gebet mit Kniefall entfernte sich die Zarenfamilie in die inneren Gemächer, und die anwesenden Gäste verließen den Palast. Am selben Tag fand ein Galaessen statt und am Abend ein großer Ball.“34 Auf diesem Ball mussten die Damen nun Kleider im russischen Stil tragen, denn der Kaiser hatte befohlen, dass auf Hofbällen russische Kleider samt Kokoschnik zu tragen waren. Maria kannte das Wort nicht und erfuhr, dass die traditionelle Haube der Russinnen so hieß. Beim Hofball mussten alle Kokoschniks die gleiche Form haben. Doch einige Damen trugen statt der Haube aus Samt und Gold eine aus Blumen. Nikolaus, der Ungehorsam nicht ertrug, ließ die Damen polizeilich verwarnen.35 Die Konversion der Prinzessin, ihre Rangerhöhung und die Verlobung mit dem Thronfolger gab Nikolaus I. noch am Verlobungstag per Manifest bekannt.36 Tags darauf nahmen die Verlobten im Alexander-Saal (ErmitageSaal 282) die Glückwünsche der Geistlichkeit, des Staatsrats, des Dirigierenden Senats, der Hofwürdenträger und der hohen Petersburger Gesellschaft entgegen, eine Prozedur, die viele Stunden dauerte. Zur Gratulation erschien auch das Diplomatische Corps, und das war wichtig, „denn von den Berichten, den Eindrücken der Vertreter aller Länder an ihre Höfe hing der Ruf der jungen Großfürstin ab“.37 Als Großfürstin bekam Marie nun einen eigenen Hofstaat, der aus einer Staatsdame, zwei Hofdamen, dem Hofmarschall und einem Stallmeister bestand. Die Kammerjungfer Amalia Utermark blieb in ihren Diensten. Über die Zeit bis zur Hochzeit schreibt sie: „Gewöhnlich kam Prinz Alexander, um den Abend mit dem Zesarewitsch und seiner Braut zu verbringen. Er spielte hervorragend Klavier, die Hofdame Grancy handarbeitete, und der Bräutigam und die Braut verbrachten die Zeit mit fröhlichen Gesprächen und Scherzen. Zur üblichen abendlichen Zusammenkunft gegen 9 Uhr musste der Zesarewitsch unbedingt bei der Kaiserin erscheinen, auch wenn die Großfürstin zu Hause blieb. Wenn sie gesund war, holte der Zesarewitsch sie ab, um mit ihr in Begleitung der Hofdame Grancy zur Kaiserin zu gehen.“38 Die Räume der Kaiserin lagen im ersten Stock des nordwestlichen Risalits des Winterpalastes. Von hier aus war die Aussicht auf die Newa, die Haseninsel mit der Peter-und-Paul-Kathe-
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drale und die Wassilij-Insel mit der Börse und der Kunstkammer noch grandioser. Zu Weihnachten erhielt die Braut vom Bräutigam ihr Lieblingsgemälde Hagar und Ismael in der Wüste von Julie Egloffstein, das er aus Darmstadt mitgebracht hatte. Sie war zu Tränen gerührt. Außerdem gab es Tische in Boullemarketerie und eine Toilettengarnitur aus Porzellan im „gotischen“ Stil, der immer noch „in“ war. Olga Nikolajewna berichtet in ihren Memoiren, dass Marie Ende Dezember an Gesichtsrose erkrankte und sie selbst an einem heftigen Husten. Zu diesem Zeitpunkt habe man erkannt, dass die Luft im Winterpalast zu trocken war, und an den Öfen Wasserbehälter aufgestellt. Alle freuten sich, dass es bald wieder in den gemütlichen Anitschkow-Palast am Newskij Prospekt gehen würde, in dem die Familie sich wohler fühlte als im Winterpalast. „Während des Großen Fastens [in den sieben Wochen vor Ostern, M.B.] zog die kaiserliche Familie für ein paar Tage in den Anitschkow-Palast“, schreibt Amalia, „in dieser Zeit wurden die Wohnräume im Winterpalast durchlüftet und gereinigt. Natürlich wurden diese Umzüge von einem großen Durcheinander begleitet: nicht alle Sachen und Kleider wurden für diese kurze Zeit mitgenommen. Aber nicht selten geschah es, dass die Großfürstin kurz vor dem Ankleiden unbedingt etwas haben wollte, was nicht aus dem Winterpalast mitgenommen worden war; also musste sofort ein Garderobier nach den verlangten Sachen geschickt werden. Es gab Tage, an denen der Garderobier und sein Gehilfe buchstäblich den ganzen Tag zwischen dem Anitschkow-Palast und dem Winterpalast hin und her fuhren, und manchmal mussten sie dabei noch in die Geschäfte oder zu einer Modistin.“39 Zur Hochzeit kamen Onkel Emil und Bruder Ludwig, der Erbgroßherzog, sowie mehrere Hohenzollern-Prinzen nach Petersburg. Marie weinte vor Rührung. Sie war so erschüttert von dem Wiedersehen mit ihren engsten Verwandten, dass ihr Gesicht sich wieder krankhaft rötete. Olga war auch ratlos, hörte aber auf die alte preußische Kammerfrau ihrer Mutter, die empfahl, eine Fuchszunge unter Maries Bett zu legen. Schon am nächsten Morgen war die Rötung verschwunden.40 Die Hochzeit fand am 28. April 1841 statt, einen Tag vor dem 23. Geburtstag des Bräutigams. Sie wurde den Petersburgern um 8 Uhr
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morgens mit fünf Kanonenschüssen aus der Festung angekündigt. Nach der Messe erfolgte um 13 Uhr zunächst das offizielle Ankleiden der Braut in Gegenwart der gesamten kaiserlichen Familie, der neuernannten Hofdamen und dreier Kammerfräulein. Das Ankleiden der Braut fand nun nicht mehr, wie früher, im Brillantsaal statt, wo die Reichsinsignien aufbewahrt wurden, sondern im eleganten neugestalteten Malachitsalon der Kaiserin (Ermitage-Saal 189), der ihre Privaträume praktisch von den Galasälen der Newa-Enfilade trennte und von dem aus traditionell der offizielle Auszug der kaiserlichen Familie in die große Palastkirche oder in einen der Paradesäle, z. B. den Thronsaal, erfolgte. Die Braut war wieder in einen weißen Sarafan gekleidet. „Marie trug zwei lange Locken, die zu beiden Seiten herabfielen; auf die Stirn wurde die kleine Krone gesetzt, ein Diadem aus Brillanten und Perlentropfen, darunter der Spitzenschleier befestigt, der über die Schultern reichte“, schreibt Olga. „Jede von uns Schwestern musste eine Nadel reichen, ihn festzustecken. Dann wurde der karmoisinrote, mit Hermelin besetzte Mantel mit einer Goldspirale an die Schultern geheftet, dieser Mantel, der so schwer war, dass fünf Kammerherrn ihn halten mussten. Mama befestigte zum Schluss einen kleinen Strauß von Myrthen und Orangeblüten unter dem Schleier. Wie groß und majestätisch Marie in ihrem Gewand wirkte, so angemessen war es ihrer schönen Gestalt und dem Ausdruck von feierlichem Ernst auf ihrem Antlitz, das doch jugendlich strahlte.“41 Amalia Utermark, die Kammerjungfer, hielt fest, dass die Kaiserin kleine Pomeranzenzweige bringen ließ, um sie zwischen den Brillanten des Diadems zu befestigen, da sie erkannt habe, „dass nicht kostbare Edelsteine an diesem Tag die unschuldige und reine Stirn der jungen Prinzessin schmücken durften“, sondern nur eine Blume, „die als Emblem der Reinheit und der Unschuld dient“.42 Zur festgesetzten Stunde begab sich die kaiserliche Familie dann aus dem Malachitsalon in einen Saal der Newa-Enfilade, „wo der gesamte Hofstaat auf sie wartete. In dem Maße, in dem sich der Zug durch die Säle vorwärts bewegte, schlossen sich die Höflinge paarweise an. In der Kirche hatten die geladenen ausländischen Gäste, die Gesandten und Vertreter ausländischer Höfe in glänzenden Hofanzügen, die Damen in reichen Paradehofkleidern ihrer Höfe, bereits ihre
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Plätze eingenommen. Auf den Chören der Säle, durch die der Zug schreiten musste, drängte sich eine Menge Publikum. Hier kam alles zusammen, was nur die Möglichkeit gehabt hatte, ein Billett zu erhalten, alle wollten die Ehre und das Glück haben, bei der heiligen Eheschließung des Erben des allrussischen Thrones anwesend zu sein.“43 Die Trauung vollzog der Obergeistliche Nikolaj W. Musowskij, der ehemalige Religionslehrer der Prinzessin Charlotte. Die Krone über dem Kopf der Braut hielt während der ganzen Zeremonie Alexander von Hessen, die Krone über dem Haupt des Bräutigams hielt Karl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach, Saschas Cousin. Nach der Trauung kehrte die Großfürstin in die Zimmer der Kaiserin zurück, um den schweren Mantel abzulegen und sich vor dem Festbankett ein wenig auszuruhen. Sie trug jetzt zusätzlich den Titel „Zesarewna“, denn zur Hochzeit seines Sohnes hatte Nikolaus I. den Artikel 101 des Familiengesetzes Pauls I. dahingehend ergänzt, dass die Frau des Zesarewitsch „Großfürstin und Zesarewna“ zu nennen sei.44 Nach der Trauung trat Nikolaus mit den Neuvermählten auf den Balkon zur Admiralitätseite. Er und der Thronfolger waren in Kosakenuniform. Eine begeisterte Menge ließ den Kaiser und das junge Paar hochleben. „Gegen drei Uhr war großes Festbankett für die drei ersten Hofrangklassen, etwa vierhundert Personen, an drei riesigen Tischen des Nikolaussaales im Winterpalais“, schreibt Olga Nikolajewna. „In der Mitte die kaiserliche Familie und die Geistlichkeit, die mit Gebet und Segen das Mahl einleitete, ehe man sich setzte. Am Tisch rechter Hand saßen die Damen, links die Herren. Man trank auf die Gesundheit der Neuvermählten, der Majestäten, der Eltern der Zarewna [sic! Gemeint ist: Zesarewna, M.B.] sowie aller treuen Untertanen, und jeder Toast wurde von Kanonenschüssen begleitet. Die ranghöchsten Herren des Hofes boten den Majestäten den Champagner dar, wir anderen Mitglieder der kaiserlichen Familie wurden von unseren Kammerherren bedient. Auf dem Chor spielte die Militärmusik, und die ersten Sängerinnen der Hofoper […] sangen, dass die Wände zitterten. Um acht Uhr war Polonaise im Sankt Georgsaal, die Papa mit Marie anführte, um neun Uhr kehrte man in die eigenen Gemächer zurück, wo die engste Familie bei den Neuvermählten speiste.“45 Nach dem Nachtmahl geleiteten Nikolaus und Alexandra das junge Paar in seine Gemächer.
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Am nächsten Morgen, Saschas Geburtstag, kam die Familie zum Gratulieren in den Räumen der Neuvermählten zusammen. Glückwünsche, Umarmungen, Küsse. Dann wurden im Paradekabinett Kaffee und Tee serviert, um 11 Uhr fand ein Gottesdienst aus Anlass des Geburtstages statt. Am 30. April stand nach weiteren Gratulationen eine Spazierfahrt in Equipagen in der Stadt an. Überall Applaus.46 Am 1. Mai folgte eine Galaaufführung des halb vergessenen Balletts Zephyr und Flora des französischen Choreographen und Tänzers Charles-Louis Didelot im Großen Steintheater, das die Zeitgenossen ermüdend und langweilig fanden, das auf Befehl des Kaisers aber aufgeführt werden musste, weil es zu seiner eigenen Hochzeit 1817 aufgeführt worden war.47 „Die Zesarewna selbst gab uns ein Billet für die Loge und drängte uns, schneller zu fahren, damit wir zum Augenblick ihres Erscheinens in der Loge nicht zu spät kommen“, schreibt Amalia. „Sobald sich die kaiserliche Familie und das junge Paar in der Loge zeigten, erhob sich das Publikum im Parterre und in den Logen, und es ertönten lauter Applaus und ein einmütiges Hurra, das einige Minuten andauerte; die kaiserliche Familie verneigte sich nach allen Seiten, dann wurde plötzlich alles still, und auf der Bühne und im Saal sangen einige Tausende Stimmen die Nationalhymne in Begleitung des Orchesters; dann begrüßte man die kaiserliche Familie noch einmal. Als alles wieder still war, hob sich der Vorhang, und die Vorstellung begann. Während der ganzen Ovation nahm die Zarenfamilie nicht Platz.“48 Auch der Petersburger Adel ehrte die Neuvermählten um die Wette mit einer Vielzahl von Bällen, Essen und anderen Festlichkeiten. Zur Hochzeit erhielt Alexander von seinem Vater den Anitschkow-Palast am Newskij Prospekt geschenkt, in dem seine Eltern zu Beginn ihrer Ehe gelebt hatten und so glücklich gewesen waren, und in dem er groß geworden war.49 „[…] Ach, Karl!“, schreibt Marie dem Bruder eine Woche nach der Trauung. „Wenn ich mit Dir spreche, kann ich irgendwie nicht glauben, dass ich nun verheiratet bin und wir dadurch noch mehr voneinander getrennt sind. Eine neue Familie, eine neue Heimat, anderer Umgang, andere Pflichten, überall ist hier etwas, was mich hier immer mehr bindet und von Euch trennt – natürlich nicht meine Liebe, son-
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dern nur mein äußeres Leben. Und dennoch bin ich unendlich glücklich mit Sascha und überzeugt, dass der Segen der lieben Mutter auf uns ruht. Möge ihn Gott der Herr über uns noch lange, lange bewahren. Besonders am Tag der Hochzeit musste ich oft an sie denken. Am Vortag haben uns der Herrscher und die Herrscherin ihren Segen gegeben; wir waren alle sehr gerührt, und die Herrscherin sagte leise, als sie mich segnete: ‚Ich segne dich im Namen deiner Mutter, die jetzt sicherlich vom Himmel herab auf dich schaut und dich segnet.‘ Ich kann Dir nicht sagen, lieber Karl, wie sehr mich dies rührte, und mir schien, dass ich sie besonders lieben muss, lieben dafür, dass sie unserer verstorbenen Mutter gedachte.“50 Kein Zweifel, Alexandra hatte sich daran erinnert, dass sie ihre Mutter, die Königin Luise, im gleichen Alter verloren hatte wie Marie ihre Mutter, die Großherzogin Wilhelmine, und dass zu ihrer Hochzeit im Juli 1817 auch nur der Vater und die Brüder nach St. Petersburg gekommen waren. Das Verhältnis der beiden Frauen war von Anfang an herzlich, Marie konnte sich keine liebevollere Schwiegermutter wünschen als die Kaiserin. Beide waren traurig, als Wassilij A. Schukowskij, ihr verehrter Lehrer, St. Petersburg im Mai verließ. Es war ihm gelungen, nach der Preußin auch die Hessin für die russische Literatur und für Land und Leute zu begeistern. Nach seiner Heirat mit Elisabeth von Reutern ließ er sich zunächst in Düsseldorf nieder, und Alexander wünschte ihm „das Familienglück, das ich jetzt mit meinem Engel Marie wertschätzen kann“.51 Die kaiserliche Familie blieb mit dem Dichter, der sich in Deutschland an die Übersetzung der Odyssee ins Russische machte, in engem Kontakt. Er konnte nicht ahnen, dass seine Tochter Alexandra einmal Hofdame der Kaiserin Maria Alexandrowna werden und ihr manche Aufregung bereiten würde. Erst nach der Maiparade (11. Mai), die Alexander kommandierte, konnte sich das junge Paar in die Flitterwochen nach Zarskoje Selo zurückziehen, wo fürs erste der Alexander-Palast für sie vorbereitet worden war.52 Es gelang ihnen jedoch nicht, sich von den Hochzeitsstrapazen zu erholen, denn der Kaiser hatte beschlossen, das junge Paar der Ersten Residenzstadt vorzustellen. Die Fahrt nach Moskau dauerte noch immer fünf Tage. Es war eine der letzten Fahrten mit der Kutsche. Am 26. Mai 1841 zogen sie feierlich ein.
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Der junge Emil Karl zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Sohn des Fürsten August und Patensohn des Prinzen Emil von Hessen und bei Rhein, der mit der hessischen Hochzeitsdelegation ins „Land des Schnees und des Polareises“ gekommen war, reiste auch mit nach Moskau und beschrieb den starken Eindruck, den die Stadt auf ihn gemacht hatte, in einem Brief an seine Mutter. „Es war angenehm, die Begeisterung des Volkes zu sehen, als der Zesarewitsch und die Zesarewna in Moskau einzogen“, schreibt Wittgenstein. „Ich sah, wie ein Mann aus dem einfachen Volke, der wünschte, sich der Kutsche zu nähern und so laut ,Hurra‘ zu schreien, dass der Thronfolger ihn auch hörte, dafür mit seinem Leben bezahlte, als er unter die Pferde der Suite fiel. Ein anderer, ein Mann ehrwürdigen Alters, der den Kaiser erblickt hatte, weinte vor Freude und schrie ,Hurra‘ aus allen Kräften. Die Frauen knieten nieder und küssten die Erde. Andere bekreuzigten sich und ungeachtet der Schläge, die die Kosaken mit der Nagaika nach rechts und links austeilten, obwohl das streng verboten war vom Kaiser, war der Druck so groß, dass ich und andere Offiziere, die zu Pferde waren, sich kaum bewegen konnten […]. Ich habe nie eine höflichere Menge gesehen; die vorne Stehenden fielen unter die Hufe unserer Pferde, weil die hinter ihnen Stehenden sie drängten, und dabei entschuldigten sie sich. Prinz Emil überritt zwei Männer; ich hätte fast einen erdrückt, aber ich schaffte es gerade noch, das Pferd zurückzuhalten, als er unter seine Hufe fiel. Man kann sich nichts Feierlicheres als den Klang der tausend Glocken vorstellen, die von den Rufen der Menge, Kanonensalven und den Tönen der Volkshymne begleitet wurden.“53 Gott schütze den Zaren! Nikolaus I. persönlich geleitete seine Schwiegertochter in die Uspenskij-Kathedrale, die Krönungskirche der Moskauer Zaren und der Petersburger Kaiser, in der auch Sascha und sie dereinst gekrönt werden würden. Vom ersten Augenblick an mochte Maria das altehrwürdige Moskau mit seinen „40 mal 40 Kirchen“ lieber als das kühle St. Petersburg mit seinen Palästen und Kasernen. Bei Alexander war es umgekehrt. Aus der Ersten Residenzstadt kehrte der Hof zunächst nach Peterhof zurück, ins „russische Versailles“ am Finnischen Meerbusen. Nach Peter dem Großen hat keiner der Petersburger Kaiser so viel für die Verschönerung Peterhofs getan wie Nikolaus I., wobei er keine Kosten
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scheute. Viele Reisende haben die unerhörte Pracht der Palastanlage mit ihren Wasserspielen beschrieben. Maria aber gefiel vor allem „Ihrer Majestät Datscha Alexandria“, ein hübsches Landhaus im englischen Stil im gleichnamigen Park, das Nikolaus Ende der 1820er Jahre als privates Refugium für seine Frau hatte bauen lassen und das die ganze Familie liebte. Es hieß „Cottage“, und im „Cottage“ fanden alle das, was keiner der großen Paläste bot, Ruhe und Gemütlichkeit, dazu einen einmaligen Blick vom Balkon auf den Finnischen Meerbusen. Alexander besaß nicht weit vom „Cottage“ ebenfalls ein Landhaus, das „Farm“ genannt wurde, weil es früher einmal ein Strohdachhäuschen war, in dem eine kleine Milchwirtschaft mit englischen Kühen betrieben wurde.54 Auch der „Farmerpalast“ gefiel Maria. In der pastoralen Idylle Alexandrias fühlte sie sich gleich wohler als in den großen Palästen der Hauptstadt. Angenehm überrascht war sie ebenso von der neogotischen Alexander-Newskij-Kapelle mit ihren vier Pyramidentürmen, die zu Beginn der 1830er Jahre nach einem Entwurf Karl Friedrich Schinkels als Hauskirche für das „Cottage“ gebaut worden war.55 Peterhof sei noch nie so belebt gewesen wie nach der Hochzeit des Zesarewitsch, schreibt Amalia Utermark. Der Grund waren die vielen noblen Gratulanten aus der Stadt, die von der kaiserlichen Familie aufmerksam empfangen und unterhalten wurden.56 Von den Missernten, die Russland in diesem Jahr heimsuchten und Nikolaus veranlassten, die ersten Getreidekäufe im Ausland zu tätigen, und von den Bauernunruhen im ganzen Land war in Peterhof nichts zu spüren, und es ist fraglich, ob die Zesarewna davon erfahren hat. Anfang August übersiedelte der Hof wieder nach Zarskoje Selo. Dort unterzeichnete Nikolaus I., der zu Manövern nach Kowno (Kaunas) und Warschau reisen wollte, ein Reskript, demzufolge er, der Autokrat (!), seinem Sohn und Nachfolger die Entscheidungsgewalt über die Fragen übertrug, die im Ministerkomitee während seiner Abwesenheit behandelt wurden.57 Damit installierte Nikolaus, der selbst nicht auf die Regierung vorbereitet worden war und seine mangelnden Kenntnisse stets bedauert hatte, faktisch nicht nur eine Art Co-Herrschaft, sondern bezog den Thronfolger, der bereits an allen Sitzungen des Staatsrates und des Ministerkomitees teilnahm und Einsicht in alle Akten seines Vaters erhielt, in die Regierungsarbeit ein. Offenbar wollte Nikolaus I.
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es besser machen als sein Bruder Alexander I., der ihn zwar früh als Nachfolger vorgesehen, ihn aber nicht auf sein Amt vorbereitet und auch nicht offiziell zum Nachfolger ernannt hatte.58 Im Oktober ging der Hof für eine Woche zur Jagd nach Gattschina, wo auch Manöver stattfanden. Bei einem Theaterabend im dortigen Arsenal erlebte Maria ihren Schwiegervater und ihren Mann zum ersten Mal als Schauspieler. In einem französischen Stück gab Nikolaus I. einen „Kwartalnyj“, also einen Polizisten, der für ein Stadtviertel (Quartal, russ.: kwartal) zuständig war, eine Rolle, die er fast 30 Jahre zuvor auch schon einmal gespielt hatte und die ihm auf den Leib geschrieben war. Alexander spielte einen Nachtwächter.59 Glaubt man Amalia Utermark, so war das Publikum entzückt von den kaiserlichen Darbietungen.60 Nikolaus I. war ein begabter Schauspieler. Gegen Jahresende verließ Maria den Gottesdienst einmal vorzeitig, weil ihr übel geworden war. Ihre Schwägerin, die Herzogin von Leuchtenberg, verstand das Zeichen auf Anhieb und rief den Hofdamen lachend zu: „Gratuliere, gratuliere, nähen Sie die Kleider um!“61 Maria war schwanger und ging nun seltener aus. Ihr Bruder und Marianne de Grancy leisteten ihr öfter „zu Hause“ Gesellschaft, und Amalia Utermark beobachtete, dass die Hofdame die Großfürstin weiter mit „Prinzessin“ anredete, während diese ihre ehemalige Gouvernante „Marianne“ nannte. Maria wusste nun schon, dass ihr Leben einem seit Jahrzehnten eingespielten Rhythmus folgen würde: Im Mai ging der Hof nach Zarskoje Selo, im Juli nach Peterhof, von da noch einmal nach Zarskoje und im Herbst nach Gattschina, um Ende November in die Stadt zurückzukehren – in diesen feuchten Riesenpalast an der Newa, der Winterpalast hieß, weil die kaiserliche Familie nur im Winter darin lebte, und der ein Labyrinth war, in dem man sich verlaufen konnte.
4 „Sie lasen zusammen alle Nachrichten“ Ein glücklicher Anfang Schöner Wohnen im Winterpalast – Sieben Räume – Flitterwochen in Zarskoje Selo – Musik in Pawlowsk – Geburt Linas (1842) – Geburt Nixas (1843) – Hochzeit und Tod Adinis (1844) – Geburt Alexanders (1845) – Alexej K. Tolstoj – Geburt Wladimirs (1847) – Kissingen – Revolutionen in Europa – Alexander von Hessen und Julia Hauke – Tod Linas (1849) – Geburt Alexejs (1850) 1842–1850
In ihrem ersten Jahr in St. Petersburg hatte Marie noch keine Zeit gefunden, sich auch nur im Winterpalast umzusehen, geschweige denn die Stadt oder gar die „Paradiese“ vor ihren Toren zu besichtigen. Allein der Palast, ihr neues Heim, war ein Reich für sich, so riesig, dass sie mit Ausnahme der Privaträume der kaiserlichen Familie, der beiden Kirchen, der drei großen Säle der Newa-Enfilade und des Alexander-Saals noch keinen anderen Raum betreten hatte. Wir können daher annehmen, dass ihre Landsleute in der fernen Heimat die Stadt und auch den Palast seit Erscheinen von Johann Georg Kohls Petersburg in Bildern und Skizzen (Dresden und Leipzig 1841) besser kannten als sie. Das Buch war ein Bestseller und begründete den Ruhm des Bremer Stadtbibliothekars als Reiseschriftsteller. Der Winterpalast war die Hauptresidenz der Petersburger Kaiser und zwei Jahrhunderte lang (bis zur Rückverlegung der Hauptstadt nach Moskau im März 1918) das politische Zentrum Russlands. In seiner wuchtigen Größe und Ausdehnung entsprach er dem Land. Der italienische Architekt Bartolomeo Francesco Rastrelli hatte den Palast, ein Musterbeispiel des Petersburger Barock, in der Mitte des 18. Jahrhunderts „nur zum allrussischen Ruhm“ für die Kaiserin Elisabeth
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Petrowna gebaut. Elisabeth starb, bevor sie einziehen konnte, und so wurde Katharina II. die erste Hausherrin. Ihr verdankt Russland die Ermitage, die sie an der Ostflanke errichten ließ, so dass die Museumsgebäude als Fortsetzung des Palastes angesehen werden können. Die Ermitage war der Museumsflügel der kaiserlichen Residenz. Im Dezember 1837 war der Winterpalast bis auf die Grundmauern abgebrannt, davon hatte Schukowskij seiner Schülerin erzählt. Er und Sascha waren just an jenem 29. Dezember, an dem der Brand begonnen hatte, von ihrer großen Russlandreise zurückgekehrt und hatten schon von ferne den Feuerschein gesehen. Der Brand dauerte 36 Stunden, eine riesige Menschenmenge hatte den Flammen schweigend zugesehen und fassungslos beobachtet, wie der Mittelpunkt des Reiches, die kaiserliche Residenz, vernichtet wurde. Doch auf Befehl Nikolaus’ I. wurde der Palast binnen Jahresfrist wieder aufgebaut. Niemand fragte, wie viele Menschenleben die Eile gekostet hatte. Und es waren viele. Maria wunderte sich, was in Russland möglich war. An die 6000 Menschen lebten um 1840 in dem riesigen Gebäude, Staats- und Hofdamen, Kammerherren und Kammerjunker, Pagen und Lakaien, Offiziere und Wachen, Sekretäre und Schreiber, Handwerker, Köche und Bäcker, Wäscherinnen und Näherinnen, mithin eine ganze Kleinstadtbevölkerung, die für das Wohl der kaiserlichen Familie, das Funktionieren des Hofes und natürlich auch für sich selbst sorgte. Eine „merkwürdige Commune“ (Kohl). Diebstahl war an der Tagesordnung, auf dem Dach wurden Geflügel und Ziegen gehalten.1 Zur Hochzeit waren Marias Räume im ersten Stock des südwest lichen Risalits gerade noch fertig geworden. Freilich war unerwartet ein Problem aufgetaucht: In den Zimmern wimmelte es von Läusen. „In den allerletzten Tagen waren eine Menge Arbeiter zur schnelleren Fertigstellung der Wohnung herbeigetrieben worden“, erklärt Amalia Utermark das Mißgeschick, „die hatten diese Insekten eingeschleppt.“2 Die neue Innenausstattung hatte Alexander P. Brjullow besorgt, der in Dresden und Italien studiert und Pompeji erforscht hatte und den Titel „Architekt Seiner Majestät“ trug. Für die Wandbespannung und die Möbelbezüge hatte Brjullow ein warmes Blau in diversen Schattierungen gewählt. Nach der Renovierung der Räume durch andere Architekten in den 1850er und 1860er Jahren dominierte ein kräftiges
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Rot die Interieurs. Auf den außergewöhnlich detailgetreuen Aquarellen des Deutschbalten Eduard Hau, des Russen Konstantin A. Uchtomskij und des Italieners Luigi Premazzi kann man gut erkennen, wie Maria fast vierzig Jahre im Winterpalast gelebt hat und wie sich ihre Räume im Laufe der Zeit veränderten. Die sieben Räume – Ankleidezimmer (Ermitage-Saal 168), Badezimmer (Saal 945), Schlafzimmer (Saal 307), Boudoir oder Kleines Kabinett (Saal 306), Himbeerfarbenes oder Großes Kabinett (Saal 305), Goldenes Gastzimmer (Saal 304) und Weißer Saal (Saal 289) – schlossen an die Räume Alexanders an, die mit den Fenstern zur Admiralität lagen. In Briefen an die Verwandten in Hessen, an Bruder Karl, aber auch an Marianne de Grancy, hat Maria einige dieser Zimmer beschrieben. „Mein Ankleidezimmer ist von seinem [Saschas, M.B.] Kabinett nur durch die Bibliothek und das Zimmer des Kammerdieners getrennt“, schreibt sie im Februar 1842 an Karl. „Der Eingang in meine Zimmer ist ganz rosa und ungewöhnlich freundlich; in der Mitte ist er durch einen Vorhang geteilt: dahinter stehen Schränke, und eine kleine Treppe führt in die Zimmer unserer künftigen Kinder, die sich genau unter meinen Zimmern befinden werden; vorn an einer Wand ein Toilettentisch, an der anderen eine Couch, ein Stuhl und ein Tisch, darüber eine Ansicht meines lieben Darmstadt, das mich jeden Morgen sozusagen begrüßt.“3 Die Wände waren mit rosa Damast bespannt, aus dem auch die Portieren, die Vorhänge und die Bezüge der Möbel gefertigt waren. Auf dem Toilettentisch stand ein kleines Waschbecken, das Prinzessin Marie aus Darmstadt mitgebracht hatte. Es hatte ihrer Mutter gehört, sie hing sehr daran.4 Nach dem Ankleidezimmer kam ein Badezimmer mit nur einem Fenster aus mattiertem Glas. „Es ist in dem wunderbaren Blau Marie Luises gestrichen mit hellem Hintergrund. Die Wanne ist aus Marmor, auf einer Seite ist ein Kamin, auf der anderen eine Couch, über der ein wunderbares kleines Gemälde der Düsseldorfer Schule hängt, das kleine Rusalken darstellt, die ein Bauernmädchen zu sich locken.“5 Der Vorhang vor der Wanne war aus blauem Tuch, ebenso der Couchbezug. Couch und Tisch stammten aus der Werkstatt des berühmten Kunsttischlers Rudolf Gambs, dessen Vater 1795 aus Karlsruhe einge-
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wandert und schnell Hoflieferant geworden war. (E. Hau, Badezimmer, Aquarell, 1850er Jahre) „Nach dem Badezimmer kommt das Schlafzimmer“, schreibt Marie weiter an Karl, „ein ziemlich großes und sehr lustiges, angenehmes Zimmer, drapiert mit hellblauer Seide; die Möbel des alten Boulle sind sehr schön; das ganze Zimmer ist im Renaissance-Stil gehalten, am Ende ist eine Tür, die in mein kleines graurosa Boudoir führt.“6 Ein paar Jahre später wird das Schlafzimmer renoviert, die hellblaue Seide an der Wand durch kornblumenblauen Damast ersetzt, mit dem auch Wände, Stühle und Sessel bezogen werden, und Maria schreibt an Marianne de Grancy, die in die Schweiz zurückgekehrt war: „Mein Schlafzimmer ist so gemütlich und luxuriös geworden; die dunkelblaue Farbe tut gut; der Teppich mit dem runden Muster, himbeerrot auf weißem Grund, ist sehr schön […]; über meinem Bett hängt der ,Engel‘ von Neff, und links, wenn Du aus dem Badezimmer kommst, eine Darstellung der Gottesmutter, die mir in diesem Sommer geschenkt wurde und die ich so liebe.“ (Luigi Premazzi, Schlafzimmer, Aquarell, 1852) Das Boudoir war ihr Lieblingszimmer. Die Wände hatte Brjullow mit weißgemustertem hellblauem Damast bespannt und auch die GambsMöbel damit bezogen. Hier las sie gern und erledigte ihre Korrespondenz, hier wartete sie auf ihren Mann, hier tranken die beiden ihren Morgen- und Nachmittagstee. Auch das Boudoir wurde noch einmal umgestaltet und dabei in Granatrot gefasst. (Eduard Hau, Boudoir, Aquarell, 1861) Dem Boudoir folgte das Große Paradekabinett oder Himbeerfarbene Kabinett, das auch Wohnzimmer war, ein großes, fast quadratisches Eckzimmer, in dem zahlreiche Bilder hingen, viele davon religiös motiviert. Auch diesen Raum hat Maria ihrem Bruder Karl beschrieben: „Die Tapeten sind rot und gelb, aber die Wände hängen voller Bilder, von denen eines die Gottesmutter mit dem Kind darstellt, das von einem hiesigen, sehr guten Künstler [gemeint ist der Deutschbalte Carl Timoleon von Neff, M.B.] gemalt wurde, ein anderes den Besuch der heiligen Maria bei der heiligen Elisabeth eines italienischen Künstlers, das dritte wirst Du kennen: Das sind Agar und Ismail in der Wüste von Gräfin Egloffstein; es war auf der Gemäldeausstellung in Darm-
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stadt. In der Ecke zwischen dem ersten und dem zweiten Gemälde steht ein reizender kleiner Engelskopf aus weißem Marmor, den Sascha aus Italien mitgebracht hat. Zwischen zwei Fenstern, die eine Ecke bilden, steht eine Marmorstatue, die von Blumen und einem Schirm aus Efeu umgeben ist, dann ein großer Schreibtisch mit Euren Bildern […] In diesem Zimmer speisen wir gewöhnlich, wenn wir zu dritt sind […].“7 Zu dritt, das heißt: ihr Mann, ihr Bruder und sie. (K.A. Uchtomskij, Himbeerfarbenes Kabinett, Aquarell, 1840er Jahre; E. Hau, Himbeerfarbenes Kabinett, Aquarell, 1840er Jahre) Auch dieser Raum wurde zu Beginn der 1860 er Jahre noch einmal umgestaltet. Auf einem Aquarell Premazzis, dessen Arbeiten Maria ganz besonders schätzte, kann man gut erkennen, welche Bilder aus der Ermitage nach der Renovierung hier hingen, u. a. Raffaels Madonna Alba, Leonardo da Vincis Madonna Litta und Ruisdaels Sumpf. (L. Premazzi, Himbeerfarbenes Kabinett, Aquarell, 1869) Der sechste Raum, der nach dem Vorbild der Gemächer im Moskauer Kreml gestaltet war, hieß Goldenes Gastzimmer oder Goldener Salon, weil Wände, Türen, Gewölbe und selbst die Möbel reich mit Gold verziert waren. Maria meinte, er gleiche dem Thronsaal der bayerischen Könige, und fand ihn großartig, „wenn hier die Sonne scheint“.8 Die ursprünglich himbeerfarben bezogenen Möbel – 6 Sofas, 18 Sessel und 20 Stühle – wurden im Laufe der Renovierung blau bezogen und gefielen ihr ebenso gut. Im Goldenen Salon wurde im kleinen Kreis gespeist und hin und wieder getanzt, hier gab Maria auch Audienzen, und Heiligabend fand hier die Bescherung statt. Der siebte und letzte Raum der Zimmerflucht war der Weiße Saal, der größte Saal des südwestlichen Risalits, bei dessen Gestaltung Brjullow sich Formen der altrömischen Baukunst zum Vorbild genommen hatte. Antike Motive kennzeichnen auch den plastischen Dekor, über Türen und Fenstern sind olympische Götter dargestellt. Zu Marias Zeiten standen riesige Kristallkandelaber in den Ecken und kleine rote Samtsofas ohne Lehne an den Wänden. Die weißen Marmorstatuen an den Wänden hatte Alexander Nikolajewitsch während seiner Europareise 1838/39 in Italien bestellt. Nur noch drei davon sind auf Premazzis Aquarell aus dem Jahre 1865 zu sehen. Im Weißen Saal fanden Empfänge, Bälle und Hofzeremonien statt.
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Jeder Raum hatte eine praktische Funktion. Nur ein Speisezimmer fehlte. Und da Maria ein eigenes Speisezimmer in ihrer „Hälfte“ vermisste, ließ Nikolaus ihr im Sommer und Herbst 1850 eines in das kleine Treppenhaus zwischen Goldenem Salon und Weißem Saal einbauen, wo es keine Fenster und viele Türen gab. Deshalb erhielt das sog. „Grüne Speisezimmer“ eine Fensteröffnung in der Decke, und alle waren mit dem Oberlicht zufrieden.* Drei große Spiegel über dem Kamin an der Nordwand ließen das Zimmer größer erscheinen, als es war. Die Möbelgarnitur bestand aus einem Ausziehtisch und 24 Stühlen, die dominierenden Farben waren weiß und grün. „Das Speisezimmer ist auch sehr gut gelungen“, schreibt Maria im Dezember 1850 an Marianne de Grancy, „es ist originell, im Stil Ludwigs XV., mit sehr reichen Ornamenten, aber ohne jede Vergoldung, es ist sehr schön bei künstlicher Beleuchtung und bei Tage gar nicht dunkel.“9 Aus den meisten Räumen im südwestlichen Risalit sah Maria auf die Admiralität und den Alexander-Garten, aus dem Weißen Saal sah sie auf den Palastplatz, auf dem der Kaiser jeden Morgen die Wachtparade abnahm. Auf der anderen Seite des großen Platzes erblickte sie das klassizistische Generalstabsgebäude mit seinem Triumphbogen und der Quadrilla, damals das größte Verwaltungs gebäude Europas, in dem auch das Außen- und das Finanzministerium untergebracht waren. Links daneben wusste sie das Gebäude des Generalstabs der Garde, das den Platz nach Osten hin abschloss. Die Kaiserliche Ermitage an der Ostseite des Winterpalastes konnte sie aus ihren Fenstern nicht sehen. Sie musste schon einige Minuten durch eine Reihe von Sälen laufen, um in das berühmte Museum zu gelangen. Hinter der Kleinen Ermitage entdeckte sie eine große Baustelle, die aus dem Südpavillon gut zu beobachten war. Hier sollte ein neues Museumsgebäude entstehen, das Leo von Klenze, der Münchner Hofarchitekt, für Nikolaus I. entworfen hatte und das auf Wunsch des Kaisers „trockenen Fußes“ aus dem Winterpalast erreichbar sein sollte: die Neue Ermitage, Russlands erstes öffent liches Museum.10 * Das Grüne Speisezimmer existiert nur noch auf Premaziis Aquarell. Man kann es nicht mehr besichtigen, da es als Dienstraum genutzt wird.
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Maria beobachtete all das mit einigem Interesse, soweit sie Zeit hatte, und viel Zeit hatte sie nicht. Denn längst hatte sich ihr ruhiges stilles Leben in eine ununterbrochene Abfolge von Audienzen, Vorstellungen, Kurtagen, Visiten, Bällen, Konzerten, Theateraufführungen und eine Unmenge familiärer, staatlicher und kirchlicher Feier- und Trauertage verwandelt, die ihre Anwesenheit und somit mehrfaches Umkleiden am Tag erforderten. Und das Petersburger Protokoll und die Hofetikette galten in Europa als ausgesprochen streng. Dem fühlte sie sich nicht gewachsen, das Ganze erdrückte sie geradezu. Sie weinte viel, besonders nachts, wenn sie allein war. Hingegen entwickelte sich ihre Ehe bestens, und ihre erste Schwangerschaft nahm einen guten Verlauf. Mascha und Sascha verstanden sich blendend, wie Olga Nikolajewna schreibt: „Ihre Neigung für Sascha war fast eine mütterliche, eher ängstlich und von beschützender Art, Saschas Liebe aber zutraulich, fast wie die eines Kindes. Er beichtete ihr seine kleinen Streiche, seine Liebeleien – Geständnisse, die sie mit Nachsicht hinnahm, ohne sich deshalb zu betrüben. Die Bande, die sie einten, waren ernster als jene, die nur die Sinne fesseln. Ihre Zukunftssorgen galten den Kindern, die sie haben würden, deren Erziehung, den Fragen des Staates, Reformen, deren er bedurfte, und der Politik mit anderen Ländern. Sie lasen zusammen alle Nachrichten, die einliefen, vom In- und Ausland. Ihr Einfluss auf ihn war von der glücklichen Art, die ohne Lärm, ohne Aufsehen Kraft spendet und immer zur Verfügung ist, wenn man seiner bedarf. Sascha brachte ihr alle Liebenswürdigkeit seines Wesens entgegen, all sein Bedürfnis, gefällig zu sein. Und wie steigerte sich noch seine Beliebtheit durch sie! Sie besaßen zwei Eigenschaften, die selten sind bei Herrschern: vollkommen unpersönlich und doch menschlich zu sein.“11 Den Sommer 1842 verbrachte das junge Paar zum ersten Mal in Zarskoje Selo, das in der russischen Kultur- und Literaturgeschichte einen besonderen Platz einnimmt. Schließlich haben hier gleich drei große Architekten, die Italiener Rastrelli und Quarenghi sowie der Schotte Charles Cameron, jenes grandiose Schlossparkensemble geschaffen, das die Zeitgenossen zutiefst beeindruckte und die Nachwelt bis heute begeistert, gar nicht zu reden von den großen Dichtern, die sich von diesem Ort inspirieren ließen.
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Alexander liebte das stille, gemütliche Zarskoje Selo und das nahe gelegene Pawlowsk, wo er als Kind so häufig bei seiner Großmutter Maria Fjodorowna zu Besuch war, mehr als das offiziös-pompöse Peterhof, das sein Vater bevorzugte. In Zarskoje, wo die kaiserliche Familie halbwegs privat weilte und nur ausgewählte Angehörige des Hochadels Sommerhäuser unterhalten durften, fühlte er sich Zeit seines Lebens erklärtermaßen zu Hause. Hier war die Luft trocken, während sie in Peterhof immer feucht war. Dort legte sich auch schon mal Schimmel auf die Möbel, und Frösche verirrten sich in die ebenerdigen Räume des Großen Palastes. Davor war man in Zarskoje sicher. Maria teilte die Liebe ihres Mannes zu dieser Residenz, ihrer ersten Petersburger Station im September 1840. Nie würde sie den Empfang durch den Kaiser und die Kaiserin vergessen. Und so verbrachten Sascha und Mascha in Zarskoje Selo die schönste Zeit ihres gemeinsamen Lebens. Der dortige Große Palast, der auf Katharina I. zurückgeht und deshalb auch Großer Katharinenpalast genannt wird, war erst in den 1750er Jahren von B.F. Rastrelli erweitert und fertiggestellt worden. Hier hatte der Italiener auf Befehl der Kaiserin Elisabeth Petrowna 1755 das Bernsteinkabinett einbauen lassen, das Friedrich Wilhelm I. von Preußen ihrem Vater zu Beginn des 18. Jahrhunderts geschenkt hatte. Als Gegengeschenk hatte der König bekanntlich 248 hochgewachsene Russen für seine Leibgarde, die sog. „Langen Kerls“, erhalten. Davon hatte Marie in Darmstadt gehört. Nun sah sie das „achte Weltwunder“, das – erheblich vergrößert – zu ihrer Zeit längst Bernsteinzimmer hieß, zum ersten Mal mit eigenen Augen, und dieses Wunder lag nur ein paar Säle von ihren Gemächern im Subow-Flügel entfernt! Der Subow-Flügel, ein klassizistischer „Anbau“ des Palastes, den Jurij Felten, der Petersburger Deutsche, für die Favoriten Katharinas II. errichtet hatte, war nach Platon Subow, ihrem letzten Liebhaber, benannt. (Luigi Premazzi, Subow-Flügel, Aquarell, 1855) Alexanders Räume lagen im Erdgeschoss, in dem einst die Liebhaber seiner Urgroßmutter gelebt hatten. Die Gemächer im ersten Stock, die Maria bewohnte, hatten Charles Cameron und Giacomo Quarenghi in den 1770er Jahren für Katharina entworfen und eingerichtet. Die erlesenen Interieurs gefielen der jungen Frau, sie ließ nichts ändern, viel-
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leicht auch, weil sie das Gefühl hatte, dass Katharina immer noch gegenwärtig war und jeden Augenblick ihre Räume betreten konnte. Eduard Hau und Luigi Premazzi, denen wir die Ansichten aus dem Winterpalast verdanken, waren in den 1850er und 1860er Jahren auch in Zarskoje Selo tätig. Auf ihren Aquarellen haben auch die Interieurs des Katharinenpalastes die Zeiten überdauert. Marias Räume begannen mit dem Chinesischen Zimmer, dem größten Raum ihres luxuriösen „Appartements“. Die blauen Möbelbezüge hatten chinesische Muster, auf den Tischen längs der Wände standen chinesische Tassen und Zierfiguren, und das Parkett bestand aus wertvollen Hölzern mit Perlmuttverkleidung. (Eduard Hau, Das Chinesische Zimmer im Grossen Palast von Zarskoje Selo, Aquarell, um 1850) Prominente Petersburg-Besucher und Diplomaten haben das Zimmer erwähnt und beschrieben, weil es auch als Speisezimmer genutzt wurde. Die Gäste mussten sich allerdings vorsichtig bewegen, denn das Parkett war so glatt, dass man leicht ausrutschte.12 Dann folgte ein Kabinett mit zwei großen Fenstern und einem rie sigen Spiegel ihnen gegenüber, der die halbe Wand einnahm. Davor stand ein Diwan, der wie alle Möbel hier mit hellblauem Kattun bespannt war, daneben ein Tischchen mit Büchern und Lampe. In diesem Raum wurden 1917 Zeichnungen von Alexander II. gefunden, die ihn als guten Zeichner ausweisen. Am liebsten zeichnete er Uniformen, russische und ausländische. Dann folgte ein Durchgangszimmer, ebenfalls mit zwei großen Fenstern und einem großen Doppelbett, das Katharinas Schlafzimmer gewesen war. Von hier führte eine Treppe ins Erdgeschoss in die Räume Alexanders und in den zweiten Stock, in dem die Räume des Personals lagen. Marias Lieblingszimmer im Katharinenpalast war das sog. Spiegelkabinett, das auf Katharinas Schlafzimmer folgte. Auf einem Aquarell von Eduard Hau sieht man Mascha und Sascha dort beisammen sitzen, er liest Zeitung, sie handarbeitet. Die Szene atmet Vertrautheit, Ruhe und Ausgeglichenheit. (E. Hau, Spiegelkabinett, Aquarell, 1860er Jahre) Wenn sie allein mit ihrem Mann war oder Alex und Marianne de Grancy sie besuchten, wurde der Tee im ehemaligen Schlafzimmer Katharinas serviert, das auch als Speisezimmer diente. Im Herbst ließ Alexander einen Apfelbaum im Kübel in diesen Raum stellen, damit
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seine Frau die Äpfel bequem selbst pflücken konnte. Im Frühling standen hier Körbe mit Erdbeeren und anderen Früchten.13 Maria merkte schnell, dass immer mehr Arbeit auf ihren Mann zukam und er immer häufiger nach Petersburg fahren musste, zumal dann, wenn der Kaiser monatelang verreist war und er ihn vertreten musste. So überwachte Alexander z. B. den Bau der Neuen Ermitage und den Bau der Eisenbahn nach Moskau. Zum Glück hatte schon 1838 die Zarskoselsker Bahn, Russlands erste Eisenbahnlinie, den Betrieb zwischen der Hauptstadt und den Vorstädten Zarskoje Selo und Pawlowsk aufgenommen, so dass Alexander den Zug nehmen konnte. Er verließ Zarskoje Selo um 10 Uhr und kehrte gegen 19 Uhr müde zurück. In seiner Abwesenheit machte Maria lange Spaziergänge im Alexander-Park. Auch Alexander selbst streifte gern durch den Park, nur begleitet von seinem Hund Milord, oft gefolgt von einer großen Kinderschar. Er liebte Kinder. An schönen Sommerabenden fuhr man in englischen Equipagen, die der Kaiser und der Thronfolger selbst lenkten, „zur Musik“ hinüber nach Pawlowsk, der Endstation der Zarskoselsker Bahn. Im dortigen Bahnhofsrestaurant spielten seit ein paar Jahren österreichische Orchester auf, in späteren Jahren sollte Johann Strauß hier mit seiner Kapelle Triumphe feiern.14 Im Herbst ging man ins Zarskoselsker Theater. Maria ging es weiter gut, jedenfalls berichtet Amalia Utermark nichts Gegenteiliges. In diesem Sommer musste sie nur ihre Teilnahme an allen Hofzeremonien, Essen und Bällen absagen, was sie natürlich gern tat. Stattdessen lief sie lieber durch den Park. Selbst schlechtes Wetter hielt sie nicht davon ab. Ihre Beine seien dann „infolge ihres Zustandes“ so geschwollen gewesen, dass ihr viel größere Stiefel und Galoschen bestellt werden mussten, schreibt Amalia vorwurfsvoll. Manchmal war der seidene Rock, den sie getragen hatte, nach ihrer Rückkehr nicht mehr zu gebrauchen, und die Galoschen waren auch hin. Sie taugten nur für einen einzigen Spaziergang.15 Wir können also annehmen, dass die erste Schwangerschaft unproblematisch verlief. Die Entbindung wurde für Anfang August erwartet. „Endlich kam der Tag der Geburt“, notiert Amalia. „Der Herrscher Nikolaus Pawlowitsch war vom Morgen an bei der Großfürstin, später
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kam auch die Kaiserin. Als der Geburtshelfer mit Sicherheit sagen konnte, dass die Geburt bevorsteht, ging der Herrscher in Katharinas Schlafzimmer, wo auf dem Tisch eine Ikone und ein wärmendes Lämpchen standen; hier betete Nikolaus Pawlowitsch auf den Knien innig für eine glückliche Geburt.“16 Es wurde eine glückliche Geburt. Am 30. August 1842 brachte Maria in Zarskoje Selo eine Tochter zur Welt, die zu Ehren der Großmutter Alexandra genannt und „Lina“ gerufen wurde. Am neunten Tag nach der Geburt stand die junge Mutter auf und erhielt ein Geschenk von ihrem Mann: einen grauen Kapuzenmantel aus Kaschmir mit blauem Seidenfutter und ein Häubchen mit blauen Bändern. Als sie vollkommen angekleidet war, trat er ein, umarmte und küsste sie und führte sie in ihr Kabinett, wo sie die Großfürsten und Großfürstinnen empfing, die gratulieren wollten. Danach legte sie sich wieder hin. Sie wollte das Kind selbst stillen, doch der Kaiser widersetzte sich diesem Wunsch.17 Die Taufe fand in der Zarskoselsker Kirche statt. „Zur festgelegten Stunde kam die Staatsdame Gräfin Saltykowa, um das Kind zu holen. Sie trug ein russisches Kleid, einen Kokoschnik, der mit Brillanten besetzt und von einem Schleier bedeckt war; in den Händen hielt sie ein Brokatkissen, auf das die Neugeborene gelegt wurde, dann deckte man sie mit einer Brokatdecke zu, die an Schultern und Brust der Gräfin befestigt war. […] Aus der Kirche brachte die Staatsdame Gräfin Saltykowa das Kind der Großfürstin zurück.“18 Schon Anfang 1843 war Maria erneut schwanger und froh, als es in den ersten Maitagen nach Zarskoje ging. Am 20. September 1843, an Mariä Geburt, brachte sie in Zarskoje Selo ihr zweites Kind zur Welt, einen Sohn, den sie zu Ehren des Großvaters Nikolaus nannten und „Nixa“ riefen. Alexandra Fjodorowna, die glückliche Großmutter, die sich noch im Alexander-Palast aufhielt, hat in ihrem Tagebuch festgehalten, wie sie die Geburt erlebte: „Um 1.30 Uhr nachts weckte man mich und reichte mir eine Nachricht von Sascha, in der er mich bat, sofort zu kommen, weil die Wehen einsetzen. Ich sprang sofort aus dem Bett, zog mich schnell an und fuhr in den Palast, wo ich Marie im Bett vorfand; die Wehen hatten bereits begonnen, waren aber noch ziemlich schwach. Das Fruchtwasser ging 11.45 Uhr ab, und dann gab es die ersten sicheren Zeichen, dass die Geburt begann. Sie ertrug
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geduldig die Schmerzen, doch alles verlief vorzüglich, die Wehen verstärkten sich. […] Ich hielt den Kopf der Leidenden, als nach sehr großer und langer Anstrengung das Kind geboren wurde; es schrie sofort. ‚Es ist ein Sohn! Es ist ein Sohn‘, flüsterten wir, um mit dieser plötzlichen Freude die Niedergekommene nicht allzu sehr aufzuregen und ihr zu schaden. Sascha und sie konnten dieses Glück kaum fassen. Oh, was für ein Segen Gottes! In diesem Augenblick spürten wir gleichsam Seine Nähe zu uns. Sascha küsste seine Frau, ich kniete neben dem Bett und küsste die Hand unserer lieben jungen, glücklichen Mutter. Wir alle umarmten uns. Unsere Freude lässt sich nicht beschreiben. […] Uns betrübte nur, dass Niks [der Kaiser, M.B.] nicht da war. ,Oh, pour quoi Papa n’est-il pas ici!‘, sagten wir.* […] Nikolai Alexandrowitsch ist ein gesundes Kind, mit rundem rosigen Gesicht. Um 4.30 Uhr morgens, eine Stunde nach der Geburt, wurde ein kurzer Gottesdienst am Bett der Mutter abgehalten. Ich legte mich erst um 6 Uhr schlafen, sehr ermüdet, aber sehr glücklich.“19 St. Petersburg erfuhr durch 301 Kanonenschüsse aus der Festung von der Geburt des kleinen Großfürsten, der seinem Großvater und Vater einmal nachfolgen würde. Schon am Morgen hatte der Kaiser, der in Warschau weilte, die Geburt des Enkels per Manifest bekannt gegeben und ihn zum Chef des Grodnoer Husarenregiments der Garde ernannt: „Wir, von Gottes Gnaden Nikolaus I., Kaiser und Allrussischer Selbstherrscher usw. usw., verkünden all unseren treuen Untertanen. Am 8. Tag dieses Septembers hat Unsere geliebte Schwiegertochter, die Zesarewna und Großfürstin, Gattin Unseres geliebten Sohnes, des Thronfolgers und Zesarewitsch, Uns einen Enkel geboren und Ihren kaiserlichen Hoheiten einen Sohn, der Nikolaus genannt wurde. Diesen Zuwachs Unseres Kaiserlichen Hauses nehmen wir als neues Zeichen des Wohlwollens des Allerhöchsten für Uns und Unser Imperium, und indem Wir Unseren treuen Untertanen davon Kennntnis geben, bleiben Wir überzeugt, dass sie mit Uns inbrünstig für das glückliche Heranwachsen und Fortkommen des Neugeborenen zu Gott beten werden […].“20 Am 21. September um 10 Uhr fand in allen Kirchen der Hauptstadt ein Dankgottesdienst statt, und den ganzen Tag hing ein * Oh, warum ist Papa nicht hier!“
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Glockenklang über der Stadt. Am Abend war die Hauptstadt illuminiert. Nach seiner Rückkehr ließ Nikolaus seine drei jüngeren Söhne, den 15-jährigen Konstantin, den 12-jährigen Michael und den 10-jährigen Nikolaus an der Wiege des Kindes knien und dem künftigen Kaiser die Treue schwören.21 Maria erholte sich gut, betreut von der ganzen Familie. „Sehr liebten wir die friedliche Zeit, da die junge Mutter sechs Wochen ganz zurückgezogen lebte“, schreibt Olga Nikolajewna, die Schwägerin. „Wie behaglich war es in dem Zimmer, das für die Außenwelt gut verschlossen, von Vorhängen halb verdunkelt war, darin das junge mütterliche Wesen, geschwächt noch, aber strahlend vor Glück, mit ihrem Kind im Arm. Wie innig, wie vertraut waren die Gespräche, die wir dort führten, wie zeigte sich die Liebe, die uns Geschwister mit den Eltern zu einem Herzen, einer Seele machte, in ihrem holdesten Schein.“22 Am 10. Oktober 1843 wurde Nikolaus Alexandrowitsch in der Kirche des Großen Palastes von Zarskoje Selo getauft. Die Taufe nahm der Petersburger Metropolit Serafim vor. Die anwesenden Damen trugen russische Kleider, die Herren waren in Paradeuniform erschienen. Während der Taufe erhielt der Junge die vier höchsten Orden des Reiches, und die glücklichen Eltern spendeten je 10 000 Rubel, zum einen für Schuldner zum Aufkauf von Schuldscheinen, zum anderen für die Armen der beiden Hauptstädte.23 Im Spätherbst brachen die jungen Eltern zu einer längeren Reise an die verwandten Höfe in Berlin, Weimar und Darmstadt auf. Alexander liebte insbesondere seinen Onkel Wilhelm, den Prinzen von Preußen und späteren ersten deutschen Kaiser, der mit seiner Kusine Augusta von Sachsen-Weimar-Eisenach verheiratet war und immer gern nach St. Petersburg kam. Im Dezember 1843 wurden Alexander und Maria in Darmstadt gefeiert. Triumphbogen auf dem (heutigen) Mathildenplatz, Aufmarsch der Zünfte und Korporationen, Militärmusik.24 Aus Anlass des hohen Besuchs wurde die Birnengartenstraße im Martinsviertel in Alexanderstraße umbenannt. Während das Thronfolgerpaar unterwegs war, setzte der Kaiser Adinis Verlobung mit Friedrich Wilhelm von Hessen-Kassel auf den 26. Dezember 1843 a.St. fest. Fritz Hessen, wie er in Petersburg genannt wurde, Generalmajor in der Kurfürstlich Hessischen Armee
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mit Aussichten auf den dänischen Thron oder die Kurwürde, schien ein angemessener Bräutigam für die jüngste Tochter des Kaisers von Russland zu sein. Olga Nikolajewna fand den Bräutigam ihrer Schwester allerdings „unbedeutend und ohne Haltung neben seiner entzückenden Braut“.25 Die beiden strahlten vor Glück, nur der Kaiser lächelte den ganzen Tag nicht ein einziges Mal.26 Wir können annehmen, dass auch dieser Vater sich nur schwer von seiner Tochter trennen konnte, die ihrem Mann nach Deutschland folgen würde. Adini hustete verdächtig viel, aber die Ärzte achteten nicht darauf. Am 28. Januar 1844 fand die Hochzeit statt. Adini wurde im Beisein ihrer Familie im Malachitsaal angekleidet, worauf die Eltern sie unter Tränen segneten. Dabei fiel auf, dass ihr großer Bruder „besonders viel“ weinte.27 „Ich bin gerade vom Hochzeitsbankett unserer lieben Adini zurückgekommen“, schreibt Sascha seiner Frau, die noch in Darmstadt weilte, am Abend. „Du kannst Dir vorstellen, meine liebe Seele Musi, wie sehr mich dies an unsere Hochzeit vor nun bald drei Jahren erinnerte. Ich kann jedenfalls bezeugen, dass die ganze Familie an die liebe Abwesende gedacht hat. Aber ich werde alles der Reihe nach erzählen. Nach dem Aufstehen um 8.30 Uhr ging ich wie üblich spazieren – bei mehr als 12° Frost. Nach dem Frühstück mit Lina ging ich nach oben zur Berichterstattung von Tschernyschew [Kriegsminister, M.B.], dann gingen wir hinunter zum Kaffee zu Mama; und das erinnerte mich daran, wie Papa mich am Morgen nach unserer Hochzeit mit Gewalt herbeiholte und Du, mein Engel, weggelaufen bist. Vor 11 Uhr gingen wir zur Messe in die kleine Kirche, um 12.30 Uhr begann die feierliche Ankleidung Adinis in Anwesenheit aller Staatsdamen, und erst nach 1 Uhr begann der große Aufzug. Alles verlief wie üblich, das heißt zuerst die Trauung, dann die Gebete und schließlich die Eheschließung nach lutheranischem Brauch […] Das alles endete erst gegen drei Uhr. Adini war wunderschön; ich betete innig zu Gott für sie, dass Er ihnen ebensolches Glück wie uns schenken möge. Nicht wahr, mein lieber Engel, wir können ihnen dies wünschen; wenn wir zu Gott beten und ihm aus tiefstem Herzen für alle Segnungen danken, mit denen er uns bedacht hat. Mitternacht. Es war bereits gegen halb eins, als Papa und Mama, nachdem sie Adini zu Bett gebracht und gesehen hatten, dass ihr Ehe-
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mann zu ihr gegangen ist, zu mir kamen, um unsre Kleinen zu sehen, die friedlich da schlafen, wo unser großes Bett stand, und wir alle erinnerten uns unwillkürlich an unsere erste Nacht, an Deine lange Toilette, wie ich lange mit Papa in der Bibliothek gewartet hatte, in meinem silbernen Morgenrock. Ich bin gerade Schlitten gefahren, um etwas frische Luft zu schnappen; es sind 16° Frost – und ich schreibe wieder an Dich, mein Engel […].“28 Zwei Wochen später fand noch eine deutsch-russische Fürstenhochzeit in St. Petersburg statt: Elisabeth Michajlowna, die zweitälteste Tochter des Großfürsten Michael Pawlowitsch und der Großfürstin Jelena Pawlowna, also eine Kusine des Thronfolgerpaares, geboren 1824 im Moskauer Kreml, heiratete Herzog Adolf von Nassau und zog bald mit ihm nach Biebrich, in die Residenz der Nassauschen Herzöge. Es schien eine glückliche Ehe zu werden. Aus Anlass der beiden Hochzeiten wurde im Michael-Palast die Oper Oberon von Carl Maria von Weber aufgeführt. Es war die russische Erstaufführung. Doch in beiden Fällen währte das Glück nicht lange. Adini war an Tuberkulose erkrankt, ohne dass die Ärzte es gemerkt hatten, und starb Anfang August 1844 nach einer Frühgeburt im Kabinett ihrer Mutter im Alexander-Palast in Zarskoje Selo. Sie war gerade 19 Jahre alt geworden, ihr Sohn lebte nur ein paar Stunden. Der Kummer der Eltern und Geschwister war unbeschreiblich. Adini wurde in der Großfürsten kapelle der Peter-und-Paul-Kathedrale beigesetzt, ihr Sohn nach Rumpenheim übergeführt. Zur Erinnerung an sie ließ ihr Vater in Zarskoje Selo von dem italienischstämmigen Architekten Iwan P. Vitali eine Kapelle errichten und darin eine Statue Adinis mit ihrem Kind im Arm aufstellen. Ende Januar 1845, fast auf den Tag genau ein Jahr nach ihrer Hochzeit, starb auch Elisabeth von Nassau, noch nicht 19-jährig, in Wiesbaden im Kindbett. Auch ihre Tochter überlebte nicht. Die russische orthodoxe Elisabethkirche auf dem Neroberg in der heutigen hessischen Landeshauptstadt, die der untröstliche Adolf errichten ließ, ist nach ihr benannt. Der Hof trug noch Trauer, als am 26. Febr./10. März 1845 Alexander („Saschka“) geboren wurde, den sie in der Familie später auch „kleine Bulldogge“ riefen, der künftige Kaiser Alexander III. Nach dem Tod der beiden Großfürstinnen war die Geburt des Kleinen ein Lichtblick für
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die Familie. Tags darauf fand in der Großen Kirche des Winterpalastes in Anwesenheit aller Mitglieder der kaiserlichen Familie ein Dankgottesdienst statt, während der Moskauer Metropolit Filaret das entsprechende Manifest im Altarraum der Uspenskij-Kathedrale verlas und alle Kirchenglocken der Ersten Residenzstadt den ganzen Tag läuten ließ. Maria war nun 21 Jahre alt und hatte drei Kinder, die sie in den ersten Jahren selbst erzog. Viele Zeitgenossen berichten, dass die Zesarewna einen großen Teil ihrer Zeit im Kinderzimmer verbrachte und sich selbst um jede Kleinigkeit der Kinderpflege kümmerte, während Alexander sich darauf beschränkte, mehrmals am Tag vorbeizuschauen. Die Kinder spielten für beide die Hauptrolle. Wenn er außerhalb der Hauptstadt zu tun hatte, schrieb er seiner Frau täglich, und seine Briefe waren durchdrungen von Zärtlichkeit und Liebe. In jedem Brief war von den Kindern die Rede, die Alexander die „lieben Krümel“ oder „Kohlköpfe“ nennt. Jeden Morgen brachten die Ammen die Kleinen zu Großvater und Großmutter, „An-Papa“ und „An-Mama“, damit sie ihnen einen guten Tag wünschten. Nikolaus I., der harte Mann, den so viele fürchteten, ließ es sich nicht nehmen, die Enkelchen gelegentlich höchstselbst zu füttern. Die Literaturhistoriker haben häufig hervorgehoben, dass just in der Regierungszeit Nikolaus I., des „Gendarmen Europas“, der Russland zum Polizeistaat machte, die russische Literatur eine Blüte sondergleichen erlebte. Nach Puschkins Tod 1837 und Lermontows Tod 1841 – beide starben nach einem Duell – tauchten neue Sterne am Literaturhimmel auf: Gogol, Tjuttschew, Dostojewskij, Turgenjew u. a. Der weniger bekannte Lyriker und Dramatiker Alexej K. Tolstoj, einer der privilegierten Spielkameraden Alexanders aus Kindertagen, mit dem er die Leidenschaft für die Bärenjagd teilte, war nach mehrjähriger Tätigkeit an der russischen Mission beim Bundestag in Frankfurt am Main seit Anfang 1841 in der Zweiten Abteilung der Eigenen Kanzlei Seiner Majestät angestellt und hatte in diesem Jahr die phantastische Novelle Der Vampir veröffentlicht, eine der frühesten Vampir-Erzählungen der russischen Literatur. Seine lyrischen Gedichte wurden zunächst nicht veröffentlicht, aber er las sie in den Literaturzirkeln der Hauptstadt und konnte so seinen Ruf als Schriftsteller festigen. Nachdem Nikolaus I. ihn 1843 zum Kammerjunker ernannt
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hatte, tat er Dienst bei Hofe und nahm bei der Thronfolgerin bald die Stelle ein, die Wassilij A. Schukowskij bei Charlotte von Preußen und bis zu seiner Heirat 1841 auch bei Marie von Hessen und bei Rhein eingenommen hatte. Und Wassilij Andrejewitsch hatte gute „Vorarbeit“ geleistet. Marias Interesse an russischer Literatur und Geschichte war geweckt, und in Alexej Tolstoj fand sie einen ergebenen Freund. In der Nacht vom 9./21. auf den 10./22. April 1847 wurden viele Petersburger von Kanonenschüssen geweckt. Die Menschen nahmen an, der Eisgang auf der Newa habe begonnen. Doch das Eis stand noch. „Die Sache war die, dass Gott dem Thronfolger einen dritten Sohn gegeben hatte“, notiert Baron Korf, der bekannte Chronist. „Die Zesarewna wünschte, in Zarskoje Selo zu entbinden, um dort den Frühling zu begrüßen, deshalb waren schon am 9. alle Sachen dorthin geschafft worden, und am 10. [a.St. – M.B.] wollte sie selbst mit der ganzen Familie dorthin umziehen, als plötzlich in der Nacht der Neugeborene erschien.“29 Er wurde Wladimir genannt und in der Familie „Dicker“ gerufen. Der künftige Präsident der Akademie der Künste (1896) und Mäzen, ein Bonvivant und Feinschmecker, sammelte Gemälde und ausgefallene Rezepte. Nach Wladimirs Geburt reisten Alexander und Maria zum ersten Mal nach Kissingen. Sie nahmen nur Lina mit, ihre Brüder waren noch zu klein für eine solche Reise. Natürlich wurde Olga Nikolajewna in Stuttgart besucht, und auf der Rückreise machten sie in Altenburg halt, um Prinzessin Alexandra von Sachsen-Altenburg abzuholen, die jüngste Tochter des Herzogs Joseph, mit der Konstantin Nikolajewitsch sich kurz nach Wladimirs Geburt verlobt hatte.30 Auf Wunsch des Kaisers sollte die sechzehnjährige Prinzessin, die alle „Sunny“ riefen, schon ein Jahr vor der geplanten Hochzeit nach St. Petersburg kommen, um sich unter Aufsicht der Kaiserin gründlich auf ihr Leben in Russland und ihre Rolle als Großfürstin Alexandra Josephowna (Josifowna) vorzubereiten. Am 23. Oktober 1847 zog sie feierlich in Zarskoje ein und wurde von der Familie Romanow herzlich aufgenommen. Sunny gefiel allen, sie war eine Frohnatur. Johann Strauss hat ihr später den Großfürstin Alexandra-Walzer, op. 181, gewidmet und sich im Konstantin-Palast in Strelna, der ihrem Mann gehörte, zur Strelna-Terrassen-Quadrille, op. 185, inspirieren lassen.
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Wladimirs Geburtsjahr war das letzte Jahr vor dem allgemeinen europäischen Sturm, der manche Monarchen von ihren Thronen fegte und andere zwang, liberale Regierungen zu berufen und Verfassungen zu gewähren. Nur die Selbstherrschaft in Russland schien ungefährdet. Dass es im Februar 1848 in Paris zu Unruhen gekommen war, erfuhr die Öffentlichkeit aus den Zeitungen. Dass Louis Philippe, der „Bürgerkönig“, zugunsten seines minderjährigen Enkels abgedankt und Paris verlassen hatte, erfuhr der Hof am 4. März durch eine „telegrafische Depesche“ aus Warschau.31 Tags darauf, am letzten Sonntag der Butterwoche („masleniza“), begann am frühen Nachmittag ein Ball beim Zesarewitsch. Gegen 17 Uhr erschien plötzlich der Kaiser im Saal, wedelte mit Papieren und rief undeutlich etwas von einem Umsturz in Frankreich und von der Flucht des Königs. Darauf lief die kaiserliche Familie, gefolgt von allen Anwesenden, hinter dem Kaiser her ins Kabinett des Thronfolgers. „Hier las der Herrscher laut eine Depesche vor“, notiert Modest A. Korf, „die er von Baron Meyendorff, unserem Gesandten in Berlin, erhalten hatte, worauf er den Prinzen Alexander von Hessen (den Bruder der Zesarewna) veranlasste, genauso laut eine außerordentliche Beilage der Berliner Zeitung vorzulesen, die mit dieser Depesche geschickt worden war. In letzterer hieß es, dass es aus Paris weder Zeitungen noch Briefe gebe, aber dass ein von dort kommender Reisender, der in Brüssel eingetroffen war, diese Nachricht mitgebracht habe, die der preußische Geschäftsträger in der Stadt seinem Hof übermittelte und die dem Herrscher mit besonderer Estafette weiterzugeben Meyendorf sich beeilt. Frankreich war Republik …“32 Nikolaus fühlte sich in seiner negativen Beurteilung Louis Philippes bestätigt, Alexander fand, der König sei nicht allzu sehr zu bedauern, verurteilte aber den „Vandalismus“ der Franzosen, „mit dem sie die Zerstörung der königlichen Schlösser, Galerien etc. betrieben“.33 Der Ball ging weiter, doch die Gäste, die nicht tanzten, diskutierten erregt über die Nachrichten aus Frankreich, während Nikolaus den anwesenden Gardekommandeuren sein Wort gab, „dass für diese Nichtsnutze von Franzosen nicht ein einziger Tropfen russischen Blutes vergossen werden wird“.34 Schnell erfasste die Pariser Februarrevolution auch die Staaten des Deutschen Bundes und wurde dort zur Märzrevolution. In ganz Deutschland ertönte der Ruf nach einer Nationalversammlung und
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nach nationaler Einheit, die das Ende der Fürstenherrschaft bedeutete. Nachdem die Regierung in Wien am 13. März auf Demonstranten hatte schießen lassen, trat Metternich zurück und floh nach London. Am 15. März begann die Revolution in Ungarn. In Berlin kam es am 18. und 19. März zu Barrikadenkämpfen, die fast 300 Tote forderten, worauf Friedrich Wilhelm IV. sich gezwungen sah, den „Märzgefallenen“ öffentlich die letzte Ehre zu erweisen. Nikolaus hielt den Schwager für einen Schwächling. „Welche Schande und welche Feigheit!“, kommentierte Alexander von Hessen Metternichs Rücktritt und Flucht.35 Seine Schwester dürfte wie er gedacht haben. Im Großherzogtum Hessen verliefen die Unruhen unblutig. Am 5. März 1848, dem Tag, an dem die Verwandten in St. Petersburg erfuhren, dass Frankreich nun Republik war, hatte Ludwig II., der zunehmend repressiv regiert hatte, seinen Sohn Ludwig, einen Hoffnungsträger der liberalen Bewegung, zum Mitregenten und den Oppositionspolitiker Heinrich von Gagern, den späteren Präsidenten der Fankfurter Nationalversammlung, zum Regierungschef ernannte. Nach dem Tod seines Vaters im Juni 1848 billigte Ludwig III. die sog. Märzforderungen: Pressefreiheit, Bürgergarde mit freier Wahl der Offiziere, Schwurgerichte nach englischem Vorbild u. a., und die Gemüter beruhigten sich. Später nahm Ludwig III. die Reformen zurück. Nur in Russland blieb alles ruhig. In all der Unruhe stand Nikolaus I. Pawlowitsch wie ein Fels in der Brandung, bereit, gegen das revolutionäre Frankreich zu marschieren. Preußen lehnte ab, doch Österreich bat um Hilfe bei der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes, die Nikolaus gern gewährte. Europa war „toll“ geworden, am liebsten hätte der Kaiser eine chinesische Mauer gegen das übrige Europa ziehen lassen und jede Verbindung mit ihm unterbrochen. Aber das ging schon aus ökonomischen Gründen nicht, also zog er innenpolitisch die Zügel an: Zensur und Überwachung wurden extrem verschärft, Auslandsreisen erschwert. Die Zahl der Studenten wurde beschränkt, die Studiengebühren wurden erhöht, einige Fächer aus dem Lehrplan gestrichen. Kurzum: Russland wurde zum Polizeistaat, die Geheimpolizei war nun allgegenwärtig, das Spitzelwesen blühte. In dieser Lage fand Baron Korf die große Anteilnahme der Bevölkerung an der Hochzeit des Großfürsten Konstantin Nikolajewitsch denn
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auch höchst beruhigend. Die Trauung fand am 30. August 1848 im Winterpalast statt, vor dem sich außergewöhnlich viel Volk versammelt hatte, und auch die Straßen der Hauptstadt waren voller Menschen. Sunny, unbekümmert und etwas verspielt, setzte sich gelegentlich über die Etikette hinweg, was Maria nie eingefallen wäre. Aber sie mochte die neue Schwägerin. Nachdem Olga Nikolajewna im Juli 1846 den württembergischen Kronprinzen Karl geheiratet hatte und nach Stuttgart gezogen war, fand sie in Sunny eine neue Freundin. Unterdessen hatte sich ihr Bruder ebenfalls als Frauenschwarm erwiesen, Alex flirtete mit vielen Damen der hohen Petersburger Gesellschaft. Anfangs hatte er es allerdings auf Olga Nikolajewna abgesehen und dadurch ihren Vater erzürnt, der sich für seine Tochter eine bessere Partie vorstellte. Am liebsten hätte Nikolaus den charmanten Hessen durch eine Heirat mit seiner Nichte Katharina Michaj lowna an die Kette gelegt, doch Alexander wollte von Katharina nichts wissen. Das Hin und Her zog sich über Jahre hin, bis Julia Hauke auf den Plan trat, eine Hofdame Marias. Sie war eine Tochter des erst von Nikolaus I. geadelten Grafen Moritz Hauke, eines ehemals sächsischen Offiziers, der usprünglich auch aus Hessen stammte. Hauke war Kriegsminister in Kongresspolen gewesen und beim polnischen Aufstand gegen die russische Herrschaft 1830/31 umgekommen. Deshalb hatten Nikolaus und Alexandra die Vormundschaft für seine drei Töchter übernommen. Sie wurden im Smolnyj Institut erzogen. Als Mündel des Kaiserpaares standen Julia alle Wege offen, und so wurde sie zur Hofdame der Zesarewna ernannt. In dieser Eigenschaft lernte sie natürlich auch deren Bruder kennen, für den sie von Anfang an Zuneigung empfand, die Alexander von Hessen erwiderte. Es lag in der Natur ihrer Stellungen, dass die beiden sich oft sahen, Ende der 1840er Jahre waren sie ein Paar.36 Am 28. Juni 1849 starb die kleine Lina überraschend im Alter von noch nicht einmal 7 Jahren an Meningitis. Sie hatte ihren Papa ver göttert, konnte stundenlang still in seinem Kabinett sitzen, während er arbeitete. Hauptsache, sie war in seiner Nähe. Die Eltern waren untröstlich. „Von heute an wird unser Glück schon nicht mehr vollkommen sein“, schreibt Maria, „aber es wird immer das sein, was Glück auf Erden sein muss: immer wird ihm das Gefühl des Bedauerns beige-
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mischt sein, aber damit auch Hoffnung, dass der Herr in seiner Gnade uns dorthin führt, wohin vor uns unser Engel gegangen ist, und dieser Gedanke wird unser Ende erquicken.“37 Fast siebzig Jahre später, im November 1916, als eine Renovierung des Winterpalastes angesetzt war und Fachleute ihn besichtigten, fand der Kunsthistoriker Alexander N. Benois in Alexanders Kabinett in einer Ecke neben seinem Feldbett ein paar sorgfältig zusammengelegte Kleidchen, einen Hut und einen Kinderschirm, Sachen, die Lina gehört hatten.38 Nach dem Tod ihrer Tochter zog sich Maria zurück. Sie war schwanger und erwartete ihr fünftes Kind. Ein Trost? Vielleicht. Es wurde wieder ein Junge, der vierte. Alexej Alexandrowitsch, der künftige General-Admiral, wurde am 14. Januar 1850 in St. Petersburg geboren, ein „Salonlöwe“ und Frauenheld, der seinen Eltern einigen Kummer bereiten sollte, weil auch er eine „nicht standesgemäße“ Frau liebte. Doch berühmt wurde er aus einem anderen Grund: Als erster Romanow besuchte Alexej die Vereinigten Staaten und ging mit Buffalo Bill auf Bisonjagd. Wir wissen nicht, was Maria von weiteren Bemühungen ihrer Schwiegereltern gehalten hat, ihren Bruder Alex zu verheiraten. Anfang 1850 riet Kaiserin Alexandra dem Hessen im Auftrag des Kaisers ein letztes Mal zur Ehe mit Katharina Michajlowna. Alexander von Hessen lehnte förmlich ab, worauf allerhand deutsche Prinzen in St. Petersburg erschienen, um sich um Katharina zu bewerben. Schließlich machte Georg von Mecklenburg-Strelitz das Rennen um Katharinas Gunst, die beiden verlobten sich im Juni 1850. Alexander von Hessen aber musste einen längeren Urlaub antreten, der ihn eine Weile vom Hof und wohl auch von Julia Hauke fernhalten sollte. Er reiste nach Darmstadt, später nach Paris und nach London, wo er sich die Druckerei der Times ansah und in der Bank of England die Herstellung von Banknoten zeigen ließ. Anfang 1851 kehrte er nach St. Petersburg zurück.
5 „Alle fühlen, dass es leichter wird“ Thronwechsel Hochzeit der Kusine Katharina – Denkmal für Paul I. – Heirat Alexanders von Hessen – Gräfin Battenberg – Eröffnung der Bahnlinie St. Petersburg–Moskau – Graf Reiset – Nixa – Anna F. Tjuttschewa – Charakterisierung Marias (1853) – Orientkrise – Geburt der Tochter Maria (1853) – Krimkrieg – Tod Nikolaus’ I. (März 1855) – Alexander II. – „Tauwetter“ 1851–1855
Das neue Jahr begann wieder einmal mit Vorbereitungen für eine russisch-deutsche Hochzeit. Im Februar 1851 ehelichte Großfürstin Katharina Michajlowna, die hübsche Kusine, die der Kaiser so gern mit Alexander von Hessen verheiratet hätte, Herzog Georg August zu Mecklenburg-Strelitz, der sich entschlossen hatte, in Russland zu bleiben. Das Paar ließ sich im Michael-Palast nieder, in dem Großfürstin Jelena Pawlowna, die inzwischen verwitwete Mutter der Braut, residierte und ihren in ganz Europa berühmten literarischmusikalischen Salon führte. Ab 1852 sollte Anton G. Rubinstein hier auftreten, der 1839 als Neunjähriger sein erstes öffentliches Konzert gegeben hatte. Im Mai ging der Hof wie üblich nach Zarskoje Selo, im Juli nach Peterhof. Der dortige Aufenthalt wurde durch einen Ausflug nach Gattschina unterbrochen, wo das Thronfolgerpaar am 13. August 1851 der Einweihung eines Denkmals beiwohnen musste, das Nikolaus I. seinem 1801 ermordeten Vater hatte errichten lassen, dem exzentrischen Kaiser Paul I., der sich gern in Gattschina aufgehalten hatte. Der Bildhauer Iwan P. Vitali hatte Paul in der Pose Friedrichs des Großen, seines Idols, auf dem Platz vor dem Palast dargestellt, und so blieb er
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den Besuchern in Erinnerung: klein, aber gebieterisch. Nikolaus I. war knapp fünf Jahre alt, als sein Vater starb. Alexander hat seinen Großvater also nicht gekannt, und was er und Maria über ihn und seinen Tod erfuhren, wissen wir nicht, zumal der Zarenmord von 1801 in der Familie Romanow tabu war.1 Das nächste Großereignis im Leben der kaiserlichen Familie, der Hauptstadt und des ganzen Landes war die Eröffnung der Eisenbahnlinie St. Petersburg–Moskau, deren Bau Alexander Nikolajewitsch seit Beginn der Arbeiten im Sommer 1843 beaufsichtigt hatte. Die Jungfernfahrt, die natürlich der kaiserlichen Familie vorbehalten blieb, war so terminiert worden, dass Nikolaus I. am 3. September 1851, dem 25. Jahrestag seiner Krönung, in Moskau sein konnte, wo er nach eigenem Bekunden beten und Gott danken, aber nicht feiern wollte.2 Doch wie immer hatte er dafür gesorgt, dass es seiner Frau an nichts fehlte. In dem für die Kaiserin bestimmten Waggon waren drei luxuriöse Zimmer mit Kamin, Küche, Keller und Eisschank eingerichtet worden, die Alexandra am Vorabend der Abfahrt bezog. Um ihren Schlaf nicht zu stören, fuhr der „Zarenzug“ am 31. August um 4 Uhr morgens besonders langsam an. Er erreichte Moskau 19 Stunden später, nachdem er mehrfach hatte halten müssen, weil Nikolaus, der sich als Ingenieur fühlte, einzelne Gleisabschnitte persönlich inspizieren wollte. Maria war froh, wieder einmal in Moskau zu sein. Am 13. November 1851 begann dann auch der reguläre Bahnverkehr zwischen den beiden Hauptstädten.3 Die Bahntrasse war 644 km lang. Die „Nikolaus-Bahn“, wie sie nach dem Tod des Kaisers genannt wurde, war eine Zeitlang die längste Bahn der Welt. Wir wissen nicht, ob Alexander von Hessen und Julia Hauke noch an der Jungfernfahrt des „Zarenzuges“ teilgenommen haben. Vermutlich waren sie nicht dabei. Denn inzwischen hatte sich herausgestellt, dass Julia schwanger war, und Alexander wollte sie heiraten. Doch an eine Eheerlaubnis des Kaisers war nicht zu denken, da Julia nicht ebenbürtig war und eine Hofdame unmöglich die Schwägerin des Thronfolgers werden konnte. Zudem war Nikolaus beleidigt, weil Alexander seine Nichte verschmäht hatte. Er verbot die Heirat und verwies die beiden des Landes. Doch Alexander von Hessen hielt zu seiner Geliebten. Am 4. Oktober 1851 verließen die beiden St. Petersburg, Ende des Monats
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heirateten sie in der Schlosskirche zu Breslau. Vier Wochen später wurde dem Prinzen offiziell aus St. Petersburg mitgeteilt, dass er in einem Jahr wieder nach Russland einreisen könne, seine Gattin, Untertanin des Zaren, jedoch nie mehr. Da der Kaiser den Prinzen aus seiner Armee entlassen und ihm seinen Sold in Höhe von 12 000 Rubel sowie Julia ihre Waisenrente in Höhe von 2500 Rubel entzogen hatte, waren die beiden mittellos.4 Sie gingen zunächst nach Straßburg, wo Julia am 15. Februar 1852 ihre Tochter Marie Karoline, die spätere Fürstin zu Erbach-Schönberg, zur Welt brachte: Um die Peinlichkeit zu verbergen, dass die Geburt bereits vier Monate nach der Hochzeit erfolgt war, wurde als offizielles Geburtsdatum der Kleinen der 15. Juli 1852 angegeben. Nach der Niederkunft reisten die jungen Eltern weiter nach Darmstadt, wo man auch nicht gerade glücklich über ihre Heirat war. Den Titel einer Prinzessin von Hessen und bei Rhein durfte Julia, die sich nun „Julie“ nannte, jedenfalls nicht führen. Doch Ende November 1852 erschien im Großherzoglich Hessischen Regierungsblatt Nr. 37 eine Bekanntmachung die morganatische Ehe Sr. Großherzoglichen Hoheit des Prinzen Alexander von Hessen und bei Rhein k.k. betreffend: „Seine königliche Hoheit, der Großherzog haben der in morganatischer Ehe verbundenen Gemahlin Sr. Großherzoglichen Hoheit des Prinzen Alexander von Hessen und bei Rhein, Julie, geborenen Gräfin von Hauke, Titel und Wappen einer Gräfin von Battenberg mit dem Prädikate Erlaucht beizulegen, und dabei zugleich zu bestimmen geruht, dass Kinder, welche aus der besagten ehelichen Verbindung entstehen, ebenfalls den Titel Grafen und Gräfinnen von Battenberg mit dem angegebenen Wappen und Prädikate führen sollen.“ Damit war Julie in die Familie aufgenommen, die nicht thronberechtigte Linie Battenberg des Hauses Hessen begründet.*
* Julie von Battenberg, seit Dezember 1858 Fürstin von Battenberg, und Alexander von Hessen und bei Rhein sind also die Stammeltern der Battenberger. Ihr ältester Sohn Ludwig Alexander von Battenberg, geb. 1854, ging später nach England und wurde britischer Staatsbürger, nannte sich ab 1917 Louis Mountbatten und erhielt von Georg V. den Titel eines Marquess of Milford Heaven. Philipp Mountbatten, Herzog von Edinburgh, Prinzgemahl der englischen Königin Elisabeth II., stammt mütterlicherseits aus dem Hause Battenberg. Er ist ein Urenkel Julies und Alexan ders. Der Familienname der britischen Royals ist daher Mountbatten-Windsor.
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Da Großherzog Ludwig III. nicht wagte, die beiden im Alten Palais in Darmstadt wohnen zu lassen, richteten sie sich auf Schloss Heiligenberg ein, dessen Um- und Ausbau zum ständigen Wohnsitz durch Hofbaudirektor Georg Moller der Prinz schon von St. Petersburg aus veranlasst hatte. Maria war froh, dass ihr „liebster Alex“ sein Glück gefunden hatte, und sie mochte Julia. Wie konnte sie ihr auch übelnehmen, dass sie ihren Bruder liebgewonnen hatte? Aber der Wille des Kaisers war nun einmal Gesetz. Der Abschied von Alex war der erste Bruch in Marias Petersburger Leben. Sie war untröstlich, weinte lange, und manche Zeitgenossen fanden, dass sie viel von der Heiterkeit verlor, die sie bis zu Alex’ Abreise ausgezeichnet hatte.5 Er fehlte ihr sehr. Er fehlte auch ihrem Mann, denn die beiden Alexander, Sascha und Alex, waren längst Freunde fürs Leben geworden. Im Juni 1853 sollte der Prinz, nachdem der Kaiser ihm das Recht wiedergegeben hatte, eine russische Uniform zu tragen, und der Großfürst-Thronfolger sich in Wien für ihn verwendet hatte, in die Dienste des Kaisers von Österreich treten. Seine Schwester aber war vorsichtig in der Wahl ihrer Hofdamen geworden. Nixa, ihr Ältester, war nun neun Jahre alt und musste bereits Dienst als Palastwache tun. Wie üblich hatten er und seine Brüder in den ersten Lebensjahren englische Kindermädchen, die ihnen nebenbei auch Englisch beibrachten, so dass die Brüder bereits als Kinder fließend Englisch sprachen. Und wie üblich waren sie im Alter von fünf, sechs Jahren in Männerhände gekommen. Der für Nikolaus, Alexander und Wladimir ernannte Erzieher war General der Infanterie Nikolaj W. Sinowjew, der ehemalige Direktor des Pagenkorps, der ihnen die Liebe zum Militär und zur militärischen Disziplin beibringen sollte, selbstverständlich unter der strengen Oberaufsicht des Kaisers. Die kleinen Großfürsten, die schon als Neugeborene zu Regimentschefs ernannt und auch in verschiedene Garderegimenter eingeschrieben worden waren, mochten den General, der als ehrenwert, fürsorglich und verständnisvoll geschildert wird. Sie lernten, was sie zu lernen hatten. Im August 1852 konnte Graf Reiset, der Erste Sekretär der französischen Botschaft in St. Petersburg, beobachten, wie Nixa einmal Posten vor dem kleinen Palast in Krasnoje Selo bezog, wo alljährlich das Som-
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merlager der Petersburger Garnison stattfand: „Im gleichen Augenblick fing es an zu gießen, und der kleine Prinz nahm im Schilderhäuschen den großen Mantel des Soldaten, den er abgelöst hatte, und zog ihn sich mehr schlecht als recht über, während er vor dem Tor des Palastes auf und ab ging. Dann sah ich, wie sich über diesem Tor ein Fenster öffnete und darin die Zesarewna erschien, heute die Kaiserin Marie, die ihren Sohn und die großen Wolken beobachtete und zugleich der Wache des jungen Prinzen mit mütterlicher Besorgnis zusah. Nichts war komischer und charmanter, als zu sehen, wie dieser kleine Kinderkopf aus dem großen grauen Mantel hervorlugte, der über den Boden schleifte, während der Regen in Strömen auf diesen kleinen kaiserlichen Wachposten fiel. Ich selbst bin ziemlich durchnässt in die Wohnung des Herrn von S. zurückgekehrt [. . .], die sich in einem Holzhaus neben dem Palast befand, wo wir uns an einem Feuer wärmten, während der kleine Prinz seine erste Wache beendete.“6 Nixa war der Erstgeborene, und auf ihn konzentrierte sich alles. Schließlich würde er seinem Vater einmal auf den Thron folgen. Der Schwerpunkt seiner Erziehung lag auf dem Militärischen. Dem militärischen Erzieher folgte dann ein ziviler Erzieher, der die Fachlehrer für den gymnasialen Schulunterricht des Thronfolgers aussuchte und den gesamten Lernprozess beaufsichtigte. Als Fachlehrer wurden in der Regel angesehene Universitätsprofessoren engagiert. Dem gegenüber wurde die Erziehung Alexanders, des zweitältesten Sohnes, und der jüngeren Söhne weniger ernstgenommen. Sascha jun., die „kleine Bulldogge“, war nur für eine militärische Karriere vorgesehen. Das Lernen fiel ihm schwer. Die Mutter zog den Älteren sichtlich vor. Die relative Vernachlässigung der nachgeborenen Söhne, besonders der „kleinen Bulldogge“, wirkt umso unverständlicher, als die jüngste Geschichte gezeigt hatte, dass nicht der ursprüngliche Thronfolger den Thron bestieg, sondern ein jüngerer Bruder, der nicht auf das Amt vorbereitet worden war. Nikolaus I., der seinem Bruder Alexander I. ursprünglich nicht nachfolgen sollte, hat immer seine „armselige“ Erziehung und seine mangelhafte Vorbereitung auf sein hohes Amt beklagt und eben deshalb seinem Sohn Alexander nicht nur eine ausgezeichnete Erziehung angedeihen lassen, sondern ihn auch früh in die Regierungsarbeit einbezogen. Allerdings hielten viele Zeitgenos-
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sen seinen jüngeren Bruder Konstantin, den General-Admiral, für begabter als Alexander. Konstantin mag sich auch selbst für den fähigeren Thronfolger gehalten haben. Jedenfalls scheint die Rivalität der Brüder ein Grund dafür gewesen zu sein, dass die Eltern ihren zweiten Sohn mehr oder weniger zurücksetzten. Im März 1852 wurde Saschka sieben Jahre alt und zum Fähnrich ernannt, gehörte ab sofort zur Suite seines Vaters und war bei allen militärischen Zeremonien, Wachaufzügen und Paraden dabei. Er trug jetzt keine Kinderhemden mehr, sondern Militärkittel, und erhielt Zimmer zusammen mit Nixa, der auch sein bester Freund war und den er über alles liebte. Am 9. Januar 1853 betrat Anna F. Tjuttschewa, die Tochter des Dichters und Diplomaten, den Winterpalast, um sich der Zesarewna vorzustellen. Fjodor I. Tjuttschew, Russlands erster „Dichter-Philosoph“ (Dostojewskij), war zwanzig Jahre in München und Turin auf Posten gewesen und erst 1844 nach Russland zurückgekehrt. In St. Petersburg hatte Fjodor Iwanowitsch eine Stelle als Zensor* für ausländische Literatur im Außenministerium gefunden, doch seine drei Töchter mussten auf eigenen Füßen stehen. Zum Glück war Tjuttschew, der zu den Slawophilen gehörte, aufgrund seines dichterischen Rufes hoffähig. Und so konnte sich Anna Fjodorowna, seine älteste Tochter, als Hofdame „bewerben“. Ihre Mutter war Deutsche gewesen, sie war in München groß und im Königlich Bayrischen Institut von Nymphenburg erzogen worden und sprach, als der Vater sie und ihre beiden Schwestern nach Russland kommen ließ, kein Wort Russisch. Nachdem sie es erlernt hatte, sprach sie es ihr Leben lang mit deutschem Akzent. Auch Anna hatte ihre Mutter früh verloren, sie war tief religiös, sehr ernst und nicht hübsch, lauter Eigenschaften, die Maria Alexandrowna bewogen haben mögen, sie in ihre Dienste zu nehmen. Anna hätte es lieber gesehen, wenn die Wahl der Zesarewna auf eine ihrer hübscheren Schwestern gefallen wäre, die eines der Petersburger Institute besucht hatten. Nach dem Skandal * In dieser Eigenschaft verbot er zum Beispiel die Verbreitung des „Kommunistischen Manifestes“ in russischer Sprache. Wer sich dafür interessiere, so erklärte er, könne das Manifest auf Deutsch lesen.
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um Julia Hauke, die das Katharinenstift der Kaiserin Maria Fjodorowna absolviert hatte, wollte Maria jedoch keine „Institutka“ mehr um sich haben.7 Anna Tjuttschewa ist die wichtigste Augenzeugin und Chronistin der Jahre 1853 bis 1866, so dass wir über eine genaue Beschreibung nicht nur des Hoflebens, sondern auch der Lebensumstände der jungen Kaiserin Maria verfügen. „[…] als ich die Großfürstin zum ersten Mal sah, war sie schon 28 Jahre alt“, schreibt Anna Fjodorowna mit dem Abstand einiger Jahre. „Dennoch sah sie noch sehr jung aus. Ihr ganzes Leben hat sie dieses jugendliche Äußere bewahrt, so dass man sie mit 40 Jahren noch für eine Frau von Dreißig halten konnte. Ungeachtet ihrer Größe und ihrer Schlankheit war sie so schmächtig und zerbrechlich, dass sie auf den ersten Blick nicht den Eindruck einer Schönheit machte; aber sie war ungewöhnlich reizvoll und zwar von jenem ganz besonderen Reiz, den man auf alten deutschen Gemälden, in den Madonnen Albrecht Dürers, finden kann, die eine gewisse Strenge und Trockenheit der Formen mit einer eigentümlichen Grazie in der Bewegung und der Pose vereinen […]. Ihre Züge waren nicht regelmäßig. Schön waren ihre wunderbaren Haare, die zarte Farbe ihres Gesichts, ihre großen, ein wenig hervorstehenden blauen Augen, die sanft und eindringlich blickten. Ihr Profil war nicht hübsch, weil ihre Nase sich nicht durch Regelmäßigkeit auszeichnete und das Kinn leicht zurücktrat. Der Mund war fein geschwungen, die Lippen zusammengepresst, was Zurückhaltung bezeugte […] und ein kaum merkbares ironisches Lächeln stand in einem seltsamen Gegensatz zum Ausdruck ihrer Augen. […] Sie war extrem vorsichtig, und diese Vorsicht machte sie schwach im Leben, das so kompliziert ist […]. Von dieser Vorsicht kam eine große Unentschlossenheit, die die Beziehung zu ihr schließlich ermüdend und drückend machte.“8 Unterdessen spitzte sich die Orientfrage zu. Vordergründig ging es um die Privilegien der verschiedenen Konfessionen bei der Betreuung der heiligen Stätten des Christentums in Palästina, das damals zum Osmanischen Reich gehörte, und um den Schutz der christlichen Untertanen des Sultans, tatsächlich aber um den inneren Zerfall der Türkei, des „kranken Mannes am Bosporus“, also um Russlands künftige Stellung auf dem Balkan und im Nahen Osten. Nikolaus I. war der
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Ansicht, dass die Tage des Halbmondes in Europa gezählt waren, und hätte „den kranken Mann“ gern beerbt. Doch eine Erweiterung der russischen Machtstellung in der Region konnte keine der anderen europäischen Mächte zulassen. Nachdem der Sultan im Februar 1852 gemäß älterer Verträge neun heilige Orte, die sich in der Obhut der Orthodoxen befanden, an die Katholiken übergeben hatte, ein Erfolg, den der neue französische Staatspräsident Louis Napoleon Bonaparte für sich verbuchte, fühlte sich Nikolaus düpiert und verlangte die Wiederherstellung der orthodoxen Rechte an den Heiligen Stätten, sah sich aber auch schon als Befreier der Balkanslawen vom türkischen Joch: Er würde die Türken aus Konstantinopel verjagen und das Kreuz wieder auf der Hagia Sophia errichten. Doch der Sultan, gestützt von England und Frankreich, gab nicht nach. Hinzu kam die Animosität zwischen Nikolaus und Louis Napoleon, der sich Anfang Dezember 1852 nach einem Plebiszit zum Kaiser der Franzosen hatte ausrufen lassen. Nikolaus versagte dem Parvenü die Anerkennung als seinesgleichen, indem er ihn in seinem ersten Brief nicht mit dem unter Monarchen üblichen „Monsieur mon frère“ anredete, sondern mit „Mon bon ami“.* „Napoleon III. hat unser ami anstatt frère glücklich geschluckt, obgleich es ihm nicht schmeckt“, schreibt Maria ihrem Bruder Alex im Januar 1853. „Was die Türkei betrifft, sind wir nicht so sicher; es kann noch zum Streite kommen … ein Teil der Reserven wird einberufen; man ist im Publikum sehr damit beschäftigt und die Kriegsgerüchte verbreiten sich überall.“9 Es kam zum Streit. Zwar war der Sultan bereit, Nikolaus in der Frage der Rechte der Orthodoxen in Palästina entgegenzukommen, doch eine Konvention über ein Protektorat des russischen Zaren über die orthodoxen Christen im Osmanischen Reich lehnte er kategorisch ab, worauf der kaiserliche Unterhändler Konstantinopel brüsk verließ. Am 31. Mai machte die russische Regierung die Pforte für den Abbruch der diplomatischen Beziehungen verantwortlich und stellte ihr ein achttägiges Ultimatum, das ohne Wirkung blieb.10 Daraufhin erließ Nikolaus
* „Mein Herr Bruder“ / „Mein guter Freund“
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am 14./26. Juni 1853 in Peterhof das Manifest „Über den Vormarsch russischer Truppen in die Donaufürstentümer“, in dem er die Besetzung der unter türkischem Protektorat stehenden Fürstentümer Moldau und Walachei „als Pfand“ für die Erfüllung seiner Forderungen ankündigte, sich aber bereit erklärte, den Marsch seiner Truppen anzuhalten, wenn sich die Pforte „hoch und heilig“ verpflichte, die Unantastbarkeit der orthodoxen Kirche zu garantieren. „Heute oder morgen erwarten wir eine entscheidende Antwort aus Konstantinopel“, schreibt Maria ihrem Bruder, „ich hoffe immer noch, es kommt nicht zum Krieg, höchstens zur Besetzung der Donauprovinzen.“11 Doch es kam zum Krieg. Nachdem die Russen die Fürstentümer in den ersten Julitagen tatsächlich besetzt hatten und mehrere Versuche, den Konflikt doch noch auf diplomatischem Wege beizulegen, gescheitert waren, erklärte die Pforte Russland am 16. Oktober 1853 den Krieg. Am 17. Oktober 1853 brachte Maria in Zarskoje Selo ihre Tochter Maria zur Welt, die künftige Herzogin von Edinburgh und spätere Herzogin von Sachsen-Coburg und Gotha, die in der Familie „Ente“ gerufen wurde. Als der Hof im Spätherbst in die Hauptstadt zurückkehrte, hatte der Architekt Harald D. Bosse die Umgestaltung ihres Boudoirs wunschgemäß abgeschlossen. Das Boudoir hatte nun einen elegant möblierten Alkoven, der durch einen von zwei Karyatiden getragenen Bogen vom Hauptraum abgetrennt worden war. Die zuvor blau bespannten Wände hatte Bosse mit granatroter Brocatelle bezogen. Das Interieur gilt als eines der besten Beispiele für den Stil des in der Mitte des 19. Jahrhunderts populären „zweiten Rokoko“. Das Aquarell von Eduard Hau aus dem Jahre 1861 lässt das Ambiente nachempfinden, in dem Maria mit ihren Gästen gesessen und geplaudert hat. Es gab allerdings keinen größeren Gegensatz als den zwischen dem Luxus dieses und der anderen Interieurs und den „ärmlichen Gehöften“, den „kärglichen Gefilden“ und der „nackten Demut“ in Fjodor Tjuttschews Gedicht Russland (1855), das Maria besonders liebte. Dieses Russland kannte sie nicht. Dabei lieh sie sich, ganz wie ihre Schwiegermutter, Bilder aus der Ermitage für ihre Räume aus. Auf den erwähnten Aquarellen kann man gut erkennen, um welche Gemälde es sich im Lauf der Jahre
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andelte. Im Boudoir hing Dominikinos Johannes der Täufer, der laut h ihrem Testament hängen bleiben sollte, solange Alexander nebenan wohnte. (Hau, 1861) Im Himbeerfarbenen Kabinett hing Raffaels Madonna Alba, die Nikolaus 1836 gekauft hatte. Später kam die kleine Madonna Litta von Leonardo da Vinci* hinzu, die Alexander 1865 bei der Familie des Grafen Litta in Mailand kaufen ließ. (Premazzi, 1869) Maria liebte die alten Meister, unter den zeitgenössischen Künstlern bevorzugte sie den Estländer Carl Timoleon von Neff, der die Malereien in der Isaak-Kathedrale und in der kleinen Palastkirche ausgeführt hatte und 1864 zum Leiter der Gemäldegalerie der Ermitage bestellt werden sollte. Von unbeschwerten Soireen im neuen Boudoir konnte freilich vorerst keine Rede sein, denn am 1. November 1853 erließ Nikolaus I. in Zarskoje Selo das Manifest „Über den Krieg mit der Ottomanischen Pforte“. Darin bezog er sich auf sein Manifest vom 14./26. Juni des laufenden Jahres, in dem er seinen „geliebten treuergebenen Untertanen“ die Gründe dargelegt hatte, die ihn bewogen, von der Ottomanischen Pforte „eine feste Garantie der heiligen Rechte der Rechtgläubigen Kirche“ für die Zukunft zu fordern. Alle seine Anstrengungen seien aber nutzlos geblieben, daher habe er seine Truppen in die Donaufürstentümer führen müssen. Dabei habe er gehofft, dass die Pforte ihren Irrtum erkennen und seine gerechten Forderungen doch noch erfüllen werde. Diese Erwartung sei nicht gerechtfertigt gewesen. Die Geduld Russlands habe die Pforte mit der Kriegserklärung beantwortet und mit Kriegshandlungen an der Donau begonnen. Russland bleibe nichts anderes übrig, als zu den Waffen zu greifen, um die Türkei zu zwingen, seine, des Kaisers, moderaten Forderungen und seine berechtigte Sorge um den Schutz des orthodoxen Glaubens im Orient anzuerkennen.12 Russland führte also wieder Krieg gegen die Türkei. Es war der zehnte russisch-türkische Krieg, und er ließ sich zunächst gut für die Russen an. Am 30. November 1853 zerstörte Admiral Nachimow die
* Die meisten Kunsthistoriker schreiben die Madonna Litta Leonardo nicht mehr zu, doch die Ermitage bleibt bei der traditionellen Zuschreibung.
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türkische Flotte im Hafen von Sinope und nahm Vizeadmiral Omar Pascha, den türkischen Oberkommandierenden, gefangen. Die türkische Niederlage nahmen England und Frankreich zum Anlass, aufseiten der Pforte in den Krieg einzutreten, sie hatten kein Interesse an der Schwächung der Türkei. Mithin hatte Nikolaus die Bereitschaft der beiden Mächte, die Türkei zu unterstützen, fatal unterschätzt. Am 15./16. März 1854 erklärten sie Russland den Krieg. Anfang 1855 sollte sich ihnen noch das Königreich Sardinien anschließen, so dass aus dem russisch-türkischen ein europäischer Krieg wurde, der das seit 1815 bestehende System der Pentarchie, der fünf Großmächte, und das von ihnen installierte europäische Gleichgewicht nachhaltig zerstörte. Der Krimkrieg war der erste Stellungskrieg der Geschichte, beinahe schon ein Weltkrieg, da er auch in Asien geführt wurde. Schon am 14./26. Juni 1854 – die kaiserliche Familie war bereits in Peterhof – erschien die englische Flotte zum ersten Mal vor Kronstadt. Einige Tage zuvor war das Thronfolgerpaar in Begleitung seiner Söhne und mehrerer Familienmitglieder in der Inselfestung Kronstadt gewesen, um die Forts zu besichtigen, die in Erwartung der feindlichen Flotten befestigt wurden. Dabei hatten sie einen Probealarm miterlebt, der Anna Tjuttschewa glauben ließ, dass die Soldaten sich im Ernstfall begeistert und unter Missachtung von Gefahr und Leiden in den Kampf stürzen würden. „Nach diesen militärischen Zerstreuungen kehrten wir auf die Jacht zurück“, schreibt sie. „Der Zesarewitsch mit seinem schönen, guten Gesicht und neben ihm die Zesarewna, so elegant, apart und graziös, umgeben von ihren hübschen Kindern, stellten ein reizendes Paar dar. Die Soldaten unten beim Fort in ihren groben grauen Kitteln, sonnenverbrannt und mager, bildeten eine völlig andere Gruppe. Als der Zesarewitsch sich von ihnen verabschiedete, begleiteten sie ihn mit anhaltenden Hurra-Rufen.“13 Das Ganze kann man sich gut vorstellen. Alles war ruhig, der Krieg weit weg und das Wetter wunderbar. Nach ihrer Rückkehr von Kronstadt fuhren die kaiserlichen Sommerfrischler in Booten von Peterhof aus auf den Finnischen Meerbusen hinaus und genossen die weißen Nächte. Sechs Tage später war sie wieder da, die englische Flotte, zuerst 18, dann 20 Schiffe. Gegen Abend forderte Maria ihre Hof damen zu einer Spazierfahrt auf. „Sie wollten die Feinde sehen“,
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schreibt Anna Tjuttschewa. „Der Zesarewitsch und die Zesarewna setzten sich mit ihren vier Söhnen in einen englischen Kremser. Sogar der kleine Alexej, der erst vier Jahre alt ist, fuhr mit, sehr aufgeregt in Erwartung der Engländer.“14 Auf dem Balkon des Palastes in Oranienbaum, der etwas höher liegt, war eine ganze Batterie Teleskope und Fernrohre aufgestellt. In der gleißenden Sonne waren die Schiffe nur schemenhaft zu erkennen, doch sie lagen da. Die Erschütterung war enorm. Man konnte nun damit rechnen, dass die Engländer schießen würden, und mochte es doch nicht glauben. In diesem Jahr wurde der Geburtstag des Kaisers am 6. Juli nicht gefeiert. Die Frage war, wie würde Österreich sich verhalten? Würde es eingreifen oder neutral bleiben? Wien forderte Nikolaus ständig auf, seine Truppen aus den Donau-Fürstentümern abzuziehen, und bewies schon damit seine Undankbarkeit. Hatte er das Land 1848/49 nicht vor dem Zerfall gerettet, indem er die ungarische Revolution niederschlug? „Der Kaiser von Österreich ist toll“, schreibt Maria ihrem Bruder Alex, der nun österreichischer (!) Generalmajor war, „das Wohl seines Kaiserreiches in dem zu sehen, was, glaube ich, sein Untergang sein wird … Dich im Dienste dieses undankbaren und perfiden Österreich zu sehen, schmerzt mich tief, aber mein Gott, was soll man machen? Man muss sich eben fügen.“15 Obendrein übermittelte Wien am 18. Juli auch noch eine von Napoleon III. entworfene Friedensnote, die sog. „vier Punkte“, die Nikolaus nach Rücksprache mit London, Berlin und Konstantinopel als Grundlage für Friedensverhandlungen zugestellt wurden. Demnach sollte an die Stelle der russischen Schutzherrschaft über die Donaufürstentümer eine Garantie ihrer Stellung durch die fünf Großmächte England, Frankreich, Österreich, Preußen und Russland treten. Nach dem Abzug der Russen sollten die Österreicher sie vorübergehend besetzen. Die fünf Mächte sollten die freie Schifffahrt auf der Donau garantieren, Bosporus und Dardanellen sollten für russische Kriegsschiffe geschlossen werden, und den Schutz der nichtmuslimischen Untertanen des Sultans sollten die fünf Großmächte gemeinsam übernehmen. Nikolaus reagierte nicht gleich auf die Note. Während er sich Zeit ließ, setzten Engländer und Franzosen von Warna aus auf die Krim
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über und landeten Mitte September nördlich der Festung und Hafenstadt Sewastopol, die sie nach vergeblichen Versuchen der Russen, sie aufzuhalten, Mitte Oktober erreichten. Am 17. Oktober 1854 wurde Sewastopol zum ersten Mal bombardiert. Inzwischen hatte Nikolaus seine Truppen aus den Fürstentümern abgezogen, und die Österreicher waren eingerückt. Im Oktober zogen sie 300 000 Mann an der russischen Grenze zusammen und banden dadurch erhebliche russische Streitkräfte, die auf der Krim fehlten. Anfang Dezember schloss Österreich auch noch einen Bündnisvertrag mit England und Frankreich, demzufolge keiner der Partner einen Separatfrieden mit Russland abschließen durfte und alle drei sich vorbehielten, die „vier Punkte“ noch zu verschärfen. Nikolaus war zutiefst enttäuscht und empört. Nein, nie würde er Wien verzeihen, dass es sich, obwohl nicht kriegführend, faktisch doch aufseiten der Westmächte Frankreich und England gestellt hatte. Preußen blieb neutral, hatte aber die vier Punkte gebilligt. Das gefiel Nikolaus ebenso wenig. Er grollte auch seinem Schwager in Berlin. Wahrscheinlich wurde ihm nun allmählich klar, dass die Zeiten der Heiligen Allianz vorbei waren und er allein gegen ganz Europa stand. Er war besorgt. Wie mag sich da erst seine Schwiegertochter gefühlt haben, deren Bruder den verhassten Habsburgern diente? Maria war schon längst eine glühende russische Patriotin geworden, ihr Bruder aber stand im feindlichen Lager! Ihre Lage war nicht einfach, das Hofleben nicht geeignet, sie zu zerstreuen. „Inzwischen verläuft das Leben hier leer und leichtsinnig, wie immer“, klagt Anna Tjuttschewa, die dem Hofleben auch nichts abgewinnen konnte. „Die gleichen Spaziergänge, die gleichen Essen und Frühstücke, zu denen sich wider Willen das ganze Hofpersonal versammelt.“16 Eine Woche später schreibt sie: „Eigentlich sollten wir Gattschina Dienstag verlassen, aber die Zesarewna ist unwohl, und die Abreise wurde auf Samstag verschoben. Dieses mondäne Leben auf dem Land, in dem man nur in seine Räume zurückkehrt, um sich umzuziehen, wirkt letztlich demoralisierend und abstumpfend. Es gibt gar keine Möglichkeit zu lesen oder sich sonstwie zu beschäftigen, weil man gezwungen ist, mit Leuten zusammen zu sein, mit denen man keinerlei gemeinsame Interessen hat, weder intellektuelle noch
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seelische. Dieses leichtsinnige Leben entspricht der inneren Stimmung noch weniger: Die Wichtigkeit der Ereignisse sollte die oberflächlichsten Menschen zwingen, nachzudenken und sich zu sammeln.“17 Nikolaus I. starb völlig unerwartet am 2. März 1855 an einer Lungenentzündung, die sich aus einer Erkältung entwickelt hatte. Er war 59 Jahre alt und – nachdem er Zeit seines Lebens täglich 17, 18 Stunden gearbeitet hatte – am Ende seiner Kräfte. Die schlechten Nachrichten vom Kriegsschauplatz hatte er nicht mehr verkraftet. Wie sollte er auch begreifen, dass seine so glänzend gedrillte Paradearmee eine Schlacht nach der anderen verlor und den Feind nicht zurückwerfen konnte? Der Tod Nikolaus’ I. ist vielfach beschrieben worden. Er starb in großer Würde auf seinem Feldbett im kleinen Kabinett im Erdgeschoss des Winterpalastes, nachdem er sich von seiner großen Familie, von vielen Untergebenen und Bediensteten verabschiedet hatte. „Diene Russland“, sagte er seinem Sohn, „ich wollte alles Schwierige, Schwere auf mich nehmen, dir ein friedliches, geordnetes, glückliches Reich hinterlassen … Die Vorsehung hat anders entschieden …“18 Als er kaum noch sprechen konnte, ballte er die Faust und wandte sich noch einmal an den Sohn: „Halte alles zusammen, halte alles zusammen!“19 Er wusste, dass Alexander es nicht leicht haben würde. Von seiner Schwiegertochter hatte sich der Sterbende mit einer besonderen Bitte verabschiedet: Sie sollte sich nach seinem Tod um Kaiserin Alexandra kümmern. Dazu war Maria gern bereit, sie mochte Alexandra sehr und litt mit ihr. Der Tjuttschewa vertraut sie anderntags an: „‚Heute Nacht hat sich mir das Geheimnis der Ewigkeit eröffnet, und ich bitte Gott, nicht zuzulassen, dass ich das je vergesse.‘ Dann sprach sie ausführlich mit mir über die letzten so gehobenen Lebensminuten des Kaisers Nikolaus, über seinen Charakter, seine Liebe zu den Seinigen und über seine große Anhänglichkeit an sie und ihr Gefühl für ihn: ,Zweifellos war das der Mensch, den ich nach meinem Mann am meisten geliebt habe und der mich mehr als alle anderen geliebt hat.‘“20 An diesem Morgen erschien die unglückliche Alexandra „ganz in Weiß bei Sohn und Schwiegertochter, die nun Kaiser und Kaiserin waren, um sie ihrer Ergebenheit zu versichern und ihnen ihren mütterlichen Segen zu erteilen. Alexander und Maria waren zutiefst gerührt von dieser Geste. Alle drei weinten.21
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Auch von seinen Enkeln hatte Nikolaus sich verabschiedet und allen aufgetragen, Russland zu dienen. Wenige Tage nach dem Tod des Großvaters wurde Anna Tjuttschewa Zeugin einer Auseinandersetzung im Kinderzimmer: „Die kleinen Großfürsten Nikolaus und Alexander haben mich sehr amüsiert. Sagt der kleine Großfürst Nikolaus mit wichtiger Stimme: ‚Papá ist jetzt so beschäftigt, dass er ganz krank vor Müdigkeit ist. Als Großvater noch lebte, hat Papá ihm geholfen, aber Papá hat niemanden, der ihm hilft. Onkel Konstantin ist zu beschäftigt in seiner Abteilung, Onkel Niks und Onkel Mischa sind zu jung, und ich bin noch zu klein, um ihm zu helfen.‘ Darauf antwortete sein Bruder Alexander schnell: ‚Das stimmt nicht, dass du zu klein bist, du bist einfach zu dumm.‘ Der Thronfolger, durch diese respektlose Unterstellung aus der Geduld gebracht, griff nach einem Kissen und warf es seinem Bruder in den Rücken. Großfürst Alexej hielt es für nötig, die Seite der Opposition einzunehmen und fing seinerseits an zu schreien: ,Du bist dumm, einfach dumm.‘ Es kam zu einem Gerangel, und der Thronfolger entfernte sich, schwer gekränkt durch den Mangel an Vertrauen seiner Brüder in seine Führungsfähigkeiten.“22 Die Diskussion über das Regime Nikolaus’ I., der Russland in den Stillstand und in einen überflüssigen Krieg geführt hatte, der eine Atmosphäre im Lande erzeugt hatte, die vielen seiner Untertanen die Luft zum Atmen nahm, ließ nicht auf sich warten. Die Kaiserinmutter und der junge Kaiser beteiligten sich natürlich nicht daran, wohl aber Konstantin Nikolajewitsch, der General-Admiral, der während seiner Marineausbildung einen tieferen Einblick in den russischen Alltag gewonnen hatte als sein Vater und sein Bruder. „Wir haben uns dreißig Jahre geirrt und denken, dass wir uns damit zufrieden geben können, dass wir endlich beliebten, die Fehler zu bemerken“, schreibt der Großfürst an den späteren Innenminister Walujew, „aber wir wollen ihre unvermeidlichen Folgen nicht zulassen. An diese dreißig Jahre werden wir uns nicht nur einmal erinnern.“23 Auch Anna Fjodorowna hatte der verstorbene Herrscher enorm imponiert. Ihr Vater war weniger begeistert. In seinem Epitaph für Nikolaus I. fällt Fjodor Tjuttschew ein vernichtendes Urteil über den verstorbenen Monarchen:
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Nicht Gott hast du gedient, nur deinem Spiegelbilde, Du dientest nicht einmal dem eignen Land. Und alle Dinge, die du tatst, bösartig oder milde, Es waren alles Lügen, leere Wahngebilde: Kein Zar warst du, nur Schmierenkomödiant. 1855 (Aus dem Russ. von Eric Boerner)
Die Beurteilung Nikolaus’ I. schwankt bis heute, doch einen Schmierenkomödianten würde ihn kein Historiker mehr nennen. Er war ein Prinzipienreiter, ein Pedant, der nicht über seinen selbstherrlichen Schatten springen konnte, er war rechthaberisch und eitel, aber er war weder ein Tyrann noch ein Bösewicht. Am 19. Febr./2. März erließ Alexander II. das Manifest über seine Thronbesteigung, das zuerst in der Großen Palastkirche und dann in allen Kirchen des Landes verlesen wurde. In der Einbildung des Volkes war der junge Kaiser ein Halbgott, von dem Milde und Licht erwartet wurden.24 In der Petersburger Gesellschaft war von nahen Veränderungen und Erleichterungen die Rede, auch hier waren die Erwartungen groß. Dabei gab es eigentlich keinen Grund, in Alexander II. einen Liberalen zu sehen. Alexander Nikolajewitsch war der Sohn seines Vaters und nie durch Aufmüpfigkeit oder Kritik aufgefallen. Er hatte alle Aufträge des Vaters ausgeführt und loyal mit ihm zusammengearbeitet. Die Autokratie war auch für ihn gottgegeben, an Reformen hatte er als Thronfolger nicht gedacht. Für diejenigen, die ihn kannten und für einen Januskopf hielten, war es daher keine Überraschung, als er am 7. März vor dem diplomatischen Corps erklärte, dass er sich an die politischen Prinzipien seines Vaters halten wolle. Pietät, Rücksichtnahme, Taktik? Natürlich wusste Alexander nur zu gut, dass er das Land nicht mehr wie sein Vater würde regieren können. Russland war kein Kasernenhof, auf dem alle nur zu gehorchen hatten, Russland war ein lebendiger Organismus, der endlich freier atmen wollte. Das Land lechzte geradezu nach Veränderungen, und der unglückliche Verlauf des Krimkrieges hatte gezeigt, dass Veränderungen nötig waren. „Aber überall herrscht eine gewisse Unschlüssigkeit, eine Ungewissheit, was sein wird und was namentlich die Regierung will“, notiert
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eine aufmerksame Zeitgenossin, „alle fühlen, dass es irgendwie leichter wird, sowohl hinsichtlich der Kleidung als auch hinsichtlich des Geistes. F.I. Tjuttschew hat die heutige Zeit sehr schön ,Tauwetter‘ genannt.* Genauso. Aber was folgt auf das Tauwetter? Der Frühling und ein schöner Sommer wären gut, aber wenn dieses Tauwetter vor übergehend ist und der Frost von neuem alles einhüllt, dann wird es noch schwerer.“25 In der Gesellschaft nahm kaum noch jemand ein Blatt vor den Mund, und sogar bei Hofe hatte Tauwetter eingesetzt. Denn am 7. April traf Alexander von Hessen wieder in St. Petersburg ein. Mehr als drei Jahre hatte Maria den geliebten Bruder nicht gesehen. Sie war überglücklich. Im Laufe des Jahres wurden die schikanösen Beschränkungen an den Universitäten, die nach den europäischen Revolutionen von 1848/1849 eingeführt worden waren, aufgehoben und Reisen ins Ausland wieder erlaubt. Im Dezember 1855 wurde das Oberste Zensurkomitee abgeschafft. Das waren wichtige Schritte. Allerdings machte Alexander den Fehler, die Würdenträger seines Vaters zunächst auf ihren Posten zu belassen, Männer, die nicht gewillt waren, Veränderungen zu akzeptieren, geschweige denn mitzutragen, und die Partei der „Retrograden“ war stark. Am 2. Mai übersiedelte der Hof nach Zarskoje Selo. In diesem ersten Sommer nach Nikolaus’ Tod fanden dort keinerlei Festivitäten statt. Abends versammelten sich die engsten Vertrauten der kaiserlichen Familie im Alexander-Palast, saßen still bei der Kaiserinmutter und trauerten mit ihr. Danach kehrten Alexander und Maria in den Katharinenpalast zurück, wo sie dieselben Zimmer im Subow-Flügel bewohnten, die sie schon als Thronfolger bewohnt hatten. Nur die beiden jüngeren Kinder hatten sie bei sich, die älteren Söhne lebten bei ihrer kaiserlichen Babuschka im Alexander-Palast. „Der Kaiser und die Kaiserin lieben diesen Aufenthaltsort sehr“, schreibt Anna Tjuttschewa. „Sie leben hier ein intimes, enges Familienleben. Die Zimmer der jüngeren Kinder, die noch von den Ammen auf den Armen getragen werden, befinden sich hier Tür an Tür mit dem * Der Begriff wird gewöhnlich dem sowjetischen Schriftsteller Ilja Ehrenburg zugeschrieben, dessen Roman Tauwetter die Nach-Stalin-Zeit einleitete.
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Zimmer der Kaiserin, während die kleinen Kinder in der Stadt auf einer anderen Etage leben. Wenn die Kaiserin an ihrem Schreibtisch arbeitet oder sogar wenn sie jemanden in ihrem Kabinett empfängt, hört man die ganze Zeit das Tippeln kleiner Füßchen und sieht mal den kleinen Großfürsten Aleksej, mal die kleine Großfürstin Maria, die zu ihrer Mama durchbrechen, irgendein Spielzeug mitschleppen und sich ohne Zeremonien zum Spielen auf dem Sofa oder auf dem Teppich bei der Kaiserin niederlassen. Während des Spaziergangs, den Ihre Majestäten dreimal täglich unternehmen – morgens vor dem Frühstück, tagsüber zwischen zwei und vier vor dem Essen und abends zwischen sieben und acht Uhr – begleiten sie immer alle ihre Kinder, tollen fröhlich um sie herum und spielen mit den Hunden des Kaisers, die auch an den Spaziergängen teilnehmen. So fühlen Ihre Majestäten sich hier wohl, sie sind nicht an die Etikette gebunden und durch das städtische Leben eingeengt, und ihre Seele breitet sich in Freiheit aus.“26 Am 26. Mai 1855 erschien die englische Flotte erneut vor der Seefestung Kronstadt. 13 Schiffe. Alexander fuhr sofort los, um sie sich anzusehen, aber als er ankam, waren sie wieder verschwunden. Am 31. Mai zeigten sich noch einmal feindliche Schiffe vor der Inselfestung. Alexander fuhr wieder hin und erklärte anderntags zufrieden, dass die englische Flotte wieder weg sei.27 Einigermaßen beruhigt übersiedelte der Hof nach Peterhof. „Dieser Ort ist mir äußerst unsympathisch“, schreibt Anna Fjodorowna über diese Sommerresidenz. „Hier spielt man bürgerliches und bäuerliches Leben. Der Kaiser, die Kaiserin und andere Mitglieder der Familie leben auf verschiedenen Farmen, in Cottages und Chalets, in allen möglichen Pavillons, die verstreut im Park Alexandria liegen, wo alle diese Großen der Welt sich der Illusion hingeben, dass sie einfache Sterbliche sind. Wenn es regnet, und das ist in Peterhof gewöhnlich der Fall, erscheinen im Schlafzimmer der Kaiserin Frösche, weil dieses Zimmer auf einer Ebene mit dem sumpfigen Boden liegt, der mit prächtigen Blumenbeeten bedeckt ist, die hier unter riesen Kosten angelegt wurden. Die Feuchtigkeit ist so groß, dass in ihren Kommoden und Schränken Pilze wachsen, und sie leidet den ganzen Sommer unter Entzündungen und Rheuma.“28
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Die wichtigste Frage für den neuen Kaiser war, ob der Krieg fortgesetzt werden sollte oder ob er beendet werden musste. Alexander wusste, dass kein Geld da war, dass die Gewehre seiner Soldaten noch aus den Napoleonischen Kriegen stammten, dass die Korruption blühte und die Logistik nicht klappte. Eine Eisenbahnlinie auf die Krim gab es noch nicht. Er wusste auch, dass seine Armeen schlecht geführt wurden. Am 20. Juni ging die englische Flotte vor dem Hafen von Kronstadt sogar vor Anker. Aus Oranienbaum konnte man nun schon die Besatzungen an Deck erkennen. Von Stunde zu Stunde war mit dem Beginn der Bombardierung zu rechnen …29 Kurz entschlossen fuhr die kaiserliche Familie samt Suite an Bord ihrer Jacht wieder nach Kronstadt, um sich die Schiffe näher anzusehen. Man fuhr in „schrecklichen Droschken“ durch dicke Staubwolken zur Batterie Nr. 4 im Norden und erblickte neun feindliche Schiffe, die in nur sechs Werst Entfernung auf der spiegelglatten Wasseroberfläche lagen. Es war wieder ein wunderbarer Sommertag.30 Aber alle hatten das Gefühl, dass sich ein großes Unglück anbahnte und dass die Lage ernst war. Bemerkenswert fand Anna Fjodorowna, dass sich der Kaiser und die Kaiserin „unter vier Augen nicht genieren, darüber zu sprechen, dass unsere Politik in der Vergangenheit von Grund auf falsch war, weil sie die Interessen Westeuropas stärker im Auge hatte, die nichts mit den Interessen Russlands gemeinsam hatten, während die Interessen der slawischen und orthodoxen Welt, mit denen Russland solidarisch ist, überhaupt nicht beachtet oder hintenan gestellt und den Interessen Europas zum Opfer gebracht wurden.“ Zwar werde Frieden geschlossen werden, hört sie die Kaiserin einem Besucher sagen, „aber nicht so bald und natürlich nicht auf der Grundlage der vier Punkte.“31 Anna war erleichtert. Ende Juli notiert sie: „Heute wurde der Geburtstag der Kaiserin gefeiert. Sie ist 31 Jahre geworden …“ Die noch nicht zweijährige Maria sagte einen englischen Vierzeiler auf und wurde wegen ihrer guten Aussprache gelobt.32 In der Woche nach Marias Geburtstag bombardierte die englische Flotte 40 Stunden lang die Festung Sveaborg (Suomenlinna), den russischen Marinestützpunkt vor Helsinki, Hauptstadt des seit 1809 zu
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Russland gehörenden Großfürstentums Finnland. Der Eindruck war verheerend, und die Kaiserin untertrieb, als sie ihrem Bruder schrieb: „Der einzige Schaden ist der Holzvorrat der Marine für den Winter, der verbrannt ist. Costy (Großfürst Konstantin) möchte wissen, wem es mehr kostete, ihm, sein Holz zu erneuern, oder ihnen, ihre tausend und abermals tausend von Bomben und Raketen, mit denen sie Sweaborg regaliert haben. Mit Bezug darauf erzählt er, dass, als Ludwig XIV. Algier bombardieren ließ und die Stadt in Brand setzte, der Bey nach der Übergabe den befehligenden französischen Admiral beiseite nahm und ihn fragte, was die Unternehmung den König gekostet habe. Als daraufhin der Seeoffizier eine sehr bedeutende Summe nannte, rief der Bey aus: ‚Ach, warum hat er mir das Geld nicht gegeben, ich hätte meine Stadt dann selbst angezündet.‘“33 Am 8. September 1855 ergab sich Sewastopol nach fast einjähriger Belagerung, und die Russen zogen ab. Alexander II. liefen die Tränen über die Wangen, als er die Nachricht vom Abzug der tapferen Verteidiger erhielt, aber er schien nicht zu merken, dass er weinte. „Heute Morgen sah ich die Kaiserin“, schreibt Anna Tjuttschewa tags darauf. „Rein äußerlich war sie ruhig wie immer, aber so blass! Sie sagte mir: ‚Es ist nicht an uns, über Gottes Wege zu urteilen. All die Prüfungen sind nötig, um uns zu dem Ziel zu bringen, das nur ihm bekannt ist.‘ Sie sagte mir, dass der Herrscher ungeachtet der Tatsache, dass er zutiefst erschüttert sei, den Mut nicht verliere und nicht am Sieg der großen Idee zweifele, für die Russland kämpft, dass er niemals nachgeben werde, wenn es um Russlands Ehre und Ruhm geht.“34 Inzwischen war in der Juniausgabe des Sowremennik die erste der drei Sewastopoler Erzählungen von Leo N. Tolstoj erschienen: Sewastopol im Dezember, und der Autor arbeitete an Sewastopol im Mai. Alexander hatte die erste Erzählung im Sowremennik gelesen und war tief beeindruckt. Tolstoj selbst war im November 1854 auf die Krim versetzt worden und hatte bis August 1855 als Artillerieoffizier an der Verteidigung Sewastopols teilgenommen. Er wusste also, wovon er sprach. Sein Held war nach eigenem Bekunden die Wahrheit, und die roch nach Blut, Qualen und Tod. Die Zeitgenossen betrachteten die Erzählungen eher als journalistische Arbeiten, und in der Tat war Tolstoj der erste Kriegsberichterstatter Russlands. Was er schilderte, war
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die Wirklichkeit des Krieges. Alexander II. empfahl, die Erzählung ins Französische zu übersetzen. Die Lektüre mag ihn in seinem Entschluss bestärkt haben, sich selbst ein Bild von der Lage zu machen, ehe er entschied, ob er den Krieg fortsetzen oder beenden sollte. Am 8./20. September, dem Geburtstag des Thronfolgers, reiste er von Moskau aus für zwei Monate in die südlichen Gouvernements, besuchte Odessa und Nikolajew, schließlich auch die Krim, sprach mit Soldaten, Offizieren und Gefangenen, in einem Lazarett in Simferopol auch mit Verwundeten und gelangte zu der Einsicht, dass der Krieg zu beenden war. Mitte November kehrte er nach Zarskoje Selo zurück. Anna Tjuttschewa fand, dass er gut aussah, er selbst war froh, die Reise gemacht zu haben.35 Während seiner Abwesenheit hatte Maria das Moskauer Erziehungshaus besichtigt, das Katharina II. einst gegründet hatte, und hinter der schönen Fassade viele Unzulänglichkeiten und Mängel festgestellt. Besonders die Oberflächlichkeit und Weltfremdheit der Heim erziehung fand sie unerträglich. Sie nahm sich vor, hier möglichst bald etwas zu ändern. In diesem Jahr verzichtete der Hof auf den üblichen Jagdaufenthalt in Gattschina und kehrte aus Zarskoje in die Hauptstadt zurück. Ungern, wie Anna Fjdorowna scheibt: „Der Kaiser und die Kaiserin ziehen heute in die Stadt um. Sie sind damit sehr unzufrieden, weil das Leben in Zarskoje ihnen sehr gefällt. Besonders der Kaiserin wird die Nähe zu den Kindern fehlen, die hier neben ihr leben, in der Stadt aber auf einer anderen Etage. Hier kommt die kleine Großfürstin jede Minute zur Kaiserin gelaufen, ständig sind ihre Kinderschrittchen zu hören, jede Minute erscheint ihr lächelndes Gesichtchen in der Tür. Jeden Abend befasst sich die Herrscherin selbst mit der Toilette ihrer Tochter, wäscht sie, gibt ihr das Abendessen, hält sie an, ein Gebet zu sprechen, und bringt sie zu Bett. Die Kleine ist glücklich darüber und sehr traurig, wenn die Herrscherin beschäftigt ist und in dieser Stunde nicht zu ihr kommen kann. Wenn die Herrscherin sie auszieht, lenkt der kleine Großfürst Alexander, der Liebling seiner Schwester, sie ab und treibt allerlei Schabernack, um sie zum Lachen zu bringen. In der Stadt ändert sich das, sie werden viel weiter voneinander getrennt sein, dank der Räume, erstens, aber auch dank der Arbeit der Kaiserin. Sie sind so
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glücklich in der Familie, dass sie natürlich zusammen sein möchten. Ich ärgere mich immer über das, was die Kaiserin ärgert, und das hindert mich daran, mich über die Abreise von hier zu freuen, obwohl ich mich hier sehr gelangweilt habe und sehr traurig war.“36 Die Stimmung bei Hofe besserte sich erheblich, als am 14. Dezember die Nachricht von der Kapitulation der türkischen Festung Kars in Nordostanatolien eintraf. Die Russen machten 16 000 Gefangene und erbeuteten 130 Kanonen und 30 000 Gewehre. Damit hatte sich die russische Ausgangsposition für die Friedensverhandlungen erheblich verbessert. Doch dann überbrachte der österreichische Botschafter im Namen der Alliierten ultimativ die Friedensbedingungen. „Hier ist alles für den Frieden, weil wir Feiglinge sind“, notiert Anna Tjuttschewa. Sie hätte vorgezogen, dass der Krieg weiterging, dass die slawische Welt sich gegen ihre Unterdrücker erhob, dass die Türkei fiel und die Orthodoxie triumphierte. „Ich bin glücklich, die Stärke des Herrschers und der Herrscherin zu sehen, ich halte sie für ein Geschenk Gottes, denn in den Menschen haben sie keine Stütze, sie sind nur von Schurken umgeben.“37
6 „Die Kaiserin ist ein Engel“ Auf dem Thron Große Wasserweihe 1856 – Pariser Frieden – Fürst Alexander M. Gor tschakow – Erziehungsprogramm für Nixa – Moltkes Briefe aus Russland – Johann Strauss: Krönungsmarsch, op. 183, Krönungslieder, op. 184 – Krönung in Moskau – Rede Alexanders II. vor dem Moskauer Adel – Geburt Sergejs (1857) – Kissingen/Brückenau – Franz Xaver Winterhalter – Zwei-Kaiser-Treffen in Stuttgart – Weimar – Reskript Alexanders II. zur Bauernbefreiung 1856–1857
Die Große Wasserweihe vor dem Winterpalast ist häufig beschrieben worden. Besonders für Ausländer war die feierliche Zeremonie am 6. Januar a.St. immer wieder ein eindrucksvolles Ereignis. Das Fest zur Erinnerung an die Taufe Jesu im Jordan begann mit dem zeremoniellen Aufzug der kaiserlichen Familie aus ihren Privatgemächern in die Große Palastkirche. Nach dem Gottesdienst führte eine Prozession mit dem Petersburger Metropoliten und der Hofgeistlichkeit an der Spitze durch die Paradesäle im ersten Stock, die große Botschaftertreppe hinab ins Erdgeschoss und aus dem Vestibül über das Palastufer auf den zugefrorenen Fluss bis zu der Stelle, an der eine Holzkapelle über einem Eisloch errichtet war. Hier tauchte der Metropolit sein Kreuz dreimal in das Eisloch, womit das Wasser und zugleich die gesamte Schöpfung gesegnet waren. Dann wurde das Kreuz noch einmal unter freiem Himmel in ein anderes Eisloch getaucht. Die Damen des Hofes beobachteten das grandiose Spektakel in der Regel aus den großen Fenstern der Newa-Enfilade. Doch am 6./18. Januar 1856 verlangte Alexander von seiner Frau, dass auch sie auf das Eis der Newa hinausging und an der Prozession um den Winterpalast teilnahm. Nur wenige Damen entschlossen sich, die Herrscherin in die
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Kälte hinaus zu begleiten und dem beißenden Wind zu trotzen. Aber Maria fügte sich. Sie fügte sich immer. Anna Tjuttschewa jedoch grollte dem Herrscher, weil er seine Frau der Kälte ausgesetzt hatte, „aber die Männer sind in höchstem Maße grausame Wesen“.1 Ansonsten drehten sich zu Jahresbeginn alle Gespräche bei Hofe um die Friedensverhandlungen, die am 25. Februar in Paris beginnen sollten. Die Bedingungen hatte Österreich im Auftrag Englands und Frankreichs Ende 1855 in ultimativer Form übermittelt, die „vier Punkte“ waren verschärft worden: Das Schwarze Meer wurde für neutral erklärt. Die Meerengen wurden für alle Kriegsschiffe gesperrt, Russland durfte an den Küsten des Schwarzen und des Asowschen Meeres keine Arsenale und keine Kriegshäfen mehr unterhalten. Das russische Protektorat über die Donaufürstentümer wurde aufgehoben und durch das Protektorat der fünf Mächte ersetzt. Diese übernahmen auch den Schutz der osmanischen Untertanen nichtmuslimischen Glaubens. Jede Verletzung des Vertrages, insbesondere ein Angriff auf das Osmanische Reich, wollten England, Frankreich und Österreich als casus belli betrachten. Die Lage war ernst, und das wusste die Kaiserin. Sie war Realistin und sah nun auch die Politik ihres Schwiegervaters in einem anderen Licht. „Unser Unglück besteht darin“, erklärt sie der Tjuttschewa, „dass wir nur schweigen können, wir können dem Land nicht sagen, dass dieser Krieg auf unkluge Art und Weise begonnen wurde, dank einem taktlosen und ungesetzlichen Vorgehen (der Besetzung der Donaufürstentümer), dass dieser Krieg ungeschickt geführt wurde, dass das Land nicht darauf vorbereitet war, dass es weder Waffen noch Geschosse gab, dass die gesamte Verwaltung schlecht organisiert ist, dass unsere Finanzen erschöpft sind, dass unsere Politik schon lange auf dem falschen Weg war und dass all das uns in die Lage gebracht hat, in der wir uns jetzt befinden. Nichts können wir sagen, wir können nur schweigen und es der Welt überlassen zu urteilen, indem wir auf die Zukunft setzen, wenn sich die öffentliche Meinung ändert.“2 Die Tjuttschewa war ob dieser Aussage „bis in die Seele erschüttert“. Aber sie hatte die Kaiserin ganz gut verstanden, und im Grunde genommen gab sie ihr Recht. Der „arme Alexander“ musste eben die „bitteren Früchte der Herrschaft seines Vaters“ schlucken. Aber um
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Russland aus diesem Dilemma herauszuführen, bedurfte es ihrer Ansicht nach eines Mannes voller Energie und Tatkraft, der „unerschütterlich an die historische Berufung Russlands und sein Schicksal glaubt“.3 Der neue Kaiser war in ihren Augen nicht dieser Mann. „Der Kaiser ist der Beste aller Menschen. Er wäre ein hervorragender Herrscher in einem gut organisierten Land und in Friedenszeiten, dort, wo er nur zu erhalten hätte“, fand sie, „aber ihm fehlt das Temperament des Neuerers. Die Kaiserin hat auch keine Initiative, sie ist vielleicht einer Heiligenaureole würdig, aber sie wird nie eine große Herrscherin sein. Ihre Sphäre ist der sittliche Bereich und nicht die verdorbene Welt des irdischen Daseins. Sie sind zu gut, zu rein, um die Menschen zu verstehen und über sie zu herrschen. Sie haben nicht jene Kraft, jene Energie derer, die sich der Ereignisse bemächtigen und sie nach ihrem Willen lenken; ihnen fehlt es an Begeisterung. Wenn sie an die Berufung Russlands glaubten, würden sie sich mit einem Aufruf an das russische Volk wenden, sie würden an seine Würde, an die Unfehlbarkeit unserer Kirche glauben, sie würden Österreich wieder und wieder herausfordern, die slawischen Völker wecken und triumphieren oder untergehen. Aber man hat ihnen gesagt, dass es an Pulver und Geld fehlt, und sie haben sich gefügt, wenn auch mit Schmerz im Herzen, und die Erniedrigung und Schande ihres Landes als Strafe Gottes angenommen. Gestern sagte mir die Kaiserin: ‚Diese ganze Aufregung – das sind Worte, aber die materiellen Probleme, das ist die Wirklichkeit.‘ Als wenn der Glaube nicht auch dort Ressourcen schaffte, wo es keine gibt! Aber Russland ist ein Land des Glaubens, und man muss um einen Herrscher zittern, der diesen Glauben verrät, auch wenn sein Herz vor Gott rein ist. Meine Seele ist traurig, ich sehe die Zukunft trübe und dunkel vor mir. Ich zittere um das Schicksal dieser mir lieben Menschen. Sie sind so gut, so rein und in einen so grausamen Konflikt verwickelt, dessen Folgen ihnen selbst nicht bewusst sind.“4 Der Friedensvertrag wurde am 30. März 1856 in Paris unterzeichnet. „Vom geschlossenen Frieden sage ich nichts mehr“, schreibt Maria ihrem Bruder Alex. „Du weißt, was ich davon halte, on s’y résigne sans joie.“*5 * „… man findet sich ohne Freude damit ab.“
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Den Frieden empfand sie wie ganz Russland als Schandfrieden. Aber da war noch das Thema Leibeigenschaft, das die Öffentlichkeit genauso bewegte wie der Friedensschluss, und die Gerüchteküche brodelte. Doch niemand wusste etwas Genaues, und die Bauern wurden unruhig. Um die aufgeregten Gemüter zu beschwichtigen und Unruhen auf dem Land zu verhindern, reiste Alexander Anfang April nach Moskau und hielt vor der dortigen Adelsversammlung jene berühmte Rede, in der er offiziell ankündigte, wovon seit seiner Thronbesteigung geredet wurde: die Bauernbefreiung, die durchzuführen sich weder Nikolaus I., sein Vater, noch Alexander I., sein Onkel, getraut hatten, obwohl beide wussten, dass sie unerlässlich war. „Sie werden gewiss selbst verstehen, dass die gegenwärtige Ordnung des Eigentums an leibeigenen Seelen nicht unverändert fortbestehen kann“, trug der Kaiser dem Moskauer Adel vor. „Es ist besser, die Leibeigenschaft von oben abzuschaffen, als zu warten, bis sie sich selbst von unten abschafft. Ich bitte Sie, darüber nachzudenken, wie das durchgeführt werden könnte.“ Alexander wusste, dass die Widerstände groß sein würden und dass er die Unterstützung der liberalen Bürokratie brauchte. Er brauchte auch die Unterstützung seiner Familie und fand sie vor allem in seinem Bruder Konstantin, dem GeneralAdmiral, und in seiner Tante Jelena Pawlowna, die ihre 30 000 Bauern bereits freigelassen hatte. Aber auch seine Frau stärkte ihm den Rücken, wann immer er zauderte und zögerte. Und das war chronisch der Fall. Er zögerte sogar gern, weil er sich gern bitten ließ. Aber die Frau an seiner Seite hatte, wie Alexanders Biograf Edward Radsinskij schreibt, einen „unbeugsamen deutschen Willen“. Sie führt „schrecklich gern das aus, was Sascha (so nennt sie den Kaiser) jetzt von ihr erwartet. Sie lässt ihn nicht zurückweichen. Sie gibt nicht nach: Sascha muss die Sklaverei beenden“.6 Doch vor allem anderen musste endlich die Krönung stattfinden, die Alexander wegen des andauernden Blutvergießens auf der Krim verschoben hatte. Am 17./29. April 1856, seinem 38. Geburtstag, erließ er endlich ein Manifest, in dem er „all Seinen treuen Untertanen“ kundtat, dass seine Krönung im August in der Ersten Residenzstadt Moskau stattfinden werde. „Heute, da ein wohltuender Frieden Russland die frühere Ruhe zurückbringt, beabsichtigen Wir, Uns nach dem Beispiel
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der frommen Herrscher, Unserer Vorfahren, die Krone aufzusetzen und die vorgeschriebene Myronsalbung zu empfangen, indem wir an dieser heiligen Handlung auch Unsere geliebte Gattin, die Herrscherin und Kaiserin Maria Alexandrowna, teilhaben lassen.“7 In diesem April wurde Fürst Alexander M. Gortschakow, ein erfahrener älterer Diplomat, der Deutschland und Österreich gut kannte, zum Außenminister ernannt und nun oft mit dem Satz „La Russie ne boude pas, elle se recueille“* aus seinem ersten Zirkularschreiben an die russischen diplomatischen Vertretungen im Ausland zitiert. Damit war gemeint, dass Russland sich nach der Niederlage im Krimkrieg keineswegs beleidigt aus der europäischen Politik zurückgezogen hatte, sondern dass es sich sammelte, um zu neuen Kräften zu kommen. Gortschakow, der 1863 auch noch zum Staatskanzler ernannt wurde, sollte die russische Politik ein Vierteljahrhundert lang leiten. Ihm war bewusst, dass sich das Land reformieren musste, wenn es sich als Großmacht behaupten wollte. Er war ein überzeugter Westler. Schon gleich im April 1856 hatte Maria den neuen Außenminister, der einst zusammen mit Alexander Puschkin das berühmte AlexanderLyzeum in Zarskoje Selo absolviert hatte, gebeten, ein Erziehungsprogramm für den inzwischen knapp 13-jährigen Thronfolger zu erarbeiten, was er auch tat. Das Programm, eine „Instruktion“ in französischer Sprache, war ein bemerkenswertes Plädoyer für eine liberale, zivile, westlich orientierte Erziehung, das den Vorstellungen der Mutter und den Erfordernissen der neuen Zeit entsprach. „Berufen, über Russland zu herrschen, muss der Thronfolger sein russisches Herz mit europäischem Verstand verbinden“, schreibt Gortschakow. „Je mehr er sein Vaterland liebt, desto weniger darf er die Augen vor dessen Mängeln verschließen […]. Möge in ihm die Überzeugung reifen, dass Russland ungeachtet seiner Weite und der ihm eigenen Besonderheiten keine Ausnahme darstellt, sondern alles in sich einschließt, was es an Gutem oder Schlechtem überall auf der Welt gibt. Es ist den gleichen grundlegenden natürlichen Gesetzen unterworfen …“8 Dem Programm zufolge sollte der Thronfolger bis zu seinem 21. Lebensjahr eine Gymnasialbildung, ein Universitätsstudium und eine praktische Ausbil* „Russland schmollt nicht, es sammelt sich.“
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dung absolvieren, drei Etappen, die auch Alexander II. selbst unter der Leitung Wassilij Schukowskijs durchlaufen hatte. Allerdings schlug Gortschakow vor, dass der Thronfolger die Petersburger Universität besuchte und den Vorlesungen wie alle anderen Studenten im Hörsaal folgte und nicht allein in einem Palast vor seinen Lehrern saß. Die praktische Ausbildung sollte er im Amte eines General-Gouverneurs durchlaufen, damit er die Verwaltung eines Gouvernements „von der Pike auf“ kennenlernte. Es war zwar nicht vorgesehen, dass der kaiserliche Auszubildende auch Verantwortung für seine Entscheidungen übernahm, doch allein die Tatsache, dass der Thronfolger nicht mehr fern der Lebenswelt seiner künftigen Untertanen bei Hofe, sondern „vor Ort“ und wie alle anderen jungen Leute ausgebildet werden sollte, war vielversprechend. So würde der neue Herrscher die Folgen seiner Befehle und administrativen Eingriffe besser verstehen. Kurzum, Gor tschakow sah im Thronfolger eher den künftigen ersten Bürger des neuen Russland als den künftigen Selbstherrscher. Die militärische Seite der Erziehung des Thronfolgers überging er. Das Programm entsprach den Vorstellungen der Mutter, aber nicht denen des Vaters, der auf einer militärischen Ausbildung seines Ältesten bestand, wie er selbst und seine Brüder sie erhalten hatten und wie Generalmajor Sinowjew, der nun von einem zivilen Erzieher abgelöst werden sollte, sie begonnen hatte. Die Eltern stritten heftig über den richtigen Weg, wobei sich die Kaiserin empfänglicher für neue pädagogische Strömungen zeigte als der Kaiser.9 Überhaupt war es Maria, die sich auch um die alltägliche Erziehung kümmerte, Alexander hatte die „Krümelchen“ zwar gern um sich und spielte mit ihnen, aber die praktische Erziehungsarbeit interessierte ihn nicht. Er beschränkte sich auf Bemerkungen. Auf Marias Drängen hin wurde Gortschakows Programm zunächst befolgt und der Diplomat, Historiker und Schriftsteller Wladimir P. Titow zum Haupterzieher und Nachfolger Sinowjews ernannt. Titow galt als kluger, gebildeter Mann, aber über pädagogische Fähigkeiten verfügte er nicht, und anscheinend war er unendlich zerstreut. Seine Zerstreutheit hinderte ihn aber nicht daran, exzellente Fachlehrer auszuwählen, unter ihnen Professor Konstantin D. Kawelin, ein führender Liberaler, der lange an der Moskauer Universität gelehrt hatte.
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Der bekannte Jurist und Historiker war bereits 1855 mit einer Notiz über die Befreiung der Leibeigenen hervorgetreten, die zunächst in Handschriften zirkulierte, bevor sie im Ausland veröffentlicht wurde und ungeheures Aufsehen erregte. Darin hatte er vorgeschlagen, die Leib eigenen das Land, das sie von den Gutsbesitzern erhalten sollten, mit Unterstützung des Staates bezahlen zu lassen. Die Sensation war umso größer, die öffentliche Meinung umso erregter, als bis zum Erscheinen der Notiz offiziell noch nichts verlautbart worden war. Die Veröffent lichung hatte Alexander II. zu seiner Moskauer Rede gezwungen. Kawelin, der von der Kaiserin sagte, dass sie sich in Fragen der Bildung und Erziehung besser auskenne als ein Pädagoge, sollte den Thronfolger nun also in russischer Geschichte und bürgerlichem Recht unterrichten. Der Kaiser war nicht begeistert, die Umgebung des Thronfolgers war ihm zu „zivil“ und zu „liberal“. Kawelins Berufung erfolgte auf Wunsch der Kaiserin, jedoch gegen den Willen des Kaisers, er hat sich nicht ein einziges Mal mit diesem Lehrer seines Sohnes unterhalten.10 Als Kawelins Notiz im April 1858 auch im Petersburger Sowremennik erschien, wurde er entlassen. Alexander II. liebte es nicht, unter Druck gesetzt zu werden. Die Krönung sollte nun am 26. Aug./7. Sept. 1856 stattfinden und ein Friedensfest für Europa und Asien werden, auf dem Russland sich von seiner besten Seite zeigen wollte, ein großartiges Fest, das der Verlierer gab, der Unterlegene, und zugleich ein internationales Medienereignis! Die Kosten sollen die Kosten der Krönung Alexanders I. um das Zwanzigfache überstiegen haben. Und halb Europa pilgerte nach Moskau. Unter den geladenen Gästen war – abgesehen von Johann Strauss (Sohn), dem Walzerkönig aus Wien – kein anderer Souverän. Strauss, der im Mai 1856 seine zehnjährige Konzerttätigkeit im Musikbahnhof zu Pawlowsk begonnen und einen ersten phänomenalen Triumph gefeiert hatte, war vom neuen Kaiser mit dem Auftrag nach Moskau gebeten worden, auf einem Hofball, den Alexander zu geben beabsichtigte, und auf einem Ball des österreichischen Botschafters zu spielen. Iwan Strauss, wie ihn die Russen nannten, kam mit dem Krönungsmarsch, op. 183, und dem Walzer Krönungslieder, op. 184, im Gepäck. Beide Werke hatte er zuvor zusammen mit der Polka française
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L’inconnue, op. 182, in Pawlowsk uraufgeführt, der Marsch war „Seiner Majestät, Alexander II. Kaiser aller Reussen, in tiefster Ehrfurcht“, der Walzer „Ihrer Majestät, Maria Alexandrowna, Kaiserin von Russland, in tiefster Verehrung“ gewidmet. Die deutschen Höfe waren durch ihre Botschafter vertreten, einige durch Angehörige der regierenden Familie. So kamen aus Darmstadt die Prinzen Ludwig und Heinrich, Neffen der Kaiserin. Aber auch Alexander von Hessen, immer noch in österreichischen Diensten, wollte bei diesem Ereignis nicht fehlen. Er kam ohne seine Frau. Friedrich Wilhelm von Preußen, der spätere Kaiser Friedrich III., Alexanders Cousin, vertrat Friedrich Wilhelm IV. und die verwandten Hohenzollern. Der Prinz wurde von Oberst von Moltke, seinem Adjutanten, begleitet, dem späteren Generalfeldmarschall, dessen Briefe aus Russland viele zutreffende Beobachtungen und Urteile über Land und Leute enthalten. Natürlich hat Moltke auch Alexander II. beschrieben. „Er machte mir einen sehr angenehmen Eindruck“, notiert er über den Kaiser, der die Preußen noch vor der Abreise nach Moskau in Peterhof empfing. „Er hat nicht die Statuen-Schönheit noch die marmorne Strenge seines Vaters, aber er ist ein auffallend wohlgebildeter Mann von majestätischer Haltung. Er sieht etwas angegriffen aus, und man möchte glauben, dass die Begebenheiten seinen edlen Gesichtszügen einen Ernst aufgeprägt haben, der gegen den wohlwollenden Ausdruck seiner großen Augen kontrastiert. […] Der Prinz stellte uns einzeln vor, und der Kaiser wusste mit vollendeter Leichtigkeit Jedem etwas Passendes zu sagen. Er spricht vollkommen fließend und geläufig Deutsch und Französisch und hat eine ungemein würdevolle und doch verbindliche Manier.“11 Die Kaiserin, „hellblau mit breiten Points“, sah Moltke tags darauf in der Schlosskapelle.12 „Nach der Messe wurden wir der regierenden Kaiserin vorgestellt. Sie hat eine hohe, schlanke Figur und freundlichen Ausdruck.“ Das war alles, was Moltke über Maria zu sagen hatte, und das ist wohl auch verständlich, denn hauptsächlich interessierten sich die Preußen für Alexandra, die Kaiserinmutter, Friedrich Wilhelms „Tante Charlotte“, die ihre „lieben Landsleute“ überaus freundlich empfing und jeden einzeln begrüßte. „Die Kaiserin war ganz prächtig. […] Sie sieht gerne fröhliche Menschen um sich. Sie scherzte, lachte und schien ganz vergnügt.“13
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Vor der Abreise nach Moskau blieb den Preußen noch Zeit für Ausflüge in die Umgebung von Peterhof, nach Kronstadt und auf die Steininsel. „Um ein Viertel elf Uhr vormittags ging es mit einem Extrazug nach Moskau“, schreibt Moltke schon aus der alten Krönungsstadt. „Die Entfernung ist sechshundertundfünf Werst oder siebenundachtzig Meilen, und da wir zweiundzwanzig Stunden dazu brauchten, so ist die Schnelligkeit eine sehr mäßige. Der Kaiser fährt in vierzehn Stunden, also sechs Meilen die Stunde, was ebenfalls nicht viel ist; auf der Great Western sind wir zwölf Meilen in der Stunde gefahren. Man thut aber sehr wohl, hier solche Leistungen nicht zu fordern, und es ist gewiss eine schöne Sache, an einem Tage von der einen russischen Hauptstadt zur anderen gelangen zu können; das fühlt man erst, wenn man die Gegend sieht, durch welche man fährt.“14 Als die Preußen in Moskau ankamen, befand sich das Kaiserpaar noch im Peter-Palast vor den Toren Moskaus, einem Reisepalast, den Katharina II. einst im Dorfe Petrowskoje an der Straße nach Petersburg als Rastplatz hatte errichten lassen, wo sich die Herrscher vor ihrem Einzug in Moskau ein paar Tage von den Reisestrapazen erholen konnten. Mit dem Zug war die Reise natürlich nicht mehr so beschwerlich wie mit der Kutsche, doch die Tradition, die Tage vor dem Einzug in die Erste Residenzstadt zurückgezogen im Peter-Palast zu verbringen, war geblieben. Zur Krönung hatte der Kaiser 87 Gardebataillone und 136 Geschütze nach Moskau beordert. Herolde verlasen drei Tage lang auf allen Plätzen offizielle Erklärungen, die auch gedruckt verteilt wurden. Die Feierlichkeiten begannen am Sonntag, dem 17./29. August, mit dem Einzug der Majestäten durch die nordwestlichen Tore Moskaus, das sich geputzt und geschmückt hatte wie seit Kaiser Nikolaus’ Krönung im Jahre 1826 nicht mehr. Der Zug folgte der langen Twerer Straße, die von Petrowskoje direkt zum Kreml führt. Alle Häuser waren neu gestrichen, die frisch vergoldeten Zwiebeltürme der „vierzig mal vierzig“ Kirchen glänzten in der Sonne, und alles, was laufen konnte, war auf den Beinen. Nicht nur die Moskauer, auch Abgeordnete aus allen Regionen des Riesenlandes, Abgesandte der Völker und Völkerschaften in ihren bunten Trachten, Vertreter der Gouvernements, der
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Städte und der Vereinigungen und natürlich auch viele Ausländer sowie Truppen in Paradeuniform säumten die Straße vom Peter-Palast bis zum Kreml. Alle Glocken läuteten, und am Himmel kreisten Tausende durch Glockenklang, Kanonendonner und Hurrageschrei auf gescheuchte Raben und Tauben. Der Kaiser in Generalsuniform ritt auf einem Grauschimmel an der Spitze des Zuges, umgeben von seinen Söhnen Nikolaus und Alexander, der eine in der Uniform eines Kosakenatamans, der andere in der Uniform der Gardehusaren. Ihnen folgten die anderen Großfürsten, die ausländischen Prinzen und eine riesige Suite. Der Anblick war so überwältigend, dass es schwerfiel, all den Glanz zu beschreiben, fand ein Zeitgenosse.15 Dem Kaiser folgte die Kaiserinmutter in einer mit rotem Samt aus geschlagenen, goldverzierten Kutsche, die Pferde trugen weiße Feder büsche. Sie saß allein in ihrer Kutsche. Die junge Kaiserin folgte mit Wladimir in einem bescheideneren silberblauen Wagen. In weiteren Kutschen saßen die Großfürstinnen Maria Pawlowna, Sachsen-Weimar-Eisenach, die Altenburgerin Alexandra Josephowna, die Württembergerin Jelena Pawlowna und Maria Nikolajewna, die älteste Schwester des Kaisers. Der Zug passierte das Spasskij-Tor, den Paradeeingang in den Kreml, vor dem der Kaiser seinen Helm abnahm, und hielt vor der UspenskijKathedrale, wo die Moskauer Geistlichkeit mit dem alten Metropoliten Filaret an der Spitze die Majestäten begrüßte. Der Kaiser betrat die Kathedrale, küsste das Kreuz und verneigte sich vor den Ikonen. Gleichzeitig ertönten 101 Kanonenschüsse, während alle Glocken läuteten. Sie läuteten den ganzen Tag. Anderntags begaben sich die Majestäten für kurze Zeit auf ein Landgut nach Ostankino, wo sie sich noch einmal sammelten. Am 6. September wurden die kaiserlichen Regalien aus der Waffenkammer des Kreml in den Thronsaal gebracht, tags darauf in die Krönungskathedrale. Dort war längst nicht für alle Platz, die der Zeremonie beiwohnen wollten. Es war wieder drückend heiß, und die Luft war schlecht. Maria war blass vor Anstrengung und Aufregung. Vielleicht ist ihr erst angesichts der bunten Menschenmassen an der Twerer Straße richtig bewusst geworden, dass sie Herrscherin eines Vielvölkerstaates war.
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Die Krönung folgte einem seit Peter I. festgelegten Ritual. Geleitet wurde sie von Filaret, dem Moskauer Metropoliten, der schon die Krönung Nikolaus I. geleitet hatte. Sie war nicht geprobt worden. Alexander nahm auf dem Thron Iwans III. Platz, Maria auf dem Thron Michael Fjodorowitschs, des ersten Romanow, der 1613 zum Zaren gewählt worden war. Für die Kaiserinmutter war der Thron Alexej Michajlowitschs, des Vaters Peters des Großen, bestimmt. Der entscheidende Augenblick kam, nachdem der Kaiser das Glaubensbekenntnis abgelegt hatte. „Sobald dies erfolgt war, wurde der Kaiser mit dem Krönungsmantel bekleidet, welcher aus dem reichsten Goldstoff besteht und mit Hermelin gefüttert ist“, schreibt Graf Moltke. „Er beugte sich nieder und blieb in dieser Stellung, während der Metropolit ihm die Hände auf’s Haupt legte und zwei lange Segengebete sprach. Dann ließ sich der Kaiser die Krone bringen und setzte sie sich selbst auf sein Haupt, ergriff das Scepter mit der rechten, den Reichsapfel mit der linken Hand und setzte sich so auf den Thron. Hierauf trat die Kaiserin vor ihn und kniete nieder. Der Kaiser nimmt die Krone vom Haupt und berührt damit die Kaiserin, worauf nun sie ebenfalls mit Mantel und Krone bekleidet wird und sich auf den Thron zur Linken ihres Gemahls setzt.“16 Natürlich galt Moltkes Aufmerksamkeit vor allem der Kaiserinmutter, die nun 58 Jahre alt war und sich offensichtlich voller Wehmut an ihre eigene Krönung vor 30 Jahren erinnerte, aber sich tapfer hielt: „Es war prächtig zu sehen, wie die alte, stattliche Kaiserin-Mutter mit lebhafter Spannung allen Handlungen folgte. Dabei bemühte sich ihr jüngster Sohn stets um sie, unterstützte sie, schlug den Hermelin um sie, damit sie sich nicht erkälte. Neben mir war die Gemahlin eines nordamerikanischen Diplomaten ohnmächtig geworden, die Großfürstin Helene fiel dem Prinzen in die Arme, aber die betagte Mutter des Kaisers hielt sich standhaft. Jetzt erhob sie sich und schritt in festem Gang die Stufen des Thrones heran, die blitzende Krone auf dem Haupt, den Goldmantel nachschleppend. Hier vor den Augen der Welt umarmte sie ihren Erstgeborenen und segnete ihn. Der Kaiser küsste ihr die Hände. Dann folgten alle Großfürsten und Prinzen mit tiefer Verbeugung; der Kaiser umarmte sie.“17 Die Selbstkrönung unterschied die Kaiserkrönung von der alten Zarenkrönung. Die Moskauer Zaren hatten sich zwar auch in der
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Uspenskij-Kathedrale krönen lassen, aber es war der Patriarch, der ihnen die Kappe des Monomach, also die Krone des Kiewer Großfürsten Wladimir Monomach, aufs Haupt setzte. Nach der Abschaffung des Patriarchats durch Peter den Großen hatten sich die Petersburger Kaiser ihre Krone vom Moskauer Metropoliten reichen lassen und sie sich selbst aufs Haupt gesetzt. Damit demonstrierten sie, dass die weltliche Macht über der kirchlichen stand. Zum Abschluss der vierstündigen Zeremonie erfolgte die Myronsalbung des Herrschers auf Stirn, Augen, Lippen, Ohren, Brust und Hände. Sie fand vor dem Altar im Allerheiligsten statt, während die Herrscherin vor den Türen wartete und nur auf die Stirn gesalbt wurde. Dann zogen die gekrönten Majestäten unter Baldachinen zu einem Essen in den Facettenpalast, wo die drei Throne aus der Kathedrale aufgestellt worden waren. Man speiste großartig, und die Pannen der Krönung waren vergessen. Während der vierstündigen Zeremonie war Maria die Kleine Krone vom Kopf gefallen und in die Falten ihres Mantels gekullert, weil die Staatsdamen sie schlecht befestigt hatten, eine Panne, die Moltke nicht erwähnt, die viele andere als böses Omen nahmen. „Für den Anfang habe ich mich dumm benommen“, klagt Maria am Abend der Tjtuttschewa. „Das Erste, was ich tat, ich verlor die Krone. Ich hielt es nicht aus und sagte zu Tolstoj: ,DAS ist ein Zeichen, dass ich sie nicht lange tragen werde.‘18 Natürlich versuchte Anna Fjodorowna sogleich, der Kaiserin die düsteren Gedanken auszureden, aber diese hat sich wohl nicht mehr frei davon machen können. Am 7. September wurden die Regalien wieder in die Waffenkammer zurückgebracht. Am 8. September, dem Geburtstag des Thronfolgers, fand „auf Allerhöchsten Befehl“ auf dem Chodyn ka-Feld vor dem Peter-Palast in Petrowskoje ein riesiges Volksfest statt. Mehr als 650 Tische waren gedeckt, 300 000 Personen aßen und tranken. Moskau war an diesem Tag fast leer. Als der Kaiser erschien, wurden die Weinfontänen in Gang gesetzt. Sie versiegten schnell. Bei seiner Rückkehr in den Kreml begleitete ihn eine riesige Menschenmenge mit andauernden Hurrarufen. Am 9. September fand im Kreml ein großer Maskenball statt, zu dem 10 000 Personen aus allen Schichten der Bevölkerung geladen waren. Alle Säle waren überfüllt. Die Frauen trugen russische Kleider
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und Kokoschniks. Auch die beiden Kaiserinnen und die Großfürstinnen trugen luxuriöse Nationaltracht und verblüfften durch den Glanz der Brillanten und Edelsteine an Kleidern und Kokoschnik. Am 10. September wohnte der Kaiser Manövern bei, abends gab der Moskauer Adel dem Herrscher einen Ball, an dem mehrere tausend Menschen teilnahmen. Dann folgten Bälle beim englischen, österreichischen und französischen Botschafter, auf denen die Majestäten nicht fehlen durften. Die Feierlichkeiten endeten am 17. September mit einem Feuerwerk. Danach begab sich das Kaiserpaar traditionsgemäß ins Dreifaltigkeitskloster von Sergijew Possad, um am Grab des Heiligen Sergij von Radonesch zu beten. Am 26. Oktober zogen die gekrönten Majestäten feierlich in St. Petersburg ein. Es war spät im Jahr, aber noch warm. Der Zug bestand aus zwei Kutschen. In der ersten saß Maria mit Wladimir, in der zweiten Alexandra Josephowna, die Frau Konstantins. Der Kaiser, die Großfürsten und die Suite waren zu Pferde. Bei der Kasaner Kathedrale hielt die Prozession an, die Herren saßen ab und begleiteten die Majestäten in die Kathedrale, wo sie von der Petersburger Geistlichkeit begrüßt wurden und der Metropolit sie mit heiligem Wasser besprengte. Abends war die Stadt illuminiert, die Hauptstadt feierte. Aus Anlass der Krönung hagelte es Orden und Beförderungen. Die Einberufung von Rekruten wurde für drei Jahre ausgesetzt, Haftstrafen wurden erleichtert oder verkürzt. Besonderen Beifall fand die Begnadigung der 32 Dekabristen, die nach 30 Jahren in Sibirien noch am Leben waren. Sie waren nach dem gescheiterten Aufstand vom Dezember 1825 nach Sibirien verbannt worden. Nun erhielten sie ihre Adelsränge und Titel zurück und durften ins europäische Russland zurückkehren. Auch Graf Tolstoj, seit 1854 Zeremonienmeister des Kaiserlichen Hofes, wurde befördert und zum Flügeladjutanten ernannt. Damit band Alexander den Freund, der nun schon einen Namen als Autor hatte, noch enger an sich, was jenem überhaupt nicht gefiel. Schon das Amt des Zeremonienmeisters, das ihn verpflichtete, das Zeremoniell bei Hofe zu leiten und zu überwachen, hatte er als Bürde empfunden, als Aide de camp musste er jetzt ständig in der Nähe des Kaisers sein. Er tat nun schon fünfzehn Jahre Dienst bei Hofe und fühlte immer stärker, dass er
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dort ein fremdes Element und dass seine wahre Berufung die Kunst war.19 Die Worte Dienst, Uniform, Vorgesetzte konnte er nicht mehr hören. Tolstoj hatte vergeblich versucht, die neue Würde abzulehnen, da er kein Beamter sei, sondern ein Dichter. Doch nun lud die Kaiserin ihn zu ihren Soireen im Winterpalast ein, und das erleichterte ihm den Dienst, denn schnell stellte sich heraus, dass sie verwandte Seelen waren. „Die Kaiserin ist ein Engel. Sie hat mich verstanden“, schreibt Tolstoj an Sofia A. Miller, seine spätere Frau. „Sie hilft mir. Heute Abend hat sie mich veranlasst, ihr meine Gedichte vorzulesen. Ich habe sie beim Lesen beobachtet; einige Male hat sie den Kopf in die Hand gestützt und schweigend zugehört … Sie hat verstanden, was ich vorlas. Hauptsächlich auf sie habe ich geachtet, als ich Im Land der Strahlen las. Ich habe ihr die Glöckchen* absichtlich in Gänze vorgelesen, und an einer Stelle, in der das ganze Wesen des Gedichts liegt, sagte sie: ,Wie gut das ist!‘ Sie hat mich sehr unterstützt und mir gesagt, dass ich ihr den ganzen Band widmen soll; sie hat hinzugefügt: ,Je ne veux pas que la censure le rogne!‘** Sie hat mir gesagt, dass ich noch einmal kommen soll, um ihr meine übrigen Gedichte vorzulesen, und alles, was sie sagte, hatte eine positive Bedeutung.“20 Tolstoj war beeindruckt von der Kaiserin. „Das ist wirklich eine außergewöhnlich herzliche Frau; weder ihre Worte noch ihre Taten tragen den Stempel des Offiziellen. Sie könnte sich auch zur Devise nehmen: ‚Nicht scheinen, sondern sein‘. Christus sei mit ihr, sie ist eine wunderbare, vortreffliche Frau.“21 Bald las er ihr seine Gedichte vor, bevor sie veröffentlicht wurden, zehn Jahre später widmete er ihr seinen (ersten) Gedichtband (1867). Dass Alexander eine Schwäche für hübsche Hofdamen hatte, war nun schon lange allgemein bekannt. Viele kamen und gingen. Am 16. März 1857 erschien der Kaiser, wie Legationsrat Schlözer notiert, auf einem Rout, einer Abendgesellschaft, beim Fürsten Gortschakow „in Begleitung der jungen Prinzessin Dolgoruki, einer Hofdame der Kaiserin, für die der Selbstherrscher aller Reußen eine ziemlich starke, vielleicht zu starke Neigung haben soll.“22 Das ist einer der wenigen * Meine Glöckchen, Sankt Petersburg, 1840er Jahre ** „Ich will nicht, dass die Zensur ihn beschneidet!“
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„offiziösen“ Hinweise – bei Hofe und im diplomatischen Corps war man diskret! – auf eine Affäre des Kaisers, die bereits ein paar Jahre andauerte. Eveline von Massenbach erwähnt sie jedenfalls schon Ende 1853 in ihrem Tagebuch, allerdings nur als eine „von der Cäsarewna geduldete Schwärmerei für den Thronfolger“.23 Ein halbes Jahr später notiert Anna Tjuttschewa, dass ihre Kollegin, die sie nach eigenem Bekunden nicht so recht durchschaute, mit dem Großfürsten flirte und der ganze Hof viel davon rede.24 Alexandra S. Dolgorukowa war schön, geistreich, originell und erinnerte in ihren Bewegungen „an einen schönen jungen Tiger“.25 Dass hinter der Schwärmerei und dem Flirt mehr steckte, zeigt ein Vorfall von Ende 1855, als Alexander bereits Kaiser war. Eines Abends wurde der Dolgorukowa schlecht, alle Anwesenden kümmerten sich um sie, auch der Kaiser mit besorgtem Gesicht, nur die Kaiserin beachtete sie nicht und fuhr in größter Gelassenheit mit ihrer Lektüre fort. „Das kam vielleicht von dem allzu großen Interesse, das der Herrscher zeigte“, schreibt Anna Tjuttschewa.26 Ansonsten beschränkte sich die Autorin, die natürlich mehr wusste, auf Sätze wie „Fürstin Dolgorukowa spielt mit dem Herrscher Karten …“27 Wir können annehmen, dass Maria Bescheid wusste, aber was konnte sie gegen die Untreue ihres Mannes tun außer sich grämen? Anfang 1857 befand sie sich am Ende ihrer siebenten Schwangerschaft, insofern war der Auftritt Alexanders und der Dolgorukowa beim Fürsten Gortschakow, also in der großen Petersburger Gesellschaft, nur als grobe Taktlosigkeit zu bezeichnen. Man kann sich leicht vorstellen, wie Marie unter dieser Beziehung gelitten hat. „Für die Entbindung der Kaiserin ist Professor Scanzoni* aus Würzburg herberufen“, schreibt Legationsrat Schlözer im April 1857, „worüber die hiesige medizinische Welt umso wütender ist, weil alle Frauen, die irgendwelche Leiden haben, sein Hiersein zu Konsultationen benutzen wollen. Und die, welche einer Entbindung früher oder später entgegensehen, hoffen, dass sie in dieser Zeit sich begibt …“28 Der Doktor wusste eben, was er wert war. „Scanzoni, der auf drei Monate engagiert ist, bekommt jeden Tag 300 Silberrubel,
* Bekannter Gynäkologe, Autor eines Kompendium der Geburtshilfe, Wien 1854, 21861
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wenn alles gut geht, am Ende noch ein großes Geschenk“, fügt Schlözer später hinzu.29 Es ging alles gut. Am 11. Mai 1857 brachte Maria in Zarskoje Selo ihren fünften Sohn zur Welt, Sergej, den künftigen Gründungspräsidenten der Kaiserlichen Orthodoxen Palästina-Gesellschaft und General-Gouverneur von Moskau, der 1884 ihre Großnichte Elisabeth („Ella“) heiraten sollte, ein unnahbarer, arroganter Typ, der allen unsympathisch war. Zwei Wochen nach Sergejs Geburt schreibt Schlözer seinen Lieben daheim „ganz konfidentiell folgendes: Kaiser und Kaiserin gehen Ende Juni n.St. über Kiel nach Brückenau bei Kissingen. Kaiserin badet dort. Kaiser geht allein dann nach Wildbad, um seine Mutter nach Berlin zu führen. Dort soll der 1./13. Juli* gefeiert werden. Dann gehen beide, Mutter und Sohn, nach Petersburg.“30 Im Übrigen berichtet Schlözer „von einem Geschimpfe auf den Kaiser, wie niemand es je gehört haben will“.31 Im Juli 1857 fand also der zweite Besuch des Paares „zum Kur gebrauch“ in Kissingen statt. Anna Tjuttschewa, die ebenso mitreiste wie Mlle Grancy und Alexandra Dolgorukowa, hat die anstrengende Reise beschrieben. Es war ein sehr heißer Sommer. Am 23. Juni gingen der Kaiser und die Kaiserin mit ihren beiden jüngsten Kindern Alexej und Maria in Kronstadt an Bord des Dampfers „Gremjaschtschij“, der sie nach Kiel brachte, während die drei älteren Söhne in die Sommerfrische nach Hapsal (Haapsalu) geschickt wurden. Die See war ruhig und glatt, und Anna Fjodorowna erzählte den Kindern Märchen. Von Kiel ging es über Hamburg, wo man im Hotel Europa abstieg, nach Hannover, wo der König den Russen ein Essen gab, bis Göttingen, wo Alexander von Hessen und Gräfin von Battenberg auf sie warteten. Anfang Juli erreichten sie Wildbad, wo die Kaiserinmutter kurte und aufwändig Hof hielt. Dort verabredeten sie mit Olga und Karl von Württemberg ein Treffen in Kissingen. Am 6. Juli trafen alle dort ein, doch kehrte Alexander noch einmal nach Wildbad zurück, um seine Mutter am 13. Juli, ihrem Geburtstag, zu überraschen. * Der Geburtstag der Kaiserin Alexandra am 1./13. Juli war unter Nikolaus I. und Alexander II. ein offizieller Feiertag.
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Ein großes Ärgernis auf dieser Reise waren Anna Tjuttschewa zufolge die vielen „verarmten Prinzen“, die auf jedem Bahnhof auf die Reisenden warteten, um ihnen ihre Referenz zu erweisen. Also musste Alexander vor jedem Halt die Uniform wechseln, weil der eine oder andere Prinz Inhaber des einen oder anderen russischen Regiments war und der Kaiser sich genötigt sah, in jedem neuen Fürstentum die jeweilige Regimentsuniform anzulegen.32 Vielleicht hat ihm gefallen, dass die vielen Neugierigen auf jedem Bahnhof die Zarenhymne anstimmten. In Kissingen kannte man sich nun bereits aus, und Maria freute sich, als auch ihre Schwägerin und Freundin Olga von Württemberg in Kissingen ankam. „Der Aufenthalt ist ungemein interessant“, schreibt Eveline von Massenbach, eine Hofdame der Kronprinzessin. „Um den Kaiser sammelt sich immer eine Menge hervorragender Persönlichkeiten. […] Ich wohne ganz nahe bei der Freitreppe und kann sehen, wer kommt und geht, was natürlich sehr unterhaltend ist. Gestern ist mein Freund Winterhalter angekommen, um ein Porträt Ihrer Majestät zu fertigen. […] Die Majestäten von Bayern sind ebenfalls in Kissingen und werden auch in Brückenau sein, wohin wir uns von hier aus begeben.“33 Der Aufenthalt in Brückenau ist insofern erwähnenswert, als Franz Xaver Winterhalter die Kaiserin hier tatsächlich gemalt hat. „Brückenau ist reizend, ganz ländlich“, notiert Frau von Massenbach. „Wälder, Bäche, sogar ein bisschen sich gehen lassen – es erinnert an den Schwarzwald. Das Leben der Kaiserin Marie ist so vernünftig und frei von Gebundenheit – hier hätte man gern eine Erholungskur gemacht. Die beiden Kinder, die Großfürstin Marie und der Großfürst Alexis, sind wahre Schätze! Winterhalter hat ein bezauberndes Porträt gemalt – die Kaiserin ist in voller Schönheit wiedergegeben; ich hatte das Privileg, Perlen für ihre Frisur zu liefern. Die echten Perlen waren zu schwer, weshalb man künstliche suchte und ich hatte römische. Als Belohnung erhielt ich die erste Lithographie.“34 Die Zeitgenossen fanden das Porträt sehr ähnlich. „Mitte August verlassen wir Brückenau“, schreibt Anna Tjuttschewa. „Dreiwöchiger Aufenthalt in Darmstadt und Jugenheim.“ Die Suite war unzufrieden wegen der Enge ihrer Unterkunft, und die Kaiserin hatte einen „bedrückenden Eindruck von ihrer deutschen Verwandtschaft“.35
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Natürlich wurde auch der Heiligenberg besucht. Bei dieser Gelegenheit schenkte die Kaiserin der Evangelisch-Lutherischen Bergkirche Jugenheim, die ihr Bruder eben hatte renovieren und erweitern lassen, eine in einem russischen Frauenkloster gefertigte, aufwändig mit Gold bestickte Altardecke aus rotem Samt, die Weihnachten 1857 erstmals aufgelegt wurde.36 Unterdessen arrangierte Alexander von Hessen, der ein bemerkenswertes diplomatisches Geschick besaß, im Verein mit Außenminister Gortschakow ein Treffen Alexanders II. und Napoleons III., das Ende September in Stuttgart stattfinden und als Zwei-Kaiser-Treffen in die Geschichte eingehen sollte. Der als gesellschaftliches Großereignis getarnte Gipfel – König Wilhelm I. von Württemberg feierte am 27. September 1857 seinen 76. Geburtstag – lag im Interesse Petersburgs, das die seit dem Krimkrieg andauernde Isolierung in Europa zu durchbrechen hoffte und sich Frankreich annähern wollte, und es lag in Frankreichs Interesse, weil es sich im Falle eines Konfliktes mit Österreich in Italien der Neutralität Russlands versichern wollte. König Wilhelm wollte die beiden Kaiser – er war sowohl mit den Romanows als auch mit den Bonapartes verwandt – unbedingt bei sich empfangen und die beiden zu einer Annäherung veranlassen. Maria aber ließ die Franzosen lange im Unklaren über ihr Kommen. „Vor dem Eintreffen Napoleons in Stuttgart wusste keiner, ob er allein kommen oder ob er seine Gemahlin Eugénie ebenfalls mitbringen würde“, schreibt Erzpriester Ioann I. Basarow, der russische Beichtvater der Kronprinzessin. „Unsere Kaiserin […] dachte nicht daran, nach Stuttgart zu kommen, wenn zusammen mit Napoleon die Gräfin Montego [Montijo, M.B.], die nun den Titel Kaiserin trug, käme.“37 Denn Maria empfand die ehrgeizige Spanierin, die eher für ein Bündnis Frankreichs mit England als für eine Annäherung an Russland eintrat, als nicht ebenbürtig, sagte bald zu, bald wieder ab, „so dass die französische Kaiserin wegblieb und Napoleon es sehr ressentierte [verbitterte]“.38 An Napoleons Ärger wäre das Treffen beinahe noch gescheitert.39 Als Maria auf Wunsch Alexanders widerwillig dann doch noch am 26. September in Stuttgart erschien, wo sie – wie schon ihr Mann – in der Villa Berg abstieg, musste sie feststellen, dass der Kaiser der Fran-
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zosen, den sie sich als Parvenü vorgestellt hatte, ein „vollendeter Gentleman“ war.40 Napoleon hatte sich im Stuttgarter Residenzschloss einquartiert. Die beiden Monarchen begegneten sich am 27. September arrangiert „zufällig“, sprachen über den Friedensvertrag von 1814, dessen Bestimmungen Napoleon aufheben wollte, und den Pariser Frieden vom Vorjahr, den Alexander II. modifizieren wollte, und besuchten am 28. September gemeinsam den Cannstatter Wasen. Die Gespräche verliefen zur beiderseitigen Zufriedenheit, und der Gipfel von 1857 hätte ein Erfolg werden können, wenn Napoleon III. nicht auf das dreigeteilte Polen zu sprechen gekommen wäre, dem er sich verpflichtet fühlte und das er gern als Staat wiederhergestellt hätte. In dieser Frage war er gezwungen, auf die öffentliche Meinung in Frankreich zu hören, die unter dem Einfluss der polnischen Emigration äußerst antirussisch gestimmt war. Der Kaiser der Franzosen fühlte sich also verpflichtet, das Thema einer Amnestie für die Aufständischen von 1830/31 anzusprechen und brachte den Zaren damit so in Rage, dass dieser das Gespräch brüsk abbrach. „Man hat gewagt, mit mir über Polen zu sprechen“, sagte er nach der Unterredung so laut zu einem Mitglied seiner Suite, dass ganz Europa das Echo hörte, und sein Backenbart zitterte vor Empörung.41 Nichtsdestotrotz kamen sich Russland und Frankreich näher, und Napoleon dankte Alexander von Hessen für seine Vermittlerdienste. Nach dem Treffen reisten Alexander und Maria wieder nach Darmstadt, um die Kinder abzuholen. Auf der Rückreise nach Russland machten sie Station in Weimar, wo ein Treffen mit Franz Joseph von Österreich vorgesehen war, aber auch Tante Maria Pawlowna, die Großherzoginwitwe, besucht werden sollte. Anna Pawlowna, die Königinwitwe der Niederlande, die andere noch lebende, etwas jüngere Tante Alexanders, war auch gerade da. Maria hat sich sicher gefreut, den beiden würdevollen Damen zuzuhören, die so viel zu erzählen hatten. Am 30. September empfing das junge Großherzogspaar die russischen Verwandten in Eisenach und zeigte ihnen die Wartburg. Abends fuhren die Romanows weiter nach Weimar. Am nächsten Morgen traf dort auch der junge Kaiser von Österreich ein. Die Gespräche mit dem Habsburger dauerten nur einen Tag, das Ergebnis war mager. Für Alexander gab es keinen Grund, besonders
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freundlich zu Franz Joseph zu sein, der Krimkrieg lag noch nicht lange zurück. Maria war kühl, aber höflich. Das konnte sie gut. Alexander hatte nun noch vor, den sächsischen König in Dresden kurz zu besuchen, dann machte man sich auf den Weg nach Berlin, wo „Onkel Fritz“ über das Stuttgarter Treffen informiert werden musste. Friedrich Wilhelm IV. kam dem kaiserlichen Neffen entgegen. Am 4. Oktober traf dann die ganze kaiserliche Familie in Potsdam ein und blieb eine ganze Woche, um sich zu erholen, bevor es nach Warschau weiterging. Der Einzug in die polnische Hauptstadt war feierlich, das Theater am Abend leer … Von Warschau aus mussten die Kinder allein nach St. Petersburg zurückkehren, während die Eltern nach Kiew weiterreisten, ins „Jerusalem des russischen Landes“, um sich vor den Heiligtümern des Höhlenklosters zu verneigen und die Höhlen zu besichtigen. Sie erfüllten sich damit einen lange gehegten Wunsch. Es war Marias erster Besuch in Kiew, der „Mutter der russischen Städte“, sie war froh und dankbar. Am 27. Oktober kamen sie wieder in Zarskoje an, zum 8. Dezember, dem Tag des Hl. Georg, des Schutzpatrons Russlands, übersiedelten sie nach St. Petersburg.42 Dort aber war „die Unzufriedenheit im Steigen begriffen“, wie Kurd von Schlözer seiner Schwägerin mitteilt. „Ich wiederhole Dir, dass ich deshalb nicht etwa gleich an Barrikaden glaube, denn eine etwaige Bewegung kann hier nicht von den Städten ausgehen. Aber auf dem Lande sieht es bunt aus. Alle Augenblicke hört man von neuen Mordtaten, die durch die Bauern an den Edelleuten verübt sind. Die Frage der Leibeigenschaft spukt überall herum, immer neue Gerüchte, Vorschläge, Projekte, Hoffnungen – dabei bleibt es. Die geheime Kommission, die sich seit Anfang dieses Jahres damit zu beschäftigen hat, besteht aus hohen Herren, die, mit Ausnahme eines einzigen, weder von der sozialen noch von der wirtschaftlichen Seite eine Ahnung haben. Die Bauern träumen von nichts anderem als von Befreiung, die Gutsbesitzer aber verhalten sich, und zwar aus teilweise gar nicht so von der Hand zu weisenden Gründen, ablehnend.“43 Letztere verhielten sich vor allem deshalb ablehnend, weil sie meinten, die volle Freiheit werde die russischen Bauern unglücklich machen, und weil sie sich als Verlierer sahen. Sie waren keinesfalls bereit, Land herzugeben. Wie würden die Bauern aber auf eine Befreiung ohne Grund
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und Boden reagieren? „Wir gehören dem Gutsbesitzer, aber das Land gehört uns“, pflegten sie zu sagen. Es war höchste Zeit, dem „Spuk“ ein Ende zu bereiten und Klarheit zu schaffen. Dessen war sich auch der Kaiser bewusst. Am 2. Dezember 1857 unterrichtet er in einem Reskript alle Gouverneure und Adelsmarschälle von seiner Absicht, die Leibeigenschaft aufzuheben, worauf Schlözer notiert: „Die Bauernfrage ist in vollem Gange.“44 Schlözer deutet hier an, was Alexan ders größtes Problem bei seinem Reformwerk sein wird: Er hatte nicht die dafür notwendigen Leute, zumal er mehrere Mitarbeiter seines Vaters hatte übernehmen müssen, die erklärte Gegner jeglicher Veränderungen waren. Dazu gehörte auch die orthodoxe Kirche.
7 „Von einfacher und vornehmer Güte“ Pädagogen, Schriftsteller und ein Zauberkünstler Iwan A. Gontscharow – Iwan D. Wyschnegradskij – Erstes Mädchengymnasium in St. Petersburg – Konstantin D. Uschinskij – Alexander Herzen und Die Glocke – Kritik an der Erziehung des Thronfolgers – Alexandre Dumas und David Dunglas Home in St. Petersburg – Ankunft Bismarcks – Volljährigkeit des Thronfolgers – Katja Dolgorukowa – Geburt Pauls (1860) – Marientheater – Tod der Kaiserinmutter – Livadia 1858–1860
In den ersten Januartagen des Jahres 1858 wurde ein neuer Russisch- und Literaturlehrer für den Thronfolger ernannt. Es war Iwan A. Gontscharow, der Schriftsteller, der nach einigem Zögern zugestimmt hatte, Nixa zu unterrichten. Gontscharow war durch den Roman Eine gewöhnliche Geschichte (1847) bekannt geworden und im Begriff, seinen Bericht über eine Schiffsreise nach Japan zu veröffentlichen, an der er 1852/54 als Expeditionssekretär teilgenommen hatte. Die Aufzeichnungen erschienen 1858 unter dem Titel Die Fregatte Pallas in zwei Bänden und zählen bis heute zu den schönsten Werken der russischen Reiseliteratur. Gontscharows Leser wussten aber, dass er seit zehn Jahren an seinem zweiten Roman arbeitete, der sich nach Aussage des Autors „langsam und schwer“ schrieb, aber seinen Helden unsterblich machen sollte: Oblomow (1859). Ilja Iljitsch, für den das Herumliegen und Nichtstun weder eine Notwendigkeit wie für einen Kranken noch ein Genuss wie für einen Faulpelz, sondern sein „normaler Zustand“ war, verkörpert den Typ
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des russischen Adligen, der durch Herkunft und Erziehung nur zu Faulheit und Passivität fähig ist. Die „Oblomowschtschina“ (Oblomowerei) steht für den Niedergang der russischen Adelsgesellschaft, die untätig und gedankenlos aus dem Land lebte, aber auch für eine oft kritisierte russische Lebensart mit ihrem Schlendrian und ihrer Bequemlichkeit. Die Lehrtätigkeit in der kaiserlichen Familie ist eine wenig bekannte Episode im Leben Gontscharows. Bekannter ist seine Tätigkeit als Zensor (1856–1860), die er auch als Lehrer des Thronfolgers beibehielt. Einen besseren Literaturlehrer als Gontscharow konnte sich Nixa natürlich nicht wünschen, und statt der beiden vorgesehenen Wochenstunden nahm er bald drei Stunden wöchentlich. Seine Mutter schätzte den Schriftsteller, Lehrer und Schüler verstanden sich gut. Allerdings fühlte sich Gontscharow beim Russischunterricht nicht wohl, weil ihm die theoretischen Grundlagen dafür fehlten. Schon im Frühjahr 1858 hörte er mit dem Sprachunterricht auf, wollte den Literaturunterricht aber fortsetzen. Doch bereits im Juli gab er seinen Posten mit der Begründung auf, dass die Arbeit als Zensor ihm keine Zeit für seine pädagogische Tätigkeit lasse.1 In Wahrheit gefiel ihm die Arbeit mit dem Thronfolger, und er hätte sie gern fortgesetzt. Doch er verstand sich nicht mit August Theodor Grimm, dem neuen Obererzieher Nixas, der Wladimir P. Titow im Mai 1858 abgelöst hatte und der es ihm gegenüber an elementarem Respekt fehlen ließ. Der Thüringer, der von den russischen Historikern äußerst negativ beurteilt wird, hatte, als er sein Amt als Erzieher der Großfürsten Nikolaus, Alexander und Wladimir antrat, bereits als Aufseher und Lehrer für Schönschrift in einem privaten deutschen Gymnasium in Petersburg gearbeitet und war auch schon als Hilfslehrer der Kinder Nikolaus’ I. tätig gewesen. Er hatte St. Petersburg 1847 als Kaiserlichrussischer Staatsrat verlassen, einige Jahre von einer ansehnlichen Pension des russischen Staates in Dresden gelebt und mittelmäßige Romane und Bücher über Russland geschrieben, in denen er sich verächtlich über Land und Leute äußerte und ständig die große erzieherische Bedeutung der Deutschen in der Geschichte Russlands hervorhob. Kein Wunder daher, dass Nikolaus I. diesen Mann 1853 als Erzieher für seine Enkel entschieden ablehnte. Nach seinem Tod war
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es dann Maria Alexandrowna, die sich seiner erinnerte und ihn für Nixa, Saschka und Wladimir engagierte. Grimm sprach kein Russisch, kannte Russland nicht und legte den Schwerpunkt seiner Erziehung auf Mathematik und Musik. Russische Geschichte, Sprache und Literatur hielt er für zweitranging, weil Russland für ihn ein Land „ohne jegliche Kultur“ war. Die Geschichte des eigenen Landes brauchten die Großfürsten seiner Ansicht nach nicht zu kennen, weil es sich dabei lediglich um eine zufällige Verkettung von Ereignissen handele, ohne innere organische Beziehung. Die russische Literatur fand Grimm so armselig, dass sie nicht für den Unterricht taugte. Ästhetik und Geschmack konnten die Großfürsten seiner Ansicht nach am besten durch das Studium ausländischer Literatur erlernen. Statt russischer Sprache, Literatur und Geschichte, die er nicht kannte, unterrichtete er selbst allgemeine Geschichte und Geografie in deutscher Sprache. Es bleibt ein Rätsel, warum Maria diesem „Pädagogen“, der Schukowskij, dem Erzieher ihres Mannes, nicht das Wasser reichen konnte, die Erziehung des Thronfolgers und seiner Brüder anvertraute und ihn lange gewähren ließ, so dass die Großfürsten nach Jahren in Grimms Händen wenig gelernt hatten und intellektuell geradezu vernachlässigt wirkten.2 Nur der Thronfolger schien im Alter von 16, 17 Jahren in der Lage, Vorlesungen zu folgen.3 Die Wahl Grimms ist umso unverständlicher, als der Thüringer in einer Zeit wieder nach St. Petersburg kam, als längst zwei bedeutende russische Reformpädagogen ins Blickfeld der Kaiserin getreten waren: Nikolaj A. Wyschnegradskij und Konstantin D. Uschinskij. Ganz im Geiste der Zeit verlangten beide eine Demokratisierung des Erziehungswesens. Wischnegradskij gab seit 1857 das der Kaiserin gewidmete Russische Pädagogische Journal heraus. Das populäre Blatt hatte u. a. die Frage der Mädchenbildung aufgeworfen und allgemein zugängliche höhere Lehranstalten für Mädchen gefordert. Bis zu diesem Zeitpunkt existierten nur geschlossene Institute, die adligen Mädchen vorbehalten waren, wie das Fräulein-Stift (Smolnyj Institut) in St. Petersburg, das aus der von Katharina II. gegründeten Erziehungsgesellschaft für adlige Mädchen hervorgegangen war, und die Katharinenstifte der
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Kaiserin Maria Fjodorowna. Das Fräulein-Stift hatte eine Zeitlang auch eine Abteilung für nichtadlige Mädchen, aber die Erziehung zielte – fern der Familie – auf eine Stellung bei Hofe oder eine gehobene gesellschaftliche Position ab. All diese Institute galten Mitte des 19. Jahrhunderts als antiquiert und mussten dringend „entstaubt“ werden, die neue Zeit erforderte neue Methoden. Wyschnegradskij, der Anfang der 1850er Jahre im Smolnyj Institut unterrichtet hatte, kannte den weltfremden Unterricht und den Kasernengeist, der dort herrschte, aus eigener Erfahrung. Uschinskij, der Maria bei seiner Arbeit im Waisenhaus von Gattschina aufgefallen war, wurde zum Inspektor ernannt und mit der Reform des Instituts beauftragt. Sie bestand darauf, die Kinder von mechanischen Arbeiten wie etwa dem ständigen Abschreiben von Texten zu befreien, mehr für ihre Gesundheit zu tun und die Familien stärker in die Erziehungsarbeit einzubeziehen. Zu diesem Zweck wurde den Mädchen erlaubt, die Ferien und Feiertage bei den Eltern zu verbringen. Bei der Durchführung der Neuerungen sollte Uschinskij auf erheblichen Widerstand und viel Kritik stoßen, und ohne Marias Schutz wäre es ihm schlecht ergangen. „Ihr freundschaftliches Verhältnis zu Uschinsky bewahrte diesen bedeutenden Pädagogen vor dem Geschick, das damals alle hervorragenden Männer in Russland traf, dem Exil“, schreibt Peter Kropotkin.4 Zunächst aber legte Maria dem Kaiser mit Wischnegradskijs Hilfe ein modernes Schulprojekt vor, das dieser billigte. Obwohl Alexander II. gebildete Frauen nicht leiden konnte, sah er doch ein, dass für die Mädchenbildung dringend etwas getan werden musste. Am 19. April 1858 fand in Anwesenheit der Kaiserin die Eröffnung des ersten Mädchengymnasiums an der Ecke Newskij Prospekt 45/Troizkaja (heute: Rubinsteinstraße) statt. Wyschnegradskij wurde der erste Direktor. Das war der Anfang. Maria hatte eine Aufgabe gefunden: die Förderung der Mädchenund Frauenbildung in Russland. Die neuen Schulen standen endlich Mädchen aus allen sozialen Schichten offen, soweit die Eltern das geringe Schulgeld bezahlen konnten. Sie wurden in das „Ressort der Einrichtungen der Kaiserin Maria“ eingegliedert, das der jeweils regierenden Kaiserin unterstand.5 Die Entwicklung dieser Schulen, die nach dem Urteil Peter Kropotkins „von Anfang an vorzüglich organisiert wur-
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den und eine wirklich demokratische Einrichtung erhielten“, hat sie nicht nur gefördert und finanziell unterstützt, sondern sie hat auch die Schirmherrschaft über sie übernommen.6 Die Schulleiterinnen mussten von ihr bestätigt werden. Bis Ende der 1870er Jahre initiierte sie die Gründung von weiteren 32 Gymnasien im Rahmen des Ressorts der Einrichtungen der Kaiserin Maria. Gleichzeitig brachte das Volksbildungsministerium es auf 75 Gymnasien und 159 Progymnasien, die ebenfalls Mädchen aus allen Schichten und Nationalitäten des Vielvölkerreiches aufnahmen.7 Die Schulen wurden ihr zu Ehren Mariengymnasien genannt. Außerdem ließ Maria die ersten Bistumsschulen für Töchter von Geistlichen gründen. In die Gymnasien wurden die Kinder mit acht Jahren aufgenommen, die Schulzeit dauerte sieben Jahre. Unterrichtsfächer waren Religion, russische Sprache, Geschichte und Erdkunde, Arithmetik, Geometrie, Schönschrift, Handarbeit, Gymnastik, Grundlagen der Naturkunde und Physik, Hauswirtschaft und Hygiene, Französisch und Deutsch, Tanz und Gesang. Zusätzlich wurde ein zunächst einjähriger, später zweijähriger Pädagogikkurs angeboten. Schülerinnen, die den pädagogischen Zusatzkurs absolviert hatten, erhielten ein Zeugnis als Hauslehrerinnen und konnten auf eigenen Füßen stehen. Hauslehrerinnen wurden immer gesucht. Im Juni 1858 – der Hof war in Zarskoje – waren zwei Männer in St. Petersburg aufgetaucht, von denen man nicht sagen könnte, welcher von beiden der berühmtere war: Alexandre Dumas, der gefeierte Autor der Drei Musketiere und des Grafen von Monte Christo, oder Daniel Dunglas Home, der schottische Spiritist, der erst am Anfang seiner Karriere stand, aber mit seinen Levitationsexperimenten und Klopfgeistgeräuschen bereits in ganz Europa Aufsehen erregt hatte. Was Dumas angeht, so war das Reisen bekanntlich eine seiner Leidenschaften, und Russland hätte er schon früher besucht, wenn er nicht nach Erscheinen seines Dekabristen-Romans Mémoires d’un maître d’armes (Paris 1840) in Russland zur persona non grata erklärt worden wäre. Nikolaus I. war empört über die positive Darstellung eines aufständischen Gardeoffiziers, dem seine französische Frau in die ewige Verbannung nach Sibirien folgt, und hatte den Roman verboten. Trotzdem wurde er überall heimlich gelesen, auch bei Hofe,
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und sogar die Kaiserin las ihn. Nach der Thronbesteigung Alexan ders II. und dem „Beginn eines liberalen Kurses“ folgte Dumas der Einladung eines russischen Adligen und bekam ein Visum.8 Home befand sich bereits in der Reisegruppe des Grafen Kuschelow-Besborodko, der Dumas sich anschloss. In St. Petersburg gewann er viele neue Freunde und wurde in die großen Häuser eingeladen, sogar zu einem Strauß-Konzert nach Pawlowsk mitgenommen. Den ganzen Juni hindurch redete die Stadt nur von Dumas, jedermann wollte ihn sehen. Eine Einladung an den Hof blieb aus. Doch Home trat am 10. Juli 1858 im Großen Palast in Peterhof auf, und Anna Tjuttschewa hat die Séance beschrieben. Anwesend waren zwölf Personen, darunter der Kaiser, die Kaiserin, die Kaiserinmutter, Großfürst Konstantin, Kronprinz Karl von Württemberg, Alexej Tolstoj und mehrere Höflinge. „Man setzte uns alle um einen runden Tisch herum, mit den Händen auf dem Tisch; der Zauberer saß zwischen der Kaiserin und dem Großfürsten Konstantin Nikolajewitsch. Alsbald ertönten in verschiedenen Ecken des Zimmers Klopfgeräusche, die von den Geistern hervorgebracht wurden. Dann wurden Fragen gestellt, denen die Geräusche entsprechend den Buchstaben des Alphabets antworteten.“ Schließlich hob sich der Tisch, eine Hand griff nach der Kaiserinmutter und zog ihr den Ehering vom Finger, dann schüttelte und kniff die Hand alle Anwesenden. Das Entsetzen war allgemein. Kurzum, Anna „hatte keinen Zweifel daran, dass die Teufel selbst sich hier vergnügen“.9 Home und seine Geister hatten so viel Erfolg, dass die Séance tags darauf bei Großfürst Konstantin in seinem Palast in Strelna südwestlich von St. Petersburg wiederholt wurde. Dann folgten „noch viele Séancen, von denen der Herrscher restlos begeistert war“.10 Die Herrscherin war gar nicht begeistert, an den folgenden Sitzungen nahm sie nicht mehr teil, schließlich billigte die orthodoxe Kirche das Treiben der Spiritisten nicht. Dumas reiste Ende Juli in den Kaukasus weiter, während Home noch in St. Petersburg blieb. Im November1858 und Anfang 1859 sollten die Séancen im Winterpalast stattfinden.11 Was der Schotte in der Zwischenzeit trieb, konnte unsere Chronistin nicht beschreiben, da sie das Herrscherpaar zum zweiten Jahrestag der Krönung nach Moskau begleiten musste.
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Schon in Klin verließen Kaiser und Kaiserin den Zug und besuchten die altrussischen Städte des Goldenen Rings mit ihren Kirchen und Klöstern. In Jaroslawl sah Maria zum ersten Mal die Wolga. Sie war hingerissen und dies umso mehr, als es von Jaroslawl mit dem Schiff weiter ging nach Kostroma, wo 1613 der Bojar Michail Fjodorowitsch Romanow zum ersten Zaren gewählt worden war. In den Städten wurde das Kaiserpaar gefeiert, doch die Stimmung auf dem Land war angespannt. Die Bauern waren misstrauisch und unzufrieden. „Was können die Gutsbesitzer schon erwarten, deren Bauern Grund haben, unzufrieden zu sein?“, fragt Anna Tjuttschewa und bleibt eine Antwort schuldig.12 Am Abend des 6. September trafen die Majestäten in Moskau ein, nahmen am nächsten Morgen an einem Gottesdienst in der Uspenskij-Kathedrale teil und begaben sich für ein paar Tage wieder nach Ostankino. Der Ausflug nach Borodino aus Anlass des 46. Jahrestages der berühmten Schlacht von 1812 musste zu Marias größtem Bedauern ausfallen, weil die Straße nach mehrtägigem Regen unpassierbar war. Stattdessen fuhr sie allein – Alexander hatte nach Warschau reisen müssen – ins Kloster Neu-Jerusalem und ließ sich vor der dortigen Auferstehungskathedrale, einer Nachbildung der Grabeskirche in Jerusalem, von einem der Generaladjutanten, der in Jerusalem gewesen war, die Unterschiede erklären. Nach all diesen „touristischen Großtaten“ (Tjuttschewa) kam sie zum 15. Geburtstag des Thronfolgers am 8./20. September erschöpft wieder in Zarskoje selo an. Genau einen Monat später eröffnete sie ein zweites Mädchengymnasium in der Hauptstadt.13 Bis 1866 sollten es sieben werden. Aber sie machte sich Sorgen über die Lage auf dem Land. Die Berichte ihrer Begleiter von der Stimmung auf den Gütern und in den Dörfern hatten ihr zu denken gegeben. „Die Angelegenheit der Befreiung geht sehr langsam vorwärts wegen der allgemeinen großen Unwissenheit und des passiven Widerstrebens der Hochgestellten“, schreibt sie ihrem Bruder Alex. „In den einzelnen Gouvernements streitet man viel darüber und die Mehrheit ist überall dagegen. Die Lage ist ernst und die Stellung des Kaisers sehr schwierig, da man dabei so wenig oder gar nicht mit ihm geht. Er verliert aber, Gott sei Dank, den Mut nicht.“14
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Die Lage auf dem Land war nicht die einzige Sorge, die Maria beschäftigte. Denn am 11. November 1858 hatte der regimekritische Schriftsteller Alexander Herzen in seiner berühmten Zeitschrift Kolokol (Die Glocke), die er im Londoner Exil herausgab, einen Offenen Brief an sie veröffentlicht und eine Debatte darüber ausgelöst, von wem und wie der Thronfolger und seine Brüder erzogen werden sollten. Nixa schien zu den schönsten Hoffnungen zu berechtigen. „Er machte den vorteilhaftesten Eindruck auf mich“, schreibt Professor Boris N. Tschitscherin, einer seiner Lehrer, über ihn. „Hochgewachsen, schlank, schön, dabei klug, lebhaft und freundlich, konnte er bezaubern und diejenigen für sich einnehmen, die an ihn herantraten. Die ganze Atmosphäre um ihn herum war herzlich und gehoben.“15 Nixa war die große Hoffnung der Liberalen, ein begabter junger Mann, der geeignet schien, das Reformwerk seines Vaters fortzusetzen. Die Zeitgenossen äußern sich jedenfalls nur lobend über ihn. Allein Peter Kropotkin, der ehemalige Page, der Nixa ein paar Jahre aus der Nähe beobachten konnte und keinen Grund hatte, ihm zu schmeicheln oder Rücksicht zu nehmen, sah auch negative Züge an ihm: „Der Thronerbe war von außerordentlicher Schönheit, die vielleicht etwas zu ausgesprochen Weibliches hatte. Er war ganz und gar nicht stolz und unterhielt sich während der Morgenempfänge mit den Kammerpagen in der kameradschaftlichsten Weise. Die ihn aber genau kannten, schilderten ihn als einen durchaus egoistischen, wirklicher Zuneigung zu einem anderen unfähigen Menschen. Dieser Charakterzug war bei ihm sogar noch mehr hervorstechend als bei seinem Vater.“16 Wir wissen nicht, wie Maria ihren Ältesten gesehen hat, wir wissen nur, dass sie ihn abgöttisch geliebt und ihren anderen Kindern vor gezogen hat. Und wahrscheinlich hat sie – wie alle Mütter es getan hätten – die negativen Seiten seines Charakters übersehen. Nun also dieser Brief von Herzen, der mit seiner Zeitschrift die öffentliche Meinung in Russland dominierte. Er war immer ein entschiedener Gegner Nikolaus’ I. und der Selbstherrschaft gewesen, hatte schon in Russland oppositionellen Zirkeln angehört und war 1847 emigriert. Seit 1857 gab er in London den Kolokol heraus, sein Pseudonym war „Iskander“.
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„Von Ihnen sagt man, dass Sie klug sind“, schreibt Herzen der Kaiserin, „dass die zeitgenössische Ideenströmung nicht umsonst durch die doppelten Fensterrahmen des Winterpalastes gedrungen ist, von Ihnen sagt man, dass Sie die Bauernbefreiung wünschen. Das ist sehr viel. Sie lieben Russland, das kann nicht anders sein. Wie sollten Sie dieses Land auch nicht lieben, das Sie mit allen Gütern umgeben und Ihnen den Kaisermantel umgelegt hat. Und das ist nicht alles; zwischen Ihnen und dem Volk hat sich ein anderes Band gebildet. Die Krone, die in der dunklen Zeit des Krieges und der inneren Verödung auf Ihr Haupt gesunken ist, war für das Volk der Ausgangspunkt eines neuen Lebens. Es hat die neue Herrschaft mit kindlichem Glauben begrüßt. Sie haben mit dem Herrscher jene Ausbrüche der Volksbegeisterung geteilt, die man in Russland nicht mehr gehört hat, seit Alexander I., müde von seinem Triumph, im Jahre 1815 aus Paris in das abgebrannte Moskau zurückkehrte. Wie sollten Sie Russland also nicht lieben!“17 Sie, die Herrscherin, habe ja bereits den Versuch gemacht, ihren Sohn, den künftigen Zaren, vor der „schlimmsten Großfürstenerziehung, d. h. vor der soldatischen, von militärischer Disziplin und deutschem Klientelismus umgebenen Erziehung“, zu retten. „Ganz Russland freute sich, als es hörte, dass Männer von hoher und dabei ziviler Bildung von Ihnen berufen wurden. Viele dachten sogar, dass sie Ihren Sohn auf den Bänken der Moskauer Universität […] sehen werden. Und dass sie ihn dort ohne bereitstehende Generaladjutanten und ohne Deckung durch geheime und offene Polizei sehen, so, wie man in den Hörsälen den Sohn der Königin Victoria sieht. Und wir haben Sie aus der Ferne gesegnet …“ Aber das habe denjenigen nicht gefallen, „die wie ein Klotz jeden Fortschritt, Transparenz [glasnost] und öffentliche Gerichtsverfahren verhindern und sich der Bauernbefreiung in den Weg stellen. Wie konnten diese Leute gleichgültig zusehen, dass Ihr Sohn eine menschliche Ausbildung erhält?“ Aber dann habe sie ihre Meinung schnell geändert und sei beim ersten Schritt steckengeblieben. Aufgrund einer Intrige habe sie nicht nur zugelassen, dass Männer, denen Russland und sie selbst vertraut hatten, aus dem Unterrichtszimmer ihres Sohnes verdrängt wurden,
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sondern auch, dass „irgendein talentloser deutscher Schulmeister“ ihren Platz einnahm. Das war natürlich eine Anspielung auf Kawelins Entlassung, vielleicht auch auf Gontscharows Abschied. Dieser Deutsche, der nichts von Russland wisse, nichts mit Russland zu tun habe, würde für ein gutes Gehalt auch den Sohn des Beys von Algier unterrichten. „Was wird dieser Fremde Ihrem russischen Sohn beibringen … oder kennen Sie den hochmütigen Hass der Deutschen auf alles Russische nicht, ihre Abneigung gegen uns, die sie unter der Maske des Klientelismus und der Kriecherei kaum verbergen können […]?“ Natürlich sei Deutscher nicht gleich Deutscher, aber sie habe doch keinen Schiller genommen, sondern August Theodor von Grimm! Einen Schmeichler und Speichellecker, für den Nikolaus I. ein großer Kaiser war, „in dem Russland seinen Stolz und seinen Ruhm fand und auf den das von Wirren erschütterte Europa schaute wie auf den unverrückbaren Polarstern“. Herzen konnte nicht fassen, dass ein Mann mit solchen Ansichten den Thronfolger erziehen sollte. „Ein armer Junge ist Ihr Sohn“, fährt er fort. „Ja, wenn er jemand anderer wäre, ginge er uns nichts an; wir wissen, dass ein großer Teil der adligen Kinder bei uns sehr schlecht erzogen wird. Aber mit seiner Entwicklung ist das Schicksal Russlands verbunden, und deshalb tut es uns in der Seele weh, wenn wir hören, dass ihm dieser Mensch zugeordnet ist […]. Was wäre, wenn Ihr Sohn glaubt, dass Nikolaus der größte Mann des 19. Jahrhunderts war, und ihn nachahmen möchte?“ Im Nachhinein bekam auch Generalmajor Sinowjew noch sein Fett weg. Wo der denn Pädagoge geworden sei, fragt Herzen, und warum der geeigneter gewesen sei als 50 oder 500 andere Divisions- und Sonst-was-für-Generäle, die mit krächzender Stimme kommandieren und Soldaten mit dem Stock erziehen. Hätte man statt seiner nicht gebildete Männer finden können, die keine Epauletten tragen? „Der Rang eines russischen Zaren ist kein militärischer Dienstgrad“, belehrt Herzen die Kaiserin. „ […] Alles, was Russland fordert, gründet auf Frieden, ist möglich im Frieden. Russland dürstet nach inneren Veränderungen, es braucht eine neue zivile und ökonomische Entwicklung, aber ein Heer behindert das eine und das andere auch ohne Krieg. Ein Heer bedeutet Zerstörung, Gewalt und Unterdrückung;
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seine Grundlage ist schweigende Disziplin; der Soldat schadet der bürgerlichen Ordnung, weil er nicht urteilt, ihm wurde die Verantwortung abgenommen, die den Menschen vom Tier unterscheidet. „Bringen Sie Ihrem Sohn bei, einen Frack zu tragen, versetzen Sie ihn in den Zivildienst; Sie werden ihm einen riesigen Dienst erweisen. Beschäftigen Sie seinen Verstand mit etwas Edlerem als mit dem ewigen Soldat-Spielen; der Schulraum des Thronfolgers darf kein Wacht raum sein. Das ist eine Eigenart der preußischen Prinzen und anderer kleiner deutscher Fürstlein. Das englische Königshaus ist, so scheint es, nicht schlechter als andere; warum sitzt der Prinz von Wales […] hinter einem Mikroskop und beschäftigt sich mit Zoologie?“ Der russische Thronfolger aber spiele in den Sälen des Winterpalastes mit extra herbeibefohlenen Kadetten Krieg gegen kaukasische Völker. „Welche Leere, welche Armut der Interessen, welche Eintönigkeit … und dabei welch moralischer Schaden! Haben Sie denn nie daran gedacht, was dieses Spiel bedeutet, was es darstellt … – wozu Waffen, Bajonette, Säbel da sind […]?“ Natürlich müsse der Thronfolger das Kriegshandwerk kennenlernen, aber nur als Teil seiner Ausbildung. Finanzielle, zivile, rechtliche und soziale Fragen müsse er sehr viel besser kennen. Kurzum, die militärische Ausbildung der Großfürsten, wie sie bisher gehandhabt wurde, hielt Herzen für schädlich und sinnlos, er hatte sogar Mitleid mit den Großfürsten. „Sehen Sie doch, wie steril ihr Leben ist, wie unnütz ihr Herumirren in Russland … einer fährt Gestüte besichtigen, ein anderer die Wände irgendeiner Zitadelle, der dritte die militärische Haltung der fünften Division oder der fünfzehnten … Es ist schrecklich zu denken, wie weit die Leere der großfürstlichen Existenzen es bei uns gebracht hat.“ Der Brief endet mit einem Appell: „Gebieterin, retten Sie Ihre Kinder vor dieser Zukunft! Ich weiß sehr gut, dass meine Worte, wenn sie zu Ihnen dringen, Sie durch ihre Frechheit erstaunen werden: Die scharfe Sprache eines freien Menschen wird in den Sälen des Winterpalastes unnatürlich klingen. Aber überwinden Sie Ihre Entrüstung, dringen Sie in den Sinn meiner traurigen Worte ein, und Sie finden darin vielleicht Spuren eines großen Schmerzes, der das Herz zerfrisst, und mehr noch den reinen Wunsch nach Russlands Wohl […] als Kränkung und Frechheit.“
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Wie Herzen später erfuhr und auch bekannt gab, hat die Kaiserin nach der Lektüre dieses Briefes geweint. Wir können annehmen, dass Maria dem „freien Mann“ in London insgeheim in vielem Recht gab. Aber was konnte sie ändern? Sie war nicht immer einer Meinung mit Alexander, aber sie ging nie gegen seinen Willen an. Sie hatte Kawelins Entlassung nicht verhindern können, und als sie Grimm engagierte, wusste sie nur, dass er der Erzieher ihrer Schwäger Michael und Nikolaus gewesen war, und Alexander hatte nichts gegen den Thüringer einzuwenden, obwohl sein Vater ihn so strikt abgelehnt hatte. Grimms Verhalten Gontscharow gegenüber hat sie offenbar nicht richtig eingeschätzt. Welche Folgen – außer Tränen – Herzens Offener Brief letztlich hatte, wissen wir nicht. Sicher ist, dass Maria den Brief für Grimm übersetzen ließ, worauf der nur „gallig“ gelächelt haben soll.18 Möglicherweise war die Tatsache, dass die Attacke aus London kam, der Grund dafür, dass Grimm zunächst blieb, zumal bei der Kaiserinmutter gerade sein Roman „Die Fürstin der siebenten Werst“ gelesen wurde, so dass er weiter machen durfte, weil Alexandra Fjodorowna an ihm festhielt. Möglicherweise gab es wieder Streit mit Alexander, aber es ist wohl ausgeschlossen, dass der Kaiser erlaubte, den militärischen Teil der Erziehung seiner Söhne zu reduzieren. Ohnehin fand er seinen Ältesten irgendwie „weibisch“ und beschloss, ihn durch Sport abzuhärten. Zu allem Überfluss veröffentlichte Herzen im November 1858 unter seinem Pseudonym „Iskander“ auch noch die in Russland geheimen Memoiren Katharinas II. Ihre Veröffentlichung hatte er bereits im September im Kolokol angekündigt. Das Original lag in Moskau im Staatsarchiv, in St. Petersburg kursierten offenbar Abschriften. „Fabelhaft interessant! Ich muss sie leider morgen schon wieder abliefern“, notiert jedenfalls Legationsrat Schlözer, fragt, wie Herzen wohl in den Besitz der Memoiren gelangt war, und stellt fest: „Hier wird mit Geld alles möglich.“19 Doch es war kein Geld im Spiel. Alexander Herzen wurde aus St. Petersburg bestens mit allen wichtigen Informationen versorgt, die in der zensierten Presse nicht erscheinen durften, er hatte zuverlässige Informanten, einer hatte ihm die Memoiren Katha rinas nach London gebracht. Und da der Kolokol in ganz Russland
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gelesen wurde, auch bei Hofe, war man zunächst gespannt, dann verärgert und schließlich allerhöchst schockiert, als die Memoiren im französischen Original bei Trübner & Co in London erschienen. Sie wurden ein Bestseller. Bald folgten Übersetzungen ins Russische und andere europäische Sprachen, und ganz Europa verschlang das Buch. „Herzen tut uns so viel Leid als möglich an mit seinem Kolokol“, klagt Maria ihrem Bruder, „er hat die Memoiren der Kaiserin Katharina veröffentlicht und sagt in der Vorrede buchstäblich, dass die jetzige russische Dynastie nicht von Peter I., sondern von Sergius Soltikoff, dem Geliebten Katharinas, abstamme!“20 Damit könnte Herzen sogar Recht gehabt haben. Die Frage, ob der Kammerherr Sergej W. Saltykow oder Peter III., ihr Gatte, der Vater ihres Sohnes Paul war, wurde bisher jedoch nicht beantwortet. Sie ist längst auch ohne Belang. Aber 1858 war die Behauptung noch gewagt. Wir können annehmen, dass Otto von Bismarck die Memoiren Katharinas gelesen hatte, als er im März 1859 seinen Dienst als Gesandter des Königs von Preußen in St. Petersburg antrat. Er wurde vom Kaiser und den beiden Kaiserinnen sehr gut empfangen. Alexander behandelte Bismarck fast wie einen guten Bekannten. Beim Essen saß der Gesandte zwischen Kaiser und Kaiserin. „Der Kaiser zeichnet mich in einer Weise aus, die mir die Stellung eines Familiengesandten, wie zur Zeit seines Vaters, gewährt; ich bin der einzige Diplomat, der intimeren Zutritt zu seiner Person hat“, schreibt Bismarck einem Diplomaten in Berlin.21 „Beide Majestäten sprachen mit mir deutsch; die Kaiserin stets, der Kaiser so lange, als nicht von Politik die Rede ist“, schreibt er seiner Frau.22 Aber natürlich konnte Maria, die Hessin, auf die Dauer die Lücke nicht füllen, die Alexandra, die Preußin, bald hinterlassen sollte. Politisch hatte sich Bismarck schnell orientiert: „Die Große Angelegenheit der Bauernemanzipation bildet unausgesetzt den Gegenstand der Beratungen in den Conseilsitzungen, welche unter dem Vorsitze Sr. Majestät des Kaisers abgehalten werden …“ schreibt er. „Man sagt mir, dass aus allen Teilen des Reiches die Nachrichten dahin übereinstimmen, dass die leibeigenen Bauern, weit entfernt, durch eine trotzige Haltung und durch ungeduldige Kundgebungen das Werk der Emanzipation zu erschweren, vielmehr in der jüngsten Zeit in einer gegen früher auffälligen Weise alle ihnen gesetzlich obliegenden Leis-
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tungen bereitwillig erfüllen und auch sonst die säumigen und passiv widerstrebenden unter ihren Genossen zu gleichem Verfahren freiwillig anhalten. Es sei, sagt man mir, als ob eine allgemeine Verabredung unter diesen Millionen stattfände, durch eine verständige Haltung und durch Kundgebung des vollsten Vertrauens in die Absichten des Kaisers sich das Wohlwollen Sr. Majestät zu sichern …“23 Natürlich ging es auch in diesem Sommer nach Zarskoje Selo und dann nach Peterhof, diesmal jedoch nicht für den ganzen Sommer. Wie das deutschbaltische Pernau’sche Wochenblatt am 1. August 1859 aus Petersburg meldete, waren Kaiser und Kaiserin am 15. Juli in Peterhof an Bord des Dampfers Standard gegangen, um sich, begleitet von den Söhnen Alexander und Wladimir, ins Ostseebad Hapsal im Gouvernement Estland zu begeben, wo der Thronfolger, Alexej und Maria sie bereits erwarteten: „Am darauf folgenden Tage, dem 16. Juli, um halb 2 Uhr Nachmittags, während des Vorbeifahrens an der Insel Worms, wurden I h r e K a i s e r l i c h e n M a j e s t ä t e n von I.I. K.K. H.H. dem T h r o n f o l g e r C ä s a r e w i t s c h und dem Großfürsten A l e x e i A l e x a n d r o w i t s c h und der G r o ß f ü r s t i n M a r i a A l e x a n d r o w n a , welche Hapsal mit auf dem Dampfer ,Onega‘ verlassen hatten, bewillkommnet; I h r e Majestäten langten, nach Einschiffung auf letzterem Dampfer um 4 Uhr Nachmittags wohlbehalten in Hapsal an. Im Hafen harrte der Ankunft der Erhabenen Reisenden eine zahlreich versammelte Menge, welche H o c h d i e s e l b e n mit freudigen Hurras empfing.“24 Die Ostseeprovinzen Estland, Livland und Kurland, die seit 1721 bzw. 1795 zu Russland gehörten, genossen das Privileg, sich selbst zu verwalten, und viele Angehörige der deutschen Oberschicht machten in St. Petersburg Karriere, so auch Alexander Graf Keyserling, der berühmte Geologe und Paläontologe, der seit 1857 Ritterschaftshauptmann in Estland war. Die kaiserliche Familie verbrachte ihre Ferien gern in den Ostseeprovinzen, weil sie dort immer willkommen war und herzlich begrüßt wurde – der deutschbaltische Adel war für seine besondere Loyalität dem Kaiserhaus gegenüber bekannt. „Mit freudiger Erregung sahen wir der Ankunft Ihrer Majestäten entgegen“, schreibt Keyserlings Tochter Helene. „Eine Anzahl junger Mädchen aus dem Landesadel in weißen Kleidern und mit Kornblu-
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menkränzen im Haar sollte die hohen Gäste vor dem Schloss empfangen, und auch ich war dazu auserlesen. Unsere Herzen klopften, als wir auf der Schlosstreppe Aufstellung nahmen; […] Auf dem Schlosshof war ein Theil der Gardetruppen in ihren von Gold und Silber glänzenden Rüstungen aufgestellt. Nun nahte die Kaiserin; […] in ihrem Wesen lag etwas so Anziehendes und Vertrauenerweckendes, dass jede Befangenheit vor ihrer einfachen und doch so vornehmen Güte schwand. Nun folgte der Kaiser; er war abgespannt und müde und wollte rasch grüßend vorübereilen, doch die Kaiserin sagt zu ihm: ,Es ist hier eine Tochter von Keyserling.‘ Ich vergesse nie den Blick, den er auf mich richtete; es lag solch eine schwere Melancholie in seinen großen dunkelblauen Augen, man hätte ihren Ausdruck fast düster nennen können, wenn nicht das wohlwollende Lächeln im Gegensatz zu der Schwermuth des Blicks gestanden hätte. Es war, als ob die Ereignisse ihren Schatten voraus würfen.“25 Nach der Rückkehr aus Hapsal wurde Nixa volljährig, obwohl er am 8./20. September 1859 erst 16 Jahre alt wurde. Aber so wollte es die Tradition: Der Thronfolger wurde mit 16 volljährig erklärt, seine jüngeren Brüder mit 21. Am Tag der Volljährigkeit musste Nixa einen zivilen und einen kirchlichen Eid ablegen, und genau betrachtet wurde er erst dadurch offiziell Thronfolger bzw. Zesarewitsch. Der Eid des Thronfolgers war ein wichtiges öffentliches Ereignis, ein Staatsakt. Den zivilen Eid leistete Nixa in der Großen Palastkirche, den militärischen anschließend im Großen Thronsaal (St.-GeorgSaal), wo er neben dem Thron unter der Fahne seines Kosakenregiments dem Herrscher und dem Vaterland Treue schwor. Auf Befehl des Kaisers musste der Maler Gottfried (Bogdan P.) Willewalde diesen Augenblick im Bild festhalten. Nach dem Eid reiste Alexander, der seinem Sohn dringend empfohlen hatte, mehr Sport zu treiben, in die südwestlichen Gouvernements, besichtigte Truppen und nahm an Manövern in der Nähe von Poltawa im Zentrum der heutigen Ukraine teil, die er zur Erinnerung an den Sieg Peters I. über den Schwedenkönig Karl XII. in einer der blutigsten Schlachten des Nordischen Krieges im Juli 1709 angeordnet hatte. Während der Manöver folgte er einer Einladung des Fürsten Michail M. Dolgorukow auf sein Gut Tjeplowka in der Nähe Poltawas. Die Idee, Seine
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Majestät einzuladen, hatte vermutlich Fürstin Wera, die hoffte, in der Suite des Kaisers einen Bräutigam für eine ihrer beiden Töchter zu finden, aber auch der Fürst konnte auf Gnaden hoffen. Die Tochter Katharina („Katja“), eine selbstbewusste Zwölfjährige, schwärmte schon damals für den Kaiser. Die Familie war vollkommen verarmt, weil der Fürst allzu sorglos mit seinem Geld umgegangen war. Als er 1862 starb, sollte Fürstin Wera mit ihren sechs Kindern nach St. Petersburg ziehen, wo sie eine bescheidene Wohnung am Stadtrand mietete und der Kaiser dafür sorgte, dass Katja und ihre Schwester Maria ins Fräulein-Stift aufgenommen wurden, während ihre Brüder ins Pagenkorps kamen. Wir können annehmen, dass Alexander seiner Frau von der Familie erzählt hat, schließlich gehörten die Dolgorukows zu den ältesten Adelsgeschlechtern Russlands, führten sich sogar auf Rjurik, den legendären Warägerfürsten, zurück. Ganz Petersburg redete von ihrem Unglück. Die Dolgorukows fallenzulassen, konnte sich der Kaiser jedenfalls nicht erlauben. So ging das Jahr 1859 ruhig zu Ende. Das wichtigste Ereignis des Jahres war natürlich der Eid des Thronfolgers gewesen, aber schon gleich im Januar war der hölzerne Zirkus am (heutigen) Theaterplatz abgebrannt, den der bekannte Architekt Alberto Cavos, ein Sohn des aus Venedig eingewanderten Komponisten Catterino Cavos, Ende der 1840er Jahre gebaut hatte. Der Zirkus war zugleich Theater. An seiner Stelle errichtete Cavos, der nach dem großen Feuerschaden von 1853 das Bolschoj Theater in Moskau wieder aufgebaut hatte, so dass es rechtzeitig zur Krönung Alexanders II. neueröffnet werden konnte, relativ schnell ein neues Theatergebäude, dessen Zuschauersaal architektonisch eine Sensation war. Aus der Zirkusarena hatte Cavos eine hufeisenförmige „italienische“ Opernhalle gemacht, und zum ersten Mal war die Bühne von allen Plätzen aus gut zu sehen, auch von den billigsten.26 Das neue Theater, das zu Ehren der Kaiserin „Marientheater“ (Mariinskij teatr) genannt wurde, eröffnete am 2./14. Oktober 1860 mit Glinkas Oper Ein Leben für den Zaren, und auch danach wurde jede Saison mit dieser Oper eröffnet. Die dem Kaiserlichen Marientheater angeschlossene Ballettschule (heute: Waganowa-Ballettakademie) wurde zur Pflanzstätte des klassischen russischen Balletts. Maria Alexandrowna hat die Schule nach Kräften unterstützt und finanziert.
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Zur Eröffnung war die kaiserliche Namensgeberin jedoch nicht erschienen, weil sie gerade ihr achtes Kind entbunden hatte. Paul Alexandrowitsch, der spätere Kavalleriegeneral, kam nach gutem Schwangerschaftsverlauf am 3. Oktober 1860 in Peterhof zur Welt. Paul sah seiner Mutter ähnlich und kam auch sonst nach ihr, er war sehr religiös. In der Familie hieß er Pitz. Politisch nicht sonderlich interessiert, galt er später als der „demokratischste“ der Söhne Alexanders II. und Maria Alexandrownas. Er liebte das sorglose Leben eines glänzenden Offiziers, einen verantwortlichen Posten hat er nie bekleidet.27 Nach Pauls Geburt verboten die Ärzte der Kaiserin angeblich den ehelichen Verkehr, worüber sie wahrscheinlich nicht einmal unglücklich war, denn nach der achten Geburt fühlte sie sich weiteren Schwangerschaften nicht mehr gewachsen. Im Spätherbst hatte sich der Zustand der Kaiserinmutter so verschlechtert, dass ihre Tochter Olga, die württembergische Kronprinzessin, aus Stuttgart herbeieilte. Am 3. November 1860 starb Alexandra Fjodorowna im Alexander-Palast in Zarskoje Selo. Sie war nicht herz- und lungenkrank, wie die Ärzte jahrzehntelang vermutet hatten, sondern magenkrank und Zeit ihres Lebens falsch behandelt worden. Alexander, der früher als geplant aus Warschau heimkehrte, war ganz elend, er hatte seine Mutter über alles geliebt. „Kaiserin Marie erschien kaum zu den Beisetzungsfeierlichkeiten, da sie eben ihren Sohn Paul geboren hatte …“, schreibt Eveline von Massenbach und fügt hinzu: „Gegen den Rat der Ärzte ist Kaiserin Marie noch erschienen, Abschied zu nehmen von dem Leichnam vor seiner Überführung in die Festung […].“28 Sie hat ihrer preußischen Schwiegermutter nie vergessen, wie warm und verständnisvoll sie sie einst aufgenommen und wie sehr sie ihr in der ersten Zeit in St. Petersburg beigestanden hatte. Anders als Maria, die sich längst als Russin fühlte, war Alexandra im Grunde ihres Herzens immer Preußin geblieben und hatte Zeit ihres Lebens für das Wohl ihrer beiden Vaterländer, Preußen und Russland, gewirkt. Ihre Rolle als Garantin guter preußisch-russischer Beziehungen ist nicht zu überschätzen. „Der Slawe freut sich, dass nun endlich die ‚deutsche Wirtschaft‘ aufhört“, notiert Kurd von Schlözer an ihrem Todestag. „Die Herren Preußen sind jetzt unten durch.“29 Zehn Tage
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später schreibt er: „Die kaiserliche Familie wird nun ganz auseinanderfallen, da sie nur noch durch Alexandra Feodorowna zusammengehalten war. Die regierende Kaiserin ist in der Familie so wenig beliebt, dass Großfürsten und Großfürstinnen schon seit Jahren sich immer darum herumgedrückt haben, zu ihr zu gehen. Und der Kaiser selbst ist auch nicht der Mann, um einen Mittelpunkt zu bilden. Der deutsche Einfluss schmilzt dahin und kann nur noch künstlich aufrechterhalten werden. Das russische Nationalgefühl fängt an, Mode zu werden. Und da das Kaiserhaus bereits als ,fremdes‘ bezeichnet wird, so mischen sich slawische und antimonarchische Tendenzen. Der Boden des Reiches wird auch in dieser Richtung langsam unterhöhlt. Preußen wird in den Hintergrund treten.“30 Die Entlassung Grimms gleich nach dem Tod der Kaiserinmutter bestätigte Kurd von Schlözer in seiner Sicht der Dinge. „Grimm ist vollständig vom Nassljednik* entfernt und wird auch wohl bald das Weite suchen müssen: das Slawentum will einen Reinigungsprozess mit sich vornehmen, schmutzig genug ist es. Unbegreiflich, wie man in Russland von Reformieren sprechen kann“, notiert er.31 Grimm habe die Großfürsten im „europäischen Sinn“ erzogen und sei dadurch in Konflikt mit der „nationalistischen Hofpartei“ geraten, glaubte Schlözer. So einfach war es nicht, und Herzen hatte recht: An keinem anderen europäischen Hof wurde der Thronfolger von einem Ausländer erzogen, der sein Gastland verachtete und die Landessprache nicht beherrschte. Über ihr eigenes Land hatte Grimm den jungen Großfürsten wenig beigebracht. Wohl versehen mit einer Pension von 12 000 bis 14 000 Rubel kehrte er nach Deutschland zurück und schrieb eine Biografie Alexandra Fjodorownas, die er Wilhelm I. von Preußen, ihrem Bruder, widmete. Dass Preußen nicht in den Hintergrund trat, wie Schlözer befürchtete, dafür sorgte eine Zeitlang noch der Gesandte Bismarck, der bis Anfang 1862 auf seinem Posten blieb. Er verstand sich gut mit Gor tschakow, und die Freundschaft der beiden war einer der Gründe dafür, dass Russland die deutsche Einigung hinnahm, jedenfalls nicht versuchte, sie zu verhindern. * Thronfolger
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Kronprinzessin Olga blieb noch in St. Petersburg, bis alle Erbschaftsangelegenheiten geregelt waren.32 Und so hatte Eveline von Massenbach die Zeit, Olgas Neffen und Nichten zu beobachten. „Die kaiserlichen Kinder können so skizziert werden: Nina [sic! statt Nixa, M.B.], der Erbe: angenehmes Äußere, begabt, ein wenig überfein und gekünstelt, eine fast zu empfindsame Natur. Sascha (Alexander III.) [geb. 1845]: ehrlich wie Gold, ein mürrischer Wohltäter mit weitem Herz, noch ohne viel Interessen. Wladimir [geb. 1847]: ein Mann von Geschmack mit sehr entwickelten künstlerischen und kulinarischen Neigungen und einem sehr getreuen Herzen. Marie [geb. 1853]: ähnelt niemand, ist ehrlich, guten, geraden Sinnes und ganz rundlich. Alexis [geb. 1850]: ist schon ganz auf Tanz und Vergnügen aus. Sergius [geb. 1857]: kenntnisreich, zartfühlend, schlau. Paul [geb. 1860]: noch in den Windeln, blieb lange Zeit ein kleiner unergründlicher Mann, jetzt nennt er sich Pitz.“33 Auf die Kaiserin aber warteten neue Aufgaben. Denn ihr unterstand nun das „Ressort der Einrichtungen der Kaiserin Maria“. Dessen praktische Leitung hatte Alexander seinem Cousin Peter von Oldenburg übertragen, einem tüchtigen Verwalter, der die Kaiserliche Schule für Rechtskunde gegründet und schon viele wichtige Ämter bekleidet hatte. Im letzten Herrschaftsjahr Nikolaus’ I. umfasste das Netzwerk seiner Mutter, der Kaiserin Maria Fjodorowna, 365 Bildungs- und Sozialeinrichtungen. Man kann sich leicht vorstellen, dass Maria sich ohne den Prinzen von Oldenburg vollkommen überfordert gefühlt hätte. Unter dem Eindruck der umfangreichen Wohltätigkeit der tüchtigen Württembergerin scheint sie dann beschlossen zu haben, es ihr nachzutun. Ab 1860 widmet sich Maria Alexandrowna der Bildungsarbeit und der Wohltätigkeit, insbesondere aber der Frauenbildung und der Sorge um Kriegsverwundete. Der Krimkrieg lag noch nicht lange zurück, noch trauerten viele Familien um ihre Toten. Die segensreiche pflegerische Tätigkeit der Florence Nightingale während des Krimkrieges war in Europa bekannt. Es war auch bekannt, dass Nightingale begonnen hatte, das englische Sanitätswesen zu reformieren, und dass sie eine Krankenpflegeschule gegründet hatte. Auch die Aktivitäten Henry Dunants waren am Petersburger Hof bekannt. Wir
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können annehmen, dass Maria sein berühmtes Buch Un Souvenir de Solferino (1862) gelesen hat, eine Erinnerung an jene verlustreiche Schlacht in der Lombardei im Juni 1859, an der auch ihr Bruder Alex teilgenommen hatte. Dunants Beschreibung des Schlachtfeldes mit Zehntausenden verwundeten und sterbenden Soldaten, die medizinisch unversorgt zurückgeblieben waren, führte 1863 zur Gründung des Internationalen Komitees der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege in Genf, aus dem später das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hervorgehen sollte. All das war auch in Russland nötig. Aber wo sollte sie anfangen? Wer würde ihr helfen? Sie ahnte nicht, dass zwei tüchtige Helferinnen längst in ihrer Nähe waren: Marfa S. Sabinina, die Musiklehrerin ihrer Kinder Maria und Sergej, und ihre Freundin Maria Frederiks, eine ihrer Hofdamen. Marfa Stepanowna war eine Tochter des Geistlichen Stepan K. Sabinin, der an der russischen Botschaft in Kopenhagen und in Weimar gedient hatte und 1859 mit seiner Familie nach Russland zurückgekehrt war. Seine 1831 in Kopenhagen geborene und in Weimar aufgewachsene Tochter Marfa war eine hochbegabte Pianistin, die bei Clara Schumann und Franz Liszt Unterricht genommen und in Deutschland bereits konzertiert hatte. Sie war auch in Russland schon aufgetreten und hatte Konzerte im Winterpalast gegeben. Dabei war die junge Frau der Kaiserin aufgefallen und zur Musiklehrerin Marias und Sergejs ernannt worden. So hatte Maria noch jemanden um sich, der viele Jahre in Deutschland gelebt hatte. Marfa Sabinina, die ihren Dienst im Oktober 1860 antrat, sollte acht Jahre in ihrer Stellung bleiben. Im Herbst 1866 überzeugte sie den Kaiser von der Notwendigkeit, auch in Russland eine Rotkreuzgesellschaft zu gründen, wie sie seit 1863 in vielen europäischen Staaten entstanden war. Die Kaiserin unterstützte die Idee sofort und versprach, die Schirmherrschaft zu übernehmen. Sabinina und Frederiks machten sich an die Arbeit. Die Gründung der „Gesellschaft zur Versorgung der verwundeten und kranken Soldaten“, der Vorläuferin der russischen Rotkreuzgesellschaft, fand im Mai 1867 statt. Im selben Jahr trat Russland der ersten Genfer Konvention bei. Doch 1860 dachte noch niemand so weit, auch Maria nicht. Heiligabend wurde für jedes Mitglied der kaiserlichen Familie wieder ein
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e i n fa c h e r u n d v o r n e h m e r
Güte“
eigener Tannenbaum, eine „Jolka“, geschmückt. An Marias Jolka hingen diesmal Papiere. Es war ein Vertrag über den Erwerb eines Landhauses in Livadia auf der Krim, das Alexander den Erben des Grafen Sewerin Potocki, eines polnischen Adligen, abgekauft hatte, ein Geschenk für seine Frau. Nun sollte der italienische Architekt Ippolit A. Monigetti, der sich schon in Zarskoje Selo bewährt hatte, das Haus zur Sommerresidenz ausbauen. Die Arbeiten dauerten bis Mitte der 1860er Jahre. Natürlich kannte Maria die Krimskizzen von Alexej K. Tolstoj, die er nach einem Aufenthalt auf der Krim im Frühjahr 1856 verfasst hatte, und wir können annehmen, dass sie sich auf die erste Reise auf die Krim gefreut hat. Aber sie sorgte sich um Nixa, der im Sommer bei einem Ausritt mit seinem Cousin in Zarskoje Selo schwer gestürzt war und sich eine Rückenverletzung zugezogen hatte, die ihn seit Monaten nahezu bewegungsunfähig machte. Sie sah wohl, dass er große Schmerzen hatte. Aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, so dass es schwer war, den Ernst der Verletzung zu erkennen. Die Ärzte vermuteten Rheuma.
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Kaiserin Maria Alexandrowna, Franz Xaver Winterhalter, 1857
FARBTAFELN
Hotel Traube, Darmstadt Luisenplatz, um 1840
Schloss Heiligenberg, Seeheim-Jugenheim
FARBTAFELN
Ludwig II. Großherzog von Hessen und bei Rhein, um 1830
Wilhelmine Großherzogin von Hessen und bei Rhein, geb. Prinzessin von Baden, um 1815
August-Ludwig von Senarclens de Grancy, um 1865
Alexander Prinz von Hessen und bei Rhein, „Alex“, um 1865
FARBTAFELN
Der Winterpalast in St. Petersburg von der Westseite, Wassilij S. Sadownikow, um 1840
Paradefassade des Katharinenpalastes in Zarskoje Selo, Wassilj S. Sadownikow, um 1850
FARBTAFELN
Nikolaus I., Franz Krüger, 1852
Alexandra Fjodorowna, geb. Charlotte von Preußen, Franz Krüger, 1830
Konstantin Nikolajewitsch, Franz Krüger, 1844
Olga Nikolajewna und Alexandra Nikolajewna, Christina Robertson, 1840
FARBTAFELN
Abschied von Darmstadt, Friedrich Lösser, 1840
Alexander und Maria, Lithographie, Anfang der 1840er Jahre
Trauung in der Großen Kirche des Winterpalastes, 16./28. April 1841, Wassilij S. Sadownikow, 1841
FARBTAFELN
Krönung Marias, 26. Aug./7. Sept. 1856, Mihály A. Zichy, 1857
Salbung Alexanders II. während der Krönung, Wassilij F. Timm, 1856
FARBTAFELN
„Marias Räume“
Ankleidezimmer, Winterpalast, Luigi Premazzi, 1857
Schlafzimmer, Winterpalast, Luigi Premazzi, 1852
FARBTAFELN
„Marias Räume“
Boudoir, Winterpalast, Eduard Hau, 1861
Himbeerfarbenes / Großes Kabinett, Luigi Premazzi, 1869
FARBTAFELN
Julia Hauke, Foto, vor 1895
Anna F. Tjuttschewa, Fotogravur, Hippolite Robillard, 1862
Alexandra A. Tolstaja, Foto, 1860er Jahre
FARBTAFELN
Wassilij A. Schukowskij, Pjotr F. Sokolow, 1820er Jahre
Fjodor I. Tjuttschew, Stepan F. Alexandrowskij, 1876
Fürst Wjasemskij, Grigorij G. Mjasojedow
Alexej K. Tolstoj, Iwan N. Kramskoj, 1873
FARBTAFELN
Alexandra Alexandrowna „Lina“ und ihr großer Bruder, Woldemar Hau, 1847
Nikolaus Alexandrowitsch „Nixa“, Foto
Das Paar mit sechs seiner Kinder: Paul, Sergej, Maria, Alexej, Alexander, Wladimir sowie Minnie mit „Niki“ (Nikolaus II.), Foto, um 1869
FARBTAFELN
Aktzeichnung Katharinas von Alexander II.
Katharina M. Dolgorukowa, unbekannter Fotograf, 1870er–1880er Jahre
Alexander II. und Katharina Dolgorukowa mit ihren Kindern Gogo und Olga
FARBTAFELN
Maria auf dem Totenbett, Zeichnung
Alexander auf dem Totenbett, Foto, 1880
Die Sarkophage Marias und Alexanders in der Peter-und-Paul- Kathedrale, St. Petersburg
FARBTAFELN
Der alte Große Palast in Livadia, 1910 durch den Weißen Palast ersetzt, Jalta, Krim
Marientheater in St. Petersburg
FARBTAFELN
Maria-MagdalenenKirche auf dem Ölberg, Jerusalem
Das Goldene Kreuz zum Gedenken an Großherzogin Wilhelmine auf dem Heiligenberg, Seeheim-Jugenheim
8 „Die Zukunft ist keine rosige“ Reformjahre „Glasnost“ – Bauernbefreiung – Unzufriedenheit – Marias Haltung – Demonstrationen in Polen – Erster Besuch in Livadia – Bismarcks Abschied – Tausendjahrfeier in Nowgorod – Kapitänleutnant Arsenjew – Weitere Reformen – Januaraufstand in Polen – Carl Timoleon von Neff – Kaiserkur in Kissingen (1864) – Ludwig II. – Nixas Verlobung – Nizza 1861–1864
Die 1860er Jahre waren die besten Jahre Russlands im 19. Jahrhundert. Es waren Jahre des Aufbruchs, vergleichbar mit den 1980er Jahren des 20. Jahrhunderts in der Sowjetunion. Beide Male diente glasnost (Offenheit, Transparenz) als Vehikel der allgemeinen Kritik und Unzufriedenheit, beide Male schien eine radikale perestrojka (Umbau, Umgestaltung) möglich, Begriffe, die keineswegs von Michail S. Gorbatschow erfunden wurden, sondern von N.A. Melgunow und W.S. Slepzow, zwei heute vergessenen Publizisten aus der Zeit Alexanders II.1 Beide Male war die Hoffnung auf Reformfähigkeit des politischen Systems groß, beide Male fühlte sich eine ganze Generation beflügelt und wurde dann doch enttäuscht. Beide Male scheiterte der Versuch, ein überkommenes ineffektives System zu reformieren, weil Alleinherrschaft und Demokratie einander ausschließen. Im März 1861 schaffte Alexander II. die Oberste Zensurbehörde ab und übertrug die Aufsicht über die Presse dem Volksbildungs- und dem Innenministerium, worauf in der Publizistik eine mehrmonatige Diskussion über „Glasnost“ und Pressefreiheit sowie ihre Grenzen einsetzte. Sie endete damit, dass die Aufsicht über die Presse erheblich gelockert wurde. In diesen Jahren veröffentlichten Turgenjew Väter und Söhne (1862), Tolstoj den ersten Teil von Krieg und Frieden (1865) und Dos-
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ist keine rosige“
tojewskij Schuld und Sühne (1866). Dabei hatte Turgenjew, der in den Aufzeichnungen eines Jägers 1852 erstmals die Leibeigenschaft und ihre traurigen Folgen thematisiert hatte, den größten Erfolg. Sein Roman Väter und Söhne war – wie Gontscharows Oblomow – ein realistisches Zeitbild, das die ganze russische Gesellschaft in helle Auf regung versetzte. Zusammen mit der öffentlichen Diskussion wuchs die gesellschaftliche Unzufriedenheit, die sich unter Nikolaus I. nicht äußern konnte, die unter seinem Sohn in der Publizistik und in der Literatur jedoch zum Ausdruck gebracht wurde, so dass ein Zeitgenosse meinte, um Kritik am Regierungssystem üben zu können, müsse man Literat sein. Alexander II. trug dem Verlangen nach Veränderungen Rechnung, doch seinen Kritikern reichte das, was er zu geben bereit war, nicht aus. Die Selbstherrschaft konnte er nicht in Frage stellen. Am 26. Januar 1861 fand die letzte Sitzung des Hauptkomitees zur Aufhebung der Leibeigenschaft statt. Angesichts der Größe des Landes, seiner regionalen Unterschiede und ethnischen Vielfalt, angesichts der unterschiedlichen Interessen und Widerstände war die Bauernbefreiung ein unglaublich kompliziertes Unternehmen, und höchst kompliziert waren auch ihre Bestimmungen. „Der Kaiser will, soweit seine Ansicht bekannt, Freiheit und Besitz, und gerade dieser Punkt des ,Besitzes‘ macht alle jetzigen Gutsbesitzer wütend“, schreibt Kurd von Schlözer. „Wird der Bauer mit Freiheit und Besitz zufrieden sein? Nein! Deshalb kaufen schon die Gutsbesitzer Munition, Flinten und Revolver. Kriegsminister und Minister des Inneren sind in Kommunikation getreten wegen der Stadtteile von Petersburg, welche im Fall eines Aufstandes durch Soldaten geschützt werden müssen. Werden die Soldaten ihre Pflicht tun? Das ist sehr fraglich. Einmal, ja. Das zweite Mal??“2 Auch die Kaiserin macht sich Sorgen und klagt ihrem Bruder: „Überhaupt liegt mir vieles schwer auf dem Herzen. Gaeta*, Warschau, wo gestern das erste Blut floss, die Bauernfrage … und so vieles andere.“3 In Warschau war Blut geflossen, weil Kosaken auf unbewaffnete Demonstranten, Teilnehmer an einer nationalen Massenkundgebung, * In der Festung Gaeta kapitulierte Franz II., der letzte König beider Sizilien, am 13. Februar 1860 vor den Truppen Garibaldis.
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geschossen hatten. Maria verstand die Polen nicht. Schließlich hatte der Kaiser den Ausnahmezustand, den Nikolaus I. nach dem Aufstand von 1830/31 verhängt hatte, bei seinem Regierungsantritt aufgehoben, er hatte zahlreiche Häftlinge, Emigranten und nach Sibirien Verbannte amnestiert und allerlei kleine Zugeständnisse gemacht, so dass sich wieder ein politisches Leben im Königreich entwickeln konnte. Es gab auch Anzeichen dafür, dass viele Polen aus dem konservativen Lager, die sog. „Weißen“, nun eine Politik der „organischen Arbeit“, also des Ausgleich und des allmählichen inneren Fortschritts befürworteten, verkörpert durch den Marquis Alexander Wielopolski.4 Dieser war überzeugt, dass Polen sich nicht mit Gewalt von der russischen Herrschaft befreien könne.5 Der Ansatz war vernünftig, doch Wielopolskis Gegner, die sog. „Roten“, wollten keine Kompromisse mit der Besatzungsmacht eingehen. Die Demonstrationen gingen weiter. Von der Bauernbefreiung hatten die Polen weniger zu erwarten als die Russen, weil die polnischen Bauern bereits im Herzogtum Warschau befreit worden waren, einem von Napoleon gegründeten polnischen Rumpfstaat; daraus war auf dem Wiener Kongress 1815 das neue polnische Königreich (Kongresspolen) hervorgegangen. Allerdings hatte Napoleon die Bauernbefreiung Ende 1807 ohne Besitzrecht auf den bearbeiteten Boden durchgeführt, und die Bauern stöhnten unter der Last der „Herrendienste“. Das Manifest über die Abschaffung der Leibeigenschaft und die dazu gehörenden Verordnungen – ein umfangreiches Gesetzespaket – unterzeichnete Alexander am 19. Febr./3. März 1861, dem 6. Jahrestag seiner Thronbesteigung. Veröffentlicht und damit rechtswirksam wurde es jedoch erst zwei Wochen später. Von diesem Tag an gehörte in Russland kein Mensch mehr einem anderen, 22 Millionen Menschen wurden persönlich frei. Vorsorglich waren Truppen aufgestellt worden, doch alles blieb ruhig. „Als am Sonntag, 5./17. März, die Bauernfreiheit proklamiert wurde, ging ich mittags 12 Uhr in die Isaakskirche“, schreibt Kurd von Schlözer. „Das Volk war in einer wirklich lächerlichen Weise apathisch. Was die Zeitungen von Enthusiasmus reden, ist nicht wahr. In den Theatern hat man die Hymne gespielt, das ist alles. Am folgenden Sonntag haben einige tausend
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ist keine rosige“
Muschiks* dem Kaiser am Winterpalast Brot und Salz überreicht; vorigen Sonntag sind Deputationen aus Moskau und anderen Städten gekommen. Kein Despot kann ein Land glücklich machen, das seine Vorfahren unglücklich gemacht haben. Die Spuren jahrhundertalter Unterdrückungen können nicht durch ein kaiserliches Dekret ausgelöscht werden. Das ist die Tragik Alexanders II.“6 So war es. Aber nach Lage der Dinge konnte nur ein Despot die Freiheit bringen, weil nur er die Macht hatte, die überkommene Ordnung gegen alle Widerstände zu ändern. Auch Nikolaus I. hätte die Macht gehabt, aber er fürchtete die Folgen und beließ es bei kleinen Verbesserungen für die Bauern. Alexander II. hatte die Macht, aber Angst vor der eigenen Courage. Schließlich war der Adel die wichtigste Stütze des Thrones und stellte die führenden Männer des Staatsdienstes. Am Ende machte er dem grundbesitzenden Adel allzu viele Konzessionen, so dass die Landfrage nicht zufriedenstellend gelöst wurde. „Es gab Äußerungen der Freude, aber keine Akklamationen“, notiert Eveline von Massenbach. „Das Volk beginnt zu verstehen, dass die Freiheit nominell zu geben noch nicht alles ist: die Entwicklung ihrer Bedingungen muss den Preis dafür bestimmen.“7 Die Bauern mussten das Land, das sie beackerten, mit Hilfe von Krediten, die der Staat ihnen gewährte, von den Gutsbesitzern kaufen und die Kredite im Laufe von 49 Jahren abzahlen. Sie waren jetzt zwar frei, aber ihre wirtschaftliche Situation war schlechter als vor der Befreiung und verschlechterte sich weiter, zumal sie in einer Übergangszeit noch auf den Feldern der Gutsherren arbeiten mussten. Die Kaiserin, die sich so vehement für die Bauernbefreiung eingesetzt hatte, war auch skeptisch, viel skeptischer als der Kaiser. „Ach, ich freue mich gar nicht, ich glaube überhaupt nicht, dass alles zufriedenstellend gemacht wurde, es wird nur Enttäuschungen geben“, zitiert die Tjuttschewa sie. Anna Fjodorowna verstand die Herrscherin nicht und bemerkt, dass die Unvollkommenheit und die vielen Mängel der Bauernbefreiung nichts seien im Vergleich zur sittlichen Größe des vollzogenen Aktes und dass man nicht auf totale Vollkom* Bauern
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menheit rechnen dürfe. „Es fiel mir schwer zu sehen, dass die Herrscherin die Freude ganz Russlands an einem der schönsten Tage unserer Geschichte nicht teilte. Möge Gott denen verzeihen, die den Samen des Zweifels in ihre Seele gesät haben.“8 Aber die Herrscherin zweifelte zu Recht, und sie war bei weitem nicht die einzige, die zweifelte. Keiner war zufrieden, weder der Adel, der die Loslösesummen nicht in die Modernisierung seiner Güter investierte, noch die befreiten Bauern, die zu wenig Land bekommen hatten und zu viel dafür zahlen mussten. „Der Kaiser ist in Moskau vom Adel sehr lau empfangen“, notiert Schlözer, „fast niemand vom Adel war dort; die wenigen, die zurückgeblieben, haben ihre Kollegen mit der Bauernfrage entschuldigen wollen, die alle Besitzer nötige, aufs Land zu gehen. ‚Ich wollte, dass sie von jeher dort geblieben wären!‘, hat der Kaiser wütend geantwortet. Aus dem Inneren bedenkliche Nachrichten. Keine Revolutionen und Emeuten; aber allgemeine Arbeitsunlust der Bauern.“9 Weitere Reformen sollten folgen: der Justiz, der Verwaltung, der Finanzen und des Militärs. Insbesondere die Schaffung örtlicher Selbstverwaltungsorgane in Gestalt der Semstwos, die gewählt wurden, war ein vielversprechender, „basisdemokratischer“ Ansatz, weil in diesen Organen alle sozialen Schichten vertreten waren, der Adel ebenso wie der Bauernstand. Im Juli kehrte Graf Tolstoj nach St. Petersburg zurück. Er war endlich aus dem Dienst entlassen worden, hatte aber das Recht behalten, bei Hofe zu erscheinen. Der Hof war schon in Peterhof, wo die kaiserliche Familie die sog. Farm bewohnte, das Landhaus, in dem Alexander vor seiner Ehe den Sommer verbracht hatte. „Die Kaiserin hat – Gott segne diese großherzige Frau! – kaum dass sie hörte, dass ich hier bin, nicht gewartet, bis ich ihr vorgestellt werde, sondern befohlen, mich gestern Abend auf die neue Farm einzuladen“, schreibt Tolstoj seiner Frau. „Und wenn mein Entschluss [den Abschied zu nehmen, M.B.] von jemandem zerstört werden könnte, dann würde die Begegnung mit ihr dazu führen.“10 Doch sie ließ ihn gehen und blieb mit ihm in Kontakt. Im August reiste die kaiserliche Familie zum ersten Mal nach Livadia. Die teure Reise auf die Krim war umstritten, wie Kurd von Schlözer erfuhr. „Die Kaiserin reist am 14. Juli/2. August“, schreibt er. „Die
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Reise ist auf 900 000 Rubel veranschlagt. Relais müssen viele hundert Werst weit zusammengebracht werden. Gortschakoff bleibt hier. Der Kaiser hat ihm gesagt, dass, wenn etwas Besonderes vorfiele, er (Gortschakoff) sich zu ihm verfügen könne, worauf Gortschakoff erwidert haben soll: er hoffe, dass in einem solchen Fall der Kaiser sich nach dem centre des affaires zurückbegeben würde. Die Kaiserin hat Gortschakoff gesagt: ,Jusqu’à présent vous avez été d’une logique impitoyable; à cette occasion vous avez manqué.‘* Alle Welt ist wütend über diese Krimreise. Im Innern tobt die Bauernfrage weiter.“11 Im Laufe des August wurden die Nachrichten aus dem Innern „immer schlechter“, weil die Bauern „nur ihre eigenen Felder, nicht die der Herren“ bestellten; der „Ruf nach Konstitution“ wurde „immer lauter“, und dann wurde der Gouverneur von Pensa, auch ein Tolstoj, entlassen, „weil er laut gezweifelt, dass Romanoffs noch lange herrschen“.12 So etwas hatte es noch nie gegeben, und der Kaiser war nicht in seiner Hauptstadt! Es gäre überall, „in den Städten wie auf dem platten Lande“, schreibt Schlözer im Oktober. „Dabei reisen Seine Majestät nach Krim und Kaukasus! Aber der Telegraph holt ihn hierher zurück, denn die Studentengeschichte hat die Leute doch ängstlich gemacht. Vorigen Montag fing das an.“13 Die Studenten hatten gegen das neue scharfe Reglement des Unterrichtsministers demonstriert, der ein Admiral war und einen kriegserfahrenen Hetman der Kosaken zum Kurator der Universität ernannt hatte. Auf die Demonstrationen reagierten die Behörden, wie Behörden in solchen Fällen reagieren: Die Demonstrationen wurden verboten, und am Newskij Prospekt zogen Truppen auf. Die Universität wurde geschlossen. An die 300 Studenten fanden sich in den Kasematten der Peter-und-Paul-Festung wieder, worauf an der Wand am Eingang die Aufschrift „Universität St. Petersburg“ erschien.14 In diesen Wochen tauchten plötzlich Flugblätter in der Stadt auf, und Kurd von Schlözer hält fest: „Jeden Tag treten Symptome der inneren Fäulnis auf. Beim Erscheinen der ersten geheimnisvollen revolutionären Proklamation lächelte der gut geschulte Petersburger. Bei der zweiten wurde er stutzig, bei Nummer drei bedenklich. Man * „Bis jetzt waren Sie von einer unerbittlichen Logik; diesmal haben Sie geirrt.“
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kann weder Autor, noch Drucker, noch Kolporteur entdecken. […] Nummer drei fordert Konstitution, Freigabe Polens, Trennung von Südrussland – alles Ansichten, die für mich gar nicht neu sind.“15 Etwa derselbe Personenkreis, der die Flugblätter herstellte und verteilte, gründete 1861 die erste revolutionäre Geheimorganisation Russlands. Sie nannte sich Land und Freiheit (Semlja i wolja) und verdankte ihren Namen einem Artikel des Kolokol. „Was braucht das Volk?“, hatte Herzen aus London gefragt und geantwortet: „Sehr einfach: Land und Freiheit!“ Der Name war also Programm. Die Bauern sollten das ganze Land erhalten, das sie bearbeiteten, die Armeestärke sollte halbiert, das Volk von den Beamten befreit werden. Hinzu kam die Forderung nach einer Volksvertretung und einer gewählten föderalen Regierung, also die Forderung nach dem Sturz der Selbstherrschaft. Die Organisation hatte 3000 Mitglieder und Gruppen in mehreren Großstädten des Reiches. Unter dem Druck der Polizeimaßnahmen sollte sie sich 1864 wieder auflösen. Am letzten Oktobertag kehrte Alexander aus Livadia zurück. Einer Tagebucheintragung seines Bruders Konstantin können wir entnehmen, dass die Affäre mit Alexandra S. Dolgorukowa immer noch andauerte. „Ich fuhr mit dem Frauchen zum Essen nach Zarskoje Selo“, notiert Konstantin. „Bei den Orlow-Toren trafen wir Sascha zu Pferde und hinter ihm Alexandra Sergejewna Dolgorukowa, auch zu Pferde und ganz allein. Eine Schlussfolgerung daraus zu ziehen, ist nicht schwer. Das tut weh …“16 Konstantin Nikolajewitsch fand es schmerzlich, wie die Dolgorukowa seinen Bruder „vereinnahmt“ hatte. Alexandra Josephowna, sein „Frauchen“, war empört. Maria ertrug diese Beziehung mit stoischer Ruhe, und wie alle anderen bekam auch die Dolgorukowa schließlich den Abschiedsbrief und wurde mit einem älteren General vermählt. Möglichweise hat sie das Verhältnis aus Respekt vor die Kaiserin aber auch von sich aus beendet. Im April 1862 verließ Bismarck, der sich zuletzt sehr kritisch über die innere Entwicklung Russlands geäußert hatte, St. Petersburg. Sein Nachfolger war Graf Robert von der Goltz, ein Mann aus märkischem Adel, Sohn eines Diplomaten, in Paris geboren und weitgereist. „Unser neuer preußischer Gesandter ist außerordentlich häss-
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lich, scheint ein Mann von Geist und weniger ‚Nationalverein‘ zu sein als Bismarck (dessen Scheiden ich dennoch bedauere) und hat überdies die seltene Eigenschaft, das Französische tadellos zu sprechen“, schreibt Maria ihrem Bruder Alex, der Preußen hasste und Bismarck ihren Protégé nannte. „Bismarck kannte es annehmbar, aber sprach das Deutsche in einer Vollkommenheit, wie ich es niemals und schon gar nicht bei einem Preußen in so bündiger Art und Weise gehört habe.“17 Goltz wurde schon zum Jahresende nach Paris versetzt. Der Abschied des Gesandten Bismarck wurde jedoch kaum wahrgenommen. Im Frühjahr 1862 gab es in der Petersburger Gesellschaft nur ein Thema: Väter und Söhne, Turgenjews neuer Roman, der in der Februarnummer der zu dieser Zeit noch liberalen Monatszeitschrift Russkij Westnik (Russischer Bote) erschienen war. Der Roman, dessen Handlung im Sommer 1859 spielt, ist die Geschichte eines akuten Generationenkonfliktes, der auch ein politischer Konflikt war. Alle lasen den Roman, selbst Menschen, die seit ihrer Schulzeit kein Buch mehr in die Hand genommen hatten, und viele fanden sich und ihre Familie darin wieder.18 Die ältere Generation, verkörpert durch zwei liberale Gutsbesitzer, steht gegen die Söhne, die alle Werte der Eltern negieren, Religion und Kunst eingeschlossen. Einer der Helden ist Jewgenij Basarow, ein angehender Arzt, der Chemie für wichtiger als die Kunst hält und sich selbst als „Nihilisten“ bezeichnet. Damit hatte Turgenjew den Begriff in die öffentliche Diskussion eingeführt. Basarow wurde zum Vorbild einer ganzen Generation. Als es dann im Sommer überall in Petersburg brannte, war bei Hofe klar, dass die „Nihilisten“ die Brandstifter waren, die „von London“, also von Herzen und seinem Kolokol gesteuert wurden, und natürlich die Polen, die immer schuld waren, obwohl St. Petersburg seit seiner Gründung regelmäßig von Bränden heimgesucht wurde. „Ich will Dir ein Lebenszeichen geben nach diesen traurigen Tagen, da Petersburg an allen Ecken und Ende brannte“, schreibt Maria jedenfalls ihrem Bruder. „Es schien, dass dies der Beginn der Ausführung eines revolutionären Programmes war, das von London kam und gleichzeitig hier und in Moskau ausbrechen sollte, das man aber dort unten durchzuführen verweigert hat. Man hat eine
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Menge Leute verhaftet, wenn es genügende Beweise gibt, wird man die Rädelsführer hängen, obwohl wir weder Henker, noch Galgen, noch selbst die Todesstrafe haben. Aber man hilft sich, indem man die Kriegszeit als Beispiel nimmt, ein Gesetzeszustand, der unter anderem über den Kaukasus verhängt ist. Die öffentliche Meinung spricht sich stark über ein solches abschreckendes Beispiel aus, da jedermann sich in seiner Existenz und in seinem Eigentum bedroht fühlt. Am empfindlichsten für das Herz Saschas war die Verhaftung von fünf Offizieren. Der eine wegen Aufreizung zum Aufruhr, drei, weil sie die Proklamationen vernichteten, die ein Mann trug, den die Unteroffiziere vorführten … Gott sei Dank sind dies nur Ausnahmen. Die Truppen sind sonst tadellos, gleich wie das Volk aus dem sie hervorgehen. Im allgemeinen hat der Exzess im Schlechten bei den Vernünftigen eine Reaktion in der Richtung des Guten hervorgerufen und hat allen Enthusiasmus des Volkes für seinen Kaiser wiedererweckt; das ist die tröstliche Seite der Lage, die übrigens sehr kritisch und ernst ist, aber Gott sei Dank keineswegs verzweifelt. Sascha trägt diese schwere Last, ohne den Mut zu verlieren, aber nicht ganz ohne dass sein Herz grausam leidet. Gott unterstütze ihn.“19 Die Lage war in der Tat „sehr kritisch und ernst“, doch von Enthusiasmus für den Kaiser konnte keine Rede mehr sein. „Von 1862 an zeigte es sich, dass unter Alexander II. die übelsten Praktiken des Nikolaitischen Regiments wiederaufleben konnten“, schreibt Peter Kropotkin. „Man wusste zwar, dass der Kaiser noch eine Reihe wichtiger Reformen im Gerichtswesen und im Heer durchführen wollte, dass die fürchterlichen körperlichen Züchtigungen abgeschafft und eine Art örtlicher Selbstverwaltung, vielleicht sogar in irgendeiner Form eine Verfassung gewährt werden sollte. Aber die geringste Unruhe wurde auf seinen Befehl mit rücksichtsloser Strenge unterdrückt, jede Volksbewegung erschien ihm als persönliche Beleidigung, so dass man jeden Augenblick auf die reaktionärsten Maßnahmen gefasst sein musste.“20 Zu allem Überfluss spitzte sich die Lage in Polen wieder zu. Die „Roten“ lehnten Wielopolskis Politik des Ausgleichs ab und planten einen neuen Aufstand. Dabei dürfte die Einigung Italiens ihre Wirkung auf die Gemüter nicht verfehlt haben. Warum sollte den Polen
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nicht gelingen, was den Italienern gelungen war? Ende 1861 war es bei patriotischen Kundgebungen zu weiteren blutigen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und russischem Militär gekommen, das sogar in die Kirchen eindrang. Die Folge war die Verhängung des Belagerungszustandes. Wielopolski, längst die beherrschende Figur in Warschau, reiste nach Petersburg und erreichte weitere Zugeständnisse, u. a. die Repolonisierung der Verwaltung und des Bildungswesens und die Wiedereröffnung der Warschauer Universität. Doch die Unruhen dauerten an. „Ich glaube, dass man im jetzigen Moment nichts anderes machen kann“, schreibt Maria ihrem Bruder in völliger Verkennung der Lage. „Die Polen wünschen einen Großfürsten, einen Hof, Repräsentation, selbst Hofintrigen, um andere solche mattzusetzen.“21 Ein Irrtum, wie sich alsbald zeigen sollte. Doch erst einmal bekamen die Polen einen Großfürsten als Statthalter, nämlich Konstantin Nikolajewitsch, den reformorientierten Bruder des Kaisers, der am 20. Juni/2. Juli 1862 mit seiner hochschwangeren Frau Alexandra nach Warschau abreiste, wie die Kaiserin Peter von Meyendorff, dem russischen Gesandten in Berlin, mitteilt: „Gestern früh um 10 reisten sie fort und heute um 4 sollten sie in Warschau sein; wir erhielten schon 4mal Nachrichten und Gott sei Dank gute.* […] Petersburg hat sich recht calmirt, ohne dass wir jemand gehängt haben, aber arretiert sehr viel, das beste, qu’on a mis la main sur les presses et les proclamations qui devaient apparaître et qui sont, dit-on, bien écrites comme style.** An Regen, Nebel, Kälte haben wir keinen Mangel, an so etwas sind wir gewöhnt; wenn es nur dazu dienen könnte, die aufgeregten Geister zu dämpfen, da hätten wir doch etwas davon. Der Kaiser grüßt Sie herzlich, Gott sei Dank Gesundheit und Kräfte fehlen nicht, nur mager ist er, d’aigreur et de découragement pas trace, de la préoccupation et tristesse quelquefois.*** Kann nicht anders sein. Ich wün* Schon bei seiner Ankunft wurde ein Attentat auf Konstantin verübt. ** … dass man die Druckerpressen und die Proklamationen sichergestellt hat, die erscheinen sollten und die, wie man sagt, stilistisch gut geschrieben sind. *** … von Bitterkeit und Mutlosigkeit keine Spur, von Besorgnis und Traurigkeit manchmal.
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sche Ihnen gutes Wetter und Erfolg der Kur, aber gefallen soll es Ihnen im Ausland nicht, damit Sie bald zurückkommen. Wir ziehen den 25. nach Peterhof. Auf Wiedersehen.“22 Abschließend teilt sie Meyendorff, den sie als Freund sah, noch mit, dass sie „vorige Woche“ mit dem Kaiser in der Ermitage war und „sehr zufrieden mit der neuen Ordnung“.23 Die „neue Ordnung“ hatte Professor Gustav Friedrich Waagen, der Berliner Kunsthistoriker, im Auftrag des Kaisers eingeführt. Sie betraf die Hängung der Gemälde nach Schulen (und nicht mehr nach dekorativen Gesichtspunkten), die Neuregelung der Raumtemperatur, die Lockerung der Eintrittsregeln, die Überstellung der Arbeiten russischer Maler in die Kunstakademie u. a.24 Über Marias Kunstinteresse ist wenig überliefert. Wir wissen nur, dass sie die Alten Meister liebte und unter den zeitgenössischen Künstlern den deutschbaltischen Kirchenmaler Carl Timoleon von Neff bevorzugte und dass sie sich, wie schon Kaiserin Alexandra, ihre Schwiegermutter, Gemälde aus der Kaiserlichen Ermitage „auslieh“ und in ihren Privatgemächern aufhängen ließ, manchmal bis zu 50 an der Zahl. Zu diesem Zweck ließ sie sich von Neff, der 1864 zum Leiter der Gemäldegalerie ernannt wurde und zwölf Jahre auf diesem Posten bleiben sollte, jeweils zum Jahresende durch die Ermitage führen, und wählte mit ihm zusammen die Gemälde aus, die eine Zeitlang in ihren Gemächern hängen sollten. Eine der wenigen Beschreibungen dieser Gemächer stammt von einem französischen Diplomaten, der einmal bei der kaiserlichen Familie im Himbeerfarbenen Kabinett speisen durfte. „Man kann nichts Schöneres, Charmanteres und besser Eingerichtetes sehen als diese Mischung aus Luxus und Eleganz“, schreibt Vicomte Elie de Gontau-Biron begeistert. „Außer mit den schönen Möbeln der Königin Marie-Antoinette ist das Kabinett der Kaiserin mit den schönsten Gemälden der Eremitage geschmückt, die sie fast jeden Winter austauscht. Ich habe dort insbesondere einen großen, wunderbaren Murillo bemerkt, eine Darstellung des heiligen Franziskus oder des heiligen Anton von Padua, kniend und fast in Ekstase vor dem Jesuskind, das ihm erscheint; dann einen schönen Ruisdael und, auf einer Staffelei, ein köstliches kleines Bild von Raffael aus seiner frühen
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Zeit, das die Madonna mit dem Jesuskind auf den Knien darstellt. Es stammt aus Siena […]. Der vergoldete Holzrahmen ist fast so alt wie das Gemälde, er ist reizend. Ich finde, es zeugt vom gehobenen Geschmack der Kaiserin, dass sie sich in ihren Räumen, die sie im Winter nie verlässt, mit Meisterwerken der Kunst, der Malerei, der Bildhauerei und verschiedenen anderen Objekten umgibt, um sie von Zeit zu Zeit auszutauschen. Als ich in ihren Salon trat, wurde ich auf eine Sammlung wunderbarer alter Tabakdosen aufmerksam gemacht, die ebenso bemerkenswert durch ihr Material waren wie durch ihre Form und die Miniaturen oder die Edelsteine, mit denen sie bedeckt sind.“25 Die Madonna mit dem Jesuskind auf den Knien, die Raffael um 1500 als Sechzehn-, Siebzehnjähriger malte, hatte Alexander 1870 in Perugia für 310 000 Francs für seine Frau erworben, worauf sie nach dem ehemaligen Besitzer Madonna Conestabile benannt wurde. Bei Murillos Heiligem handelt es sich um die Vision des Hl. Antonius von Padua, und bei dem „schönen Ruisdael“ um den Sumpf, der schon auf dem Aquarell Premazzis aus dem Jahre 1869 zu erkennen ist. Die Madonna Conestabile* hatte Raffaels Madonna Alba und Leonardos Madonna Litta „abgelöst“, die Premazzi 1869 noch abbildet. Wir können annehmen, dass Maria gern Madonnenbilder um sich hatte. Den Sommer 1862 verbrachte die kaiserliche Familie wieder in den Ostseeprovinzen. Man fuhr durch die Livländische Schweiz, besuchte Riga und Umgebung, Mitau, die Hauptstadt Kurlands, und Libau, wo die Söhne in der Ostsee baden durften. „Die Liev- und Curländische Reise bleibt eine gute Erinnerung fürs Leben“, lässt die Kaiserin Peter von Meyendorff wissen, „und übte Gott Lob einen wohltuenden Einfluss auf den Kaiser au moral et au physique, was recht Noth that, nach so schweren Zeiten, die übrigens auch jetzt nicht besser sind, namentlich in Warschau […].“ Nun sitze sie „ganz allein in Peterhof“ und warte auf ihre Lieben. „Der Kaiser in Moskau, kommt den 25ten zurück, meine Söhne aus Libau erwarte ich über* Die Madonna kam 1880 in die Ermitage, wo sie von Holz auf Leinwand übertragen wurde. Dabei wurde festgestellt, dass das Jesuskind ursprünglich nicht das kleine Buch, sondern einen Granatapfel in der Hand hielt, der das Blut des Erlösers symbolisiert.
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morgen. Marija Nikolajewna aus London in 14 Tagen, saturée d’exposition universelle industrielle et artistique,* die Michels [Großfürstin Jelena Pawlowna und ihre Töchter, M.B.] Anfang Sept., imbibés d’eau de mer**; doch muss ich hinzusetzen, damit Sie mich nicht zu sehr bedauern, dass ich zum Trost fünf Kinder, viel Ruhe, ein nicht zu schlechtes Wetter […] habe. Vorher habe ich aber stark an Italienern, Japanesen et d’autres nationaux*** gelitten. […] Übermorgen ziehe ich nach Zarskoje dans mes quartiers d’automne**** und erwarte Sie dort. […] Gott geleite Sie. Marie.“26 Doch viel Zeit für herbstliche Muße hatte sie nicht, denn Russlands Tausendjahrfeier in Welikij Nowgorod (Groß-Nowgorod) erforderte ihre Anwesenheit. Und so ging es aus den „Herbstquartieren“ nach Groß-Nowgorod, das sie noch nicht kannte. Aber die Geschichte der Stadt und der sog. Republik Nowgorod kannte sie gut. Hier, am Ilmensee, hatte Rjurik, einer der aus Skandinavien gerufenen Warägerfürsten, eine Siedlung gegründet, die 862 zum ersten Mal in den altrussischen Chroniken erwähnt wurde, und hier hatte er seine Herrschaft begründet. Aus der Siedlung ging die Nowgoroder Rus hervor, ein altrussisches Fürstentum, das sich vom großen Kiewer Reich, über das ebenfalls Waräger herrschten, trennte und seit dem frühen 12. Jahrhundert nach eigenen Gesetzen lebte. Die Nowgoroder wählten ihre Fürsten selbst und setzten sie ab, wenn sie nicht mit ihnen zufrieden waren. Wichtigstes politisches Organ der Stadt war die Volksversammlung, das „Wetsche“, das die Fürsten wählte und auch selbst Gesetze verabschiedete. Die „Nowgoroder Republik“ reichte von der Ostsee bis zum Ural, lebte vom Handel mit den Ostseestaaten und hatte ein Hansekontor (Peterhof). Sie war kulturell hoch entwickelt, die meisten Bürger konnten lesen und schreiben. Doch ihre Existenz war den Moskauer Großfürsten, die mit der „Sammlung der russischen Erde“ begonnen hatten, ein Dorn im Auge. 1478 bereitete Großfürst Iwan III.
* satt von der Weltausstellung ** durchtränkt von Meerwasser *** und Angehörigen anderer Nationalitäten **** in meine Herbstquartiere
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von Moskau, der erste, der sich „Zar“ nannte und den Beinamen „der Große“ erhielt, der Nowgoroder Unabhängigkeit ein blutiges Ende und verleibte die „Republik“ dem zentralisierten Moskauer Staat ein. Mit der Selbstverwaltung war es vorbei, das Hansekontor wurde geschlossen, und Nowgorod sank zur Provinzstadt herab. Übrig blieb die Erinnerung an eine große Zeit, in der Russland demokratische Freiheiten gekannt hatte. Das Denkmal Tausend Jahre Russland, das vor der Sophienkathedrale im Nowgoroder Kreml enthüllt werden sollte, markiert den Beginn der Herrschaft Rjuriks in Nowgorod und damit den Beginn der russischen Staatlichkeit. Die Kaiserliche Familie traf am 19. September in Nowgorod ein.27 Tags darauf empfing der Kaiser den Nowgoroder Adel, und die Nachfahren jener Bojaren, die in ihrem Fürsten nur den höchsten „Beamten“ ihres Staates gesehen hatten, bekundeten nun ihm, dem Autokraten, ihre Ergebenheit. Nach einem Gottesdienst in der Sophienkathedrale zog eine kirchliche Prozession auf den Kathedralenplatz und umrundete das Denkmal. Auf einem Gemälde von Gottfried Willewalde kann man gut erkennen, wie die Kaiserin hinter der Geistlichkeit um das Denkmal schreitet. Der Kaiser ist zu Pferde. Als die Verhüllung bei Glockenklang und Kanonendonner fiel, umarmte Alexander den Thronfolger, der neben ihm stand und an diesem Tag 19 Jahre alt wurde, küsste und segnete ihn. Das Denkmal erinnert in der Form an die Wetsche-Glocke. Es lässt aber auch an die Kappe des Monomach denken, verbindet also demokratische Selbstverwaltung mit autokratischer Macht, eben das, was Alexander II. mit seinen Reformen anstrebte. Auf drei Ebenen werden Figuren und Figurengruppen dargestellt, die in der russischen Geschichte eine Rolle gespielt haben. Die oberste Ebene ist ein riesiger Reichsapfel, dem die Glocke als Postament dient. Darauf segnet ein Engel eine kniende Frau, die Rossija, Russland, verkörpert. Wir können annehmen, dass Maria viele der 128 Figuren auf dem Denkmal identifizieren konnte, denn sie hatte die Geschichte Russlands gut studiert. Jedenfalls fielen die hervorragenden Geschichtskenntnisse der Herrscherin wieder auf. Als die Prozession in die Kathedrale zurückkehrte, begann auf dem Kathedralenplatz eine Parade, an der Kompanien und Schwadronen
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aller Garderegimenter teilnahmen. Abends gab der Adel dem Herrscher einen Ball, die Stadt war illuminiert, und ein Feuerwerk durfte auch nicht fehlen. Am 22. September kehrte die kaiserliche Familie zufrieden nach Zarkskoje zurück. Da kam auch schon die Nachricht von der Ernennung Bismarcks zum preußischen Ministerpräsidenten und Außenminister am 23. September 1862. „Ich muss gestehen, dass mein Freund Bismarck als Diplomat in Petersburg geeigneter war denn als Premierminister in Berlin“, schreibt Maria ihrem Bruder. „Bismarck unterhielt mich und (der an Stelle Goltzens neu ernannte preußische Gesandte in Petersburg) … langweilt mich schrecklich. Er ist schwerfällig und sehr gewöhnlich.“28 Goltzens Nachfolger war Heinrich Alexander von Redern, der auch schon in Darmstadt auf Posten war, also ein alter Bekannter gewesen sein muss. Ende 1862 wird der Kaiserin auf Empfehlung Anna Tjuttschewas Kapitänleutnant Dmitrij S. Arsenjew vorgestellt, der Adjutant des Großfürsten Konstantin war und gerade eine zweijährige Weltreise hinter sich hatte. Der 30-jährige Seemann kam als Erzieher für Sergej in Frage, der an seinem 7. Geburtstag in Männerhände kommen sollte. Er wurde engagiert, für Sergej und dann auch für Paul. Im Januar 1863 brach der Aufstand in Polen los. Anders als 1830/31 hatten die Polen diesmal keine gut ausgebildete Armee. Sie hatten weder eine klare militärische Führung noch genügend Waffen. Die kleinen polnischen Einheiten und Partisanenverbände waren der russischen Übermacht hoffnungslos unterlegen. Die Russen, die anfangs aus Rücksicht auf die öffentliche Meinung Europas zurückhaltend agiert hatten, gingen im Sommer mit zunehmender Härte gegen die Aufständischen vor. Davon unberührt ging das Hofleben in Zarskoje Selo wie gewohnt weiter. Bei den oft beschriebenen Abendgesellschaften im Chinesischen Zimmer des Großen Palastes kochte die Kaiserin selbst den Tee für ihren Mann, der gern Whist spielte. Die Gäste spielten Gesellschaftsspiele oder hörten einem Dichter zu. Im Sommer 1863 war es häufig Fürst Wjasemskij, der an einem der runden Tische las, an dem dann auch die Kaiserin saß.
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Doch die friedliche Stimmung täuschte, der Krieg in Polen zog sich hin und brachte Europa immer stärker gegen Russland auf. Mitte Juni 1863 überreichten England, Frankreich und Österreich erneut eine Protestnote und forderten: Amnestie, Nationalvertretung, autonome Verwaltung in Polen u. a. In St. Petersburg fand man die Intervention der drei Mächte impertinent. Die Kaiserin war empört, für die Polen hatte sie nichts übrig. „Der Kaiser hat sich sehr überwinden müssen, um Mäßigung zu üben und höflich auf die unverschämten Noten, insbesondere auf die englische, zu antworten“, schreibt sie ihrem Bruder. „Aber ich fürchte, dass diese Mäßigung vom verletzten Nationalstolz nicht gewürdigt werden wird, der den Krieg selbst zum Preise der größten Opfer fordert. Ein gutes Zeichen hoffentlich für den Frieden sind die Unterhandlungen mit englischen Bankiers für eine Eisenbahn von Moskau nach Sewastopol, für die sie schon große Kapitalien … mitgebracht haben. Gott gebe, dass sich das verwirkliche. […] Wenn es keinen Krieg gibt, muss man einmal endgültig mit Polen fertig werden. Im Monat August vielleicht. Die Verfügungen hierzu sind schon sämtlich getroffen.“29 Was Maria mit „fertig werden“ meinte, bleibt unklar. Vermutlich war sie für ein hartes Vorgehen, wusste sie doch von ihrem Bruder Alex, der in Europa sondiert hatte, dass ein „Krieg wegen Polen“ nicht zu erwarten war, nicht einmal eine Blockade.30 Bei aller Sympathie für die tapferen Polen fehlte der Wille zum militärischen Eingreifen, es blieb bei Protestaktionen. Doch ohne ausländische Hilfe waren die Aufständischen verloren. Im Frühjahr 1864 brach der Aufstand zusammen. Natürlich wurde in St. Petersburg bekannt, dass einer der fähigsten militärischen Führer der Aufständischen ein gewisser Józef Hauke-Bosak war, ein Neffe des kongresspolnischen Kriegsministers Moritz Hauke, somit ein Cousin der Fürstin von Battenberg, geb. Hauke. Der hochdekorierte, ehemals russische Oberst war erst kurz vor dem Aufstand für Polen gewonnen worden, nach der Niederlage floh er nach Frankreich. Was nun folgte, war eine Strafaktion, wie Polen sie wohl nicht erwartet hatte. Hunderte wurden gehenkt, Tausende in die Verbannung nach Sibirien geschickt, unzählige Güter konfisziert. Das einstmals autonome Kongresskönigreich wurde zum „Weichselgebiet“ herabgestuft und wie ein russisches Gouvernement verwaltet, die
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Russifizierung des gesamten öffentlichen Lebens war beispiellos, erreichte ihr Ziel freilich nie. Doch scheinbar war man mit Polen „fertig“ geworden. In der kaiserlichen Familie war inzwischen ein ganz anderes Problem aufgetaucht. Im Frühjahr 1864 hatte sich Alexander Alexandrowitsch („Saschka“), mittlerweile 19 Jahre alt, sehr ernsthaft in die hübsche kleine Fürstin Maria E. Meschtscherskaja, eine Hofdame seiner Mutter, verliebt. Die alte Geschichte. Alexander II. nahm sich seinen Sohn vor und tadelte ihn wegen seiner „Unvernunft“, musste sich aber wohl oder übel an Olga Kalinowska erinnern, deretwegen er seinerzeit auf den Thron verzichten wollte. Sein Sohn verhielt sich nicht anders. Die Affäre dauerte an, wobei Alexandra W. Schukow skaja, die Tochter des Dichters, ebenfalls Hofdame der Kaiserin, den beiden als postillon d’amour diente. Dann musste auch schon wieder entschieden werden, wo man den Sommer verbringen sollte. Nixa würde nicht mitkommen, da er zum Abschluss seiner Studien wie schon sein Vater eine große EuropaReise antreten sollte, die ihn bis nach Rom führen würde und die auch der Brautschau dienen sollte. Seine Mutter schwankte zwischen Schwalbach und Kissingen: „In letzterem Orte geniert mich die Kaiserin von Österreich schrecklich“, schreibt sie Alex. „Gekrönte Häupter sollten nie an derselben Quelle trinken; ich rechne auf Elisabeths Menschenscheu und dass sie ebenso wenig Lust haben werde, mich zu sehen, wie ich sie; vom Kaiser [Franz Joseph, M.B.] spreche ich schon gar nicht, der wird hoffentlich recht kurz bleiben …“31 Schließlich fiel die Entscheidung zugunsten Kissingens. Man reiste, wie immer, über Berlin, und am 9. Juni 1864 notiert Kronprinz Friedrich Wilhelm in seinem Tagebuch: „Abends ½ 11 Ankunft der russischen M.M. Wir alle in russischer Generalsuniform. Kaiser steif und wenig mitteilend.“ Tags darauf notiert er: „10. Juni. Große Parade in Berlin beim Kreuzberg, wohin ich Kaiser Alexander geleitete. König vorher bereits hin, selbst kommandierend. Familiendiner in der Orangerie, wo Tante Elise [Elisabeth, Witwe Friedrich Wilhelms IV., M.B.] zum 1. Mal erschien seit ihrer Witwenschaft. Sie war pikiert, dass Vicky [Kronprinzessin Viktoria, M.B.] die honneurs macht; Tante Alex unfreundlich. Kaiserliche Kinder bei den unsrigen, dann tollte alles
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bei der Orangerie. Familien-Décousu* und Tee in Glienicke.“32 „Vicky“ fand den Kaiser „steif“ und „viel weniger nett“ als seine Frau, diese aber überraschend „freundlich und liebenswert“. Sie wirke „anfällig“, sehe „nicht gut, aber nett aus“.33 Am 11. Juni kamen die Majestäten mit Alexander, Wladimir und Alexej und einer 83-köpfigen Suite in Darmstadt an. Alexander von Hessen fand seine Schwester müde und angegriffen, ihren Gemahl völlig unverändert.34 In Kissingen, wo sie einen Monat verbringen wollten, fanden sich tatsächlich auch Franz Joseph und Elisabeth („Sisi“) von Österreich ein. Deshalb ist dieser Aufenthalt als erste „Kaiserkur“ in die Annalen der Stadt eingegangen. Am 19. Juni begegnete man sich bei der Brunnenpromenade und begrüßte einander widerwillig. Die Kaiserinnen gaben sich kühl. Erfreulicher war das Wiedersehen mit Olga und Karl von Württemberg. Da ihre Ehe kinderlos geblieben war, hatten die beiden im vergangenen Jahr die schwierige Wera, eine Tochter Konstantins, also ihre Nichte, adoptiert. Olga und Karl blieben nicht lange. Nach dem plötzlichen Tod König Wilhelms am 25. Juni mussten sie schnell zurück nach Stuttgart, wo sie am 12. Juli 1864 inthronisiert wurden.35 Als „Gastgeber“ war überraschend auch Ludwig II. angereist, der junge bayerische König, der Maria gleich gefiel. Sie duzte ihn, denn sie war eine „angeheiratete“ Tante und wurde ihm eine mütterliche Freundin. Auch Nixa, der auf seiner großen Europa-Reise als erstes seine Eltern in Kissingen besuchte, freundete sich mit dem fast gleichaltrigen Bayern an, musste allerdings planmäßig weiter in die Niederlande reisen, weil die Ärzte ihm Meerbäder gegen sein vermeintliches Rheuma verschrieben hatten. Aus Scheveningen, wo die Prozeduren am 26. Juli begannen, erhielt seine Mutter jeden Mittwoch einen langen Brief. Er verheimlichte ihr, dass ihm die Bäder nicht gut taten, dass er abmagerte und seine Blässe auffiel. Unterdessen hatte der Kaiser seine Frau von Kissingen zur Nachkur nach Schwalbach gebracht und sich auf die Rückreise nach St. Petersburg gemacht. „7 Uhr früh Ankunft Kaiser Alexanders, von mir
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und Onkel Karl allein in kleiner russischer Uniform (ohne Band) empfangen“, notiert der preußische Kronprinz am 19. Juli in seinem Tagebuch.36 Nach weiteren Zwischenaufenthalten in Warschau und Wilna, wo noch der Belagerungszustand herrschte, kam der Kaiser am 22. Juli wieder in Zarskoje Selo an. Er hatte viel zu tun, das Sommerlager der Garde in Krasnoje Selo stand an, außerdem ein Besuch in Moskau. Maria aber genoss den Aufenthalt in Schwalbach, wo Olga sie noch einmal „für einige Stunden“ aufsuchte.37 Und sie freute sich sehr, als kurz nach ihrer Ankunft auch Alexej K. Tolstoj, der Dichter, in Schwalbach eintraf. „Sie ist so gut, dass man sich schämt, von ihr fortzufahren!“, schreibt er seiner Frau. „Sie sah, wie ich ankam und rief mich selbst zu sich, wie ich war, mit der Tasche über der Schulter. […] Sie ist wirklich besser als alle; eine so gute ist schwer zu finden. Sie ist ganz inoffiziell, und es ist so leicht, mit ihr zu sprechen und mit ihr zusammen zu sein … Ich liebe sie ganz schrecklich und würde sie in jeder gesellschaftlichen Stellung lieben […] Aus dem Iwan habe ich ihr am Tag nach der Ankunft, d. h. gestern, drei Akte vorgelesen; heute habe ich den vierten gelesen, weiter konnte ich nicht, weil die Großherzogin von Weimar kam [Sophie, Prinzessin der Niederlande, M.B.].“38 Alle waren begeistert vom Tod Iwans des Schrecklichen. Während der Lektüre war die Kaiserin abwechselnd rot und blass geworden und hatte den Autor derart gelobt, „dass ich sehr, sehr froh war. Ich weiß nicht, aber mir scheint, sie möchte, dass er auf einer russischen Bühne aufgeführt wird. Wenn das geschieht, ist mein Ruf gemacht, ungeachtet gewisser Journale.“39 Am 25. Juli 1864 beendet Tolstoj die Lektüre des Iwan bei der Kaiserin. „Sein Erfolg war erstaunlich.“40 Wenige Tag nach Tolstojs Abreise feierte Maria, noch in Schwalbach, ihren 40. Geburtstag. Zum Gratulieren kamen Bruder Alex und seine Familie. „8. August. Geburtstag der lieben Kaiserin. – Wir gratulierten ihr auf der Promenade“, schreibt Alex’ Tochter Marie. „Um neun Uhr Frühstück, um elf Uhr griechischer Gottesdienst. Bei Tisch spielte eine österreichische Musikkapelle, und nach Tisch wurde die ganze Gesellschaft auf Eseln photographiert. Dann wurde gleich mit ihnen eine Partie gemacht. Ich war sehr glücklich; mein Esel war der Lebhafteste.“41 Nixa hatte der lieben Má ein Telegramm geschickt.
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Aus Schwalbach schreibt Maria nun die ersten Briefe an Ludwig II., schickt ihm Fotos ihrer Zimmer und macht ihn auf ein Edelweiß aufmerksam, das in einem der Räume hängt und das er ihr wohl geschenkt hatte. Leider müsse sie noch bis zum 25. August bleiben, teilt sie ihm mit und fährt fort: „Von Nixa habe ich gute Nachrichten u. lange Briefe; voller Sehnsucht nach wörtlichem, anstatt brieflichem Verkehr. Gott segne dich, lieber Ludwig, u. sei mit Dir auf Allen Deinen Wegen. Marie.“42 Sie wusste, dass Nixa die Niederlande am 16. August verlassen würde, um sich über Hamburg und Kiel nach Kopenhagen zu begeben. Sie und der Kaiser hätten ihn gern mit Prinzessin Dagmar, der jüngsten Tochter Christians IX., verheiratet, die er natürlich kennenlernen wollte. Die erste Begegnung mit der erst 16-jährigen Dagmar, die in der Familie „Minnie“ hieß, weil sie so klein war, fand auf Schloss Fredensborg statt, der Sommerresidenz der dänischen Könige auf Seeland, und die beiden gefielen einander sofort. „Wenn Du wüsstest, wie glücklich ich bin“, schreibt Nixa seiner Mutter, „ich habe mich in Dagmar verliebt. Habe keine Angst, das geht nicht so schnell, ich erinnere mich an Deine Ratschläge und kann mich nicht sofort entscheiden. Aber wie soll ich nicht glücklich sein, wenn mein Herz mir sagt, dass ich sie heiß und innig liebe. Wie soll ich sie beschreiben? Sie ist so sympathisch, einfach, klug, fröhlich und zugleich zurückhaltend. Sie sieht viel besser aus als auf den Porträts, die wir bis jetzt gesehen haben. Ihre Augen sprechen für sie, so gute, kluge, lebhafte Augen.“43 Der Form halber musste er nun noch das Einverständnis seiner Eltern zur Ehe mit Dagmar einholen und machte sich auf den Weg nach Darmstadt. Anfang September kam Alexander II. ein zweites Mal in diesem Jahr nach Deutschland. Diesmal war der Heiligenberg sein Ziel, wo die Kaiserin und Nixa auf ihn warteten. Am 11. September empfing der Kaiser von Russland dort den König von Preußen, den Großherzog von Hessen und bei Rhein, dessen Brüder und viele andere Hoheiten, insgesamt an die 100 Personen, die dem Kaiserpaar ihre Aufwartung machen und dem Kaiser zum Namenstag am 11. September gratulieren wollten. Mit diesem Treffen begannen auf dem Heiligenberg die sog. „Russenzeiten“, die sich wiederholen sollten, denn
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auch Alexander II. liebte den Sehnsuchtsort seiner Frau. Schon während des ersten Aufenthalts wurde die Buche auf dem Heiligenberg „getauft“. „Wir gingen alle mit dem Kaiserpaare und seinen Kindern vor dem Frühstück an die große Buche, die auf dem Wege nach dem Felsberg steht, um sie mit ihrem Namen ,Kaiserbuche‘ einzuweihen. Am Stamm hing ein weißes Schild, auf dem stand: ,Kaiserbuche. 14. September 1864‘“, schreibt Marie von Erbach-Schönberg, Alex’ Tochter, in ihren Erinnerungen.44 Von Jugenheim reisten Alexander und die Seinen dann noch nach Friedrichshafen, um Olga Nikolajewna zu besuchen, die nun Königin war. Die Kur in Kissingen, die Nachkur in Schwalbach und der Aufenthalt auf dem Heiligenberg hatten Maria gut getan. Aber die Ärzte rieten ihr, den Winter in einem wärmeren Klima zu verbringen, der nasskalte Petersburger Winter tat ihrer Lunge nicht gut. Alexander beschloss, sie nach Nizza zu bringen. Aber vorher musste er noch an den preußischen Feldmanövern in Groß Wusterwitz teilnehmen, die am 21. September beginnen sollten. Nixa begleitete ihn. Die beiden kamen zu spät, wie aus einem Tagebucheintrag Friedrich Wilhelms von Preußen hervorgeht: „22. September. Ankunft Kaiser Alexanders und des GroßfürstenThronfolgers morgens um ½ 8 Uhr statt 4 Uhr, weil in Genthin ein Eisenbahnunfall die Schienen noch belegt hielt, als der kaiserliche Zug ankam. – Mit beiden M.M. per Extrazug nach Gegend von Brandenburg zum Feldmanöver, deren Beginn spät, weil auf Kaiser gewartet. […] Mit Thronfolger zurück. Gefällt mir sehr mäßig. Russen todmüde.“ Tags darauf trägt er ein: „23. September. Mit dem Kaiser und Thronfolger per Extrazug bis Groß-Kreuz. Feldmanöver bei Lehnin, interessant […].“ Doch zwischen Friedrich Wilhelm und Nikolaus Alexandrowitsch stimmte die Chemie nicht. „Hin und zurück mit Thronfolger gefahren, aus dem ich nicht herausbekomme, wofür er sich eigentlich interessiert. Er fragte mich nach meinem Einkommen (!), wie ich mit Berlin stünde, ob ich mich für Militär interessiere. Er hat keine angeborene Liebenswürdigkeit, wenig unbefangene Natürlichkeit in schneidendstem Gegensatz gegen Nisi und Mischi [Nikolaus und Michael, Brüder Alexanders, also Cousins des Prinzen, M.B.], die in seinem Alter alles bezauberten durch Leutseligkeit und
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Natürlichkeit. Er ist als Deutschenhasser erzogen und von Deutschenhassern begleitet, man weiß, dass er entschlossen war, keine Deutsche zu heiraten. 24. September […] Abreise des Kaisers nach Weimar; des Thronfolgers als öffentliches Geheimnis nach Kopenhagen, wo er sich in Dagmar verliebt hat.“45 Und sich nun mit Dagmar verloben wollte. Sein Vater kehrte über Weimar nach Darmstadt zurück und befahl, die Verlobung des Thronfolgers mit der Prinzessin von Dänemark in St. Petersburg mit 101 Kanonenschüssen bekannt zu geben. Bald wurden in den schicken Geschäften der Hauptstadt Dagmars Fotos verkauft. Nixa blieb noch ein paar Tage in Kopenhagen, dann reiste er, wie vorgesehen, weiter nach Oberitalien. Dort würde er wieder zu Kräften kommen, und im Sommer würde er heiraten. Nun konnte Alexander seine Frau in aller Ruhe nach Nizza bringen. Am 18. Oktober verließen sie Darmstadt, und Marie von ErbachSchönberg notiert: „Um halb zehn Uhr waren wir noch im Schloss; es ging der armen Kaiserin nicht gut. Sie konnte nicht einmal allein gehen und wurde auf einer Tragbahre vom Wagen in den Waggon gebracht. Der Kaiser Napoleon hatte einen Extrazug geschickt, der innen und außen wunderhübsch ist, und in dem fuhren sie fort. Am Bahnhof waren schrecklich viele Leute, und als sie die Kaiserin auf der Tragbahre sahen, fingen einige zu weinen an, weil sie sie für todkrank hielten.“46 Drei Tage später kamen sie bei strömendem Regen an der Côte d’Azur an. Napoleon III. hatte für einen gebührenden Empfang gesorgt. Er kam auch selbst, um dem russischen Kaiserpaar seine Ehrerbietung zu erweisen. Am 31. Oktober fuhr Alexander nach Russland zurück. Das kleine russische Geschwader, das auf Reede vor Villefranche lag, hielt sich zur Verfügung der Kaiserin. Mittlerweile war Nixa in Norditalien angekommen, hatte Venedig, Mailand und Turin besucht und überall einen hervorragenden Eindruck gemacht. In Genua wartete die Fregatte Alexander Newskij, die ihn zu seiner Mutter an die Côte d’Azur bringen sollte. Nixas Besuch dauerte ein paar Tage, er sah krank aus, aber er war guten Mutes. Am 21. November brachte die Fregatte Witjas ihn nach Livorno, von dort
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ging es mit der Bahn nach Florenz. Bei der Ankunft brach er zusammen. Die Schmerzen im Rücken waren so stark geworden, dass er nicht mehr gehen konnte. Professor Carlo Burci, eine örtliche Kapazität, fand ein Geschwür in der Wirbelsäule, das er mit spanischer Fliege behandelte. Es ging zurück, aber auf die Weiterreise nach Rom musste verzichtet werden. Stattdessen kehrte Nixa nach Nizza zurück, wo er die Villa Diesbach bezog, die einem Kammerherrn des Königs von Württemberg gehörte. Er kam nun nicht mehr ohne Stock aus und ging gebeugt und sehr vorsichtig, um Schmerzen zu vermeiden. Maria war froh, ihn bei sich zu haben, glaubte weiter, dass er an Rheuma leide, schrieb dies auch ihrem Bruder Alex. Man sprach von Nixas Hochzeit und vom Anitschkow-Palast am Newskij Prospekt, der für ihn eingerichtet werden sollte, suchte Tapeten, Möbel und Stoffe aus. Zu Weihnachten ließ Maria aus Russland einen Tannenbaum schicken.
9 „Abends am Ufer des Meeres“ Tod des Thronfolgers Diagnose der Pariser Ärzte – Telegramm an den Kaiser – Reise nach Nizza – Dagmar von Dänemark – Tod Nixas – Abschied von Nizza – Überführung des Leichnams nach St. Petersburg – Heiligenberg – Beisetzung Nixas – Eid des neuen Thronfolgers – Vorstellung Katja Dolgorukowas bei Hofe – Briefe an Ludwig II. – Heirat Anna Tjuttschewas – Gräfin Alexandra A. Tolstaja – Spaziergänge im Sommer garten – Alexanders Erziehung 1865
Ende Januar 1865 trafen Dr. Nélaton und Dr. Rayer, zwei bekannte Pariser Ärzte, die Napoleon III. zu Konsultationen geschickt hatte, in Nizza ein. Die beiden Professoren untersuchten Nixa und stellten nichts Gefährliches fest, bestätigten vielmehr die Rheumadiagnose ihrer russischen Kollegen und empfahlen warme Duschen und – im Sommer – Schwefelbäder. Maria war dem Kaiser der Franzosen dankbar.1 Nur zu gern glaubte sie auch den französischen Ärzten, an deren Kompetenz niemand zweifelte. Abends spielte Nixa mit seinen Begleitern Schach und diskutierte lebhaft mit ihnen über tagespolitische Fragen. Das körperliche Leiden schien keinen Einfluss auf sein Urteilsvermögen zu haben. Nikolaus Alexandrowitsch war ein außerordentlich kluger und wissbegieriger junger Mann. Seinem Vater schrieb er, dass er sich viel besser fühle. „Am 20. Februar machte der Thronfolger seine erste Spazierfahrt in offener Equipage“, meldet die offiziöse Petersburger Zeitung Russkij inwalid am 22. Februar 1865 a.St. „Seither vergeht nicht ein Tag, an dem man ihm nicht mit seiner erhabenen Mutter oder einer Person seiner Suite begegnet. Dieser Tage geruhte die Kaiserin in Villefranche zu verweilen und die Fregatte Alexander Newskij zu besuchen.“2 Sie hatte an einem Essen mit Tanz an Deck teilgenommen, zu
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dem 300 Personen geladen waren. Nixa hätte sie am liebsten begleitet, weil er gern ein paar Stunden auf russischem Boden verbracht hätte. Er hatte Heimweh. Aber es ging ihm nicht gut genug, er sah mager und blass aus. Hingegen fühlte er sich in der Butterwoche so wohl, dass er sich den Karnevalsumzug in Nizza ansehen konnte. Auch russische Seemanns chöre nahmen daran teil, in den Restaurants wurden russische Spezialitäten serviert, und im städtischen Lyzeum begann man, Russisch zu unterrichten.3 Immerhin lebten in der Stadt ständig an die 150 russische Familien, die viel Geld ausgaben und Luxusvillen bewohnten. Die Diagnose der französischen Ärzte hatte Maria wieder beruhigt. Als Professor Burci aus Florenz mitteilte, dass er die Ansicht seiner Pariser Kollegen nicht teile, sondern von einer „chronischen Entzündung der Wirbelsäule“ ausgehe, die möglicherweise von Nixas Sturz vom Pferd herrühre und die Muskeln angreife, wurde ihr der Brief nicht vorgelegt, obwohl Burci meinte, die Entzündung könne bei richtiger Behandlung geheilt werden. Allerdings befürchtete er die Bildung eines Geschwürs, die er für gefährlich hielt.4 Burcis Meinung teilte nur Professor Sdekauer, der kaiserliche Leibarzt, der in St. Petersburg geblieben war. Die behandelnden Doktoren vor Ort diagnostizierten „einfach Malaria, ein örtliches Fieber“ und verordneten weiter Chinin und passive Gymnastik.5 Die ständigen Rücken- und Kopfschmerzen und die Übelkeit ihres Patienten gaben ihnen nicht zu denken. Bei den Dehnübungen auf einem Brett schrie Nixa vor Schmerzen. Die Behandlung half nicht, und da es dem Thronfolger nicht besser ging, sondern schlechter, wurde sie von seiner Umgebung als falsch empfunden. Anfang März verschlechterte sich Nixas Zustand wieder. Die Schmerzen in Kopf und Rücken wurden unerträglich, der Kranke erbrach sich ständig und konnte kaum noch schlafen. Er war nun schon so schwach, dass er nicht mehr aufstand. Seine Mutter, die täglich nach ihm sah, blieb auf Anraten der Ärzte nur Minuten bei ihm, weil die Herren ihr versichert hatten, dass längere Anwesenheit den Kranken ermüden könne. Sie fügte sich, wie sie sich immer fügte, und besuchte ihn nur einmal am Tag für ein paar Minuten. „Mamotschka, warum bist du nur so selten bei mir?“, fragt er sie einmal mit schwacher Stimme. Sie entschied sich, lieber auf die Ärzte zu hören.6 Ihre
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Umgebung verstand ihr gehorsames Leiden nicht, empfand ihr Verhalten als unnatürlich. Nachts hörte nur die Dienerschaft den Kranken stöhnen und weinen und kümmerte sich um ihn. Sonst verstand niemand, dass er sich allein gelassen fühlte, auch seine Mutter nicht. Er konnte nun nicht mehr ausfahren, stattdessen wurde er im Sessel in den Garten getragen. Auch das strengte ihn über die Maßen an, während die Kopfschmerzen, das Erbrechen, die Reizbarkeit, das Fieber und die Schlaflosigkeit weiter zunahmen. Nur die Dienerschaft wusste, wie es wirklich um ihn stand, sein alter Kammerdiener Kostin und die Kammerfrau Makuschina, die auch nachts bei ihm waren. Alle anderen machten sich etwas vor. Die Tage vergingen zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Ende März wurde der Kranke aus der Villa Diesbach am Quai des Anglais in die Villa Bermond weiter landeinwärts verlegt, die in einem riesigen Park lag und schon früher von Mitgliedern der kaiserlichen Familie bewohnt worden war. Die Ärzte waren der Ansicht, dass das Rauschen des Meeres die Nerven des Kranken belastete und seine Schlaflosigkeit verursachte. Es war Palmsonntag, der Tag, an dem Alexander II. in St. Petersburg in Vertretung seiner Frau offiziell das Fräuleinstift besuchte und die Dolgorukij-Schwestern wiedersah, Katharina und Maria, die zu außerordentlich hübschen jungen Damen herangewachsen waren. Besonders Katja, die Ältere, die ihm nach den Manövern bei Poltawa in Teplowka so kess entgegengetreten war, gefiel ihm sofort. Mittelgroß, schlank, elfenbeinfarbener Teint, große helle Mandelaugen, kastanienbraunes Haar. Im November war sie 17 Jahre alt geworden und im Begriff, ihre Schulbildung abzuschließen und das Institut zu verlassen. Niemand konnte ahnen, der Kaiser selbst nicht und schon gar nicht die Kaiserin im fernen Nizza, dass sich aus dieser Begegnung eine lang jährige Liebesgeschichte zwischen dem Herrscher und der Fürstin entwickeln würde, die das Haus Romanow bis in die Grundfesten erschüttern sollte. Fasten konnte Nixa in der Karwoche nicht, aber an warmen Tagen fuhr er wieder aus, und das Journal de Nice meldete, dass sich der Zustand des Thronfolgers, den man täglich in offener Kutsche auf den Boulevards sehe, unter dem Einfluss des Nizzaer Klimas entscheidend
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gebessert habe.7 Solche Nachrichten waren Balsam auf Marias Seele, obwohl es keinen Grund für Optimismus gab. Anfang April hatte Nixa Sehstörungen, er sah Doppelbilder. Ostern konnte er nicht am Gottesdienst in der orthodoxen Kirche an der Rue Longchamp teilnehmen, nicht einmal die Osterwünsche seiner Suite entgegennehmen. Der 4./16. April 1865 (Ostersonntag) war der 25. Verlobungstag seiner Eltern. „Diese Minute, die das Glück meines ganzen Lebens begründet hat“, schreibt der Kaiser seiner Frau, „ist mir in Erinnerung, als hätte ich sie gestern erlebt, und ich höre nicht auf, Gott aus der Tiefe meines Herzens Tag und Nacht für sie zu danken. Möge Gott Dich bewahren, mein geliebter Engel, und alle unsere lieben Kinder.“8 Maria war gerührt. In ihrem Gottvertrauen war sie unfähig, den Ernst der Lage zu erkennen. Die Blindheit sei allgemein gewesen, schreibt Anna Tjuttschewa, die natürlich auch in Nizza dabei war.9 Und sie hielt an. Maria konnte nicht einmal den Gedanken zulassen, dass sie den geliebten Sohn verlieren könnte. Im April lehnte sie ein erneutes Konsilium unter Teilnahme örtlicher Ärzte ab. Sie hasste Konsilien. Stattdessen bat sie ihren Bruder, nach Nizza zu kommen. Alexander von Hessen kam sofort und brachte seine Frau mit. Am 5./17. April hatte Nixa eine Gehirnblutung, die zu einer halbseitigen Lähmung führte. Nun erst begriffen die Ärzte, dass sie sich geirrt hatten, dass der Thronfolger an einer Gehirnentzündung litt und dass die Krankheit ihr letztes Stadium erreicht hatte.10 „Das ist das Ende. Er muss das Heilige Abendmahl empfangen. Er selbst ist nicht mehr für sich verantwortlich“, zitiert die Tjuttschewa einen der Ärzte, Dr. Hartmann. „In diesem Augenblick kam die Herrscherin aus ihrem Zimmer. Hartmann hatte ihr schon mitgeteilt, dass es schlecht aussieht, aber sie machte sich noch keinen Begriff vom Ausmaß der Gefahr. ‚Was soll ich dem Herrscher im Telegramm schreiben‘, fragte sie. ‚Herrin‘, sagte er nach einer Minute Schweigen, ‚es ist eine Gehirnblutung!‘ Da schrie sie auf: ‚Sie haben mich betrogen, Sie haben nicht die ganze Wahrheit gesagt.‘ Sie griff sich ans Herz, aber nach einem Augenblick fasste sie sich wieder. ,Ich muss ruhig sein, ich muss jetzt nur an den Herrscher denken.‘ Und ging in ihr Zimmer, um ein Telegramm aufzusetzen.“11 Es war dieses Telegramm, das Alexander II. veranlasste, sich umgehend auf den Weg nach Nizza zu machen. Er wusste nun von der Gehirn
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entzündung und war sich nicht sicher, ob er seinen Sohn noch lebend vorfinden würde. Auch plagte ihn sein Gewissen, weil er Nixa ständig angehalten hatte, mehr Sport zu treiben, vor allem zu reiten. War er nicht für seinen Sturz verantwortlich? Auch Anna Tjuttschewa schickte Telegramme an Bekannte in Moskau und St. Petersburg, die in allen Kirchen der beiden Hauptstädte Gebete für die Gesundung des Thronfolgers bestellen sollten. Wenig später hörte sie aus Moskau, dass allein im Kreml 20 000 Menschen für Nikolaus Alexandrowitsch gebetet hatten. Das ganze Land betete für ihn. Wenn so viele Menschen für ihn beteten, wie sollte er da nicht gesund werden? Die Frage war, ob Nixa das heilige Abendmahl empfangen sollte oder nicht. Wenn ihm das Sakrament vorgeschlagen wurde, würde ihm sein Zustand bewusst werden, würde er verstehen, dass er sterben musste. Das wollte ihm niemand zumuten. Schließlich überredete Alexander von Hessen seine Schwester, ihren Sohn kommunizieren zu lassen, solange er bei Bewusstsein war. „Seit heute früh hat sich der Zustand des Großfürsten-Thronfolgers so sehr verschlimmert, dass wenig Hoffnung besteht, ihn noch zu retten“, schreibt Julie von Battenberg am 17. April ihrer Tochter Marie: „Welch entsetzlicher Schlag für die Kaiserin! Sie ist von bewunderungswürdiger Tapferkeit. Sie selbst, die arme, verzweifelte Mutter, hat es übernommen, ihren geliebten Sohn zur Feier des heiligen Abendmahles zu veranlassen, mit allen Vorsichtsmaßnahmen, um den Kranken nicht zu erschrecken. Papa ist immer bei der Kaiserin, ich meistens auch, oder im Nebenzimmer. Welch traurige Ostertage! – Seit einigen Tagen macht die ganze schöne Gegend einen melancholischen Eindruck, sogar das Meer. Man hat dem Kaiser telegraphiert, dass er abreisen soll, aber ich fürchte, er kommt zu spät! Was würde ich darum geben, um ihm dieses Leid zu ersparen! Gott gebe der armen Kaiserin Kraft! Wie furchtbar ist dieser Aufenthalt in Nizza! – Deine traurige Mama.“12 Schon Ostersonntag, den 4./16. April, war als erster Alexander Alexandrowitsch aufgebrochen, um dessen Besuch Maria gebeten hatte. Er kam am 8./20. April um 3 Uhr morgens in Nizza an und brachte Professor Dr. Sdekauer, den kaiserlichen Leibarzt, mit, der Carlo Burcis Diagnose richtig fand.
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Auch den Großfürsten ließen die Ärzte zunächst nicht ins Krankenzimmer, weil sie befürchteten, dass seine Ankunft den Kranken zu stark aufregen würde. Als Nixa seinen Bruder dann wahrnahm, war seine Freude groß, er war sogar in der Lage, ihm den Verlauf seiner Krankheit Tag für Tag zu schildern. Saschas Anwesenheit beruhigte ihn. Dann untersuchte Sdekauer den Kranken gründlich. Das Ergebnis war niederschmetternd: Meningitis cerebro-spinalis. Hoffnung auf Rettung gebe es nicht, erklärte der Arzt der Kaiserin, „entweder der Tod oder Gehirnerweichung, d. h. völlige Verblödung.“ Darauf antwortete sie, starr vor Scheck: „Plutôt la mort!“*13 Nun bestand Sdekauer darauf, Dr. Oppolzer aus Wien und Dr. Pirogow aus Petersburg nach Nizza zu bitten. Der Kaiser, Wladimir und Alexej verließen St. Petersburg am Dienstag, dem 18. April, abends um 23 Uhr. Wie vor jeder längeren Reise waren sie am Nachmittag zum Gebet in der Kasaner Kathedrale gewesen, und wie immer hatte eine riesige Menschenmenge auf den Herrscher gewartet. Als er aus der Kirche trat, hörte er Stimmen: „Hab keine Angst, Gebieter, wir beten ihn da raus!“14 Volkes Stimme, Gottes Stimme? Drei Tage und vier Nächte später, am Sonnabend, dem 22. April, um 5 Uhr morgens kamen sie in Nizza an. Sie hatten die Strecke in 85 Stunden zurückgelegt, unerhört schnell für damalige Verhältnisse. Auf dem Bahnhof in Berlin wartete Onkel Willy (Wilhelm I.), in Paris kam Napoleon III. an den Zug, und in Dijon wurde ein Zug mit der dänischen Königin Luise, ihrem Sohn, dem Kronprinzen, und ihrer Tochter Dagmar, der Verlobten des Kranken, an den kaiserlichen Zug angekoppelt. Auf dem Bahnhof in Nizza wurden Alexander und seine Söhne von vielen Landsleuten mit verweinten und traurigen Gesichtern begrüßt. Niemand schrie Hurra, wie es sonst üblich war. Die Menge wartete schweigend. Auf dem Bahnsteig stand Alexander Alexandrowitsch mit verweintem Gesicht, blass und mager, neben ihm Fürst Wjasemskij, der Dichter, der nicht von der Seite der Kaiserin gewichen war und die dramatischen Apriltage in Nizza später in einem Prosatext unter dem Titel „Villa Bermont“ beschrieben hat. * „Dann lieber der Tod!“
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Als Maria dem Kranken sagte, dass der Vater stündlich erwartet werde, erriet er sofort, dass er schon da war. „Papa ist hier, im anderen Zimmer – er soll hereinkommen.“ Mit dem Kaiser durfte nun auch Alexander Alexandrowitsch eintreten. Nixa war froh, seinen Vater und seinen Bruder zu sehen. Er fiel nun häufig in Ohnmacht, meistens war er jedoch bei Bewusstsein und bekam alles mit, was sich im Zimmer und nebenan tat. Wenn er phantasierte, waren anfangs alle erstaunt über das, was er sagte. Er hielt eine druckreife Rede vor imaginären Abgeordneten, stellte vollkommen vernünftige Fragen und kommandierte ganze Regimenter. Eine Zeitlang sprach er noch klar und im Zusammenhang, worauf wieder Hoffnung aufkam, doch je schwächer er wurde, desto weniger sprach er, bis er nur noch einzelne Worte herausbrachte. Als Dagmar zu ihm ans Bett trat, strahlte er vor Freude, lachte laut, küsste ihr die Hand und fragte seinen Vater: „Ist sie nicht allerliebst, Papa?“ Er nahm sie in die Arme und drückte sie an sein Herz, bedeckte sie mit Küssen. „Mein Engel, meine Liebe, Seelchen.“ Wieder keimte Hoffnung auf. Doch in der Nacht vom 11./23. auf den 12./24. April verschlechterte sich sein Zustand so stark, dass auch Dagmar um 7 Uhr morgens an sein Bett gerufen wurde. Nixa erkannte die Anwesenden noch und begrüßte alle. Mittags erhielt er zum zweiten Mal das Heilige Abendmahl, danach verabschiedete er sich von seinem Gefolge, indem er zu jedem einzelnen zweimal „Lebewohl“ sagte. Im Zimmer blieb nur die Familie. Am rechten Kopfende stand Alexander, der geliebte Bruder, am linken Kopfende stand Dagmar, die geliebte Braut. Nixa hielt beide an der Hand. Wie oft hatte er Má gesagt, dass er nicht wisse, wen von beiden er mehr liebe, Sascha oder Dagmar. Die Eltern standen am Fußende. Nun bat er seinen Vater: „Papa, pass auf Sascha auf; das ist ein so ehrlicher, guter Mensch.“ Gegen 3 Uhr hob er noch einmal beide Hände und griff nach Alexander und Dagmar. Der Legende nach soll er ihre Hände ineinander gelegt haben, um ihnen zu zeigen, dass sie nun zusammengehörten. Seine letzten Worte richtete er gegen 4 Uhr in vollem Bewusstsein an Dr. Hartmann, sie galten seiner Mutter, deren Hand er noch ergreifen konnte. „Kümmern Sie sich gut um sie!“ Danach sagte er nichts mehr außer „Stopp, Maschine!“ Vor
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zehn Jahren waren das auch die letzten Worte Nikolaus’ I., seines Großvaters, gewesen … Am Morgen dieses 23. April war doch noch Professor von Oppolzer, der Wiener Arzt, eingetroffen und hatte nach gründlicher Untersuchung des Kranken die Diagnose seiner Kollegen Sdekauer und Burci bestätigt: Meningitis cerebro-spinalis, aber noch hinzugefügt: tuberculosa. Das sei eine Krankheit, deren Symptome immer erst spät erkannt würden, wenn es schon keine Hoffnung auf Heilung mehr gebe.15 Ein schwacher Trost. So hatte Alexander von Hessen womöglich recht, als er in sein Tagebuch eintrug: „Also ist die ganze Behandlung seit Monaten eine grundfalsche.“16 Nixa starb am 24. April 1865 kurz vor 1.00 Uhr, nachdem ihm noch den ganzen Tag Moschus verabreicht worden war, den er absolut nicht vertrug und immer wieder erbrach. Er war 21 Jahre alt. Der Kaiser schloss ihm die Augen. Am lautesten weinte Wladimir, am wenigsten die Kaiserin, sie war sehr willensstark.17 Prinzessin Dagmar wurde mit Macht von ihrem toten Bräutigam weggezogen und aus dem Zimmer getragen. Bevor am nächsten Morgen die erste Totenmesse begann, wurde ein großer Korb mit weißen Rosen gebracht, die Maria sorgfältig um ihren toten Sohn legte. Der Geistliche und der Diakon waren so erschüttert, dass sie vor Tränen kaum beginnen konnten. Alle weinten und schluchzten laut. Während des Gottesdienstes fiel Maria in Ohnmacht. Die Großfürsten bestanden darauf, im Wechsel mit den Generaladjutanten die Totenwache zu halten, und auch Fürst Wjasemskij wachte eine Nacht lang neben dem Verstorbenen. Alexander II. gab den Tod des Thronfolgers und die Ernennung seines zweiten Sohnes Alexander zum neuen Zesarewitsch per Manifest bekannt. Viele Zeitgenossen hielten Alexander für ungeeignet und hätten Wladimir vorgezogen. Doch nach dem Thronfolgegesetz seines Großvaters, des Kaisers Paul, aus dem Jahr 1797 konnte Alexander II. gar nicht anders handeln, auch wenn er gewollt hätte. Anders als sein Bruder war Alexander kräftig gebaut und strotzte vor Gesundheit. Er war groß und breitschultrig und sah älter aus, als er war. Aber es gibt kaum ein positives Urteil über den neuen Thronfolger, nur seine Mutter und sein Bruder Nixa lobten die trefflichen persönlichen Eigenschaften der „kleinen Bulldogge“. Zum Lernen hatten seine Lehrer ihn
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nicht bringen können. Im Wissen darum, was nun auf ihn zukam, bot er einen jämmerlichen Anblick. Die Nachricht vom Tode des russischen Thronfolgers erschütterte ganz Europa. Noch nie war ein Thronerbe so jung und so qualvoll gestorben. Auch die Diplomaten in Petersburg waren fassungslos. „Großfürst Nikolaus wird seinen Zeitgenossen als anziehende und poetische Gestalt in Erinnerung bleiben“, schreibt Charles de Talleyrand-Périgord, der französische Botschafter in St. Petersburg, seinem Minister nach Paris. „Die von Natur lebhafte Einbildungskraft des russischen Volkes war tief beeindruckt von dem Tod dieses Prinzen, der fern der Heimat mit zwanzig Jahren gestorben ist und auf den es verfrüht so große Hoffnungen gesetzt hat. Ich muss hinzufügen, dass alle Gesellschaftsklassen einig in dem Vorwurf gegen die Umgebung des Großfürsten sind, weil sie nichts bemerken wollte, ebenso wie gegen die Ärzte, die den Ernst des Leidens, dem er erlegen ist, nicht zu erkennen wussten. Kurz, man ist entrüstet über diese neue Verschwörung des Schweigens, die sich abermals um den Kaiser gebildet hatte, den man in vollster Sorglosigkeit ließ.“18 Am Abend des 26. April wurde der Leichnam beim Schein von Fackeln und Kerzen in die kleine russische Kirche in der Rue Longchamp gebracht, die Alexandra Fjodorowna, Nixas Großmutter, Ende der 1850er Jahre hatte bauen lassen. Am 28. April wurde der Sarg nach Villefranche überführt, wo die Fregatte Alexander Newskij ihn an Bord nehmen sollte, die Nixa im Herbst aus Genua abgeholt und zu seiner Mutter gebracht hatte. Ganz Nizza folgte dem achtspännigen Leichenwagen, der von berittenen Gendarmen und Einheiten der französischen Armee begleitet wurde, und sah zu, wie er vorsichtig auf einer Tragbahre auf die Alexander Newskij gehievt wurde, die ihn nun nach Kronstadt bringen sollte. Abends am Ufer des Meeres überschrieb Fürst Wjasemskij sein Gedicht über die Heimkehr des Zesarewitsch, der „gleich einem Engel“ nur „ein flüchtiger Gast auf Erden, aber kein Erdenbewohner“ war. Am 29. April verließ das Kaiserpaar mit Alexander, Wladimir und Alexej Nizza. Dagmar von Dänemark begleitete sie. Am 3. Mai nahmen sie in Darmstadt an einer Totenmesse im Alten Palais teil und kamen am 7. Mai wieder in Jugenheim bzw. auf dem Heiligenberg an, wo Olga
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Nikolajewna sie noch einmal sehen wollte. Eveline von Massenbach, ihre Hofdame, notiert: „6. Mai Abreise nach Ingelheim. Die Königin wollte den Kaiser und die Kaiserin treffen, während der Leichenzug die Reise über das Meer, von Villefranche bis Kronstadt, machte. – Wir steigen im Tal ab, im Haus van der Hoop* mit unseren sehr bewunderten Pferden, damit Ihre Majestät leichter den Heiligenberg erreichen konnte. Den ersten Abend verbrachten wir mit der Prinzessin Dagmar, die mit uns gekommen war und über Rumpenheim nach Kopenhagen zurückreiste […] Der Großfürst Alexander ist mager geworden und macht den Eindruck, als könne er seine Aufgabe nicht in Angriff nehmen und sie sich doch manchmal selbst vor Augen zu führen. Was die Kaiserin betrifft, so merkt man auf den ersten Blick fast nichts außer vielleicht ihrer übergroßen Magerkeit, aber dann fühlt man, dass ihr mehr als gewöhnlicher Schmerz innewohnt. Sie macht den Eindruck, als lebe sie nur äußerlich. Zu ihrer Umgebung ist sie lieb, geduldig, lächelnd und nimmt an allem teil, freilich nicht ohne einige Müdigkeit, doch versucht sie, wie immer zu sein. Trotzdem tut es einem weh, sie zu sehen, denkt man an all den Schmerz, der sich in ihr angesammelt hat und der sie verzehrt. Er wird gewiss so lange währen, wie ihr durch den Verlust dieses Lieblingssohnes gebrochenes Herz schlägt.“19 Allerdings konnte sich die Umgebung „über den Mangel an Pflege, Wachsamkeit, Fürsorge während der Krankheit des Großfürsten und wie man ihn unnötig hat leiden lassen, nicht beruhigen. Man gebraucht dabei die stärksten Ausdrücke und berichtet entsetzliche, traurige Einzelheiten. Die Familie will in dem, was geschehen ist, nur den göttlichen Willen sehen. Anna Tutscheff sagt unter Tränen, ,dass man dem lieben Gott doch gar zu breite Schultern zumutet‘.“20 Dem konnte Frau von Massenbach nur beipflichten. Alle fühlten aufrichtig mit der Familie, auch diejenigen, die Nixa nicht gekannt hatten. Doch an Ludwig II., der Nixa im Vorjahr auf dem Heiligenberg kennengelernt hatte, schreibt Maria: „Ich wusste, dass wenige unseren Schmerz so innig mitfühlen und theilen würden wie Du, lieber Ludwig, der unseren theuren Verklärten in Dein Herz geschlossen hattest, * Herrschaftliche Villa am Eingang des Dorfes
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wofür ich Dir immer dankbar sein werde. Von meinem Schmerz versuche ich nicht einmal zu sprechen, Du weißt, was er für mein Mutterherz war u. wie innig unser Verhältnis war, so wie es wohl niemals mit einem meiner anderen Söhne wird sein können, obwohl sie alle u. besonders Sacha, mich tief gerührt haben, in dieser Schmerzenszeit. Armer Sacha, der in seinem Bruder nicht nur seinen besten Freund verloren hat, sondern ihn auch ersetzen muss, er ist tief ergriffen von dieser doppelten Prüfung u. thut mir in der Seele leid! Sein liebendes Herz u. sein bescheidener, demüthiger Sinn sind beide gleich getroffen. Der Kaiser dankt Dir herzlichst für Deine liebevolle Theilnahme, das Wiedersehen mit ihm u. mit Dagmar waren Nixas letzte Freude hienieden […] Dass er so viel leiden musste, war die schrecklichste Prüfung meines Mutterherzens! […] Gott segne Dich. Marie.“21 Doch dem Kaiserpaar stand noch ein schwerer Schritt bevor: die Beisetzung in der Peter- und-Paul-Festung. Editha von Rahden, die deutschbaltische Hofdame der Großfürstin Jelena Pawlowna, hat sie in einem Brief an Eveline von Massenbach beschrieben: „Die traurigen Tage der vergangenen Woche haben mehr als je die Schmerzen der kaiserlichen Familie und des ganzen Landes geweckt. Wie soll ich Ihnen die Überführung des Leichnams von Kronstadt zur Festung schildern? Die Ankunft des Dampfschiffes und die Landung am englischen Kai werden eines dieser unbeschreiblichen und rührenden Bilder bleiben, vor denen das Wort verstummt. Ich werde nie den Augenblick vergessen, da, angekündigt durch das zuerst verschleierte, dann immer lauter werdende Echo der Kanonen, das Schiff mit der sterblichen Hülle des Großfürsten langsam die Newa hinauffuhr. Ein goldener Baldachin erhob sich auf der Brücke, ganz umgeben von Blumen und Laubwerk. Der Sarg mit seiner Totenwache, seinen großen Kerzen und seiner Hermelindecke, nahm die Mitte ein. Der Kaiser und seine Söhne, aufrecht auf dem Deck, waren von tiefem Schmerz bewegt. Das Schiff glitt schweigend durch die stummen Wellen, es machte gewissermaßen einen ,sagenhaften‘ Eindruck, poetisch und glänzend zugleich. Was soll ich Ihnen über die Haltung der Bevölkerung sagen? Niedergeschlagen, unbeweglich drängte sich die Menge an der Vorbeifahrt des Trauergeleits. Alle Häupter waren entblößt, alle Herzen ergriffen. Ein General der Garde erzählte mir, dass die Soldaten wein-
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ten, während sie präsentierten. Der Isaakplatz mit dem Monument Peters des Großen, die Kathedrale, das Totengeläute der Glocken, die Gesänge der Geistlichen und der Aufwand des Trauerzugs waren beeindruckend und prächtig. Nichts hat dieser Feierlichkeit gefehlt, weder der Glanz der Größe noch die Tränen, weder die Sympathien des Volkes noch der ideale und bewegende Reiz, der die begleitet, die Gott jung zu sich ruft und die viel gelitten haben. Während der Tage, die der Beisetzung vorausgingen, sprach man nur vom Großfürsten. Moskau hatte drei Deputationen entsandt, die Innenministerien waren durch die Marschälle des Adels und die Gouverneure vertreten. Bemerkenswert ist, dass all dies spontan, freiwillig erfolgte, diktiert vom aufrichtigsten Gefühl. Die Donkosaken hatten wie recht und billig eine zahlreiche Abordnung unter der Führung […] ihres Atamans entsandt. Wieviel ersticktes Schluchzen habe ich gehört, wieviel verstohlene Tränen hab ich diese Braven abwischen sehen: der Großfürst hatte bei ihnen eine unauslöschliche Erinnerung hinterlassen. Die gestrige Feierlichkeit war herzzerreißend. Der Kaiser tat einem in der Seele weh. Am Rande der Gruft, in die man seinen heißgeliebten Sohn gebettet hatte, kniete er nieder, faltete die Hände und weinte bitterlich, als wollte ihm das Herz zerbrechen. Kein Auge blieb angesichts dieses großen Schmerzes trocken. Gott erhalte uns den Kaiser! Gott stütze ihn angesichts seiner Prüfungen! […] Die Kaiserin hat den Trauerfeierlichkeiten nur einen Vormittag beiwohnen können, aber sie ist mehrmals allein zum Gebet am Sarg ihres Sohnes gekommen. Gegenwärtig ist alles vorüber, das Leben nimmt wieder seinen gewohnten Gang. Aber im Grund des Herzens ist ein Heiligtum, wo nichts, das stirbt, keinen Platz hätte und der Großfürst ruht so im Herzen Russlands selbst.“22 Natürlich erstatteten auch die Diplomaten ihren Ministern Bericht über die Beisetzung. Einen der Besuche Marias in der Festung hat Botschafter Charles de Talleyrand-Périgord beschrieben: „Die Kaiserin hat sich, vom Kaiser begleitet, am Dienstag sehr spät in der Nacht, in die Festung begeben, um an der Bahre ihres Sohnes zu beten. Man sah, wie sie sich über den offenen Sarg warf, die Leichentücher und die über das Antlitz ihres Sohnes gebreiteten Schleier e ntfernte und ihn mit Küssen bedeckt. Der Kaiser rang mit ihr, um sie dieser schmerz
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lichen Umarmung zu entziehen. Eine halbe Stunde hielt er sie in seine Arme geschlossen, um sie die sterblichen Überreste des Großfürsten betrachten zu lassen und seine Tränen und sein Schluchzen mit den ihren zu vereinigen.“23 Am Tag der eigentlichen Beisetzung schreibt Talleyrand – ähnlich Editha von Rahden – voller Mitgefühl: „Heute […] drohte der Mut Seine Majestät trotz seiner Seelenstärke mehr als einmal zu verlassen. Im Augenblick, da der Sarg geschlossen wurde, ließ er seinen Tränen freien Lauf und nahm den Großfürsten-Thronfolger Alexander leidenschaftlich in seine Arme. Die Rührung hatte übrigens alle Anwesenden ergriffen, und der Kaiser setzt den Leichnam seines Sohnes in der Gruft bei, unterstützt von allen seinen Familienmitgliedern und inmitten der aufrichtigen Äußerungen einer tiefen und ehrerbietigen Sympathie.“24 Am Morgen nach der Beisetzung wurde Innenminister Walujew in Zarskoje Selo zum Vortrag empfangen. „Der Herrscher ist traurig, hat abgenommen, sein gewohnter Gesichtsausdruck hat sich verändert“, notiert er. „Der allgemeine Eindruck ist, dass er tief trauert […]. Ich sah die Kaiserin, blieb ziemlich lange bei ihr. Sie hat sich stärker verändert als der Herrscher und ist stärker als er erfüllt vom Gegenstand der Trauer. Sie weint. Sie ist weicher geworden, aber früher war sie weniger empfänglich, nachgiebig und weich als der Herrscher. Sie redet fast ausschließlich von ihrem Sohn. Von ihr habe ich verschiedene Einzelheiten gehört, die mir zum Teil schon Sdekauer berichtet hat. Die letzten Worte des Zesarewitsch waren folgende: Stopp, Maschine! Das einzige Zeichen des Bewusstseins vom nahenden Tod war der Abschied von der Umgebung am Samstag, dem 10., und die Worte zu Dr. Hartmann: ,Kümmern Sie sich um sie [die Mutter, M.B.]‘.“25 Aber wie konnte der Arzt sich um die verwaiste Mutter kümmern? Und wollte sie Anteilnahme oder Fürsorge überhaupt? „Der Tod ihres ältesten Sohnes, des Thronfolgers, dem ihre ganze Sorge gegolten hatte, gab ihr den letzten Schlag“, schreibt Olga Nikolajewna. „Von 1865 an war sie nicht mehr die Ehemalige: Jeder Klarsehende konnte bemerken, dass sie innerlich abgedankt hatte und nur mehr hinnahm, was ihr geschah. Wer möchte sagen, solches Brechen ihrer Kraft habe nur an den Umständen gelegen. Ihre Einstellung, ihre Schau der Welt, die wie bei jedem Menschen mehr oder weniger hart mit dem zusam-
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mentraf, was ihr begegnete, trug mit Schuld daran. Sie hatte ihre eigenen Ideen, ihre vorgefassten Meinungen vor allem in Dingen der Religion und des Glaubens. Wie alle Convertiten war sie eifrig bestrebt, sich an die Dogmen zu halten, und hier war der Punkt, wo sie mit Sascha disharmonierte; denn er liebte, wie Mama, das Leichte und Freudige in Dingen des Glaubens. Wenn alles aus Pflicht und nicht mehr aus Freude heraus geschieht, wie glanzlos wird dann die Welt, wie traurig und trüb!“26 Aber so sah sie jetzt aus, die Welt ihrer Schwägerin: traurig und trüb. Maria lebte nur noch „aus Pflicht“, jeden Augenblick bemüht, Haltung zu wahren, verbraucht, verhärmt, verbittert. Sie trug nur noch dunkle Kleider, zog sich immer mehr zurück und verlor sich in endlosen Gesprächen mit dem Hofgeistlichen. Ihre Hofdamen, insbesondere Anna Tjuttschewa und die neu hinzugekommene Gräfin Antonina Bludowa, die seit 1863 Kammerhofdame war und „Gendarm der Orthodoxie“ genannt wurde, trugen ihren Teil dazu bei, dass sich ihr Gatte allmählich von ihr entfernte. Die frommen Freudinnen seiner Frau gingen ihm gehörig auf die Nerven, er mied ihre Gesellschaft. Wie stark die Kaiserin nun schon dem kirchlichen Einfluss unterlag, zeigt auch eine von Minister Walujew zitierte Äußerung von ihr hinsichtlich der konfessionellen Mischehen in den überwiegend protestantischen Ostseeprovinzen mit ihrer rechtlichen Sonderstellung. Kinder aus solchen Ehen mussten, sofern ein Elternteil orthodox war, seit 1832 orthodox getauft und erzogen werden, eine Vorschrift, die aufzuheben Alexander II. im März 1965 befohlen hatte. Nun konnten die Eltern wieder selbst bestimmen, welcher Konfession ihre Kinder angehören sollten. Wenn sie in St. Petersburg gewesen wäre, zitiert Innenminister Walujew die Kaiserin, dann wäre dieses Problem nicht so gelöst worden, wie es ohne sie gelöst wurde.27 Zum Glück für den Religionsfrieden in den Ostseeprovinzen war sie in Nizza, als Alexander befahl, den Reversalzwang bei konfessionellen Mischehen aufzuheben.28 Nein, Maria Alexandrowna war keine Liberale, die Staatskirche, konservativ und allen Neuerungen abgeneigt, hatte in ihr eine gute Stütze. Am 20. Juli leistete der neue Thronfolger den Eid im Thronsaal des Winterpalastes. „Eine schwere Aufgabe ohne die nötige Vorbereitung“, kommentiert Minister Walujew skeptisch. Gottfried Willewalde, ein
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Meister des Details, der schon Niksas Eidesleistung 1859 dargestellt hatte, stellt nun auch Alexanders Schwur dar. „Einen besonderen Eindruck machte auf mich die Kaiserin während des militärischen Eides“, notiert Minister Walujew. „Sie stand allein vor dem Thron, mit dem Gesicht zu uns. Der Herrscher kam die Stufen herab und stellte sich neben den Zesarewitsch. Die Kaiserin stand reglos, hob die Augen nicht und schwankte nur leicht von der Anstrengung, bis zum Ende durchzuhalten. […] Die Seele nach innen gekehrt. Äußerlich leblos. Wenn ich sicher sein könnte, dass keinerlei Bitterkeit dabei wäre, wünschte ich, mich vor ihr zu verneigen wie vor einer Ikone. Im starken und wortlosen Leid liegen Heiligkeit und ein gebieterischer Reiz.“29 Tags darauf nahm sie am Galaessen im Winterpalast nicht teil, ein Festakt, der eigentlich keiner war, und „an dem alle irgendwie gegen ihren Willen teilnahmen. Nicht nur kein einziges fröhliches Gesicht, nicht einmal ein zufriedenes. Man beeilte sich sehr, mit dieser erzwungenen Sache fertigzuwerden. Unser Hof glänzt jetzt nicht.“30 Ende Juli ging der Hof wie jedes Jahr nach Peterhof, und natürlich konnte Maria nicht anders, als sich an den vergangenen Sommer zu erinnern. Sie lebte nun ganz in der Erinnerung. „Gerade hier, in Peterhof, feierte ich zum letzten Mal meine beiden Feste [Namens- und Geburtstag, M.B.] mit meinen 7 Kindern vereint, ein Glück, das ich nie wieder genießen sollte“, schreibt sie dem bayerischen König. „Aber noch schwerer als diese beiden Tage war für uns der, an welchem Sacha den Eid als Thronfolger leistete, denselben Eid, den unser theurer Nixa vor 6 Jahren, an seinem 16.ten Geburtstag geleistet hatte. Eine Welt von schmerzlichen Gefühlen u. Erinnerungen stiegen [sic!] in uns auf, als wir in derselben Kirche, auf derselben Stelle, für diesen, nun unseren ältesten Sohn beteten, möge Gott ihn uns erhalten u. ihn würdig seines Berufes machen! Wohl hast Du Recht, es einen schweren u. ernsten Beruf zu nennen, in dessen Erfüllung man erst recht lernt, was es heißt, auf Gott vertrauen u. ihn allein hoffen. Dennoch glaube ich, dass gerade in unserer Stellung ein steter Umgang mit den Menschen, ein Austausch der Gedanken u. Meinungen unumgänglich nothwendig ist, weil sich das Leben, von Kind auf, so verschieden von dem der anderen für uns gestaltet und so isoliert u. dadurch uns um die so nöthige Menschenkenntnis bringt. Ich fürchte bei Dir diesen Hang zur
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Einsamkeit, zur Abschließung von Welt u. Menschen, ich begreife ihn, denn er liegt in meiner Natur, alleine ich glaube, wir müssten ihn bekämpfen, so wie Gott uns gestellt hat, haben wir kein Recht dazu. Du siehst, ich benütze das Recht, das mir Dein Vertrauen anerkennt, um Dir meine Meinung frei u. offen zu sagen. Du weißt, ich thue es aus Liebe zu Dir u. im Interesse Deiner Zukunft, so wie ich sie verstehe […].“31 Die Kaiserin und der König kämpften den gleichen Kampf, sie hatte viel Verständnis für den Neffen. Im zweiten Teil ihres Briefes kündigt sie ihm das letzte Foto von Nixa sowie Fotos von sich und den anderen Kindern an. Im Juli 1865 wurde General von Schweinitz, der neue Preußische Militärbevollmächtigte, der Kaiserin in Peterhof vorgestellt. „Bei dieser Gelegenheit sah ich zum ersten Male die ganze kaiserliche Familie“, notiert Schweinitz, der bis 1869 auf seinem Posten bleiben und später als Botschafter wieder nach St. Petersburg kommen sollte. „Als die Majestäten aus der Kapelle heraustraten, gefolgt von fünf blühenden Söhnen und der eben zur Jungfrau sich entwickelnden Tochter, empfand ich den wohltuenden Eindruck, welchen die Vereinigung von Macht, Schönheit und Familienglück hervorzubringen geeignet ist. Im Nebenzimmer aber, auf einem kleinen Sofa, saß ein Mädchen voll jungfräulichen Reizes, weiß gekleidet, des Augenblicks harrend, in welchem sie den Majestäten vorgestellt werden sollte; betroffen von der zauberhaften Erscheinung fragte ich, wer das sei. Katharina Dolgoruki, antwortete man mir.“32 Der Tag, an dem die 17-jährige Schöne offiziell bei Hofe vorgestellt wurde, war ein Schicksalstag. Damit wurde das Interesse des Kaisers an der Fürstin gewissermaßen offiziös. Alexander war hingerissen. Ende des Jahres verließ Anna Tjuttschewa den Hof, um den bekannten Moskauer Slawophilen Iwan S. Aksakow zu heiraten. Sie zog nach Moskau, behielt über ihre Schwestern aber Kontakt zum Hof. Ihre Nachfolgerin sollte die schon mehrfach zitierte Alexandra („Alexandrine“) A. Tolstaja werden, eine Großtante Leo N. Tolstojs, der gerade Das Jahr 1805, den ersten Teil seines monumentalen Romans Krieg und Frieden, im Russkij Westnik veröffentlicht hatte. Am 31. Dezember 1865 a.St. brachte ein Bote der Gräfin den Ukas über ihre Ernennung zur Erzieherin der kleinen Großfürstin Maria Alexandrowna sowie die
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Chiffre der Kaiserin, eine Anstecknadel mit den Initialen der Herrscherin, in den Marienpalast gegenüber der Isaak-Kathedrale, den Nikolaus I. einst für seine älteste Tochter Maria hatte bauen lassen. Die Gräfin war mehrere Jahre Erzieherin der Kinder der Großfürstin Maria Nikolajewna und des Herzogs von Leuchtenberg gewesen und empfahl sich nicht nur durch ihre Erfahrung und ihren Namen, sondern vor allem durch ihre außergewöhnliche Allgemeinbildung und hervorragenden pädagogischen Kenntnisse. Alexandrine Tolstaja kannte und schätzte den Reformpädagogen Konstantin D. Uschinskij, und sie war auch mit den pädagogischen Schriften ihres berühmten Neffen vertraut. Nun bereitete sie sich auf den Umzug aus dem Marienpalast, in dem sie zwanzig Jahre verbracht hatte, in den Winterpalast vor, in dem sie eines der Hofdamenappartements unterm Dach beziehen sollte. Hier hatte auch Marianne de Grancy seinerzeit gelebt. Ab sofort gehörte die Gräfin zum engsten Kreis der Kaiserin, und wir können ihre „Aufzeichnungen“ als direkte Fortsetzung der „Erinnerungen“ Anna Tjuttschewas betrachten. Beide Damen sympathisierten mit den Slawophilen. Beide waren tief religiös, und beide hatten enormen Einfluss auf Maria. Tolstajas „Aufzeichnungen“ sind allerdings persönlicher, intimer, sehr moralisierend und sehr belehrend. Sie mochte und verehrte die Kaiserin, den gleichaltrigen Kaiser kannte sie seit Kindertagen, weil sie zu seinen ausgewählten Spielgefährten gehört hatte. Kurz vor ihrem Dienstantritt hatte Alexander II. bei einem Spaziergang im Sommergarten zufällig oder nicht zufällig Katharina M. Dolgorukowa wieder getroffen. Man schrieb den 24. Dezember 1865. Von nun an gingen die beiden zusammen spazieren. Die Spaziergänge blieben nicht unbemerkt, aber was sich da anbahnte, war selbst für eine so erfahrene Beobachterin wie Gräfin Tolstaja nicht gleich zu erkennen. „Fürstin Dolgorukaja erschien nur sehr selten bei Hofe, nur aus Anlass großer Aufzüge und Hofbälle, deshalb war es schwer, etwas zu bemerken“, schreibt sie. „Aber ich bemerkte den Beginn einer neuen Leidenschaft sofort. Da der Herrscher ein Gefährte meiner Kindheit war, kannte ich ihn auswendig [Hervorhebung im Urtext, M.B.], wenn man sich so ausdrücken kann, und maß seinen Sympathiekundgebungen keinerlei Bedeutung bei, weil ich annahm, dass sich alles wie
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gewöhnlich auf einen unbedeutenden Flirt beschränkt. Wenn der Großfürst (und künftige Kaiser) verliebt war, konnte er das nicht verbergen, und seine Unvernunft zeugte von seiner großen Unschuld. Ich hatte nicht in Betracht gezogen, dass sein fortgeschrittenes Alter die Gefahr vergrößerte […], aber mehr als alles andere bedachte ich nicht, dass dieses Mädchen, auf das er seinen Blick gerichtet hatte, von ganz anderem Kaliber war als die, für die er sich früher begeisterte. Sie kam aus einer Familie, deren Mitglieder solche Begriffe wie Sittlichkeit und Ehre wenig schätzten.“33 Möglicherweise hat auch die Trauer um Nixa die kaiserliche Familie, insbesondere die älteren Söhne, daran gehindert, sofort „etwas zu bemerken“. Alexander, der neue Thronfolger, war außerdem vollauf damit beschäftigt, in seine schwierige Rolle hineinzuwachsen, die ihn überforderte, und Maria Meschtscherskaja, seine erste große Liebe, zu vergessen, die sein Vater nach Frankreich geschickt hatte, wo sie gegen ihren Willen verheiratet wurde und schon 1868 im Kindbett starb. „Saschka“ hatte sich immer zurückgesetzt gefühlt, sich aber damit abgefunden, weil er seinen Bruder, um den sich immer alles gedreht hatte, über alles liebte. Nun sollte er Dagmar, seine Braut, „übernehmen“. Man kann sich leicht vorstellen, wie unglücklich der junge Mann war. Aber er kannte seine Pflicht … Leider wissen wir kaum etwas über das Verhältnis Marias zu ihrem zweiten Sohn, der sich nur mühsam an seine neue Rolle gewöhnte. Hat sie sich eingestanden, dass sie den Älteren mehr liebte, hat sie sich gefragt, warum Nixa sterben musste und nicht Saschka? Umgekehrt besitzen wir ein eindrucksvolles Zeugnis der Liebe und Verehrung, die Alexander Alexandrowitsch seiner Mutter entgegenbrachte. „Was an Liebe, Güte und Ehre in mir ist, verdanke ich einzig und allein unserer teuren lieben Mama“, schreibt Alexander III., der Sohn, den sie angeblich nicht mochte, kurz nach dem Tod seiner Eltern an seine Frau. „Keiner der Erzieher hat auf mich Einfluss ausgeübt, keinen von ihnen habe ich geliebt […], nichts konnten sie mir vermitteln, ich habe ihnen nicht zugehört und ihnen keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt, sie waren für mich einfach Marionetten – Mama hat sich ständig mit uns beschäftigt, auf die Beichte und das Fasten vorbereitet, durch ihr Beispiel und tiefen christlichen Glauben lehrte
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sie uns, den christlichen Glauben, wie sie ihn selbst verstanden hat, zu lieben und zu verstehen. Dank Mama wurden und bleiben ich, meine Brüder und Maria wahre Christen und liebten den Glauben und die Kirche. – Wieviel sehr unterschiedliche und tiefgründige Gespräche haben wir geführt; Mama hat immer geduldig zugehört, ließ uns Zeit, alles zu sagen, und fand immer eine Antwort, um zu beruhigen, zu tadeln oder zu loben, und immer aus erhabener christlicher Sicht. Außer Mama blieb mir nur mein lieber Bruder und Freund Niksa in unvergesslicher ewiger Erinnerung und hatte Einfluss auf mein Leben und meinen Charakter, alles andere huschte vor meinen Augen und an meinem Verstand vorbei, und nichts konnte meine Aufmerksamkeit erwecken. Papa haben wir sehr geliebt und verehrt, doch er konnte sich aufgrund seiner Aufgaben und der vielen Arbeit nicht so intensiv mit uns beschäftigen wie die liebe und teure Mama. Ich wiederhole nochmals – alles, alles verdanke ich Mama, sowohl meinen Charakter als auch alles andere! Und nie hatte jemand Einfluss auf mich außer zwei teuren Wesen – Mama und Niksa.“34 Wir können diesem Brief entnehmen, dass Alexander III. seine Religiosität und seine ultrakonservative Weltsicht vor allem seiner Mutter verdankte. Seinen Vater hat er sicher geliebt und respektiert, doch die beiden sprachen politisch nicht dieselbe Sprache. Der „Zar-Befreier“ wusste, dass dieser Sohn sein Reformwerk nicht fortsetzen würde, und die Kaiserin wusste es auch.
10 „Mir ist eben ein Unfall passiert“ Attentate und Kriege Kriegsgefahr – Erstes Attentat auf Alexander II. – Silberhochzeit – Abkehr von den Reformen – „Volksfreunde“ – Deutscher Krieg – Beginn der Liaison mit der Dolgorukowa – Ankunft Dagmars in St. Petersburg – Hochzeit des Thronfolgers – Tschaikowskijs Fest ouvertüre – Pariser Weltausstellung (1867) – Zweites Attentat auf Alexander – Mark Twain in Livadia – Kissingen – Seefest in Berg – Oskar Maria Graf – Deutsch-französischer Krieg – Reichsgründung 1866–1871
Der Jahresbeginn 1866 stand ganz im Zeichen des sich anbahnenden Deutschen Krieges, des Krieges zwischen Preußen sowie seinen norddeutschen Verbündeten und den Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes unter Führung Österreichs um die Vorherrschaft in Deutschland. Natürlich war Maria gegen einen Krieg, weil sie sich um Hessen, Württemberg und Bayern sorgte, Staaten, in denen Verwandte regierten: ihr Bruder Ludwig in Hessen, ihre Schwägerin Olga Nikolajewna in Württemberg, ihr Neffe Ludwig in Bayern, und im Falle eines preußischen Sieges mussten viele deutsche Kleinstaaten um ihre Existenz fürchten. Außerdem war Alexander von Hessen immer noch General in österreichischen Diensten. „Jetzt ist alles von der Lebensfrage für Deutschland, Bruderkrieg oder demokratisches Parlament, absorbiert, dessen Zweck wohl die allmähliche Mediatisierung der Klein- und Mittelstaaten sein soll“, schreibt ihm seine Schwester. „Olli [Olga von Württemberg, M.B.] ist sehr bekümmert und hat, was sie ein ,inneres Zittern‘ nennt … Der Kern der Situation ist natürlich Bismarck, die einen sagen, wenn er ausscheidet, gibt es keinen Krieg, die anderen fürchten nach ihm ein komplett demokratisches Ministerium. Deutschland gegenüber scheint
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es mir, dass ein selbst sehr fortgeschrittenes Ministerium nicht mehr Demokratie machen könnte, als Bismarck dies besorgt, der angeblich das konservative Prinzip vertritt. Ich hab ihn, soviel ich konnte, verteidigt, solange ich über ihn eine Illusion bewahren konnte. Jetzt ist es aber aus. Redern [der neue preußische Gesandte in St. Petersburg, M.B.] reißt sich alle Haare aus, wie alle vernünftigen Preußen, er aber doppelt, denn er hat zwei Töchter in Österreich verheiratet.“1 Der Brief hat den Adressaten noch nicht erreicht, da schießt, am 4./16. April 1866, der Moskauer Student Dmitrij Karakosow auf den Kaiser, als er den Sommergarten nach einem Spaziergang verlassen will. Alexander kommt mit dem Schrecken davon, der Attentäter wird noch am Tatort festgenommen. Erst als Generäle, Gardeoffiziere und hohe Beamte im Palast eintreffen, um ihm zu gratulieren, informiert er seine Frau: „Il vient de m’arriver un accident“, sagt er auf Französisch zu ihr. „Ich hatte eben einen Unfall.“ Und sie antwortet: „Un attentat.“ – „Ein Attentat.“ Dann begab sich die kaiserliche Familie zu einem Dankgottesdienst in die Kasaner Kathedrale.2 In einer handschrift lichen Proklamation an die „Arbeiterfreunde“ hatte Karakosow das Volk zur Revolution aufgerufen. Er gehörte zwar einem der vielen geheimen Zirkel an, die in den Universitätsstädten entstanden waren, war aber allein nach St. Petersburg gekommen, um den Kaiser zu töten. Statt der Revolution löste das Attentat weitere Repressalien aus. Glückwünsche kamen aus dem ganzen Land, die Menschen schickten Kreuze und Heiligenbilder, Alexander war gerührt. „Es ist den demütigen und reinen Seelen wie der seinen nicht gegeben“, schreibt Maria ihrem Bruder, „dies als Triumph zu fühlen, wie er einen solchen nicht zu verdienen behauptet. ‚Was habe ich für sie getan‘, wiederholte er immer wieder, ‚dass sie mich so sehr lieben? Ich konnte ja noch nichts für sie tun.‘“3 So war es. Er hatte viel, doch längst nicht genug getan. Am 28. April 1866 – das Trauerjahr für Nikolaus Alexandrowitsch war gerade zu Ende – waren sie 25 Jahre verheiratet, und der Tag war ein offizieller Feiertag, an dem Hunderte in den Palast strömten, um dem Herrscherpaar ihre untertänigsten Glückwünsche zu überbringen. Auch Amalia Jakowlewa-Utermark, die ehemalige Kammerjungfer, kam, um dem Paar zu „diesen glücklichen 25 Jahren“ zu gratulie-
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ren. „Ja, ich habe viel Kummer, aber auch viel Segen gehabt!“, antwortet ihr die Kaiserin auf Deutsch.4 Amalia wundert sich, dass das Geschenk des Kaisers nur aus „einem Paar Brillant-Manschettenknöpfen und noch zwei, drei Kleinigkeiten“ bestand, „während der Herrscher Nikolaus Pawlowitsch der Herrscherin Alexandra Fjodorowna zur Silberhochzeit ein Brillantarmband mit sieben großen birnenförmigen Anhängern* schenkte“,5 für jedes Kind einen. „Die Kaiserin Maria Alexandrowna hatte eine riesige Menge Juwelen, die sie selten anlegte. Sie lehnte seit langem teure Geschenke ab und nahm sie vom Herrscher lieber in Form von Geld an; viele goldene und wertvolle Sachen verwandelte sie in Geld; in Kriegszeiten lehnte sie es sogar ab, sich neue Kleider nähen zu lassen, und alle diese Ersparnisse gab sie zugunsten der Witwen, Waisen, Verwundeten und Kranken her.“6 Was mag der Kaiserin an ihrem 25. Hochzeitstag durch den Kopf gegangen sein? „Die letzten drei Wochen waren in jeder Hinsicht tief erschütternd für unsere Gemüther, allein die Gnade Gottes war so sichtbar mit uns, dass die Dankbarkeit alle anderen Gefühle zum Schweigen brachte“, schreibt sie dem bayerischen König. „Dankbarkeit für die wunderbare Erhaltung des Kaisers u. für den Trost, den ihm die allgemeine echte Liebe seines Volkes gewährte, die niemals in einem solchen Ausbruch von Begeisterung sich kund gethan hatte. Auch am Tage unserer silbernen Hochzeit, trotz der Thränen, die wir dem Andenken unseres theuren Entschlafenen widmeten, konnten wir Gott nicht genug danken, für den reichen Segen dieser 25 Jahre, in Liebe und Friede verlebt. Aber nach allen diesen Anstrengungen fühlte ich mich angegriffen u. der Ruhe sehr bedürftig, die ich denn auch hier in Zarskoje Selo gefunden habe. Mit bekümmertem Herzen verfolgen wir den Gang der Geschäfte in Deutschland, möge Gott es vor dem Greuel eines Bruderkrieges bewahren! u. [mögen] die Versuche der Großmächte, den Frieden noch zu erhalten, nicht vergeblich sein. Welche Verblendung Preußens (um nicht Schlimmeres zu sagen), Deutschland in solch Verderben stürzen zu wollen. – Wie geht es mit Deiner Gesundheit? bist Du auf dem Lande?“7 * Es waren sieben bunte Edelsteinherzen, das Armband erhielt Alexandra von ihren Kindern, von ihrem Mann bekam sie „ein Halsband mit 25 auserlesenen Brillanten“.
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Doch es ging um die Vormacht in Deutschland und letztlich um die deutsche Einigung, und dieses Problem war nicht anders als durch einen Krieg zu lösen. „Trotz der drohenden Gefahr kann ich dennoch nicht glauben, dass es zum Ausbruch kommt, so sehr scheint es mir ein Selbstmord Deutschlands zu sein!“8 Es kam zum Ausbruch. Während die deutschen Staaten mobil machten, reiste Alexander Alexandrowitsch, der neue Zesarewitsch, an Bord der kaiserlichen Yacht Standart nach Kopenhagen, um der Prinzessin Dagmar einen Antrag zu machen. Seine Eltern wünschten die Verbindung mit Dagmar von Dänemark, und er war ein gehorsamer Sohn. Womöglich ist es ihm unter den neuen Umständen leichter gefallen, die Fürstin Maria Meschtscherskaja zu vergessen. Außerdem folgte er dem letzten Wunsch seines verstorbenen Bruders. Auch das dänische Königshaus war nach der Niederlage gegen Preußen und Österreich im Krieg um die Herzogtümer Schleswig und Holstein 1864 lebhaft an der Verbindung mit dem Haus Romanow interessiert. Doch erst neun Tage nach seiner Ankunft erklärte sich Alexander Alexandrowitsch der Prinzessin, die er auch „Minnie“ nannte. Auf seine Frage, ob sie nach Nixa noch einmal lieben könne, antwortete sie: „Nein, niemanden, nur seinen geliebten Bruder.“ Das gemeinsame Leid, die Trauer um den Bruder und den Bräutigam, aber auch die bittere Erfahrung einer unerfüllten Liebe mag den beiden geholfen haben, zueinander zu finden. Sie nahm an. Die Verlobung fand Ende Juni in Kopenhagen statt. Im Herbst sollte Minnie nach St. Petersburg kommen. Das war erfreulich. Weniger erfreulich war die politische Kehrtwende, die A lexander II. nach dem Attentat vollzog. Der Schuss im Sommergarten war der Startschuss für die Abkehr von weiteren Reformen. Alexander wandte sich wieder den „Retrograden“ zu. Hatten sie nicht doch Recht, als sie davor warnten, die Zügel zu lockern? Wir können annehmen, dass seine Frau mit ihm zweifelte. Maria hatte sich zwar für die Aufhebung der Leibeigenschaft eingesetzt, aber politische Neuerungen, gar eine Verfassung, lehnte sie unter dem Einfluss ihrer kirchlichen Ratgeber und der Damen ihrer Umgebung ab.9 „Nach Karakosovs Attentat auf Alexander II. im April 1866 war die Staatspolizei allmächtig geworden“, schreibt Peter Kropotkin. „Wer nur ,radikaler Gesinnung‘ verdächtig war, ganz gleich, was er getan
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oder nicht getan hatte, musste jeden Augenblick gewärtig sein, wegen der Sympathie, die er vielleicht einem in politische Umtriebe Ver wickelten erwiesen hatte, oder wegen eines harmlosen, bei mitternächtlicher Haussuchung aufgegriffenen Briefes oder einfach wegen ‚gefährlicher‘ Ansichten verhaftet zu werden; und Verhaftung aus politischen Gründen konnte alles mögliche bedeuten: jahrelange Haft in der Peter-Paul-Festung, Verschickung nach Sibirien, ja sogar Folterung in den Kasematten der Festung.“10 Man hätte denken können, die schlimmsten Zeiten Nikolaus’ I., der 1849 die Scheinhinrichtung Dostojewskijs angeordnet hatte, seien wiedergekehrt. Russland war wieder ein Überwachungsstaat geworden. Aber da entwickelte sich noch etwas anderes, wie Peter Kropotkin weiter schreibt: „Mit Erstaunen erfuhr ganz Russland aus der Anklageschrift gegen Karakosov und seine Freunde, dass diese jungen Männer, die über ein beträchtliches Vermögen verfügten, zu dreien oder vieren in einem Zimmer wohnten, mit je zehn Rubeln monatlich ihren ganzen Lebensunterhalt bestritten und dabei ihr Vermögen für kooperative Genossenschaften, kooperative Werkstätten, in denen sie selbst mitarbeiteten, und dergleichen hergaben. Fünf Jahre später taten Tausende und aber Tausende, und zwar die Auserlesensten der russischen Jugend, das gleiche. Ihre Losung war: ‚V narod!‘ [Ins Volk! M.B.]. Während der Jahre 1860 bis 1865 fand fast in jeder reichen Familie ein erbitterter Kampf statt zwischen den Vätern, die die alten Traditionen aufrechterhalten wollten, und den Söhnen und Töchtern, die für das Recht stritten, ihr Leben nach ihren eigenen Idealen einrichten zu dürfen. Vom Dienst im Heer, vom Ladentisch, von der Werkstätte strömten die jungen Männer nach den Universitätsstädten. Mädchen aus den vornehmsten Häusern eilten ohne einen Pfennig nach Petersburg, Moskau und Kiew, voll eifrigen Verlangens, etwas zu erlernen, das sie vom häuslichen Joch und vielleicht auch von dem drohenden Ehejoche frei machen könnte. Nach hartem und erbittertem Kampfe errangen auch viele diese persönliche Freiheit. Nun wollten sie sie aber nützlich anwenden, nicht zu eigenem, persönlichem Gewinn, sondern um dem Volke das Wissen, das sie selbst frei gemacht hatte, zu übermitteln. In jeder russischen Stadt, in jedem Viertel Petersburgs bildeten sich kleine Gruppen zum Zwecke der Selbstbildung und des Selbstunterrichts. Man las in diesen Kreisen mit großer
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Aufmerksamkeit philosophische und volkswirtschaftliche Werke […], und an das Lesen schlossen sich endlose Besprechungen, deren Ziel die Lösung der großen, ihnen immer vor Augen schwebenden Frage war: ‚Wie können wir uns der großen Masse nützlich machen?‘“11 Das einzige Mittel schien zu sein, sich inmitten des Volkes niederzulassen und an seinem Leben teilzunehmen, es lesen und schreiben zu lehren, kurzum: es aufzuklären. Mit diesem Ziel gingen die jungen Idealisten „ins Volk (V narod)“, als Lehrer und Dorfschreiber, Ärzte und Feldscher, Hebammen und Pflegerinnen, aber auch als einfache Arbeiter. Sie nannten sich „Narodniki“, „Volksfreunde“, wurden vom Volk aber nicht verstanden. Das Volk begriff nicht, was die jungen Leute aus den Städten von ihm wollten. Als im „verrückten Sommer“ 1873 die zweite Welle dieser Bewegung einsetzte, hatten viele Geduld und Illusionen verloren und radikalisierten sich. Das war Mitte der 1860er Jahre nicht abzusehen. Im Sommer 1866 verabredete sich der Kaiser mit seiner jungen Freundin in Peterhof, wo er wie gewöhnlich am 1./13. Juli den Geburtstag seiner Mutter und den Hochzeitstag seiner Eltern feierte. An diesem Tag hatte er ein Rendezvous mit Katja Dolgorukowa im Pavillon Belvedere auf dem Babigon, drei Werst vom Großen Palast. „Das Bauwerk liegt auf einem Hügel und übersieht das weite Panorama bis zum zehn Meilen entfernten Meer“, beschreibt Alexandre Dumas den Ort. „Hier hat Kaiser Nikolaus I. noch vor wenigen Jahren als einfacher Soldat mit der Kaiserin und den Großfürstinnen in bäuerlicher Tracht öfter Tee getrunken – eine weitere Nachahmung des kleinen Trianon von Paris. Man hat von dort eine seltene Aussicht: auf […] die ferne Küste Finnlands, die Kuppeln von St. Petersburg, gegenüber den neuen Peterhof und weiterhin einen Platz, der mit echten Ruinen aus Griechenland besät ist, die der griechische König dem Zaren geschenkt und zu Schiff übersandt hat.“12 Man kann sich die traumhafte Atmosphäre der ausgehenden „weißen Nächte“ an diesem Ort gut vorstellen. Sie mag dazu beigetragen haben, dass Katja Dolgorukowa an diesem Abend nachgab. Nach dem Attentat kam ihr weitere Zurückhaltung kindisch vor, und der Kaiser war ein erfahrener Liebhaber. Am anderen Morgen wusste es die ganze Stadt: „Das Schaf ist erlegt.“13
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Vor Gott sei sie nun seine Frau, hatte er ihr erklärt und ihr geschworen, dass er sie heiraten werde, sobald er frei sei. Von nun an trafen oder schrieben sie sich täglich. Später kam sie dann regelmäßig durch eine Geheimtür zu ihm in den Winterpalast; und auch davon sprach bald die ganze Stadt. Wie Maria von der Geschichte erfuhr, wissen wir nicht genau. Jedenfalls war sie die Letzte, die davon erfuhr, und musste auch noch hinnehmen, dass ihr Mann seine Geliebte zur Hofdame ernannte. Allerdings übte sie ihren Dienst nicht aus, Maria ertrug ihre Anwesenheit nicht. „Die verlassene Zarin, hochfahrend und trocken, nahm die Referenzen ihrer jungen Rivalin mit ihrem kältesten Lächeln entgegen“, schreibt Maurice Paléologue in seinem (dokumentarischen) Roman Le roman tragique de l’empereur Alexandre II. „Übrigens hat sie sich in dem neuen Verrat ihres Gatten geirrt; sie sah darin nur ein banales Abenteuer, dessen er schnell müde werden würde, wie der vorhergehenden. Aber konnte sie denn anders urteilen?“14 Wie sich bald zeigen sollte, war es mehr als ein banales Abenteuer. Es war eine große Liebe, die beide gleichermaßen viele Jahre in Bann hielt. Viele Zeugnisse besagen, dass die Dolgorukowa zwar eine Schönheit, aber keine Persönlichkeit war. Manche nennen sie vulgär. „Katharina Dolgorukij war geistig nicht bedeutend, aber gerade ihre ,Simplicité‘, ihre kindliche Naivität, hatten nach der Ansicht der Welt den Kaiser in dem raffinierten Petersburger Milieu erst bezaubert, dann dauernd gefesselt. Es stand außer Zweifel, dass Alexander II. für alles, was seine junge Geliebte betraf, empfindlicher war als für seine eigene Person“, beobachtet Bernhard von Bülow noch zehn Jahre später, als die beiden bereits zwei Kinder miteinander hatten.15 Und wann immer Angehörige der großen Gesellschaft oder hohe Würdenträger sich kritisch über die Dolgorukowa äußerten, bekamen sie den Zorn des Herrschers zu spüren. Er liebte „Catiche“ abgöttisch, klärte sie auch politisch auf und hörte bald auf ihren Rat. In Marias Briefen an ihren „lieben Alex“ kommt die Liaison des Kaisers nicht vor. Sie hat sie all die Jahre bis zu ihrem Tod nicht ein einziges Mal erwähnt. Als die Affäre ernst wurde, im Sommer 1866, waren der Deutsche Krieg und das Schicksal ihrer Verwandten in Hessen und Württemberg allemal wichtiger. Die Kriegshandlungen hatten Ende Juni begonnen.
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„Du kannst Dir denken, wie mir zumute ist, uns, kann ich sagen!“, schreibt sie Alex. „Ich habe keine anderen Gedanken als Ihr, was in Euch vorgehen muss, wie sich die Zukunft, die nächste, für Euch gestalten wird. Wie schrecklich ich Deine Lage fand, kann ich nicht sagen, seit dem Krimkrieg war ich nie in einer solchen fieberhaften Spannung, und zwar so sehr, dass ich merklich abgemagert bin, zum Kummer des Leibarztes Hartmann, der allein deswegen die Preußen noch mehr hasst. Im allgemeinen sehe ich Gott sei Dank keine Sympathie für sie. […] Der Wahnsinn Bismarcks greift uns direkt noch nicht an, im Gegenteil, er sucht uns zu gewinnen, aber der Kaiser war über ihre revolutionären Proklamationen so empört, dass er Bismarck seine Meinung darüber deutlich aussprechen ließ. […] Jetzt fragt man sich, was kann man für Deutschlands Zukunft hoffen? Für uns im Gegenteil ist es sehr wichtig, Preußen nicht allmächtig zu sehen, und man möchte meinen, dass dies auch für Frankreich der Fall ist. Wenigstens spricht Napoleon dies in einem Brief an den Kaiser aus … “16 Der zitierte Brief ist insofern erwähnenswert, als er belegt, dass Maria nicht nur bestens informiert war, sondern auch Einblick in die politische Korrespondenz des Kaisers hatte, und sicher haben die beiden über vieles miteinander gesprochen, auch wenn sie nicht mehr als „Beraterin“ in Erscheinung trat wie zu Beginn seiner Herrschaft. „Ich glaube, dass der König und besonders Bismarck Hessen sowie Württemberg zu schonen wünschen, um uns nicht direkt vor den Kopf zu schlagen“, schreibt sie Alex. „Was die anderen Unglücklichen betrifft, ist es unmöglich, etwas zu erreichen, ihre Annexion ist, hélas, gestern beschlossen worden.“17 Im August beendeten die Friedensverträge von Prag und Wien den kurzen Krieg. Preußen annektierte die Herzogtümer Schleswig und Holstein, das Königreich Hannover, das Herzogtum Nassau, das Kurfürstentum Hessen und die Freie Stadt Frankfurt. Dank russischer Fürsprache musste das Großherzogtum drei Millionen Gulden Kriegsentschädigung zahlen und nur die ehemalige Landgrafschaft Hessen-Homburg und Teile des Hessischen Hinterlandes an Preußen abtreten. Auch Bayern kam gegen Zahlung einer Kriegsentschädigung mit einer kleinen Grenzkorrektur davon. An die Stelle des Deutschen Bundes trat der preußisch geführte Nord-
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deutsche Bund, ein Bundesstaat, dem das Großherzogtum mit seiner Provinz Oberhessen beitrat. Das Kaiserpaar aber war hinsichtlich der Entwicklung in Deutschland nicht einer Meinung. Alexander II. war auf Seiten der Sieger und erklärte, sein innigster Wunsch sei, dass Preußen und Russland auch in Zukunft „treue Verbündete“ bleiben. Maria aber konnte sich gar nicht genug über ihren Neffen Heinrich aufregen, den Sohn Karls, der „im Dienste Bismarcks“ geblieben war und sich in preußischer Uniform in Darmstadt sehen ließ.18 Alexander von Hessen, der das 8. Bundeskorps in Westdeutschland kommandiert hatte, fühlte sich nun als „hessischer Preuße zweiter Klasse“. Er musste umdenken, den wachsenden Einfluss Preußens in Hessen und die Vorherrschaft Preußens in Deutschland hinnehmen. Am 3./15. September 1866 wurde Dmitrij Karakosow, der Atten täter, auf dem Smolensker Feld der Wassilij-Insel gehängt. Ende des Monats traf Dagmar von Dänemark an Bord des Kriegsschiffes Schleswig in Kronstadt ein. In der Menge, die das Schiff am 22. September im Kopenhagener Hafen verabschiedet hatte, befand sich auch Hans Christian Andersen, der Dagmar und ihren Schwestern gelegentlich Märchen erzählt hatte, als sie Kinder waren. „Als sie am Kai an mir vorbei ging, blieb sie stehen und drückte meine Hand“, trägt er in sein Tagebuch ein. „Meine Augen waren voller Tränen.“ Und einer Freundin schreibt er: „Armes Kind. O Gott, sei lieb und gnädig zu ihr. Man sagt, dass der Petersburger Hof glänzend und die Zarenfamilie nett ist; doch sie bricht in ein unbekanntes Land auf, wo die Menschen anders sind und die Religion anders ist und wo sie niemanden von ihren früheren Bekannten an ihrer Seite hat.“19 Doch die zukünftigen Schwiegereltern kannte Dagmar bereits aus Nizza, sie waren ihr vertraut. Die kaiserliche Familie war ihr bis Kronstadt, wo die Schiffe aus Europa anlegten, entgegen gekommen und hatte sie beim Einzug in Petersburg begleitet, wo sie von einer großen Menschenmenge begeistert begrüßt wurde. Ihre erste öffentliche Handlung war der Besuch der Peter-und-Paul-Kathedrale, wo sie einen Kranz auf dem weißen Marmorsarkophag Nixas niederlegte. Dann begann die „glückliche DagmarWoche“ (Tjuttschew), in deren Verlauf die kleine Minnie den Hof und die Stadt im Sturm eroberte. Im Oktober trat sie zur russischen
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orthodoxen Kirche über und erhielt den Namen Maria Fjodorowna. Zur Hochzeit am 28. Okt./9. Nov. 1866 komponierte der junge Peter I. Tschaikowskij die Festouvertüre über die dänische Nationalhymne, op. 15. Dafür erhielt er vom Bräutigam ein Paar mit Edelsteinen verzierte goldene Manschettenknöpfe, die er sofort verkaufte, um mit dem Erlös seine Schulden zu bezahlen. So begann Tschaikowskijs Karriere. Wie üblich war auch diese Hochzeit ein unerhört prunkvolles Ereignis, und Mihály Zichy hat auch diese Trauung in der Großen Palastkirche dargestellt. Die Neuvermählten bezogen den Anitschkow-Palast am Newskij Prospekt. All das hatte Maria vor 25 Jahren auch so erlebt. Wie glücklich waren sie gewesen, sie und Sascha, und was war davon geblieben? Fade Komplimente ihres Mannes, der ihr beim Morgentee einen Kuss gab, sie nach den Kindern fragte und ihr sagte, wie gut sie aussehe. Einmal antwortete sie: „Ich bin jetzt nur noch für ein Anatomietheater schön, als Lehrskelett, bedeckt mit einer dicken Schicht Schminke und Puder.“20 Die Hochzeit ihres zweiten Sohnes erinnerte sie natürlich wieder an ihren geliebten Nixa, Dagmars ersten Bräutigam. „Ich kann Gott nur danken für den Trost, den er mir durch diese neue Tochter gespendet hat, u. wünsche Dir einstens eine ähnliche Frau“, schreibt sie Ludwig II. „Du hast mich einst ‚Mutter‘ genannt u. mir dadurch Rechte gegeben auf Dein Herz, Dein Vertrauen, in deren Namen ich Dich beschwöre, Alles aufzubieten, um das monarchische Prinzip u. die Liebe zur Dynastie, die Gott sei Dank noch so lebhaft ist, in den Herzen der Bayern aufrecht zu erhalten u. wo möglich zu vermehren. […] Verzeih, dass ich diesen Sommer Deinen Brief nicht beantwortete, allein gleich darauf kam zu meiner gr. Freude für Bayern ein günstigerer Friedensschluss, als man hätte hoffen dürfen: wie freute ich mich auch, dass Kissingen bayerisch blieb, wie ungern wäre ich anders wieder hingegangen, jetzt hoffe ich Dich einstens dort wiederzufinden.“21 Da der Thronfolger nun verheiratet war, wurde seine weitere Ausbildung nicht mehr so ernst genommen, wie es nötig gewesen wäre, um ihn auf sein schweres Amt vorzubereiten. Das geschah nur noch notdürftig, und die Kreise, in denen er verkehrte, waren nicht die Kreise, die Nixa bevorzugt hatte. Es waren die Retrograden, deren Gesellschaft Alexander vorzog und die sich im Anitschkow um ihn sammelten. Und
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was Marias Verhältnis zu Dagmar angeht, so war sie womöglich gar nicht so froh über diese „neue Tochter“, wie sie Ludwig II. schrieb. Jedenfalls wollen viele Zeitgenossen beobachtet haben, dass sie Dagmar gegenüber bewusst zurückhaltend war, als werfe sie ihr Verrat an ihrem verstorbenen Liebling vor.22 In die Chronologie unserer Erzählung gehört nun die Tatsache, dass Fjodor Tjuttschew Ende des Jahres seinen berühmtesten Vierzeiler dichtete, angeblich als Reaktion auf die vielen Fragen zu Russland, die Maria Alexandrowna ihm stellte. Verstand wird Russland nie verstehn, Gemeines Maß will auch nichts taugen: Es hat ein sonderbares Wesen – An Russland kann man einzig glauben. 28. November 1866
Wir können annehmen, dass die Kaiserin an Russland glaubte. Anfang 1867 wurde in St. Petersburg so viel über die Affäre des Kaisers mit der Dolgorukowa geredet, dass ihre Familie beschloss, sie mit ihrer italienischen Schwägerin für eine Weile nach Neapel zu schicken. So würde Gras über die Affäre wachsen. Katja schrieb ihrem Geliebten einen Abschiedsbrief und fuhr los. Alexander aber wurde ersatzweise ihre jüngere Schwester Maria „zugeführt“, die ihn jedoch nicht interessierte. Er konnte nicht mehr ohne Katja leben. Und während Maria sich auf die Krim freute, plante Alexander eine ganz andere Reise. „Die Herrscherin und Kaiserin ist offenbar bei bester Gesundheit und in guter Stimmung. Sie reist Ende Juni auf die Krim über Tambow und Woronesh“, trägt Minister Walujew im Mai in sein Tagebuch ein.23 Alexander aber wollte einer Einladung Napoleons III. zur Weltausstellung in Paris folgen. Der Kaiser der Franzosen hatte 80 Souveräne, Hoheiten und Regierungschefs eingeladen, und nur Papst Pius IX. und Queen Victoria hatten abgesagt.24 Maria flehte ihren Mann geradezu an, nicht zu fahren, da Paris voller Polen sei, die ihm die Niederschlagung des Aufstandes nicht verziehen hätten und sich rächen könnten. Er fuhr trotzdem, aber nicht wegen der Weltausstellung, sondern wegen Katja, die aus Neapel nach Paris kommen sollte.
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Seine älteren Söhne Alexander und Wladimir begleiteten ihn. Die Drei fuhren am 28. Mai los und kamen am 1. Juni in Paris an. Dort bezogen sie dieselben Räume im Elysée-Palast, in denen 1814 Alexander I. nach der Niederlage Napoleons und dem Einzug der Verbündeten in Paris gewohnt hatte. Tags darauf begann eine Geschichte, die Alexandre Dumas nicht besser hätte erfinden können und die Alexandra Tolstaja in ihren „Aufzeichnungen“ überliefert. Sie war gut bekannt mit Graf Peter A. Schuwalow, dem Chef der Dritten Abteilung, der ihr en detail berichtete, was er in Paris mit dem Kaiser erlebt hatte.25 Schuwalow zufolge hatte sich Alexander gleich am ersten Abend in der Opéra comique so gelangweilt, dass er die Vorstellung vorzeitig verließ. Darauf verließ auch sein Gefolge die Oper und kehrte mit ihm in den Elysée zurück, froh, dass der Tag zu Ende war. Doch um Mitternacht klopfte der Kaiser plötzlich an der Tür seines alten Hofministers Graf Adlerberg und erklärte ihm, dass er spazieren gehen wolle, aber ohne Begleitung. Dann bat er um „etwas Geld“. Auf die Frage, wieviel er denn brauche, antwortet der Kaiser: „Ich weiß nicht, vielleicht 100 000 Francs?“ Eine riesige Summe. Adlerberg meldete diesen „seltsamen Vorfall“ sogleich dem Grafen Schuwalow, dessen Agenten dem Kaiser normalerweise folgten, wohin er sich auch begab. An diesem Abend hatten sie sich hingelegt, und auch Schuwalow kehrte im Vertrauen auf die französische Polizei in sein Zimmer zurück. Erst als die Uhr eins schlug, dann zwei und der Kaiser immer noch nicht zurück war, wurde er unruhig. Hatte die französische Polizei, die ihm diskret von weitem folgen sollte, ihn womöglich aus den Augen verloren? Hatte er sich in der großen fremden Stadt verlaufen? Die Vorstellung, dass der Kaiser von Russland mit 100 000 Francs in der Tasche allein in Paris herumirrte, war ein Alptraum für den Chef seiner Geheimpolizei. Der Gedanke, dass Seine Majestät bei jemandem zu Besuch sein könnte, kam ihm nicht. Gegen 3 Uhr tauchte der Kaiser endlich wieder auf, und alle fragten sich, was in dieser Nacht mit ihm geschehen war. Der Herrscher hatte einen Fiaker angehalten und dem Kutscher im Schein einer Straßenlaterne eine Adresse vorgelesen, worauf dieser ihn in die nahe Rue Basse-duRempart brachte. Nachdem er etwa 20 Minuten vergeblich versucht hatte, das Tor des gesuchten Hauses zu öffnen – er wusste nicht, dass
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er an der Schnur rechts an der Wand ziehen musste – näherte sich wie zufällig einer der französischen Agenten, der verstanden hatte, wo das Problem lag, zog an der Schnur, öffnete das Tor und ging, ohne ihn zu beachten, am Kaiser vorbei in den Hof. So gelangte auch Alexander hinein. Aber der Kutscher hatte sich in der Hausnummer geirrt. Alexander lief also noch ein paar Schritte weiter und gelangte pro blemlos ins richtige Haus. Und während der Chef seines Geheimdienstes vor Angst um ihn schlotterte, trank er Tee bei seiner Geliebten. An den folgenden Abenden schlich sich Katharina Dolgorukowa durch die Rue Gabriel und die Avenue Marigny heimlich zu ihm in den Elysée-Palast. Endlich war auch dem Grafen Schuwalow, von dem die Tolstaja sagt, dass er „nicht naiv“ war und alle Möglichkeiten der Überwachung hatte, der wahre Grund für die Reise des Herrschers zur Weltaustellung klar. Es dauerte nicht lange, und ganz Paris sprach über die pikante Geschichte, obwohl Katja diskret war und sich nicht in der Öffentlichkeit zeigte. Auch in London wurde schnell bekannt, was der Kaiser von Russland in Paris anstellte. Der Prince of Wales hätte ihn gern nach London eingeladen, auch der Premierminister, doch für die sittenstrenge Queen war er nun persona non grata. Insider wussten, dass Dolgorukowas Anwesenheit in Paris der Grund war.26 Schuwalows Besorgnis aber war gerechtfertigt, weil die französische Öffentlichkeit infolge der Niederschlagung des polnischen Aufstandes äußerst russlandfeindlich eingestellt war. Wenn Alexander sich auf den Straßen von Paris zeigte, schallte ihm der Ruf „Es lebe Polen“ entgegen, und die polnischen Emigranten veranstalteten bei jeder Gelegenheit kleine Demonstrationen. Als die beiden Kaiser am 6. Juni nach einer Militärparade in Longchamp im offenen Wagen gemächlich durch den Bois de Boulogne in die Stadt zurückkehrten, feuerte ein Passant zwei Schüsse auf Alexander ab. Er blieb unverletzt, der Attentäter wurde auf der Stelle festgenommen. Es war ein polnischer Emigrant. Alexander zeigte Selbstbeherrschung und Gleichmut, aber seine gute Laune war verdorben. Alle Zeichen des Mitgefühls und der Sympathie, alle Bemühungen Napoleons und seiner Frau halfen nicht, seine schlechte Laune zu zerstreuen, zumal es ihm auch nicht gelungen war, den Kaiser der Franzosen zu einer Revision des Pariser
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Vertrages von 1856 zu bewegen. Enttäuscht reiste Alexander ab. Er hatte geplant, Warschau zu besuchen, und dabei sollte es trotz des Anschlags bleiben. Die Nachricht von dem Attentat erreichte die Kaiserin in Zarskoje Selo. Am 8. Juni, als man bereits wusste, dass es die Tat „eines einzelnen Fanatikers“ war, erschien Minister Walujew bei ihr. „Ihre Majestät äußerte sich hart über Napoleon“, notiert er. „Vielleicht ist das natürlich, aber doch bedauerlich. Der Herrscher hat telegraphiert, dass er seine Reiseroute nicht ändert und keine Änderung der Route der Kaiserin wünscht.“ Sie fährt ungern nach Warschau, und über das Königreich äußert sie sich auch nicht freundlich, fügte aber bedachtsam hinzu: „Vor fünfzehn Jahren waren sie eines Besuchs des Kaisers nicht würdiger als heute, und jetzt sind sie erst recht unwürdig, weil sich ein Besessener fand, der ein Verbrechen begangen hat.“27 Tags darauf empfing Maria den Staatsrat, die Senatoren, hohe Hofbeamte und auch eine Abordnung der Stände, schließlich das diplomatische Corps.28 Dann reist sie dem Kaiser wunschgemäß doch bis Warschau entgegen. Wir wissen nicht wie, aber irgendwie hatte sie von der Anwesenheit der Fürstin in Paris erfahren. Sie war doppelt geschockt, die Dolgorukowa und das Attentat! Sie hat Tränen in den Augen, als sie ihn begrüßt und daran erinnert, wie sie ihn gebeten hatte, nicht zu fahren. Dann sprechen sie über allgemeine Themen. Als er gehen will, sagt sie: „Ich bitte dich, in mir die Kaiserin zu achten, selbst wenn du die Frau in mir nicht achten kannst.“29 Einer anderen Überlieferung zufolge hat sie einmal gesagt: „Ich vergebe die Demütigungen, die mir als Kaiserin zugefügt werden. Aber ich bin unfähig, die Qualen zu vergeben, die mir als Ehefrau zugefügt werden.“30 Der Gräfin Tolstaja zufolge hat Alexander selbst ihr das Verhältnis wohl gestanden, aber sie nennt keinen Zeitpunkt. „Ich erinnere mich, dass wir manchmal wagten, sie dafür zu tadeln, dass sie keine Anstrengung machte, um den Schwächen des Herrschers entgegenzutreten, aber wer kann wissen, was zwischen den beiden gesprochen wurde und welchem Gefühl sie gehorchte, als sie Geduld und Nachsicht zeigte? Am wahrscheinlichsten ist, dass sie den Vater und Herrscher in den Augen ihrer Familie nicht erniedrigen wollte. Daher rührte offensichtlich ihr heroisches Schweigen.“31 Sie schwieg 15 Jahre.
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Nach den Pariser Ereignissen war der Aufenthalt in Livadia sicher weniger erbaulich als zuvor. Er ist aber in Erinnerung geblieben, weil dort überraschend eine amerikanische Reisegesellschaft auftauchte, die auf der USS Quaker City, einem ausgemusterten Kriegsschiff, unterwegs war und von Odessa herüberkam. Die Amerikaner hatten um eine Audienz gebeten, und Alexander empfing sie gern. Im März hatte er Russisch-Amerika (Alaska) für 7,2 Millionen Dollar an die USA verkauft (Alaska purchase), und die russisch-amerikanischen Beziehungen waren ausgesprochen gut, zumal Russland im Bürgerkrieg die Union unterstützt hatte. Vom amerikanischen Konsul in Odessa instruiert, wie man sich vor einem Kaiser zu benehmen hat, stellten sich die 60 Reisenden also in respektvoller Entfernung vor dem Großen Palast auf. Einer der Reisenden war Mark Twain, der auch mal mit einem „echten Kaiser“ plaudern wollte und den Besuch in seinem Reisetagebuch Die Arglosen im Ausland beschrieben hat. Seine Majestät empfing die „Arglosen“ zusammen mit Frau und Tochter „in dem prächtigen Garten vor dem Palast“, da es keinen Raum im Palast gab, der „uns sechzig Personen hätte bequem aufnehmen können“. Der Kaiser sagte, „er sei überaus erfreut, uns zu sehen, besonders da so freundschaftliche Beziehungen zwischen Russland und den Vereinigten Staaten bestünden“. Und die Kaiserin sagte, „die Amerikaner seien in Russland gern gesehen, und sie hoffe, die Russen würden in Amerika in gleicher Weise geachtet“. Mehr Reden wurden nicht gehalten, und Twain empfahl diese als „Muster für Kürze und Trefflichkeit“. Nach den Reden „kam die Zarin heran und unterhielt sich ungezwungen (für eine Zarin) mit verschiedenen Damen in der Runde; mehrere Herren traten in eine zusammenhanglose allgemeine Unterhaltung mit dem Zaren ein; die Herzöge und Prinzen, Admirale und Ehrendamen verfielen in zwangloses Geplauder erst mit dem einen, dann mit dem anderen aus unserer Gesellschaft, und wer es wünschte, trat vor und sprach mit der bescheidenen kleinen Großfürstin Maria, der Tochter des Zaren. Sie ist vierzehn Jahre alt, hat helles Haar, blaue Augen und ist bescheiden und hübsch. Jedermann spricht Englisch. […] Die Zarin und die kleine Großfürstin trugen einfache Kleider aus Foulardseide mit kleinen blauen Punkten; die Kleider waren mit Blau abgesetzt; beide Damen trugen breite blaue
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Schärpen um die Taillen; Leinenkragen und Beffchen aus Musselin; flache Strohhüte, mit blauem Samt verziert; Sonnenschirme und fleischfarbene Handschuhe.“ Kein Zweifel, der Selbstherrscher Russlands, „dessen geringstes Wort für siebzig Millionen menschlicher Wesen Gesetz ist“, hatte die Amerikaner tief beeindruckt. „Es ist leicht zu erkennen, dass er freundlich und herzlich ist. Etwas sehr Edles liegt in seinem Ausdruck, wenn er die Mütze abgenommen hat. Es liegt nichts von der Listigkeit in seinem Blick, die wir alle im Auge Louis Napoleons bemerkt haben.“ Twains Fazit: „Wenn ich hätte seinen Rock stehlen können, hätte ich es getan. So oft ich einen solchen Menschen kennenlerne, möchte ich etwas haben, das mich an ihn erinnert.“32 Das Reisetagebuch Die Arglosen im Ausland erschien 1869 und wurde zu Twains Lebzeiten sein größter Erfolg. Maria konnte nun gar nicht mehr ohne Livadia auskommen. „Gewiss würde mein liebes Livadia Dir gefallen“, schreibt sie Ludwig II., „mit seiner herrlichen Aussicht auf die Berge u. das sogenannte schwarze Meer, was aber viel mehr ,blaues‘ heißen sollte, da es in dieser Farbe dem Mittelländischen durchaus nicht nachsteht. Die Luft hier bekommt mir immer besonders gut, so wie dem Kaiser, der auch die Bäder braucht, weshalb wir auch den Aufenthalt so lieben.“33 Sie kehrte ungern in die Hauptstadt zurück. Im folgenden Jahr wurde Maria zum ersten Mal Großmutter. Der erste Sohn des Thronfolgerpaares kam am 18. Mai 1868 im AlexanderPalast in Zarskoje Selo zur Welt, erhielt zu Ehren seines verstorbenen Onkels den Namen Nikolaus und wurde „Niki“ gerufen. Niemand konnte ahnen, dass Niki der letzte Kaiser von Russland sein würde. Im August ging es wieder nach Kissingen. Auch Ludwig II. kam noch einmal, nachdem sein Außenminister ihm geraten hatte, angesichts der „bedenklichen Lage“, in der sich die deutschen Mittelstaaten und insbesondere Bayern seit dem Kriege von 1866 und der Auflösung des Deutschen Bundes befanden, seine „persönlichen Beziehungen“ zum russischen Hof zu pflegen, damit das Königreich „bei eintretenden größeren Erschütterungen“ seine Selbständigkeit erhalten könne.34 Ein Besuch in Kissingen „vielleicht bei Gelegenheit des Geburtstages der Kaiserin“ habe eine „sehr große und weitgreifende Bedeutung“.35 Lud-
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wig kam also zum Geburtstag und verbrachte die acht Tage vom 2. bis 10. August „in lebhaftem Gespräch“ mit dem russischen Kaiserpaar.36 Er tat Maria leid, weil er sich nicht entschließen konnte zu heiraten.37 Ganz im Sinne seines Ministers lud Ludwig das Kaiserpaar dann nach Berg am Starnberger See ein. Maria lehnte erst einmal ab, weil sie von der Kur „sehr angegriffen“ war und ein Besuch in Berg „mit der erforderlichen Schonung nach der Kur“ nicht vereinbar schien. „Ich muss jetzt wenigstens 3 Wochen an Ort und Stelle bleiben, um gehörig auszuruhen, u. die Zeit ist meinen Brüdern versprochen als die einzige, die ich mit ihnen verbringen kann“, schreibt sie dem König. „Glaube mir, es thut mir sehr leid, Dein Anerbieten nicht annehmen zu können, Berg mit seinen Kindererinnerungen nicht wiederzusehen, insbesondere die schöne Roseninsel nicht kennenzulernen, auch habe ich oft in der drückenden Hitze hier mit Sehnsucht an die gute Luft am See und in den Bergen gedacht, allein für jetzt muss ich leider darauf verzichten!“38 Falls sie aber eine Traubenkur im Süden machen müsse, liege München ja auf ihrem Weg, „wobei ich leicht einen Blick auf Deinen lieben See werfen könnte, leider aber ohne den Kaiser, der nach einem kurzen Besuch bei seiner Schwester in Friedrichshafen Ende September nach Russland zurückkehrt!“39 Offenbar haben die Ärzte ihrer Patientin die „Traubenkur im Süden“ dann verschrieben. Denn auf der Durchreise nach Como stieg sie in München aus dem Zug und nahm am 21. Seefest in Berg teil, das Ludwig ihr zu Ehren gab. Das legendäre Fest dauerte vom 26. bis 28. September 1868 und ist dank Oskar Maria Graf in die deutsche Literaturgeschichte eingegangen. Seine Mutter Therese war dabei und hat ihm wohl häufig davon erzählt: „Es war ein märchenhaftes Fest, das nicht nur den Landleuten, sondern auch den herbeigeströmten Gästen auf Jahre hinaus unvergesslich blieb“, schreibt Graf in seinem autobiografischen Roman Das Leben meiner Mutter. „Das wunderbar milde Wetter trug viel dazu bei. Die warme Spätsommerluft hat einen zärtlich fächelnden Hauch von berückender Reife, die schon den nahenden Herbst verriet. Sie war von keinem Wind bewegt, sie schwamm nur, gleichsam seidenweich, zwischen Himmel und Erde. Alles Sichtbare schien selig zu lächeln: der wolkenlose, zartblaue Himmel, die weithin strahlende Sonne und die
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lieblich gewellte Landschaft, die sich auf der glatten Seefläche traumhaft schön widerspiegelten, das bunte Gemisch der vielen Menschen – Fremde aus aller Herren Ländern, sonntäglich gekleidete Einheimische, weiße Kinderzüge mit Blumensträußen und musizierende VeteranenVereine, die brechend vollen tiefgehenden Dampfschiffe und die unzähligen Ruder- und Segelboote, die schon am frühen Morgen aus allen Richtungen daher fuhren und sich in weitem Abstand vor den Gestaden von Berg und Leoni sammelten. […] Berg und sein Schloss waren der viel bestaunte, erregende Mittelpunkt, wenngleich alle anderen Uferorte – was Ausschmückung anlangte – sich alle nur erdenkliche Mühe gemacht hatten. Im See, vom Berger Dampfschiff steg bis zum Ende des königlichen Parks kurz vor Leoni, schwammen festverankerte, umfängliche, viereckige Flöße, weißblau drapiert mit hohen grünumwundenen Stangen an den Seiten, welche kleine Wimpel krönten. Ein besonders großes Floß befand sich in der Mitte dieser hölzernen Inseln und war durch einen mit langem Teppich belegten und zahllosen frischen Rosen bestreuten Steg mit dem Schlossufer verbunden. Zeltgleich liefen ihre silberdurchwirkten Girlanden zusammen, Flaggen und Wappen des bayerischen Königreiches und des russischen Kaiserreiches schmückten sie, und blausamtene Ruhebänke für die höchsten Herrschaften standen darauf. Von hier aus wollten sich Zarin und König mit ihrem nächsten Gefolge das nächtliche Feuerwerk ansehen, dessen riesiges Ausmaß alles bisher Dagewesene überbieten sollte. Denn auch in der Seemitte und vor den gegenüberliegenden Ufern – vom nördlichen Starnberg bis zur südlichen Spitze – ankerten solche Flöße, und während der ganzen Tage brachten schwerbeladene Flachboote Stöße von Fackeln und Raketen aller Art dorthin. Weithin schallte der wirre Lärm der eifrig hantierenden Feuerwerker, die auf diesen künstlichen Inseln Vorbereitungen trafen. Eine Prachtentfaltung ohnegleichen war zu erwarten.“40 Am Ende erstrahlte zu den Klängen der russischen Hymne der Name der Kaiserin am Nachthimmel. Das Diner auf der Roseninsel war das Poetischste, was sie je erlebte.41 Sie hat Berg nie vergessen. Como scheint ihr gut bekommen zu sein. Auf der Rückreise nach Russland verabschiedet der König seine mütterliche Freundin Mitte November an der Landesgrenze bei Nördlingen. Die Sorge um ihn
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beschäftigt sie noch lange. Schon im Dezember bittet sie ihn, sich seinem „Hang zur Einsamkeit und Entfremdung der Menschheit“ nicht hinzugeben, und gibt ihm so manchen politischen Rat. „Glaube mir, es gibt wenig Länder, wo das monarchische Prinzip noch so lebendig u. stark ist wie in Bayern! Aber das weißt Du ja besser als ich, nur, verzeih mir, thust Du nicht Alles, was Du könntest, um es zu bestärken u. aufrecht zu erhalten. Du siehst, ich habe das Predigen nicht verlernt.“42 Außerdem rät sie ihm, die „gute Bekanntschaft“ mit Königin Olga zu pflegen, ihrer „besten Freundin“. „[…] die Süddeutsche Einheit kann dadurch nur gewinnen, was mir nicht unwichtig erscheint, habe ich Recht?“43 So machte sie Politik. Auch in diesem Jahr war sie zwei Monate auf der Krim gewesen und hatte Maria, Sergej und Paul mitgenommen. Sie fand in Livadia nun auch Linderung ihrer seelischen Qualen, die sie sich in der Hauptstadt nicht anmerken lassen durfte. Sie liebte das einfache, abgeschiedene Leben auf der Halbinsel und versuchte, bis zu den letzten warmen Tagen zu bleiben. Das Idyll bekam einen Riss, als Alexander seine Geliebte auch nach Livadia kommen ließ, wo sie in einer Villa unweit des Palastes lebte. Da war aber noch ein Kummer, den sie schon mit Alexander gehabt hatte. Auch Alexej, der sehr nach seinem Vater kam, hatte sich in eine ihrer Hofdamen verliebt, ausgerechnet in Alexandra W. Schukowskaja, die Tochter des Dichters. Er war 19, sie war acht Jahre älter. Er hatte sie im September 1868 in der russischen orthodoxen Kirche in Genf sogar schon geheiratet, morganatisch, versteht sich. Die Ehe wurde vom Hl. Synod schnell wieder aufgelöst. Damit war die Liebe aber nicht zu Ende, so dass Alexej auf eine zweijährige Weltreise geschickt werden musste. Ende 1871 brachte Alexandra ihren Sohn Alexej zu Welt, der den Vatersnamen Alexejewitsch erhielt.* Zu diesem Zeitpunkt ließ der Kaiser seine Geliebte nicht nur nach Livadia kommen, im Mai 1870 begleitete sie ihn sogar heimlich zur Kur nach Ems, wo sich dann auch Wilhelm I. noch einfand.44 Die von dort * 1875 kauft Alexej für Alexandra ein Anwesen in Italien mit dem Recht, den Titel Baronin Seggiano zu führen, und legt für seinen Sohn mit Erlaubnis seines Vaters 100 000 Silberrubel an. Graf Alexej Alexejewitsch Beljowskij-Schukowskij wurde als Biologe bekannt.
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an Bismarck gesandte „Emser Depesche“ über aktuelle unerfüllbare Forderungen Frankreichs, die dieser in Berlin entsprechend redigierte, führte am 19. Juli 1870 zur französischen Kriegserklärung an Preußen. „Wo steckst Du die Deinigen hin“, fragt Maria den Bruder, „wenn die Franzosen das Land besetzen? Unglückliches Süddeutschland, das stets das Opfer des Ehrgeizes anderer ist. Das Herz des Zaren ist tiefbetrübt, dass er diesen absurden Krieg nicht verhindern konnte, der nicht einmal den Vorwand eines national deutschen Interesses hat … Das Bild des geliebten und friedlichen Heiligenberges erregt den Zaren noch mehr bei dem Gedanken an das Unglück, das dieses arme Hessen erwartet. Gewiss habe ich keine Sympathie für Preußen, aber diesmal hat sich Frankreich gänzlich ins Unrecht gesetzt, und die Niederlage der einen oder der anderen Partei wird wahrscheinlich die Revolution bedeuten. Gott gebe, dass uns nichts aus unserer Neutralität heraustreten lasse, wenn nur Österreich dabei bleibt … Die öffentlichen Sympathien bei uns liegen aus Antipathie gegen Preußen bei Frankreich, und dies würde noch ausgesprochener sein, wenn man nicht in diesem Falle den Angriff Frankreichs unberechtigt fände. Was mich betrifft, habe ich weder für den einen noch für den anderen Sympathie, aber ich fürchte den Übermut des Siegers, wer immer es sei, und die Revolution als Folge der Niederlage sowohl in Frankreich wie in Deutschland.“45 Immerhin schickt sie Marfa Sabinina und ihre Freundin Maria Frederiks, die nach dem Deutschen Krieg mit ihrer Hilfe die „Gesellschaft zur Pflege der verwundeten und kranken Soldaten“ gegründet hatten, in die Lazarette beider kriegführender Länder, wo sie prüfen sollen, wie die Verwundeten versorgt werden. Sie müssen der Kaiserin auch über die Tätigkeit des Roten Kreuzes Bericht erstatten, als dessen Vorläuferin in Russland die Schwesternschaft gilt. In diesem Herbst blieb sie so lange in Livadia, dass der Minister des Hofes Angehörige ihrer Suite mehrfach auffordern musste, nach St. Petersburg zurückzukehren. Da niemand wagte, die Kaiserin zu fragen, wann sie zurückkehren werde, folgte ein Telegramm des Kaisers. „Den Zeitpunkt meiner Abreise teile ich rechtzeitig mit“, antwortet sie trocken. Aber sie verfolgt die Entwicklung in Westeuropa genau. Der deutsch-französische Krieg hatte die kaiserliche Familie genauso entzweit wie der Deutsche Krieg. Der Kaiser war auf Seiten seines
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Onkels, die Kaiserin war antipreußisch und der Thronfolger profranzösisch eingestellt. Auch weite Kreise der Petersburger Gesellschaft sympathisierten mit den Franzosen und schickten Freiwillige und Geld nach Frankreich. Während Wilhelm I. von Versailles aus mit den süddeutschen Staaten über die Reichsgründung verhandelt – die Kampfhandlungen dauerten noch an, und am 4. September wurde in Frankreich die Dritte Republik ausgerufen –, fragt sich die Kaiserin von Russland, wie es in Deutschland weitergeht: „Wie wird sich Deutschland in seiner Neugestaltung entwickeln, wie lange dauert’s bis zur nächsten Umwälzung“, fragt sie Alex. „Seit 1866 ist alles möglich! Das Kaiserreich hast Du beim Ausbruch des Krieges prophezeit, doch es klebt zuviel Blut an dieser Kaiserkrone, als dass sie, dünkt mir, beneidenswert sein könnte … Bei all dem dauert der Krieg fort, der Widerstand wird hartnäckiger, darüber kann das Frühjahr kommen, und des Jammers und Elends ist kein Ende!“46 Bevor das Frühjahr kam, war das Deutsche Reich gegründet und Wilhelm I. im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles zum Deutschen Kaiser proklamiert. Die Kaiserin fand die „Position der Fürsten, besonders der Regierenden, in Versailles jämmerlich“, wie sie Alex schreibt.47 Die Kampfhandlungen wurden am 21. Februar 1871 durch den Vorfrieden von Versailles beendet, der Friede von Frankfurt beendete den Krieg. Was folgte, war eine der längsten Friedensphasen in Westeuropa. Aber Frankreich hatte Elsass-Lothringen verloren und gierte nach „Revanche“. Russland sah die Reichsgründung zunehmend kritisch, und das Thronfolgerpaar machte aus seiner antipreußischen Gesinnung kein Hehl. Früher oder später mussten Russland und Frankreich zusammenkommen. Die Lage in Europa hatte sich von Grund auf verändert.
11 „Ein Schatten ihrer selbst“ Letzte Jahre Livadia – Erster Sohn der Dolgorukowa – Hochzeit der Tochter Maria mit dem Herzog von Edinburgh (1874) – Augusta Stanley – Verlobung Wladimirs mit Marie zu Mecklenburg – San Remo – Bernhard von Bülow in St. Petersburg – Serbisch-türkischer Krieg – Aufstand in Bulgarien – Agitation für die Südslawen – Eingreifen Russlands – Berliner Kongress (Juni/Juli 1878) – Letzte Reise an die Côte d’Azur – Fünftes Attentat auf Alexander (1879) 1872–1880
„Heute Morgen ist die Herrscherin und Kaiserin auf die Krim abgereist“, notiert Minister Walujew im März 1872 in seinem Tagebuch. „Ihr werden am Freitag der Herrscher und Königin Olga folgen, deren Aufenthalt hier durch den kränklichen Zustand der Kaiserin plötzlich verkürzt wurde. Über das Wesen und den Grad der Erkrankung eine genaue Vorstellung zu erhalten, ist bei der Vielzahl unterschiedlicher Gerüchte sehr schwer. Es scheint aber, dass die Lungen tatsächlich angegriffen sind und dass Doktor Hartmann das Übel nicht rechtzeitig erkannt und es außer Acht gelassen hat. Doktor Botkin hat die Krankheit diagnostiziert, und die Reise auf die Krim wird auf seine Veranlassung hin unternommen.“1 Anders als die (zumeist deutschstämmigen) Hofärzte hatte sich Dr. Sergej P. Botkin, seit 1870 Leibmedikus des Kaiserlichen Hofes und der erste Russe auf diesem Posten, bei der Diagnose nicht auf ein simples Befragen der Patientin beschränkt, sondern sie gründlich untersucht und war zu dem Ergebnis gekommen, dass die Kranke an einer Lungentuberkulose im Anfangsstadium litt. Seine Anordnung, sie auf die Krim zu schicken, war daher zwingend. Nur das dortige Klima schien ihm geeignet, der Kaiserin Erleichterung zu verschaffen, sie
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womöglich zu heilen. Maria fasste sofort Vertrauen zu Dr. Botkin und veranlasste ihn, sie in den Süden zu begleiten. So musste sie nicht miterleben, dass Katharina Dolgorukowa im Mai 1872 ihr erstes Kind schreiend auf dem Sofa im Kabinett und Sterbezimmer Nikolaus’ I. im Erdgeschoss des nordwestlichen Risalits des Winterpalastes zur Welt brachte! Ausgerechnet dort, ein ungeheurer Fauxpas! Die Mätresse hatte darauf bestanden, im Palast zu entbinden, damit jedermann bei Hofe erfuhr, um wessen Kind es sich handelte. Alexander war bei der Geburt dabei, und als es Komplikationen gab, entschied er, dass auf jeden Fall die Mutter zu retten sei. Das Kind war ein Sohn, der Georgij („Gogo“) genannt wurde und den Vaters namen Alexandrowitsch erhielt, was einer Anerkennung der Vaterschaft durch den Kaiser gleichkam. Nach ihrer Rückkehr aus Livadia im Herbst musste Maria – gut erholt – hinnehmen, dass „diese Frau“ ihren Mann nun auch im Palast aufsuchte. Aus dem Fenster des Himbeerfarbenen Kabinetts konnte sie die Equipage sehen, die fast täglich vor dem Saltykow-Eingang vorfuhr, worauf wenig später ein Lichtschein aus den Fenstern des Kabinetts Nikolaus’ I. fiel. Nun verstand sie, dass diese Affäre keine flüchtige Laune war. Aber sie schwieg und verschloss ihren Kummer in sich. Alexander sorgte sich zwar um seine Gattin und behandelte sie höflich, doch die alte Vertrautheit war dahin.2 Maria war tief verletzt, suchte Trost im Glauben und ging nun dreimal am Tag in die Messe in der Kleinen Palastkirche.3 Fürst Kropotkin, der sich einst so freundlich über die Kaiserin geäußert hatte, sah sie nun kritisch: „Die Kaiserin Marie Alexandrovna wurde, da ihr Gatte sich von ihr wandte und die neue Phase des Hoflebens sie wahrscheinlich abstieß, mehr und mehr zur Betschwester, und es dauerte nicht lange, so befand sie sich ganz in den Händen des Palastpopen, des Vertreters eines ganz neuen Typus – des jesuitischen – in der russischen Kirche.“4 Kropotkin meinte Protopresbyter Wassilij B. Baschanow, den Beichtvater der kaiserlichen Familie, der manchen als Fanatiker galt. Er hatte Maria in der Orthodoxie unterwiesen und war auch Religionslehrer ihrer Kinder gewesen. Neben ihrem Schlafzimmer hatte Dr. Botkin, der in Kliniken und Praxen bekannter Ärzte in Westeuropa gearbeitet hatte, ein Zimmer
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einrichten lassen, in dem sie außer Sauerstoff auch Wasserdampf mit verschiedenen Zusätzen inhalieren konnte. Abends wurde sie mit Salbe eingerieben, die helfen sollte, die schweren nächtlichen Anfälle zu mildern.5 Im Januar 1873 starb Großfürstin Jelena Pawlowna, die Alexander bei seinem Reformwerk so tatkräftig unterstützt hatte. Somit waren Anfang der 1870er Jahre von den Reformern nur noch Konstantin Nikolajewitsch, der General-Admiral, und Kriegsminister Dmitrij A. Miljutin an Alexanders Seite. Besonders Kosty nervte den Bruder und versuchte, den früheren Reformer wieder zu wecken. Doch die Zeit der Reformen war vorbei, die Zeit des Terrors war gekommen. Und Alexander war müde. „Was für ein auffallender und trauriger Vergleich mit den Umständen, unter denen ich vor 13 Jahren in die Regierung eingetreten bin“, notiert Miljutin, ein kluger Mann, der für die Militärreform verantwortlich zeichnete und sein Werk noch nicht vollendet sah. „Damals strebte alles vorwärts, jetzt zieht alles zurück. Damals fühlte der Herrscher für den Fortschritt, er selbst bewegte sich vorwärts; jetzt hat er das Vertrauen in alles verloren, was er geschaffen hat, in alles, was ihn umgibt, sogar sein Selbstvertrauen.“6 Miljutin war im Begriff, die allgemeine Wehrpflicht einzuführen und die aktive Dienstzeit von 15 auf 6 Jahre zu verkürzen. Im Frühjahr 1873 wünschte sich die Kaiserin in Italien zu erholen, und Fjodor I. Tjuttschew verfasste die Grußadresse An Ihre Majestät aus Anlass ihrer Abreise. Ihre Wahl war auf Sorrent gefallen. Am 1./13. März 1873 reiste sie ab. Der Kaiserin Maria Alexandrowna Wir treten Sie der Sonne des Südens ab, Sie allein – müssen wir bekennen, Liebt Sie wärmer als wir, und dennoch, obwohl hier das Reich des Winters ist, würden wir diese Orte mit keinen anderen Ländern tauschen. Hier bei uns bleibt Ihr Herz. Gehen Sie, fahren Sie mit Gott, aber Ihr Herz ist uns ein Pfand, dass Sie bald zu uns zurückkehren […]7
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In Sorrent stieg sie im Imperial Hotel Tramontano ab, das heute noch stolz darauf ist, eine Kaiserin von Russland zu seinen Gästen gezählt zu haben. Der hinreißende Blick auf die Bucht von Neapel und den Vesuv mag dazu beigetragen haben, dass sie längere Zeit in Sorrent blieb, und da Dr. Botkin die Kaiserin nun immer begleiten musste, hatte er dort genug Gelegenheit, seine Patientin und ihre Suite aus nächster Nähe zu beobachten. Sein Urteil über das Gefolge der Kaiserin fiel nicht schmeichelhaft aus: Selbstliebe, Neid, Egoismus, leere Phrasen, Heuchelei usw. „Besonders schwer ist, dass man sich vollkommen allein fühlt“, schreibt Botkin seinem Bruder, „nur Bücher, nur die Kranken, ohne jedes Mitgefühl – schwer. Die angenehmste Person ist sie selbst [d. h. die Kaiserin, M.B.], aber Du kannst Dir vorstellen, dass die Beziehungen zu ihr die drückende Leere der übrigen Gesellschaft nur unzureichend ausgleichen.“8 Die Leere muss auch Maria selbst empfunden haben. Sie war in Sorrent, als Wilhelm I. noch einmal nach Petersburg kam, das er in seiner fernen Jugend so oft besucht hatte. Der alte Kaiser wurde außerordentlich herzlich empfangen.9 Eine riesige Menschenmenge schrie begeistert Hurra, als Alexander mit seinem Onkel auf den Balkon des Winterpalastes trat.10 Seine erste Ausfahrt führte Wilhelm in die Festung an die Gräber Nikolaus’ I. und Charlotte-Alexandras, die seine Lieblingsschwester gewesen war. Er verstand sich gut mit seinem Neffen, sie hatten sich immer gut verstanden. Zuletzt hatten die beiden sich im Sommer 1871 auf dem Heiligenberg getroffen, „und ihr Verwandtschafts- und Freundesverhältnis schien inniger denn je zu sein“.11 Wilhelm liebte Russland, er hatte die preußischrussische Waffenbrüderschaft im Kampf gegen Napoleon nicht vergessen. Ihm wäre es vielleicht gelungen, Marias Preußenfeindlichkeit zu mildern. Ein Gemälde von Mihaly Zihy zeigt „Onkel Willy“ und seinen Neffen Sascha beim Frühstück im Himbeerfarbenen Salon der Kaiserin im Winterpalast. Man kann sich vorstellen, dass die beiden über den Konsultativpakt zwischen Russland, Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich gesprochen haben, der im Oktober 1873 abgeschlossen wurde und als Dreikaiserabkommen in die Geschichte eingegangen ist. Es war eine Neuauflage der Heiligen Allianz, eine Bekräftigung konservativer Solidarität in Europa. Damit hatte Bis-
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marck das neue Deutsche Reich in die europäische Bündnispolitik eingebunden und Frankreich vorübergehend isoliert. Für den Beginn der zweiten Welle der „Bewegung ins Volk“ im „verrückten Sommer“ 1873 gab es keinen aktuellen Anlass. Allerdings war das Studium im Ausland wieder verboten worden, und eine Reihe radikal gesinnter Studenten, die im Ausland, u. a. in Genf, Zirkel gebildet hatten und die Revolution predigten, kehrte nach Russland zurück.12 Nun waren es Tausende, die „ins Volk“ gingen, bei den bäuerlichen Massen aber wieder nichts ausrichteten, von den Bauern oftmals sogar den Gendarmen ausgeliefert wurden. Enttäuscht und desillusioniert radikalisierten sich diese jungen Menschen, und aus den Idealisten wurden Terroristen. In ihren Briefen an den Bruder erwähnt Maria nun häufig Anarchisten und Verschwörer, die angeblich den „schrankenlosesten Sozialismus und die Vernichtung aller jener durch Gift und Eisen predigen, die nach ihrer Meinung der privilegierten Klasse angehören“.13 Im November 1873 brachte die Dolgorukowa ihre Tochter Olga zur Welt. Und es wurde nun immer deutlicher, dass der Kaiser faktisch zwei Familien hatte, obwohl er selbst meinte, sein Verhältnis sei ein Geheimnis. Es war ein öffentliches Geheimnis. Größten Kummer bereitete ihm, dass seine geliebte Tochter Maria nun auch heiraten würde. Ihren Bräutigam, Alfred Duke of Edinburgh, den zweiten Sohn Victorias, hatte sie vor ein paar Jahren auf dem Heiligenberg kennengelernt, und schon damals hatte „Affie“ erklärt, dass er sie heiraten wolle. Seine Mutter war nicht erbaut von den Heiratsplänen ihres Sohnes. Seit dem Krimkrieg hatte sie eine tiefe Abneigung gegen Russland und die Romanows. Die Antipathie beruhte auf Gegenseitigkeit. Die Kaiserin äußerte sich abfällig über Victoria, und Alexander nannte die Königin, in die er sich einst ein bisschen verliebt hatte und die zwei Jahre jünger war als er, ein „silly old fool“. Aber seine Tochter zog den Briten jedem deutschen Prinzen vor und setzte sich durch. Die Hochzeit fand am 23. Januar 1874 in St. Petersburg statt – ohne die Mutter des Bräutigams. Die anglikanische Trauung vollzog Arthur Stanley, Dean of Westminster, der seine Predigt vorher der Brautmutter und der Braut vorlesen musste. Gräfin Bludowa hatte den Auftrag,
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die englischen Damen aus der Suite des Herzogs zu betreuen, bevor sie der Kaiserin vorgestellt wurden. „Sie erschien bald, sah aus wie eine alte runde französische Lady, dick, mit Haube – nette Augen, sehr klug – sprach Englisch ,à fond‘ und war sehr versiert in allen theologischen und kirchlichen Fragen“, schreibt Augusta Stanley. „Uns wurde erzählt, dass sie von vielen als ,devot‘ gehasst wird und als jemand, der beträchtlichen Einfluss auf die Kaiserin hat und sie in ihrem religiösen Eifer russischer als die Russen macht.“14 Lady Augusta war aufgeregt, als sie der Kaiserin endlich vorgestellt wurde, obwohl sie als Hofdame der Queen Erfahrung in höfischen Sitten hatte. „Die Kaiserin war ganz allein, in Dunkelgrün gekleidet, mit einer schwarzen Schleife im Haar“, berichtet sie ihrer Schwester. „Sie empfing uns sehr herzlich, und ich war recht eingenommen von ihrer Grazie und ihrem Charme […]. Sie sieht keinem Mitglied der Familie Hessen auch nur im mindesten ähnlich, so viel vornehmer und gutaussehend. Sie sprach über uns und unsere Reise und Arthur etc. etc., und dann kam die Großfürstin [die Braut], lieb und strahlend. Ich fand nicht, dass sie so hübsch war wie auf ihrem Foto: aber so nett und frei, wie Du sie beschrieben hast, und sie sah so glücklich aus. […] die Kaiserin traute sich offensichtlich nicht, über das zu sprechen, was ihrem Herzen am liebsten war, und ich glaube, sie hat sich niemals erlaubt zusammenzubrechen. Armes Ding, ich glaube, sie findet, so gut es geht, Trost und Halt beim Anblick ihrer Tochter und ihres Glücks, aber es ist einfach eine Qual für sie – für beide.“15 Alexander habe „in Arthurs Gegenwart“ weniger Haltung bewiesen als seine Frau und ständig Tränen in den Augen gehabt, schreibt die Lady weiter. Auch ihrer Mutter sei Maria nicht nur Tochter, sondern ebenso Freundin gewesen, sie sei aber spontaner als die Kaiserin. Nun wolle sie „eine vollendete Engländerin“ werden, und das Beispiel ihrer Mutter in Russland habe sie gelehrt, wie das Land ihres Ehemannes zu adoptieren sei.16 „Heute erfolgte, entsprechend dem uralten Zeremoniell, die Hochzeit der Großfürstin Maria Alexandrowna mit dem Prinzen Alfred“, notiert Minister Walujew. „Ich habe den Winterpalast noch nie so voll und überfüllt gesehen. Von den erlauchten Personen waren außer dem Herrscher und der Kaiserin, dem Zesarewitsch und der Zesarewna
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anwesend zehn Großfürsten, vier Großfürstinnen, der preußische Kronprinz und der dänische, der Prinz von Wales, die Prinzessin von Wales, die preußische Kronprinzessin, die Prinzessin M.M. von Baden, die Prinzessin von Oldenburg, Prinz Arthur von Großbritannien, der Herzog von Coburg, drei Prinzen von Oldenburg und Prinz Alexander von Hessen. Bis zu 50 Ausländer in den Suiten. Die Vielzahl unserer Höflinge wird von Tag zu Tag unangenehmer. Ihretwegen ist nirgends Platz. Ich musste die Kirche verlassen, deshalb war ich bei der Trauung nach unserem Ritus nicht anwesend, aber ich sah und hörte den englischen Ritus gut, den der Dekan von Westminster im Alexander-Saal vollzog. Der Gesichtsausdruck der Kaiserin war während dieses Zeremoniells psychisch und physisch so leidend, dass sich meine Augen bei jedem Blick auf sie von Tränen trübten und ich gezwungen war, sie auf andere Personen zu richten. Die Großfürstin hat beide Riten ungeachtet der Last der Brillantkrone, des Samtmantels usw. ohne Anzeichen von Schwäche durchgehalten. Um 5 Uhr war ein Essen für 700 Personen, tatsächlich speisten 690, während es bis jetzt nicht ein einziges Mal vorgekommen ist, dass mehr als 500 speisten.“17 Auch Lady Augusta war erschüttert vom Anblick der Kaiserin, die sie nur „the poor empress“ nennt: „Die arme Kaiserin, ich kann nicht beschreiben, wie sie aussah, ,éteinte‘ [erloschen; französisch im englischen Text, M.B.] scheint mir die richtige Beschreibung zu sein. Die Braut war sehr süß und sanft und ruhig, aber froh und sehr charmant.“18 Zum Ball war „the poor Empress“ nicht erschienen. Die Polonaise eröffnete der Kaiser mit Lady Augusta. Ahnte Maria, dass ihre Tochter in England nicht glücklich werden würde? Das junge Paar liebte sich und hatte gemeinsame Interessen, sie spielte Klavier, er Geige. Aber die neue Herzogin von Edinburgh fand London hässlich, langweilte sich entsetzlich am Hof von St. James und litt unter einem Mangel an Anerkennung. Sie, die Kaisertochter, musste ständig hinter der Princess of Wales, die „nur“ eine dänische Königstochter war, zurückstehen. Zwar war sie von Geburt eine Kaiserliche Hoheit, doch als Frau des Herzogs von Edinburgh war sie nur eine Königliche Hoheit. Wer war also höher gestellt, die Princess of Wales oder die Duchess of Edinburgh? Die Princess of Wales, geb. Alexandra von Dänemark, war eine Schwester der Zesa-
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rewna Maria Fjodorowna, geb. Dagmar von Dänemark. Also waren die Prinzessin und die Herzogin Schwägerinnen, aber das hatte nichts zu bedeuten. Maria Alexandrowna wurde keine „vollendete“ Engländerin, sie fuhr häufig nach Hause. Mit der Hochzeit ihres Schützlings war die Tätigkeit der Gräfin Tolstaja als Erzieherin zu Ende. Sie wurde mit dem St. KatharinenOrden ausgezeichnet, durfte ihren Rang als Hofdame und deren Einkommen sowie ihre Wohnung im Winterpalast behalten und reiste nun viel, fuhr aber fort, ihre Beobachtungen aufzuzeichnen. Kaum war seine Schwester nach England abgereist, verlobte sich Wladimir Alexandrowitsch in Schwerin mit Marie („Miechen“) zu Mecklenburg-Schwerin, die er in Berlin kennengelernt hatte. Alexander fuhr hin und begab sich danach für acht Tage nach England. Alexej begleitete ihn. Victoria fand ihn „sehr nett, aber schrecklich verändert, so dünn und sein Gesicht sieht so alt, traurig und erschöpft aus“.19 Es kam zu keiner englisch-russischen Annäherung, zu unterschiedlich waren die Interessen der beiden Mächte in Asien. Im August 1874 heirateten Wladimir und „Miechen“, die nun Maria Pawlowna hieß. Sie war die erste deutsche Prinzessin seit Charlotte von Braunschweig-Wolfenbüttel, der Schwiegertochter Peters des Großen, die Lutheranerin blieb, wahrscheinlich sehr zum Missfallen ihrer Schwiegermutter. Erst viel später entschloss sie sich, doch noch zu konvertieren. Den Winter 1874/75 verbrachte Maria zum ersten Mal in San Remo, wo Alexej K. Tolstoj sie besuchte. Da er stark hustete, tat es ihr schnell leid, dass sie ihn hatte kommen lassen. „Und auf ihrem Gesicht war zu sehen, dass es ihr wirklich leid tat“, schreibt Tolstoj seiner Frau. „Die Kaiserin ist allem Anschein nach gesund. Sie fragte mich mehrfach nach Dir, immer mit großem Interesse. Ich frühstücke, esse und trinke Tee bei ihr.“20 In der Gesellschaft des Grafen fühlte sich Maria wohl, und wie Tolstoj seiner Frau berichtet, hatten seine Lesungen großen Erfolg. Über die Satire „Der Traum des Staatsrats Popow“ lachte sie Tränen und bat um eine Abschrift. „Sie ist schrecklich nett zu mir, und alle sehen das. […] Ich muss beim Essen fast immer neben ihr sitzen. […] Ich erzähle ihr alles, was mir in den Kopf kommt, oft auch Anekdoten über Monarchen, Priester und verschiedene Heilige.“21
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Sie war traurig, als Tolstoj Anfang Februar 1875 nach Florenz abreiste, um dort seine Frau zu treffen. In Florenz arbeitete er am Poem Der Drache und an Jagderinnerungen, die nicht erhalten sind. Wir können annehmen, dass er seiner Kaiserin die neuen Arbeiten gleich geschickt hat. Der Aufenthalt in San Remo gefiel ihr so gut, dass sie der Stadt zum Abschied 1000 Palmen für eine neue Uferpromenade schenkte, die schon 1875 Corso Imperatrice genannt wurde. Die Stadt erhielt nun ein Kasino und einen Golfplatz, Villen wurden gebaut, und bald war San Remo als Ferienziel beim russischen Adel genauso beliebt wie Nizza. Als Maria Anfang 1875 nach Petersburg zurückkehrte, hatte sich etwas verändert oder begann sich zu verändern. Es ist aber fraglich, ob sie diese atmosphärischen Änderungen wahrgenommen hat. Wir wollen deshalb eine andere Zeitzeugin zitieren. „Gleich nach meiner Rückkehr nach Petersburg im Jahre 1876 bemerkte ich eine Änderung in den Beziehungen der Gesellschaft und der Regierung; allenthalben äußerten sich in den Gesprächen Kritik und Unzufriedenheit“, schreibt Elisabeth Naryschkina-Kurakina, die Oberhofmeisterin und Staatsdame. Sie konnte nicht wissen, dass ein Teil der „Volksfreunde“, enttäuscht vom Versuch, im Dorf Fuß zu fassen, nunmehr von der Predigt zur Aktion übergehen wollte. Im Sommer 1876 entstand eine zweite geheime Organisation namens Land und Freiheit, die ihr Augenmerk nun schon auf die städtische Arbeiterschaft richtete und ihre Ziele nicht nur durch Agitation und Propaganda erreichen wollte, sondern auch durch individuelle Terrorakte gegen verhasste Beamte und entlarvte Polizeispitzel. Attentate könnten, so meinten die Revolutionäre, Signale zur Mobilisierung der Volksmassen, womöglich sogar zum Aufstand sein. Während die Aktivisten ungeduldig darüber diskutierten, wie es weitergehen sollte, kamen vom Balkan ganz andere Signale. „In der äußeren Politik zeigten sich drohende Wolken“, schreibt die zitierte Oberhofmeisterin Naryschkina-Kurakina weiter. „Die Südslawen regten sich. Anlässe hierzu waren sicher in genügendem Maß vorhanden, aber die Unruhe wurde besonders durch die Agenten unseres Botschafters in Konstantinopel […] geschürt, der von einer glänzenden Revanche für den Krimkrieg träumte und vermeinte, der Augenblick für den Sturz des Ottomanischen Reiches und für die Aufrichtung des
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Kreuzes auf der Hagia Sophia sei gekommen.“22 Davon träumte auch die Kaiserin, die seit langem aktiv für die Verbreitung der Orthodoxie eintrat, in Europa, im Kaukasus und in Palästina, und allerlei Missionsgesellschaften unterstützte. Die Südslawen „regten“ sich nicht nur, sie hatten sich im Sommer 1875 gegen die 500-jährige Türkenherrschaft erhoben, zuerst in der Herzegowina, dann in Bosnien und schließlich, im April 1876, in Bulgarien. Die Aufständischen wurden von Montenegro und Serbien unterstützt. „Der Orient verursacht uns immer größere Sorgen“, schreibt Maria ihrem Bruder, „die nachsichtige Geduld Europas macht den Türken nur störrisch. Mein Herz empört sich bei dem Gedanken an die blutigen Kämpfe während der heiligen Woche. Ich hoffe, dass die letzte türkische Infamie, Montenegro angreifen zu wollen, endlich Europa an seine Pflicht als Christenmacht erinnere.“23 Doch selbst die besonders grausame Niederschlagung des Aprilaufstandes in Bulgarien im Mai rief in ganz Europa nur verbalen Protest hervor. Viele Prominente erhoben vergeblich ihre Stimme, während sich die Kaiserin von Russland die Karten des Verkehrsministeriums und des Generalstabs ansah und die Karten der Türkei und Mittelasiens besonders gründlich studierte.24 „Die Kaiserin nimmt sich die Lage der türkischen Slawen zu Herzen und entrüstete sich über die Passivität unserer Diplomatie“, notiert Kriegsminister Miljutin. „Sie hat sich in diesem Sinn auch vor anderen Personen geäußert, darunter vor vielen Offizieren des Großen Generalstabs.“25 In dieser Lage reiste der Kaiser zur Kur nach Ems. Auch dorthin folgte ihm wieder die Dolgorukowa, die nun immer in seiner Nähe sein musste. Alexander besaß sogar die Unverfrorenheit, seine Geliebte und den kleinen „Gogo“ auf den Heiligenberg mitzunehmen! Jedenfalls wurde Marie von Erbach-Schönberg, die Tochter Alexan ders von Hessen, „eines Tages“ von einem Darmstädter Hofherrn mit einer jungen Frau verwechselt, die mit ihrem Sohn „unten im Tal“ spazieren ging. „Erst nach des Kaisers Abreise teilte mir meine Mutter mit, wer die mir so ähnlich sehende junge Dame mit dem kleinen Jungen gewesen sei. Damals ist etwas in mir zerbrochen.“26 Marie hat ihrem verehrten „Onkel-Kaiser“ nie verziehen, „dass er meiner geliebten Tante, seiner Gemahlin, das Schwerste angetan, was eine Frau
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erleben kann.“27 Die Episode zeigt, dass das Verhältnis des Kaisers spätestens ab 1876 in Darmstadt und auf dem Heiligenberg gut bekannt war. Man hat nur nicht darüber gesprochen, denn der Ehebrecher war der Kaiser, und dem war alles erlaubt. Wir können annehmen, dass Alexander die Entwicklung auf dem Balkan, wo die Fürstentümer Montenegro und Serbien dem Osmanischen Reich inzwischen den Krieg erklärt hatten, mit größter Sorge verfolgt hat. Auf dem Rückweg nach Russland traf er Anfang Juli in Weimar den österreichischen Kaiser und vereinbarte mit ihm Neutralität in diesem Krieg, bis klar sein würde, wer die Oberhand gewinnt, um dann erst Verabredungen zu treffen.28 Womöglich wusste Alexander zu diesem Zeitpunkt nicht, dass seine Frau inzwischen begonnen hatte, sich aktiv auf dem Balkan zu engagieren. Die von ihr seit 1867 protegierte „Gesellschaft zur Versorgung der verwundeten und kranken Soldaten“ war inzwischen in Russische Rotkreuzgesellschaft umbenannt worden. „Die Kaiserin betont dadurch ihre Sympathie für die Slawen, dass sie ihnen unter dem Schutz des Roten Kreuzes Ärzte, Medikamente und Sanitätsmaterial schickt“, notiert Kriegsminister Miljutin.29 Als der Minister der Kaiserin gegenüber andeutet, dass Russland Gefahr laufe, in einen Krieg einzutreten, soll sie ihn mit „unzufriedener Miene“ angesehen haben.30 Eine Welle des Nationalismus überrollte Russland, die Kriegsbegeisterung wuchs. Bald zogen gut ausgerüstete Freiwillige, darunter fünfzig Gardeoffiziere, los, um in die serbische Armee einzutreten. Anfang Oktober komponierte Peter Tschaikowskij in nur fünf Tagen den Serbisch-Russischen Marsch, ein Auftragswerk für ein Benefizkonzert zugunsten der Kriegsopfer in Serbien, das unter dem Titel Slawischer Marsch veröffentlicht wurde. Nur der alte Fürst Wjasemskij erhob warnend seine Stimme: „Alles, was jetzt in der Orientfrage unternommen wird, ist für mich ein Alptraum“, schreibt er. „Müssen wir in unserem Körper leiden und unser Blut opfern, vielleicht auch unsere zukünftige Prosperität, damit die Serben und die Bulgaren blühen? Die Serben für die Serben! Die Bulgaren für die Bulgaren! Die Russen für die Russen! Es ist eine Verrücktheit unsererseits, uns mehr für Slawen als für Russen zu halten. Die Religion hat in all dem nichts zu suchen. Ein Religions-
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krieg ist der schlimmste aller Kriege. Das ist eine Anomalie und ein Anachronismus. Die Türken sind nicht zu tadeln, weil Gott sie als Moslems geschaffen hat, und da möchte man, dass sie christliche Tugenden besitzen. Das ist absurd. Vertreibt sie aus Europa, wenn ihr könnt, oder tauft sie, wenn ihr wisst, wie man das anstellt. Wenn nicht, lasst sie in Frieden, sie und die Orientfrage.“31 Wjasemskij hatte Recht, aber niemand hörte auf ihn, auch die Kaiserin nicht, der er sonst so nahe stand. „Unter dem Vorwande der Mitarbeit an dem humanitären Werke des Roten Kreuzes sammelten sich slawophile Elemente um die Kaiserin“, beobachtet auch General von Schweinitz. „Die Frauen waren besonders tätig; der Kaiser, welcher damals sein Verhältnis zur Fürstin Dolgoruki noch mit einem, wenn auch sehr durchsichtigen Schleier zu umhüllen suchte, war wohl gerade dieses unseligen Verhältnisses wegen nachgiebiger gegen seine Gemahlin, als er es unter anderen Umständen gewesen sein würde. Die Geldsammlungen für die Serben hatte er schon gestattet; die Oberhofmeisterin Ihrer Majestät [die alte Gräfin Protassow] und die Gemahlin des Hausministers [Gräfin Adlerberg] gingen, von Hoflakaien gefolgt, auf dem Newski Prospekt und in den großen Marktgewölben des Gostiny Dwor herum und sammelten für die slawischen Brüder. Die Teilnahme am Schicksal dieser Brüder, welche dem russischen Volke selbst dem Namen nach unbekannt waren und nicht als Verwandte, sondern nur als Glaubensgenossen sein Mitgefühl erregten, war noch immer eine sehr geringe geblieben. Durch das Hervortreten des Hofes und die damit verbundene Aussicht auf persönliche Vorteile und Orden kam Bewegung in eine in Russland zahlreich vertretene Kategorie von Individuen, welche nun unter dem Zeichen des roten Kreuzes eine rührige Agitation betrieben.“32 Es war eine gefährliche Agitation, die Russland früher oder später in einen neuen Krieg gegen die Türkei führen würde, den Alexander vermeiden wollte. Doch Maria hielt den Zeitpunkt für günstig, die Schwäche der Türkei zu nutzen, die in St. Petersburg immer übertrieben wurde. „Die Türkei geht ihrer völligen Desorganisation entgegen“, schreibt sie ihrem Bruder im August. „Der Sultan ist nicht genügend wahnsinnig, um auf die Seite geschafft werden zu können, aber doch zu sehr, um zu regieren, die Truppen sind schlecht gezahlt und
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noch schlechter ernährt. All dies sind ebenso viele auflösende Elemente. Österreich möchte jetzt, glaube ich, einen Teil Bosniens annektieren, der Rest soll sich dann in für das slawische Element möglichst lebensunfähiger Weise organisieren, weil man es in Wien so fürchtet und noch mehr hasst. Bismarck ist für mich eine Sphinx, die sicherlich darüber nachdenkt, wie im Trüben zu fischen sei. Er schont besonders England und lauert in Varzin, der alte Fuchs. Wird er jemals jemand finden, der noch geriebener ist als er?“33 Ende August reiste sie auf die Krim. Doch Bismarck hatte nicht vor sich einzumischen, falls Russland auf dem Balkan Krieg führen sollte, während die Engländer es mit allen Mitteln eben daran hindern wollten, weil sie keinen Machtzuwachs Russlands auf dem Balkan wollten. Sie verlangten eine Konferenz der Mächte in Konstantinopel. Schließlich sah Alexander sich gezwungen, dem Treiben seiner Gattin und ihrer Freundinnen ein Ende zu bereiten, indem er den Thronfolger, der seine Mutter unterstützte, auf einer Sitzung mit seinen Ministern im Oktober 1876 in Livadia quasi öffentlich zurechtwies: Er und die Kaiserin handelten gegen seinen Willen!34 Die sogenannte „slawische Sache“ vertiefte die Entfremdung der Ehegatten. Am Abend des 31. Oktober 1876 traf General von Schweinitz in Jalta ein und wurde am folgenden Morgen zum Frühstück nach Livadia geladen. „Kurz vor 1 Uhr war ich im Speisesaal des Kaiserlichen Landhauses von Livadia“, schreibt er. „Der Hof war in der Kirche; bald erschienen die Majestäten, beide ernst, blass, tief bekümmert aussehend; die Kaiserin ging gerade auf mich zu und sagte: ‚Nun, ich hoffe, wir werden Sie nie auf der Seite unserer Feinde finden.‘ Wir setzten uns dann zum Frühstück […], das Ganze war aber höchst unbehaglich und trübselig, fast niemand sprach ein Wort, und der Eindruck, welchen die hohen Herrschaften auf mich machten, wurde noch dadurch verstärkt, dass alle in Trauer waren, weil es der Jahrestag des Todes der Kaiserin-Mutter war.“35 Im November wurde Tschaikowskijs Slawischer Marsch in einem Benefizkonzert für das Rote Kreuz in Moskau uraufgeführt. Es war ein Riesenerfolg. Inzwischen hatte Russland die Pforte ultimativ aufgefordert, den Serben, die mehrere empfindliche Niederlagen erlitten hatten, obwohl
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ein russischer General ihre Armee kommandierte, einen Waffenstillstand zu bewilligen, und Alexander hatte, um der Forderung Nachdruck zu verleihen, eine Teilmobilmachung angeordnet. Die Antwort wurde mit größter Spannung erwartet. Die Pforte gewährte den Waffenstillstand, und in Livadia kam Freude auf.36 Aber es war wohl weiter von Krieg die Rede, sonst hätte Maria ihrem Bruder gegenüber nicht räsoniert: „Die türkischen Truppen werden unendlich weniger gut die Winterunbilden ertragen als die unsrigen. Das ist sicher. Sie (die Türken) sind scheinbar schon durch die Kälte und Krankheit demoralisiert.“37 Doch erst einmal folgte um die Jahreswende 1876/1877 die Konferenz der europäischen Mächte in Konstantinopel, die von der Pforte verlangte, Frieden mit Serbien und Montenegro zu schließen und die Autonomie Bulgariens anzuerkennen. Die Durchführung dieser Beschlüsse wollten die Großmächte kontrollieren. Die Pforte lehnte ab, weil sie ihre Souveränität bedroht sah, machte dann aber doch noch allerlei Konzessionen, ohne freilich die nötigen Garantien anzubieten.38 Deren Fehlen führte schließlich dazu, dass Russland – gegen den Rat des Kriegsministers und des Finanzministers – dem Osmanischen Reich im April 1877 den Krieg erklärte. Unter dem Druck der Öffentlichkeit hatte Alexander keine andere Wahl mehr, als für die heilige Sache der Befreiung aller Slawen und orthodoxen Brüder vom Joch der Türkenherrschaft zu kämpfen. Er hätte diesen Krieg lieber vermieden. Im Juni 1877 reiste der Kaiser selbst an die Front: Er wurde von Alexander („Sandro“) von Battenberg begleitet, dem zweitältesten Sohn Alexanders von Hessen, der sich für die seiner Familie erwiesenen Wohltaten Russlands durch die Teilnahme am Krieg gegen die Türken bedanken wollte. Der Zwanzigjährige war Leutnant bei den hessischen Dragonern. „Nun sind sie abgereist! Möge Gott über sie wachen und sie glücklich zurückführen“, schreibt Maria ihrem Bruder aus Zarskoje Selo. „Ich hoffe, dass die Abwesenheit des Kaisers nicht länger als sechs Wochen dauert. Das wäre in jeder Beziehung wünschenswert … Möge sich dieser Krieg überhaupt nicht in die Länge ziehen und England ruhig bleiben. Sie haben ganz einfach Angst und trotz ihrem prakti-
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schen Sinn halten sie uns für fähig, dass wir Konstantinopel behalten und selbst Indien erobern wollen! Furcht ist aber ein schlechter Ratgeber. Schließlich wird geschehen, was Gott will. Hoffentlich fällt Österreich nicht ganz von uns ab, wie es das englische Kabinett wünscht.“39 Österreich blieb neutral, England hätte eine russische Eroberung Konstantinopels als casus belli betrachtet, und Preußen wollte sich nicht einmischen. Bismarck hatte Russland nur „wohlwollende Neu tralität und diplomatische Unterstützung“ zugesagt, der Balkan war ihm bekanntlich nicht die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert. Nach raschen Anfangserfolgen lief sich die russische Offensive vor der Festung Plewen (russ.: Plewna) fest. Sie konnte erst nach drei Anläufen unter schweren Verlusten genommen werden. Alexander, der den Sturm auf Plewna selbst kommandiert hatte, besuchte Verwundete, tröstete Sterbende und – erwartete in Bukarest den Besuch seiner Geliebten. Ende Januar 1878 stand seine Armee vor den Toren Konstantinopels, am 31. Januar bat der Sultan um einen Waffen stillstand. Im (Vor)Frieden von San Stefano vom 3. März 1878 erhielt Russland Gebiete zurück, die es 1856 im Frieden von Paris hatte abgeben müssen. Serbien, Montenegro und Rumänien wurden unabhängig, Bulgarien autonomes Fürstentum im Osmanischen Reich. „Im Herbst kehrte der Kaiser in seine Hauptstadt zurück“, schreibt die Staatsdame Naryschkina-Kurakina. „Er war gealtert, und seine Züge trugen die Spuren der erlittenen seelischen Erregungen. In allen Gemütern gärte es. Nach den großen, für die Bulgaren gebrachten Opfern erwartete nun auch Russland seinen wohlverdienten Lohn. Allgemein wurde offen von einer Konstitution gesprochen, dieses Wort schwebte gleichsam in der Luft, und es war in allen Zeitungsspalten zu lesen.“40 Doch der Lohn – die Verfassung – blieb aus. Schlimmer noch: Die Zensur wurde wieder verschärft, und das Wort „Konstitution“ durfte in der Presse nicht mehr erwähnt werden. „Allgemein war die Enttäuschung über den Ausgang des Krieges, den Russland 1877 gegen die Türkei begonnen hatte“, schreibt auch Peter Kropotkin. „Vor dem Ausbruch des Krieges loderte im Lande das Feuer der Begeisterung für die slawischen Brüder hoch auf; auch
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glaubte man damals vielfach, der Befreiungskrieg auf der Balkanhalbinsel werde den Anstoß zu einer fortschrittlichen Bewegung in Russland selbst geben. Aber die Befreiung der vom Türkenjoch unterdrückten Slawen war nur zum Teil erreicht worden. Die entsetzlichen Opfer von russischer Seite waren infolge verschiedener Missgriffe der Heeresleitung vergebens gebracht. Hunderttausende hatte in Schlachten, die nur halbe Siege waren, ihren Tod gefunden, und die der Türkei abgerungenen Zugeständnisse gingen durch den Berliner Kongress wieder verloren. Außerdem wurde in weiten Kreisen bekannt, dass die Unterschlagung öffentlicher Gelder während dieses Krieges fast in demselben Maße stattgefunden hatte, wie während des Krimkrieges.“41 Die Empörung wuchs, als rund 200 Volksfreunde (Narodniki), die z.T. seit 1873 in Haft waren, vor Gericht gestellt wurden und Alexander die relativ milden Urteile nicht weiter milderte, sondern verschärfte. Er war froh, wieder bei Katja zu sein. Von der Existenz seiner zweiten Familie, die er „geheim“ glaubte, wusste mittlerweile ganz Petersburg. Es war auch bekannt, dass der Kaiser in Zarskoje Selo und in Pawlowsk mit seinen jüngeren Kindern auszufahren pflegte. Jedoch hielt die Kutsche nach einiger Zeit, der Herrscher verabschiedete sich von seinen Kindern, stieg aus und ging allein weiter. An einer bestimmten Stelle wartete ein Flügeladjutant mit einem Pferd. Alexander saß auf und ritt in eine Richtung weiter, die allgemein bekannt war. „Der zweite Teil der Ausfahrt endete in der Gesellschaft der geheimen Freundin“, schreibt Alexandra Tolstaja und fügt hinzu: „Dieses Manöver wiederholte sich täglich.“42 Es war gefährlich, dieses Manöver, denn Attentäter konnten überall lauern. Es kam auch vor, dass ein Lakai die Dolgorukowa mit ihren Kindern heimlich in den Palast brachte. „Ich kann mich bis jetzt nicht völlig erholen, trotz des schönen Klimas und der herrlichen Luft unserer Küste“, schreibt Maria Ludwig II. aus Livadia. „Diese Krankheit kam nach einem schweren Prüfungsjahr und fand mich folglich schon sehr angegriffen, deshalb dauern die Folgen so lang. Deine warmen Worte der Bewunderung für unsere herrliche Armee haben den Kaiser und mich erfreut u. gerührt. Wir haben so viele Feinde und so wenig Freunde, dass jeder Beweis der
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Theilnahme uns doppelt Werth ist; der Kaiser trägt mir auf, Dir es auszusprechen, nebst seinen herzlichsten Grüßen und Wünschen für Dich. Gottlob bekommt ihm die Krim vortrefflich, Luft und Seebäder stärken die Gesundheit, so wie die Bergluft Deines schönen Bayernlandes. Möge sie Dir gut bekommen, lieber Ludwig, u. die Liebe Deines Volkes Dich beglücken, dies der innige Wunsch Deiner Dich liebenden Tante Marie.“43 Während des vergangenen Krieges hatte die Rotkreuzgesellschaft ihre Tätigkeit auf Marias Betreiben hin ausgeweitet, und wieder hatte sie erhebliche Mittel gespendet: Sie hatte Lazarettzüge ausgerüstet und an die Front geschickt und eine Reihe großer Feldlazarette eröffnet. Der Krieg hatte sie stark mitgenommen. „Um 6 Uhr Galadiner von etwa 80 Personen“, notiert Botschafter von Schweinitz im Frühjahr 1879. „Die Kaiserin war zu krank, um ihm beizuwohnen, ließ mich aber nach Tisch mit Anna in ihren Salon rufen und war sehr herzlich. Sie erinnerte mich daran, dass sie mich seit dem 3. Juni, dem Tage nach dem Attentat Nobilings [auf Wilhelm I., M.B.], nicht gesehen habe, seit welcher Zeit sie ohne Unterbrechung leidend gewesen sei. Ich fand sie sehr verändert und abgemagert. Der Kaiser, welcher die Uniform unseres Alexander-Regiments trug, war so heiter, wohl und gesprächig, wie ich ihn lange nicht gesehen habe. Vor und nach Tisch sprach er in besonders offenherziger Weise über unsere Beziehungen und über Politik im Allgemeinen.“44 Wenige Tage nach dem Diner, am 2./14. April 1879, schoss der Lehrer Alexander K. Solowjow von der Gruppe Semlja i wolja (Land und Freiheit) bei den Toren des Generalstabs der Garde an der Moika auf den Kaiser, der nach seinem täglichen Spaziergang auf dem Weg zurück zum Winterpalast war. Wieder kam er mit dem Schrecken und einer leichten Fußverletzung davon. Wie immer informierte er selbst seine Frau gleich nach dem Anschlag. „Du kannst Dir denken, was in mir vorging“, berichtet diese ihrem Bruder. „Das allererste war, dass wir Gott zusammen auf den Knien für die wunderbare Errettung dankten. Der Kaiser ist bewunderungswürdig in seiner Ruhe und Abklärung … Er ist fest entschlossen, auch vor den energischsten Maßnahmen nicht zurückzuschrecken … Ich gebe zu, ich fühle mich gebrochen, gierig nach Ruhe, die auch dem Kaiser so nötig
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ist. Er fühlt sich überdies beschämt, dass er nur von Kosaken eskortiert ausgehen kann, was man von ihm mit Mühe erreicht hat … Möge Gott sich unser erbarmen.“45 Das Attentat hatte ihr den Rest gegeben. „Die schwache Gesundheit der Herrscherin war nach dem Anschlag vom 2. April 1879 endgültig untergraben“, schreibt Alexandrine Tolstaja. „Danach hat sich ihr Zustand schon nicht mehr gebessert. Ich sehe sie jetzt noch wie an jenem Tag – mit fiebrig glänzenden Augen, gebrochen, verzweifelt. ,Es lohnt sich nicht mehr zu leben‘, sagte sie mir, ,ich fühle, dass mich das umbringt.‘ Sie sprach diese Worte mit einem Eifer, der ihrer Natur nicht eigen war. Dann fügte sie hinzu: ,Wissen Sie, heute hat der Mörder ihn gehetzt wie einen Hasen. Es ist ein Wunder, dass er sich retten konnte.‘ Ich wartete, bis die Herrscherin sich beruhigt hatte, erst dann ließ ich sie allein und ging ins Kabinett des Herrschers, der mich sofort empfing. Ich schüttelte ihm bewegt die Hand, aber er schien durch die eben erlebte Gefahr überhaupt nicht beunruhigt zu sein.“46 Der Eindruck täuschte. Natürlich war er beunruhigt, weniger seinetwegen als vielmehr ihretwegen: Katjas wegen. Sorgen machte er sich vor allem um sie und ihre Kinder. Jede Fahrt zu ihr war gefährlich, und auch sie in ihrer Kutsche, die jeden Tag vor dem Saltykow-Eingang hielt, war gefährdet. Das konnte er nicht länger riskieren und ließ seiner Geliebten eine Wohnung im dritten Stock des Winterpalastes einrichten, die durch einen Aufzug mit seinen Gemächern verbunden wurde. Katjas Übersiedlung in den Winterpalast wurde von der Petersburger Öffentlichkeit als ungeheure Taktlosigkeit der kranken Kaiserin gegenüber empfunden. Sogar bei Hofe kam Kritik am Monarchen auf. „Vor dem Umzug der Fürstin Dolgorukaja in den Winterpalast äußerten die Höflinge nur flüsternd und sehr selten Kritik“, beschreibt Mark Aldanow die Lage in seinem großen historischen Roman Istoki (Ursprünge). „Jetzt lösten sich alle Zungen. Fast ohne die Stimme zu senken, sagten sie, dass das ein unerhörter, die Dynastie kompromittierender Skandal sei. Sogar die Alten, die nicht gewohnt waren, das Benehmen der Zaren zu verurteilen, oder diese Gewohnheit während der letzten Herrschaft verloren hatten, schlugen betrübt die Hände über dem Kopf zusammen. ,Eine schreckliche Sache ist die Altersliebe‘,
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sagte einer von ihnen. Alle hatten Mitleid mit der kranken Zarin, weil sie verstanden, dass sie die Wahrheit unmöglich nicht erfahren konnte. Ihre Zimmer lagen neben den Zimmern des Zaren. Die Kaiserin hat es wirklich sehr schnell erfahren – obwohl als letzte.“ Sie habe der Hofdame Gräfin Tolstaja hustend gesagt: „Je pardonne les offenses qu’on fait à la souveraine, mais je ne puis pardonner les tortures qu’on inflige à l’épouse.“* Es soll nun immer häufiger vorgekommen sein, dass Maria in den Räumen über sich die Kinder der anderen laufen und lärmen hörte, und im Sommer spielten sie in Zarskoje Selo direkt unter ihren Fenstern. Dem Personal gegenüber erfand sie dann natürliche Gründe für den Lärm oder entfernte sich schweigend.“47 Ihrem Mann gegenüber verlor sie kein Wort über all das, sah ihn nur mit wissendem, allverzeihendem Blick an und setzte ihn gerade dadurch ins Unrecht. Ihm war auch nicht wohl in seiner Haut. Seine Umgebung sah ihm an, dass er sich unbehaglich fühlte. „Der Herrscher sieht müde aus“, notiert Walujew im Sommer 1879 in seinem Tagebuch, „und sprach auch selbst von der Nervenanspannung, die zu verbergen er sich bemüht. Eine gekrönte halbe Ruine. In einer Zeit, in der er Kraft braucht, darf man offensichtlich nicht darauf rechnen.“48 Und in Pawlowsk notiert K.R.: „Unsere Familie speiste beim Zaren; die Kaiserin ist außergewöhnlich schwach, sie sieht krank und müde aus, sie hustet stark. Vor Schwäche nahm sie fast nicht am Gespräch zwischen dem Herrscher und Papa teil, sie saß reglos im Sessel, schloss häufig die Augen und sah einfach jämmerlich aus. […] Man muss zugeben, dass wir diese Essen unter uns weder fröhlich noch interessant fanden.“49 Ein paar Tage später traf Großfürstin Alexandra Josephowna, die Mutter von K.R., in Zarskoje auf eine mit zwei englischen Pferden bespannte Kutsche, die der Herrscher selbst lenkte. Darin saßen außer ihm die Fürstin Dolgorukowa und deren Kinder. Alexander machte einen verlegenen Eindruck. „Verständlich, dass Mama stark in Verwirrung geriet durch eine solche Begegnung. Ich dankte Gott, * „Ich verzeihe die Demütigungen, die man der Souveränin zugefügt hat, aber ich kann die Qualen, die man der Ehefrau auferlegt, nicht verzeihen.“
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dass ich nicht mit Mama gefahren war. Das Herz blutet einem beim Anblick dessen, was unser Zar tut. Der allrussische Selbstherrscher, und noch dazu nach seiner wunderbaren Rettung von einem Anschlag auf sein Leben.“50 Aber niemand aus der großen Familie sagte ihm etwas, niemand traute sich. Die erwachsenen Kinder des Kaiserpaares wagten nicht einmal, untereinander über das Verhältnis ihres Vaters zu sprechen, obwohl nun schon alle davon wussten und mit ansahen, wie ihre Mutter darunter litt. Nur Minnie, die kleine Dänin, die Maria aufgefordert hatte, alles dafür zu tun, dass der Thron nicht an den Sohn der Mätresse fiel, traute sich und sagte ihrem Schwiegervater die Meinung. „Vergessen Sie nicht, dass Sie auch nur meine Untertanin sind“, antwortete er kühl. Im Oktober 1879 reiste die Kranke ein letztes Mal an die Côte d’Azur. Eigentlich wollte sie nicht mehr verreisen, doch der Kaiser hatte darauf bestanden, dass sie den Winter an der Riviera verbrachte, weil er mit Katja auf die Krim wollte, und nach langem Kampf hatte sie nachgegeben, vielleicht auch nur, weil sie ihren „Heiligen Berg“ noch einmal sehen wollte. „Doch eine große Freude Euch alle und den lieben Berg wiederzusehen“, schreibt sie Alex aus Zarskoje.51 Graf Scheremetjew, der den Zesarewitsch nach Gattschina begleitete, konnte beobachten, wie seine Mutter abreiste: „Auf dem Bahnhof warteten wir lange auf die Ankunft des Petersburger Zuges. Als die Dämmerung schon hereingebrochen war, lief er langsam ein. Beim Fenster zeigte sich der Herrscher Alexander Nikolajewitsch in weißer Furaschka mit breitem Schirm, düster, blass, nachdenklich. Man brachte die Kaiserin an die Côte d’Azur, und Dr. Botkin reiste mit ihr. Es war schon dunkel, und alle Gesichter waren düster, als wenn das ein Beerdigungszug wäre. In Gattschina verabschiedete sich der Zesarewitsch von seiner Mutter, der Zug setzte sich in Bewegung und verschwand aus dem Gesichtsfeld. Er blieb ganz allein stehen, aber er beherrschte sich. ‚Fahren wir‘, sagte er, und wir fuhren zum Baltischen Bahnhof […].“52 Sergej und Paul begleiteten ihre Mutter. Der kaiserliche Zug zählte zwölf Waggons, auf jedem prangte der Doppeladler. Nach kurzem Aufenthalt in Jugenheim, wo die Gräfin Tolstaja sie besuchte, fuhr sie weiter, jedoch nicht nach Nizza, das
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voller schmerzlicher Erinnerungen war, sondern nach Cannes, wo sie die luxuriöse Villa des Dunes des Pariser Bankiers Charles Mallet an der Croisette bezog. Das russische Geschwader, das im Golf Juan vor Anker lag, begrüßte sie mit 101 Salutschüssen. Für den Transport der Suite und ihres Gepäcks vom Bahnhof zur Villa wurden 36 Equipagen benötigt.53 In Cannes erhielt sie Besuch von ihrer Tochter, der Herzogin von Edinburgh, und vom Zesarewitsch. Der Boulevard Alexandre III., der von der Croisette abgeht, erinnert an diesen Besuch. Auch Alexander von Hessen kam seine Schwester noch einmal besuchen. Doch diesmal half die mediterrane Luft nicht, der Winter war nasskalt, und am 1. Dezember schneite es. Als sie erfuhr, dass auf der Rückfahrt des Kaisers von der Krim vor den Toren Moskaus eine Mine unter dem Begleitzug explodiert war, brach sie zusammen. Wieder kam Alexander II. mit dem Schrecken davon. Sie schickt ihm ein Telegramm, auf das er trocken antwortet: „Deine Nachrichten in Tula erhalten. Bedaure, dass Dein Zustand der alte ist. Fühle mich gut und nicht müde. Umarme Dich zärtlich. Alexander.“54 Das fehlgeschlagene Attentat hatte ihn Katja, die mit ihm zurückreiste, noch näher gebracht, seine Frau war sehr weit weg … „Sie fuhr fort zu verlöschen“, notiert Alexandrine Tolstaja.55 Zu diesem Zeitpunkt hatten die Ärzte die Hoffnung auf Besserung endgültig aufgegeben, und der Kaiser wünschte, dass sie nach Russland zurückkehrte. Nach anfänglichem Widerstreben fügte sie sich, fürchtete aber, die Reise nicht zu überleben. „Mir scheint, mit einer kranken Putzfrau geht man besser um als mit mir“, klagt sie einer ihrer Damen.56 Tatsächlich ging es ihr bereits so schlecht, dass ihre Begleitung während der Fahrt mehrfach mit ihrem Ableben rechnete. Ihr Beichtvater hielt sich jederzeit für die heilige Ölung bereit. Maria kehrte in ein Land zurück, das sich weiter verändert hatte. „Man hat hier jetzt den Eindruck“, notiert Botschafter von Schweinitz im Januar 1880, „als wenn, abgesehen von der verhältnismäßig kleinen, nicht herrschenden, aber genießenden Klasse, in Russland nur Unzufriedene leben, von denen der weitaus größte Teil apathisch und nur ein sehr kleiner Teil tätig revolutionär ist. Ich habe jedoch zu konstatieren, dass es sich in jener apathischen Masse zu regen anfängt.
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Die Anzeichen sind schwer zu definieren, für den hier Lebenden aber nicht zu verkennen; eines derselben besteht darin, dass nicht mehr bloß kritisiert und getadelt wird, sondern dass Berufene und Unberufene Vorschläge machen und Denkschriften an hohe und höchste Personen einreichen.“57 Mit einem Wort: Die Gesellschaft verlangte nach politischen Veränderungen, die auf sich warten ließen. Peter A. Walujew, inzwischen Vorsitzender des Ministerkomitees, hatte dem Kaiser noch einmal ein Verfassungsprojekt vorgelegt, aber keine Antwort erhalten, und die Attentate hatten nur die Repressionen verschärft. Im August 1879 war die Organisation Land und Freiheit zerfallen. Aus ihren Resten waren zwei neue Gruppen hervorgegangen. Eine davon war die Partei Volkswille. Deren Exekutivkomitee, also der „sehr kleine Teil“ der „revolutionär Tätigen“, hatte den „Zar-Befreier“ auf seiner ersten Sitzung zum Tode verurteilt.
12 „Niemand konnte sie ohne Tränen ansehen“ Lebensende Rückkehr nach St. Petersburg – Besuch der Tochter Maria – Bombenanschlag im Winterpalast – General Loris-Melikow – Diktatur des Herzens – Letzte Wünsche – Tod Marias – Beisetzung – Zweite Ehe Alexanders – Empörung der Familie – Unverständnis an den europäischen Höfen – Vorahnungen – Letztes Attentat auf Alexander II. – Alexander III. – Erhalt der Autokratie 1880–1881
Am 4. Februar 1880 traf der Sonderzug der Kaiserin wieder in St. Petersburg ein. „Heute kam die kranke Kaiserin aus Cannes zurück“, notiert Botschafter von Schweinitz, „ich stellte mich mit Bernhard [von Bülow, M.B.] am Denkmal des Kaisers Nikolaus auf und erwartete den traurigen, vom Bahnhof kommenden Zug.“1 Die Rückkehr der Kaiserin veranlasste den Diplomaten, sich über den Einfluss der dem Kaiserpaar nahestehenden Frauen bei Hofe zu äußern, den er fatal fand. „Was die weiblichen Umgebungen des Kaisers, d. h. die Damen des Hofes betrifft, haben dieselben seit dem Kriege den Einfluss, welcher so viel zum Kriege beitrug, verloren“, schreibt er. „Dass der Kaiser damals in Peterhof die Frauen gewähren und Dinge tun ließ, deren verhängnisvolle Folgen ihm sein Kanzler [d. h. Gortschakow, M.B.] nicht genügend klar machte, wird durch sein Verhältnis zu einer dem Hofe nicht angehörenden Dame verständlich; der Kaiser war so nachgiebig, weil er Nachsicht gebrauchte. Jenes Verhältnis wurde damals noch mit einiger Heimlichkeit umschleiert, wodurch Rücksichten notwendig wurden; dies ist seit dem Kriege anders geworden. […] Die etwa 32-jährige, schöne, geistig träge und unbedeutende Frau, welche dem Kaiser nahe steht und möglicherweise
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noch näher treten könnte, hat ein jedes andere weit überwiegendes Interesse, nämlich das, den Kaiser möglichst lange zu erhalten. Slawophile und chauvinistische Agitation würde von jener Seite auf keine Unterstützung zu rechnen haben […]. Der bezeichnete Einfluss würde demnach weniger schädlich sein als derjenige deutscher Prinzessinnen, welche durch Übertreibung des nationalen und religiösen Russentums ihre Herkunft sich verzeihen machen wollen.“2 Zu letzteren rechnete Schweinitz zweifellos auch die Herrscherin aus Hessen. Aber die „Favorite“ hatte eben auch schon „viel verschuldet“, und so konnte sich der Botschafter „nicht darüber täuschen, dass dieses unselige Verhältnis viel, sehr viel zum Unglück der Dynastie und des Landes beigetragen hat“.3 Gräfin Tolstaja und die anderen Hofdamen erwarteten die Kaiserin im Winterpalast. „So kehrte sie also zu uns zurück!“, schreibt sie. „Um sie vor jeder Aufregung und Überanstrengung zu schonen, wurde außer einigen Mitgliedern der Familie niemandem erlaubt, sie abzuholen. Selbst das Volk gab keinen Laut von sich, als sie vorbeifuhr. Alle nahmen die Mützen ab und bekreuzigten sich beim Anblick der traurigen Equipage, die voller Pelze war, um die kranke Kaiserin vor den Blicken zu verbergen. Man konnte kaum den Kaiser und die Großfürstin Maria Alexandrowna erkennen, die sie begleiteten. Wir hatten uns an ein Fenster geschmiegt, das auf den Palastplatz hinausgeht, und schauten auf die heranfahrende Equipage, und sie wirkte auf uns wie ein offenes Grab.“4 Die Kranke war zum Sterben heimgekommen, legte sich hin und stand nicht wieder auf. Doch diejenigen, die ihr nahe standen, hofften immer noch auf ein Wunder. „Wir, die wir eine tiefe Anhänglichkeit ihr gegenüber empfanden, konnten dem Unglück, das uns erwartete, noch nicht ins Auge sehen“, schreibt Gräfin Tolstaja. „Wir hielten sie für eine Stütze Russlands, ihrer Familie und unser aller. Da wir die Lage der Dinge kannten, sahen wir in ihrem Tod ein allgemeines Unglück und den Zusammenbruch.“5 Die Formulierung „Lage der Dinge“ war eine Umschreibung für die Liaison des Kaisers, die unabsehbare Folgen haben konnte. Was würde er nach dem Tod seiner Frau tun? Alexander hatte sich verändert, fand die Gräfin, die ihn so lange kannte: „Wer von uns könnte im Herrscher jenen Menschen wiedererkennen, der er
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früher war, und würde er selbst sich nicht, wenn er zurückschaute, über die mit ihm geschehene Metamorphose wundern? Er ist gleichsam sittlich vergiftet und weist freiwillig [kursiv im Original, M.B.] alles Beste in sich zurück. Er ist eine schreckliche Illustration der Wirkung des Bösen. […] Natürlich hat der Herrscher nicht angenommen, dass alles so endet, und vielleicht liegt darin seine Rechtfertigung.“6 Zwei Wochen nach Marias Rückkehr aus Cannes erfolgte das nächste Attentat, und diesmal hatten die Täter gleich die ganze kaiserliche Familie im Visier, die in diesen Tagen lieben Besuch erwartete. Alexander von Hessen und sein Sohn Sandro, der im April 1879 von der bulgarischen Nationalversammlung einstimmig zum ersten Fürsten von Bulgarien gewählt worden war, sollten am 17. Februar mit dem Zug aus Warschau eintreffen und um 18 Uhr mit der kaiserlichen Familie zu Abend essen. Am 5./17. Februar 1880 schneite es. Es schneite schon seit einigen Tagen, und St. Petersburg lag unter einer dicken Schneedecke, die den üblichen Stadtlärm dämpfte. Selbst im Zentrum war es still. Umso lauter ertönte um 18 Uhr eine gewaltige Explosion im Winterpalast. Niemand verstand sofort, was das war. Es war eine Bombe, die im Souterrain unter dem Wachtlokal explodiert war und es völlig zerstört hatte. Das Wachtlokal lag unter dem Speisesaal, in dem die kaiserliche Familie um 18 Uhr mit ihren hessischen Verwandten Platz nehmen sollte. Doch wegen der Schneeverwehungen hatte der Zug des Prinzen eine halbe Stunde Verspätung, und so explodierte die Bombe bereits, als der Kaiser mit seinen Gästen noch auf dem Weg ins Speisezimmer war. „Der Boden hob sich wie bei einem Erdbeben“, hält Alexander von Hessen in seinem Tagebuch fest, „die Gaslampen in der Galerie gingen aus, es wurde vollkommen dunkel, und in der Luft verbreitete sich ein unerträglicher Geruch von Pulver oder Dynamit. Im Speisezimmer war der Lüster direkt auf den gedeckten Tisch gefallen.“7 Der Kaiser und seine Gäste kamen mit dem Schrecken und ein paar Schrammen davon, doch mehrere Soldaten des Finnländischen Garderegimentes, die an diesem Abend Dienst hatten, verloren ihr Leben. Fast fünfzig von ihnen wurden mehr oder weniger schwer verletzt, aber wer konnte, nahm sofort wieder seinen Posten ein, während der Kaiser in die Gemächer seiner Geliebten über dem Speisezimmer
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stürzte, um sich davon zu überzeugen, dass ihr nichts geschehen war. Sie wartete schon auf ihn. Die Bombe hatte der Tischler Stepan Chalturin von der Terrororganisation Volkswille gelegt, der sich später zu seiner Tat bekannte und sie sogar beschrieb.* Viele drängten in dieser Nacht in den Winterpalast, Verwandte, Würdenträger, Diplomaten. Auch Botschafter von Schweinitz wollte den Kaiser sehen. Er konnte die Tränen nicht zurückhalten. „Gegen 9 Uhr war ich im Palais; der Kaiser saß ganz ruhig bei der Whistpartie; er umarmte mich und sagte: ‚Gott hat mich wieder beschützt; die Kaiserin weiß nichts von dem Vorfall; sie schlief ganz ruhig.‘ Ich besichtigte die Lokalitäten mit General Totleben. In der Wachtstube waren gegen 40 junge Soldaten der Explosion zum Opfer gefallen; blutige Gliedmaßen und Uniformstücke lagen an der Seite; in dem Krater wurde eifrig geschaufelt; ein unangenehmer Geruch erfüllte den Raum. Auffallend und bezeichnend für die hier herrschende apathische Stimmung ist es, dass bis jetzt um 1 nachts, wo die Nachricht von dem furchtbaren Ereignis in alle Stadtteile gedrungen ist, wie ich aus den mir zugehenden Meldungen schließe, doch nicht die geringste Bewegung in den Straßen wahrzunehmen ist.“8 Was Schweinitz „apathische Stimmung“ nennt, war wohl eher der Schockzustand, in dem sich St. Petersburg befand. Und der Schock war gewaltig. An Attentate war man nun schon gewöhnt, aber ein Sprengstoffanschlag auf den Kaiser in seinem eigenen Haus, in seiner Hauptresidenz? Unfassbar!!! Wer waren diese Leute, die den Zaren töten wollten? „Wir gehen durch eine Epoche des Terrors“, notiert K.R. in seinem Tagebuch, „nur mit dem Unterschied, dass die Pariser ihre Feinde vor sich sahen, während wir sie nicht sehen und nicht kennen, ja nicht einmal eine Ahnung von ihrer Zahl haben … Die Panik ist allgemein. Die Leute haben den Kopf endgültig verloren und schenken den sinnlosesten Gerüchten Glauben.“9 Am häufigsten war von einer Verschwörung bei Hofe die Rede.10 * Chalturin fiel der Polizei nach einem weiteren Anschlag in Odessa in die Hände und wurde gehängt. In der Sowjetzeit wurde die Millionnaja-Straße, die zum Winterpalast führt, nach ihm benannt. Seit 1991 heißt sie wieder Millionnaja.
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Doch der bereits zitierte Großfürst Alexander Michajlowitsch, auch ein Cousin Alexanders II., schreibt 50 Jahre später im französischen Exil in seinen Erinnerungen, der „Gedanke an Herrschermord“ habe in der Luft gelegen. „Keiner hat das so gefühlt wie Dostojewski, in dessen Werken man heute wahrhaftig eine Prophezeiung des bolschewistischen Umsturzes sehen könnte. Kurz vor seinem frühen Tod, im Januar 1881, äußerte er im Ton erstaunlicher Aufrichtigkeit in einem Gespräch mit dem berühmten russischen Redakteur Suworin: ,Sie scheinen zu glauben, dass sehr viel Hellseherei in meinem letzten Roman Die Brüder Karamasow liegt. Warten Sie die Fortsetzung ab. Ich arbeite daran. Ich lasse Alioscha Karamasow aus der geistlichen Abgeschiedenheit des Klosters heraustreten und sich den Nihilisten anschließen. Mein reiner Alioscha wird den Zaren ermorden!‘“11 Ganz offensichtlich waren die Sicherheitsmaßnahmen nicht ausreichend gewesen. Chalturin, ein tüchtiger Tischler, der sich fromm gab und keinerlei Verdacht erregte, hatte unbemerkt Dynamit in vielen kleinen Mengen in seine Kellerwerkstatt im Palast schmuggeln können. Alexandrine Tolstaja zufolge war wenige Wochen vor dem Attentat sogar eine Warnung mit einem Plan des Winterpalastes und genauer Bezeichnung des Tatortes aus Berlin eingegangen, die vom Superintendanten des Winterpalastes als „Märchen“ bezeichnet und nicht beachtet worden war.12 In der Tat war es Botschafter von Schweinitz gewesen, der die russische Regierung amtlich informiert hatte, dass es ein Punkt des Souterrains sein würde, „von welchem aus der Kaiser in die Luft gesprengt werden sollte“.13 Die Familie hatte sich bei der Herzogin von Edinburgh versammelt, die ihre Räume im Erdgeschoss behalten hatte. Alexander II. wirkte gefasst. „Er war sehr ernst, sehr blass, wie im Übrigen auch alle anderen“, schreibt Tolstaja. „Der Abend verlief bedrückend. Alle redeten mit halblauter Stimme, wie in Gegenwart eines Kranken. Der Herrscher setzte sich wie gewöhnlich an den Kartentisch, stand aber hin und wieder auf, um nachzusehen, was dort vor sich ging, wo die Katastrophe geschehen war, oder schickte die Söhne hin.“14 Die Kaiserin erfuhr erst am nächsten Tag von dem Anschlag, sie hatte tatsächlich nichts gehört. „Der Kaiser hat es ihr erzählt, und man wirft ihm vor, dass er das sehr unvorsichtig tat“, berichtet Gräfin
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Tolstaja. „Sie brach in Tränen aus. ‚Zum ersten Mal gibt es Opfer bei einem Anschlag auf den Herrscher‘, sagte sie. Ungeachtet ihrer großen Schwäche befasste sie sich sofort mit dem Schicksal der Opfer und ihrer Familien, indem sie umgehend Hilfe in die Hospitäler schickte und sich nach jedem Verwundeten erkundigte. Dank ihrer rührenden Initiative gingen Spenden von allen Seiten ein, und die Zukunft der Überlebenden war gesichert.“15 Nach diesem Attentat beschlossen die Revolutionäre, auf Anschläge in Gebäuden und auf Züge zu verzichten, um unnötige Opfer zu vermeiden. Aber die Jagd auf den Zaren sollte fortgesetzt werden. Sein Tod würde, so glaubten sie, die Revolution auslösen. Alexander II. hatte noch ein Jahr zu leben … Drei Tage nach dem Anschlag befahl er seine Minister zu sich, um mit ihnen zu beraten, wie es weitergehen sollte. Die Minister kamen auf eine ziemlich ungewöhnliche Idee: Der Selbstherrscher sollte sich vorübergehend zurückziehen und seine Vollmachten eine Zeitlang einer Kommission übergeben, an deren Spitze ein „Diktator“ treten sollte. Die Wahl fiel auf General Michail T. Loris-Melikow, einen Armenier, der im letzten Türkenkrieg Kars erobert hatte und General-Gouverneur von Charkow gewesen war, ein mutiger, energischer Mann, der im Volk populär war und vergleichsweise liberale Ansichten hatte.16 Alexander fand die Idee überzeugend, denn so würde Graf Loris-Melikow alle Kritik auf sich ziehen, und er selbst könnte unbeschadet weiterregieren. Am 9./21. Februar setzte er die Oberste Kommission zur Verteidigung der sozialen Ordnung ein und ernannte den Armenier zum Vorsitzenden.17 LorisMelikow, nunmehr „Statthalter“ des Kaisers, sah seine Hauptaufgabe in der Reorganisation des gesamten Regierungssystems, vor allem aber in der Straffung der Regierungsgewalt, die er selbst als „Diktatur des Herzens“ bezeichnete. – Die Pressekonferenz, auf der Loris seine Ernennung zum „Diktator“ verkündete, war die erste Pressekonferenz überhaupt, die in Russland abgehalten wurde. Der „Diktator“ lehnte Repressionen entschieden ab, wollte stattdessen versuchen, die gemäßigt-liberalen Kreise der Gesellschaft zu gewinnen und die Terroristen zu isolieren. Im August 1880 ernannte der Kaiser ihn zum Minister des Inneren. Alexandrine Tolstaja hatte die Kaiserin erst drei Wochen nach ihrer Rückkehr wiedergesehen, weil sie von der Reise so erschöpft war, dass
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sie nur ihre Familie sehen konnte. Bei ihrem Anblick zog sich der Gräfin das Herz zusammen: „Welche Veränderung war seit unserem letzten Treffen vor nur ein paar Monaten in Jugenheim mit ihr vor sich gegangen. Blass, durchsichtig, luftig – nichts Irdisches, so schien es, war in ihr geblieben. Niemand konnte sie ohne Tränen ansehen. Mit letzter Kraft versuchte sie das körperliche Unvermögen zu überwinden. Aber bald wuchs die Schwäche so sehr, dass sie sich ans Bett gefesselt fand. Sie stand nur noch auf, um ihre Morgentoilette zu vollenden, und erhob sich nur selten zum Essen. Ihre Tochter las ihr täglich aus dem Evangelium und Bersiers Predigten vor. Nicht nur einmal brachte die Herrscherin ihr Bedauern zum Ausdruck, dass sie einige Psalmen nicht auswendig wusste. ,Wenn man krank ist, wäre das gut‘, sagt sie. Ihre Wärterinnen erzählten mir, dass sie sie jedes Mal, wenn sie das Zimmer betraten, betend vorfanden.“18 Es war ein Glück für die Kranke, ihre Tochter bei sich zu haben. Wie so oft war die Herzogin von Edinburgh wieder einmal zu Besuch. Sie hatte England satt, fühlte sich dort nicht respektiert. Zu Hause musste sie entdecken, dass die Mätresse ihres Vaters mit ihren Kindern nun über den Gemächern ihrer Mutter lebte. Sie stellte ihren Vater empört zur Rede, und vielleicht hat sie sein Gewissen berührt.19 Die jüngeren Söhne Sergej und Paul kamen gern zum Kartenspielen, sie vergötterten ihre Mutter. Aber sie erholte sich nicht mehr. „Überhaupt, die Seele der Herrscherin schien in der Zeit zu wachsen, in der ihre körperlichen Kräfte erloschen“, schreibt Alexandra Tolstaja. „Das Irdische zog sich zurück, indem es dem Göttlichen Platz machte, das sie immer stärker durchdrang. Von Zeit zu Zeit brachen aber Worte aus ihr heraus, die denken lassen, dass sie noch am Leben festhielt. […] ,Ich weiß‘, sagte sie einmal zu Großfürstin Olga Fjodorowna [ihrer Schwägerin, geb. Cäcilie von Baden, M.B.], ,dass ich nie mehr gesund werde, aber ich bin zufrieden mit dem, was ich habe, und ich ziehe die Krankheit dem Tod vor.‘“20 Sie wusste, was ihre Familie nach ihrem Tod erwartete. „Die Vertrauten sahen traurig auf ihr verändertes Gesicht; sie war schwach, aber trotzdem schien manchmal ein Hoffnungsstrahl durch“, schreibt Amalia Jakowlewa, ihre ehemalige Kammerjungfer, deren Kontakt zum Hof nicht abgerissen war. „Im Frühjahr wurde eine Reise
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auf der Wolga vorgeschlagen. Jeden Morgen stand sie auf, wurde angekleidet und in einen Stuhl gesetzt, in dem man sie in ein anderes Zimmer schob, wobei man genau darauf achtete, dass die Temperatur sich nicht änderte. Hier betete sie, dann frühstückte sie etwas. Sie hustete stark, einen bösen, langen, trockenen Husten. Einige Male am Tag atmete sie Sauerstoff mithilfe von Luftkissen, und jeden Abend wurde sie eingerieben, damit sie leichter atmen konnte.“21 Meistens habe sie geschlafen, halluziniert und wenig gesprochen. Zwei Wochen nach dem Bombenattentat konnte von großartigen Feiern aus Anlass des 25-jährigen Thronjubiläums Alexanders II. am 19. Februar/2. März 1880 keine Rede sein. Abgesagt werden konnten sie aber auch nicht, denn das hätte ein Eingeständnis von Schwäche bedeutet. Allerdings wandte sich Loris-Melikow mit einem Aufruf an die Petersburger und forderte sie auf, Ordnung zu halten und „gute Christen“ zu sein. Das hatte es noch nie gegeben, noch nie hatte die kaiserliche Macht ihre Untertanen in Friedenszeiten um Hilfe gebeten! Der „Diktator“ war ein kluger Mann, und die Petersburger reagierten entsprechend. Am Morgen des 3. März strömte das Volk auf den Palastplatz und wartete, bis der Kaiser um 10 Uhr unter Glockengeläut und Kanonendonner auf den Balkon des Winterpalastes trat, um seine Untertanen zu begrüßen. Er wurde von seiner Familie begleitet, auch Maria war noch einmal aufgestanden. Es war ihr letzter öffentlicher Auftritt. Womöglich trug sie die schöne Brosche mit dem riesigen, von großen Brillanten eingefassten blauen Saphir, die der Kaiser ihr zum Jubiläum geschenkt hatte. Es war ja auch ihr Jubiläum. Das Volk schrie Hurra, und Hüte flogen in die Luft. Sicherheitshalber trug der Zar-Befreier ein Kettenhemd unter der Generalsuniform.22 „Die Feier zum Fünfundzwanzigjährigen verlief ohne besonderen Pomp“, resümiert Alexander Benois. „Die Straßen der Hauptstadt waren wie üblich illuminiert […]. Aber das war nur allzu bekannt und wiederholte sich aus jedem Anlass … Seinen Anteil an der traurigen Stimmung des loyalen Teils der Bevölkerung hatte der schwere, hoffnungslose Gesundheitszustand der Kaiserin Maria Alexandrowna. Man wusste, dass extra für sie im Winterpalast eine besondere, hermetisch abgeschlossene Kammer zum Inhalieren eingerichtet wurde, dass
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die Gattin des Selbstherrschers Stunden in diesem Treibhaus sitzen und besonders für sie vorbereitete Luft atmen muss. Die arme Zarin! Sie war nicht populär, aber jetzt umgab sie doch so etwas wie Popularität dank der Tatsache, dass der Betrug ihres erhabenen Gatten schon in allen Gesellschaftsschichten bekannt geworden war, davon sprach man überall: sowohl in den Palästen und in den Bürgerhäusern als auch in den Gesindestuben und in den Kneipen. So ging denn Tante Lisa [eine Verwandte des Autors] von einem kritischen zu einem drohenden und prophetischen Ton über: ,Dass der Alte bloß nicht daran denkt zu heiraten.‘ Es wurde auch die Frage diskutiert, wer diese Fürstin Dolgorukaja eigentlich war, war sie wirklich eine solche Schönheit? Hatte sie den Herrscher wirklich total vereinnahmt? In den Kunstgeschäften konnte man nun ein Foto von ihr kaufen, und Mutter hatte eines gekauft.“23 In der Osternacht nahm die Kaiserin schon nicht mehr am feierlichen Aufzug in die Große Palastkirche teil. Sie hatte Geschenke an ihre Damen verteilt und war liegengeblieben. „Es ist ein bisschen traurig, an einem solchen Tag im Bett zu liegen“, sagt sie zu Gräfin Tolstaja, „doch da es Gott so gefällt, ist es gut. Wir werden nichts gegen Seinen [Hervorh. im Original, M.B.] Willen erbitten und wünschen.“24 Sie hatte sich in ihr Schicksal ergeben und sprach nun ohne Unterlass von Gott. „In jedem ihrer Worte erklang eine grenzenlose Demut. Man fühlte, dass sie sich vollkommen Demjenigen ergeben hatte, Der sie rief“, schreibt die Gräfin.25 Maria hatte keine Angst vor dem Tod. Den Ostergottesdienst hätte sie nur allzu gern noch einmal miterlebt, aber sie wusste, dass Minnie, die dänische Schwiegertochter, sie würdig vertrat. „Der Herrscher ging mit der Zesarewna an der Hand“, notiert K.R. „Der feierliche Gottesdienst begann, Christus ist auferstanden! Wie hell und leicht wird einem auf der Seele bei den Tönen dieses Gesangs, der Ostergottesdienst ist so schön, unwillkürlich ist aller irdischer Kummer vergessen, man möchte sich freuen und jubeln. Was für eine schöne Sitte ist das dreimalige Küssen an Ostern, sie bringt die allgemeine Freude und Versöhnung im auferstandenen Herrn hervorragend zum Ausdruck […]. Ich war sehr glücklich, ich wollte, alle wären froh.“26 Am 11./23. Mai übersiedelte der Kaiser nach Zarskoje. „Die Kaiserin liegt hier, von ihrer Krankheit ist keine Rede“, notiert K.R. „Man findet
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es unangebracht, dass der Herrscher, da ihr wenig zu leben bleibt, umzieht. Wir bemühen uns, dafür passende Gründe zu finden. Leider gibt es mehr unpassende als passende Gründe …“27 Der Grund war natürlich, dass Katharina Dolgorukowa mit ihren Kindern in Zarskoje auf ihn wartete. Das Unverständnis war allgemein, das Verhalten des Kaisers empörend. Der Öffentlichkeit war nicht bekannt, dass die Kaiserin selbst den Kaiser dringend gebeten hatte, aufs Land zu ziehen. Die frische Luft und die Erholung in Zarskoje würden ihm gut tun, meinte sie, und wenn sie selbst schon zu schwach für den Ortswechsel war, dann sollte zumindest er den Aufenthalt in der Sommerresidenz genießen.28 Wir können annehmen, dass Alexander dem selbstlosen Drängen seiner Frau gern nachgegeben hat, auch wenn der Eindruck in der Öffentlichkeit fatal war. Er brauchte tatsächlich Ruhe, seine Nerven waren zerrüttet, sein Asthmaleiden hatte sich verschlimmert, und er hatte angefangen zu trinken. „Zweifellos hatte er der Mutter seiner Kinder ein Gefühl der Zuneigung bewahrt […]“, schreibt Peter Kropotkin. „Und doch zog er sich gänzlich von der Zarin Marie zurück, die ihm, als er der ,Zar-Befreier‘ war, treu zur Seite gestanden hatte. Er ließ sie, völlig verlassen und nur von zwei ihr ganz ergebenen Damen gepflegt, im Palaste dem Tode entgegen gehen, während er selbst in einem anderen Schlosse wohnte und ihr nur kurze, förmliche Besuche abstattete. Ein wohlbekannter, jetzt gestorbener russischer Arzt erzählte seinen Freunden, dass er, ein Fremder, über die Vernachlässigung der Kaiserin während ihrer letzten Krankheit empört gewesen sei […].“29 Das „andere Schloss“ war natürlich der Große Palast in Zarskoje Selo, in dem Alexander seine Geliebte untergebracht hatte. Immerhin kam er jeden Tag in die Stadt, um die Kranke zu besuchen. So tat er der Form Genüge, auch wenn die Förmlichkeit seiner Besuche die Kranke mehr geschmerzt als erfreut haben dürfte. Maria Alexandrowna starb in der Nacht auf den 22. Mai/3. Juni 1880. Tags zuvor war sie so schwach, dass der Kaiser Dr. Botkin noch gefragt hatte, ob er in der kommenden Nacht nicht lieber in der Stadt bleiben sollte. Doch der Doktor verbürgte sich in dieser Nacht für das Leben der Kaiserin, und Alexander fuhr nach Zarskoje Selo zurück. „Der Engel des Todes kam ganz still zu ihr, während der ganze Palast
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schlief. Niemand, nicht einmal die Kammerfrauen, konnte den genauen Augenblick nennen, in dem ihre Seele die Erde verließ“, schreibt Gräfin Tolstaja, der die Verstorbene einmal gesagt hatte: „Ich mag diese Picknicks am Totenbett nicht.“ Maria hatte nicht den Mut zu einem herzzerreißenden Abschied von ihren Liebsten. Ihr Wunsch wurde erfüllt. Sie war allein, als sie starb. „Dieser stille einsame Tod war der harmonische, erhabene Schlussakkord eines Lebens, dem Lärm und irdischer Ruhm so fremd waren.“30 Sie hatte, wie sie der Gräfin Tolstaja nicht nur einmal mit müdem Lächeln erklärt hatte, den größeren Teil ihres Lebens „als ‚Freiwillige‘ gelebt, d. h. als freiwilliger Soldat“. Am Morgen des 22. Mai fand die Kammerfrau Makuschina die Kaiserin reglos in ihrem Bett. Sie hatte die Hände unter dem Kopf verschränkt und schien ruhig zu schlafen. Da die Kammerfrau kein Atmen hört, fühlte sie den Puls. Er schlug nicht mehr. Die Hände waren kalt, der Körper war noch warm. Die Kaiserin blieb so liegen, wie sie gefunden worden war, bis der Kaiser kam. Dann wurde sie gewaschen, angekleidet und wieder auf ihr Bett gelegt. Ihre Damen fanden, dass sie sehr jung aussah. „L’âme de notre chère Marie est au ciel“,* kabelt Alexander an seinen Schwager.31 Um 13 Uhr fand die Totenmesse statt. „Sie hat einen so stillen, sanften Gesichtsausdruck, ungeachtet dessen, dass das Gesicht ein wenig verzogen war“, notiert K.R. in seinem Tagebuch. „Mir schien, dass man einen kaum wahrnehmbaren Vorwurf darin lesen konnte.“32 Und er fügt hinzu: „Schon lange fürchtete man die Minuten, in denen die Kaiserin dahingeht: gar nicht zu reden davon, dass ihr Ende der größte Kummer für die Familie ist, auch für ganz Russland ist das ein unersetzlicher Verlust. Unmerklich war die Kaiserin der letzte Punkt der sittlichen Ordnung und des Anstands; mit ihrem Ende fällt die Schranke, und es kann leicht dazu kommen, dass wir schwere Minuten erleben, und wir werden nicht nur einmal für unsere Zeit erröten. Bleibt die Hoffnung auf Gott: Alles wird besser. Er wird nicht zulassen, dass alles zerstört wird.“33 Ähnlich besorgt äußert sich Kriegsminister Dmitrij A. Miljutin, der Militärreformer, einer der engsten Mitarbeiter des Kaisers: „Ich war * „Die Seele unserer lieben Marie ist im Himmel.“
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tief gerührt, als ich den leblosen Körper der Frau vor mir sah, die mir in den letzten Jahren das Gefühl ehrfürchtigen Respekts eingegeben hat. Sie hatte einen wohltuenden Einfluss auf die ganze Familie, für die ihr Ende ein sehr fühlbarer Verlust sein wird. Und wir alle, die wir die Zustände bei Hofe kennen, werden uns oft an die Verstorbene erinnern und ihr Fehlen betrauern.“34 Die „Zustände bei Hofe“, d. h. das Verhältnis des Kaisers und seine außerehelichen Kinder, beunruhigten die Familie, den Hof, die höchste Gesellschaft und die Öffentlichkeit also gleichermaßen. Bevor Alexander nach Zarskoje Selo zurückkehrte, erließ er ein Manifest zum Tode seiner „Liebenswürdigsten Gemahlin“. Darin ist von der „schweren Prüfung“ die Rede, „die Uns und Unser ganzes Haus mit unermesslicher Trauer erfüllt“. Bis zum Schluss habe die Verstorbene ihr Leben „aufopferungsvoll und unbeirrt den hohen Aufgaben IHRER irdischen Berufung und Handlungen christlicher Barmherzigkeit“ gewidmet.35 Dass Alexander II. „unermesslich“ trauerte, lässt sich mit Fug und Recht bezweifeln. Denn nun war er endlich frei. Frei für Katja. „Heute ist mein Doppelleben zu Ende gegangen“, trägt er am Abend in Zarskoje Selo in sein Tagebuch ein. „Werde ich in Zukunft glücklicher sein? Ich bin sehr traurig. Aber Sie verbirgt ihre Freude nicht; sie spricht schon von der Legalisierung ihrer Lage; dieses Misstrauen bringt mich um! Ich werde für sie alles tun, was in meiner Macht ist, aber ich kann nicht gegen die Interessen des Landes handeln.“36 Im Schreibtisch der Verstorbenen fand sich außer dem Testament, in dem sie ihren Grundbesitz und ihren Schmuck verteilte, ein vor langer Zeit geschriebener Brief, in dem sie Alexander für das glückliche Leben an seiner Seite dankte. Außerdem wurden ein paar lose Blätter mit ihren letzten Wünschen gefunden: „1. Ich wünsche in einem einfachen weißen Kleid beigesetzt zu werden und bitte, mir nicht die Zarenkrone auf den Kopf zu setzen. Ich wünsche auch, wenn das möglich ist, keine Obduktion durchzuführen. 2. Ich bitte meine lieben Kinder, sich vierzig Tage nach meinem Tode an mich zu erinnern und nach Möglichkeit der Messe beizuwohnen und für mich zu beten, besonders im Augenblick der Weihe der Heiligen Gaben. Das ist mein größter Wunsch.“ [Hervorh. im Original]37
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Die Beisetzung in der Peter-und-Paul-Kathedrale sollte bereits am 28. Mai stattfinden, so dass der Eindruck entstand, dass der Kaiser dieses Kapitel seines Lebens möglichst schnell abschließen wollte, „ohne irgendeine besondere Feierlichkeit, durch die der besondere Kummer des verwitweten Gatten zum Ausdruck gekommen wäre […]“. So dachte man jedenfalls in der Familie Benois.38 Am 23. Mai um 13 Uhr fand eine weitere Totenmesse im Sterbezimmer statt, und K.R. notiert: „Nach der Obduktion hatte ihr Gesicht einen ruhigeren, nachdenklicheren Ausdruck als gestern angenommen. Das ganze Bett war mit leichtem Tüll bedeckt, auf dem weiße Rosen verstreut lagen: Das erinnerte an ein elegantes Ballkleid.“39 Sie war also gegen ihren Wunsch obduziert worden, und die Obduktion hatte ergeben, dass Dr. Botkin Recht hatte: Eine der Lungen war nicht mehr vorhanden, in der anderen waren zwei beträchtliche Kavernen, das Herz zeigte keinen organischen Mangel, der Magen war vollkommen zersetzt.40 Am 24. Mai war das Totenbett von Maiglöckchen übersät. Am Morgen legten der Kaiser und seine Söhne die Verstorbene in den Sarg und bedeckten ihn mit dem weißen Hermelinmantel. Wunschgemäß wurde Maria Alexandrowna nicht in den Paradesälen aufgebahrt, sondern in der Großen Palastkirche, wo wieder eine Totenmesse stattfand. Um 12 Uhr begann die Überführung des Leichnams in die Peter-undPaul-Festung. Der Kaiser, seine Söhne, die Großfürsten, und die ausländischen Prinzen trugen den weißen Sarg unter einem silberweißen Baldachin aus der Kirche hinunter in den Großen Hof. „Ein einziges Gefühl beherrschte alle Herzen“, schreibt Alexandrine Tolstaja. „Jeder verstand, dass der Schutzengel des Kaiserlichen Hauses es verlassen hatte […]. Aber kaum jemand sah voraus, dass die schreckliche Lösung des Konflikts so nahe war.“41 Den ganzen Morgen hatte es in Strömen geregnet, nun hörte der Regen plötzlich auf, und als der Leichenwagen aus dem großen Palasttor fuhr, klärte der Himmel auf, und die Sonne brach durch. Auf dem Palastplatz und am Palastufer standen die Garderegimenter Spalier; vom Winterpalast bis zur Troizkij Brücke hatten die Schiffe auf der Newa halbmast geflaggt, und auch die Standarte der Kaiserin war auf halbmast gesetzt. „Der Leichenzug war besonders lang und feierlich“,
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notiert K.R. „Der Zar, der deutsche Kronprinz, der österreichische Erzherzog Wilhelm und die anderen Prinzen waren zu Pferd, wir anderen gingen alle zu Fuß hinter dem Sarg.“42 Die Festungskirche empfing die Trauerprozession mit leisem, klagendem Glockengeläut. Vor der Kathedrale hoben der Kaiser und seine Söhne den Sarg vom Leichenwagen, trugen ihn hinein und setzten ihn in der Mitte des Kirchenraumes auf einen Katafalk. Nun konnte das Volk noch einen Tag lang von der Kaiserin Abschied nehmen. Nach russischer Sitte lag sie im offenen Sarg. Jeden Tag wurden zwei Totenmessen abgehalten, an denen der Kaiser teilnahm, um zwischen den Messen nach Zarskoje zurückzukehren. Die eigentliche Beisetzung erfolgte Himmelfahrt 1880. Die Hofdamen traten ihren letzten Dienst bei der Herrscherin an und nahmen ihre Plätze auf den Stufen des Katafalks ein. Katharina Dolgorukowa blieb der Zeremonie fern. Während des letzten Abschieds stand der Kaiser mit seinen Söhnen am Sarg. Was mag er beim Anblick des abgezehrten Gesichtes der Toten empfunden haben, die seine große Jugendliebe gewesen war und die er in ihren letzten Lebenswochen allein gelassen hatte? War er traurig? War er erleichtert, dass sie endlich gegangen war? Anna Tjuttschewa fand, er habe „genervt“ ausgesehen. Auf Alexandra Tolstaja wirkte er „angespannt, man kann sagen, unzufrieden und fast hart“. Er sei mit „verweintem“ Gesicht an den Sarg getreten.43 Sie konnte es nicht ertragen, ihn dort stehen zu sehen, und seine Tränen hat sie wohl auch nicht allzu ernst genommen. Sie kannte ihn lange genug, um zu wissen, wie leicht er weinte, wie schnell er in Tränen zerfloss und wie schnell die Tränen wieder vergessen waren. – Wir aber wollen einen Widerstreit der Gefühle, eine Mischung aus aufrichtiger Trauer, Reue und Erleichterung, nicht ausschließen. Maria Alexandrowna wurde in der Gruft neben ihrem geliebten Nixa beigesetzt, auf den Tag genau 15 Jahre nachdem er dort seine letzte Ruhe gefunden hatte. Nach der Beisetzung begab sich die kaiserliche Familie nach Zarskoje. Der Thronfolger und seine Frau aber reisten demonstrativ weiter ins Ostseebad Hapsal, für die Öffentlichkeit ein Zeichen dafür, dass in der Familie selbst in diesen Trauertagen keine Eintracht herrschte. Der Kaiser war aufgebracht über das Verhalten seines Sohnes.
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Doch der Grund lag auf der Hand, und Alexandrine Tolstaja ahnte ihn: Der Kaiser würde seine Geliebte nun schnell heiraten, und der Thronfolger wollte nicht dabei sein. Die Gräfin war mit ihrer Ahnung nicht allein. „Es ist erstaunlich, was die Zensur durchgehen lässt“, notiert die Generalin Alexandra W. Bogdanowitsch, eine eher konservative Zeitgenossin, Ende Juni in ihrem Tagebuch: „In der Juninummer der Causerie steht gedruckt, dass der Herrscher nach Ablauf der Trauerzeit beabsichtigt, die Fürstin Dolgorukowa zu heiraten, mit der er ,les grandeurs de la royauté‘* schon lange vergessen hat. Wie kann man nur zulassen, dass so etwas so kurz nach dem Tod der Kaiserin geschrieben wird?“44 Man ließ es zu, und es war keine Falschmeldung. Die Selbstherrschaft war nicht mehr sakrosankt, selbst der Zar-Befreier konnte nun öffentlich kritisiert werden, auch von Anhängern der Krone. Alexander, der jeden Augenblick ein neues Attentat gewärtigen musste, hatte tatsächlich beschlossen, das zu tun, was er Katja zu Beginn ihrer Liebe versprochen hatte: Sie zu heiraten, sobald er frei sei. Aber eine Ehe mit der Fürstin konnte nur morganatisch sein, denn sie war, obwohl von uraltem Adel, nicht ebenbürtig. Vergessen war die Mahnung seines Vaters, in der Familie Romanow keine morganatische Ehe zuzulassen, da morganatische Ehen den Thron erschüttern würden. Vergessen war seine eigene Mahnung an die Söhne, an Alexander und Alexej, denen er keine morganatische Ehe gestattet hatte. Nun war er es, der die Dynastie stärker erschütterte, als seine Söhne es je vermocht hätten. Denn mit seiner Heirat legitimierte er seine außerehelichen Kinder, womit für die Familie die Gefahr entstand, dass er „Gogo“ zum Thronerben ernannte, obwohl es einen präsumptiven Thronerben gab: Alexander Alexandrowitsch. Aber der Kaiser war Selbstherrscher. Er konnte tun und lassen, was er wollte, und er wusste, was er tat. Er fühlte sich verpflichtet, seine privaten Verhältnisse zu regeln und seine zweite Familie für den Fall seines plötzlichen Todes abzusichern. Er heiratete Katja, die 1878 noch Tochter Katharina geboren hatte, am 6./18. Juli um 3 Uhr nachmittags in einer provisorischen Kirche im Erdgeschoss des Großen Palastes von Zarskoje Selo, ganze sechsein* „die Würde der Monarchie“
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halb Wochen nach dem Tod seiner Frau, also lange vor Ablauf des Trauerjahres. Anwesend waren nur einige wenige enge Vertraute. Seine Familie hatte er nicht informiert. Die Eheschließung war geheim, er hatte verboten, sie vor Ablauf des Trauerjahres bekannt zu geben. Doch sie war ein offenes Geheimnis. Am gleichen Tag gab er einen geheimen Ukas an den Dirigierenden Senat heraus, in dem er befahl, seiner Frau den Namen Fürstin Jurjewskaja mit dem Prädikat Altesse Sérénissime zu verleihen. „Wir befehlen, denselben Familiennamen mit demselben Titel Unseren Kindern zu verleihen, Unserem Sohn Georg und Unseren Töchtern Olga und Katharina, und auch denjenigen, die noch geboren werden können. Wir geben ihnen alle Rechte, die auch die legitimen Kinder besitzen […]“45 Von nun an war die Fürstin dabei, wenn der Kaiser mit Loris-Melikow Staatsgeschäfte besprach. Am 17. September ließ er die enorme Summe von 3 302 900 Rubel auf ihren Namen bei der Staatsbank einzahlen. Damit schuf Alexander Sicherheit für Katja und die gemeinsamen Kinder. Das war korrekt der Geliebten gegenüber. Doch die Eile, mit der er diese Schritte vollzog, war taktlos gegenüber dem Andenken an seine verstorbene Frau. Daher wollte er mit der öffentlichen Bekanntmachung seiner zweiten Ehe noch warten. Sie erfolgte erst am 5./17. Dezember per Ukas.46 So gelangte die Nachricht schließlich auch an die europäischen Höfe, wo man peinlichst berührt war. Besonders groß war der Schock bei den nächsten Verwandten in Berlin und in London. Der Berliner Hof war bereits Anfang November auf diplomatischem Weg von der Eheschließung im Juli unterrichtet worden und davon, dass sie Anfang Dezember offiziell bekannt gegeben werden sollte. Und es war der immer gut informierte Botschafter von Schweinitz gewesen, der dem Kronprinzen berichtet hatte. Darauf informierte Kronprinzessin Viktoria ihre Mutter, die Queen, in London. „Die unziemliche Hast, mit der der Kaiser den Eheritus vollzogen hat, während die Trauer um die arme Kaiserin noch so frisch ist, kann nach meiner Ansicht bis zu einem gewissen Grade durch den Wunsch gerechtfertigt werden, seine Pflicht als Ehrenmann einer Dame und seinen Kindern gegenüber zu erfüllen, die er in eine so peinliche Lage gebracht hat“, schreibt Viktoria nicht ohne Verständnis. „Er fühlt, dass seine Gesundheit schwankend und sein Leben unter den gegenwärtigen Bedingungen
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in Russland nicht gesichert ist, und wünscht sehr wahrscheinlich die Bande, die er geknüpft hat, zu legalisieren, bevor ein plötzlicher Tod ihn hindern könnte, sein früheres Benehmen wieder gutzumachen. Trotzdem empfinde ich den Mangel an Achtung vor dem Andenken an die arme Kaiserin sehr bitter, die eine so ergebene, tugendhafte Gattin und liebende Mutter gewesen ist. General Schweinitz meint indessen, dass alles besser als der frühere Zustand sei, der ein zum Himmel schreiender Skandal gewesen wäre. Die Empfindungen der armen Kaiserin wurden während ihres Lebens nicht in Betracht gezogen. Daher sollte, was in so traurigen Verhältnissen getan werden kann, ohne Verzug ausgeführt werden […]. Obgleich die Kinder die zweite Ehe ihres Vaters bitter empfinden müssen, ist es doch vorteilhafter für sie, als dass sie sich seines Lebenswandels schämen müssten. Ich bin über die ganze Angelegenheit mehr chokiert, als ich sagen kann, sie erinnert mich an Ludwig XIV. und XV.; der Kaiser tut mir leid, da ich sicher bin, dass er ein viel zu guter Mann ist, um nicht zu empfinden, in welch peinliche Lage er sich begeben hat. Auf der anderen Seite steht die Moral in Russland so tief, die Menschen sind so lax und indifferent, dass es ihnen gleichgültig ist, was geschieht […]“47 Was die Kinder des Kaisers angeht, so war Viktorias Formulierung ein Understatement. Die erwachsenen Kinder, die nicht gewagt hatten, die Beziehung ihres Vaters selbst unter sich auch nur zu erwähnen, empfanden seine zweite Ehe nicht nur „bitter“, sie waren empört, und sie zeigten es. Sie alle hatten ihre Mutter vergöttert und zu ihr gehalten, besonders in den letzten Jahren der Krankheit, und sie verachteten die Mätresse ihres Vaters, hassten sie sogar. Besonders die Großfürstinnen und die alt gewordenen Hofdamen mochten die schöne, junge Fürstin nicht, mieden sie, wo sie konnten, und ließen kein gutes Haar an ihr. Was die Menschen in Russland angeht, so war ihnen keineswegs gleichgültig, was bei Hofe geschah, wie Viktoria meinte. Vor allem überzeugte Anhänger der Monarchie waren entsetzt. Ohnehin hatte Alexander II. aufgrund seines privaten Lebenswandels erheblich an Ansehen verloren.48 „Es schien vollkommen unmöglich, dass unser guter, teurer Herrscher einen solchen Schritt tun konnte“, schreibt Alexander N. Benois, „dass er, wenn auch nur aus einfachem Anstand,
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nicht einmal das festgelegte Ende des Trauerjahres abwarten und schon irgendjemanden seine Gattin nennen konnte! Gott weiß, was das für die Zukunft bedeutet. Hatte er womöglich sogar vor, ,diese Fürstin Dolgorukaja, seine Geliebte‘, zu krönen? Tante Lisas Unverständnis nahm pathetischen Charakter an. In diesem Sommer zogen wir nicht auf die Datscha, und Tante Lisa unterbrach ihre wöchent lichen Besuche nicht, weshalb ich mich auch besonders an ihren Zorn erinnere, der von einer ganz und gar überzeugenden Prophezeiung begleitet wurde: Gott wird ihn für diese Verhöhnung der göttlichen und menschlichen Gesetze unverzüglich bestrafen.“49 „Tante Lisa“ lag nicht falsch mit ihrer Vermutung. Alexander II. hatte tatsächlich vor, seine junge Frau zur Kaiserin zu krönen, und ließ in den Archiven diskret nach Dokumenten zur Krönung Katharinas I. suchen, während in einigen Zeitschriften unverhofft Artikel über dieses Ereignis erschienen. Jedermann verstand, was das bedeutete.50 Katharina I., geb. Martha Skawronska, war eine litauisch-lettische Magd in Diensten eines deutschbaltischen Pastors, die Peter I. zuerst zu seiner Geliebten, dann zu seiner Frau gemacht und schließlich gekrönt hatte. Sie war ihm 1725 auf den Thron gefolgt, und ihre vorehelich geborene Tochter Elisabeth wurde 1741 Kaiserin. Als gekrönte Kaiserin und von ihrem Mann ernannte Nachfolgerin wäre Katharina Dolgorukowa nach Alexanders Tod Katharina III. geworden, und ihr Sohn Gogo wäre ihr auf den Thron gefolgt. Eine Horrorvorstellung für die kaiserliche Familie. Die Krönung sollte am 1. August 1881 stattfinden. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Alexander II. war nur noch ein paar Monate glücklich oder schien es zu sein, während es im Volk nun hieß, da sein guter Engel ihn verlassen habe, schütze niemand mehr den Kaiser. Aber war er nun zufrieden? Die Kammerfrau Makuschina will gesehen haben, wie er einmal schluchzend am Schreibtisch seiner verstorbenen Frau saß.51 Schließlich hatte er die ganze Familie gegen sich aufgebracht, ihr Verhalten der Fürstin Jurjewskaja gegenüber war feindselig. Damit hatte Alexander nicht gerechnet. Und so erfüllte sich Tante Lisas Prophezeiung. Am 1./13. März 1881 schlug die Gruppe Volkswille wieder zu. Am Morgen hatte Alexander eine von Loris-Melikow entworfene Verordnung über die Einberufung
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einer „Allgemeinen Kommission“ unterzeichnet, deren teils gewählte, teils ernannte Mitglieder, d. h. Vertreter der lokalen Selbstverwaltungsorgane, in Zukunft alle Reichsgesetze vor der Bestätigung durch den Staatsrat und den Kaiser diskutieren und Empfehlungen aussprechen sollten. Obwohl die Kommission, eine Art Ständevertretung, nur beratende Funktion haben sollte, wurde die Verordnung sofort „Loris-Melikow-Verfassung“ getauft. Eine Verfassung war sie natürlich nicht, aber sie war ein erster Schritt auf dem Weg Russlands in eine konstitutionelle Zukunft. Mit der Veröffentlichung wäre das Gesetz in Kraft getreten. Alexander hatte alle Warnungen vor einem weiteren Attentat in den Wind geschlagen, war – wie jeden Sonntag – zur Wachtparade in die Michael-Manege gefahren und auf dem Rückweg am Katharinenkanal (heute: Gribojedow-Kanal) auf seine Mörder getroffen. Die Revolutionäre erwarteten ihn bei der Theaterbrücke. Die erste Bombe, die hinter der Kutsche explodierte, tötete einen Kosaken seiner Begleitung, verletzte einen anderen und verursachte Schäden an der Kutsche. Verletzt wurden auch Passanten, unter ihnen ein Kind, Alexander blieb unversehrt. Doch statt den Tatort umgehend zu verlassen und schnell weiterzufahren, wie sein Polizeichef und sein alter Kutscher es ihm nachdrücklich geraten hatten, stieg er aus, um nach dem schwer verletzten Jungen zu sehen. Er war ein mutiger Mann, er war auf den Schlachtfeldern des Balkan gewesen, und war er nicht allein, nur mit einem Revolver in der Hand, auf Bären losgegangen? Er trat auch an einen der schnell festgenommenen Attentäter heran und fragte ihn, wer er sei. Daraufhin warf ein anderer Terrorist, auf den niemand geachtet hatte, ihm eine zweite Bombe vor die Füße, die ihm beide Beine wegriss und den Attentäter tötete. Seine Begleitung wollte ihn in das nahegelegene Militärhospital bringen, doch Alexander wollte „nach Hause“. Der Transport des Verwundeten im Schlitten des Polizeimeisters in den Winterpalast dauerte so lange, dass der Blutverlust zu groß wurde. Die Leibärzte konnten nichts mehr tun. Der Zar-Befreier starb zwei Stunden später in seinem Kabinett auf dem Feldbett unter dem Porträt seiner vor langer Zeit verstorbenen Tochter Lina. Die letzten Stunden Alexanders II. sind oft beschrieben worden. Wenig beachtet wurde, dass kurz vor seinem Tod ein zwölfjähriger
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Junge im Matrosenanzug über die blutverschmierte Marmortreppe des Saltykow-Eingangs ins Sterbezimmer geführt wurde. Es war Nikolaus Alexandrowitsch, „Niki“, der Enkel des Zar-Befreiers und der Hessin. Nikolaus II., der letzte Kaiser von Russland, hat nie vergessen, wie sein Großvater starb. „Ich danke Gott, dass der armen Kaiserin diese Prüfung erspart blieb“, schreibt Kronprinzessin Viktoria anderntags an ihre Mutter in London. „Der arme Kaiser erwartete immer ein solches Ende und hat sich jahrelang wie ein gehetztes Wild gefühlt, das nirgends sicher ist. Was für ein Leben um solchen Preis!“52 Alexander hat bis zuletzt nicht verstanden, was „sie“, die Terroristen, gegen ihn hatten, was sie von ihm wollten. „So endete die Lebenstragödie Alexanders des Zweiten“, schreibt Peter Kropotkin. „Man hat es unbegreiflich gefunden, dass ein Zar, der so viel für Russland getan hatte, sein Leben unter den Händen der Revolutionäre aushauchte. Mir aber, der zufällig Zeuge der ersten reaktionären Schritte Alexanders II. und seiner immer schlimmeren Missregierung war, der einen Blick in sein zwiespältiges Wesen getan hat, mir schien es, dass sich die Tragödie mit unvermeidlicher Schicksalsnotwendigkeit wie in einem Shakespeareschen Drama vollzog. Ich hatte in ihm den geborenen Selbstherrscher erkannt, dessen Heftigkeit nur etwas durch seine Bildung gemildert wurde, einen Mann, der militärische Mannhaftigkeit besaß, aber jedes politischen Mutes entbehrte, einen Mann von starken Leidenschaften und schwachem Willen.“53 Alexander II. wurde mit dem üblichen Pomp neben seiner ersten Frau in der Peter-und-Paul-Kathedrale beigesetzt. Für die Ewigkeit waren Mascha und Sascha nun wieder vereint. Fürstin Jurjewskaja verließ Russland kurz nach dem Tod ihres Mannes und zog mit ihren Kindern nach Frankreich. Sie starb 1922 in Nizza. Alexander III. aber war sich seiner nicht sicher. Gräfin Tolstaja hörte den neuen Kaiser jedenfalls sagen, „dass er sich nichts so sehr wünschte wie das Ende der Welt, denn damit würde für ihn die Notwendigkeit entfallen, die schwere Pflicht zu erfüllen, die das Schicksal ihm gegen seinen Willen auferlegt hatte“.54 Er war immer ein erklärter Gegner der Reformen seines Vaters gewesen, nun fuhr er sie zurück, verschärfte die Zensur wieder, stärkte die Geheimpolizei und verwarf jeden
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Gedanken an Mitbestimmung. Die beratende Kommission beim Staatsrat, die sein Vater einberufen wollte, berief er nicht ein. Nach einigem Zögern unterzeichnete er am 11. Mai 1881 das „Manifest über die Unantastbarkeit der Autokratie“, in dem er „seinen treuen Untertanen“ verkündete: „Im Vertrauen auf die göttliche Vorsehung und deren höchste Weisheit, von Hoffnung erfüllt auf die Gerechtigkeit und Stärke der Autokratie, die zu bekräftigen Wir berufen sind, werden Wir die Geschicke unseres Reiches lenken, die in Zukunft nur zwischen Gott und Uns zu erörtern sind.“55 Also keine Volksvertretung und keine Verfassung! Der Triumph der „Retrograden“ war vollkommen. Die liberalen Minister seines Vaters reichten ihren Rücktritt ein, der „rote“ Großfürst Konstantin Nikolajewitsch, der ungeliebte Onkel, musste gehen, und um Alexander III. scharrten sich lauter Männer, die ihn auf den Weg der Reaktion, des Nationalismus und des Antisemitismus leiteten. Zwar führte dieser Romanow nie Krieg und erhielt dafür den Beinamen „Zar-Friedenstifter“. Zwar boomte in seiner Regierungszeit die Wirtschaft, die Industrialisierung begann, die Transsibirische Eisenbahn wurde gebaut, und ein Bündnis mit Frankreich wurde geschlossen. Doch der Versuch, die Autokratie mit Hilfe von Repressionen und Polizeimethoden zu erhalten, gar zu stärken, war der falsche Weg. Mit Gewalt war der Terror nicht zu besiegen. Die Revolutionen von 1917 fegten die Romanows von der Weltbühne.
Die vergessene Kaiserin Spurensuche / Erinnerungsorte Vierzig Jahre hat die Kaiserin aus Hessen in Russland gelebt, ist russischer als die Russen und orthodoxer als die Orthodoxen geworden. Sie hat sich nach Kräften bemüht, ihrem hohen Amt gerecht zu werden, ihre Hauptaufgabe, dem Kaiser viele Kinder zu gebären, glänzend erfüllt und die Thronfolge gesichert. Sie war wohltätig und hat sich um die Frauenbildung und die Krankenversorgung in Russland verdient gemacht, gegen Ende ihres Lebens auch noch die Blindenfürsorge gefördert. Aber Maria Alexandrowna hatte nicht den überwältigenden Charme ihrer preußischen Schwiegermutter, der Kaiserin Alexandra Fjodorowna, nicht die unerhörte Tatkraft der württembergischen Großmutter ihres Mannes, der Kaiserin Maria Fjodorowna, und nicht die politische Weitsicht ihrer dänischen Schwiegertochter, der Kaiserin Maria Fjodorowna („Minnie“). Ihr Element war die Stille, das Wirken hinter den Kulissen, und da sie infolge ihrer schweren Krankheit immer seltener in der Öffentlichkeit erschien, war ihr Bild schon zu Lebzeiten verblasst, und nach ihrem Tod wurde sie schnell vergessen. Welche Spuren hat sie hinterlassen? Wo wird an sie erinnert? Nun, die ihr gewidmeten Krönungslieder, op. 184, und der ihrem Mann gewidmete Krönungsmarsch, op. 183, von Johann Strauss (Sohn) sind jederzeit auf YouTube zu finden, ebenso der Walzer Souvenir de Nizza, op. 200, „Ihrer Majestät Maria Alexandrowna, Zarin von Russland, in tiefster Verehrung gewidmet“. Bei seiner Uraufführung auf einem Benefizball der Strauss-Kapelle am 8. Februar 1858 im Sophienbadsaal in Wien musste er sechsmal für die begeisterten Zuhörer wiederholt werden. Wer sich in St. Petersburg auf Spurensuche begibt, wird schnell auf das „Mariinskij“ stoßen, das berühmteste Theater der Stadt am Theaterplatz 1, das nach der Kaiserin Maria benannt ist und zu ihrer Zeit bei den Petersburger Deutschen und anderswo „Marientheater“ hieß. Nach dem verhängnisvollen Zwischenspiel der Sowjetzeit, in der es
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nach dem Leningrader Parteisekretär Sergej Kirow hieß, trägt es wieder ihren Namen. Im März 2002 wurde im Foyer des Marientheaters eine Büste der Namensgeberin enthüllt, die das Haus bis zu ihrem Tod finanziell unterstützt hat. Ihre Räume im Winterpalast, dem Hauptgebäude der Staatlichen Ermitage, die wohl jeder Petersburg-Reisende besucht, sind Schauräume. Von den Millionen Touristen, die alljährlich das weltberühmte Museum besuchen, werden Hunderttausende auch durch diese historischen Räume im Südwest-Risalit des Winterpalastes geführt, weil sie so belassen sind, wie Maria Alexandrowna sie bewohnt hat und wie Eduard Hau und Luigi Premazzi sie dargestellt haben, darunter das Boudoir und das Himbeerfarbene Kabinett, aus dem man den gleichen Blick auf die Admiralität hat, den die Kaiserin hatte. Wer Russisch kann, mag sich bei Yandex.ru die Folge „Die Zimmer Maria Alexandrownas“ aus der Fernsehserie „Meine Ermitage“ von Michail B. Piotrowskij ansehen. Der Direktor der Ermitage ist ein glänzender Erzähler, und es ist ein Vergnügen, sich von ihm die Räume zeigen zu lassen. Auch die Peter-und-Paul-Festung auf der Haseninsel steht in Russlands Nördlicher Hauptstadt auf jedem Besichtigungsprogramm. Die Peter-und-Paul-Kathedrale, die älteste Kirche der Stadt, war die Grablege der Romanows. Seit Peter I. liegen die Petersburger Kaiser mit zwei Ausnahmen hier begraben. Ihre Sarkophage sind weiß, von gleicher Form und gleicher Größe und tragen ein goldenes orthodoxes Doppelkreuz auf dem Deckel. Nur zwei Sarkophage sind größer als die anderen, und sie sind nicht aus weißem Carrara-Marmor. Der eine ist aus grau-grünem Jaspis aus dem Ural, der andere aus rosa Rodonit aus dem Altai. Das sind die Grabstätten Alexanders II. und Maria Alexandrownas, die Alexander III. in den 1880er Jahren demonstrativ für seine Eltern erneuern ließ. Auch außerhalb Russlands kann man fündig werden, z. B. auf den schwedischsprachigen finnischen Ålandinseln, die 1861 eine Hauptstadt erhielten. Stadtgründer war Alexander II., der auch Großfürst von Finnland war, das seit 1809 zum Russischen Reich gehörte. Alexander gab der Stadt den Namen seiner Frau und nannte sie „Mariehamn“ (Marias Hafen, Marienhafen). Zum 150. Geburtstag ihrer Gründung schenkte Russland der Stadt ein Denkmal der Kaiserin, das
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sie im Ballkleid auf einem Granitsockel zeigt. Die Inschrift in russischer und schwedischer Sprache auf dem Sockel zu beiden Seiten ihres Monogramms lautet: Kaiserin Maria Alexandrowna. In der lettischen Hauptstadt Riga wird wohl kaum noch jemand wissen, woher die „Marijas iela“ (Marienstraße) im Zentrum ihren Namen hat. Nachdem Alexander II. der damaligen Hauptstadt des Gouvernements Livland 1857 gestattet hatte, die alten Festungswälle abzutragen, worauf an ihrer Stelle breite Boulevards angelegt wurden, widmete man ihm zum Dank den „Alexander-Boulevard“ (heute: Freiheitsboulevard) und der Kaiserin die „Marienstraße“. Zur Erinnerung an ihren Sohn Nikolaus Alexandrowitsch, in dessen Gegenwart am 4. August 1860 der Grundstein für das neue (deutsche) Stadttheater (heute: Lettische Nationaloper und Ballett) gelegt worden war, erhielt der Boulevard, der die Marienstraße mit dem Alexander-Boulevard verband, den Namen „Thronfolgerboulevard“ (heute: RainisBoulevard). Wer einmal nach Kiew reist, wird dort erfahren, dass der ukrainische Präsident seine offizielle Residenz im Marienpalast hat. Der hübsche Barockpalast am hohen rechten Ufer des Dnjepr, auch ein Bau von Rastrelli aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, wurde nach mehreren Bränden 1870 wieder aufgebaut und nach Kaiserin Maria benannt. Der Palast diente den kaiserlichen Reisenden, die sich auf die Krim begaben, auf halber Strecke als Raststätte, wurde aber auch als Gästehaus genutzt. Dann natürlich Livadia an der Südostküste der Krim. Kaum jemand weiß noch, dass der weiße Palast, in dem die Romanows viele wunderbare Sommer verbrachten, ein Geschenk Alexanders II. für seine Frau war. Hingegen ist weltbekannt, dass in diesem Palast im Februar 1945 die Konferenz von Jalta stattfand, auf der die Aufteilung Deutschlands beschlossen wurde. Man kann sich leicht vorstellen, dass dort, wo Stalin, Churchill und Roosevelt für die Fotografen posierten, fast 80 Jahre zuvor, im Sommer 1867, Alexander II. und Maria Alexandrowna standen, um Mark Twain und die „Ahnungslosen“ aus den USA zu begrüßen, die so gern mal einen echten Kaiser sehen wollten. Auch in Frankreich und in Italien finden sich Erinnerungsorte. Nizza, der „Wintergarten Europas“, war schon seit den legendären
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Kuraufenthalten der Kaiserin Alexandra an der Côte d’Azur ein zunehmend beliebtes Reiseziel des russischen Adels. Alexandra hatte in Nizza Ende der 1850er Jahre die erste russische orthodoxe Kirche in Westeuropa bauen lassen, die Kirche des Hl. Nikolaus und der Hl. Alexandra, 6 Rue Longchamp. Alexander II. kaufte dann die Villa Bermond, in der Nixa gestorben war, und ließ genau an der Stelle, an der sein Bett gestanden hatte, eine Gedächtniskapelle errichten, die Chapelle du tsarévitch Nicolas Alexandrovitch, Avenue Nicolas II. Baumeister war der Petersburger Architekt David I. Grimm, Professor der Kaiserlichen Akademie der Künste. Der Grundstein wurde am 2. März 1867 gelegt, zur Einweihung am 25. März 1868 kamen Alexander Alexandrowitsch, der neue Thronfolger, und seine Frau. Anfang des 20. Jahrhunderts entstand im Park der ehemaligen Villa Bermond unweit der Kapelle der dritte russische Sakralbau in Nizza, die St. Nikolaus-Kathedrale. Die Cathédrale Orthodoxe Russe St. Nicolas, Avenue Nicolas II, ist heute das beliebteste Ausflugsziel der Stadt. Die Schirmherrschaft übernahmen Nikolaus II., dem das Grundstück gehörte, und seine Mutter Maria Fjodorowna („Minnie“), Enkel und Schwiegertochter der Kaiserin Maria. Im Dezember 2012 wurde vor der Kathedrale eine Bronzebüste des unglücklichen Nixa enthüllt. Nach dem ersten Aufenthalt Marias in San Remo im Winter 1874/75 baute die Stadt ein Kasino und einen Golfplatz und wurde ein beliebter Kurort. Insbesondere der russische Adel kam gern hierher und ließ sich Villen bauen. Maria aber hatte der Stadt 1000 Palmen für eine neue Uferpromenade geschenkt, die schon 1875 nach ihr benannt wurde: Corso Imperatrice. Die Palmenallee beginnt beim Casino in der Nähe der russischen orthodoxen Kirche San Basilio, deren Bau sie initiierte, und endet bei der polnischen Kirche. Anfang 2010 erhielt San Remo von der Stadt St. Petersburg eine Bronzebüste der Kaiserin Maria Alexandrowna zum Geschenk, die im März 2010 am Corso Imperatrice enthüllt wurde. Als Gegengabe erhielt St. Petersburg eine der Palmen, die Maria der Stadt geschenkt hatte. Sie wurde im Botanischen Garten der Nördlichen Hauptstadt neu eingepflanzt. Doch nirgends sonst ist die Spurensuche so ergiebig, das Gedenken an Maria Alexandrowna so lebendig wie in Jerusalem. Das ist auch
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logisch, denn sie war Schirmherrin zahlreicher russischer Einrichtungen im Heiligen Land. Als die Hessin Kaiserin von Russland wurde, war die Russische Geistliche Mission, eine offizielle Vertretung der russischen orthodoxen Kirche in Jerusalem, zwar schon ein paar Jahre in Palästina tätig, wurde jedoch erst 1858 vom türkischen Sultan offiziell anerkannt. Nach dem Ende des Krimkrieges war auch die Kirche bestrebt, die russische Präsenz in Palästina zu stärken, und kein anderes christliches Land hat so viele Pilger ins Heilige Land geschickt wie Russland. Die Mission kümmerte sich um die immer zahlreicher werdenden Pilger und Pilgerinnen, darunter viele Alte und Kranke, die untergebracht, verpflegt und geistlich betreut werden mussten, und sie kaufte zu diesem Zweck seit dem Ende der 1850er Jahre laufend Grundstücke für den Bau von Kirchen, Klöstern, Herbergen, Spitälern und Schulen. So entstand der sog. Russenbau (Russian Compound) nordwestlich der Jerusalemer Altstadt, ein Gebäudekomplex auf einer Fläche von 68 000 m2, der 1890 von einer Mauer umgeben wurde. Die ersten Gebäude auf dem riesigen Areal waren die Marien-Herberge für Frauen, die bis zu 1500 Pilgerinnen pro Jahr aufnehmen konnte, das Missionsgebäude, das russische Krankenhaus, die monumentale Dreifaltigkeitskathedrale als Hauptkirche der Geistlichen Mission und das kaiserlich-russische Konsulat. Die Marien-Herberge und das Russische Krankenhaus wurden aus der „Jerusalem-Kasse“ der Kanzlei Ihrer Majestät finanziert. Ferner ließ Maria auf einem von der Geistlichen Mission in Bait-Dschala südlich von Jerusalem gekauften Grundstück auf ihre Kosten eine Schule für orthodoxe palästinensische Mädchen errichten und unterstützte auch sonst die Bildungsarbeit kirchlicher und weltlicher russischer Stellen in Palästina. Nur allzu gern wäre sie selbst ins Heilige Land gepilgert, doch ihre Gesundheit erlaubte ihr die beschwerliche Reise nicht. Im Mai 1881, ein Jahr nach ihrem Tod, reisten ihre Söhne Sergej und Paul, beide aufgrund ihrer Erziehung tief religiöse Menschen, im Gedenken an ihre Mutter nach Palästina, wo sie die russischen Pilger nicht ausreichend unterstützt fanden. Davon unterrichteten sie den Kaiser, ihren Bruder, worauf Alexander III. im Mai 1882 die Gründung der „Kaiserlichen orthodoxen Palästina-Gesellschaft“ befahl, deren erster Präsi-
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dent Sergej wurde und bis zu seinem gewaltsamen Tod 1905 blieb. Die Gesellschaft stand der Kirche nahe, verstand sich aber als unabhängiger Verein zur Förderung der Orthodoxie im Heiligen Land. In den 1880er Jahren ließ Alexander III. die Gesellschaft im Garten Gethsemane eine Kirche zur Erinnerung an seine Mutter errichten: die Maria-Magdalenen-Kirche, deren goldene Zwiebeltürme an den westlichen Hängen des Ölbergs weithin zu sehen sind. Der Bau im neorussischen Stil wurde von allen Kindern Marias finanziert. Eingeweiht wurde die Kirche am 14. Oktober 1888 in Anwesenheit der Großfürsten Sergej Alexandrowitsch und Paul Alexandrowitsch sowie der Großfürstin Elisabeth Fjodorowna („Ella“), der Frau Sergejs, einer geborenen Prinzessin von Hessen-Darmstadt und Großnichte Marias. Beim ersten Anblick der schönen Kirche soll sie ausgerufen haben, dass sie hier begraben werden möchte. Im Jahre 1889 übernahm die Palästina-Gesellschaft die russischen Einrichtungen und besaß um 1917 rund 70 Grundstücke mit Kirchen, Klöstern, Krankenhäusern und Herbergen, die alljährlich 10 000 Pilger aufnehmen konnten. Schon 1886 hatte die Gesellschaft mit dem Bau der Sergej-Herberge (Sergei Imperial Hospice) begonnen, die reichen Pilgern, Adligen und Ehrengästen vorbehalten war. Zu ihrer Einweihung 1890 kam Sergej Alexandrowitsch noch ein drittes Mal nach Jerusalem. Im Februar 1905 fiel er im Kreml einem Bombenanschlag zum Opfer, worauf seine Frau den Vorsitz der Palästina-Gesellschaft übernahm und die Gemeinschaft der Schwestern der Liebe und Barmherzigkeit gründete, aus der das Martha-Maria-Kloster der Barmherzigkeit in Moskau hervorging. „Ella“ wurde dessen erste Äbtissin. In den meisten Gebäuden des Russian Compound sind israelische Behörden untergebracht. Im ehemaligen Russischen Krankenhaus am Russischen Platz befindet sich das Jerusalemer Rathaus, über dessen Eingang noch immer der ursprüngliche Name des Gebäudes in kyrillischer Schrift zu erkennen ist: Russisches Krankenhaus. Die MarienHerberge, die in der britischen Mandatszeit als Gefängnis diente, beherbergt das Museum für Geschichte der Gefangenen der jüdischen Untergrundorganisationen. Auch hier ist über dem Eingang noch das russische Wort für „Marien-Herberge“ in kyrillischer Schrift zu erkennen. In der Sergej-Herberge (Sergei House) befand sich eine Zeitlang
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eine Umweltbehörde. Um die Jahreswende 2008/2009 wurde das Gebäude der russischen Regierung übergeben, die es restaurieren ließ und der 1992 wiederbegründeten Kaiserlichen Orthodoxen PalästinaGesellschaft zur Nutzung überließ. Seit dem Ende der Sowjetunion steigt die Zahl der Pilger aus Russland stetig. Manche entnehmen vielleicht erst der mehrsprachigen Inschrift auf den Marmortafeln am Eingang der Maria-MagdalenenKirche, wem sie gewidmet ist. Auf Russisch, Arabisch, Griechisch und Lateinisch heißt es auf den Tafeln: „Zur Erinnerung an die in Gott entschlafene Herrscherin und Kaiserin Maria Alexandrowna“. In der Maria-Magdalenen-Kirche wird am Ende jedes Gottesdienstes der Kaiserin und ihrer Nichte, der Märtyrerin, gedacht. Und Darmstadt? In ihrem Geburtsort erinnern nur der Marienplatz (1848) an Marie und die Alexanderstraße an ihren Mann (12. Dezember 1843). Nein, Darmstadt ist kein Erinnerungsort. Wer in Hessen nach Spuren der Prinzessin Marie sucht, die sich als Sechzehnjährige auf den langen Weg nach Russland machte und dort ihr Kreuz trug, muss auf den Heiligenberg bei Jugenheim (Gemeinde Seeheim-Jugenheim) fahren, wo Marie und ihr Bruder Alex ihre Kindheit verbrachten. Dank der unermüdlichen Bemühungen der Stiftung Heiligenberg Jugenheim (www.heiligenberg-jugenheim.de) ist dieser malerisch an der Bergstraße gelegene Ort südlich von Darmstadt ein beliebtes Ausflugsziel für Besucher von nah und fern geworden. Gebäude und Landschaftspark auf dem Berg sind denkmalgerecht restauriert, ein Geschichtspfad lädt zum Gang in die Vergangenheit ein, und der Besucher versteht schnell, warum dieser Ort für Marie und Alexander Zeit ihres Lebens ein Sehnsuchtsort blieb, an den sie immer wieder zurückkehrten. Und er versteht, dass sich Alexander von Hessen nach seiner Ausweisung aus Russland mit seiner Familie auf dem Heiligenberg niederließ. So wurde Schloss Heiligenberg zum Stammsitz der Battenberger, auf dem dann auch die englische Verwandtschaft oft zu Besuch war. Im September 1864 begannen auf dem Heiligenberg die sog. „Russenzeiten“, die immer dann anbrachen, wenn die kaiserliche Familie mit Gefolge zu Besuch kam. Dann wurden die Bediensteten in dem kleinen Häuschen hinter dem Nordflügel des Schlosses, dem sog. Russenhaus, untergebracht, während die Minister im Hotel Krone in
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Jugenheim abstiegen. Die Folge: Der Rubel rollte, das Dorf blühte auf, und Wohlstand brach aus. Die Einheimischen sind bis heute stolz darauf, dass Kaiser Alexander II. sein Riesenreich in den 1860er und 1870er Jahren zeitweilig vom Heiligenberg aus regierte. Dort war er auch Privatmann, dort konnte er sich erlauben, was in St. Petersburg unmöglich gewesen wäre, nämlich nackt in das kleine Schwimmbecken in Schlossnähe zu steigen, und der Kaiser von Russland war ein leidenschaftlicher „Nacktbader“. Zum „Wilhelminentag“ 1866 hatten Maria und ihre Brüder zur Erinnerung an ihre Mutter an deren Lieblingsplatz im Kreuzgarten das weithin sichtbare Goldene Kreuz errichten lassen, das spätere Wahrzeichen Jugenheims. Die Gedächtniskappelle neben dem Goldenen Kreuz ist 1905 aus dem Mausoleum hervorgegangen, das Julie von Battenberg für ihren 1888 verstorbenen Mann bauen ließ. Er war zunächst im Alten Mausoleum auf der Rosenhöhe beigesetzt worden, in dem für sie, die nicht „ebenbürtige“ Gemahlin, jedoch kein Platz war. Also holte sie ihn zu sich auf den Heiligenberg, wo seine sterbliche Hülle im April 1894 beigesetzt wurde. An seiner Seite fand im September 1895 auch Julies Sarg seinen Platz. Doch erst im Jahre 1902 fanden die beiden in einer Gruft hinter dem Goldenen Kreuz ihre letzte Ruhe in einem gemeinsamen Grab. Die Stelle hatte Alexander von Hessen selbst ausgesucht. Bleibt zu vermerken, dass die kostbare Altardecke, die Maria der Evangelisch-lutherischen Bergkirche 1857 gestiftet hatte, zu Pfingsten, bei Konfirmationen und anderen Gelegenheiten immer noch ihren Zweck erfüllt. Maria Alexandrowna war erst 55 Jahre alt, als sie starb. Als Alexander III. zu Beginn seiner Regierungszeit die anstehenden Kanonisierungen vorgelegt wurden, schlug er seine Mutter vor: „Sie war eine Heilige.“ Auch in jüngster Zeit wurde gelegentlich über die Heiligsprechung Maria Alexandrownas nachgedacht, weil sie die Mutter und Großmutter von Neumärtyrern war. Ihr Sohn Sergej, seit 1892 General-Gouverneur von Moskau, eigenwillig, herrisch, arrogant, fiel im Februar 1905 im Kreml dem Bombenattentat eines Sozialrevolutionärs zum Opfer.
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Ihr Sohn Paul („Pitz“), der jüngste der sechs Söhne, sympathisch, unauffällig, ein Pferdenarr, wurde im Januar 1919 zusammen mit drei Cousins in der Peter-und-Paul-Festung von der Tscheka, der Geheimpolizei der Bolschewiki, erschossen. Ihr einziges Vergehen war, dass sie Großfürsten waren. Pauls Sohn Dmitrij, Dressurreiter und Frauenheld, war einer der Mörder Rasputins und später, in der Emigration, einer der Liebhaber Coco Chanels. Ihr Enkel Nikolaus II., der die Autokratie auch nicht beschränken wollte und im März 1917 abdanken musste, wurde am 17. Juli 1918 zusammen mit seiner Frau und seinen fünf Kindern in einem Keller in Jekaterinburg erschossen. Mit der Familie starben ihre Begleiter, unter ihnen Dr. Jewgenij S. Botkin, ihr Leibarzt, der Sohn jenes Dr. Sergej P. Botkin, der Maria Alexandrowna betreut hatte. Die sterblichen Überreste des Kaisers, der Kaiserin und der Töchter Olga, Tatjana und Anastasia wurden am 80. Todestag der Familie am 17. Juli 1998 in der Peterund-Paul-Kathedrale beigesetzt. Nachdem die Russische Auslandskirche sie schon 1981 heiliggesprochen hatte, wurden Nikolaus II. und die Seinen am 20. August 2000 auch von der russischen orthodoxen Kirche (Moskauer Patriarchat) als Leidensträger heiliggesprochen. Im Sommer 2007 fanden Archäologen endlich auch die sterblichen Überreste der Tochter Maria und des Thronfolgers Alexej. Sie wurden im Oktober 2015 in der Peter-und-Paul-Kirche mit ihrer Familie vereint. Ihr Enkel Michael, zu dessen Gunsten Nikolaus II. abgedankt hatte, wurde schon am 13. Juni 1918 als erster Romanow in einem Wald bei Perm von Tschekisten erschossen. Ihre Schwiegertochter Maria Fjodorowna, „Minnie“, der es gelungen war, nach dem Oktoberputsch aus Sowjetrussland zu fliehen, kehrte nach Dänemark zurück, wo sie 1928 starb. Sie hat nie glauben können, dass ihr Sohn Nikolaus und ihre Enkel tot waren. Im September 2006 wurden die sterblichen Überreste der „Kaiserin Dagmar“, wie die Dänen sie nennen, nach St. Petersburg übergeführt und mit allen Ehren neben Alexander III., ihrem Mann, in der Festungskirche beigesetzt. Ihre Schwiegertochter (und Großnichte) Ella, die Äbtissin, starb am 18. Juli 1918 bei Alapajewsk im Ural in einem stillgelegten Bergwerksschacht, in den sie zusammen mit fünf Verwandten geworfen
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worden war. Ihre sterblichen Überreste wurden auf abenteuerlichen Umwegen nach Jerusalem gebracht und 1920 in der Maria-Magdalenen-Kirche beigesetzt, ganz wie sie es sich gewünscht hatte. Jelisaweta Fjodorowna wurde bereits 1981 von der russischen Auslandskirche und 1992 auch von der russischen orthodoxen Kirche (Moskauer Patriarchat) heiliggesprochen. Wäre Russlands Geschichte anders verlaufen, wenn der Zar-Befreier sich rechtzeitig entschlossen hätte, seinem Land eine Verfassung zu geben? Wenn Nixa länger gelebt hätte? Wenn Alexander III. anders erzogen worden wäre und bessere Ratgeber gehabt hätte? Vermutlich, doch dem Historiker sind „Was wäre, wenn“-Fragen untersagt.
Anmerkungen 1 „Herzensmarie“ Kindheit und Jugend in Darmstadt 1
Butenschön, Württembergerin, S. 42 2 Ebd., S. 47 3 Maaß, Wilhelmine, S. 70f. 4 Ebd. 5 Gothaischer genealogischer Hof-Kalender auf das Jahr 1826, 63. Jahrgang, S. 59 6 Erbach-Schönberg, S. 45f. 7 HstAD, D 4720/8 8 Lehsten, S. 127 9 Corti, S. 2 10 Bismarck’s Briefe, 8./9. Juli 1853, S. 85 11 Bülow, S. 376 12 Maaß, Wilhelmine, S. 69 13 Erbach-Schönberg, S. 48 14 Žukovskij, XIV, 4./16. April, S. 202 15 Tjutcˇeva, 2. Oktober 1854, S. 178 16 Corti, S. 5 17 Olga, S. 20 18 Jakovleva, 1, S. 163
2 „Sascha“ Kindheit und Jugend in St. Petersburg 1 Tatišcˇev, I, S. 111 2 Butenschön, Württembergerin, S. 106 3 Olga, S. 142 4 Žukovskij, Briefe, 12./24. März 1839, S. 88f. 5 Markelov, S. 20 6 Ebd. 7 Žukovskij, Briefe, 14./26. März 1839, S. 93
8
Nikolaj I., 13. März 1839, in: Izvestija, 14.2.2008 9 Ebd., 25. März 1839 10 Zit. nach: Barkowez u. a., S. 13, vgl. Petrova, S. 7 11 Olga, S. 142f. 12 Zit. nach: Novikov, S. 113 13 Zit. nach: http://retro.cc/sobytiya-ilichnosti/145-nemetskie-printsessyv-rossii-imperatritsa-mariyaaleksandrovna.html 14 Nikolaj I., 14. April 1839 15 Zit. nach: Schiemann, III, 22. April/4. Mai 1839, S. 493 16 Zit. nach: Schliemann, III, 8./20. Mai 1839, S. 494 17 Victoria, 10. Mai 1839, S. 423 18 Ebd., 27. Mai, S. 432 19 Ebd., 28. Mai, S. 433 20 Ebd., S. 434f. 21 Nikolaj I., 22. Mai 1839, in: Izvestija, 14.2.2008 22 Custine, Erster Brief, Ems, den 5. Juni 1839, S. 12 23 Ebd., S. 13f. 24 Žukovskij, XIV, 28. Mai/9. Juni 1839, S. 177f. 25 Nikolaj I., 28. Mai 1839 26 Schiemann, III, S. 363 27 Zit. nach: Schiemann, III, 17./29. Mai 1839, S. 494 28 Nikolaj I., 30. Mai 29 Zit. nach: Schiemann, III, 3./15.7.1839, S. 372 30 Olga, S. 146 31 Zit. nach: Schiemann, III, 11./23. Aug. 1839, S. 372, Fn. 2 32 Olga, S. 150 33 Žukovskij, XIV, 31.3./13.4.1840, S. 198 34 Ebd.
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35 Ebd., 1./13. April, S. 198 36 Ebd., 2./14. April, S. 199 37 Ebd. 38 Ebd., S. 200 39 Žukovskij, XIV, 4./16. April 1840, S. 202 40 Zit. nach: Barkowez u. a., 4. April 1840, S. 28 41 Žukovskij, XIV, 4./16. April 1840, S. 202 42 Ebd., 5./17. April 1840, S. 203 43 Jakovleva, I, S. 162 44 Ebd., S. 124 45 Žukovskij, XIV, 24. April/6. Mai 1840, S. 205 46 Žukovskij, XIV, S. 205–208 47 Meglickij, S. 285 48 Ebd. 49 Ebd., S. 286 50 Olga, S. 154
3 „Eine neue Familie, eine neue Heimat“ Großfürstin von Russland 1 2 3
Butenschön, Preußin, S. 256f. Olga, S.159 Žukovskij, XIV, 4./16. Juni 1840, S. 210 4 Olga, S. 159 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Olga, S. 159f. 9 Žukovskij, XIV, S. 210-212 10 HStAD, B 1, 515 11 Tatišcˇev, I, S. 125; Olga, S. 163 12 Olga, S. 45f. 13 Butenschön, Preußin, S. 63f. 14 Zit. nach: Barkowez u. a., S. 29 15 GMZ Gatcˇina (Hg.), Gattschina, II, S. 153, 180 16 Jakovleva, 1, S. 156f. 17 Jakovleva, I, S. 163
18 Tatišcˇev, I, S. 126 19 Olga, S. 164 20 Ebd. 21 Zit. nach: Petrova, S. 8, aus dem Russ. 22 Ebd. 23 Jakovleva, I, S. 157f. 24 Zit. nach: Petrova, S. 7f., aus dem Russ. 25 Jakovleva, I, S. 158 26 Olga, S. 164 27 Jakovleva, I, S. 161 28 Ebd. 29 Žukovskij, XIV,1./13. Nov. 1840, S. 226 30 Jakovleva, 2, S. 401 31 GMZ Gatcˇina (Hg.), Gatcˇina, II, S. 268 32 Jakovleva, I, S. 162 33 Olga, S. 165 34 Jakovleva, I, S. 162 35 Korf, S. 137 36 Olga, S. 165; Tatišcˇev, I, S. 124 37 Olga, S. 165 38 Ebd., S. 163 39 Jakovleva, I, S. 163 40 Olga, S. 170 41 Ebd., S. 170f. 42 Jakovleva, I, S. 169 43 Ebd. 44 Ebd., S. 170 45 Olga, S. 171 46 Tatišcˇev, S. 127 47 Korf, S. 138 48 Jakovleva, 1, S. 171 49 Butenschön, Preußin, S. 91 50 5. Mai 1841, zit. nach: Barkowez u. a., S. 32 51 Zit. nach: Vjazemskij, S. 332 52 Tatišcˇev, S. 128 53 Sayn-Wittgenstein-Berleburg, 12. Juni 1841, S. 664 54 Juchneva, S. 62 55 Vgl. Butenschön, Preußin, S. 170f. 56 Jakovleva, I, S. 172f. 57 Korf, S. 159f.
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58 Butenschön, Preußin, S.110f.; Butenschön, Württembergerin, S. 320f. 59 Korf, S. 160, GMZ Gatcˇina (Hg.), Gatcˇina II, S. 181f. 60 Jakovleva, 2, S. 404 61 Ebd., S. 407
4 „Sie lasen zusammen alle Nachrichten“ Ein glücklicher Anfang 1 2 3
Kohl, S. 241 Jakovleva, I, S. 169 Zit. nach: Petrova, S. 10f., aus dem Russ. 4 Jakovleva, I, S. 167 5 Zit. nach: Petrova, S. 17, aus dem Russ. 6 Ebd., S. 19 7 Ebd., S. 22 8 Ebd., S. 45 9 Zit. nach: Petrova, S. 56, aus dem Russ. 10 Butenschön, Zaubertempel, S. 64f. 11 Olga, S. 166 12 Jakovleva, II., S. 399 13 Jakovleva, II., S. 400 14 Butenschön, Württembergerin, S. 354f. 15 Jakovleva, II., S. 409 16 Ebd. 17 Ebd., S. 410 18 Ebd. 19 Zit. nach: Barkowez u. a., S. 32f. 20 http://hisdoc.ru/laws/15683 21 Olga, S. 198; Korf, S. 238 22 Olga, S. 199 23 Tatišcˇev, I, S. 130 24 Franz, S. 144 25 Olga, S. 201 26 Korf, S. 243 27 Ebd., S. 245
28 Zit. nach: Barkowez u. a., 16. Januar 1844, 11 Uhr abends, S. 34 29 Korf, S. 375 30 Ebd., S. 384 31 Korf, S. 409 32 Korf, S. 410f.; vgl. Corti, S. 65 33 Korf, S. 410 34 Ebd., S. 411 35 Corti, S. 66 36 Ebd., S. 79 37 Zit. nach: Verbickaja, S. 35, aus dem Russ. 38 Benua, Tagebuch, S. 36, 503
5 „Alle fühlen, dass es leichter wird“ Thronwechsel 1
Butenschön, Württembergerin, S. 206f. 2 Korf, S. 555 3 Ebd. 4 Tjutcˇeva, S. 15 5 Ebd., S. 15f. 6 Reiset, S. 118f. 7 Tjutcˇeva, 26. Dez. 1852, S. 111 8 Tjutcˇeva, S. 26f. 9 Zit. nach: Corti, S. 90 10 Vyskocˇkov, S. 404f. 11 Zit. nach: Corti, 17. Juni 1853, S. 90f. 12 Sovremennik, VIII/1855 13 Tjutcˇeva, 8. Juni 1854, S. 163 14 Ebd., S. 164 15 Zit. nach: Corti, 8. Juli 1854, S. 93f. 16 Tjutcˇeva, 8. Nov. 1854, S. 185 17 Ebd., 14. Nov. 1854, S. 187 18 Gordin, S. 447 19 Ebd., S. 455 20 Tjutcˇeva, 19. Febr. 1855, S. 205f. 21 Frederiks, S. 482 22 Tjutcˇeva, 7. März 1855, S. 223 23 Gordin, S. 480 24 Sollogub, S. 189
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25 Aksakova, 10. April 1855, S. 19 26 Tjutcˇeva, 4. Mai 1855, S. 236 27 Tjutcˇeva, 2. Juni 1855, S. 242 28 Tjutcˇeva, 5. Juni 1855, S. 243 29 Tjutcˇeva, 8. Juni 1855, S. 247 30 Ebd., 11. Juni 1855, S. 248f. 31 Ebd., 24. Juli 1855, S. 251 32 Ebd., 27. Juli 1855, S. 252 33 Zit. nach: Corti, 4./16. Aug. 1855, S. 105 34 Tjutcˇeva, 29. Aug. 1855, S. 255 35 Tjutcˇeva, 7. Nov. 1855, S. 266 36 Tjutcˇeva, 23. Nov. 1855, S. 305f. 37 Tjutcˇeva, 27. Dez. 1855, S. 318
6 „Die Kaiserin ist ein Engel“ Auf dem Thron 1 2 3 4 5
Tjutcˇeva, 6. Jan. 1856, S. 322 Tjutcˇeva, 11. Jan. 1856, S. 328 Ebd., S. 329 Ebd., 11. Jan. 1856, S. 329 Zit. nach Corti, 26. März/7. April 1856, S. 106 6 Radzinskij, S. 146 7 Russkij Invalid, 19. April 1856 8 Zit. nach: Verbickaja, S. 60 9 Verbickaja, S. 57 10 Verbickaja, S. 62 11 Moltke, 16. Aug. 1856, S. 20 12 Ebd., 17. Aug. 1856, S. 23 13 Ebd., 16. Aug. 1856, S. 21 14 Moltke, 25. Aug. 1856, S. 76f. 15 Miloradovicˇ, S. 185 16 Moltke, S. 159 17 Moltke, S. 159f.; Butenschön, Preußin, S. 326 18 Tjutcˇeva, 26. Aug., S. 355 19 Novikov, S. 86 20 Tolstoj, 25. Okt. 1856, S. 300f. 21 Ebd., 12. Nov. 1856, S. 301 22 Schlözer, S. 28f. 23 Massenbach, 6. Dez. 1853, S. 63 24 Tjutcˇeva, 27. Juni 1854, S. 169
25 Ebd. 26 Ebd., 20. Nov. 1855, S. 304 27 Ebd., 20. Nov. 1858, S. 441 28 Schlözer, 25./13. April 1857, S. 34 29 Schlözer, 6. Mai/ 24. April 1857, S. 46 30 Schlözer, 25. Mai 1857, S. 49 31 Ebd., 24./12. Juli 1857, S. 56 32 Tjutcˇeva, 11. Juni 1856, S. 388 33 Massenbach, 24. Juli 1857, S. 109 34 Ebd., 28. Juli 1857, S. 109 35 Tjutcˇeva, 14. Juli 1857, S. 390 36 Schäfer/Baisch, S. 12f., 28 37 Bazarov, S. 26 38 Massenbach, 6. Sept. 1857, S. 111f. 39 Jena, S. 214f. 40 Charles-Roux, S. 218 41 Grünwald, S. 107; Tatišcˇev, I, S. 270 42 Tatišcˇev I, S. 273; Schlözer, S. 84 43 Schlözer, 4. Dez./22. Nov. 1857, S. 84 44 Ebd., 26./14. Dez. 1857, S. 88
7 „Von einfacher und vornehmer Güte“ Pädagogen, Schriftsteller und ein Zauberkünstler 1 2 3 4 5
Mel’nik, S. 402; Ljašenko, S. 158 Mel’nik, S. 402 ˇ icˇerin, S. 86 C Kropotkin, S. 180 Butenschön, Württembergerin, S. 311 6 Kropotkin, S. 180 7 Petrova, S. 25 8 Dumas, S. 10 9 Tjutcˇeva, 10. Juli 1858, S. 396 10 Ebd., S. 396f. 11 Ebd., 5. Nov. 1858, S. 434f. 12 Tjutcˇeva, 26. Aug. 1858, S. 411 13 Tjutcˇeva, 8. Okt. 1858, S. 421 14 Zit. nach: Corti, 3. Dez. 1858, S. 127
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ˇ icˇerin, S. 85 15 C 16 Kropotkin, S. 180 17 Herzen, Bd. XIII, S. 354 18 Verbickaja, S. 62 19 Schlözer, 23./11. Nov.1858, S.115 20 Zit. nach: Corti, undatiert, S. 128 21 Bismarcks Biefe, 1. Juli 1859, S. 180 22 Zit. nach: Meyer, Bismarck. Der Mensch und der Staatsmann, S. 125 23 Zit. nach: Gitermann, 18. April 1859, S. 595 24 Pernau’sches Wochenblatt, 1. Aug. 1859, gesperrt im Original 25 Taube von der Issen (Hg.), S. 409 26 Benua, S. 37 27 Alexander von Russland, S. 149 28 Massenbach, 1. Nov. 1860, S. 146 29 Schlözer, 3. Nov. 1860, S. 161 30 Schlözer, 26./14. Nov. 1860, S. 167f. 31 Schlözer, 29./17. Dez. 1860, S. 174 32 Jena, S. 227 33 Massenbach, 18. Jan. 1861, S. 153f. (Text nach Abschluss des Tagebuchs [1851–1866] aktualisiert)
8 „Die Zukunft ist keine rosige“ Reformjahre 1 2 3
Ljašenko, S. 158 Schlözer, 28./16. Jan. 1861, S. 184 Zit. nach: Corti, 15./27. Febr. 1861, S. 170 4 Rhode, S. 388f. 5 Meyer, S. 85 6 Schlözer, 5. April/24. März 1861, S. 203f. 7 Massenbach, 10. April 1861, S. 154 8 Tjutcˇeva, 5. März 1861, S. 475 9 Schlözer, 13./1. Juni 1861, S. 214 10 Tolstoj, 27. Juli 1861, S. 301 11 Schlözer, 18. Juli 1861, S. 220 12 Ebd., 24. Aug. 1861, S. 223 13 Ebd., 14./2. Okt. 1861, S. 225 14 Sindalovskij, S. 169
15 Schlözer,14./2. Okt. 1861, S. 224 16 Zit. nach: Radzinskij, 22. Nov./3. Dez. 1861, S. 212 17 Zit. nach: Corti, 4. April 1862, S. 171 18 Panaeva, S. 337 19 Zit. nach: Corti, 6./18. Juni 1862, S. 170f. 20 Kropotkin, S. 178 21 Zit. nach: Corti, 13./25. Mai 1862, S. 172 22 Meyendorff, III, 20. Juni, 2. Juli 1862, S. 427 23 Ebd., S. 428 24 Butenschön, Zaubertempel, S. 76f. 25 Dreux, Notiz vom 27./15. Februar 1878, S. 375f. 26 Meyendorff, III, 22. Aug./3. Sept. 1862, S. 429f. 27 Tatišcˇev, I, S. 446f. 28 Zit. nach: Corti, 5./17. Jan. 1863, S. 174f. 29 Zit. nach: Corti, 6./18. Juli 1863, S. 179f. 30 Corti, S. 180 31 Zit. nach: Corti, 24. April, 6. Mai 1864, S. 185 32 Friedrich III., 10. Juni 1864, S. 368 33 Zit. nach: Kiste, S. 49 34 Corti, S. 185 35 Jena, S. 252 36 Friedrich III., 19. Juli 1864, S. 371 37 Massenbach, 26. Juli 1864, S. 191 38 Tolstoj, 12./24. Juli 1864, S. 302 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Erbach-Schönberg, S. 60 42 Maria Alexandrowna, 2./15. Aug. 1864, S. 2 43 Zit. nach: Verbickaja, S. 128 44 Erbach-Schönberg, S. 64 45 Friedrich III., S. 375 46 Erbach-Schönberg, 18. Okt. 1864, S. 66
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9 „Abends am Ufer des Meeres“ Tod des Thronfolgers 1 Verbickaja, S. 163 2 Zit. nach: Verbickaja, S. 168 3 Ebd., S. 169 4 Ebd., S. 170 5 Ebd., S. 171 6 Verbickaja, S. 184 7 Verbickaja, S. 175 8 Zit. nach: Verbickaja, S. 182 9 Tjutcˇeva, 4.–26. April, S. 479 10 Ebd., S. 180 11 Tjutcˇeva, S. 481; Verbickaja, S. 180 12 Erbach-Schönberg, S. 75 13 Zit. nach: Verbickaja, S. 186 14 Tjutcˇeva, 4.–26. April 1864, S. 490 15 Litvinov, S. 56f. 16 Zit. nach: Corti, 18. April 1865, S. 187 17 Litvinov, S. 57 18 Zit. nach: Grünwald, S. 218 19 Massenbach, 6. Mai 1865, S. 202f. 20 Ebd., 6. Mai 1865, S. 203 21 Maria Alexandrowna, 28. April/10. Mai 1865, S. 2 22 Zit. nach: Massenbach, 1. Juli 1865, S. 204f. 23 Talleyrand-Périgord, 9. Juni 1865, zit. nach: Grünwald, S. 219 24 Ebd., S. 219f. 25 Valuev, II, 14. Mai 1865, S. 42 26 Olga, S. 167 27 Valuev, 13. Aug. 1865, S. 634 28 Wittram, S. 187 29 Valuev, II, 20. Juli 1865, S. 60 30 Ebd., 21. Juli 1865, S. 61 31 Maria Alexandrowna, 30. Juli/11. Aug. 1865, S.2 32 Schweinitz, I, S. 180 33 Tolstaja, S. 96f. 34 Zit. nach: Barkowez u.a., 14. März 1884, S. 41
10 „Mir ist eben ein Unfall passiert“ Attentate und Kriege 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19
20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32
Zit. nach: Corti, 1./13. April 1866, S. 199 Valuev, 4. April, S. 115 Zit. nach: Corti, Mai 1866, S. 207 Jakovleva, III., S. 598 Olga, S. 185 Jakovleva, III., S. 599 Maria Alexandrowna, 26. April/8. Mai 1866, S. 2 Zit. nach: Corti, 7. Mai 1866, S. 207 Corti, S. 199 Kropotkin, S. 296f. Kropotkin, S. 354f. Dumas, S. 152 Radzinskij, S. 242 Paléologue, S. 60f. Bülow, S. 377 Zit. nach: Corti, 8./20. Juli 1866, S. 221 Zit. nach: Corti, 19./31. Juli 1866, S. 224 Corti, S. 225 Andersen, Dagbøger, Bd VII, S. 190; Briefe an Mimi Holstein-Holsteinborg: http://andersen.sdu.dk/ brevbase/brev.html?bid=12450 Zit. nach Radzinskij, S. 211 Maria Alexandrowna, 18./20. Nov.1866, S. 2 Radzinskij, S. 211 Valuev, 12. Mai 1867, S. 206 Kiste, S. 64 Tolstaja, S. 98f. Kiste, S. 65 Valuev, II, 27. Mai 1866, S. 209f. Ebd., 28. Mai 1867, S. 210 Radzinskij, S. 246 Ljašenko, S. 137 Ebd., S. 81f. Twain, S. 188f.
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33 Maria Alexandrowna, 21. Aug./2. Sept. 1867, S. 3 34 Zit. nach: Böhm, S. 411 35 Ebd., S. 412 36 Ebd. 37 Corti, S. 236 38 Maria Alexandrowna, 7. Aug. 1868, S. 5 39 Ebd. 40 Graf, S. 202f. 41 Boehm, S. 380; Corti, S. 236f. 42 Maria Alexandrowna, 11./23. Dez. 1868, S. 5 43 Ebd. 44 Corti, S. 239 45 Zit. nach: Corti, 20. Juli 1870, S. 241 46 Zit. nach: Corti, 5./17. Dez. 1870, S. 249 47 Zit. nach: Corti, 8./20. Jänner 1971, S. 246f.
11 „Ein Schatten ihrer selbst“ Letzte Jahre 1 2 3 4 5 6
Valuev, 14. März 1872, S. 278 Kiste, S. 66 Ebd., S. 67 Kropotkin, S. 291 Petrova, S. 26 Zit. nach: Radzinskij, S. 286f., kursiv im Orig. 7 http://www.fedor-tutchev.ru/ poezia228.html 8 Zit. nach: Budko u. a., S. 12 9 Vgl. Grünwald, S. 288f. 10 Tatišcˇev, 2, S. 90 11 Erbach-Schönberg, S. 206 12 Stökl, S. 581 13 Zit. nach: Corti, 17./29. Jan. 1870, S. 239 14 Stanley, S. 214 15 Ebd. 16 Ebd., S. 204
17 18 19 20 21 22 23
Valuev, 11. Jan. 1874, S. 292 Stanley, S. 216 Zit. nach: Kiste, S. 76 Tolstoj, 27. Nov. 1874, S. 295 Ebd., S. 296 Narischkin-Kurakin, S. 56, 59 Zit. nach: Corti, 9./21. April 1876, S. 268 24 Valuev, 8. April 1876, S. 352 25 Zit. nach: Grünwald, 8. April 1876, S. 304f. 26 Erbach-Schönberg, S. 213f. 27 Ebd., S. 213f. 28 Tatišcˇev,II, S. 294 29 Zit. nach: Grünwald, 10. Juli 1876, S. 305 30 Ebd., 4. Okt. 1876 31 Zit. nach: Paléologue, S. 93 32 Schweinitz, I, S. 340f. 33 Zit. nach: Corti, 5./17. Aug. 1876, S. 271 ˇ ernucha, S. 17; Tjutcˇeva, S. 331; 34 C vgl. Kiste, S. 82 35 Schweinitz, I, S. 359 36 Ebd., S. 363 37 Zit. nach: Corti, 4./16. Nov. 1876, S. 274 38 Schweinitz, S. 399 39 Zit. nach: Corti, 22. Mai/3. Juni 1877 40 Narischkin-Kurakin, S. 66f. 41 Kropotkin, S. 488f. 42 Tolstaja, S. 60; Radzinskij, S. 433 43 Maria Alexandrowna, 11./23. Sept. 1878, S. 4 44 Schweinitz II, 22. März 1879 S. 47 45 Zit. nach: Corti, 11./23. April 1879, S. 308 46 Tolstaja, S. 26 47 Tolstaja, S. 167 48 Zit. nach: Radzinskij, 3. Juni 1879, S. 360 49 K.R., 24. Juni 1879, S. 63 50 K.R., 28. Juni 1879, S. 64 51 Zit. nach: Hoetzsch, 21. Juli/2. Aug. 1879, S. 85, Fn. 1
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52 Šeremetev, in: Cˇernucha u. a. (Hg.), S. 326 53 Verbickaja, S. 285 54 Zit. nach: Troyat, S. 195 55 Tolstaja, S. 28 56 Ebd. 57 Schweinitz II, 15. Jan. 1880, S. 88
12 „Niemand konnte sie ohne Tränen ansehen“ Lebensende 1 2
Schweinitz, II, 4. Febr. 1880, S. 91 Schweinitz II, 9. –12. Febr. 1880, S. 94f. 3 Ebd., S. 95 4 Tolstaja, S. 29 5 Ebd. 6 Tolstaja, S. 26 7 Zit. nach: Ljašenko, S. 288, aus dem Russ. 8 Schweinitz, II, 17. Febr. 1880, S. 101 9 Zit. nach: Grünwald, S. 369 10 Monachov, S. 122 11 Alexander von Russland, S. 55 12 Tolstaja, S. 32f. 13 Schweinitz, II, S. 101 14 Tolstaja, S. 37 15 Ebd., S. 41 16 Monachov, S. 124 17 Grünwald, S. 372 18 Tolstaja, S. 44 19 Kiste, S. 97 20 Tolstaja, S. 41 21 Jakovleva, III., S. 604 22 Ebd., S. 127 23 Benua, Erinnerungen, I, S. 493 24 Tolstaja, S. 47
25 Ebd. 26 K.R., 20. April, Ostern 1880, S. 83 27 Ebd., 11. Mai 1880, S. 85 28 Tolstaja, S. 48 29 Kropotkin, S. 508 30 Tolstaja, S. 49 31 Corti, S. 323 32 K.R., 22. Mai, S. 87 33 Ebd. 34 Zit. nach: Petrova, S. 28 35 Zit. nach: Barkowez u.a., S. 37f. 36 http://www.womanhit.ru/archive/ 651357-lyubov-vseya-rusi-.html 37 Zit. nach: Tolstaja, S. 43 38 Benua, Erinnerungen, I, S. 493 39 K.R., 23. Mai 1880, S. 87 40 Ebd. 41 Tolstaja, S. 55 42 K.R., 24. Mai 1880, S. 88 43 Tolstaja, S. 53 44 Bogdanovicˇ, 28. Juni 1880, S. 539 45 Zit. nach: Radzinskij, S. 441; Paléologue, S. 187f. 46 Novikov, S. 403 47 Kaiserin Friedrich, Briefe, 12. Nov. 1880, S. 193f. 48 Tolstaja, S. 203 49 Benua, Erinnerungen, I, S. 493f. 50 Tolstaja, S. 204 51 Tolstaja, S. 189 52 Kaiserin Friedrich, 14. März 1881, S. 197 53 Kropotkin, S. 512 54 Tolstaja, S. 207 55 Zit. nach: Grünwald, S. 416
Bibliographie Die Schreibweise russischer Namen folgt hier der wissenschaftlichen Transliteration, soweit übersetzte Titel nicht phonetisch transkribiert sind. Abkürzungen: SPb Sankt-Peterburg M Moskva RS Russkaja Starina RA Russkij Archiv IV Istoricˇeskij Vestnik GMZ Staatliches Museum-Reservat Aigner, Thomas, Olga Smirnitskaja. Die Adressatin von 100 Liebesbriefen von Johann Strauss, Tutzing 1998 Aksakova, Vera S., Дневник. 1854–1855 gg. [Tagebuch. 1854–1855), M 2004 (Digitalisat) http://profilib.com/chtenie/80063/vera–aksakova–dnevnik–1855–god– 19.php Aldanov, Mark A., Istoki [Ursprünge], Paris 1950; Digitalisat Alexander von Russland (Großfürst Alexander Michailowitsch), Einst war ich Großfürst, Leipzig 1932; Lizenzausgabe Weltbild, Augsburg 2000 Anan’icˇ, B.V., Ganelin, R.Š., Gordin, M.A., Cˇ ernucha, B.G. (Hg.), Aleksandr Tretij. Vospominanija, Dnevniki, Pis’ma [Alexander der Dritte. Erinnerungen, Tagebücher, Briefe], SPb 2001 [Andersen, Hans Christian], H.C. Andersens Dagbo/ger 1866–1867, VII, Udgivet af Kirsten Weber, Kopenhagen 1972 Barkowez, Olga, Fedorow, Fjodor, Krylow, Alexander, „Peterhof ist ein Traum“. Deutsche Prinzessinnen in Russland, Berlin 2001 Barkovec, O.I., Vernova, N.V., Imperatrica Aleksandra Fëdorovna [Kaiserin Alexandra Fjodorowna], SPb 2008 Benua, Aleksandr (Benois, Alexander), Dnevnik, 1916–1918 godov [Tagebuch der Jahre 1916–1918], M 2006, zit. als: Benua, Tagebuch Ders., Moi vospominanija [Meine Erinnerungen], Bd. 1, M 2005, zit. als: Benua, Erinnerungen Bismarck, Fürst Otto von, Gedanken und Erinnerungen, Zweiter Band, Stuttgart/Berlin 1905 [Ders.], Fürst Bismarck’s Briefe an seine Braut und Gattin, Stuttgart 1900, zit. als: Bismarcks Briefe
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Bildnachweis akg-images: Tafel 1 (IAM), Tafel 5 oben rechts (De Agostini Picture Lib. / A. Dagli Orti), Tafel 10 oben rechts (Archive Photos), Tafel 11 oben links, unten links, unten rechts, Tafel 12 oben rechts (Archive Photos), unten, Tafel 13 unten links (Archiv Photos), Tafel 14 oben rechts (IAM), Tafel 16 unten (IAM) Alamy Stock Foto: Tafel 15 unten (Bogomyako) Hessisches Staatsarchiv Darmstadt (HStAD): Tafel 3 oben links (HStAD R 4 Nr. 24760), oben rechts (HStAD R 4 Nr. 24761), unten links (HStAD D 27 Nr. 54/52), unten rechts (HStAD D 27 A Nr. 16/12), Tafel 6 oben links (HStAD R 4 Nr. 18486 GF) picture alliance: Tafel 2 unten (Arco Images GmbH, Foto: F. Gierth), Tafel 15 oben (Heritage images) Staatliche Ermitage, St. Petersburg (© The State Hermitage Museum, 2017, Fotos von Vladimir Terebenin, Leonard Kheifets, Alexander Koksharov und Pavel Demidov): Tafel 4 oben, unten, Tafel 5 oben links, unten links, unten rechts, Tafel 6 oben rechts, unten, Tafel 7 oben, Tafel 8 oben, unten, Tafel 9 oben, unten, Tafel 12 oben links Stadtarchiv Darmstadt: Tafel 2 oben (HStAD R 4 Nr. 20358) Wikimedia Commons (via CC BY-SA 3.0): Tafel 7 unten (Mister Tsar), Tafel 10 oben links (DenisWasRight), unten (Xviona), Tafel 11 oben rechts (Dmitry Rozhkov), Tafel 13 oben (Vitold Muratov), unten rechts (Shakko), Tafel 14 oben links (Shakko), unten (Perfektangelll), Tafel 16 unten (Jossa 56)
Glossar Alexander-Lyzeum, Kaiserliches, Eliteschule für Jungen, die in den höheren Staatsdienst treten sollten, 1811 von Alexander I. eröffnet, befand sich im „neuen“ Flügel des Katharinenpalastes in Zarskoje Selo; der berühmteste Schüler war Alexander Puschkin Alexander-Newskij-Kapelle (1831–1833), von Karl Friedrich Schinkel entworfene, von Adam Menelaws erbaute Hauskapelle der kaiserlichen Familie im Landschaftspark Alexandria (Peterhof) Alexander-Palast (1792–1796), Zarskoje Selo, von Giacomo Quarenghi (1744–1817) für Alexander I. erbaut, Alterssitz der Kaiserin Alexandra Fjodorowna Alexandria (1826–1829), Landschaftspark in Peterhof, von Adam Menelaws angelegt, nach Alexandra Fjodorowna benannt, mit Cottage, „Farm“ u. a. Anitschkow-Palast (1741–1754), Newskij Prospekt 39/Uferstraße der Fontanka, für Elisabeth Petrowna errichtet, erhielten die Thronfolger in der Regel als Hochzeitsgeschenk Antonius von Padua, Gemälde von Murillo (1660–1680), gelangte 1852 von Lunéville, Paris, in die Kaiserliche Ermitage Aufzug, feierlicher, Hofzeremonie, Zug der kaiserlichen Familie und des Hofstaats vom Malachitsaal durch die großen Säle des Winterpalastes in den Thronsaal oder die große Palastkirche Autokratie (Selbstherrschaft), Herrschaftsform des Moskauer Staates und des Russischen Reiches, die auf der göttlich legitimierten unbeschränkten und unkontrollierten Macht des Zaren bzw. Kaisers beruhte Baise-main, Handkuss, Hofzeremonie Bojaren, altrussische Adlige Boulletechnik, Boullemarketerie, benannt nach dem französischen Kunsttischler André Charles Boulle (1642–1732), königlicher Ebenist unter Ludwig XIV., wurde Mitte des 19. Jahrhunderts wieder modern Butterwoche, russ.: Maslenica (von: maslo, Butter), religiöses Fest vor Beginn der Fastenzeit, mit dem der Winter verabschiedet wird Chiffre, Anstecknadel der Hofdamen mit den diamantengeschmückten Initialen der jeweiligen Kaiserin Ems, Kurort, seit 1914 Bad Ems Equipage, elegante geschlossene Kutsche
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Ermitage (Eremitage), Staatliche, Palastsufer 34, größtes Museum Russlands, 1764 von Katharina II. gegründet, besteht aus der Kleinen Ermitage (1764–1775), der Alten (Großen) Ermitage (1771–1787), der Neuen Ermitage (1840–1852) und dem Ermitage-Theater (1783–1787); die Sammlungen der Kaiserlichen Ermitage waren bis 1917 Privatbesitz der Romanows. Im Oktober 1917 wurde sie verstaatlicht und der Winterpalast „zum Museum ebenso wie die Ermitage“ erklärt. Seither ist der Palast das Hauptgebäude der Staatlichen Ermitage. Dritte Abteilung der Eigenen Kanzlei seiner Kaiserlichen Majestät, höchstes Organ der politischen Polizei in Russland (1826–1880), der teilweise auch das Gendarmen-Korps unterstand; von Nikolaus I. eingerichtet Estland, Gouvernement Russlands seit 1721, bildete zusammen mit Livland (1721) und Kurland (1795) die „Ostseeprovinzen“ des russischen Kaiserreiches Facettenpalast (Granovitaja palata, 1487–1491), im Moskauer Kreml von Iwan III. gebaut; im Palast fanden Empfänge ausländischer Diplomaten und andere offizielle Zeremonien statt; hier wurden die Geschenke für die Zaren ausgestellt. Firmung, s. Myronsalbung Gattschina, Stadt und Palast südlich von St. Petersburg, Lieblingsresidenz Pauls I., ging 1855 in den Besitz Alexanders II. über, der in den 26 Jahren seiner Herrschaft selten nach Gattschina kam, meistens nur, um wichtige Gäste schon hier zu empfangen oder um zu jagen Georg-Saal, St. Georg-Saal, Hauptsaal des Winterpalastes, auch Großer Thronsaal General-Admiral, höchster Rang der Russischen Flotte Glasnost, russ.: glasnost’ (Offenheit, Transparenz), politischer Begriff aus der Regierungszeit Alexanders II., von KPdSU-Generalsekretär Michail S. Gorbatschow 1985 wieder aufgenommen Hapsal (Hapsalu), Ostseebad in Estland Hofdame, russ.: Frejlina (von Fräulein), Hofdienstrang, wurde jüngeren unverheirateten Frauen aus angesehenen Familien verliehen, die meistens das Smolnyj Institut absolviert hatten; die Hofdamen trugen stilisierte russische Kleidung (Sarafan und Kokoschnik) Heilige Allianz, von Alexander I. initiiertes, 1815 geschlossenes monarchischkonservatives Bündnis Russlands, Preußens und Österreichs, dem später fast alle europäischen Staaten beitraten; Ziele waren die Aufrechterhaltung des nach der Niederlage Napoleons (1815) geschaffenen Staatensystems und der Kampf gegen nationale und revolutionäre Bewegungen
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Isaak-Kathedrale (1818–1858), Isaak-Platz 1, drittes Gotteshaus dieses Namens, im Auftrag Alexanders I. nach einem unter Nikolaus I. überarbeiteten Projekt von Auguste Montferrand erbaut Istoritscheskij westnik, IV (Istoricˇeskij vestnik, Historischer Bote), historischliterarische Zeitschrift, die von 1880 bis 1917 in St. Petersburg erschien Jelagin, Palast auf der gleichnamigen Insel, in den 1780er Jahren für Oberhofmeister I.P. Jelagin gebaut Kalender, Gregorianischer, benannt nach Papst Gregor XIII., entstand Ende des 16. Jahrhunderts nach einer Reform des Julianischen Kalenders, löste im Lauf der Zeit zahlreiche andere Kalender ab; gilt heute weltweit Kalender, Julianischer, von Julius Cäsar eingeführt, galt in Russland bis Februar 1918, war im 19. Jahrhundert zwölf Tage, im 20. Jahrhundert dreizehn Tage hinter dem Gregorianischen Kalender zurück, gilt im kirchlichen Bereich teilweise bis heute Kasaner Kathedrale (1801–1811), Newskij Prospekt, im Auftrag Pauls I. erbaut, dem Petersdom in Rom nachempfunden, vor Auslandsreisen kamen die Mitglieder der kaiserlichen Familie zum Gebet hierher Katharinenorden, Orden der Heiligen Katharina, zweiklassiger Damen orden, 1711 von Peter I. gestiftet; Ordensmeisterin war die regierende Kaiserin Katharinenpalast (Großer Palast) in Zarskoje Selo, Bauherrin war Elisabeth Petrowna, die hier das Bernsteinzimmer einbauen ließ Kirche, griechische, bis Anfang des 20. Jahrhunderts übliche Sammelbezeichnung für die orthodoxen Kirchen zur Abgrenzung gegenüber der lateinischen Kirche; unabhängige orthodoxe Landeskirchen entstanden erst um 1920 Kokoschnik, haubenartiger Kopfschmuck russischer Frauen Krasnoje Selo, Ort westlich von St. Petersburg, bekannt wegen der dortigen Sommerlager und Manöver der Petersburger Garnison Krone, Große, 1762 für Katharina II. geschaffen, von Paul I. zum ersten Mal verwendet; bis zum Ende der Dynastie in Gebrauch Kurland, Gouvernement Russlands seit 1795, heute Provinz Lettlands Kurländer, Deutschbalte aus Kurland Land und Freiheit (Zemlja i volja) revolutionäre Geheimorganisation mit Ablegern in allen russischen Großstädten, entstand 1861 in St. Petersburg, zerfiel 1864, wurde 1876 neu gegründet, löste sich 1879 wieder auf. Livadia, Landsitz auf der Krim, wurde 1860 der Kaiserin Maria Alexandrowna zum Kauf angeboten und von Alexander II. für sie gekauft; bestand aus einem großen Weinberg, einem Wohnhaus samt Orangerie und Neben gebäuden, zum Palast umgebaut von Ippolit Monighetti
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Livland, Gouvernement Russlands seit 1721, heute Teil Estlands und Lettlands Livländer, Deutschbalte aus Livland Madonna Alba, Gemälde von Raphael (1510), von Nikolaus I. in der Sammlung Coesfeld gekauft, von der Sowjetregierung 1931 für 1,166 Mill. Dollar an US-Finanzminister Andrew Mellon verkauft; hängt seit 1941 in der National Gallery of Art in Washington Madonna Conestabile, Gemälde von Raffael (Madonna mit dem Kind), gehörte dem Grafen S. Conestabile, Perugia, von Alexander II. nach schwierigen Verhandlungen 1870 für seine Frau gekauft, von Maria der Ermitage vermacht; heißt nach ihrem früheren Besitzer Manifest, hier: einseitige öffentliche Erklärung des Kaisers von Russland von höchster Verbindlichkeit Marienpalast in St. Petersburg (1839–1844), Isaak-Platz 6, im Auftrag Nikolaus’ I. für seine Tochter, die Großfürstin Maria Nikolajewna, Herzogin von Leuchtenberg, erbaut und nach ihr benannt; heute Sitz der Gesetzgebenden Versammlung der Stadt St. Petersburg Marienpalast in Kiew (1744–1752) im Auftrag Elisabeth Petrownas am hohen rechten Ufer des Dnjepr gebaut, Anfang des 19. Jahrhunderts abgebrannt, um 1870 im Auftrag Alexanders II. neu errichtet und nach der Kaiserin Maria Alexandrowna benannt; diente der kaiserlichen Familie auf dem Weg nach Livadia als Zwischenstation; heute: Residenz des ukrainischen Präsidenten . Memel, ehemals preußische Hafenstadt; heute Klaipeda in Litauen Menelaws, Adam (1748–1831), schottischer Architekt in russischen Diensten, Hofarchitekt Nikolaus’ I. Metropolit, zweithöchster Titel der russischen orthodoxen Patriarchats kirche; nach der Abschaffung des Patriarchats durch Peter I. waren die Metropoliten von St. Petersburg, Moskau und Kiew bis ins 20. Jahrhundert die höchsten Würdenträger der russischen orthodoxen Kirche, deren Oberhaupt der Kaiser war. Michael-Palast, Inschenernaja 4, von Paul I. für seinen jüngsten Sohn, den Großfürsten Michael Pawlowitsch, gebaut, beherbergt seit 1898 das Russische Museum Ministerkomitee, Regierung Russlands, 1802 von Alexander I. geschaffen, hatte beratende Funktion und während der Abwesenheit des Herrschers außerordentliche Vollmachten Myronsalbung, das zweite von sieben Sakramenten der orthodoxen Kirche; wird normalerweise nach der Taufe gespendet; im Fall der deutschen Prinzessinnen-Bräute wurde aus Rücksicht auf die deutschen Dynastien
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auf die Taufe verzichtet und der Übertritt zur russischen orthodoxen Kirche durch die Myronsalbung vollzogen. Nagaika, lederne Kosakenpeitsche Narodnaja wolja s. Volkswille Narodniki, Volksfreunde, junge Idealisten, die zwecks Aufklärung „ins Volk“ gingen Narodnitschestwo, Gang, Bewegung der russischen Jugend „ins Volk“ Newa-Enfilade, Zimmerflucht an der Newa-Seite des Winterpalastes Newskij Prospekt, ursprünglich: Große Perspektive; 5 km lange Hauptstraße von St. Petersburg Oberstallmeister, hoher Hofdienstrang Palastkirche, Große, seit Alexander I. „Seiner Majestät Hofkirche“ im Winterpalast, in der offizielle Akte wie Trauungen, Taufen, Eidesleistungen vollzogen wurden Palastkirche, Kleine, im Nordwestflügel nahe den Inneren Gemächern gelegene „Privatkirche“ der kaiserlichen Familie im Winterpalast Pariser Frieden (30. März 1856), beendete den Krimkrieg Pawlowsk, Ort südlich von St. Petersburg, Name des von der Kaiserin Maria Fjodorowna geschaffenen Palastparkensembles Peterhof, Ort und Palastparkensemble am Finnischen Meerbusen, „russisches Versailles“, 1705 von Peter I. gegründet, seit 1723 Sommerresidenz der Petersburger Kaiser, bevorzugte Sommerresidenz Nikolaus’ I. Peter-Palast (1776–1796), von Katharina II. erbauter „Reisepalast“, nördlich von Moskau, am Petersburger Trakt gelegen, diente den kaiserlichen Reisenden als Raststätte vor dem Einzug in Moskau Peter-und-Paul-Kathedrale, „Festungskirche“ (1712–1733), älteste Kirche der Stadt auf der Haseninsel, Grablege der Romanows seit Peter I. Prioratspalast, Gattschina, Ende des 18. Jahrhunderts im Auftrag Pauls I. für den Souveränen Malteserorden gebaut, dessen Großmeister er von 1798 bis 1801 war Reversalzwang, Verpflichtung von Ehepartnern, die verschiedenen Konfessionen angehören, ihre Kinder nach den Regeln der „rechtgläubigen“, d. h. der orthodoxen Kirche zu taufen und zu erziehen, sofern ein Ehepartner orthodox ist; 1865 von Alexander II. aufgehoben; 1885 von Alexander III. wieder eingeführt Risalit, hervorspringender Gebäudeteil Ritterschaftshauptmann, Vorsitzender der Ritterschaften in den Ostsee provinzen Estland, Livland und Kurland Romanow, Name der Dynastie, die von 1613–1917 über Russland herrschte; seit Peter III., geb. Herzog Karl-Peter-Ulrich von Holstein-Gottorf, der
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1762 Kaiser wurde, lautet ihr vollständiger Name Romanow-HolsteinGottorp Russalka (Rusalka), weiblicher Wassergeist aus der slawischen Mythologie Russisches Museum, Staatliches (ursprünglich Russisches Museum Kaiser Alexanders III.), 1895 im Michael-Palast gegründet, 1898 von Nikolaus II. eröffnet, bewahrt vor allem russische Kunst auf; zum Staatlichen Russischen Museum gehören auch der Marmorpalast an der Newa, das Michael-Schloss Ecke Sommergarten/Fontanka, das Stroganow-Palais am Newskij Prospekt und das Peter-Häuschen auf der Petrograder Seite Russisches Rotes Kreuz, entstand im Mai 1867 als „Gesellschaft zur Ver sorgung der verwundeten und kranken Soldaten“ mit Kaiserin Maria Alexandrowna als Schirmherrin; 1876 wurde die Gesellschaft in „Russische Gesellschaft des Roten Kreuzes“ umbenannt (ROKK); Schirm herrin blieb die Kaiserin; der Kaiser und alle Großfürsten und Groß fürstinnen waren Ehrenmitglieder; kümmerte sich während des russisch-türkischen Krieges 1877/1878 praktisch allein um die medizinische Versorgung der Armee Russkaja Starina, RS (Das russische Altertum), populäre Monatszeitschrift, erschien von 1870 bis 1917 in Moskau Russkij Archiw, RA (Russkij Archiv, Das russische Archiv), historisch-literarische Monatszeitschrift, erschien von 1863 bis 1917 in Moskau Sarafan, langes hemdähnliches Gewand, wird unter der Brust gegürtet Semlja i wolja s. Land und Freiheit Senat, Dirigierender, 1711 von Peter I. geschaffen, höchstes Staats- und Gesetzgebungsorgan des Russischen Reiches; hatte seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur noch Aufsichtsfunktion Smolnyj Institut, Fräuleinstift, ging aus der 1764 von Katharina II. gegründeten Erziehungsgesellschaft für adlige Mädchen hervor, die ihren Sitz im Smolnyj Kloster hatte; letzteres wurde Ende des 18. Jahrhunderts aufgelöst Sowremennik (Sovremennik, Der Zeitgenosse), literarische Zeitschrift, von Alexander Puschkin gegründet, erschien seit 1836 in St. Petersburg, wurde 1866 nach dem ersten Attentat auf Alexander II. verboten Staatsdame, hoher weiblicher Hofdienstrang, stand über den Hofdamen Staatsrat (Reichsrat), 1810 von Alexander I. geschaffen, höchstes gesetzesberatendes Organ des Russischen Reiches, hatte auch kontrollierende Funktion; 1906–1917: zweite Parlamentskammer neben der Staatsduma Strelna, Ort westlich von St. Petersburg; der Konstantin-Palast ist heute Sommerresidenz des Präsidenten Russlands Synod, Heiliger, oberste geistliche Behörde der russischen orthodoxen Kirche, 1721 von Peter I. anstelle des Patriarchats eingerichtet.
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Tauwetter, Titel eines Romans von Ilja Ehrenburg, der im April 1954 in der Zeitschrift Snamja (Znamja, Das Banner) vorveröffentlicht wurde, 1956 als Buch erschien und den Jahren nach Stalins Tod (1953), als das Leben leichter wurde, ihren Namen gab Volkswille (Narodnaja volja), Terrorgruppe, Partei, ging im Sommer 1879 aus der Organisation Land und Freiheit hervor, bestand aus Adligen; strebte den Sturz des Zarismus und eine sozialistische Ordnung an, verübte mehrere Attentate auf Alexander II., auch das letzte, tödliche Attentat am 1./13. März 1881 Ukas, Erlass, Dekret Wasserweihe, Große (6. Januar a.St.), sakramentaler Gottesdienst der orthodoxen Kirche, Feier zur Erinnerung an die Taufe Christi im Jordan; fand in St. Petersburg vor dem Winterpalast auf der Newa statt Werst (versta), altes russisches Längenmaß, 1,067 km. Winterpalast (1754–1762), Bau von Francesco Bartolomeo Rastrelli (1700– 1771), Hauptresidenz der Petersburger Kaiser an der Newa, heißt so, weil die kaiserliche Familie nur im Winter in diesem Palast lebte Zar, Herrschertitel, den der Moskauer Großfürst Iwan III. (1462–1505) als erster gebrauchte; sein Enkel Iwan IV., „Iwan der Schreckliche“ (1530– 1584), ließ sich im Jahre 1547 als erster zum Zaren krönen Zarenhymne, Gott schütze den Zaren (1833–1917), Text von Wassilij A. Schukowskij, Melodie von Alexej F. Lwow Zariza (Zarin), Gemahlin eines Zaren Zarewitsch (Zarensohn ), Bezeichnung aller Söhne der Moskauer Zaren; die Söhne der Petersburger Kaiser trugen den Titel „Großfürst“; der Thronerbe war der Großfürst-Thronfolger oder Großfürst Zesarewitsch Zarewna, Tochter eines Zaren Zarskoje Selo (Zarendorf), 1710 gegründet, Sommerresidenz der Petersburger Kaiser südlich von St. Petersburg, Lieblingsresidenz Katharinas II. und Alexanders II., seit 1938: Puschkin; 1998 eingemeindet, Stadtteil von St. Petersburg Zesarewitsch (auch Cäsarewitsch), seit Paul I. Titel des Großfürsten-Thronfolgers, entspricht den Titeln „Prince of Wales“ oder „Dauphin de France“; die Bezeichnung „Zarewitsch“ für den (kaiserlichen) Thronerben wird, nicht ganz korrekt, nur in der westlichen Literatur verwendet Zesarewna (auch Cäsarewna), seit Nikolaus I. Titel der Frau des Thron folgers-Zesarewitsch
Personenverzeichnis Adlerberg, Graf Alexander W. (1791–1870), General der Infanterie, Minister des Kaiserlichen Hofes/Hofminister (1852–1870) Aldanow, Mark A. (1886–1957), Schriftsteller, Autor historisch-philosophischer Romane, 1919 nach Frankreich emigriert Alfred, Prinz von Großbritannien und Irland, Duke of Edinburgh, Earl of Kent und Earl of Ulster, „Affie“ (1844–1900), zweitgeborener Sohn der Königin Victoria, Marineoffizier, Ehemann der Großfürstin Maria Alexandrowna, Schwiegersohn der Kaiserin Maria Alexandrowna, regierender Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha (1893) Anna Amalie (1737–1807), Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach, Regentin (1759–1775), Komponistin, Mäzenin Antonius von Padua (um 1188–1231), portugiesischer Theologe, Franziskaner und Prediger Andersen, Hans Christian (1825–1875), dänischer Schriftsteller, Märchenerzähler Arsenjew, Dmitrij S., Admiral (1832–1915), Erzieher der Großfürsten Sergej und Paul, Memoirenschriftsteller und Übersetzer Basarow (Bazarov), Ioann I. (1819–1895), Erzpriester, Beichtvater der Kronprinzessin Olga Nikolajewna (1851) Baschanow, Wassilij B. (1800–1883), Protopresbyter, Professor der Theologie, Hofprediger Nikolaus’ I., Religionslehrer Alexanders II. und seiner Geschwister sowie Maries von Hessen und bei Rhein und ihrer älteren Söhne, Autor mehrerer populärer religiöser Werke Battenberg, Prinz Alexander von, „Sandro“ (1857–1893), zweiter Sohn des Prinzen Alexander von Hessen und der Gräfin Julia von Battenberg, als Alexander I. erster gewählter Fürst von Bulgarien (1879–1886) Battenberg, Julie von, geb. Gräfin Hauke (1825–1895), Tochter des Grafen Moritz Hauke,Muter des Vorigen, Hofdame der Großfürstin Maria Alexandrowna, morganatische Frau Alexanders von Hessen (1851), Gräfin Battenberg (1851), Fürstin Battenberg (1858), Stammmutter des Hauses Battenberg/Mountbatten Benois (Benua), Alexander N. (1870–1960), Petersburger Franzose, Maler, Kunsthistoriker, Leiter der Gemäldegalerie der Ermitage, Bühnenbildner, Memoirenschriftsteller, emigrierte 1925, starb in Paris
302 P e r s o n e n v e r z e i c h n i s
Bismarck-Schönhausen, Fürst Otto von (1815–1898), preußisch-deutscher Staatsmann, preußischer Gesandter in St. Petersburg (1859), Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes (1867–1871), Reichskanzler des Deutschen Reiches (1871) Bludowa, Gräfin Antonina D. (1813–1891), Hofdame der Kaiserin Maria, Kammerfräulein (1863), Schriftstellerin, Philanthropin, Gründerin der orthodoxen Kyrill-und-Method-Bruderschaft (1865) Bosse, Harald Julius von (1812–1894), Deutschbalte, Architekt, Professor der Petersburger Akademie der Künste (1854), Hofarchitekt (1858), schuf die russische orthodoxe Kirche in Dresden Botkin, Sergej P. (1832–1889), Arzt, Professor der kaiserlichen Medizinischchirurgischen Akademie, Leibmedikus des Kaiserlichen Hofes (1870), Leibarzt der Kaiserin Maria Alexandrowna (1872) Boulle, André-Charles (1642–1732), französischer Kunsttischler, Lieferant Ludwigs XIV., berühmt für seine Verzierungstechnik Brjullow, Alexander P. (1798–1877), Architekt Brodsky, Joseph, russ.: Iosif A. Brodskij (1940–1996), russischer Schriftsteller, 1972 aus der UdSSR emigriert, Poet in residence in Ann Arbor, Literaturprofessor an mehreren US-Universitäten, Literaturnobelpreis träger (1987); in Venedig begraben Bülow, Bernhard von (1849–1929), deutscher Staatsmann, Diplomat, Botschaftsrat in St. Petersburg (1883), Staatssekretär des Äußeren (1897), Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident (1900–1909) Burci, Carlo (1813–1875), Prof. Dr., italienischer Arzt, Chirurg, Senator Cameron, Charles (1745–1812), schottischer Architekt, Neoklassizist, ging 1779 nach St. Petersburg, Hofarchitekt Katharinas II., baute vor allem in Zarskoje Selo und in Pawlowsk Cancrin, Graf Georg, russ.: Georg Franzewitsch Kankrin (1774–1845), aus Hessen stammender Finanzminister (1823–1845), reformierte das russische Finanzwesen Cavos, Alberto, russ.: Albert Katerinowitsch Kavos (1800–1863), russischer Architekt italienischer Herkunft, baute das Große Steintheater in St. Petersburg und das Bolschoj Theater in Moskau nach Bränden wieder auf Chalturin, Stepan N. (1857–1882), Tischler, Revolutionär, verübte am 5./17. Februar 1880 ein Bombenattentat im Winterpalast Custine, Marquis Astolphe de (1790–1857), französischer Schriftsteller, Autor des Bestsellers La Russie en 1839 Didelot, Charles-Louis (1767–1837), französischer Balletttänzer, Choreograph und Lehrer, seit 1801 in Russland tätig
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Dolgorukowa (Dolgoruki), Alexandra S. (1834–1913), Hofdame der Kaiserin Maria, Favoritin Alexanders II. (1853–1861), Ehefrau des Generals P.P. Albedinskij (1861), Staatsdame (1896) Dolgorukowa (Dolgorukaja, Dolgoruki), Katharina M., „Catiche“, „Katja“ (1847–1922), Geliebte Alexanders II. (1866), zweite (morganatische) Frau Alexanders II. (1880), verließ Russland 1881 Dunant, Henry (1828-1910), Schweizer Geschäftsmann, Gründer des IKRK, erster Friedensnobelpreisträger (1901) Egloffstein, Gräfin Julie von (1792–1868), Malerin und Zeichnerin, Bekannte Goethes Erbach-Schönberg, Fürstin Marie Karoline, geb. Prinzessin von Battenberg (1852–1923), älteste Tochter Alexanders von Hessen und Julies von Battenberg, Übersetzerin, Memoirenschriftstellerin Eugénie, geb. Eugenia de Montijo (1826–1920), Ehefrau Napoleons III., Kaiserin der Franzosen (1853–1870) Filaret, bürgerlich: Wassilij M. Drosdow (1782–1867), Metropolit von Moskau und Kolomna Frederiks, Baronin Maria P. (1832–1903 o.1905), Hofdame der Kaiserin Maria Alexandrowna Frey, Christian Conrad (1798–1870), Hauptmann (1829), Erzieher des Prinzen Alexander von Hessen und bei Rhein und der Prinzessin Marie von Hessen und bei Rhein (1829–1840), Major (1840), Oberst (1845), Generalmajor (1859), Ghz. Hess. Generallieutenant (1864), Träger des russischen Wladimir-Ordens IV. Klasse (1840) Friedrich Wilhelm III. (1770–1840), König von Preußen (1797), Sohn Friedrich Wilhelms II. und der Königin Friederike Friedrich Wilhem IV. (1795–1861), König von Preußen (1740) Friederike-Luise von Hessen-Darmstadt, „hessisches Lieschen“ (1751–1805), Mutter des Vorigen, Ehefrau Friedrich Wilhelms II. von Preußen, Königin von Preußen (1786) Gambs, Heinrich (1765–1831), Möbeltischler und Kunstschreiner aus BadenDurlach, ging um 1790 nach St. Petersburg, eröffnete dort 1795 ein Möbelgeschäft und wurde Hoflieferant Goltz, Graf Robert von der (1817–1869), preußischer Diplomat, Nachfolger Bismarcks als Gesandter am Petersburger Hof (1862/63) Gontaut-Biron, Comte Elie Anne Armand de (1817–1890), französischer Diplomat, Botschafter in Berlin (1871–1880) Gontscharow, Iwan A. (1812–1891), Schriftsteller, Russisch- und Literaturlehrer des Großfürsten-Thronfolgers Nikolaus Alexandrowitsch (1858)
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Gorbatschow, Michail S. (1931), Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, erster und letzter Präsident der UdSSR (1990–1991) Gortschakow, Fürst Alexander M. (1798–1883), Absolvent des AlexanderLyzeums in Zarskoje Selo, Diplomat, Außenminister (1856), Staatskanzler (1863), Architekt des Drei-Kaiser-Abkommens (1873) Grancy, Marianne de, s. Senarclens de Grancy, Marianne Grimm, Theodor August (1805–1878), kam 1827 nach Petersburg, Erzieher der jüngeren Söhne Nikolaus’ I., Erzieher der Kinder Alexanders II. (1858), Romanautor, Biograf der Kaiserin Alexandra Fjodorowna, kehrte nach deren Tod (1860) nach Deutschland zurück Hau, Eduard (1804–1888), Deutschbalte aus Estland, Maler und Graphiker, Mitglied der Petersburger Akademie der Künste, schuf Interieur-Ansichten (Aquarelle) der Petersburger Paläste Hauke, Graf Hans-Moritz (1875–1830), Stellvertretender Kriegsminister des Königreichs Polen (Kongresspolen), von Nikolaus I. in den Grafenstand erhoben, während des Novemberaufstands von Aufständischen erschossen Herzen, Alexander I. (1812–1870), regimekritischer Journalist, emigrierte 1847, Herausgeber der populären Zeitschrift Kolokol (Die Glocke) in London
Hessen-Darmstadt/Hessen-Kassel/Hessen und bei Rhein Alexander, „Alex“ (1823–1888), Prinz von Hessen und bei Rhein, Bruder der Kaiserin Maria Alexandrowna, seit 1840 in russischen Diensten, Rittmeister der Chevaliers gardes (1843), Generalmajor (1845), Generalmajor in österreichischen Diensten (1853), Kommandeur der Bundestruppen im Deutschen Krieg (1866) Emil (1790–1856), Prinz von Hessen und bei Rhein, Onkel der Kaiserin Maria Alexandrowna, Teilnehmer am Russland-Feldzug Napoleons 1812 Friedrich Wilhelm (1820–1884), Prinz von Hessen-Kassel, Landgraf von Hessen-Kassel zu Rumpenheim (1867), Verlobter der Großfürstin Alexandra Nikolajewna Heinrich (1838–1900), Prinz von Hessen und bei Rhein, preußischer General, Cousin der Kaiserin Maria Alexandrowna Karl (1809–1877), Vater des Vorigen, Prinz von Hessen und bei Rhein, zweiter Sohn Ludwigs II. von Hessen und bei Rhein, älterer Bruder der Kaiserin Maria Alexandrowna
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Karoline Henriette (1721–1774), Landgräfin von Hessen-Darmstadt, von Goethe die Große Landgräfin genannt Ludewig I. (1753–1830), bis 1806: Ludwig X., Landgraf von Hessen-Darmstadt, ab 1806: Großherzog von Hessen-Darmstadt, ab 1816: Großherzog von Hessen und bei Rhein, Großvater der Kaiserin Maria Alexandrowna Ludwig II. (1777–1848), Großherzog von Hessen und bei Rhein (1830), Sohn des Vorigen, Vater der Kaiserin Maria Alexandrowna Ludwig III. (1806–1877), Großherzog von Hessen und bei Rhein (1848), Sohn des Vorigen, Bruder der Kaiserin Maria Alexandrowna Ludwig VIII. (1691–1768), Landgraf von Hessen-Darmstadt, „Jagdlandgraf“ Ludwig IX. (1719–1790), Landgraf von Hessen-Darmstadt Ludwig X. (1753–1830), s. Ludewig I. Wilhelmine (1755–1776), Prinzessin von Hessen-Darmstadt, Tochter der Großen Landgräfin, Schwester des Vorigen, erste Frau des russischen Thronfolgers Paul Petrowitsch (Großfürstin Natalja Alexejewna) Wilhelmine, geb. Prinzessin von Baden (1788–1836 ), Großherzogin von Hessen und bei Rhein (1830), Mutter der Kaiserin Maria Alexandrowna * Home, Daniel Dunglas (1833–1886), schottischer Zauberkünstler, berühmtestes Medium des 19. Jahrhunderts, trat auch in St. Petersburg und auf dem Heiligenberg auf Iwan III., „der Große“ (1462–1505), Großfürst von Moskau, ließ sich als erster Moskauer Großfürst „Zar“ nennen Iwan IV., „der Schreckliche“ (1530–1584), Großfürst von Moskau, ließ sich 1547 zum Zaren krönen Jakowlewa, A. I., geb. Utermark (1824–??), Kammerjungfer der Großfürstin und Kaiserin Maria Alexandrowna, Memoirenschriftstellerin Kalinowska, Olga (1816–1899), polnische Adlige, Hofdame der Kaiserin Maria Alexandrowna, Geliebte des Thronfolgers Alexander Nikolajewitsch Karoline von Bayern, geb. Prinzessin von Baden (1776–1841), ältere Schwester der Großherzogin Wilhelmine, erste Königin von Bayern (1806) Kawelin, Konstantin D. (1818–1885) Jurist, Professor an der Petersburger Universität (1847), Historiker, Philosoph, Publizist, einer der Väter des frühen russischen Liberalismus, Lehrer des Großfürsten-Thronfolgers Nikolaus Alexandrowitsch (1857) Keyserling, Graf Alexander (1815–1891), Deutschbalte, Naturwissenschaftler, Forschungsreisender, Mitbegründer der russischen Geologie, Oberhofmeister, Ritterschaftshauptmann in Estland (1857–1861)
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Keyserling, Helene, verh. von Taube von der Issen (1845–??), Tochter des Vorigen, Autorin eines Lebensbildes ihres Vaters Kleinmichel, Gräfin Marie, geb. Keller (1846–1931), Hofdame der Kaiserin Maria Alexandrowna, Memoirenschriftstellerin Kohl, Johann Georg (1808–1878), deutscher Reiseschriftsteller, Stadtbibliothekar in Bremen (1863) Korf, Baron Modest A. (1800–1872), Alsolvent des Alexander-Lyzeums in Zarskoe Selo, Jurist, Historiker, Staatssekretär (1834), Mitglied des Staatsrates (1843), Direktor der Öffentlichen Bibliothek in St. Petersburg (1849–1861), Memoirenschriftsteller Leuchtenberg, Maximilian de Beauharnais, (3.) Herzog von (1817 –1852), Fürst Romanowskij (1851), Enkel der Kaiserin Joséphine, Ehemann der Großfürstin Maria Nikolajewna, Präsident der Kaiserlichen Akademie der Künste (1843), bedeutender Mineraloge Loris-Melikow, Graf Michail T. (1824–1888), armenischer Adliger, General der russischen Armee, Eroberer von Kars (1877), Innenminister (Aug. 1880), „Diktator“ (1881) Markelow, Iwan I. (1799–1872), Geheimrat, Diplomat, Botschaftssekretär in Frankfurt am Main Massenbach, Baronin Eveline von (1830–1904), Hofdame der Königin Olga von Württemberg, führte Tagebuch (1851 bis 1866) Melgunov, Nikolaj A. (1804–1867), Schriftsteller, Publizist, Übersetzer, Musikkritiker Merder (Mörder), Karl. K. (1788–1834), Generaladjutant, militärischer Erzieher des Zesarewitsch Alexander Nikolajewitsch Meglizkij, Gawriil T. (??–1841), Erzpriester, Gesandtschaftsgeistlicher in Frankfurt am Main Meschtscherskaja, Fürstin Maria E. (1844–1868), Hofdame der Kaiserin Maria Alexandrowna, erste große Liebe ihres Sohnes Alexander Meyendorff, Baron Peter von, russ.: Pjotr Kasimirowitsch Meiendorf (1796–1863), Deutschbalte aus Livland, russischer Diplomat, Botschafter in Berlin Miljutin, Dmitrij A. (1816–1912), General-Feldmarschall, Kriegsminister Alexanders II., Militärhistoriker, Militärreformer Moller, Georg (1784–1852), Architekt, Stadtplaner, Oberbaurat und Hofbaudirektor des Großherzogtums Hessen-Darmstadt (1810) Moltke, Helmuth Karl Bernhard von (1800–1891), Adjutant des Prinzen Friedrich-Wilhelm von Preußen (1856), Generalmajor (1857), General stabschef (1857), Graf (1870), Generalfeldmarschall (1871)
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Monighetti, Ippolit (1819–1878), russischer Architekt Schweizer Herkunft, baute den Palast in Livadia Mountbatten, Louis Alexander, geb. Ludwig Alexander von Battenberg (1854–1921), ältester Sohn Alexanders von Hessen und Julies von Battenberg, britischer Admiral hessischer Herkunft, Erster Seelord (1912– 1914), Großvater Philips, des Herzogs von Edinburgh Musowskij, Nikolaj W. (1772–1848), Beichtvater Nikolaus’ I. (1835) Naryschkina-Kurakina, Elisabeth (1838–1928), Staatsdame, Hofmarschallin, Memoirenschriftstellerin Neff, Carl Timoleon von, russ. Timofej Andrejewitsch Neff (1804–1876), Deutschbalte aus Estland, Hofmaler Nikolaus’ I. und Alexanders II., Professor der Akademie der Künste, Leiter der Gemäldegalerie der Ermitage, Lieblingsmaler der Kaiserin Maria Alexandrowna Nélaton, Auguste (1807–1873), Prof. Dr., französischer Arzt, Chirurg, Leibarzt Napoleons III. (1867) Nobiling, Eduard (1848–1878), Dr. phil., Sohn eines Domänenpächters aus Posen, verübte am 2. Juni 1878 ein Attentat auf Kaiser Wilhelm I. und verletzte ihn schwer Oldenburg, Peter G. (1812–1881), Sohn der Großfürstin Katharina Pawlowna und des Prinzen Georg von Oldenburg, erstes protestantisches Mitglied des Hauses Romanow Oppolzer, Ritter Johann von (1808–1871), österreichischer Arzt, Professor an der Wiener Universität Orlow (Orlov), Alexej F. (1786–1850), General der Infanterie, offizieller Begleiter des Thronfolgers Alexander Nikolajewitsch während seiner Europa-Reise, Diplomat, Leiter der Dritten Abteilung Seiner Kaiserlichen Majestät und Chef der Geheimpolizei (1845) Oubril, Peter von, russ. Pjotr Jakowlewitsch Ubri (1774–1848), russischer Diplomat französischer Herkunft, Gesandter beim Deutschen Bund in Frankfurt am Main (1835) Paléologue, Maurice (1859–1944), französischer Diplomat und Schriftsteller Patkul, Maria A. (1822–1899), Ehefrau des Generaladjutanten Alexander W. Patkul, eines Spielkameraden Alexanders II., stand der kaiserlichen Familie nahe Premazzi, Luigi, russ: Ljudwig Ossipowitsch Premazzi (1814–1891), russischer Aquarellist italienischer Herkunft, Mitglied der Kaiserlichen Akademie der Künste (1854), Professor (1861), malte die Interieurs der Kaiserin Maria im Winterpalast nach 1859 Rahden, Editha von (1823–1885), Deutschbaltin aus Kurland, Hofdame der Großfürstin Jelena Pawlowna und der Kaiserinnen Maria Alexandrowna
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und Maria Fjodorowna, Helferin und Mitarbeiterin bei mehreren Wohl tätigkeits- und Bildungsprojekten der drei Genannten Rastrelli, Bartolomeo Francesco (1700–1771), italienischer Architekt in russischen Diensten, Hofarchitekt, Erbauer des Winterpalastes, des Katharinenpalastes in Zarskoje Selo, des Großen Palastes in Peterhof u. a. Rayer, Pierre François (1793–1867), Prof. Dr., französischer Arzt, Dermatologe, Leibarzt Napoleons III. (1752) Redern, Heinrich Alexander Graf von (1804–1888), aus havelländischem Adel, preußischer Diplomat, Gesandter in Darmstadt, Turin, Dresden und St. Petersburg (1862–1867) Reiset, Comte Gustave Armand Henri de (1832–1905), französischer Diplomat, Botschaftssekretär in St. Petersburg (1852), Memoirenschriftsteller Reuß zu Köstritz, Prinz Heinrich VII. (1825–1906), Gesandter des Norddeutschen Bundes in St. Petersburg (1868), erster Botschafter des deutschen Kaiserreichs in St. Petersburg (1871), Vertrauter Bismarcks Reutern, Elisabeth von (1821–1858), Tochter des Malers Gerhardt Wilhelm von Reutern (1794–1865), Ehefrau Wassilij A. Schukowskijs Reutern, Gerhardt Wilhelm von (1794–1865), Vater der Vorigen, deutscher Maler, Schwiegervater Schukowskijs Rinaldi, Antonio (1710–1794), italienischer Architekt, Hofarchitekt Peters III., arbeitete auch für Katharina II., baute den Palast in Gattschina und den Marmorpalast an der Newa in St. Petersburg Rjurik (um 830–um 879), legendärer Warägerfürst, soll von 862–879 über Nowgorod geherrscht haben. Die nach ihm benannte Dynastie der Rjurikiden herrschte bis zum Ende des 16. Jahrhunderts in Russland Robertson, Christina (1796–1854), schottische Malerin, als Porträtmalerin am Petersburger Hof erfolgreich
Romanow-Holstein-Gottorp Alexander III. Alexandrowitsch, „Saschka“, „kleine Bulldogge“ (1845– 1894), zweiter Sohn und Nachfolger Alexanders II., Kaiser von Russland (1881), „Zar-Friedenstifter“ Alexander Michajlowitsch, „Sandro“ (1866–1933), Enkel Nikolaus’ I., Konteradmiral, Gründer der Kaiserlich-russischen Luftwaffe, Memoirenschriftsteller Alexander II. Nikolajewitsch, „Sascha“ (1818–1881), Sohn Nikolaus’ I., Kaiser von Russland (1855–1881), „Zar-Befreier“
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Alexander I. Pawlowitsch (1777–1825), Kaiser von Russland (1801), „Befreier Europas“, verheiratet mit Luise von Baden (Elisabeth Alexejewna), der Schwester Wilhelmines von Baden, Onkel Alexanders II. Alexandra Alexandrowna, „Lina“ (1842–1849), Großfürstin von Russland, älteste Tochter, starb an Meningitis Alexandra Fjodorowna, geb. Prinzessin Charlotte von Preußen, „Muffi“, (1798–1860), Kaiserin von Russland (1825), Ehefrau Nikolaus’ I., Mutter Alexanders II., Kaiserinmutter (1855) Alexandra Josephowna (Josifowna), geb. Prinzessin Alexandra von Sachsen-Altenburg, „Sunny“ (1830–1910), Großfürstin von Russland, Ehefrau des Großfürsten Konstantin Nikolajewitsch, Schwägerin und Freundin der Kaiserin Maria Alexandrowna Alexandra Nikolajewna, „Adini“ (1825–1844), Großfürstin von Russland, jüngste Tochter Nikolaus’ I., Ehefrau des Prinzen Friedrich-Wilhelm von Hessen-Kassel-Rumpenheim Alexej Alexandrowitsch (1850–1908), Großfürst von Russland, vierter Sohn Alexanders II., General-Admiral der Russischen Flotte, Weltreisender, Amerika-Besucher Anna Pawlowna (1795–1865), jüngste Tochter Pauls I., Großfürstin von Russland, Königin der Niederlande (1840–1849) Charlotte Christine, geb. Prinzessin von Braunschweig-Wolfenbüttel (1694– 1715), Zarewna von Russland, Ehefrau des Zarewitsch Alexej Petrowitsch, Schwiegertochter Peters des Großen Elisabeth Alexejewna, geb. Prinzessin Luise von Baden (1779–1826), Schwester Wilhelmines von Baden, Kaiserin von Russland (1801), Ehefrau Alexanders I., Tante der Kaiserin Maria Alexandrowna Elisabeth Fjodorowna, geb. Prinzessin Elisabeth von Hessen und bei Rhein, „Ella“ (1864–1918), Großfürstin von Russland (1884), Ehefrau des Großfürsten Sergej Alexandrowitsch, Präsidentin der Kaiserlichen Orthodoxen Palästina-Gesellschaft (1905), Gründerin und Äbtissin des Martha-Maria-Klosters der Barmherzigkeit in Moskau Elisabeth Petrowna (1709–1762), jüngere Tochter Peters des Großen, Kaiserin von Russland (1740–1762), Tante Karl Peter Ulrichs von SchleswigHolstein-Gottorf, den sie zum Thronfolger ernannte (s. Peter III.) Jelena (Helene) Pawlowna, geb. Prinzessin Friederike Charlotte von Württemberg (1807–1873), Großfürstin von Russland, Ehefrau des Großfürsten Michael Pawlowitsch, Tante Alexanders II. Katharina I. Alexejewna, geb. Martha Skawronska (1684–1727), lettischlitauische Magd, zweite Frau Peters I., Zarin (1712), Kaiserin von Russ-
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land (1721), erste Kaiserin und Selbstherrscherin (1725), Namensgeberin des Großen Palastes in Zarskoje Selo Katharina II. Alexejewna, „die Große“, geb. Prinzessin Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst (1729–1796), Ehefrau Peters III., Kaiserin und Selbstherrscherin von Russland (1762) Konstantin Nikolajewitsch, „Kosty“ (1827–1892), zweiter Sohn Nikolaus’ I., jüngerer Bruder Alexanders II., Großfürst von Russland, General-Admiral der Russischen Flotte („Marineminister“) Konstantin Konstantinowitsch, „K.R.“ (1857–1915), Sohn des Vorigen, Großfürst von Russland, Pianist, Dichter, Übersetzer, Schauspieler Maria Alexandrowna, „Mascha“, geb. Prinzessin Marie von Hessen und bei Rhein (1824–1880), Ehefrau Alexanders II., Kaiserin von Russland (1855) Maria Alexandrowna, „Ente“ (1853–1920), Tochter der Vorigen, Großfürstin von Russland, Herzogin von Edinburgh (1874), Herzogin von SachsenCoburg und Gotha (1893) Maria Fjodorowna, geb. Prinzessin Sophie Dorothea von Württemberg (1759–1828), Ehefrau Pauls I., Großmutter Alexanders II., Kaiserin von Russland (1796), Kaiserinmutter (1801), Gründerin zahlreicher Bildungs- und Wohltätigkeitseinrichtungen (Ressort der Einrichtungen der Kaiserin Maria), Künstlerin, Mitglied der Preußischen Akademie der Künste Maria Fjodorowna, geb. Prinzessin Dagmar von Dänemark, „Minnie“ (1847–1928), Schwiegertochter der Kaiserin Maria Alexandrowna, Kaiserin von Russland (1881), Kaiserinmutter (1894), Mutter Nikolaus’ II. Maria Nikolajewna (1819–1876), Großfürstin von Russland, älteste Tochter Nikolaus’ I., Herzogin von Leuchtenberg (1839), Gräfin Stroganowa (1856, morganatisch), Präsidentin der Kaiserlichen Akademie der Künste (1853) Maria Pawlowna (1786–1859), älteste Tochter Pauls I., Großfürstin von Russland, Großherzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach (1828–1853) Maria Pawlowna die Ältere, geb. Prinzessin Marie zu MecklenburgSchwerin, „Miechen“ (1854–1920), Großfürstin von Russland, Ehefrau des Großfürsten Wladimir Alexandrowitsch Michael Fjodorowitsch (1596–1645), Bojarensohn, erster gewählter Zar von Russland (1613), Stammvater der Romanow-Dynastie Michael Pawlowitsch (1798–1849), Großfürst von Russland, jüngerer Bruder Nikolaus’ I., Ehemann der Großfürstin Jelena Pawlowna, Onkel Ale xanders II. Nikolaus Alexandrowitsch, „Nixa“ (1843–1865), ältester Sohn Alexan ders II., Großfürst-Thronfolger von Russland (1855)
P e r s o n e n v e r z e i c h n i s 311
Nikolaus II. Alexandrowitsch, „Niki“ (1868–1918), Neffe des Vorigen, Enkel Alexanders II., Kaiser von Russland (1894), im Juli 1918 in Jekaterinburg ermordet Nikolaus I. Pawlowitsch (1796–1855), Kaiser von Russland (1825), Vater Alexanders II., Schwiegervater der Kaiserin Maria Alexandrowna Olga Fjodorowna, geb. Prinzessin Cäcilie von Baden (1839–1891), Großfürstin von Russland, Ehefrau des Großfürsten Michael Nikolajewitsch Olga Nikolajewna, „Olly“ (1822–1892), Großfürstin von Russland, zweite Tochter Nikolaus’ I., jüngere Schwester Alexanders II., Kronprinzessin von Württemberg (1846), Königin von Württemberg (1864) Paul Alexandrowitsch, „Pitz“ (1860–1919), Großfürst von Russland, jüngster Sohn Alexanders II., General der Kavallerie, im Januar 1919 in der Peter- und- Paul-Festung von den Bolschewiki erschossen Paul I. Petrowitsch (1754–1801), Sohn Peters III. und Katharinas II., Kaiser von Russland (1896), im März 1801 ermordet Peter I. Alexejewitsch, „der Große“ (1672–1725), Zar (1682), erster Kaiser von Russland (1721) Peter III., geb. Herzog Karl Peter Ulrich von Schleswig-Holstein-Gottorf (1729–1762), Enkel Peters des Großen, Kaiser von Russland (1762) Sergej Alexandrowitsch (1857–1905), Großfürst von Russland, fünfter Sohn Alexanders II., Präsident der Kaiserlichen Orthodoxen Palästina-Gesellschaft (1881), Generalgouverneur von Moskau (1891), fiel 1905 einem Bombenattentat zum Opfer Wladimir Alexandrowitsch, „Dicker“ (1847–1909), dritter Sohn Alexan ders II., Gourmet, Kunstliebhaber, Präsident der Akademie der Künste (1876), sammelte Rezepte und Gemälde * Rubinstein, Anton G. (1829–1894), Pianist, Komponist, Dirigent, Mitgründer des Petersburger Konservatoriums Ruisdael, Jacob van (1628/29–1682), niederländischer Landschaftsmaler, dessen Gemälde Der Sumpf zwischen 1763 und 1774 in die Ermitage gelangte Sabinina, Marfa S., deutsch: Martha von Sabinin (1831–1892), Pianistin, Komponistin, Musiklehrerin der jüngeren Kinder Alexanders II., „russische Florence Nightingale“, initiierte mit Hilfe der Kaiserin die Gründung der Russischen Rotkreuzgesellschaft
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Saltykow, Sergej W. (1726–1765?), Kammerherr, Diplomat, Geliebter der Großfürstin Katharina Alexejewna, der späteren Kaiserin Katharina II., vermutlicher Vater ihres Sohnes Paul Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Fürst August zu (1788–1874), Teilnehmer an Napoleons Russland-Feldzug, Kommandeur der hessischen Chevauxlegers (1814), Diplomat, führte 1839/40 die hessisch-russischen Eheverhandlungen Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Fürst Emil zu (1824–1878), Sohn des Vorigen, Patensohn Emils von Hessen und bei Rhein; nahm 1840 als dessen Adjutant an der Hochzeit der Prinzessin Marie teil, ab 1849 in russischen Diensten, Aide de camp Alexanders II., Memoirenschriftsteller Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Fürst Ludwig Adolph Peter zu, russ.: Pjotr Christianowitsch Wittgenschtejn (1789–1843), russischer Feldmarschall deutscher Herkunft Scanzoni, Friedrich Wilhelm von (1821–1891), Gynäkologe, Professor an der Universität Würzburg (1850–1888) Scheremetjew (Šeremetev), Fürst Dmitrij S. (1844–1918), Historiker, Mitglied des Staatsrats, Freund Alexanders III., Memoirenschriftsteller Schiavone, Natale (1877–1858), italienischer Maler und Grafiker Schlözer, Kurd von (1822 –1894), Diplomat, Historiker, Schriftsteller, Enkel des in Russland bekannten und geschätzten Historikers, Staatsrechtlers und Statistikers Ludwig August von Schlözer (1735–1809), Zweiter Legationssekretär an der preußischen Gesandtschaft in St. Petersburg (1857– 1862) Schukowskaja, Alexandra W. (1842–1912), Tochter des Dichters Wassilij A. Schukowskij, Hofdame der Kaiserin Maria, morganatische Frau ihres Sohnes Alexej, Mutter seines Sohnes Alexej Alexejewitsch (Graf Beljowskij-Schukowskij), nach der Annullierung der Ehe Baronin Seggiano, Baronin von Wöhrmann (1875) Schukowskij (Žukovskij), Wassilij A. (1783–1852), Vater der Vorigen, Dichter, Übersetzer, Russischlehrer der Prinzessin Charlotte von Preußen, Erzieher Alexanders II., Russischlehrer der Prinzessin Marie von Hessen und bei Rhein Schuwalow, Graf Peter A. (1827–1889), Generaladjutant, General der Kavallerie, Chef der Dritten Abteilung (1866–1874), Botschafter in England Schweinitz, Hanns Lothar von (1822–1901), preußischer Militärbevollmächtigter am russischen Hof, Botschafter des Deutschen Reiches in St. Petersburg (1875), Memoirenschriftsteller
P e r s o n e n v e r z e i c h n i s 313
Sdekauer, Nikolaus Theodor, Prof. Dr., russ. Nikolaj Fjodorowitsch Sdekauer (1815–1897), Professor an der Medizinisch-Chirurgischen Akademie, Leibarzt des kaiserlichen Hofes Senarclens de Grancy, August-Ludwig von (1794–1871), Stallmeister der Großherzogin Wilhelmine, Vater ihrer Kinder Elisabeth, Alexander und Marie, Oberstallmeister (1842) Senarclens de Grancy, Marianne von (1818?–1864), Schwester des Vorigen, Hofdame Wilhelmines von Hessen und bei Rhein, Gouvernante der Prinzessin Marie, Hofdame der Großfürstin und Kaiserin Maria Alexan drowna Serafim, bürgerlich: Stefan W. Glagolewskij (1763–1843), Metropolit von St. Petersburg und Nowgorod Sinowjew, Nikolaj W. (1801–1882), Infanteriegeneral, Generaladjutant, Direktor des Pagenkorps (1846–1849), Erzieher der Großfürsten Nikolaus, Alexander und Wladimir (1849–1861) Solowjow, Alexander K. (1846–1879), Geschichts- und Erdkundelehrer, Revolutionär, Mitglied der Gruppe Volkswille, schoss am 2./14. April 1879 auf Alexander II. Spontini, Gaspare (1774–1851), italienischer Komponist und Dirigent, Generalmusikdirektor und 1. Kapellmeister an der Königlichen Oper Berlin (1820), La vestale (1807) ist sein bekanntestes Werk Stanley, Arthur P. (1815–1881), Dean of Westminster Abbey, vollzog 1874 in St. Petersburg die anglikanische Trauung der Großfürstin Maria Alexan drowna mit Alfred Duke of Edinburgh Stanley, Lady Augusta (1822–1876), Ehefrau des Vorigen, Hofdame der Königin Victoria Suworin, Alexej S. (1834–1912), Journalist, Schriftsteller, Theaterkritiker, Herausgeber der Zeitschrift Nowoje wremja Talleyrand-Périgord, Baron Charles-Angélique de (1821–1896), französischer Diplomat, Botschafter in St. Petersburg (1864–1869) Tatischtschew (Tatišcˇev), Sergej S. (1846–1906), Absolvent des AlexanderLyzeums in Zarskoje Selo, Diplomat, Historiker, offiziöser Biograph Alexanders II. Taube von der Issen, Freifrau Helene von (1845–?), Tochter des Grafen Alexander Keyserling, Herausgeberin seiner Briefe und Tagebücher Titow, Wladimir P. (1807–1891), Diplomat, Schriftsteller, Mitglied des Staatsrats, Erzieher der Großfürsten Nikolaus, Alexander und Wladimir Alexandrowitsch Tjuttschew (Tjutcˇev), Fjodor I. (1803–1873), Dichter, Übersetzer und Diplomat, bekannt vor allem durch seine Vierzeiler
314 P e r s o n e n v e r z e i c h n i s
Tjuttschewa (Tjutcˇeva), Anna F. (1829–1889), Tochter des Vorigen, Hofdame der Zesarewna und Kaiserin Maria Alexandrowna (1853), Erzieherin der Großfürstin Maria Alexandrowna (1858) und der Großfürsten Sergej und Paul, Memoirenschriftstellerin Tolstaja (Tolstoj), Gräfin Alexandra A., „Alexandrine“ (1817–1904), Hofdame der Großfürstin Maria Nikolajewna und der Kaiserin Maria Alexandrowna (1866), Erzieherin ihrer jüngeren Kinder, Memoirenschriftstellerin Tolstoj, Graf Alexej K. (1817–1875), Schriftsteller, Dramaturg, Kammerjunker, Zeremonienmeister, Generaladjutant Alexanders II. (1856) Tolstoj, Graf Leo N. (1828–1910), Schriftsteller ˇ icˇerin), Boris N. (1828–1904), Jurist, Philosoph, Professor Tschitscherin (C an der Moskauer Universität, Lehrer des Großfürsten-Thronfolgers Nikolaus Alexandrowitsch, einer der Begründer des russischen Liberalismus Tutschkowa, Maria M., geb. Naryschkina (1781–1852), Gründerin und Äbtissin („Mutter Maria“) des Erlöserklosters in Borodino, Briefpartnerin der Kaiserin Maria Alexandrowna Tschaikowskij, Peter I. (1840–1893), russischer Komponist Uchtomskij, Konstantin A. (1818–1879), Architekt, Maler, schuf Ansichten der Neuen Ermitage und des Winterpalastes Uschinskij, Konstantin D. (1823–1871), Reformpädagoge, Begründer der wissenschaftlichen Pädagogik in Russland, Inspektor des Smolnyj Instituts Victoria, eigentlich „Alexandrina Victoria“ (1819–1901), Königin von Großbritannien und Irland, Empress of India (1877), erhielt ihren ersten Vornamen zu Ehren Alexanders I. von Russland, ihres Taufpaten Viktoria, „Vicky“ (1840–1901), Tochter der Vorigen, Prinzessin von Großbritannien und Irland, Königin von Preußen und Deutsche Kaiserin (1888), Ehefrau Friedrichs III., daher „Kaiserin Friedrich“ Vitali, Iwan Petrowitsch (1794–1855), russischer Bildhauer italienischer Herkunft Waagen, Gustav Friedrich (1794–1868), Direktor der Bildergalerie des Alten Museums in Berlin (1830–1868), erster Professor der Kunstgeschichte der Berliner Universität (1864) Walujew (Valuev), Petr A. (1815–1890), Innenminister (1861–1868), Minister des Staatsvermögens (1872), Vorsitzender des Ministerkomitees (1879–1881) Wielopolski, Marquis Alexander (1803–1877), polnischer Adliger, Verfechter einer „organischen Politik“ und einer Politik des Ausgleichs mit Russland
P e r s o n e n v e r z e i c h n i s 315
Wilhelm I., „Onkel Willy“ (1797–1888), Prinzregent (1858), König von Preußen (1861), Deutscher Kaiser (1871), Onkel Alexanders II. Willewalde, Gottfried, russ.: Bogdan P. Willewalde (1818–1903), russischer Schlachten- und Zeremonienmaler deutscher Herkunft Winterhalter, Franz Xaver (1805–1873), Porträtmaler, „Fürstenmaler“, schuf Porträts der Kaiserinnen Alexandra Fjodorowna und Maria Alexandrowna Wjasemskij (Vjazemskij), Fürst Peter A. (1792–1878), Dichter, Literaturkritiker, entwickelte sich vom Liberalen zum Konservativen, gehörte zum Kreis der Kaiserin Maria Alexandrowna Wyschnegradskij, Nikolaj A. (1821–1872), Pädagoge, Herausgeber des Russischen Pädagogischen Journals (1857) Zichy, Mihály, russ.: Michail A. Zicˇi (1827–1906), ungarischer Aquarellist, Hofmaler in St. Petersburg (1859) Zimmermann, Karl (1803–1877), evangelischer Theologe, großherzoglicher Hofprediger in Darmstadt, Autor
Zeittafel 1818
Geburt Alexanders II. in Moskau (17./29. April)
1819
Geburt der Großfürstin Maria Nikolajewna (6./18. Aug.)
1822
Geburt der Großfürstin Olga Nikolajewna (30. Aug./11. Sept.)
1823
Geburt Alexanders von Hessen und bei Rhein (15. Juli)
1824
Geburt Maries von Hessen und bei Rhein (8. Aug.) Taufe Maries (26. August)
1825
Geburt der Großfürstin Alexandra Nikolajewna (12./24. Juni) Tod Alexanders I. in Taganrog (19. Nov./1. Dez.) Dekabristenaufstand in St. Petersburg (14./26. Dezember) Nikolaus I. tritt die Nachfolge seines Bruders an
1826 1827
Tod der kleinen Elisabeth von Hessen und bei Rhein (27. Mai) Tod Elisabeths von Russland, geb. Luise von Baden (4./16. Mai) Tod Friederikes von Schweden, geb. von Baden (25. Sept.) Geburt des Großfürsten Konstantin Nikolajewitsch (9./21. Sept.) Kauf des Heiligenbergs durch Erbgroßherzogin Wilhelmine, Nutzung als Sommersitz, Beginn des Ausbaus
1828
Tod der Kaiserin Maria Fjodorowna (24. Okt./5.Nov.), Gründerin des nach ihr benannten „Ressorts der Einrichtungen der Kaiserin Maria“ (WUIM), das bis 1917 bestand
1836
Tod Wilhelmines von Hessen und bei Rhein (27. Jan.) Alexander und Marie erben den Heiligenberg
1839
Besuch des Großfürsten-Thronfolgers Alexander Nikolajewitsch in Darmstadt (März)
Z e i t ta f e l 317
1840 1840
Zweite Reise Alexanders nach Darmstadt, Verlobung Maries und Alexanders in Darmstadt (4./16. April 1840) Tod Friedrich Wilhelms III. in Berlin (7. Juni)
Reise Maries nach St. Petersburg über Dresden, Leipzig, Kalisz, Warschau, Kaunas, Riga (Sept.) Übertritt zur russischen orthodoxen Kirche (5./17. Dez.) Nikolaus I. erhebt Marie von Hessen und bei Rhein zur Großfürstin Maria Alexandrowna von Russland Orthodoxe Verlobung (6./18. Dez.)
1841
Trauung im Winterpalast (16./28. April)
1842
Geburt Alexandras (Lina) (18./30. Aug.)
1843
Geburt Nikolaus’ (Nixa) (8./20. Sept.)
1844
Tod der Großfürstin Alexandra Nikolajewna („Adini“) (29. Juli/10. Aug.)
1848
Revolutionen in Europa
1849
Nikolaus I. schlägt den ungarischen Aufstand gegen die Habsburgerherrschaft nieder
1849
Tod Linas (16./28. Juni)
1850
Geburt Alexejs (2./14. Jan.)
1851
Eröffnung der Eisenbahnlinie St. Petersburg–Moskau (Sept./Nov.)
1851
Alexander von Hessen und Julia Gräfin Hauke verlassen Russland (Okt.)
1853
Geburt Marias („Ente“), (5./17. Okt.) Dienstantritt Anna Tjuttschewas (Jan.)
1853
Beginn des Krimkrieges (Okt.)
1854
Kriegseintritt Englands und Frankreichs (März) Beginn der Belagerung Sewastopols (Okt.)
1855
Tod Nikolaus’ I. (18. Febr./2. März)
318 Z e i t ta f e l
Herrschaftsantritt Alexanders II. „Tauwetter“ (Fjodor I. Tjuttschew) Englische Flotte erneut vor Kronstadt (Mai) Sewastopoler Erzählungen Tolstojs
1856
Pariser Friede (8./20. März) Erstes Konzert der Strauss-Kapelle in Pawlowsk (18. Mai) Krönung in Moskau (26. Aug./7. Sept.)
1857
Geburt Sergejs (29. April/11. Mai) Kur in Kissingen/Brückenau (Juni, Juli) Franz Xaver Winterhalter malt die Kaiserin (Juli)
1859
Ankunft Bismarcks in St. Petersburg (29. März) Volljährigkeit des Thronfolgers (8./20. Sept.)
1859
Besuch Alexanders II. auf dem Gut der Dolgorukows (Sept.)
1860
Sturz Nixas vom Pferd, Rückenverletzung Geburt Pauls (21. Sept./3. Okt.) Tod der Kaiserinmutter Alexandra Fjodorowna (20. Okt./1. Nov.)
1861
Manifest Aufhebung der Leibeigenschaft (19. Febr./3. März)
1861
Entstehung der ersten revolutionären Geheimorganisation Land und Freiheit
1862
Glasnost-Diskussion in der russischen Publizistik Tausendjahrfeier Russlands in Nowgorod (Sept.)
1863/64 Polnischer Aufstand 1864
Affäre Alexanders mit Maria E. Meschtscherskaja (April) Verlobung Nixas mit Dagmar von Dänemark (Sept.)
1865
Tod des Thronfolgers in Nizza (12./24. April 1865) Alexander II. erklärt seinen zweiten Sohn Alexander zum neuen Thronfolger
Z e i t ta f e l 319
1866
Erstes Attentat auf Alexander II. (4./16. April)
1866
Silberhochzeit (16./28. April) Beginn der Liaison mit Katharina M. Dolgorukowa (Juli)
1867
Pariser Weltausstellung, zweites Attentat auf Alexander II. (Juni)
1872
Geburt Georgijs, des ersten Kindes der Dolgorukowa
1873
Wilhelm I. in St. Petersburg (April)
1873
Geburt Olgas, des zweiten Kindes der Dolgorukowa
1874
Heirat der Tochter Maria mit Alfred, Duke of Edinburgh (11./23. Jan.)
1875
Aufstände in Bosnien und Herzegowina gegen die osmanische Herrschaft
1876
Aufstand in Bulgarien (April)
1876
Serbisch-türkischer Krieg (Juni) Peter Tschaikowskij komponiert den Serbisch-Russischen Marsch (Slawischer Marsch; Sept./Okt.) Wiederentstehung der Organisation Land und Freiheit
1876
Botschafterkonferenz von Konstantinopel (Dez./Jan.)
1877
Russische Kriegserklärung an das Osmanische Reich (24. April)
1877
Alexander II. geht an die Front, nimmt an der Belagerung Plewnas teil (Juli-Dez.)
1878
Vorfriede von San Stefano (3. März) Berliner Kongress (Juni/Juli)
1879
Auflösung der Organisation Land und Freiheit, Entstehung der Gruppen Volkswille und Schwarze Umverteilung
1879
Exekutivkomitee des Volkswillens verurteilt Alexander II. zum Tode (Sept.)
320 Z e i t ta f e l
1879
Letzte Reise Marias an die Côte-d’Azur (Nov.)
1880
Rückkehr nach St. Petersburg (4./16. Febr.) Bombenanschlag im Winterpalast (5./17. Febr.) Ernennung des Grafen Loris-Melikow zum „Diktator“ Besuch der Herzogin von Edinburgh in St. Petersburg Tod der Kaiserin Maria Alexandrowna (22. Mai/3. Juni) Beisetzung der Toten in der Peter-und-Paul-Kathedrale (28. Mai/9. Juni) Morganatische Eheschließung Alexanders mit Fürstin Katharina Dolgorukowa; sie erhält den Titel Fürstin Jurjewskaja (6./18. Juli)
1881
Tödliches Attentat auf Alexander II. am Katharinenkanal (1./13. März)
1922
Tod der Fürstin Jurjewskaja in Nizza, Beisetzung auf dem dortigen russischen Friedhof
Informationen zum Buch Mit Marie von Hessen und bei Rhein (1824–1880), Zeitgenossin Queen Victorias und Napoleons III., Heinrich Schliemanns und Bismarcks, Tolstojs und Dostojewskijs, heiratet 1841 eine schüchterne und verschlossene Prinzessin an den russischen Hof. Aufgewachsen in Darmstadt, zieht sie keinen Geringeren als den späteren Kaiser Alexander II. in den »Bann ihres jugendlichen Zaubers«. Ihre Ehe wird 40 Jahre halten, doch was mit einer Liebesheirat beginnt, sollte in Gleichgültigkeit und Entfremdung enden. Alexander übernimmt das Reich in einer schweren Krisenzeit. Maria steht ihm als Beraterin zur Seite. Doch die infolge der Niederlage im Krimkrieg von Alexander II. eingeleiteten Reformen bleiben unvollkommen, seit Mitte der 1860er Jahre erschüttern Terroranschläge das Land. Maria Alexandrowna war keine kämpferische Natur, aber eine tapfere Frau, die sich mit aller Kraft bemühte, ihre Pflichten zu erfüllen und Haltung zu bewahren. Entlang der Lebensgeschichte der Hessin führt Marianna Butenschön uns tief hinein in eine innen- und außenpolitisch bewegte Zeit, in der für die Zukunft Russlands entscheidende Weichen gestellt warden
Informationen zur Autorin Marianna Butenschön ist promovierte Historikerin, Journalistin und Autorin zahlreicher Publikationen über Russland und das Baltikum. Sie schrieb u.a. für den SPIEGEL und die ZEIT. Für ihr Buch »Ein Zaubertempel für die Musen. Die Ermitage in St. Petersburg« erhielt sie 2009 den Anziferow-Preis der Lichatschow-Stiftung, St. Petersburg. Mit der »Hessin auf dem Zarenthron« vollendet die Autorin ihre Trilogie über russische Kaiserinnen deutscher Herkunft. Marianna Butenschön lebt in Hamburg.