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German Pages 455 Year 2004
Schriften zum Europäischen Recht Band 102
Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als Gemeinschaftsgrundrechte
Von Jochen Gebauer
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
JOCHEN GEBAUER
Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als Gemeinschaftsgrundrechte
Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von
Siegfried Magiera und Detlef Merten
Band 102
Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als Gemeinschaftsgrundrechte
Von Jochen Gebauer
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Universität Bielefeld hat diese Arbeit im Jahre 2002/2003 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
D 361 Alle Rechte vorbehalten # 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-11273-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die Arbeit wurde im Wintersemester 2002/2003 von der Juristischen Fakultät der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur konnten bis Juni 2003 berücksichtigt werden. Danken möchte ich an erster Stelle Herrn Prof. Dr. Armin Hatje von der Universität Bielefeld, der die Arbeit mit Engagement und Offenheit betreut hat, und Frau Prof. Dr. Ulrike Davy für das Zweitvotum und für ein echtes Streitgespräch im besten Sinne bei der Verteidigung der Thesen. Herr Professor Joseph Weiler und Herr Prof. Dr. Léonce Bekemans vom Europakolleg in Brügge haben in einem frühen Stadium der Arbeit durch Gespräche und Kritik dazu beigetragen, dass die Arbeit so geworden ist, wie sie ist. Herrn Prof. Dr. Siegfried Magiera und Herrn Prof. Dr. Dr. Detlef Merten von der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer danke ich für die Aufnahme des Buches in die Reihe der „Schriften zum Europäischen Recht“ des Verlags Duncker & Humblot. Die Studienstiftung des deutschen Volkes hat das Entstehen der Arbeit mit einem großzügigen Stipendium ermöglicht und gefördert. Dafür sei herzlich gedankt. Nicht zuletzt möchte ich meinen Eltern und Geschwistern und meinen Freunden für die Unterstützung danken, allen voran den vier tapferen Lektoren Herrn Ulf Gerder, Herrn Dr. Lars Gerke, meinem Vater und natürlich ganz besonders meiner Frau Katharina. Hamburg, Juni 2003
Jochen Gebauer
Inhaltsübersicht 25
Einleitung
A. Sind Grundfreiheiten Grundrechte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 B. Praktische Auswirkungen der Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 C. Das Konzept der vorliegenden Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Ansicht von Rechtsprechung und Literatur zu der Frage des Verhältnisses von Grundfreiheiten und Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29 29 30 30
Erster Teil 32
Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht A. Der Begriff des „subjektiv-öffentlichen Rechts“ im Gemeinschaftsrecht . . . . I. Der Begriff des subjektiven Rechts in vertikalen und horizontalen Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Subjektivierung von Rechten durch die Lehre von der unmittelbaren Wirkung im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung: Der Begriff des subjektiv-öffentlichen Rechts im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32 33 38 52
B. Subjektive Rechte aus dem EG-Vertrag, insbesondere die Grundfreiheiten . . 53 I. Die Grundfreiheiten als subjektive Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 II. Die Normstruktur der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 C. Subjektive Rechte außerhalb des Vertrags: Die Gemeinschaftsgrundrechte I. Die Gemeinschaftsgrundrechte als ungeschriebene Rechte . . . . . . . . . . II. Die Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung: Gemeinschaftsgrundrechte als subjektive Rechte .
. . . .
D. Die vertraglichen Gleichheitssätze als subjektive Rechte (Art. 12 und 141 EGV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Strukturelle Besonderheiten der gleichheitsrechtlichen Normen . . . . . . . II. Das Verbot der Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit (Art. 12 EGV) als subjektives Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Grundsatz der Lohngleichheit (Art. 141 Abs. 1 EGV) als subjektives Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
158 159 162 178 179 182 188 196
8
Inhaltsübersicht
E. Art. 18 Abs. 1 EGV als subjektives Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einordnung des Art. 18 Abs. 1 EGV als subjektives Recht . . . . . . . . . . . II. Einordnung des Art. 18 Abs. 1 EGV als Grundrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Verhältnis des Art. 18 Abs. 1 EGV zu den Grundfreiheiten . . . . . . IV. Zusammenfassung: Art. 18 Abs. 1 EGV als subjektives Recht des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
209 210 212 216
F. Weitere subjektive Rechte des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Zollvorschriften der Art. 25 ff. EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Wettbewerbsvorschriften der Art. 81 bis 89 EGV . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Haftungsregelung des Art. 288 Abs. 2 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Staatshaftungsansprüche nach der Francovich-Rechtsprechung . . .
228 228 229 230 231
. . . . .
226
Zweiter Teil Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten in Rechtsprechung und Literatur
232
A. Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten in der Rechtsprechung des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 I. Die Gleichsetzung von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten auf begrifflicher Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 II. Die Gleichsetzung von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten auf materiell-rechtlicher Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 B. Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gleichsetzung oder Annäherung der beiden Kategorien? . . . . . . . . . . . . . II. Anhaltspunkte für eine Ähnlichkeit oder Gleichsetzung der Grundfreiheiten mit den Gemeinschaftsgrundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Argumente gegen eine Gleichsetzung der Grundfreiheiten mit den Gemeinschaftsgrundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Lösungsvorschläge der Literatur für das Konkurrenzverhältnis und für Kollisionen zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten
264 264 268 286 312
Dritter Teil Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
333
A. Kriterien für eine – denkbare – Grundrechtsqualität der Grundfreiheiten . . . 334 I. Keine abschließende Definition des Begriffs „Grundrechte“ . . . . . . . . . . 334 II. Zweckfreiheit des Schutzes und Subjektivität als kennzeichnende Merkmale der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 B. Die Grundfreiheiten sind keine Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
Inhaltsübersicht
9
I.
Der „instrumentale“ Charakter als bestimmendes Merkmal der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 II. Die Antwort auf die Ausgangsfrage: Die Grundfreiheiten sind keine Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 C. Die Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten (Modell) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 I. Das Modell der Doppelfunktionalität: Die Grundfreiheiten verdecken grundrechtliche (Kern-)Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 II. Hinweise auf eine Doppelfunktionalität in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 D. Die Vorteile einer klaren Trennung von Grundfreiheiten und Grundrechten . . 386 I. Ein erster Vorteil: Freiräume an Stelle von Verhaltenspflichten . . . . . . . 389 II. Ein zweiter Vorteil der Doppelfunktionalität: Höhere Transparenz für die Abwägung kollidierender Rechtspositionen im Gemeinschaftsrecht. 406 Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450
Inhaltsverzeichnis Einleitung
25
A. Sind Grundfreiheiten Grundrechte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 B. Praktische Auswirkungen der Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 C. Das Konzept der vorliegenden Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Ansicht von Rechtsprechung und Literatur zu der Frage des Verhältnisses von Grundfreiheiten und Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29 29 30 30
Erster Teil Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
32
A. Der Begriff des „subjektiv-öffentlichen Rechts“ im Gemeinschaftsrecht . . . . I. Der Begriff des subjektiven Rechts in vertikalen und horizontalen Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Subjektivierung von Rechten durch die Lehre von der unmittelbaren Wirkung im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ansätze einer spezifisch gemeinschaftsrechtlichen Definition des „subjektiven Rechts“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die unmittelbare Wirkung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . 3. Objektive und subjektive Elemente einer Rechtsnorm: „minimaler subjektiver Anteil“ als Mindestvoraussetzung eines subjektiven Rechts im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Eine Arbeitshypothese: Je stärker das subjektive Element innerhalb einer Rechtsnorm, desto mehr nähert diese Norm sich einem Grundrecht an . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung: Der Begriff des subjektiv-öffentlichen Rechts im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
B. Subjektive Rechte aus dem EG-Vertrag, insbesondere die Grundfreiheiten . . I. Die Grundfreiheiten als subjektive Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Binnenmarkt als Diffusionsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Drei Größen, die den Prozess Binnenmarkt steuern: Gefälle zwischen den unterschiedlichen Wirtschaftsbedingungen, Durchlässigkeit der Grenzen, Trägheit der Wirtschaftsfaktoren . . . . . . . . .
53 55 56
33 38 38 40
45
47 52
56
12
Inhaltsverzeichnis b) Die drei Größen im physikalischen Modell: Teilchendichte, Durchlässigkeit der Membrane, energetischer Zustand der Teilchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Welche der drei Größen kann und darf über die Grundfreiheiten gesteuert werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Wortlaut der Vertragsvorschriften als Ausgangspunkt . . . . . . . . . a) Art. 28 und 29 EGV (Warenverkehrsfreiheit) . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 39 EGV (Arbeitnehmerfreizügigkeit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Art. 43 EGV (Niederlassungsfreiheit) und Art. 49 EGV (Dienstleistungsfreiheit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Gemeinsames und Trennendes im Wortlaut der einzelnen Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Grundfreiheiten als subjektive Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Normstruktur der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Tatbestand der Grundfreiheiten (Anwendungsbereich/Schutzbereich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das „grenzüberschreitende Element“ als Tatbestandsmerkmal der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Tatbestandsmerkmal oder Sachentscheidsvoraussetzung? . . . bb) Die Erosion des Tatbestandsmerkmals „Grenzübertritt“ bei den Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Inländerdiskriminierung als Folge des Tatbestandsmerkmals des „Grenzübertritts“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Tendenz in der Rechtsprechung: Der Begriff des Grenzübertritts verliert an Kontur und – scheinbar – an Bedeutung für die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten . . (3) Verwässern des Tatbestandsmerkmals des Grenzübertritts durch rein hypothetische und bloß behauptete zukünftige Grenzübertritte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Das grenzüberschreitende Element wird schwächer, besteht aber fort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die „wirtschaftsbezogene Tätigkeit“ als Merkmal der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung: Tatbestandsmerkmale der Grundfreiheiten . . 2. Die Schrankensystematik der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die im EG-Vertrag aufgeführten Ausnahmen von den Verboten der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die ungeschriebenen Ausnahmen von den Grundfreiheiten . . . . . c) Die Schrankensystematik bei Grundfreiheiten und bei Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Weiterentwicklung der Grundfreiheiten von Diskriminierungsverboten zu allgemeinen Beschränkungsverboten . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote und – angebliche – allgemeine Beschränkungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58 61 63 65 66 69 71 73 78 79 79 79 83 84
86
90 95 96 99 100 100 101 104 105 110
Inhaltsverzeichnis b) Der weitverstandene Diskriminierungsbegriff: Die Grundfreiheiten sind und bleiben Gleichbehandlungsgebote . . . . . . . . . . . . . . . c) Beispiele von Grundfreiheiten als „echten“ Beschränkungsverboten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Abgrenzung der „echten Beschränkungsverbote“ von den „allgemeinen Beschränkungsverboten“ . . . . . . . . . . . . . . . bb) Eine Einschränkung: Auch diese Grenze ist nur eine näherungsweise Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Eine Erweiterung: Die Entscheidung „Alpine Investments“ und die Export-Konstellationen als Beispielfälle der echten Beschränkungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung: Die Grundfreiheiten als Beschränkungsverbote 4. Die Adressatenfrage und die Drittwirkung der Grundfreiheiten . . . . a) Die Entscheidungen zu Art. 28 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Profisportler-Entscheidungen zu Art. 39 EGV und Art. 49 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ausnahmsweise Drittwirkung für quasi-staatliche private Wirtschaftsteilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Drittwirkung für Diskriminierungsverbote, aber nicht für allgemeine Beschränkungsverbote? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ein neuer Ansatz: Grundfreiheitliche Schutzpflichten . . . . . . . . . . aa) Das Verhältnis der Schutzpflichtentheorie zu den Drittwirkungslehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Konzept der Schutzpflichten verdeckt eine Kollision von subjektiven Rechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung: Drittwirkung der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . 5. Die Konvergenz der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Subjektive Rechte außerhalb des Vertrags: Die Gemeinschaftsgrundrechte . . I. Die Gemeinschaftsgrundrechte als ungeschriebene Rechte . . . . . . . . . . . II. Die Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verschiedene Funktionen der Gemeinschaftsgrundrechte: Objektive Rechtsgrundsätze, Gleichheitsgrundrechte, subjektive Abwehrrechte 2. Anwendungsbereich, Tatbestand und Schranken der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Schutzbereich der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . b) Das „grenzüberschreitende Element“ als Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Schranken der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Adressaten der Gemeinschaftsgrundrechte/Drittwirkung . . . . . . . a) Bindung auch der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Bindung Privater an die Gemeinschaftsgrundrechte (Drittwirkung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung: Gemeinschaftsgrundrechte als subjektive Rechte . .
13
113 118 120 126
128 132 135 138 139 139 141 144 144 148 150 152 158 159 162 162 165 165 166 170 172 172 176 178
14
Inhaltsverzeichnis
D. Die vertraglichen Gleichheitssätze als subjektive Rechte (Art. 12 und 141 EGV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Strukturelle Besonderheiten der gleichheitsrechtlichen Normen . . . . . . . II. Das Verbot der Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit (Art. 12 EGV) als subjektives Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einordnung des Art. 12 EGV als subjektives Recht . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einordnung des Art. 12 EGV als Grundrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Verhältnis des Art. 12 EGV zu den Grundfreiheiten . . . . . . . . . . III. Der Grundsatz der Lohngleichheit (Art. 141 Abs. 1 EGV) als subjektives Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einordnung des Art. 141 Abs. 1 EGV als subjektives Recht . . . . . . . 2. Einordnung des Art. 141 Abs. 1 EGV als Grundrecht . . . . . . . . . . . . . a) Das Verhältnis von Art. 141 Abs. 1 EGV zum Grundrecht auf Gleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Anwendbarkeit des Art. 141 Abs. 1 EGV auf rein innerstaatliche Sachverhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Verhältnis des Art. 141 Abs. 1 EGV zu den Grundfreiheiten . . 4. Zusammenfassung: Vertragliche Gleichheitsrechte als subjektive Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
179 182 188 188 189 192 196 196 199 200 202 206 208
E. Art. 18 Abs. 1 EGV als subjektives Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einordnung des Art. 18 Abs. 1 EGV als subjektives Recht . . . . . . . . . . . II. Einordnung des Art. 18 Abs. 1 EGV als Grundrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Verhältnis des Art. 18 Abs. 1 EGV zu den Grundfreiheiten . . . . . . 1. Die Modellfunktion des Art. 18 Abs. 1 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 39 EGV und Art. 18 Abs. 1 EGV als „nicht vermischbare“ Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Verbindung oder Verschmelzung von Art. 18 Abs. 1 EGV und Art. 39 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Art. 18 Abs. 1 EGV als Katalysator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Unionsbürgerfreizügigkeit als drittes Recht neben Art. 39 EGV und Art. 18 Abs. 1 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Indikatorfunktion des Art. 18 Abs. 1 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 17 ff. EGV als Schritt vom Marktbürger zum Unionsbürger b) Art. 18 Abs. 1 EGV als grundsätzliche Aufwertung des Schutzguts der Freizügigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die symbolische Bedeutung des Art. 18 Abs. 1 EGV . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung: Art. 18 Abs. 1 EGV als subjektives Recht des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
209 210 212 216 217
F. Weitere subjektive Rechte des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Zollvorschriften der Art. 25 ff. EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Wettbewerbsvorschriften der Art. 81 bis 89 EGV . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Haftungsregelung des Art. 288 Abs. 2 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Staatshaftungsansprüche nach der Francovich-Rechtsprechung . . .
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. . . . .
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Zweiter Teil Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten in Rechtsprechung und Literatur A. Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten in der Rechtsprechung des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Gleichsetzung von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten auf begrifflicher Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Terminologie im Bereich der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erweiterung des Anwendungsbereiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abwägungssituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung: Auffälligkeiten in der Terminologie . . . . . . . . 2. Die Terminologie im Bereich der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . II. Die Gleichsetzung von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten auf materiell-rechtlicher Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hinweise auf eine (mögliche) Gleichsetzung von Grundfreiheiten und Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Beide Rechtsnormen sind von fundamentaler Bedeutung . . . . . . . b) Der Gerichtshof geht von einer freiheitsrechtlichen Struktur der Grundfreiheiten aus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Rechtsprechung zur Drittwirkung der Grundfreiheiten lässt sich durch die Annahme eines grundrechtlichen Kerns in den Grundfreiheiten erklären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konkurrenzen und Kollisionen zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gleichlauf von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten b) Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten . . aa) Die Beispiele aus der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ergebnisoffene Abwägung zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten in der Kollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gleichsetzung oder Annäherung der beiden Kategorien? . . . . . . . . . . . . . 1. Näherungsweise Umschreibungen reichen in der Regel aus . . . . . . . . 2. Gibt es eine klar definierte Grenze? – Welchen Wert hat eine genaue Bestimmung dieser Grenze? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Anhaltspunkte für eine Ähnlichkeit oder Gleichsetzung der Grundfreiheiten mit den Gemeinschaftsgrundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die grundlegende Bedeutung der Grundfreiheiten als Hinweis auf einen grundrechtlichen Status . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die „Wichtigkeit“ als Merkmal eines Grundrechts . . . . . . . . . . . . b) Die Konvergenz der Grundfreiheiten als schematischer Begründungsmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis 2. Die freiheitsrechtliche Struktur der Grundfreiheiten (Die Ausweitung der Grundfreiheiten von Diskriminierungsverboten zu allgemeinen Beschränkungsverboten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das „Rutili“-Argument: Dieselben Schranken – also gleichsetzen? b) Die freiheitsrechtliche Struktur als Indiz für einen „absoluten“ Gehalt der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ist das Kriterium der freiheitsrechtlichen Struktur ein zwingendes Indiz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Überschneidung der Adressatenkreise von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die verstärkte Ausrichtung der Grundfreiheiten auf den einzelnen EU-Bürger als Hinweis auf einen grundrechtlichen Status der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundfreiheiten im nicht spezifisch wirtschaftlichen Kontext . . . b) Subjektives Element gegen objektives Element . . . . . . . . . . . . . . . c) Individualbezogenheit als „Wunschvorstellung“ . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis: Subjektivierung der Grundfreiheiten als Hinweis auf deren grundrechtlichen Charakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung: Indizien für die Ähnlichkeit oder Gleichsetzung der Grundfreiheiten mit den Gemeinschaftsgrundrechten . . . . . . . . . . III. Argumente gegen eine Gleichsetzung der Grundfreiheiten mit den Gemeinschaftsgrundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der unterschiedliche Adressatenkreis von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Weitgehende Überschneidung der Adressatenkreise bei verbleibender Asymmetrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Drittwirkung als Kriterium der Unterscheidung? . . . . . . . . . . 2. Das Tatbestandsmerkmal des „grenzüberschreitenden Elements“ und die Inländerdiskriminierung als Argumente gegen eine Gleichsetzung von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten . . . . . a) Das „grenzüberschreitende Element“ als genuin grundfreiheitliches Tatbestandsmerkmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Inländerdiskriminierung und grundrechtlicher Charakter der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abgrenzung der Grundfreiheiten von den Gemeinschaftsgrundrechten aufgrund des unterschiedlichen Kreises der Berechtigten . . . . . . 4. Der vorrangig instrumentale Ansatz der Grundfreiheiten als Hindernis für eine Gleichsetzung mit den Gemeinschaftsgrundrechten . . . . a) „Instrumental heißt objektiv“ – Schwächung des subjektiv-individualschützenden Elements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Begrenzung der Reichweite der Grundfreiheiten durch die Kopplung des Rechtsschutzes an die „Binnenmarktnützlichkeit“ als externen Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wirtschaftsbezogener Charakter der Grundfreiheiten als Hindernis der Gleichsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung: Argumente gegen eine Gleichsetzung . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis IV. Lösungsvorschläge der Literatur für das Konkurrenzverhältnis und für Kollisionen zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten 1. Die Konkurrenz zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten – Welches subjektive Recht kommt zur Anwendung? . . . . . . a) Vorrang der Grundfreiheiten gegenüber Grundrechten mit gleichem Regelungsinhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sonderproblem: Kein echtes Konkurrenzverhältnis unter bestimmten Annahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Kollisionsfälle – Welches subjektive Recht setzt sich durch? . . a) Kollisionen zwischen subjektiven Rechten nur in Drittwirkungsfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der weit verstandene Abwägungsbegriff als Ausgangspunkt . . . . c) Vorfragen: Welche Rechte kommen zur Anwendung? . . . . . . . . . . aa) Eine erste Vorüberlegung: Keine nationalen Grundrechte in der Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Eine zweite Vorüberlegung: Wie stark sollen die einzelnen Vorschriften in ihre Teilfunktionen aufgesplittet werden, bevor sie in die Abwägung eingestellt werden? . . . . . . . . . . . . . d) Die Form der Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Gewichtung der einzelnen Positionen in der Abwägung . . . . aa) Kritik der Literatur am Gerichtshof: Automatischer Vorrang der Grundfreiheiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Lösung der Literatur: Einzelfallorientierte, gleichberechtigte und ergebnisoffene Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dritter Teil Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten A. Kriterien für eine – denkbare – Grundrechtsqualität der Grundfreiheiten . . . I. Keine abschließende Definition des Begriffs „Grundrechte“ . . . . . . . . . . 1. Definition des Begriffs „Gemeinschaftsgrundrechte“? . . . . . . . . . . . . 2. Definition des Begriffs „Grundrechte“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zweckfreiheit des Schutzes und Subjektivität als kennzeichnende Merkmale der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der klar bestimmbare Schutzbereich als erste Mindestvoraussetzung eines Grundrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Zweckfreiheit des Schutzes als zweite Mindestvoraussetzung eines Grundrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Zuordnung auf den Inhaber des Rechts (Subjektivität) als dritte Mindestvoraussetzung eines Grundrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
333 334 334 334 336 339 340 341 345
B. Die Grundfreiheiten sind keine Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 I. Der „instrumentale“ Charakter als bestimmendes Merkmal der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
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Inhaltsverzeichnis 1. Der Begriff „instrumental“: Die Grundfreiheiten als Werkzeuge und Programm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Persistenz der instrumentalen Strukturelemente trotz der Ausweitung der Grundfreiheiten zu weitergehenden Rechtspositionen in der Rechtsprechung des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Tatbestandsmerkmal des „grenzüberschreitenden Bezugs“ als unveränderliches Normprogramm der Grundfreiheiten . . . . . . b) Das Fehlen einer Spürbarkeitsschwelle als Zeichen des fortbestehenden instrumentalen Charakters der Grundfreiheiten . . . . . . . . . II. Die Antwort auf die Ausgangsfrage: Die Grundfreiheiten sind keine Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
C. Die Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten (Modell) . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Modell der Doppelfunktionalität: Die Grundfreiheiten verdecken grundrechtliche (Kern-)Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die grundfreiheitliche Funktion des Art. 39 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die grundrechtlichen Funktionen innerhalb des Art. 39 EGV . . . . . . a) Das Gleichheitsgrundrecht in Art. 39 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Freiheitsgrundrecht in Art. 39 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Einordnung des Art. 39 EGV als übergeordnete Kategorie (Dach-Vorschrift) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Hinweise auf eine Doppelfunktionalität in Rechtsprechung und Literatur 1. Die Beispiele aus der Rechtsprechung: Außen Grundfreiheit, innen Grundrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Entscheidung Lehtonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Entscheidung Graf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Entscheidungen Bosman und Kremzow . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Überlegungen der Literatur zur Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Abgrenzung der Doppelfunktionalität von der – behaupteten – Funktionserweiterung der Grundfreiheiten von Diskriminierungsverboten zu allgemeinen Beschränkungsverboten . . . . . . . . . . . . . . b) Ansätze einer Doppelfunktionalität bei den Autoren, die eine Polarisierung der objektiv-rechtlichen und subjektiv-individualschützenden Elemente innerhalb der Grundfreiheiten verstärken wollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Autoren, die den Konflikt zuspitzen, als Wegbereiter einer Doppelfunktionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Literaturansichten, die sich nur schwer mit dem Modell vereinbaren lassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die dogmatische Figur des „Marktzugangsrechts“ als Alternative zum Modell der Doppelfunktionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Die Vorteile einer klaren Trennung von Grundfreiheiten und Grundrechten . . 386 I. Ein erster Vorteil: Freiräume an Stelle von Verhaltenspflichten . . . . . . . 389 1. Der rechtspolitische Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391
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2. Der wirtschaftstheoretische und wirtschaftspolitische Kontext . . . . . a) Die wirtschaftstheoretischen Gründe für einen hohen Integrationsdruck über eine Ausweitung des grundfreiheitlichen Normprogramms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wirtschaftstheoretische Argumente gegen eine Forcierung des grundfreiheitlichen Normprogramms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wachstum, Nachhaltigkeit und das Risiko instabiler Systeme als Ergebnis eines gesellschaftlichen Durchmischungsprozesses . . . . 3. Zusammenfassung: Der erste Vorteil der Doppelfunktionalität . . . . . II. Ein zweiter Vorteil der Doppelfunktionalität: Höhere Transparenz für die Abwägung kollidierender Rechtspositionen im Gemeinschaftsrecht 1. Transparenz in der Abwägung – Erster Schritt: Die beteiligten Interessen freilegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Transparenz in der Abwägung – Zweiter Schritt: Die Interessen benennen und unmissverständlich entweder dem grundfreiheitlichen oder dem grundrechtlichen Bereich zuordnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sichtbarmachen grundrechtlicher Positionen in der Abwägung . . b) Der grundrechtliche Diskurs und der Binnenmarktprozess müssen unterscheidbar bleiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Inhalte, Zeitpunkt und Geschwindigkeit des gemeinschaftsweiten grundrechtlichen Diskurses dürfen nicht über die Grundfreiheiten erzwingbar sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Grundrechtsdiskurs erreicht die gemeinschaftliche Ebene bb) Die Gefahr einer missbräuchlichen Aufweichung der Grenze zwischen den beiden Diskursen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450
Abkürzungsverzeichnis a. A. ABl. Abs. AöR Art. Aufl. Anm. BB Bd. BGBl. BVerfG BVerfGE C.D.E. C.M.L.R. DB ders./dies. d.h. Diss. DÖV DVBl. EAG ECLR EEA EELR EG EGKS EGKSV EGV EJIL E.L.J. E.L.Rev. EMRK EU EuGH EuGRZ EUI EuR EUV EuZW EWG EWGV EWS
anderer Ansicht Amtsblatt Absatz Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Auflage Anmerkung Betriebsberater Band Bundesgesetzblatt Bundesverfassungsgericht Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Cahiers de Droit Européen Common Market Law Review Der Betrieb derselbe/dieselbe das heißt Dissertation Die öffentliche Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt Europäische Atomgemeinschaft European Competition Law Review Einheitliche Europäische Akte European Environmental Law Review Europäische Gemeinschaft Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft European Journal of International Law European Law Journal European Law Review Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention) Europäische Union Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäische Grundrechtszeitschrift European University Institute Europarecht Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht
22 f., ff. F.I.L.J. Fn. GA GASP GG Habil. Hrsg. ICLQ i. e. S. insb. IrJEL i. S. d. IStR i. S. v. i.V. m. i. w. S. JR Jura JuS JZ Legal Issues m. E. m. w. N. NJ NJW Nr. NVwZ NZA o. ä. ÖJT Ph.D. Rev.M.U.E. RIW Rl Rn. Rs. RTDE Rz. S. Slg. SpuRt u. a. u. U. u. v. m. verb. Rs. VerwArch vgl. VO
Abkürzungsverzeichnis und die folgende Seite, und die folgenden Seiten Fordham International Law Journal Fußnote Generalanwalt Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Grundgesetz Habilitationsschrift Herausgeber International Comparative Law Quarterly im engeren Sinne insbesondere Irish Journal of European Law im Sinne der/des Internationales Steuerrecht im Sinne von in Verbindung mit im weiteren Sinne Juristische Rundschau Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristenzeitung Legal Issues of European Integration meines Erachtens mit weiteren Nachweisen Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht oder ähnliche Verhandlungen des österreichischen Juristentages Doctor of Philosophy Revue du marché commun et de l’Union Européenne Recht der Internationalen Wirtschaft Richtlinie Randnummer Rechtssache Revue trimestrielle de droit européen Randziffer Seite Amtliche Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften Zeitschrift für Sport und Recht und andere unter Umständen und viele mehr verbundene Rechtssachen Verwaltungsarchiv vergleiche Verordnung
Abkürzungsverzeichnis VVDStRL ZBJI ZeuP ZHR Ziff. ZNER ZRP ZVglRWiss
Veröffentlichungen der Vereinigungen der Deutschen Staatsrechtslehrer Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres Zeitschrift für europäisches Privatrecht Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Ziffer Zeitschrift für Neues Energierecht Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft
23
Einleitung A. Sind Grundfreiheiten Grundrechte? Die Vorsilbe „Grund-“ ist den Grundfreiheiten des EG-Vertrags nicht zu Unrecht verliehen. Die Art. 28 f. EGV, Art. 39 EGV, Art. 43 EGV und Art. 49 EGV sind von grundlegender Bedeutung für die Schaffung und für das Funktionieren des Binnenmarktes und damit für das Herzstück der europäischen Integration. Wenn der Europäische Gerichtshof in seinen Entscheidungsgründen die Warenverkehrsfreiheit oder die Arbeitnehmerfreizügigkeit als „fundamentalen Grundsatz“ oder als „tragendes Prinzip des Gemeinschaftsrechts“ in die Waagschale wirft, dann deutet sich zwischen den Zeilen bereits an, dass es für die staatliche Maßnahme, die der Grundfreiheit im Wege steht, schwer sein wird, sich erfolgreich gegen das Gewicht einer solchen Grundsatznorm zu stemmen. Vor allem aber haben sich immer häufiger einzelne EU-Bürger oder Unternehmen in publikumswirksamen Verfahren unter Berufung auf die Grundfreiheiten des EG-Vertrags Freiräume erkämpft und dadurch deren individualschützendes Potenzial sichtbar gemacht. Spätestens nachdem Generalanwalt Lenz in seinen Schlussanträgen in der Sache Bosman den Art. 39 EGV als „Grundrecht auf Freizügigkeit“ bezeichnet hat, stellt sich die Frage, ob die Grundfreiheiten sich durch eine immer stärker individualschützende Ausrichtung zu echten Grundrechten fortentwickelt haben und eine Grenze zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten möglicherweise nicht mehr nachweisbar ist. Dieser Frage geht die vorliegende Arbeit nach. Im Ergebnis streben die beiden Kategorien – Grundfreiheiten und Grundrechte – erkennbar auseinander. Es zeigen sich trotz einer Reihe von Gemeinsamkeiten so deutliche Unterschiede in der Wirkungsweise und der Zielrichtung der beiden Rechtsnormkategorien, dass eine Gleichsetzung ausgeschlossen werden kann. Eine Evolution der Grundfreiheiten hin zu Gemeinschaftsgrundrechten hat nicht stattgefunden. Die Grundfreiheiten sind, so der Tenor der Arbeit, in erster Linie Werkzeuge in den Händen der vertragsschließenden Mitgliedstaaten. Mit diesen Werkzeugen konnten sie den Gemeinsamen Markt konstruieren und den Fluss der Wirtschaftsfaktoren innerhalb dieses Marktes auch nach dessen Inbetriebnahme steuern und forcieren. In den Jahren 1951 bis 1957, als die Vertreter der Gründungsstaaten den Wortlaut des EWG-Vertrages aushandelten, standen die Juristen vor der Aufgabe, mithilfe von Verboten und Gebo-
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Einleitung
ten sechs Volkswirtschaften aneinander zu koppeln, um sie auf lange Sicht zu einem Markt zusammenzuschließen, ohne dass diese Öffnung der Handelsgrenzen zu einem unkontrollierten Abfluss von Waren und Arbeitskraft entlang der vorhandenen starken Gefälleunterschiede führen würde. Die Ge- und Verbote konnten zunächst nur die Voraussetzungen eines einheitlichen Marktraumes schaffen, damit dann – entsprechend der wirtschaftswissenschaftlichen Annahmen – die Individuen angetrieben vom Gewinnstreben in einer Vielzahl von Einzelentscheidungen diese Möglichkeiten wahrnehmen, die Märkte durchmischen und mit Leben füllen würden. Diese Phase der Durchmischung, nachdem die Barrieren gefallen sind, folgt Gesetzmäßigkeiten, die mit Stichworten wie Allokation und Diffusion nur angedacht werden sollen. Auch um diese scheinbar zufälligen Einzelentscheidungen zu fördern, bleiben die Grundfreiheiten ein nützliches Instrument, indem sie in ihrer Funktion als Gleichbehandlungsgrundsätze die erhöhten Transaktionskosten, die auf ein grenzüberschreitendes wirtschaftliches Tätigwerden zurückgehen, auffangen und kompensieren. Dem migrationsbereiten EU-Bürger wird seine Entscheidung leichter gemacht. Die Grundfreiheiten sind Anreiz zur Mobilität. Es profitieren der einzelne Marktbürger und der Binnenmarkt. Dieser Einsatz der Grundfreiheiten als Werkzeug und Steuerungsmittel bei der Schaffung und Implementierung des Binnenmarktes wird in der vorliegenden Untersuchung unter den Begriff des instrumentalen Charakters der Grundfreiheiten gefasst und zieht sich als Leitmotiv durch die Darstellung. Im Gegensatz dazu sind die Gemeinschaftsgrundrechte nach der hier vertretenen Auffassung in erster Linie dem Rechtsschutzgedanken verpflichtet. Ihre Geltendmachung erfolgt unabhängig von dem Nutzen, den die Verfolgung dieses Rechts dem Binnenmarkt einträgt. Es ist diese Zweckfreiheit des grundrechtlichen Schutzes, die in der vorliegenden Untersuchung als das entscheidende Abgrenzungskriterium der Gemeinschaftsgrundrechte gegenüber den Grundfreiheiten herausgearbeitet werden soll. Nicht immer werden Grundfreiheiten aber auch als Grundfreiheiten benannt und macht der Gerichtshof Gemeinschaftsgrundrechte als Grundrechte kenntlich, wenn er in seinen Entscheidungen einzelne Marktbürger vor beschränkenden Maßnahmen in Schutz nimmt. So hat der Gerichtshof unter der grundfreiheitlichen Flagge des Art. 39 EGV teilweise eindeutig grundrechtlichen Schutz gewährt. Diese Fälle herauszufiltern und die Zuordnung der jeweils angewandten Rechtssätze zu einer der beiden Kategorien – Grundfreiheit oder Grundrecht – zu ermöglichen, ist eines der Ziele der Arbeit.
B. Praktische Auswirkungen der Unterscheidung
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B. Praktische Auswirkungen der Unterscheidung In vielen Fällen reicht es aus, die Grundfreiheiten als „grundrechtsähnliche“ Rechte einzuordnen, um alle relevanten Eigenschaften abzubilden und damit dogmatisch arbeiten zu können. Wenn dennoch weiter gefragt wird, ob die Ähnlichkeit bis hin zu einer Wesensgleichheit nachgewiesen werden kann, so steckt dahinter zunächst das Erkenntnisinteresse, diesen letzten Schritt gedanklich zu gehen und den verbleibenden Spalt an der Grenze zwischen „grundrechtsähnlichen“ und „grundrechtsgleichen“ Rechten auszuforschen. Da die Terminologie sowohl der Literatur als auch des Gerichtshofs an dieser Stelle schwankt, ist die Frage der Gleichsetzung in erster Linie eine Frage der wissenschaftlichen Systematisierung. Ein praktischer Nutzen ergibt sich vor allem für die Fallkonstellationen, in denen das Verhältnis von Grundfreiheiten zu Grundrechten streitentscheidend wird. Das sind die Fälle, in denen Grundfreiheiten und Grundrechte als Rechte um die Anwendbarkeit oder um die Durchsetzung konkurrieren. Wenn dem belgischen Trainer Heylens in Frankreich die Ausübung seines Berufes erschwert wird, sollte dieser Konflikt über die Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit oder über das Grundrecht der Berufsfreiheit gelöst werden? Hier konkurrieren Grundfreiheit und Grundrecht um die Anwendbarkeit. In anderen Fällen stehen sich Grundfreiheiten und Grundrechte auf entgegengesetzten Seiten der Abwägung gegenüber. Kann die Dienstleistungsfreiheit der britischen Abtreibungsärzte gegen das Grundrecht des irischen Ungeborenen abgewogen werden? Welchem Recht wäre der Vorrang einzuräumen? Ob hier Grundfreiheiten mit Grundfreiheiten oder Grundfreiheiten mit Grundrechten „aufgewogen“ werden, ob sich also subjektiv-individualschützende Positionen oder primär objektiv-rechtliche Interessen gegenüberstehen, muss – so die Überzeugung der Arbeit – zumindest für die Form der Abwägung eine Rolle spielen. Dabei ist es weniger die letztendliche Gewichtung der jeweiligen Rechte, die durch die Benennung als Grundfreiheiten oder Grundrecht beeinflusst werden soll. Die richtige Etikettierung der jeweiligen Rechtspositionen soll vor allem die Transparenz des Abwägungsprozesses erhöhen und Missverständnisse vermeiden helfen. Eine weitere praktische Bedeutung der Unterscheidung leitet sich aus dem Vorstehenden her. Als Nebenprodukt der Überlegung, ob Grundfreiheiten den Grundrechten gleichgesetzt werden können, ergibt sich eine Antwort auf die Frage, ob den Grundfreiheiten des EG-Vertrags tatsächlich eine Drittwirkung zukommt, ob – mit anderen Worten – auch privates Handeln an den Grundfreiheiten gemessen werden muss. Die oben genannten Kollisionsfälle sind in der Regel Drittwirkungsfälle, da auf beiden Seiten subjektive Rechte von Einzelpersonen geltend gemacht werden. Eine Bin-
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Einleitung
dung privater Wirtschaftsteilnehmer an die Grundfreiheiten wird hier im Ergebnis abgelehnt. Auch in den Fällen, in denen der Gerichtshof scheinbar eine solche Drittwirkung angenommen hat, wird die Bindungswirkung nicht über eine Drittwirkung der Grundfreiheiten erklärt, sondern es wird davon ausgegangen, dass es von der Interessenlage her „Grundrechtsfälle“ waren, die unter dem Etikett der Grundfreiheiten entschieden wurden. Die Privaten, die hier auf andere private Positionen Rücksicht nehmen mussten, waren nicht an die Grundfreiheiten gebunden, sondern an die grundrechtlichen Kerne, die in einzelnen Grundfreiheiten enthalten sein können. Die Frage, ob Grundfreiheiten Grundrechte „in den Händen der Einzelnen“ oder objektive Regeln für den Binnenmarkt sind, zwingt darüber hinaus ganz grundsätzlich zu der Beschäftigung mit der dritten Ebene der Akteure im Gemeinschaftsrecht. Es sind dies die einzelnen EU-Bürger, deren Handeln – und damit deren Willensentscheidungen – für den Binnenmarkt neben dem Handeln der Gemeinschaftsorgane (erste Ebene) und der Mitgliedstaaten (zweite Ebene) von immer entscheidenderer Bedeutung ist. Die gesamte Untersuchung baut auf der Annahme auf, dass mit Ablauf der Übergangsfrist und markiert durch eine ganze Reihe von symbolischen Wendepunkten (Maastricht, Keck-Rechtsprechung, Wechsel Delors/Santer) das Binnenmarktprojekt Anfang der Neunziger Jahre in eine neue Phase eingetreten ist. Die Konstruktionsphase kann als beendet angesehen werden. In der anschließenden Betriebsphase muss der Binnenmarkt durch eine Vielzahl individueller Einzelentscheidungen mit Leben gefüllt werden. Das muss auch Folgen für die Konzeption des rechtlichen Instrumentariums haben. Es sind nicht mehr allein die Mitgliedstaaten, deren Handelspolitik auf Binnenmarktfreundlichkeit hin überprüft werden muss, sondern aus Sicht des Gemeinschaftsrechts stellt sich die Frage, ob nicht idealer Weise jede private Entscheidung im Binnenmarkt an ihrer Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten gemessen werden sollte, um die optimale Durchmischung der Teilmärkte sicherzustellen. Das wäre möglich, indem man den Grundfreiheiten als objektiven Regeln eine Drittwirkung zuspräche. Die vorliegende Untersuchung plädiert dafür, dieser Versuchung zu widerstehen. Für die dritte Ebene – die atomistisch angelegte Ebene der privaten Einzelentscheidungen – eignen sich Rechte besser als Pflichten. Für das Verhältnis der Gemeinschaft zu den Staaten dagegen behalten die Grundfreiheiten als Pflichtenkanon nach wie vor ihre Gültigkeit, halten aber lediglich die Rahmenbedingungen offen. Die dritte Ebene reguliert sich dann über den Respekt von Rechten im Sinne von zweckfreien Grundrechten. Das heißt: Optionen statt Obligationen. Diffusion statt Steuerung. Die Freiräume, die sich daraus auch für nicht-rationales, nicht-wirtschaftliches Verhalten ergeben, sind zugleich die Freiräume, die in Zukunft nötig sind, um überhaupt von einer echten EU-Bürgerschaft – über eine Marktbürgerschaft hinaus – sprechen zu können.
C. Das Konzept der vorliegenden Untersuchung
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C. Das Konzept der vorliegenden Untersuchung I. Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht Der Grundriss für die Untersuchung ist in weiten Teilen zunächst durch den Vergleich der beiden Kategorien vorgegeben. Mit dem Begriff „Gemeinschaftsgrundrechte“ ist die Zielgröße festgelegt. Die Grundfreiheiten werden neben diese Zielgröße gehalten, um den Grad an Übereinstimmung abzulesen. Dazu muss in einem ersten Teil das Untersuchungsmaterial aufbereitet werden. Das geschieht durch die Analyse der wichtigsten Eigenschaften von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten. Ohne eine wichtige methodologische Einschränkung kommt aber auch diese einfache Versuchsanordnung nicht aus. Der subjektiv-rechtliche Charakter der Gemeinschaftsgrundrechte wird als deren wichtigstes kennzeichnendes Merkmal außer Streit gestellt. Die objektiven „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ werden daher bewusst zunächst ausgeblendet. Als Zielgröße werden allein die gemeinschaftsrechtlichen Abwehrrechte als die ursprünglichste und klassisch individualschützende Form eines Grundrechts gewählt. Zugleich ist die Intensität der subjektiv-rechtlichen Ausrichtung einer Rechtsnorm nach dem hier zugrundegelegten Verständnis der Maßstab für deren Einordnung als echtes Grundrecht. Damit ergibt sich für die beiden Kategorien, die es zu vergleichen gilt, ein gemeinsamer Ausgangspunkt. Sowohl Grundfreiheiten als auch Grundrechte sind „subjektive Rechte des Gemeinschaftsrechts“, die der Einzelne geltend machen kann. Der Bestimmung dieses Ausgangspunktes ist der Beginn des Ersten Teils gewidmet, bevor dann die einzelnen Rechte, die diese Ausgangsbedingung erfüllen, genauer untersucht werden. Dabei sind es nicht allein die Versuchsobjekte „Grundfreiheiten“ und „Grundrechte“, die besprochen werden, sondern es sollen – wenn auch nicht in derselben Tiefe – alle subjektiven Rechte an diesem Ausgangspunkt versammelt werden, um sie auf die Stärke ihres subjektiven Anteils und auf die „Grundrechtsnähe“ hin abzufragen. So sind als denkbare Vorbilder für eine Entwicklung hin zu Grundrechten die Art. 12 EGV (Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit) und Art. 141 EGV (Lohngleichheit) von besonderem Interesse, die beide nach Auffassung vieler Autoren die Evolution von ursprünglich objektiven Vertragsvorschriften zu echten Grundrechten bereits durchlaufen haben. Eine besondere Rolle kommt auch dem Art. 18 Abs. 1 EGV (Freizügigkeit der Unionsbürger) zu, wenn es darum geht, Aussagen über den Stellenwert der Freizügigkeit im Gemeinschaftsrecht und damit auch über den grundrechtlichen Gehalt der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu gewinnen. Die Darstellung der Dogmatik der Grundfreiheiten und der Grundrechte in diesem ersten Teil muss über eine bloße Beschreibung hinausgehen. Ein
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Einleitung
Raster an „Schlüsseleigenschaften“ wird nach der wertenden Analyse der dazugehörigen Rechtsprechung herausgearbeitet. Solche Schlüsseleigenschaften sind etwa die – angebliche – Ausweitung der Grundfreiheiten von Diskriminierungs- zu Beschränkungsverboten, die Frage der Drittwirkung oder das Tatbestandsmerkmal des „Grenzübertritts“ bei den Grundfreiheiten. Für die Gemeinschaftsgrundrechte dagegen zeigt sich, dass der „Grenzübertritt“ dort gerade keine Tatbestandsvoraussetzung sein kann, sondern allein für die Frage der Entscheidungszuständigkeit des Gerichtshofs von Bedeutung ist. II. Die Ansicht von Rechtsprechung und Literatur zu der Frage des Verhältnisses von Grundfreiheiten und Grundrechten Ein zweiter Teil ist den Lösungsansätzen gewidmet, die der Gerichtshof und die wissenschaftliche Literatur zur Frage des Verhältnisses von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten gefunden haben. Der Gerichtshof und die Mehrzahl der Autoren beziehen zur Frage der Gleichsetzung von Grundfreiheiten und Grundrechten nicht ausdrücklich Stellung. Es zeigt sich, dass häufig auf „Indizien“ zurückgegriffen werden muss, um zu einer wertenden Aussage zum Verhältnis der beiden Normkategorien zu gelangen. Oft ist es allein der Umgang mit den oben erwähnten Schlüsseleigenschaften der Grundfreiheiten, durch den ein Autor einer bestimmten Position in der „Grundrechtsfrage“ zugeordnet werden kann. Im Ergebnis lassen sich in der Literatur zwar Argumente für eine vollständige Gleichsetzung der beiden Kategorien finden, es überwiegen aber die Ansätze, die eine solche Gleichsetzung ablehnen. III. Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten In einem dritten Teil soll eine eigene Schlussfolgerung entwickelt und begründet werden: Die Unterschiede zwischen der Dogmatik der Grundfreiheiten und der Dogmatik der Gemeinschaftsgrundrechte sind so groß, dass eine Gleichsetzung nicht möglich ist. Die Grundfreiheiten bleiben Grundfreiheiten. Sie verändern sich nicht allein aufgrund der Tatsache, dass ihr individualschützendes Moment gestärkt wird, zu grundrechtlichen Normen. Allerdings hat der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zu einzelnen Grundfreiheiten neue Gemeinschaftsgrundrechte entwickelt, ohne dass dadurch die grundfreiheitliche Struktur der Ausgangsnorm in Frage gestellt wäre. Das lässt sich besonders deutlich am Beispiel des Art. 39 EGV nachweisen. Das in Art. 39 EGV verankerte Freizügigkeitsrecht übernimmt in der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine doppelte Funktion. Zum einen
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bleibt es weiterhin programmatische Verpflichtung für die Mitgliedstaaten, die Mobilität im Binnenmarkt zu gewähren und zu fördern. Daneben gewährt der Gerichtshof unter dem „Etikett des Art. 39 EGV“ dem Einzelnen in bestimmten Fällen strukturell ein „Gemeinschaftsgrundrecht auf Freizügigkeit“, ohne dieses Grundrecht aber als ein solches zu bezeichnen. Damit erfolgt eine Aufspaltung des Art. 39 EGV in eine objektiv-rechtliche „grundfreiheitliche“ Funktion und eine subjektiv-rechtliche „grundrechtliche“ Funktion. Auf Ebene des Verhältnisses der Gemeinschaft zu den Mitgliedstaaten bleiben die Grundfreiheiten die objektiven Instrumente zur Vereinheitlichung des Binnenmarktes, die sie waren. Auf der bereits angesprochenen dritten Ebene können sie grundrechtliche Positionen „in Händen der Bürger“ darstellen, und zwar zweckfrei und von der Binnenmarktnützlichkeit abgekoppelt. Der damit verbundene Verlust an Binnenmarktkonformität auf dieser dritten Ebene wird durch den Zuwachs an „Freiheit“ wettgemacht. Diese Freiheit lässt sich auch volkswirtschaftlich positiv in Ansatz bringen. Im Übrigen kann ein Gewinn bereits darin gesehen werden, dass durch ein solches auf „Rechte“ und nicht auf „Pflichten“ gegründetes Konzept der Schritt über den reinen Binnenmarkt hinaus in eine echte Unionsbürgerschaft wahrscheinlicher geworden ist.
Erster Teil
Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht A. Der Begriff des „subjektiv-öffentlichen Rechts“ im Gemeinschaftsrecht Die Grundfreiheiten des EG-Vertrages und die Gemeinschaftsgrundrechte sind gleichermaßen subjektive Rechte, die der Einzelne vor Gericht geltend machen kann. Die Suche nach einem dogmatischen Fundament für eine mögliche Gleichsetzung der beiden Kategorien beginnt – naheliegend – bei deren Gemeinsamkeiten. Der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die beiden Kategorien Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte zurückführen lassen, findet sich in der Eigenschaft als subjektives Recht und in der Zugehörigkeit zu derselben Rechtsordnung. Beide Arten von Rechtsnormen sind Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung. Beide sind innerhalb dieser Rechtsordnung auf der höchsten Stufe der Normenhierarchie – dem Primärrecht – angesiedelt. Der Begriff des „subjektiven Rechts“ wird hier zunächst denkbar weit verstanden. Eine begriffliche und systematische Eingrenzung erfolgt nur soweit, als damit Erkenntnisse für die Fragestellung nach der Verwandtschaft der beiden Rechtsinstitute Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte verbunden sind. Ausgehend vom gemeinsamen Fixpunkt des subjektiven Rechts soll eine Übersicht gegeben werden über die subjektiven Rechte des Gemeinschaftsrechts. Im Einzelnen sind das die Grundfreiheiten der Art. 28 f. EGV, Art. 39 EGV, Art. 43 EGV und Art. 49 EGV, daneben aber auch die Art. 12 EGV, Art. 18 ff. EGV, Art. 25 EGV, Art. 34 Abs. 2 Satz 2 EGV, Art. 72 EGV, Art. 81 ff. EGV, Art. 141 EGV, Art. 288 Abs. 2 EGV, Art. 294 EGV sowie die Gemeinschaftsgrundrechte als ungeschriebene Rechtssätze des Gemeinschaftsrechts. Diese Rechtsnormen decken sehr unterschiedliche sachliche Bereiche ab und haben eigenständige Entstehungsund Entwicklungsgeschichten. Sie unter dem gemeinsamen Blickwinkel des subjektiven Rechts in einer Art synoptischer Darstellung nebeneinander zu halten, erleichtert die isolierte Betrachtung der jeweiligen Eigenarten. Ein denkbarer Grundrechtscharakter gehört ebenfalls zu den Eigenschaften, die sich auf diese Weise nachweisen lassen. Noch aus der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts stammt die Umschreibung des subjektiven Rechts als „eine dem einzelnen zwecks Befrie-
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digung seiner Bedürfnisse durch die Rechtsordnung zuerkannte und gesicherte Willensmacht oder gleichbedeutend eine Rechtsmacht als ein festes, der Person zugeeignetes Machtverhältnis, in dem ihr Wille herrscht“.1 Die primäre Funktion des subjektiven Rechts ist demnach, für den Rechtsinhaber eine Sphäre selbstbestimmter Freiheit zu sichern.2 Diese Definitionsversuche sind in einem zivilistisch geprägten Zusammenhang entstanden und fallen mit dem Begriff des materiellrechtlichen Anspruchs zusammen. Um diese Definition als Ausgangspunkt für eine gemeinschaftsrechtliche Untersuchung nutzen zu können, sind zumindest zwei Modifikationen nötig. Zum einen muss sichergestellt sein, dass die Definition auch im Über- und Unterordnungsverhältnis einer typisch öffentlich-rechtlichen Fallkonstellation ihre Gültigkeit behält (siehe dazu I.). Zum andern – und damit begibt man sich auf gemeinschaftsrechtliches Kernland – muss geklärt werden, wie sich der Begriff des subjektiven Rechts zum Begriff der „unmittelbaren Wirkung“ des Gemeinschaftsrechts und zu Konzepten aus anderen Rechtsordnungen, wie etwa der „invocabilité“ des französischen Verwaltungsrechts verhält. Dort beinhaltet die Möglichkeit, eine Rechtsnorm vor Gericht einzuklagen (invoquer) nicht zugleich, dass dem einzelnen Bürger auch materiellrechtlich eine solche Rechtsmacht oder eine solche geschützte Willensmacht zugestanden werden soll. Vielmehr kann mit der „invocabilité“, der „Einklagbarkeit“, auch lediglich das Ziel einer objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle angestrebt werden. Eine vergleichbare Idee der „Einklagbarkeit“ findet sich auch in der Terminologie des Gerichtshofs.3 Der Gerichtshof entwickelte seine Lehre von der „unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts“ sowohl vor dem Hintergrund dieses französischen Schemas einer objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle als auch vor dem Hintergrund der deutschen Schutznormtheorie. Die Interferenzen dieser unterschiedlichen Konzepte sollen daher kurz angesprochen werden (siehe dazu II.). I. Der Begriff des subjektiven Rechts in vertikalen und horizontalen Strukturen Das Gemeinschaftsrecht ist dem Bereich des öffentlichen Rechts im weiten Sinne zuzuordnen. Zwar enthält es Elemente des Wirtschaftsprivatrechts 1 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, (1840) S. 7; Windscheid/Kipp, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. I (1906), § 37; Ennecerus/Nipperdey, AT § 72 I, zitiert nach: Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs, S. 273. 2 Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs, S. 272. 3 EuGH v. 22.6.89, Rs. 103/88, „Constanzo“, Slg. 1989, S. 1839, 1870, Rz. 29; EuGH v. 19.1.82, Rs. 8/81, „Becker“, Slg. 1982, S. 53, 71, Rz. 25, nach: von Danwitz, DÖV 1996, S. 481, 482.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
und des Individualarbeitsrechts und entzieht sich in vielen Punkten einer klaren Kategorisierung, im Ergebnis steht es aber dem Verfassungs- und Verwaltungsrecht näher als dem klassischen Zivilrecht.4 Um eine Aussage über subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht treffen zu können, müsste die oben vorgeschlagene zivilrechtliche Definition eines subjektiven Rechts daher – als Mindestvoraussetzung – auch auf einen öffentlich-rechtlichen Kontext übertragbar sein. Subjektive Rechte finden sich grundsätzlich auch im öffentlichen Recht.5 Anders als im Privatrecht steht hier der einzelne Rechtsinhaber in der Regel einer übergeordneten hoheitlichen Gewalt gegenüber. Das subjektive Recht richtet sich gegen den Träger dieser hoheitlichen Gewalt.6 Ohne dass ausdrücklich verfassungsrechtliche Kategorien ins Spiel gebracht worden wären, nimmt die Definition des subjektiven Rechts als „gesicherte Willensmacht“, sobald sie in den Kontext des öffentlichen Rechts gerät, die Grundelemente eines Abwehrrechts und damit bereits ein im Kern grundrechtliches Element in sich auf. Denn die Konstellation der Überordnung der öffentlichen Gewalt schafft eine reelle Bedrohungslage für die freie Willensbetätigung des Einzelnen. Um diese freie Willensbetätigung geht es der Definition nach im subjektiven Recht. Dieser eigene Wille muss in einem ersten Schritt freigehalten werden von der Negation durch einen stärkeren fremden Willen. Erst dann steht in einem zweiten Schritt dem Einzelnen die Entfaltung seines Willens offen, sei es durch ein aktives Tun, mit dem er den Freiraum ausfüllt, oder – was gleichermaßen zu respektieren ist – durch den Verzicht darauf, diesen Freiraum auszufüllen. Der Wille des Einzelnen ist damit Ausgangspunkt aller Überlegungen zum Wesen des subjektiven Rechts und wird auch in dieser Untersuchung eine zentrale Rolle als Kriterium beim Nachweis grundrechtlicher Ansätze spielen. Erst in den letzten Jahren ist der Begriff der subjektiven Rechte in der Rechtswissenschaft verstärkt auch im Zusammenhang mit dem Gemeinschaftsrecht in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Bei der Beschreibung der subjektiven Rechte des Gemeinschaftsrechts in der Literatur ist der Schritt von der zivilrechtlichen Definition hin zum öffentlichen Recht häufig bereits mitgedacht, ohne dass diese Anpassung ausdrücklich begründet würde.7 In der Regel ist bereits in der Titelzeile oder im Untertitel durch die Bezeichnung „subjektiv-öffentliche“ Rechte die Eingrenzung vor4 Vgl. aber Reich, Bürgerrechte, S. 162, der den klassischen Gegensatz von Privatrecht und öffentlichem Recht im Gemeinschaftsrecht aufgehoben sieht. 5 Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, S. 272; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 23, dort Fn. 20 mit weiteren Nachweisen. 6 Vgl. auch Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, S. 272, die ausschließlich ein gegen die öffentliche Gewalt gerichtetes Rechts als subjektivöffentliches Recht ansehen.
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genommen.8 Auch die Grundfreiheiten sind davon betroffen. Der Rückgriff auf öffentlich-rechtliche Vorgaben führt dazu, dass die Grundfreiheiten bereits auf Ebene der begrifflichen Bestimmung um ein öffentlich-rechtliches Element angereichert werden. Nach dieser Lesart sind die Grundfreiheiten subjektiv-öffentliche Rechte, weil sie – definitionsgemäß – eine „dem Einzelnen kraft öffentlichen Rechts verliehene Rechtsmacht“ darstellen, die es dem Bürger ermöglicht, „vom Staat zur Verfolgung eigener Interessen ein bestimmtes Verhalten verlangen zu können“.9 Sowohl die Herleitung der gemeinschaftsrechtlichen Positionen aus dem öffentlichen Recht als auch die Festlegung auf den Staat als Adressaten der schützenden Rechtsnorm haben den Vorteil, der zunächst wenig aussagekräftigen abstrakten Definition des subjektiven Rechts eine charakteristische, lebensnähere Kontur zu verleihen. Als „Freiraum für die Verfolgung eigener Interessen gegenüber dem Staat“ nähert sich das subjektive Recht zum einen den aus den einzelstaatlichen Verfassungen bekannten Begriffen und Denkmustern an. Zum anderen beschreibt die Gegenüberstellung des Einzelnen und einer – hier „Staat“ genannten – übergeordneten Gegenposition treffend die Situation, in der die Bürger der Gemeinschaft mit der Gemeinschaftsrechtsordnung typischerweise in Berührung kommen. Die Gemeinschaft selber, zunächst von den Exekutiven der Mitgliedstaaten abhängig, wenn sie rechtlich und faktisch auf die Ebene der einzelnen Bürger durchgreifen wollte, tritt mittlerweile immer selbstverständlicher den Bürgern gegenüber als eine europäische hoheitliche Gewalt auf. Die Eingrenzung der Begriffsbestimmung des „subjektiven“ Rechts auf ein „subjektivöffentliches“ Recht ist daher grundsätzlich eine praktikable und hilfreiche Konkretisierung. Dennoch ist zu überlegen, ob es sich an dieser Stelle nicht anbietet, den Begriff des „subjektiven Rechts“ so lange wie möglich offen zu halten und eine vorzeitige Begrenzung auf eine bekannte und vertraute Kategorie von subjektiven Rechten zu vermeiden. 7 Eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit dem Merkmal „öffentlich“ findet sich bei Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 264; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 23, dort Fn. 20 und 21. 8 Vgl. etwa die Beiträge von Kingreen/Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrechts, EuR 1998, S. 263; Classen, VerwArch 88 (1997) S. 645, im Untertitel „Zum Problem der subjektiv-öffentlichen Rechte kraft Gemeinschaftsrechts“; Ruffert, Dogmatik und Praxis des subjektiv-öffentlichen Rechts unter dem Einfluss des Gemeinschaftsrechts, DVBl. 1998, S. 69; Triantafyllou, Zur Europäisierung des subjektiven europäischen Rechts, DÖV 1997, S. 192; von Danwitz, Zur Grundlegung einer Theorie der subjektiv-öffentlichen Gemeinschaftsrechte, DÖV 1996, S. 481; zuletzt Hölscheidt, Abschied vom subjektiv-öffentlichen Recht. Zu Wandlungen der Verwaltungsrechtsdogmatik unter dem Einfluss des Gemeinschaftsrechts, EuR 2001, S. 377 ff. 9 Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 23; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Aufl. § 8 Rn. 2; Classen, VerwArch 88 (1997) S. 645, 668.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
Eine Konsequenz der öffentlich-rechtlich gefärbten Definitionen der subjektiven Rechte im Gemeinschaftsrecht liegt auf der Hand. Der Adressatenkreis ist mit einer solchen Definition auf staatliche (i. S. v. hoheitlicher) Gewalt festgelegt. Die geschützte Willens- bzw. Rechtsmacht kann nicht gleichsam „rundum“ in alle Richtungen und gegenüber allen potenziellen Beeinträchtigungen geltend gemacht werden. Die Beziehungen zwischen Privatpersonen würden nach dieser Definition a priori aus dem Anwendungsfeld der subjektiven Rechte des Gemeinschaftsrechts herausfallen. Die Definition enthielte somit in ihrem Ausgangspunkt bereits eine Vorentscheidung gegen die Annahme einer unmittelbaren Bindung von Privatpersonen an alle Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, die unter der Kategorie der subjektiven Rechte versammelt werden sollen. Wenn man – wie zu zeigen ist – zu Recht eine solche unmittelbare Bindung Privater an bestimmte subjektive Rechte des Gemeinschaftsrechts ablehnt, so ist die Beschränkung der Definition auf subjektiv-öffentliche Rechte für diese Fälle im Ergebnis zutreffend.10 Allerdings kann und soll eine Aussage über die Drittwirkung nicht im Vorfeld und pauschal für alle subjektiven Rechte des Gemeinschaftsrechts getroffen werden, zumal wenn – wie hier – der Ausgangspunkt ein weiter und offener Begriff des subjektiven Rechts sein soll. Die schwierige Frage der Drittwirkung soll zusammen mit den jeweils charakteristischen Eigenarten zu einem späteren Zeitpunkt der Darstellung erörtert werden. Es können dann den einzelnen Rechten bereits mehr spezifische Merkmale zugeordnet werden. Die Besonderheiten des Dreiklangs Einzelner – Mitgliedstaat – Gemeinschaft lassen sich leichter aufspüren und abbilden, wenn die Frage nach der Einbindung der Privatpersonen als durch diese Rechte Verpflichtete möglichst lange offengehalten wird. Der Gerichtshof ist bei der Benennung der subjektiven Rechte ähnlich zurückhaltend. Die „Rechte“, die dem Gemeinschaftsrecht entspringen, sind einfach „droits“ oder aber „droits individuels“, die dem einzelnen Bürger zugeordnet werden, ohne dass ein Schluss auf einen Adressaten möglich wäre oder sich ein Hinweis auf eine objektiv-rechtliche oder subjektivrechtliche Zielrichtung finden ließe. Zwar ist anzunehmen, dass diese Rechte den Marktbürgern im Regelfall gegenüber den Mitgliedstaaten zustehen sollen. Die Möglichkeit, dieses Recht auch gegenüber einem anderen Privaten zu verteidigen, bleibt jedoch denkbar und wird im Einzelfall auch so zugestanden. Ein Recht, das – zunächst ohne den tatsächlich oder potenziell Verpflichteten mit in Blick zu nehmen – einem Einzelnen zugesprochen wird, ist von seiner Struktur her geeignet für eine Bindung, die eine 10 Vgl. auch für die Grundfreiheiten: Jaensch, Unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 253, 263, 287; Roth, FS Everling, S. 1231, 1240 f.; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 23, Fn 21; Möllers, EuR 1998, S. 20, 34 m. w. N.; dagegen offenbar Schilling, EuGRZ 2000, S. 4, 26.
A. Der Begriff des „subjektiv-öffentlichen Rechts‘‘
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Unterscheidung in öffentliche oder privatrechtliche Sphäre nicht notwendig voraussetzt.11 Diese Überlegungen zur Bindungswirkung der subjektiven Rechte für Privatpersonen sind ein konkretes Beispiel für die Schwierigkeiten, den Begriff des subjektiv-öffentlichen Rechts für den Kontext des Gemeinschaftsrechts verwendbar zu machen. Es könnten weitere grundsätzlichere Bedenken gegen einen solchen Versuch der Übertragung von Begrifflichkeiten in das Gemeinschaftsrecht angemeldet werden. Denn auch wenn man die Unterschiede und die Abgrenzung zu den jeweiligen einzelstaatlichen Begrifflichkeiten – etwa der deutschen „Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht“ – bewusst sucht und herausstellt, bleibt die Gefahr der unbewussten Hereinnahme bestimmter Prämissen in die Gemeinschaftsrechtsordnung. Diesem Einfluss ist die Gemeinschaftsrechtsordnung immer ausgesetzt. An dieser Stelle scheint sie besonders anfällig dafür zu sein. Die das klassische öffentliche Recht prägende Dichotomie Individuum – Staat (= Allgemeinheit) kann nur unzureichend die Beziehungen im Dreieck zwischen Individuum, der Gemeinschaft und den einzelnen Mitgliedstaaten nachzeichnen. Die Interessen liegen hier oft quer zu den vertrauten Richtungen. Vor allem kann die Richtung, aus der die Bedrohung der eigenen Interessen erfolgt, häufig eine andere sein als die, aus der Schutz zu erwarten ist. Das Gemeinschaftsrecht wird vom einzelnen Bürger zum Schutz gegen Maßnahmen seines oder eines anderen Staates herangezogen. Die Staaten bedienen sich des Gemeinschaftsrechts, um Verhaltensweisen von Individuen zu konterkarieren, die die territoriale Begrenztheit der einzelstaatlichen Hoheitsgewalt für ihre Interessen ausnutzen wollen. Angriffs- und Abwehrrichtung klaffen auseinander. Alle Interessenträger in diesem Dreieck befinden sich wegen des Nebeneinanders von nationaler und gemeinschaftlicher Rechtsordnung in der Situation, dass zur Durchsetzung einer Position mehrere Rechtsnormen aus verschiedenen Geltungsebenen zur Verfügung stehen. Eine Einheitlichkeit wird im Ergebnis nur dadurch geschaffen, dass für jeden Sachverhalt letztlich nur eine rechtlich verbindliche Rechtsfolge ausgeurteilt werden kann.12 Der Zusammenhalt der Gemeinschaftsrechtsordnung erfolgt also durch die Orientierung auf den Punkt hin, an dem das Nebeneinander der Rechtsnormen aufgehoben ist. Das ist der Schutz der individuellen Rechtsposition, der im Ergebnis erreicht werden kann. Die Stellung des Geschützten erlangt bereits aus diesem Grund eine besondere Stellung für die Systematisierungsversuche der Rechte des Gemeinschaftsrechts. Im Gegenzug verblasst die Rolle der Adressaten. Damit wird auch die Grenze zwischen hoheitlicher und privater Machtausübung fließend.13 11 Reich, Bürgerrechte, S. 162; Schilling, EuGRZ 2000, S. 4, 26; Eilmansberg, Rechtsfolgen und subjektives Recht, S. 87. 12 Ähnlich Pernice, DVBl. 2000, S. 847, 849.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
Wenn man aber lediglich die Freigabe des Begriffes „subjektiv-öffentliches Recht“ für die gemeinschaftsrechtliche Dogmatik erreichen möchte und diese rein begriffliche Gleichsetzung als solche kenntlich macht,14 können diese Bedenken nicht dazu führen, das Arbeiten mit diesen Begriffen in Frage zu stellen. Grundsätzlich sollten diese Begrifflichkeiten aber für zivilrechtliche oder untypische verfassungsrechtliche Erklärungsversuche offen bleiben. II. Die Subjektivierung von Rechten durch die Lehre von der unmittelbaren Wirkung im Gemeinschaftsrecht 1. Ansätze einer spezifisch gemeinschaftsrechtlichen Definition des „subjektiven Rechts“
Über den Schritt vom zivilistischen in den öffentlich-rechtlichen Zusammenhang hinaus stellt sich die zusätzliche Frage, ob der Begriff des „subjektiven Rechts“ in weiteren Einzelaspekten an die Besonderheiten der Gemeinschaftsrechtsordnung angepasst werden muss. Es gibt im Schrifttum Definitionen des „subjektiven Rechts“, die ausdrücklich im Zusammenhang mit gemeinschaftsrechtlichen Fragestellungen entwickelt wurden und daher – möglicherweise – bereits auf die Gemeinschaftsrechtsordnung zugeschnitten sind. Auch wenn die deutschsprachigen Beiträge sich häufig an die bekannten Definitionen aus dem deutschen Verwaltungsrecht anlehnen, zeigt sich die Öffnung für Einflüsse aus anderen Rechtskreisen. Kennzeichnend ist insgesamt eine sehr weite Fassung des Begriffes „subjektives Recht“, sobald er im gemeinschaftsrechtlichen Kontext eingesetzt wird. Ein solcher ausgesprochen offener Begriff ist etwa der Ausdruck „individuell appellable Gewährleistungen“ als Oberbegriff für alle subjektiven Rechte des Gemeinschaftsrechts.15 Der Einfluss des französischen Verwaltungsrechts ist hier bis in die Wortwahl hinein nachweisbar. Subjektiv ist damit jede Norm, die vom Einzelnen vor Gericht gebracht werden kann. 13
Vgl. Reich, Bürgerrechte, S. 162 „Die Differenzierung in Privat- und öffentliches Recht ist dem Gemeinschaftsrecht fremd. Es kommt auf die Wirkungen einer Regel an, nicht auf die zufällige und von Staat zu Staat unterschiedliche Rechtsform an“. Es wird allerdings nicht deutlich, ob Reich damit in der Tat auf die Verlagerung des Schwerpunkts vom Normadressaten auf den Rechtsinhaber anspielt (subjektiver Ansatz), oder lediglich darauf hinweist, dass die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts „effektiv“ gewährleistet sein muss (objektiver Ansatz). 14 Vgl. Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 25. 15 Masing, Die Mobilisierung der Bürger für die Durchsetzung des Rechts, S. 153, sowie S. 176 und 178.
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Eine andere Definition verlangt dagegen – dem deutschen Recht vertrauter – ein faktisches und ein normatives Element als Mindestvoraussetzung für jedes subjektive Recht. Neben einer „rein tatsächlichen Betroffenheit“ des Bürgers durch die gemeinschaftsrechtliche Norm sei demnach erforderlich, dass die Bestimmung auch von ihrem „normativen Inhalt her den Rechtsstatus des Einzelnen berühre.“16 Im Ergebnis lässt allerdings auch diese Ansicht in der ausformulierten Fassung der Definition diese Zweiteilung nicht mehr ohne weiteres erkennen. Das subjektive Recht im Gemeinschaftsrecht wird zur „personalisierten und individualisierten Rechtsmacht, die Rechtsordnung zur Verfolgung eigener Interessen in Bewegung setzen zu können“.17 Auch Kingreen/Störmer greifen in ihrer Definition auf die klassische Wendung der dem einzelnen Bürger verliehenen „Rechtsmacht“ zurück.18 Die Möglichkeit des Einzelnen, einen Rechtssatz vor einem Gericht geltend machen zu können, schält sich auch aus weiteren Definitionsversuchen als übereinstimmende Mindestanforderung an das subjektive Recht heraus.19 Die Einschränkung auf das Geltendmachen vor „nationalen Gerichten“, die sich in einige dieser Definitionen eingeschlichen hat, sollte allerdings nicht übernommen werden. Subjektive Rechte des Gemeinschaftsrechts können auch solche sein, die vor dem Gerichtshof oder dem Gericht erster Instanz geltend gemacht werden. Ansonsten liefe die Untersuchung Gefahr, ausgerechnet die Gemeinschaftsgrundrechte zu weiten Teilen von vornherein aus dem Spektrum der subjektiven Rechte des Gemeinschaftsrechts auszublenden. Nur scheinbar in dieselbe Richtung einer offenen Definition des „subjektiven Rechts“ geht der Versuch von Schilling, die Grundfreiheiten, die Gemeinschaftsgrundrechte und andere verwandte Rechte des Gemeinschaftsrechts unter dem Oberbegriff „bürgerschützende Rechte“ zusammenzufassen.20 Zwar stimmt der Ansatz, die Rechte bzw. Rechtsgrundsätze auf das Individuum als Kristallisationspunkt hin zusammenzufassen, zunächst mit dem Ansatz der vorliegenden Arbeit überein. Die Verwendung des Begriffes „bürgerschützende Rechte“ suggeriert eine Konzeption, die entspre16
Classen, VerwArch 88 (1997) S. 645, 667; Pernice, NVwZ 1990, S. 414, 426;
u. a. 17 Classen, VerwArch 88 (1997) S. 645, 668, der an dieser Stelle ausdrücklich auf Ansätze aus der deutschen Verfassungsrechtslehre zurückgreift, vgl. den Verweis auf Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Rn. 118 zu Art. 19 Abs. 4 GG. 18 Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 263. 19 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Rn. 24 zu Art. 249 EGV; Simm, Der Gerichtshof im föderalen Kompetenzkonflikt, S. 47; Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 263. 20 Schilling, Bestand und allgemeine Lehren der bürgerschützenden allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, EuGRZ 2000, S. 3 ff.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
chend ihrem Ausgangspunkt – dem Individuum – die Rechte diesem Individuum als „subjektive Rechte“ zuordnet. Im Ergebnis verfolgt der Systematisierungsansatz von Schilling aber umgekehrt den Weg über eine Ausgestaltung der Gemeinschaftsgrundrechte und der anderen Rechtsnormen als allgemeine – objektive – Rechtssätze und ausdrücklich nicht als subjektive Rechte.21 2. Die unmittelbare Wirkung des Gemeinschaftsrechts
Die oben genannten, für den gemeinschaftsrechtlichen Kontext entwickelten Definitionen des „subjektiven Rechts“ sollen im Folgenden auf ihre Aussagefähigkeit in Bezug auf grundrechtliche Eigenschaften und Qualitäten überprüft werden. Je weiter die Definition gewählt ist, umso weiter ist der Kreis der Normen gesteckt, die in die Untersuchung miteinbezogen werden können. Umso mehr nähert sich die Definition aber auch einer rein formalen Aussage an. Damit verlöre sie an Wert für die Frage nach dem materiell-rechtlichen Gehalt und der Durchsetzungskraft eines Rechts, die für die Grundrechtsqualität von entscheidender Bedeutung sind. Im deutschen Recht finden sich Regeln für die Unterscheidung zwischen rein formalen und materiellen Rechtspositionen im Umfeld der verwaltungsrechtlichen „Lehre von der Schutznormtheorie“. Die Gemeinschaftsrechtsordnung versucht dieses Spannungsverhältnis über die Lehre von der „unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts“ zu lösen. Der Begriff des subjektiven Rechts im Gemeinschaftsrecht muss daher ins Verhältnis gesetzt werden sowohl zu der deutschen „Schutznormtheorie“ als auch zur Lehre von der „unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts“, d.h. zu der Erkenntnis des Gerichtshofs, dass das Gemeinschaftsrecht den Einzelnen, „ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen“ kann und im Einzelfall „ individuelle Rechte begründet, welche die staatlichen Gerichte zu beachten haben“.22 Dieses Prinzip, das seit Van Gend & Loos zum Synonym für das Eigenleben der neuen Rechtsordnung geworden ist, stellt 21 Schilling, EuGRZ 2000, S. 3, 27 und insbesondere S. 28; ansatzweise auch bei Triantafyllou, DÖV 1997, S. 192, 196 f., der im Ergebnis aber dem „subjektiv-rechtlichen“ Erklärungsversuch den Vorzug zu geben bereit ist. 22 EuGH v. 5.2.1963, Rs. 62/26, „Van Gend & Loos“, Slg. 1963, S. 1, 25 und 26; der Begriff „unmittelbare Wirkung“ wird, soweit ersichtlich, in der deutschsprachigen gemeinschaftsrechtlichen Literatur synonym mit dem Begriff „unmittelbare Anwendbarkeit“ verwendet, vgl. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Rn. 18 zu Art 249 EGV; Streinz, Europarecht (3. Aufl.), S. 102; Triantafyllou, DÖV 1997, S. 192, 193 nimmt auch noch den Begriff „unmittelbare Anwendung“ hinzu. Ähnlich die Terminologie in der französischen Dogmatik, vgl. Isaac, Droit communautaire général, S. 156, der „effet direct“ und „applicabilité directe“ gleichsetzt, und gegen die „applicabilité immédiate“ (S. 152) abgrenzt.
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die Verbindung her zwischen dem Einzelnen und den Rechtssätzen, die in den Römischen Verträgen zunächst als völkerrechtliche Regeln zwischen den Gründungsstaaten vereinbart worden waren. Die „unmittelbare Wirkung“ bringt diese Rechtsregeln in die Reichweite des Einzelnen und legt das Fundament für die Rechtssubjektivität der Gemeinschaftsbürger.23 Der einzelne Gemeinschaftsbürger kann sich – wie im Fall Van Gend & Loos – auf Regeln wie die Zollvorschriften oder auf die Grundfreiheiten berufen, weil der Gerichtshof diese Regeln für „unmittelbar anwendbar“ erklärt. Die Beispiele zeigen bereits, dass – etwa mit den Zollvorschriften – auch solche Normen unmittelbar für den Einzelnen wirken können, die in den einzelstaatlichen Rechtsordnungen üblicherweise gerade nicht mit genuin individualschützenden oder grundrechtlichen Kategorien in Verbindung gebracht werden. Dass bei der Abfassung der Zollvorschriften nicht daran gedacht wurde, hier eine Norm zum Schutze eines Bürgers zu schaffen, spielt keine Rolle. Die „unmittelbare Wirkung“ erlaubt dem Einzelnen, eine gemeinschaftsrechtliche Norm – zunächst unabhängig von deren Rang und vor allem unabhängig von einem ausgewiesenen Berechtigten- und Verpflichtetenkreis – alleine aufgrund ihrer formalen Klarheit und Eindeutigkeit vor Gericht geltend zu machen.24 Damit umfasst die Subjektivierung auch und gerade Normen, die ausgesprochen „objektive“ Rechtssätze sind. Es zeigt sich, weshalb auf das Phänomen der „unmittelbaren Wirkung“ an dieser Stelle eingegangen werden muss. Wenn eine Vorschrift des Gemeinschaftsrechts als unmittelbar wirksam bezeichnet werden kann, weil sie „unbedingt und eindeutig ist und keiner weiteren Umsetzungsakte durch die Mitgliedstaaten mehr bedarf“, dann hält das Gemeinschaftsrecht einen sehr einfachen und wirksamen Mechanismus bereit, um subjektive Rechte des Gemeinschaftsrechts zu erzeugen. Tatsächlich zählen inzwischen eine große Anzahl der Vertragsvorschriften zu den unmittelbar wirksamen Normen und damit zu den subjektiven Rechten. Für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit – den Grundrechtscharakter bestimmter gemeinschaftlicher Rechte – wäre diese Subjektivierung aber nur dann wirklich von Interesse, wenn mit dieser so gewonnenen Klassifizierung als „subjektives Recht“ auch eine gewisse Vorentscheidung darüber fällt, wieweit diese Rechte dem Einzelnen zu dessen individuellem Schutz zugewiesen sind und ob sie auch in einem materiellen Sinne als subjektiv-individualschützend zu bewerten sind. Eine solche Vorentscheidung trifft der Test der unmittelbaren Wirkung aber gerade nicht. Er ist ein rein formaler, schematischer Test. Das deutsche Konzept vom subjektiven Recht und das gemeinschaftsrechtliche Konzept der unmittelbaren Wirkung fallen hier auseinander. 23 EuGH v. 5.2.1963, Rs. 62/26, „Van Gend & Loos“, Slg. 1963, S. 1, 25; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Rn. 24 zu Art. 249 EGV. 24 EuGH v. 5.2.1963, Rs. 62/26, „Van Gend & Loos“, Slg. 1963, S. 1, 26.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
Im deutschen Verwaltungsrecht ist mit der Bezeichnung „subjektives Recht“ stets auch eine Aussage über die materiell-rechtliche Qualität dieses Rechts verbunden. Ein subjektives Recht ist ein individualschützendes Recht – es ist formal dazu geeignet und materiell-rechtlich dazu bestimmt, dem Einzelnen eine durchsetzbare individuelle Rechtsposition zu verleihen.25 Dadurch wird es erst zum subjektiven Recht. Die Abgrenzung erfolgt hier von einer gezielt den Einzelnen schützenden Position aus in Richtung ausschließlich allgemeinschützender – objektiver – Vorschriften, von deren Schutzrichtung der Einzelne nur indirekt, als Teil der Allgemeinheit profitiert. Beispiele für diese Abgrenzung finden sich etwa im Baurecht, Umwelt- und Immissionsschutzrecht oder neuerdings – unter dem Einfluss des Gemeinschaftsrechts – im Vergaberecht.26 Die Rechtsstellung des Individuums, das sich auf ein individualschützendes Recht beruft, ist um die materielle Inhaberschaft an diesem Recht und um den effektiv bewirkten Schutz dieses Rechts verbessert. Anders das Gemeinschaftsrecht. Eine Aussage über die materiell-rechtliche Qualität des Rechts will das Gemeinschaftsrecht nicht treffen, wenn es eine Rechtsnorm als „unmittelbar wirksam“ anerkennt. Wenn der Gerichtshof davon spricht, dass das unmittelbar wirkende Gemeinschaftsrecht „Rechte zugunsten der Einzelnen schafft“ („créer, au profit des particuliers, des droits“),27 so ist damit ebenfalls eine Aufwertung der Rechtsstellung des Individuums verbunden. Anders als bei der Verbesserung der Rechtsposition des Berechtigten aus einer individualschützenden Vorschrift, erhält der Berechtigte aus Gemeinschaftsrecht aber zunächst nur eine rein formale Position. Ob und welche materiellen Positionen sich im Ergebnis aus der gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift ableiten lassen, ist eine zweite, eigenständige Frage. Als Hintergrund, vor dem diese Rechtsprechung des Gerichtshofs sich entwickelt hat, kann das Konzept des Patrimoine juridique aus dem französischen Recht mitgedacht werden. Unter diesem „juristischen Besitzstand“ einer Person ist, sehr schlicht und sehr bildlich gedacht, die Summe aller Rechtspositionen zu verstehen, über die ein Einzelner – einem Vermögen gleich – verfügen kann. Dieser juristische Besitzstand umfasst Eigentumsrechte ebenso wie Forderungen, aber auch rein pro25
Vgl. etwa Ruffert, Subjektive Rechte im Umweltrecht, S. 90 f.; Hölscheidt, EuR 2001, S. 376, 378, 390 f., u. v. m. 26 Die wissenschaftliche Debatte über das Verhältnis der deutschen Schutznormtheorie und der „unmittelbaren Wirkung“ des Gemeinschaftsrechts scheint sich an den Richtlinien zum Umweltschutz entzündet zu haben, vgl. Ruffert, Subjektive Rechte im Umweltrecht, S. 90 ff.; Ruffert, C.M.L.R. 34 (1997) S. 307 ff. 27 Zitiert nach der Zusammenstellung bei Schilling, EuGRZ 2000, S. 3, 25 f, dort Fn. 350 bis 355 für die Nachweise. Ähnliche Wendungen im französischen Originalwortlaut: „engendre dans le chef des particuliers“, „litiges, qui mettent en cause des droits individuels, dérivés de l’ordre juridique communautaire“.
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zessuale Positionen wie die Möglichkeit, in einer bestimmten Prozesssituation bestimmte Handlungen vornehmen zu können. Es wird nicht a priori zwischen rein formalen und materiell-rechtlichen Positionen unterschieden.28 Nur auf den ersten Blick scheinen sich daher die beiden Konzepte – das deutsche subjektive Recht und die unmittelbare Wirkung des Gemeinschaftsrechts – zu entsprechen. In beiden Konzepten wird die Einordnung als „subjektives Recht“ gleichgesetzt mit einer Vermehrung des juristischen Besitzstandes einer Einzelperson. Als eine weitere Gemeinsamkeit findet sich in beiden Konzepten der Rechtsschutzgedanke als treibende Kraft hinter der Gewährung eines „subjektiven Rechts“. Auch hier zeigen sich aber deutliche Unterschiede. Für das subjektive Recht im Sinne des materiell-individualschützenden Rechts liegt diese Verknüpfung auf der Hand. Es ist der Rechtsschutzgedanke, der die Vorschrift zu dem macht, was sie ist. Bei der dogmatischen Herleitung der „unmittelbaren Wirkung“ dagegen ist der Rechtsschutzgedanke nur einer von mehreren Begründungsansätzen. In erster Linie will der Gerichtshof durch die „unmittelbare Wirkung“ der gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften erreichen, dass deren Anwendung sichergestellt und optimiert wird. Der französische Ausdruck „effet utile“ fasst diesen Begründungsansatz unübertroffen knapp in zwei Worte. Darüber hinaus gilt: Indem der Gerichtshof den einzelnen Marktbürgern durch die Einklagbarkeit bestimmte Vorschriften als „Waffe im Prozess“ zugesteht, schafft er auf einer neuen Ebene einen zusätzlichen Druck auf die Mitgliedstaaten, das Gemeinschaftsrecht tatsächlich und effektiv zur Geltung gelangen zu lassen. Dieser Einsatz der unmittelbaren Wirkung ist unter dem Stichwort „dezentrale Vollzugskontrolle“ als einer der bemerkenswerten Schachzüge des Gerichtshof gewürdigt worden.29 Nicht zuletzt sollte die Annahme einer solchen unmittelbaren Wirkung aber auch Rechtsschutz im Einzelfall gewähren. Aus Sicht der Firma Van Gend & Loos war die Berufung auf Art. 25 EGV die letzte Möglichkeit, sich gegen einen aus ihrer Sicht zu Unrecht angehobenen Zolltarif zu wehren. Vom holländischen Staat, der diesen Zoll von der Firma einforderte, war keine Hilfe zu erwarten. Eine Handhabe gegen die Anhebung von Zolltarifen gab es im niederländischen Recht nicht.
28 Weill/Terré, Droit des obligations, S. 4 f., 860 f.; vgl.: Zampini, RTDE 1999, S. 659, 672. 29 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Rn. 21 zu Art. 249 EGV, m. w. N.; Reich, Bürgerrechte, S. 56, der von der doppelten Funktion der Grundfreiheiten spricht, die zum einen der dezentralen Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts als solchem dienen, zugleich aber auch die dem Einzelnen gewährte Rechtsposition ohne Umweg über ein Aufsichtsverfahren sicherstellen sollen.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
Diese drei Motive hinter der unmittelbaren Wirkung – „effet utile“, dezentrale Vollzugskontrolle, Rechtsschutzaspekt – sind zwar eigenständig darstellbare und gegeneinander abgrenzbare Elemente. Im Ergebnis sind sie aber als eine einheitliche Ratio der „unmittelbaren Wirkung“ stark ineinander verwoben. Dass der Rechtsschutz des Einzelnen hier an die Nützlichkeit für die Geltungsintensität einer Teilrechtsordnung gekoppelt ist, wird bei der Frage nach der Grundrechtsqualität der Grundfreiheiten eine entscheidende Rolle spielen. In dem Begriff der „funktionalen Subjektivierung“, wie die Literatur ihn für diese Kopplung treffend verwendet, deutet sich bereits der instrumentale Charakter derjenigen Rechte an, die ihre subjektive Ausrichtung allein der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts verdanken.30 Für die Frage nach der Aussagekraft über die Nähe eines Rechts zum Individualrechtsschutz und zum Grundrecht ergibt sich daraus die folgende vorläufige Unterscheidung: Ein subjektives Recht nach der deutschen Schutznormtheorie kann sich voll und ganz auf den Rechtsschutzgedanken als Ratio stützen. Im Gemeinschaftsrecht kann sich ein Recht, das aufgrund seiner unmittelbaren Wirkung als „subjektives Recht“ gilt, auf den Rechtsschutzgedanken nur in einem – hier noch nicht weiter beleuchteten – Zusammenspiel mit anderen Geltungsgründen stützen. Der Rechtsschutzaspekt ist daher potenziell zumindest relativiert. Deshalb ist es folgerichtig, die beiden Konzepte trotz der vordergründigen Ähnlichkeiten nicht zur Deckung zu bringen. Der Begriff „subjektives Recht“ kann, wenn er auf gemeinschaftliche Rechte übertragen werden soll, nicht mit den Inhalten der Schutznormtheorie des deutschen Verwaltungsrechts belegt werden. Obwohl der Gerichtshof sich nicht eindeutig festgelegt hat, einer bestimmten Lehre den Vorzug zu geben, steht die Konzeption von der „unmittelbaren Wirkung“, jedenfalls in der Form, in der sie vom Gerichtshof ursprünglich entwickelt wurde, dem oben kurz skizzierten französischen Modell (im Sinne einer objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle) sichtlich näher.31 30 Diese Verknüpfung wird in der Literatur wie folgt umschrieben: „Das Prinzip der funktionalen Subjektivierung des Gemeinschaftsrechts“, vgl. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Rn. 21 zu Art. 249 EGV; Simm, Der Gerichtshof im föderalen Kompetenzkonflikt, S. 47, „Der Einzelne wird zum Katalysator der Integration“, unter Verweis auf: Schwarze, FS Pescatore S. 637, 643; Streit/Mussler, E.L.J. 1995, S. 5, 13, 15 „Integration from below“; Behrends, EuR 1992, S. 145, 147. 31 Schilling, EuGRZ 2000, S. 27. Auch das Gemeinschaftsrecht und das französische Recht können der Frage, inwieweit eine Vorschrift die Kraft hat, Belange des Einzelnen gegenüber anderen rechtlichen Positionen zur Durchsetzung zu verhelfen, in der Sache selbstverständlich nicht ausweichen. Praktisch sind diese Unterschiede in der Konzeption vor allem unter dem Gesichtspunkt der Zulässigkeit von Indivi-
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3. Objektive und subjektive Elemente einer Rechtsnorm: „minimaler subjektiver Anteil“ als Mindestvoraussetzung eines subjektiven Rechts im Gemeinschaftsrecht
Aus dem Vorstehenden ist deutlich geworden, dass hinter dem Etikett „subjektiv“ für einen Rechtssatz des Gemeinschaftsrechts auch ein Recht mit – materiell-rechtlich gesehen – minimalem subjektiven Anteil stehen kann. Es reichen die Voraussetzungen der „unmittelbaren Wirkung“, die eine Vorschrift einklagbar machen, um sie in die Kategorie der gemeinschaftsrechtlichen „subjektiven Rechte“ einzuordnen.32 Damit fällt im Gemeinschaftsrecht die Definition des subjektiven Rechts mit der Definition der „unmittelbaren Wirkung“ zusammen. Der bildhafte Begriff vom „juristischen Besitzstand“ kann an dieser Stelle helfen, die Rolle dieses subjektiven Mindestanteils innerhalb eines „subjektiven Rechts“ zu veranschaulichen.33 Eine rein objektive Rechtsnorm, die keine unmittelbare Wirkung hat und daher nicht einklagbar ist, kann nicht Teil dieses Besitzstandes werden. Erst die Tatsache, dass einer objektiven Rechtsnorm unmittelbare Wirkung zugesprochen wird, bringt diese Norm in den Kreis der Positionen, die den juristischen Besitzstand des Individuums bilden. Alle gemeinschaftsrechtlichen Rechtsnormen innerhalb dieses Besitzstandes beinhalten daher eine objektive und eine subjektive Komponente. Die subjektive Komponente kann allerdings in ihrem materiellen Gehalt so sehr entleert sein, dass sie sich in der „Einklagbarkeit“ erschöpft. Sie besteht dann nur noch in der formellen Position, ohne die das Recht nicht Teil des Besitzstandes hätte werden können. Diese Konstellation beschreibt einen Grenzfall. In anderen Fällen, die zwischen den Extrempunkten zu liegen kommen, ist das Verhältnis der subjektiven Komponente zum objektiven Anteil einer Rechtsnorm ausgewogener. Wichtig ist nach diesem Modell nur, ob überhaupt ein subjektives Element nachweisbar ist, und im Anschluss daran die Erkenntnis, dass der Anteil des subjektiven Elements variabel ist und sich zwischen dem Grenzwert des Mindestanteils – der punktförmigen Ausdehnung – hin zu einem prägenden, großflächigen Anteil bewegen kann. dualklagen von Bedeutung, vgl. dazu etwa: Triantafyllou, DÖV 1997, S. 192, 193, 200; Schwarze, NJ 1994, S. 53, 53; Ruffert, C.M.L.R. 34 (1997) S. 307 ff.; u. v. m. 32 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Rn. 24 zu Art. 249 EGV. Die „unmittelbare Wirkung“ wird teilweise bereits als Regelfall für alle Normen des Gemeinschaftsrechts angesehen, vgl. Ruffert in: Calliess/Ruffert, Rn. 22 zu Art. 220 EGV, m. w. N.; Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 233; u. v. m.; grundsätzlich dazu: Bleckmann, RIW 1985, S. 917, 921; Bleckmann in: Bleckmann/Dellanay/Kovar u. a. (Hrsg.), Les recours des individus, S. 85, 131 ff. 33 In Anlehnung an das Patrimoine juridique des französischen Rechts, wie es oben angesprochen wurde.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
Dieses Bild lässt sich auf die Überlegungen zu den Begründungsansätzen oder Zielvorgaben übertragen, die hinter den einzelnen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts stehen. Der Rechtsschutzgedanke steht dabei für das subjektive Element. Andere Begründungen (effet utile, Binnenmarktziel, etc.) bilden den objektiv-rechtlichen Anteil innerhalb einer Vorschrift. Solange der Rechtsschutzgedanke auch vertreten ist, sei es auch nur als ein Begründungsansatz von vielen und in kaum nachweisbarer Dosierung, ist der Mindestanteil erreicht, und es kann berechtigterweise von einem subjektiven Recht gesprochen werden. Der Rechtsschutzgedanke kann dann nicht mehr hinweggedacht werden, auch wenn er lediglich eine formale Position gewährt. In welchem Kräfte- oder Abhängigkeitsverhältnis die verschiedenen Begründungsansätze zueinander stehen, lässt sich im Bild durch das variable Verhältnis der Ausdehnung von subjektivem und objektivem Anteil an der Gesamtfläche darstellen. Diesen Mindestanteil an subjektivem Element – „unmittelbar wirksam zu sein“ – erfüllen eine immer größere Anzahl Vorschriften des Gemeinschaftsrechts. Zum Teil wird die unmittelbare Wirkung bereits als Regelfall angesehen.34 Alle diese Normen können nach der weiten Definition des gemeinschaftsrechtlichen subjektiv-öffentlichen Rechts für sich in Anspruch nehmen, subjektive Rechte zu sein. Auf eine wichtige Einschränkung wurde bereits hingewiesen: Die Weite der Definition führt notwendigerweise zu einer Verwässerung der Aussagekraft. Die Tatsache, dass diese Rechte als subjektive Rechte bezeichnet werden, erlaubt noch nicht den Schluss auf einen verfassungsrechtlich oder möglicherweise sogar überpositiv verstandenen Schutzcharakter dieser Vorschriften. Die Rechtssubjektivität des Einzelnen, die einige dieser Normen verleihen, ist eine rein formale. Sie bedeutet nicht zwangsläufig, dass der Einzelne auch in einem grundrechtlichen Sinne wirklich als Individuum, als Person, in ihren Eigenheiten und auch Schwächen – etwa der irrational ausgeübten Willensfreiheit – anerkannt und respektiert wird.35 Innerhalb dieser 34 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Rn. 23 zu Art. 249 EGV und Rn. 22 zu Art 220 EGV, m. w. N.; Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 233; eine weitergehende Unterscheidung trifft an dieser Stelle Hatje, Gemeinschaftsrechtliche Steuerung, S. 311 f., der nicht in jeder unmittelbar wirksamen Vorschrift des Gemeinschaftsrechts auch ein subjektives Recht sehen möchte. Ein subjektiv-rechtlicher Charakter müsse jeweils im Einzelfall aus Wortlaut und Zielsetzung herleitbar sein. 35 Irrationalität als Schwäche aus Sicht eines auf ökonomischen Prämissen basierten Teilordnungsrahmens, wie des Binnenmarktes; vgl. in dem Zusammenhang auch Weiler, Rev.M.U.E. 1996, S. 35, 45 f. und sein anekdotisch anmutendes Beispiel einer fiktiven Binnenmarktvorschrift, die eine Arbeitszeitbegrenzung von 20 Arbeitsstunden für Sklaven vorsieht, die sich dank der unmittelbaren Wirkung dieser Vorschrift auf diese Stundenbegrenzung berufen dürfen. Dass ihre Stellung als echte, vollwertige Rechtssubjekte weiterhin zweifelhaft bleibt, ist für Weiler der Beweis, dass allein über die unmittelbare Wirkung die „echte“ Rechtssubjektivität nicht erreicht werden könne.
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Kategorie der „subjektiven Rechte“ wird es daher ganz entscheidend darauf ankommen, wie stark dieser subjektive Anteil der jeweiligen Norm ist und ob sich weitere materielle Hinweise auf einen grundrechtlichen Charakter nachweisen lassen. 4. Eine Arbeitshypothese: Je stärker das subjektive Element innerhalb einer Rechtsnorm, desto mehr nähert diese Norm sich einem Grundrecht an
Die Untersuchung geht davon aus, dass ein starkes subjektives Element das wichtigste Indiz für den grundrechtlichen Charakter einer Rechtsnorm ist. Einfachgesetzliche subjektive Rechte im Sinne von Ansprüchen sollen hier bewusst ausgeklammert werden. Mit den Grundfreiheiten und den anderen subjektiven Rechten des Gemeinschaftsrechts, die in der Aufstellung verglichen werden, kommen ohnehin ausschließlich Normen des Primärrechts und damit der höchsten hierarchischen Stufe für eine Einordnung als Grundrechte in Betracht. Als grobe Zielvorgabe werden diese subjektiven Rechte auf die Kriterien „grundlegend/wichtig“ und „hoher subjektiv-individualschützender Anteil“ hin abgefragt. Ohne einer Festlegung von Kriterien für die Grundrechtsqualität vorgreifen zu wollen, soll diese Zielvorgabe des „hohen subjektiv-individualschützenden Anteils“ bereits an dieser Stelle kurz begründet werden. Sie lässt sich vor allem an der überragenden Bedeutung des freien Willens des einzelnen Individuums festmachen. Dieser freie Wille ist Ausgangspunkt und Kernbereich eines denkbaren geschützten grundrechtlichen Freiraums. Er ist untrennbar mit der Persönlichkeit des Einzelnen, als Subjekt seines Denkens und Handelns, verbunden. Ziele im Sinne einer Zweckbestimmung, die der Einzelne aufgrund – d.h. zeitlich und logisch nach – einer Willensbetätigung durch das Geltendmachen seines Rechts verfolgt, oder auch externe, allgemeinschützende Ziele, die zugleich mit der Rechtsausübung verfolgt werden, können der Willensbildung nur nachfolgen.36 Sie können nicht zwischen die Persönlichkeit und den freien Willen treten. Der Schutz der Willensfreiheit kann also nicht durch andere „sekundäre“ Ziele vermittelt werden, sondern ist von Grund auf unmittelbar. Die Freiheit des Individuums ist Selbstzweck. Der Schutz dieser Willensfreiheit ist aber am besten abgebildet in der Idee eines (Grund-)Rechts, das diese enge Anbindung an die Einzelperson aufgreift und von einer Koppelung an sekundäre oder externe Ziele freistellt. Das geschieht am vollständigsten durch den zweckfreien 36 Gemeint sind die positiven Effekte, die jeder Gebrauch einer Grundfreiheit für die Durchmischung der Teilmärkte, für die Marktintegration und damit für das objektive Ziel Binnenmarkt hat.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
Rechtsschutzgedanken, der hier durch die rein subjektive Komponente innerhalb einer Rechtsnorm dargestellt wird. Die Grundrechte verkörpern diese Idee eines zweckfreien Rechtsschutzes und damit die Idee eines subjektiven Rechts. Das klingt an in Formulierungen, die etwa den „Kern der Grundrechte in der Achtung vor dem jeweiligen individuellen Lebensentwurf des einzelnen Menschen“ erkennen,37 oder in Äußerungen, die – letztlich nicht überraschend – in den Grundrechten das „Muster des subjektiven öffentlichen Rechts“38 oder, moderner gewendet, „Prototypen subjektiver Rechte“ sehen.39 Diese Vorgabe – „Je stärker das subjektive Element, desto eher die Einordnung als echtes Grundrecht“ – ist angreifbar. Ausgerechnet die Gemeinschaftsgrundrechte selbst werden von einigen Autoren nicht zu den „subjektiven Rechten“ des Gemeinschaftsrechts gezählt, sondern ihnen wird ein typisch „objektiv-rechtlicher“ Charakter attestiert. Im Rahmen des bereits kurz gestreiften Systematisierungsansatzes, der die „bürgerschützenden Rechte“ des Gemeinschaftsrechts als Oberbegriff wählt, kehrt sich das Verhältnis von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten um.40 Die Gemeinschaftsgrundrechte werden auf ihre Funktion als „objektive Rechtssätze“ zurückgeführt. Eine subjektiv-rechtliche Komponente soll ihnen ausdrücklich nicht zukommen. Damit fielen diese Rechtssätze in der Tat teilweise mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als gedanklichem Prinzip zusammen. Sie binden die öffentliche Gewalt, ohne dem Bürger ein subjektives Recht auf ihre Beachtung einzuräumen. Umgekehrt sind in dieser Logik die Grundfreiheiten a priori subjektive Rechtssätze, die dann um objektive Elemente angereichert werden, etwa bei der Frage nach den grundfreiheitlichen Schutzpflichten.41 Diese Auffassung erklärt sich vor dem Hintergrund der von diesen Autoren selbst gewählten Prämisse, dass „die Idee des subjektiven Rechts dem Gemeinschaftsrecht grundsätzlich fremd“ bleibe.42 In eine ähnliche Richtung geht die Kritik, die an der fehlenden Unmittelbarkeit der Grundrechte anknüpft, um deren Qualität als subjektive Rechte in Zweifel zu ziehen. Subjektive Rechte sind nach dieser Ansicht grundsätzlich auf Ebene des einfachen Rechts angesiedelt. Die Grundrechte als „la37
Pernice, DVBl. 2000, S. 847, 850. Masing, Mobilisierung der Bürger, S. 149 f. 39 Füller, Warenverkehrsfreiheiten, S. 31. 40 Vgl. oben A. II. 1. am Ende; Schilling, EuGRZ 2000, S. 3, 4 ff. 41 Schilling, EuGRZ 2000, S. 3, 27, der aber ausweislich der Fußnote 388 durchaus bemerkt, dass er sich hiermit auf einsames Terrain begibt und als Kompromiss auf Formulierungen wie „Individualgarantien“ zurückgreift; dazu Schillings Verweis auf Due/Gulmann in: FS Mancini, S. 407 „Rights of the individual“. 42 Schilling, EuGRZ 2000, S. 3, 29. 38
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pidar formulierte“ Vorschriften könnten keine unmittelbare Grundlage subjektiver öffentlicher Rechte sein, sondern bedürften stets einer gesetzlichen Präzisierung.43 Den Gesetzgeber treffe ein Subjektivierungsauftrag. Ohne diesen Zwischenschritt der Umsetzung in einfachgesetzliche Regelungen könne von einem subjektiven Recht nicht gesprochen werden. Als oberste Verfassungsprinzipien seien die Grundrechte so grundlegend und so offen formuliert, dass bereits aus rechtstechnischen Erwägungen erst die Konkretisierung durch einfachgesetzliche, individualschützende Normen erfolgen müsse. Auch diese Bedenken gegen ein subjektiv-rechtliches Verständnis von Grundrechten sind aber im Ergebnis nicht so durchgreifend, dass vom hier gewählten ausdrücklich subjektiven Ausgangspunkt abgerückt werden müsste. Dass Grundrechte stets auch objektive Rechtssätze sind und eine objektiv-institutionelle Komponente in sich tragen, ist unbestritten und steht nicht im Widerspruch zu dem Versuch, im Rahmen dieser Untersuchung die ursprüngliche und – nach der hier vertretenen Auffassung – stärkste Funktion eines Grundrechts als Maßstab für die Grundrechtseigenschaft zu isolieren und in den Vordergrund zu stellen. Triantafyllou etwa stellt in seiner Kritik selber klar, dass der von ihm geforderte Zwischenschritt der Subjektivierung zwar den Normalfall abbilde, um vom verfassungsrechtlich abgefassten Grundrecht als Programmsatz zur Entstehung eines subjektiven Rechts auf einfachgesetzlicher Ebene zu gelangen, dass aber für den Fall, in dem diese Subjektivierung aus welchem Grund auch immer ausbleibe, die Grundrechte automatisch die individualschützende Funktion des ausgefallenen einfachgesetzlichen subjektiven Rechts wieder übernähmen. Es sei der Richter, der im konkreten Fall das Grundrecht so anwende, dass die Subjektivierung gleichsam an Ort und Stelle, an der das Grundrecht benötigt wird, erfolgt.44 Die offene Formulierung der Grundrechte scheint kein Hindernis für die Annahme einer solchen unmittelbaren Schutzwirkung zu sein. Es ist vielmehr gerade diese ursprüngliche Schutzfunktion der Grundrechte, die in diesen Konstellationen wieder auflebt. Dass sich die Grundrechte im Normal- oder Idealfall der einfachgesetzlichen Umsetzung bedienen, um eine Art „Feinabstimmung“ in der täglichen Anwendung zu erreichen, besagt daher nicht, dass dies auf Kosten der individualschützenden Kraft der Grundrechte als solcher geht. Diese individualschützende Kraft tritt nur im Regelfall nicht so offen zu Tage und wird erst in Ausnahmekonstellationen wieder sichtbar.
43
Triantafyllou, DÖV 1997, S. 192, 197. Triantafyllou, DÖV 1997, S. 192, 197; Wahl, DVBl. 1996, S. 641, 648; vgl. dazu auch Gellermann, Grundrechte, S. 3 f. der die Grundrechte „selbstverständlich“ auch ohne eine interpositio legislatoris für unmittelbar geltendes Recht hält. 44
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
Zudem kann gegen diese Ansicht eingewendet werden, dass ihre Argumentation sehr stark auf den Grundrechtsbegriff des deutschen Grundgesetzes zugeschnitten ist. Die Grundrechte des deutschen Grundgesetzes treten tatsächlich zunächst als Teile der Verfassung in Erscheinung, die Berufung auf diese Grundrechte ist damit bereits in einem praktischen Sinne der Berufung auf einfachgesetzliche Vorschriften nachgeschaltet. Die Lösung eines Falles unmittelbar über die Anwendung eines Grundrechts ist in den Entscheidungsgründen nationaler Gerichte ultima ratio. Für die Gemeinschaftsgrundrechte gelten diese Überlegungen nicht in gleichem Maße. Die Gemeinschaftsgrundrechte sind anders als die Grundrechte des Grundgesetzes (noch)45 nicht niedergeschrieben und haben keinen vergleichbaren abstrakt festgelegten Platz innerhalb eines praktischen Prüfungs- und Entscheidungszusammenhangs. Der Gerichtshof wendet die Gemeinschaftsgrundrechte unmittelbar auf die vorgelegten Sachverhalte an. Er leitet neue Gemeinschaftsgrundrechte jeweils dann her, wenn er sie im Einzelfall benötigt. Diese „entspanntere“ Art des Umgangs mit den Grundsatznormen der höchsten Hierarchiestufe gilt auch für die Grundfreiheiten, um deren Charakter als Grundrechte es hier geht. Obwohl es auch im Gemeinschaftsrecht unterhalb der primärrechtlichen Art. 28 f. EGV, Art. 39 EGV etc. eine sekundärrechtliche – der einfachgesetzlichen Ebene vergleichbare – Ebene gibt, hat der Gerichtshof keinen Zweifel daran gelassen, dass für den Einzelnen die Berufung auf die hierarchisch hochstehenden, sehr weiten und – um die Kritik aufzugreifen – „lapidar formulierten“ Vertragsvorschriften als subjektive Rechte möglich ist. Diese Vorschriften kommen dann auch, z. T. unverbunden neben den ebenfalls anwendbaren sekundärrechtlichen Vorschriften, in den gerichtlichen Entscheidungen zur Anwendung und auch zum Abdruck. Entsprechend werden, wie bereits erwähnt, auch im gemeinschaftsrechtlichen Kontext die Grundrechte als „Muster und Prototypen des subjektiven öffentlichen Rechts“ bezeichnet. Die Verbindung zwischen der Idee des subjektiven Rechts und der Idee des Grundrechts wird damit trotz der vorgestellten Bedenken in aller Regel als eng angesehen.46 Eine eindeutige Abgrenzung muss allerdings in Richtung der bloßen Programmsätze erfolgen, die zum Teil bereits deshalb auch unter die Bezeichnung „Grundrechte“ im weitesten Sinne gefasst werden, weil sie bedeutend und grundlegend sind. Sie sind aber gerade nicht individualschützend, sondern als Staatszielbestimmungen oder Programmnormen objektive Rechtsregeln, die auf die tatsächliche und rechtliche Position des Einzelnen allein 45
Vgl. inzwischen die EU-Grundrechte-Charta. Masing, Mobilisierung der Bürger, S. 149; Pernice, DVBl. 2000, S. 847, 850; Füller, Warenverkehrsfreiheiten, S. 31 „ Grundrechte [sind] Prototypen subjektiver Rechte“; Griller, ÖJT (1994) Bd. I/2, S. 7; Gellermann, Grundrechte, S. 3 f., 46 „Primat der subjektiv-rechtlichen Seite“, m. w. N. 46
A. Der Begriff des „subjektiv-öffentlichen Rechts‘‘
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über die Vermittlung eines dazwischentretenden politischen und legislativen Prozesses einwirken können.47 Für die Abwehrrechte, die dem hier angestrebten zugespitzten Grundrechtsmodell zugrunde liegen sollen, kommt diesen Überlegungen nur eine zweitrangige Rolle zu. Staatsziele wirken in der Regel nicht als an die Exekutive adressierte Verbote, sondern als an den Gesetzgeber gewandte „Handlungs- und Gestaltungsaufträge“. Aus der Perspektive des subjektiven Rechts ist vor allem das Grundrecht als Abwehrrecht und als Freiraum für den Willen des Einzelnen von Interesse. Damit ist in der Tat ein stark vereinfachtes Grundrechtsmodell als Ausgangs- und Zielpunkt gewählt. Die Grundrechtsdogmatik der einzelnen Staaten ist über dieses holzschnittartige Modell des Abwehrrechts als Freiheitsraum inzwischen hinweggegangen und hat von diesem Konzept aus die Erklärungsmuster zu verschiedenen Wirkungsweisen grundrechtlicher Rechtsnormen (Leistungsrechte, Teilhaberechte, etc.) ausdifferenziert.48 Dennoch hat die Orientierung an dem bewusst einfachen Modell eines Grundrechts als Abwehrrecht neben dem eigenständigen Erklärungswert, der jedem Modell zukommt, für die Untersuchung der Dogmatik der Gemeinschaftsgrundrechte einen besonderen Wert. Dem Gerichtshof selbst liegt ein solches Denken in – zunächst – holzschnittartigen Lösungen nicht fern. Der Hintergrund von mittlerweile fünfzehn verschiedenen Rechtsordnungen und Rechtswissenschaften zwingt den Gerichtshof zu Lösungen, bei denen Klarheit und Einfachheit Vorrang vor der Übereinstimmung dieser Lösung mit dem Forschungsstand der Verfassungslehre einer oder mehrerer mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen haben. In der Gemeinschaftsrechtsordnung, die maßgeblich aus den Lösungen besteht, die der Gerichtshof anbietet, ist die Klarheit und damit die Nachvollziehbarkeit durch Juristen aller Mitgliedstaaten eine wichtige Quelle der Akzeptanz von rechtlichen Vorgaben. Daneben tritt ganz entscheidend der Zeitablauf als ein bestimmendes Moment. Die Grundrechtsdogmatik auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene hat das Stadium der Grundrechtsdogmatik auf Ebene der Mitgliedstaaten noch nicht erreicht. Der Wachstums- und Entwicklungsprozess der Dogmatik verläuft zwar für die Gemeinschaftsgrundrechte spürbar schneller als in den einzelnen Staaten, weil das vorhandene Wissen um den Prozess, den die nationa47 Vgl. EuGH v. 15.6.1978, Rs. 149/77, „Defrenne III“, Slg. 78, S. 1365, 1378, Rz. 19–23, 30–32, in denen der Gerichtshof sehr klar die Vorschriften mit „im wesentlichen programmatischen Charakter“ gegen solche Vorschriften bzw. Rechtssätze abgrenzt, die subjektive Rechte (und dann auch Grundrechte) sein können. Siehe dazu unten D. III. 2. zu Art. 141 Abs. 1 EGV als Grundrecht. 48 Vgl. Häberle, DVBl. 2000, S. 840, 840, der die „ausgefeilte Grundrechtsdogmatik“ als wertvollsten Beitrag Deutschlands zur europäischen Verfassungsgemeinschaft ansieht, während die Franzosen seiner Ansicht nach immerhin ihr „Menschenrechtspathos“ beisteuern könnten.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
len Grundrechtslehren durchlaufen haben, für die Übertragung auf die gemeinschaftliche Ebene bereitsteht. Auch das Gemeinschaftsrecht wird aber sinnvoller Weise erst in dem Moment eine fein verzweigte Dogmatik etwa zu Teilhabegrundrechten oder „Grundrechten der dritten Generation“ entwickeln, wenn die rechtlichen und tatsächlichen Parameter sich entsprechend gewandelt haben und die Lösung dieser Probleme auf der gemeinschaftlichen Tagesordnung steht.49 Das Konzept des Grundrechts als Abwehrrecht gewinnt daher zu Recht im Zusammenhang mit den Grundrechten des Gemeinschaftsrechts wieder verstärkt an Bedeutung.50
III. Zusammenfassung: Der Begriff des subjektiv-öffentlichen Rechts im Gemeinschaftsrecht Als gemeinsamer Nenner liegt der Aufstellung der „subjektiven Rechte des Gemeinschaftsrechts“ die folgende sehr weitgefasste Definition zugrunde: Ein subjektives Recht im Gemeinschaftsrecht ist stets dann gegeben, wenn der „juristische Besitzstand“ des Einzelnen um die Möglichkeit angereichert ist, eine Regel des Gemeinschaftsrechts vor Gericht geltend zu machen. Diese Definition fällt im Ergebnis mit der Umschreibung der „unmittelbaren Wirkung“ des Gemeinschaftsrechts zusammen. Auch ein minimaler Anteil an Subjektivität, der sich in der Möglichkeit der prozessualen Geltendmachung (und damit in der Definition der unmittelbaren Wirkung) erschöpft, macht eine Norm nach diesem Verständnis zu einem subjektiven Recht. In jedem subjektiven Recht finden sich demnach subjektive und objektive Elemente in veränderlichem Anteil und unterschiedlich starker Ausprägung. Um einen grundrechtlichen Charakter nachweisen zu können, wird die Arbeitshypothese aufgestellt, dass ein starkes subjektives Element das kennzeichnende Merkmal eines Grundrechts in seiner ursprünglichen abwehrrechtlichen Funktion ist. Die genuin grundrechtliche Funktion – einen Raum für die Entfaltung des freien Willens des Einzelnen zu sichern – kommt vor allem darin zum Ausdruck, dass die individualschützende (subjektive) Zielrichtung einer Norm nicht durch weitere externe (objektive) Zielrichtungen überlagert und geschwächt wird. Für die subjektiven Rechte wie die Grundfreiheiten, die zunächst als objektive Rechtssätze konzipiert waren und erst über die Lehre von der „unmittelbaren Wirkung“ eine individualschützende Zielrichtung zugesprochen erhielten, muss diese Einschränkung bereits hier gemacht werden. Die individualschützende (subjek49 50
Nettesheim, EuZW 1995, S. 106, 108. Pernice, DVBl. 2000, S. 847, 856.
B. Rechte aus dem EG-Vertrag, insbesondere die Grundfreiheiten
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tive) Zielrichtung konkurriert hier mit den externen Zielsetzungen des „effet utile“ und der „dezentralen Vollzugskontrolle“. Bevor im anschließenden Kapitel die einzelnen „subjektiven Rechte“ des Gemeinschaftsrechts analysiert werden, soll auf die Schwäche der weiten Definition noch einmal hingewiesen werden: Die Tatsache, dass die Rechte als subjektive Rechte bezeichnet werden, sagt noch nichts aus über einen verfassungsrechtlich oder möglicherweise sogar überpositiv verstandenen Schutzcharakter, den sie für den Einzelnen haben oder nicht haben. Die Rechtssubjektivität des Einzelnen, die ihm aus diesen Vorschriften erwächst, ist zunächst eine rein formale Stellung. Sie ist nicht ohne weiteres mit der vorrechtlichen Subjektstellung des Menschen gleichzusetzen. Eine solche weitergehende auch materielle Rechtssubjektivität muss für jedes der zu untersuchenden subjektiven Rechte gesondert und unter Berücksichtigung weiterer, auch nicht-juristischer kontextueller Faktoren bestimmt werden. Das Verhältnis der individualschützenden Komponente einer Norm zu anderen, objektiven Zielrichtungen wird dabei wichtiger Gradmesser sein.
B. Subjektive Rechte aus dem EG-Vertrag, insbesondere die Grundfreiheiten Das Gemeinschaftsrecht kennt auf der Ebene des Primärrechts eine Reihe „subjektiver Rechte“. Die weit höhere Anzahl von subjektiven Rechten, die sich unmittelbar aus den Texten des gemeinschaftlichen Sekundärrechts ergeben, soll in der vorliegenden Untersuchung nur in kurzen Querverweisen Berücksichtigung finden. Denn für einen Vergleich mit den Gemeinschaftsgrundrechten kommen vorrangig die subjektiven Rechte in Betracht, die zur höchsten Stufe innerhalb der Normenhierarchie des Gemeinschaftsrechts gehören und damit – wie die Grundrechte – Teil der primärrechtlichen „Verfassungsebene“ der Gemeinschaftsrechtsordnung sind. Innerhalb der primärrechtlichen Ebene bietet sich als erste wichtige Unterscheidung die Zweiteilung an, die durch die Quellen der Rechtsnormen vorgezeichnet ist, d.h. die Einteilung der Rechtsnormen in geschriebenes und ungeschriebenes Recht. Die ungeschriebenen subjektiven Rechte des Gemeinschaftsrechts sind vor allem die Gemeinschaftsgrundrechte.51 In den Vertragstexten finden sich die Grundfreiheiten und eine Vielzahl anderer, 51
Die Grundrechte-Charta hat die ungeschriebenen Gemeinschaftsgrundrechte mittlerweile in geschriebenes Recht überführt. Zu den ungeschriebenen subjektiven Rechten des Gemeinschaftsrechts könnten denkbar auch die Schadensersatzansprüche nach der Francovich-Rechtsprechung gezählt werden, vgl.: Grzeczick, Subjektive Gemeinschaftsrechte als Grundlage des europäischen Staatshaftungsrechts, EuR 1998, 417 ff. Sie sollen hier aber nur kurz erwähnt und nicht in die Untersuchung mit einbezogen werden, vgl. aber unten F. IV. am Ende des ersten Teils.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
sehr unterschiedlicher Vorschriften, denen die Einklagbarkeit und damit die Qualität als subjektive Rechte gemeinsam ist. Weitere Unterscheidungen innerhalb des Kreises der geschriebenen subjektiven Rechte liegen nicht in gleicher Weise nahe wie die Aufteilung in geschriebene und ungeschriebene Rechtssätze. Die im EG-Vertrag verankerten subjektiven Rechte des Gemeinschaftsrechts könnten etwa danach differenziert werden, ob ihre subjektiv-rechtliche Qualität bei Aufnahme in den Vertragstext bereits feststand oder ob sie – wie die Grundfreiheiten und die große Mehrheit der subjektiven Rechte – erst im Laufe der Zeit mit Anerkennung ihrer „unmittelbaren Wirkung“ zu subjektiven Rechten geworden sind. Nur einige wenige subjektive Rechte gibt der Vertragstext erkennbar als solche vor. Diese Rechte sind, so die Annahme, die dieser Kategorisierung zugrunde liegt, bereits bei ihrer Abfassung als subjektive Rechte konzipiert worden. Auch ohne den Kunstgriff der „unmittelbaren Wirkung“ stehen diese Rechte von ihrer Schutzrichtung her dem einzelnen EU-Bürger als dessen eigene Gewährleistungen zu.52 Anders als der Rest der subjektiven Rechte im Vertrag zeigen Wortlaut und Struktur dieser Rechte offen deren individualschützende Ausrichtung. Es sind dies vor allem die Art. 18 ff. EGV, in denen die sogenannten Unionsbürgerrechte aufgezählt sind.53 Aus dem Status als subjektives Recht folgt nicht zwangsläufig eine Aussage über den materiellen Schutzgehalt eines Rechts und dessen Nähe zu einer grundrechtlichen Verbürgung. Es wird daher für jedes einzelne der beschriebenen Rechte zunächst die Frage beantwortet werden müssen, ob es zu den „subjektiven Rechten des Gemeinschaftsrechts“ zu zählen ist, um dann die Strukturen des Rechts auf Hinweise zu untersuchen, die eine Gleichsetzung mit den Grundrechten nahe legen. Den meisten Raum wird im folgenden Kapitel die Analyse der Grundfreiheiten einnehmen. Anschließend soll die Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte dargestellt werden, um den Vergleich der charakteristischen Merkmal der beiden Normengruppen möglich zu machen. Es folgt ein Blick auf den Art. 12 EGV (Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit), den Art. 141 Abs. 1 EGV (Grundsatz der Lohngleichheit) und den Art. 18 Abs. 1 EGV (Freizügigkeit der Unionsbürger) als Vergleichsgrößen für die Grundfreiheiten, bevor der Vollständigkeit halber eine Aufstellung einiger weiterer subjektiver Rechte des Gemeinschaftsrechts, die für den Untersuchungsgegen52 Ob die unmittelbare Wirkung nicht doch jedes Mal erst festgestellt werden muss, vor allem auch für „jüngere“ Normen, ist allerdings umstritten, siehe unten E. I. zur unmittelbaren Wirkung des Art. 18 Abs. 1 EGV. 53 Sowie der Art. 288 Abs. 2 EGV, der die Haftung der Gemeinschaft für deliktische Schäden statuiert, sieht unten F. III. am Ende des ersten Teils der Arbeit.
B. Rechte aus dem EG-Vertrag, insbesondere die Grundfreiheiten
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stand keine unmittelbare Bedeutung haben, den ersten Teil der Arbeit beschließt. I. Die Grundfreiheiten als subjektive Rechte Im Mittelpunkt der Arbeit stehen die Art. 28 f. EGV (Warenverkehrsfreiheit), Art. 39 EGV (Arbeitnehmerfreizügigkeit), Art. 43 EGV (Niederlassungsfreiheit) und Art. 49 EGV (Dienstleistungsfreiheit). Die Grundfreiheiten des EG-Vertrages sind die subjektiven Rechte des Gemeinschaftsrechts, die in der Praxis die wichtigste Rolle spielen. Über die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sind die Grundfreiheiten als „Freiheiten, mit denen man Handelsbarrieren zu Fall bringen kann“ in das Bewusstsein der europäischen Bürger vorgedrungen. Sie stehen stellvertretend für das Projekt „Binnenmarkt“ und für das Verhältnis des Einzelnen zur Europäischen Gemeinschaft. Am Beispiel der Grundfreiheiten lässt sich das Vorgehen des Gerichtshofs bei der Schaffung subjektiver Rechte aus Rechtssätzen, die eine unbestimmte oder sogar eine ausgesprochen objektiv-rechtliche Zielrichtung haben, wegen der großen Zahl an Entscheidungen zu diesen Vorschriften im Detail aufschlüsseln und nachweisen. Die entsprechend zahlreichen Beiträge in der Literatur haben eine differenzierte und ausgereifte Dogmatik der Grundfreiheiten entstehen lassen.54 Das soll für die vorliegende Untersuchung soweit möglich als Vorteil genutzt werden. Die Tatsache, dass eine Reihe von Themen wie etwa Cassis oder Keck ausführlich durchdacht und beschrieben worden sind, erlaubt es, auch komplexere Entwicklungen in bestimmten Stichworten zu komprimieren und als abgeschlossene Bausteine in die weiteren Überlegungen einzufügen. Diese Blöcke sollen nur dann gezielt aufgebrochen werden, wenn sie entweder insgesamt in Frage gestellt oder in ihrem Innern Hinweise auf die mögliche Qualifizierung der Grundfreiheiten als Grundrechte vermutet werden. Aus ursprünglich rein objektiv-rechtlichen Vorschriften, die als Aufträge bzw. Verbote an die vertragsschließenden Mitgliedstaaten gerichtet waren, sind im Laufe der 45 Jahre seit Inkrafttreten der Römischen Verträge subjektive Rechte geworden, an deren „auch“ individualschützendem Charakter nicht mehr gezweifelt wird. Dieser individualschützende Aspekt der Grundfreiheiten legt den Gedanken an eine klassische grundrechtliche Abwehrfunktion erst nahe. 54 Vgl. aber Jarass, EuR 1995, S. 202, 203; Jarass, EuR 2000, S. 705, 705, nach dessen Ansicht es im Jahr 2000 ebenso wie schon 1995 an einer die einzelnen Freiheiten übergreifenden Dogmatik fehle; ähnlich Wolf, JZ 1994, S. 1151, 1154, m. w. N.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
Der erste Entwicklungsschritt ist dabei der Schritt von völkerrechtlichen Vorschriften zu ansatzweise subjektiven Binnenmarktvorschriften. Dieser Schritt fällt mit der Phase der Schaffung und Konstruktion des Binnenmarktes zusammen. Ein zweiter Schritt wäre eine Weiterentwicklung dieser Vorschriften von teilweise subjektiven Binnenmarktvorschriften zu echten Grundrechten. Dieser zweite Schritt würde – falls er nachweisbar ist – mit der Phase der Inbetriebnahme des fertiggestellten Binnenmarktes und dem Übergang zu einem „Europa der Bürger“ zusammenfallen. Ob dieser zweite Schritt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ableiten lässt, ist Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. 1. Der Binnenmarkt als Diffusionsprozess
Die Grundfreiheiten sind bei ihrer Aufnahme in den Vertrag von 1957 mit der Zielsetzung formuliert worden, über die Öffnung und Angleichung der einzelnen nationalen Märkte einen gemeinsamen einheitlichen Marktraum zu schaffen. Dieses Ziel können die Grundfreiheiten über verschiedene rechtliche Steuerungswirkungen erreichen. Diese einzelnen Funktionen der Grundfreiheiten sollen freigelegt und beschrieben werden. Die Funktionen lassen sich – so die These dieser Untersuchung – am deutlichsten gegeneinander abgrenzen, wenn die wechselseitige Durchdringung der Märkte im Binnenmarkt als dynamisches Gleichgewicht verstanden wird. Derzeit entwickelt sich das Gleichgewicht in Richtung einer Vermischung der ursprünglich getrennten nationalen Märkte. Dieser Prozess kann über drei Regelgrößen gesteuert werden. Am vereinfachten Modell eines solchen Vermischungsprozesses soll jeweils isoliert betrachtet werden, ob die Grundfreiheiten von ihrer Struktur her auf eine bestimmte Regelgröße einwirken können und ob die Einflussnahme auf die Regelgröße juristisch, politisch und wirtschaftlich vorteilhaft ist. a) Drei Größen, die den Prozess Binnenmarkt steuern: Gefälle zwischen den unterschiedlichen Wirtschaftsbedingungen, Durchlässigkeit der Grenzen, Trägheit der Wirtschaftsfaktoren Mit der Aufnahme der Grundfreiheiten in die Römischen Verträge haben die Staaten die Kontrolle über die Trennwände zwischen den Teilmärkten in die Hände des Gemeinschaftsrechts gegeben. Die Kernfunktion der Grundfreiheiten – der Verzicht auf die Ein- und Ausfuhrkontrolle – bewirkt das Öffnen der Schleusentore in diesen Trennwänden. Damit kann, um im Bild zu bleiben, ein künstlicher Unterschied in der Wasserstandshöhe nicht mehr aufrechterhalten werden. Die durchlässigen Trennwände ermöglichen es den Waren- und Personenströmen, nach wirtschaftlichen Allokationsge-
B. Rechte aus dem EG-Vertrag, insbesondere die Grundfreiheiten
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sichtspunkten solange zu fließen, bis das Gefälle ausgeglichen ist. Dieser Vorgang kommt zu einem natürlichen Halt, wenn der wirtschaftliche Anreiz, in einen anderen Teilmarkt zu ziehen oder dorthin zu verkaufen, nicht mehr größer ist als der Anreiz, im eigenen Teilmarkt zu bleiben. Zwei der Größen, über die Richtung und Geschwindigkeit dieses Prozesses bestimmt werden, sind damit bereits sichtbar geworden. An erster Stelle ist das Gefälle zwischen den einzelnen Teilmärkten für die einsetzende Ausgleichsbewegung ausschlaggebend. An zweiter Stelle beeinflusst die Durchlässigkeit der Trennwände zwischen den Teilmärkten die Leichtigkeit und Geschwindigkeit dieses Flusses. Die dritte Regelgröße ist die Trägheit einzelner Wirtschaftsfaktoren. Die Beweglichkeit, und in der Folge auch die tatsächliche Mobilität von Waren, Dienstleistungen und Arbeitskraft kann von Ware zu Ware und von Markt zu Markt stark variieren. Die Bedeutung dieser dritten Regelgröße erschließt sich vor allem dann, wenn die „natürliche“ Durchmischung, die mit der Durchlässigkeit der Grenzen einsetzt, als nicht ausreichend und nicht schnell genug angesehen wird. Ein Problem liegt darin, dass es – unabhängig von den Grenzen zwischen den Teilmärkten – überall im Markt tatsächliche und rechtliche Trägheitsmomente gibt, die der Zirkulation von Waren und Personen ganz grundsätzlich entgegengerichtet sind. Diese Trägheitsmomente reichen denkbar weit von dem zu hohen Gewicht eines Produktes bis zu einer schlechten Infrastruktur, über lokale Präferenzen und die Bindung an die heimatliche Umgebung bis hin zu nationalen Vorschriften, die den Wechsel des Arbeitgebers erschweren (Bosman) oder den Verkauf von Waren an Sonntagen verbieten (Torfaen/B&Q).55 Mit diesem letztgenannten Beispiel ist ein Trägheitsmoment gefunden, das sich sogar nach Art der Wirtschaftswissenschaften quantifizieren lässt. Die potenzielle Zirkulation ist um gut 14% – ein Siebtel – geschmälert, da die Waren an einem Tag der Woche zwangsweise im Regal ruhen müssen.56
55 EuGH v. 15.12.1995, Rs. C-415/93, „Bosman“, Slg. 95, S. 4921 ff.; EuGH v. 23.11. ff.; EuGH v. 16.12.1992, Rs. 169/91, „B&Q“, Slg. 92, S. 6635 ff.; EuGH v. 23.11.1989, Rs. C-145/88, „Torfaen“, Slg. 89, S. 3851 ff. 56 Tatsächlich war im Verfahren von einem Umsatzrückgang um 23% die Rede, vgl. die Schlussanträge Van Gerven in EuGH v. 23.11.1989, Rs. C-145/88, „Torfaen“, Slg. 89, S. 3851, 3879, Rz. 25.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
b) Die drei Größen im physikalischen Modell: Teilchendichte, Durchlässigkeit der Membrane, energetischer Zustand der Teilchen Um mit diesen Regelgrößen, und insbesondere mit der zuletzt genannten dritten Regelgröße in der weiteren Untersuchung arbeiten zu können, müssen Begriffe wie „Allokation“ oder „Trägheit“ in den Zusammenhang des – vereinfachten – physikalischen Modells gestellt werden, aus dem sie stammen. Das Bild von Wasserständen und Schleusen stößt hier an seine Grenze. Es wird ein weiterer Abstraktionsschritt nötig. Im Folgenden ist ganz allgemein von Teilchen auszugehen, die sich in einem Raum bewegen und sich aufgrund ihrer Eigenbewegung in diesem Raum verteilen. Damit ist die Diffusion als Begriff und Modell eingeführt. Der Diffusionsprozess wird als ein Ausgleichsprozess definiert, „in dessen Verlauf Teilchen infolge ihrer Wärmebewegung von Orten höherer zu solchen niedrigerer Teilchendichte oder Konzentration diffundieren, so dass die Dichte- oder Konzentrationsunterschiede sich ausgleichen“.57 Dieses Muster lässt sich auf den Ausgleichsprozess übertragen, an dessen Ende der Binnenmarkt als einheitlicher Marktraum stehen soll.58 Der Marktraum ist als Raum zu denken, in dem sich die einzelnen Wirtschaftsfaktoren (Waren, Dienstleistungen, Personen) aufgrund bestimmter einfacher Gesetzmäßigkeiten bewegen und sich unter idealen Bedingungen gleichmäßig über den zur Verfügung stehenden Raum verteilen.59 Verbindet man zwei oder mehr solcher Räume, indem man die Trennwände dieser Räume durchlässig macht, so findet die Diffusion aller Teilchen über den gesamten Raum hinweg statt. In einem idealen Markt gleichen sich auf diese Weise 57 Meyers: Diffusion [lat. „das Auseinanderfließen“] 1.) Chemie, Physik: mit einer Masse- und/oder Ladungstransport verbundener physikalischer Ausgleichsprozess, in dessen Verlauf Teilchen infolge ihrer Wärmebewegung (brownsche Bewegung) von Orten höherer zu solchen niedrigerer Teilchendichte oder Konzentration diffundieren, sodass die Dichte- oder Konzentrationsunterschiede sich ausgleichen. 58 Der Diffusionsbegriff ist nicht auf die Naturwissenschaften beschränkt, vgl. Meyers, Stichwort Diffusion, Ziffer 3 den Verweis auf die Sozial- oder Geo-Wissenschaften; vgl. auch: Feichtinger/Hartl, Optimale Kontrolle ökonomischer Prozesse, Berlin/New York 1986, S. 322 ff., 361 f.; u. a. 59 Die Bewegungen der Elemente – hier der Wirtschaftsfaktoren Waren, Dienstleistungen, Arbeitskraft – unterliegen bei strenger Betrachtung nicht dem Zufallsprinzip, sondern, ebenso wie die Teilchen des Diffusionsmodells von ihrer eigenen „Wärmebewegung“ (Brown’sche Bewegung) angetrieben werden, folgen die Wirtschaftsfaktoren bestimmten simplen „Programmen“ (etwa: Gewinnmaximierung). Im volkswirtschaftlichen Modell erfasst die Diffusion beispielsweise auch ungünstigere Teilräume, indem die geringeren Gewinnchancen durch niedrigere Kosten für denjenigen aufgefangen werden, der sich in diesen Raum begibt, und umgekehrt. Damit verhält sich das Gewinnstreben und die Kosten-Nutzen-Überlegungen der Wirtschaftsfaktoren wie das Bewegung der Teilchen zum energetisch günstigsten Punkt im Diffusionsmodell.
B. Rechte aus dem EG-Vertrag, insbesondere die Grundfreiheiten
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die Unterschiede der Teilmärkte auf lange Sicht aus und pendeln sich auf einem gemeinsamen Niveau ein. Die Marktbewegungen über die Grenze lassen die unterschiedlichen wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen der Teilmärkte verschwinden. Am Ende des Prozesses stehen in der fehlerlosen, von Abweichungen bereinigten Welt des Modells einheitliche Markt- und Lebensbedingungen für alle Bewohner des Gesamtmarktraumes.60 Ein zweiter Vorteil: Eine rasche und hohe Durchmischung der Wirtschaftsfaktoren in dem entstehenden einheitlichen Raum macht es zugleich unwahrscheinlich, dass diese Entwicklung rückgängig gemacht werden könnte. Die Trennung der vermischten Elemente wäre nur unter unverhältnismäßig hohem Aufwand möglich. Auf den ersten Blick scheint daher zu gelten: Je rascher eine möglichst weitgehende Durchmischung erreicht ist, desto sicherer und unumkehrbarer ist der Gemeinsame Markt und damit die wirtschaftliche Integration Europas als Kern und Herzstück der Europäischen Einigung. Das erklärt das denkbare Interesse des Gerichtshofs an einer Erhöhung der Fließgeschwindigkeit der Wirtschaftsfaktoren im Binnenmarkt. Zugleich werden bei dieser Art des Einsatzes der Grundfreiheiten deren Grenzen spürbar. Das ist für die Frage nach der Struktur der Grundfreiheiten und für den Vergleich mit den Grundrechten von Bedeutung. Die Fließgeschwindigkeit ist im Modell von drei Größen abhängig, von dem Konzentrationsunterschied zwischen den einzelnen Punkten des Raumes, von der Durchlässigkeit der Membrane, die diesen Raum in Teilräume aufteilen und von der Temperatur oder allgemeiner dem energetischen Zustand des Materials, dessen Elemente in eine Austauschbewegung gebracht werden sollen. Der Zusammenhang zwischen Temperatur und energetischem Zustand lässt sich am leichtesten an den verschiedenen Aggregatzuständen verdeutlichen. Auch in Festkörpern, etwa in Kristallen, findet eine (sehr langsame) Diffusion statt.61 In einer Flüssigkeit variiert die Geschwindigkeit des Diffusionsprozesses in Abhängigkeit von der zugeführten Energie. Durch Erhitzen erfolgt die Durchmischung in der Regel schneller und gründlicher. Innerhalb eines gasgefüllten Raumes dagegen findet eine solche Diffusion und damit der Ausgleich der unterschiedlichen Konzentrationen in Sekundenbruchteilen statt.
60 Dass hier mit einem stark vereinfachten Modell gearbeitet wird, zeigt auch der folgende Einwand: Es bleiben stets die geographischen/geopolitischen einzelnen Regionen innerhalb des Gemeinsamen Marktes bestehen. Bevorzugte und benachteiligte Standorte wird es auch weiterhin geben. Das Gegenargument zum Einwand könnte lauten: Zumindest die historisch-politischen Staatsgrenzen, die oft geopolitisch/geographisch blind sind, können dann keine entscheidende Rolle mehr spielen. 61 Volumendiffusion durch Platzwechselvorgänge.
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In der Realität des Binnenmarkts ist entsprechend zu beobachten, dass Waren und Dienstleistungen rascher und problemloser zirkulieren als Arbeitnehmer oder ganze Unternehmen. Ein günstiges Preisniveau im benachbarten Markt kann sehr kurzfristig durch Warenlieferungen ausgenutzt werden. Eine Dienstleistung auf den Nachbarmarkt umzustellen, wird in der Regel etwas länger dauern. Dass eine Produktionsstätte wegen guter wirtschaftlicher Bedingungen verlegt wird, ist ein langwieriger Vorgang. Ebenso wie Gase sich rascher durchmischen als Flüssigkeiten oder Festkörper haben auch die verschiedenen Wirtschaftsfaktoren ihre ihnen eigene „Trägheit“ bzw. „Leichtigkeit“ in den Austauschvorgängen. Diese Austauschvorgänge können allerdings von außen verlangsamt oder beschleunigt werden. Das geschieht, aus Sicht des Normgebers, über das regulatorische Umfeld, in dem sich die wirtschaftlichen Transaktionen abspielen. Gesetzliche Vorschriften können den Austausch und den Ortswechsel einer Ware oder eines anderen Wirtschaftsfaktors begünstigen oder erschweren. Da der freie Handel in den in Europa vorherrschenden Wirtschaftssystemen die Regel ist, in die nur ausnahmsweise zum Schutz bestimmter Interessen eingegriffen werden darf, werden die meisten Vorschriften, die hier als Beispiele in Betracht kommen, tendenziell der Zirkulation entgegengerichtet sein und damit insgesamt verlangsamen. Der energetische Zustand der Wirtschaftsfaktoren eines Marktes lässt sich also am Grad der Liberalisierung oder der Regulierung des Handels ablesen. Je liberaler das Umfeld, desto volatiler die Wirtschaftsfaktoren, desto höher und rascher die Zirkulation. Klassische Beispiele für verlangsamende Eingriffe in die freie Zirkulation sind etwa arbeitsrechtliche Schutzvorschriften, die die Bindung an ein Unternehmen festigen, oder Vorschriften, die vor unlauteren Wettbewerbsmethoden schützen sollen, bis hin zu dem bereits erwähnten Sonntagsverkaufsverbot, das für einen Tag pro Woche die Zirkulation einfriert.62 Als ein weiteres Beispiel aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs soll die Entscheidung Alpine Investments genannt werden, in der es um das niederländische Verbot einer aggressiven Art der Kundenwerbung (das sogenannte Cold Calling) ging.63 Ein Verbot dieser Art der offensiven Vermarktung ist nach Ansicht des Gerichtshofs für die Dienstleistungsfreiheit problematisch, weil es den betroffenen Wirtschaftsteilnehmern ein „schnelles und direktes Mittel der Werbung und der Kontaktaufnahme mit potenziellen Kunden in anderen Mitgliedstaaten“ nehme.64 Die Bedeutung aggressiver Werbung und hochwirksamer Marketingmethoden werden vom 62 Vgl. die Thesen der Deutschen Bischofskonferenz zur Verlangsamung des Alltags- und des Wirtschaftslebens und zum Verbot der Sonntagsarbeit. 63 Die Mitarbeiter einer niederländischen Vermögensberatungsfirma pflegten potenzielle Kunden im In- und Ausland – ohne vorherigen Kontakt – gezielt abends unter deren Privatnummern anzurufen und in ein Werbegespräch zu verwickeln.
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Gerichtshof also durchaus in ihrer Nützlichkeit für die forcierte Durchmischung der europäischen Teilmärkte erkannt und bewertet.65 Es gilt auch hier: Je liberaler die nationale Regelung ist, desto höher ist – nach diesen Prämissen – die Fließgeschwindigkeit der Wirtschaftsfaktoren, und damit die Ausbreitung dieser Faktoren auch über die Staatsgrenzen hinweg. Wer durch Cold Calling doppelt so rasch die Kundenzahl insgesamt erhöht, wird zugleich in kürzerer Zeit die Anzahl der ausländischen Kunden erhöhen und damit die vom Binnenmarkt angestrebte Durchmischung beschleunigen. Als ein letztes Beispiel sei das Arbeitsrecht genannt. Wenn die durchschnittliche Verweildauer eines Arbeitnehmers bei seinem Arbeitgeber von 25 auf 5 Jahre verkürzt wird, steigt die statistische Wahrscheinlichkeit, dass bei einigen dieser häufiger gewordenen Wechsel des Arbeitsplatzes auch eine Fluktuation über eine Staatsgrenze hinweg stattfindet. c) Welche der drei Größen kann und darf über die Grundfreiheiten gesteuert werden? Für die Grundfreiheiten stellt sich die Frage, bis zu welchem Punkt sie sinnvoller Weise steuernd in diesen Diffusionsprozess eingreifen können und legitimer Weise eingreifen dürfen. Betrachtet man die drei Regelgrößen, die die Geschwindigkeit des Diffusionsprozesses bestimmen, so haben die Grundfreiheiten auf die erste Größe, das Gefälle zwischen den unterschiedlichen wirtschaftlichen Bedingungen, die an einzelnen Punkten des Gesamtmarktes herrschen, keinen direkten Einfluss. Eine Angleichung der rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Europa ist direkt nur über die positive Integration – die Harmonisierung der Rechtsvorschriften – möglich. Die Grundfreiheiten können nur dazu beitragen, dass die Voraussetzungen für den Aus- und Angleichungsprozess geschaffen werden, der dann zu einer Nivellierung der unterschiedlichen Bedingungen führt. Die Grundfreiheiten setzen daher unmittelbar erst bei der zweiten Regelgröße an, d.h. bei der Durchlässigkeit der Trennwände zwischen den einzel64 EuGH v. 10.5.1995, Rs. C-384/93, „Alpine Investments“, Slg. 95, S. 1141, 1176, Rz. 28, 37 f. 65 Obwohl im genannten Fall des Verbots des Cold Calling der Gerichtshof dem niederländischen Gesetzgeber das Recht zugestand, zum Schutze des guten Rufes des Finanzplatzes diese Marketingpraxis einzuschränken, EuGH v. 10.5.1995, Rs. C384/93, „Alpine Investments“, Slg. 95, S. 1141, 1176, Rz. 54 f; vgl. dazu auch: EuGH v. 24.11.1993, verb. Rs. C-267/91 und 268/91, „Keck und Mithouard“, Slg. 93, S. 6079, 6139, Rz. 13, sowie Schlussanträge Van Gerven in der Sache „Keck und Mithouard“, Slg. 93, S. 6079, 6118, Rz. 3, in denen er die Verkaufsmethoden in „Keck“ als aggressive Strategie bezeichnet; für eine solche beschleunigende Funktion der Grundfreiheiten ausdrücklich: Stein, EuZW 2000, S. 337, 338.
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nen Teilen des Marktraums. In ihrer ursprünglichen Funktion als Verbot von Einfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung sind die Grundfreiheiten auf die Aufhebung der Trennwände gerichtet, die entlang der Staatsgrenzen zwischen den einzelnen Teilmärkten weiter existieren. Die Grundfreiheiten sichern die Durchlässigkeit dieser Trennwände und ermöglichen dadurch den Ausgleichsfluss der Wirtschaftsfaktoren, der aufgrund des unterschiedlichen Konzentrationsdrucks einsetzt. Ein Importverbot, also eine Durchlässigkeit von 0%, kommt in der Realität des Binnenmarktes kaum noch vor.66 Die Grenze zum Nachbarmarkt ist in der Regel nicht entweder offen oder geschlossen, sondern ihre Durchlässigkeit kann abgestuft werden. Die Trennwand ist daher in ihrem Verhalten besser als Membran und nicht als Mauer umschrieben. Eine staatliche Maßnahme, die einen Verkauf ins Ausland schwerer, teurer oder riskanter für den Händler macht, bedeutet eine verbleibende Durchlässigkeit von vielleicht 30% oder 40% und zieht diese Membran, wenn auch nur schwach spürbar, zwischen den Teilmärkten wieder empor. Dadurch verlangsamt sich der Diffusionsprozess im Gesamtmarktraum. Indem die Grundfreiheiten es darauf anlegen, jeden noch so geringfügigen Nachteil für die Warenbewegung in den Nachbarmarkt als grundfreiheitswidrig aus dem Weg zu räumen, steigern sie die Durchlässigkeit der Membran in Richtung einer Durchlässigkeit von 100%. Damit wäre die trennende Membran nicht-existent und die Aufgabe der Grundfreiheiten erfüllt. Schließlich ist die angesprochene noch weitergehende Funktion der Grundfreiheiten als Beschleuniger vorstellbar. Die Grundfreiheiten könnten als Mittel eingesetzt werden, um über die dritte Regelgröße – die „Temperatur“ und damit den „energetischen Zustand“ des Gesamtsystems – auf die Geschwindigkeit des Diffusionsprozesses einzuwirken. Wenn die Grundfreiheiten dazu dienen, eine beschränkende – verlangsamende – nationale Vorschrift aufzuheben, weil die Beschränkung des freien Handels immer auch potenziell eine Beschränkung des Handels über die Grenze bedeutet, dann bewegt sich das gesamte System unmerklich in Richtung einer liberaleren Wirtschaftsordnung und einer rascheren Zirkulation. Diese Funktion ist im Keim in der Dassonville-Formel angelegt und hat in der Idee der „Grundfreiheiten als allgemeine Beschränkungsverbote“ ihren Niederschlag gefunden.67 In der Entscheidung Keck hat der Gerichtshof allerdings zu verstehen gegeben, dass er diese weite Funktion der Grundfreiheiten als Beschleuniger der Marktdurchdringung für verfehlt hält.68 Der Vorgriff auf diese drei Besonderheiten der Dogmatik der Grundfreiheiten konnte an die66 Ausnahmen sind etwa BSE, Maul- und Klauenseuche und vergleichbare Notstandssituationen. 67 EuGH v. 11.7.1974, Rs. 8/74, „Dassonville“, Slg. 74, S. 837, 852, Rz. 5. Siehe unten B. II. 3.
B. Rechte aus dem EG-Vertrag, insbesondere die Grundfreiheiten
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ser Stelle nicht vermieden werden. Auf sie wird bei der Untersuchung der Struktur der Grundfreiheiten im Folgenden ausführlicher eingegangen. Mit dem Diffusionsmodell ist der Hintergrund umrissen, vor dem das Normprogramm der Grundfreiheiten im Einzelnen untersucht werden soll. Ihre Binnenmarktaufgabe können die Grundfreiheiten über verschiedene Wirkrichtungen und Einzelfunktionen erfüllen. Diese Funktionen können zudem offensichtlich in Abhängigkeit von den verschiedenen Phasen, die der Binnenmarkt durchläuft, einen neuen Zuschnitt erfahren. Ein solches evolutives Moment wäre besonders aufschlussreich zur Beantwortung der Frage, ob die Grundfreiheiten sich zu Grundrechten weiterentwickeln konnten. Diese Hypothese führt zunächst zurück zu den Ursprüngen der Grundfreiheiten im Wortlaut der Römischen Verträge aus dem Jahre 1957. 2. Der Wortlaut der Vertragsvorschriften als Ausgangspunkt
Unter den Begriff der „vier Grundfreiheiten“ werden in der Regel die folgenden Vorschriften des EG-Vertrages gezählt: Die Art. 28 und 29 EGV (Warenverkehrsfreiheit) der Art. 39 EGV (Arbeitnehmerfreizügigkeit), der Art. 43 EGV (Niederlassungsfreiheit) sowie der Art. 49 EGV (Dienstleistungsfreiheit). Zum Teil wird zusätzlich das in Art. 56 EGV enthaltene Verbot, den Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten zu beschränken, als Kapitalverkehrsfreiheit zu den Grundfreiheiten gerechnet. Die Zahl der Grundfreiheiten erhöht sich dann auf fünf.69 Zu sechs Grundfreiheiten gelangt die Zählweise, die innerhalb der Warenverkehrsfreiheit zwischen dem Importbeschränkungsverbot des Art. 28 EGV und dem Exportbeschränkungsverbot des Art. 29 EGV unterscheidet. Umgekehrt lässt sich die Anzahl wieder reduzieren, indem man die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit in einer Grundfreiheit der Personenverkehrsfreiheit zusammenfasst. Für die vorliegende Untersuchung spielt die Einordnung des Art. 56 EGV keine weitere Rolle.70 Es bleibt bei der klassischen Aufzählung der vier Grundfreiheiten. 68
EuGH v. 24.11.1993, verb. Rs. C-267/91 und 268/91, „Keck und Mithouard“, Slg. 93, S. 6079, 6139, Rz. 13; vgl. etwa Poiares Maduro, E.L.J. 1997, S. 55, 61, 65 der sich unter Berufung die Schlussanträge Tesauro in der Sache Rs. C-292/92, „Hünermund“, Slg. 93, S. 6787 ff. die Frage stellt, was der Art. 28 EGV eigentlich bezwecke – den Schutz vor Protektionismus oder eine liberale Marktordnung. 69 Meist ist der Art. 56 EGV allerdings nur Annexfreiheit zu den anderen Grundrechten, Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 22; vgl. auch Behrens, EuR 1992, S. 145, 155, der die Struktur der Kapitalverkehrsfreiheit für nicht vergleichbar mit den anderen Grundfreiheiten hält, allerdings mit dem Argument der „Nähe zu der mitgliedstaatlichen Kernkompetenz der Währungspolitik“. Das Argument müsste möglicherweise heute nochmals auf seine Stichhaltigkeit hin überprüft werden. 70 Vgl. dazu Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 22, dort insb. Fn. 1.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
Interessant ist zunächst die gesetzestechnische Ausgestaltung der genannten Vertragsvorschriften und die Entwicklung der Begrifflichkeiten. Der Terminus „Grundfreiheiten“ als solcher für diese Gruppe von Vertragsvorschriften ist vom Vertrag nicht vorgegeben. Er taucht in der Rechtsprechung des Gerichtshofs erstmals im Jahre 1981 in der Rechtssache Casati auf. In der französischen Fassung entsprechen diesem Ausdruck die Worte „libertés fondamentales“. Im Englischen ist von „fundamental freedoms“ die Rede.71 Der Begriff „Grundfreiheiten“ kommt allerdings in einem anderen, entschieden grundrechtlichen Zusammenhang bereits seit längerer Zeit vor. Seit der Verabschiedung der „Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ am 4. November 1950 ist der Begriff „Grundfreiheiten“ im Europarecht im weitverstandenen Sinne existent. Welchen Inhalt der Begriff nach dem Willen der Konvention – vor allem in der Juxtaposition zu den Menschenrechten – im Einzelnen haben sollte, kann an dieser Stelle offengelassen werden.72 Von Bedeutung ist lediglich, dass der Begriff in der EMRK sehr weit gefasst und klar dem grund- und menschenrechtlichen Kontext zugeordnet ist. Eine Beschränkung auf wirtschaftliche oder „Markt“-freiheiten lässt er nicht erkennen. Über die Präambeln sowohl der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 als auch des Vertrages über die Europäische Union von 1992 (Maastricht-Vertrag) und den Art. 6 Abs. 2 EUV hat der Begriff „Grundfreiheiten“ Eingang in die gemeinschaftsrechtlichen Vertragstexte selber gefunden, ohne dass es allerdings zu einer Berührung mit den Vorschriften der Art. 28 f. EGV, 39 EGV, 43 EGV oder 49 EGV gekommen wäre. Der Terminus Grundfreiheiten für diese Vorschriften, die inhaltlich zum Bereich „Binnenmarkt“ gehören, stammt soweit ersichtlich aus der kommentierenden Literatur und hat sich vereinzelt bereits etwa ab Mitte der sechziger Jahre, spätestens aber seit Mitte der siebziger Jahre als Oberbegriff für diese Vorschriften durchgesetzt.73 Der ursprüngliche Wortlaut der vier Grundfreiheiten verrät ihre Herkunft als Instrumente in den Händen der vertragsschließenden Staaten, die sich selber dazu verpflichtet hatten, ihre sechs nationalen Volkswirtschaften zu 71 EuGH v. 11.11.1981, Rs 203/80, „Casati“, Slg. 81, S. 2595, 2613, Rz. 8 für die Personenverkehrsfreiheiten und den freien Dienstleistungsverkehr. Für die Warenverkehrsfreiheit ist der Ausdruck Grundfreiheit soweit ersichtlich spätestens seit der Entscheidung EuGH v. 11.12.1984, Rs 134/83, „Abbink“, Slg. 84, S. 4097, 4110 üblich; zum Ganzen auch Pfeil, Historische Vorbilder, S. 4 f.; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 20. 72 Vgl. die Präambel der Konvention: „Gemeinsame Achtung der diesen Grundfreiheiten zugrundeliegenden Menschenrechten“. Das setzt die Grundfreiheiten und die Menschenrechte in ein Vorher-Nachher-Verhältnis. 73 Runge, JuS 1964, S. 305, 307; Von Boeckh/Von der Groeben, Kommentar zum EWG-Vertrag, 2. Aufl. 1974, dort S. 506; nach: Pfeil, Historische Vorbilder, S. 6.
B. Rechte aus dem EG-Vertrag, insbesondere die Grundfreiheiten
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öffnen und zu einem gemeinsamen Wirtschaftsraum umzugestalten. Das selbstauferlegte Verbot der Mitgliedstaaten, die Abschottung ihres Territoriums als wirtschaftspolitisches Mittel einzusetzen, ist unter dem Stichwort „negative Integration“ der erste und grundlegende Schritt in Richtung eines Marktraumes ohne Binnengrenzen. Auf diese Zusammenhänge ist bei der Beschreibung des Binnenmarktprozesses als Diffusionsvorgang eingegangen worden. Der Wortlaut der Grundfreiheiten – das wird sich im Laufe der Untersuchung zeigen – ist indes nach dem Vertrag von Amsterdam nicht mehr derselbe wie bei Inkrafttreten der Verträge. Hinter den kaum merklichen textlichen Änderungen deutet sich bereits der erwähnte Übergang von der Konstruktionsphase in die Betriebsphase des Gemeinsamen Marktes an. Die Voraussetzungen für eine gemeinschaftsweite wirtschaftliche Tätigkeit sind weitgehend geschaffen. Das Spielfeld liegt, um das Modewort vom level playingfield aufzugreifen, mehr oder weniger eben vor den Unternehmern und Verbrauchern, an denen es in dieser Phase ist, den Marktraum mit Leben zu füllen. Den veränderten Fragestellungen dieser neuen, eher „atomistischen“ als „mechanistischen“ Betriebsphase wollte der Gemeinschaftsgesetzgeber – so ein möglicher Erklärungsversuch – mit einer leicht geänderten Lesart der Art. 28 f. EGV, Art. 39 EGV, Art. 43 EGV und Art. 49 EGV gerecht werden, die im Einzelfall etwas weniger Werkzeuge und verstärkt Spielregeln für den gemeinschaftsweiten Markt sein können. a) Art. 28 und 29 EGV (Warenverkehrsfreiheit) Am deutlichsten zeigt sich der „instrumentale Charakter“ der Grundfreiheiten im Wortlaut des Art. 28 EGV. In der ursprünglichen Fassung des damaligen Art. 30 EWGV lautete die Vorschrift: „Mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung sind unbeschadet der nachstehenden Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten verboten“.74 Es folgten in den Art. 31 bis 33 EWGV die Übergangsvorschriften, die diese Regel schrittweise an die volle Geltung heranführen sollten. Diese Übergangsvorschriften fehlen bei den Art. 28 und 29 EGV in der Fassung nach Amsterdam, während die Kernvorschrift unverändert blieb.75 Das unterscheidet die Art. 28 und 29 EGV von den anderen Grundfreiheiten, für die das Erreichen des Binnenmarktziels sich nach der textlichen Anpassung 74 Art. 34 EWGV (jetzt Art. 29 EGV) regelte in gleichem Wortlaut das Verbot mengenmäßiger Ausfuhrbeschränkungen. 75 Lediglich auf den überflüssig gewordenen Zusatz „unbeschadet der nachstehenden Bestimmungen“ wurde verzichtet. Die offizielle Bezeichnung ist nach wie vor nicht „Warenverkehrsfreiheit“, sondern ausweislich der Kapitelüberschrift „Verbot von mengenmäßigen Beschränkungen“.
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von Amsterdam auch im Wortlaut niedergeschlagen hat. Anders als die anderen Grundfreiheiten, enthielt bei den Art. 28 und 29 EGV bereits die ursprüngliche Formulierung mit dem Wort „verboten“ die Beschreibung des Zielzustands, so dass eine Anpassung insoweit nicht notwendig war. Die Übergangsvorschriften weisen auf ein typisches Konstrukteursdilemma hin. Ohne die Übergangsvorschriften der Art. 31 bis 33 EWGV wäre der Art. 30 EWGV im Jahre 1957 nicht handhabbar gewesen. Ein sofortiges und vollständiges Aufheben aller „Trennwände“ zwischen den einzelnen Märkten hätte die vorhandenen Deiche brechen lassen und zu nicht mehr steuerbaren Abflüssen – je nach vorgefundenem Gefälle – geführt. Aus Sicht der Staaten musste diese drohende Folge der in Art. 30 EWGV angeordneten Grenzöffnung beherrschbar bleiben. Die Drosselung der Einfuhr- und Ausfuhrströme bestimmter Waren und damit die Kontrolle über die Menge, die sich von dieser bestimmten Ware auf dem nationalen Markt befindet, war und ist eines der Hauptgestaltungsmittel staatlicher Wirtschaftspolitik. Um die Kontrolle über die zu erwartenden Ströme zu behalten, musste parallel zu einer vorsichtigen Öffnung das Gefälle zwischen den einzelnen Teilmärkten abgebaut werden, was auf dem Wege der Rechtsangleichung (sog. „positive Integration“) geschehen sollte. Kleinere verbleibende Unebenheiten sollen dann von den einsetzenden Strömen abgeschliffen werden oder durch den Anreiz der bevorstehenden Öffnung bereits im Vorfeld zuwachsen. Der Versuch, die Durchmischung des gemeinsamen Marktraumes am Modell der Diffusionsbewegungen zu erklären, ist vor allem am Beispiel der Warenverkehrsfreiheit (Art. 28 EGV) erläutert worden. Wegen der hohen Zahl an Einzelbewegungen, die im Warenaustausch in Europa stattfinden, und der hohen Beweglichkeit dieses Wirtschaftsfaktors bietet die Warenverkehrsfreiheit gute Voraussetzungen für die Übertragung in ein Modell. Einzelne Abweichungen fallen weniger ins Gewicht. Zudem ist die Entscheidung eines Arbeitnehmers, von der Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch zu machen, stärker irrationalen Faktoren unterworfen, während die Warenströme den wirtschaftlichen Vorgaben blinder und im ökonomischen Sinne rationaler folgen. Dennoch ist das Modell auch für die anderen Grundfreiheiten von Wert. Für die Struktur der Warenverkehrsfreiheiten kann aber an dieser Stelle auf die Ausführungen zu den Regelgrößen im Diffusionsmodell verwiesen werden. b) Art. 39 EGV (Arbeitnehmerfreizügigkeit) Für den Art. 39 EGV ergibt sich eine spürbare Änderung des Wortlautes der Vorschrift nach der Amsterdamer Neufassung des Vertrags. In Abs. 1 des damaligen Art. 48 EWGV hieß es noch: „Spätestens bis zum Ende der
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Übergangszeit wird innerhalb der Gemeinschaft die Freizügigkeit der Arbeitnehmer hergestellt.“ Der neugefasste Art. 39 EGV liest sich in seinem ersten Absatz nur noch: „Innerhalb der Gemeinschaft ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet.“ Die restlichen Absätze zwei bis vier blieben unverändert. Das gesetzestechnische Mittel der „Übergangsvorschriften“ war, anders als bei Art. 30 EWGV, für den alten Art. 48 EWGV nicht in die nachfolgenden Artikel ausgelagert, sondern in den Wortlaut der Vorschrift aufgenommen worden, so dass nach Ablauf der Übergangszeit dieser Passus gestrichen werden musste. Darüber hinaus enthält die Umformulierung eine inhaltliche Verschiebung in Form einer subjektiv-rechtlichen Einfärbung dadurch, dass die Freizügigkeit nun nicht mehr „hergestellt“, sondern „gewährleistet“ wird. Zum einen bringt das Wort „herstellen“ den Prozesscharakter zum Ausdruck. Das ist bei „gewährleisten“ nicht mehr der Fall. Hier ist der Zielzustand beschrieben. Daneben macht der Wortlaut deutlich, dass die Übergangszeit abgelaufen ist. Das hätte aber auch durch die Wahl eines anderen Tempus geschehen können, etwa durch die Formulierung „Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist hergestellt“. In dem Wort „gewährleisten“ dagegen steckt zusätzlich ein individualrechtlicher Kern. Es drückt eine stark schützende Komponente aus. Zugleich rückt diese Formulierung den Schwerpunkt vom Handelnden – hier vom Staat, der diese Freizügigkeit herstellen soll – weg in Richtung auf die Freizügigkeit als solche, und damit auf den einzelnen Arbeitnehmer als geschütztes Individuum. Nach Vollendung des Werkes übergibt der Hersteller das Werk an denjenigen, für den es bestimmt ist, und zieht sich selber zurück. Art. 39 Abs. 1 EGV in seiner ursprünglichen Fassung war das „Werkzeug“, um die Bedingungen für eine Freizügigkeit herstellen zu können. Nachdem das Ziel – aus Sicht der Autoren der Amsterdamer Vertragsfassung – erreicht ist, wird das Werkzeug selbst nicht mehr benötigt. Der instrumentale Charakter schwächt sich ab. Die Vorschrift zur Freizügigkeit scheint in einer neuen Qualität „angekommen“.76 Das sind sprachliche Nuancen. Eine inhaltliche Fortentwicklung des Art. 39 Abs. 1 EGV lässt sich nicht mit letzter Sicherheit an begrifflichen Zwischentönen festmachen. Andererseits kann davon ausgegangen werden, dass auch diese Formulierungen nicht auf zufälliger Wortwahl basieren, sondern das Verständnis dieser Norm vor dem Hintergrund des jeweils aktuellen Entwicklungsstandes des Gemeinschaftsrechts und des politischen Willens widerspiegeln. Eine solche Lesart passt sich im Übrigen ohne Brüche in die allgemeinen Tendenzen und Entwicklungen des Gemeinschaftsrechts ein. 76
Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Rn. 3 zu Art. 39 EGV.
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Der Wortlaut des Art. 39 Abs. 1 EGV ist ähnlich offen, wie das bei den Art. 28 und 29 EGV der Fall ist und vermeidet eine Festlegung auf bestimmte Adressaten, die an die Beachtung dieser Vorschrift gebunden sein sollen. Das Ziel – die Freizügigkeit – wird dem Artikel vorangestellt, bevor dann in den Absätzen zwei und drei eine Anzahl von Einzelrechten aufgezählt werden, die in dieser Freizügigkeit enthalten sind. Nach Art. 39 Abs. 2 EGV umfasst sie die Abschaffung der unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen. Das entspricht – wenn auch vorsichtig als Prozess und nicht als Status formuliert77 – dem Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in der Arbeitswelt. Art. 39 Abs. 3 EGV listet verschiedene konkrete Handlungen auf, die der Arbeitnehmer in einem anderen Mitgliedstaat im Zusammenhang mit dem beruflichen Wechsel ins Ausland ausdrücklich vornehmen darf. So hat er insbesondere das Recht, sich zu diesem Zweck im Ausland frei zu bewegen und aufzuhalten und auch nach Beendigung der Beschäftigung unter bestimmten Voraussetzungen in dem fremden Mitgliedstaat zu verbleiben. Unter dem Dach einer Grundfreiheit – der Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 39 EGV – lassen sich demnach bereits dem Wortlaut nach zwei Wirkungsarten der Grundfreiheiten in den unterschiedlichen Absätzen der Vorschrift nachweisen.78 Das ist zum einen das Diskriminierungsverbot des zweiten Absatzes. Von der Normstruktur her als Gleichheitsrecht ausgestaltet, stellt die Vorschrift den EU-ausländischen Arbeitnehmer dem einheimischen Arbeitnehmer gleich. Diese gesetzliche Vorgabe zielt ganz unverkennbar auf die Angleichung der nationalen Arbeitsmärkte. Das Abschotten eines bestimmten Arbeitsmarktes etwa durch die Drosselung des Zuflusses ausländischer Arbeitskräfte ist nach einer solchen Regelung nicht mehr möglich. Neben dieser grundlegenden Funktion des Diskriminierungsverbots als Angleichungsprogramm deutet der dritte Absatz des Art. 39 EGV bereits den zweiten Weg an, den das Gemeinschaftsrecht bereithält, um das Ziel eines funktionierenden Binnenmarktes zu forcieren. Dem einzelnen EUBürger können – über das Recht, gleich behandelt zu werden, hinaus – freiheitsrechtliche Positionen zugeordnet werden, wie im Fall des Art. 39 Abs. 3 EGV die oben geschilderten Rechte, sich im EU-Ausland frei bewegen und aufhalten zu dürfen. Diese Rechtspositionen sind ihrer Struktur nach unabhängig von einem Vergleich mit der arbeitsrechtlichen Stellung 77 Die Diskriminierung ist nicht „ab sofort“ verboten, sondern sie soll abgeschafft werden. Hier ist der Prozesscharakter noch nicht aufgegeben worden. 78 Vgl. etwa Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 50 ff., 65, der diese beiden Richtungen innerhalb des Art. 39 EGV sehr ausführlich trennt und dann ins Verhältnis setzt; Behrens, EuR 1992, S. 145, 153.
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des einheimischen Arbeitnehmers. Sie verleihen dem wanderungsbereiten Arbeitnehmer ein eigenes „absolutes“ Recht. Er kann von Arbeitgeber oder Gesetzgeber verlangen, dass die in dieser Rechtsposition geschützten Handlungen nicht beschränkt oder vereitelt werden. Diese Einzelrechte wirken als Beschränkungsverbote. Dem Arbeitnehmer ist damit ebenso gedient wie dem Binnenmarktprojekt. Denn der wanderungsbereite Arbeitnehmer, dem sein Entschluss durch ein solches „die Mobilität unterstützendes“ Freiheitsrecht noch leichter gemacht wird, trägt zur Umsetzung des Binnenmarktes bei, indem er Teil des Ausgleichsflusses wird, über den die angestrebte Durchmischung der Teilmärkte erreicht werden soll. Die ausdrücklich in Art. 39 Abs. 3 EGV aufgeführten Rechte werden von Literatur und wohl auch von der Rechtsprechung allerdings (noch) nicht als vollwertige Freiheitsrechte neben dem Diskriminierungsverbot des Art. 39 Abs. 2 EGV anerkannt. Als bloße Annexrechte sei ihre Aufgabe, das Gleichheitsrecht des zweiten Absatzes zu flankieren. Kernstück des Art. 39 EGV bleibe das Diskriminierungsverbot des zweiten Absatzes.79 Diese Frage nach der Stellung der Annexrechte des Art. 39 Abs. 3 EGV scheint spätestens mit dem Bosman-Urteil an Relevanz eingebüßt zu haben. Denn in dem Moment, in dem der Gerichtshof den Art. 39 EGV – wie zuvor bereits die anderen Grundfreiheiten – zum allgemeinen Beschränkungsverbot ausbaut, greift er nicht auf die bereits in Art. 39 Abs. 3 EGV bestehenden Beschränkungsverbote zurück, was aufgrund der freiheitsrechtlichen Struktur der Einzelrechte, die in diesem Absatz bereitstehen, hätte erwartet werden können. Er gründet diesen Schritt hin zum allgemeinen Beschränkungsverbot vielmehr bewusst auf eine „Gesamtschau“ des Art. 39 EGV.80 c) Art. 43 EGV (Niederlassungsfreiheit) und Art. 49 EGV (Dienstleistungsfreiheit) Diese beiden Grundfreiheiten haben in der Neufassung nach Amsterdam eine dem Art. 39 EGV vergleichbare Änderung des Wortlauts erfahren. In der ursprünglichen Fassung spricht Art. 52 Abs. 1 EWGV davon, dass „die Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates während der Übergangszeit nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen schrittweise 79 Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 63, 65; Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Rn. 2 zu Art. 39 EGV; a. A. wohl Wölker, in: GTE, Rn. 5 zu Art. 48 EGV, nach dessen Ansicht die Rechte aus Art. 39 Abs. 3 EGV einen weitergehenden Anspruch als den Anspruch auf Gleichbehandlung vermitteln. 80 EuGH v. 15.12.1995, Rs. C-415/93, „Bosman“, Slg. 95, S. 4921, 5068 ff., Rz. 92 bis 104; siehe insbesondere auch die Schlussanträge Lenz, S. 5004 ff., Rz. 194 bis 208.
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aufgehoben (werden)“. In der neuen Fassung des Art. 43 Abs. 1 EGV sind nunmehr „die Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates (. . .) nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen verboten“.81 Die Änderungen im Wortlaut der Vorschriften zur Dienstleistungsfreiheit (Art. 59 a. F. und Art. 49 EGV) entsprechen den Änderungen im Wortlaut der Vorschriften zur Niederlassungsfreiheit. Diese weite Formulierung, die bereits dem Wortlaut nach jegliche „Beschränkung“ der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit zu verbieten scheint, wird in Art. 43 Abs. 2 EGV bzw. in Art. 50 Abs. 2 EGV relativiert, indem der Vertrag selber definiert, was unter einer solchen Beschränkung zu verstehen ist. So heißt es in Art. 43 Abs. 2 EGV, „vorbehaltlich des Kapitels über den Kapitalverkehr umfass(e) die Niederlassungsfreiheit die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen (. . .) nach den Bestimmungen des Aufnahmestaates für seine eigenen Angehörigen“.82 Der letzte Halbsatz macht deutlich, dass auch die Art. 43 und 49 EGV in erster Linie als Gleichbehandlungsgebote konzipiert sind. Eine wirtschaftliche Tätigkeit soll selbständigen Unternehmern im EU-Ausland grundsätzlich unter denselben Rahmenbedingungen möglich sein wie den dort tätigen einheimischen Unternehmern. Nur scheinbar enthalten die Art. 43 und 49 EGV daher bereits dem Wortlaut nach ein Beschränkungsverbot. Ganz überwiegend werden die Artikel so verstanden, dass sie zunächst allein das Prinzip der „Inländergleichbehandlung“ – als Diskriminierungsverbot – festschreiben. Weitere Beschränkungen, die zwangsläufig aus den unterschiedlichen Vorgaben der einzelnen Märkte und Rechtsordnungen resultieren, sollten über die Anpassungsinstrumente der Art. 54 bis 57 (a. F.) EWGV abgebaut werden, also über den Weg der positiven und nicht der negativen Integration.83 Ähnlich unergiebig wie die Art. 28 f. EGV und der Art. 39 EGV sind auch die Art. 43 und 49 EGV, wenn man ihrem Wortlaut einen Hinweis darauf entnehmen will, wer durch die Vorschriften verpflichtet sein soll.84 Wieder steht allein das Ziel – die Aufhebung der Barrieren zwischen den 81 Der vormalige Art. 53 EGV (Verbot, neue Niederlassungsbeschränkungen für EG-Ausländer zu errichten), dem nach h. M. ohnehin keine eigenständige Bedeutung zukam, wurde ersatzlos gestrichen, vgl. Scheuer, in: Lenz, Kommentar, Rn. 3 zu Vorb. zu Art. 43–48 EGV. 82 Inhaltsgleich der Art. 50 Abs. 2 EGV für die Dienstleistungsfreiheit: „Unbeschadet des Kapitels über die Niederlassungsfreiheit kann der Leistende zwecks Erbringung seiner Leistung seine Tätigkeit vorübergehend in dem Staat ausüben, in dem die Leistung erbracht wird, und zwar unter den Voraussetzungen, welche dieser Staat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt.“ 83 Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, S. 211, mit Verweis auf Everling, in: FS von der Groeben, S. 111, 113; Seidel, in: FS Steindorff, S. 1455, 1464 f.; u. v. m.
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einzelnen Märkten – als Vorgabe in der Vertragsvorschrift, ohne dass derjenige, der zur Beseitigung der Barrieren verpflichtet sein soll, ausdrücklich benannt würde. Ebenso wenig ist die Zuordnung eines persönlichen „subjektiven Rechts“, das jedem einzelnen Marktbürger zukommen soll, in den Art. 43 und 49 EGV erkennbar enthalten, weder in der alten noch in der neuen Fassung nach Amsterdam. Zwar markiert der veränderte Wortlaut der Art. 43 und 49 EGV von „Beschränkungen werden aufgehoben“ zu „Beschränkungen sind verboten“ den Stapellauf des Gemeinsamen Marktes und den Übergang von der Konstruktions- in die Betriebsphase. Eine noch weitergehende Annäherung an eine grundrechtliche oder zumindest individualschützende Terminologie, wie das Wort „gewährleistet“ in der neuen Fassung des Art. 39 Abs. 1 EGV, ist hier aber nicht erkennbar.85 d) Gemeinsames und Trennendes im Wortlaut der einzelnen Grundfreiheiten Die knappe und offene Formulierung der vier Artikel ist die auffälligste Gemeinsamkeit. Den Grundfreiheiten ist das Ziel (Freizügigkeit, Freiheit) vorgegeben, der Adressat dieser Verpflichtung wird nicht genannt. Als Hindernisse auf dem Weg zu diesem Ziel werden zwar ausdrücklich Beschränkungen (Art. 49 Abs. 1 EGV, Art. 43 Abs. 1 EGV, Art. 28 und 29 EGV) und die auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung (Art. 39 Abs. 2) genannt. Damit ist aber nicht auch zugleich die Wirkweise der jeweiligen Vorschrift beschrieben. Auch die Grundfreiheiten, in denen von Beschränkungen die Rede ist, sind zunächst nur gegen die beschränkende Wirkung gerichtet, die sich für den Ausländer aus seiner Schlechterstellung ergibt. 84 Vgl. etwa Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, S. 205; Roth, in: FS Everling, S. 1231, 1241, nach dessen Ansicht die offene Formulierung Drittwirkung zwar möglich mache, sie aber nicht bereits rechtfertige. 85 Für die Niederlassungs- und die Dienstleistungsfreiheit ist der Übergang in das ungestörte Funktionieren des Binnenmarktes noch nicht so weit fortgeschritten wie etwa bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit oder der Warenverkehrsfreiheit. Während die Tätigkeit der meisten Arbeitnehmer in der Regel unabhängig von der Industrie, in der sie arbeiten wollen, durch einheitliche sekundärrechtliche Normen geregelt werden konnte, ist bei Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit der Druck aus den einzelnen Industrien sehr groß, die nationalen Besonderheiten der jeweiligen Sektoren zu berücksichtigen, so dass die positive Integration durch vereinheitlichende sekundärrechtliche Regelung bislang erfolgreich verschleppt werden konnte, vgl. Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Rn. 2 zu Art. 43 EGV; Geiger, Rn. 3 zu Art. 52 EGV; zum besonders resistenten Bereich der Anwaltschaft, vgl. Frahm, Libre circulation des avocats, S. 22 f., 39; Zuck, NJW 1987, S. 3033 ff.; Borggreve, RIW 1984, S. 988 ff.; EuGH v. 12.7.1984, Rs. 107/83, „Klopp“, Slg. 84, S. 2971 ff.
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Daneben lässt sich bei drei von vier Grundfreiheiten die leichte Verschiebung im Wortlaut in der Fassung nach dem Amsterdamer Vertrag nachweisen. Aus den ursprünglichen Formulierungen, die den Prozesscharakter der Grundfreiheiten in den Vordergrund stellen, sind Formulierungen geworden, die stärker einen Zustand beschreiben. Am deutlichsten ausgeprägt ist diese Veränderung bei Art. 39 Abs. 1 EGV, der nunmehr von „gewährleisten“ spricht. Nicht von diesen Veränderungen betroffen ist die Warenverkehrsfreiheit. Dort bleibt der Wortlaut, von einer rechtstechnischen Begradigung abgesehen, unverändert. Für alle vier Grundfreiheiten lässt sich bei der Analyse des Wortlauts eine weitere Besonderheit vor die Klammer ziehen. Es fällt auf, dass sich die Grundfreiheiten bereits in einem frühen Stadium begrifflich und systematisch von den dazu gehörigen Artikelnummern und Vertragsvorschriften gelöst haben. Sowohl der Gerichtshof als auch die kommentierende Literatur sprechen etwa von der „Warenverkehrsfreiheit“ und bezeichnen mit diesem Begriff die Inhalte, die sich aus einer Reihe von Vorschriften, etwa der Art. 30 bis 33 a. F. EWGV ergeben.86 Ebenso deutlich zeigt sich das bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit und den entsprechenden Vertragsvorschriften. Allgemein wird von der Freizügigkeit der Arbeitnehmer gesprochen, und unter diesen Begriff dann nicht nur die Absätze 1 und 2 (Diskriminierungsverbot) oder der Abs. 3 des Art. 39 EGV (Annexrechte) gefasst, sondern der gesamte Art. 39 EGV, die nachfolgenden Artikel 40 bis 42 EGV und teilweise auch noch sekundärrechtliche Vorschriften wie die Verordnung 1612/68 oder die Aufenthaltsrichtlinien. Gleiches gilt für die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit im Verhältnis zu den Vorschriften der Art. 43 ff. und 49 ff. EGV. Der Begriff „Grundfreiheiten“ steht offenbar wahlweise für die Vertragsvorschrift im engeren Sinne oder für eine weiter verstandenen Position im Sinnes eines „Prinzips der Warenverkehrsfreiheit“ oder eines „Grundsatzes der Freizügigkeit“ etc. Das Sprachgefühl legt diese zweite Lesart des Begriffes nahe. Damit zeigt sich bereits auf der Ebene des Wortlauts eine Tendenz zum „Herauswachsen“ der Grundfreiheiten aus dem engen Korsett der Vertragsartikel, in denen sie verankert sind. Das frühe, an dieser Stelle kaum spürbare Ablösen einzelner weitergehender Rechtspositionen innerhalb der Art. 28 ff. EGV soll hier bereits als Symptom festgehalten werden, um später bei der Analyse der grundrechtlichen Elemente in den Grundfreiheiten darauf zurückgreifen zu können.
86 Für die Art. 28 f. EGV ist das nach der Neufassung von Amsterdam nicht mehr so offensichtlich.
B. Rechte aus dem EG-Vertrag, insbesondere die Grundfreiheiten
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3. Die Grundfreiheiten als subjektive Rechte
Die Grundfreiheiten waren nicht als individualschützende Rechtsnormen angelegt. Dass sie mittlerweile subjektive Rechte sind, ist unbestritten.87 Das subjektive Element innerhalb der Grundfreiheiten – um das Bild von variablen subjektiven und objektiven Anteilen innerhalb einer Norm aufzugreifen – wurde erst durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelt, indem dieser seine Lehre von der unmittelbaren Wirkung der gemeinschaftsrechtlichen Normen auf die einzelnen Grundfreiheiten ausdehnte.88 Was in der Leitentscheidung Van Gend & Loos im Jahr 1963 für das Verbot von neuen Zöllen zum Grundsatz erhoben worden war, erstreckte der Gerichtshof zu Beginn der Siebziger Jahre auf die Verbote, die in den Grundfreiheiten festgeschrieben waren. Auch diese Verbote seien von ihrer Struktur her so angelegt, dass sie für die einzelnen Marktbürger unmittelbare Rechte und Pflichten erzeugen konnten. Sie seien, wie das Zollverbot, klar und unmissverständlich in ihrem Normappell, bestimmte staatliche Handlungen, Kontingentierungen, Importverbot oder Ungleichbehandlungen zu unterlassen. Sie seien nicht von weiteren Umsetzungsakten abhängig. Der Einzelne könne vor Gericht die Einhaltung dieser Verbote verlangen. Der Gerichtshof hat diese Feststellungen nicht für die Normengruppe der Grundfreiheiten en bloc getroffen, sondern im Einzelfall für die jeweils streitentscheidende Grundfreiheit, so dass sich diese Geburtsstunde des subjektiven Elements für jede der Grundfreiheiten mit einer anderen Entscheidung des Gerichtshofs in Verbindung bringen lässt. Für die Warenverkehrsfreiheit ist dieser Schritt ausdrücklich im Urteil Iannelli89 aus dem Jahr 1977 vollzogen. Dort nimmt der Gerichtshof die Feststellung der unmittelbaren Anwendbarkeit in den Leitsatz der Entscheidung auf. Den Art. 28 EGV unterwirft er dem Test aus Van Gend & Loos. Das in Art. 28 EGV verankerte Verbot mengenmäßiger Beschränkungen sei 87
Hoffmann, Grundfreiheiten als Abwehrrechte, S. 17. Dass die Grundfreiheiten subjektiv-öffentliche Rechte vermittelten, sei auch als Folge der insoweit gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs seit einiger Zeit allgemein anerkannt, m. w. N.; Behrens, EuR 1992, S. 145, 147; Eberhartinger, EWS 1997, S. 43, 43 „Grundfreiheiten sind subjektive Rechte auf staatlichen Regelungsverzicht, die wirtschaftliche Handlungsfreiheit sichern“; Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 128; Pfeil, Historische Vorbilder, S. 234 ff., insbesondere in Fußnote 6 auf S. 234 m. w. N. 88 Vgl. aber auch Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 125, 126 f., der offensichtlich von einer subjektiv-individualschützenden Seite der Grundfreiheiten vom Anfang ihrer Geltung an ausgeht. Das lässt sich vor allem für den Art. 39 EGV mit Blick auf die dritte Begründungserwägung der Verordnung 1612/68 zur Arbeitnehmerfreizügigkeit gut begründen. Für die anderen Grundfreiheiten fehlt allerdings ein vergleichbarer Anknüpfungspunkt im Sekundärrecht. 89 EuGH v. 22.3.1977, Rs. 74/76, „Iannelli“, Slg. 77, S. 557 ff.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
zwingend und klar, es bedürfe zu seiner Verwirklichung keiner weiteren Maßnahmen der Mitgliedstaaten oder der Gemeinschaftsorgane. Das Verbot erzeuge somit unmittelbare Wirkung und begründe Rechte der Einzelnen, die von staatlichen Gerichten zu wahren sind. Das gelte spätestens seit Ende der Übergangszeit.90 Diese Formel trägt der Gerichtshof weitgehend unverändert durch die spätere Rechtsprechung weiter. In der Praxis wird heute die unmittelbare Wirkung des Art. 28 EGV entweder durch den Verweis auf diese erste Entscheidung oder aber durch Verweis auf eine aktuellere Entscheidung belegt. Das ist im Ergebnis unerheblich.91 Die Niederlassungsfreiheit gehört spätestens seit der Entscheidung Reyners92 aus dem Jahre 1974 zu den mit unmittelbarer Wirkung ausgestatteten und folglich subjektiven Rechten des Gemeinschaftsrechts. Möglicherweise kann der Zeitpunkt dieser Verleihung der unmittelbaren Wirkung allerdings noch weiter in die Anfänge der Gemeinschaftsrechtsprechung vorverlagert werden. Denn bereits im Jahr 1964 erging das Urteil in der Sache Costa/ ENEL zu dem inzwischen gestrichenen Art. 53 EWGV. Damit erging es zwar nicht direkt zu Art. 43 EGV, wohl aber zum Komplex Niederlassungsfreiheit im weiteren Sinne.93 Im Bereich der Dienstleistungsfreiheit des Art. 49 EGV ist es das Urteil Van Binsbergen aus dem Jahre 1974, das in der Regel als Quelle angegeben wird.94 Für Art. 39 EGV bildet die Entscheidung Van Duyn, ebenfalls aus dem Jahr 1974, den Ausgangspunkt, von dem ab die unmittelbare Wirkung dieser Vorschrift anerkannt ist.95 Allerdings gibt es auch hier eine Vorläuferentscheidung desselben Jahres, in der diese unmittelbare Geltung des Art. 39 EGV und der Verordnung 1612/86 innerhalb der französischen Rechtsordnung vom Gerichtshof ausdrücklich bestätigt worden war.96 90 EuGH v. 22.3.1977, Rs. 74/76, „Iannelli“, Slg. 77, S. 557, 576, Rz. 13.; Füller, Warenverkehrsfreiheiten, S. 49, dort Fn. 147; Geiger, Rn. 2 zu Art. 30 EGV. 91 Lux, in: Lenz, Kommentar, Rn. 6 zu Art. 28 EGV, der als Referenz EuGH v. 9.6.1992, „Delhaize“, Rs. C-47/90, Slg. 92, S. 3669 ff. anführt; Epiney, in: Calliess/Ruffert, Rn. 4 zu Art. 28 EGV, die EuGH v. 29.11.1978, Rs. 83/78, „Pigs Marketing Board“, Slg. 78, S. 2347, Rz. 66/67 angibt. Für Art. 29 EGV wird durchgängig auf Art. 28 EGV verwiesen, vgl. Epiney, in: Calliess/Ruffert, Rn. 3 zu Art. 29 EGV; Geiger, Rn. 1 zu Art. 34 EGV. 92 EuGH v. 21.6.1974, Rs. 2/74, „Reyners“, Slg. 74, S. 631, 651 f. 93 EuGH v. 15.7.1964, Rs. 6/64, „Costa/ENEL“, Slg. 64, S. 1251, 1273 f.; so auch: Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, S. 252 f.; Geiger, Rn. 3 zu Art. 52 EGV. 94 EuGH v. 3.12.1974, Rs. 33/74, „Van Binsbergen“, Slg. 1974, S. 1299, 1311, Rz. 27; vgl.: Kluth, in: Calliess/Ruffert, Rn. 34 zu Art. 50 EGV; Geiger, Rn. 2 zu Art. 59 EGV. 95 EuGH v. 4.12.1974, Rs. 41/74, „Van Duyn“, Slg. 74, S. 1337 ff.; so auch Scheuer, in: Lenz, Kommentar, Rn. 1 zu Art. 39; Geiger, Rn. 4 zu Art. 48 EGV; vgl. auch die Verweise in neueren Entscheidungen zur Freizügigkeit, etwa EuGH v. 26.1.1999, Rs C-18/95, „Terhoeve“, Slg. 99, S. 345, 394, Rz. 55.
B. Rechte aus dem EG-Vertrag, insbesondere die Grundfreiheiten
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Das Zeitalter der „Entdeckung“ der unmittelbaren Wirkung für die Grundfreiheiten und damit die Anerkennung der Grundfreiheiten als subjektive Rechte fällt, wenn man die Ausreißer in den Quellenangaben herausrechnet, in den Zeitraum Mitte der Siebziger Jahre, so dass davon auszugehen ist, dass die Sachverhalte, die den Verfahren zugrunde liegen, auf den Beginn der siebziger Jahre zurückgehen.97 Der Zusammenhang mit dem Ablauf der Übergangsfrist des Art. 7 a. F. EWGV (31. Dezember 1969) ist offensichtlich. In fast allen Entscheidungen findet sich die stereotype Floskel, dass die unmittelbare Wirkung „spätestens mit Ablauf der Übergangsfrist“ gegeben sei.98 Auf diese Weise kann der Gerichtshof das Vorliegen der unmittelbaren Wirkung sicher bejahen, ohne einen genauen Zeitpunkt für den Beginn der unmittelbaren Wirkung nennen zu müssen. Er umgeht zugleich eine verbindliche Aussage über den Charakter der Grundfreiheiten bei Inkrafttreten der Verträge. Ob die Grundfreiheiten nicht möglicherweise doch bereits in der ursprünglichen Fassung aus dem Jahre 1957 eine unmittelbare Wirkung haben sollten, bleibt bewusst im Dunkeln. Fest steht nur, dass für den Gerichtshof die unmittelbare Wirkung von Rechtsnormen in einem gut entwickelten System erheblich leichter zu begründen ist. Mitte der Siebziger Jahre, als sich die Frage der unmittelbaren Wirkung der einzelnen Grundfreiheiten stellt, ist die gesamte Gemeinschaftsrechtsordnung ein ganzes Stück weiter im Integrationsprozess fortgeschritten. Die Teilmärkte sind stärker angeglichen, das Gefälle mittlerweile kontrollierbar. Der Gerichtshof kann es riskieren, die Regelungswirkung der Grundfreiheiten zu intensivieren, indem er die Möglichkeiten für Einzelne ausweitet, sich auf Grundfreiheiten zu berufen.
96 EuGH v. 4.4.1974, Rs. 167/73, „Code du Travail Maritime“, Slg. 74, S. 359, 371, Rz. 35. Dieses Verfahren war allerdings ein Vertragsverletzungsverfahren und kein Vorlageverfahren. Wenn dennoch oft „Van Duyn“ vor „Code du Travail Maritime“ genannt wird, mag das daran liegen, dass der Schritt zum individualschützenden subjektiven Recht sich eindrucksvoller am Beispiel der Einzelperson der Yvonne van Duyn festmachen lässt. Außerdem ist die unmittelbare Wirkung bei „Van Duyn“ plakativ im Leitsatz festgehalten. Dass diese Quellenangaben teilweise in der zeitliche Zuordnung variieren, ist für die praktische Frage der unmittelbaren Wirkung ohne Bedeutung, denn zum jetzigen Zeitpunkt ist die unmittelbare Wirkung ganz unstrittig gegeben. Nur falls – wie im Folgenden – der Zeitpunkt der erstmaligen „Erhebung“ zu subjektiven Rechten wichtig wird, um aus dem Kontext auf die Motive des Gerichtshofs rückzuschließen, können sich solche Ungenauigkeiten auswirken. 97 Erst im Jahr 1998 allerdings stellte der Gerichtshof in der Sache „Clean Car“ die unmittelbare Wirkung des Art. 39 EGV auch zugunsten der Arbeitgeber fest. Auch er könne unmittelbar seine Rechte aus Art. 39 Abs. 1 und 2 EGV einklagen, vgl. EuGH v. 7.5.1998, Rs. C-350/86, „Clean Car“, Slg. 98, S. 2521, 2545 f., Rz. 19, 24 f.; Scheuer, in: Lenz, Kommentar, Rn. 3 zu Vorb. Art 39–41 EGV. 98 Vgl. Art. 7 a. F. EWGV.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
Hinter dem Hinweis auf die abgelaufene Übergangsfrist steht ganz entscheidend die dritte Voraussetzung für die unmittelbare Wirkung, wonach – neben der Klarheit und Unbedingtheit der Norm – deren Wirksamkeit keine weiteren Umsetzungsakte und Durchführungsverordnungen erfordern darf. In der Übergangsphase war es sinnvoll, die Wirkung von Vorschriften über Durchführungsverordnungen feinsteuern zu können. Nach dem Willen der vertragsschließenden Staaten sollten in dieser Anpassungsphase die rechtlichen Implikationen für die Staaten steuerbar bleiben und der Kompetenzverlust dadurch abgemildert werden, dass die volle Wirksamkeit der Grundfreiheiten unter den Vorbehalt der sekundärrechtlichen Umsetzung gestellt wurde.99 Nach Ansicht des Gerichtshofs sind aber jedenfalls nach Ablauf der Übergangszeit die Staaten unter diesem Gesichtspunkt nicht mehr schutzwürdig. Der Gerichtshof stellt vielmehr klar, dass jetzt die Inländergleichbehandlung direkt aus der primärrechtlichen Grundfreiheitsvorschrift eingeklagt werden kann, auch wenn die hierauf zielenden Durchführungsverordnungen noch nicht ergangen sind.100 Bis zum Ablauf der Übergangsfrist hätten die Mitgliedstaaten diese Folge durch eigene normsetzende Aktivität vermeiden können. Die Bestimmung des Zeitpunkts, ab dem der Gerichtshof einer Norm die unmittelbare Wirkung und damit den subjektiv-rechtlichen Charakter zuspricht, ist unter einem methodologischen Aspekt für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung. Denn der Versuch, diesen Zeitpunkt festzulegen, zwingt ganz generell dazu, sich mit dem Faktor Zeit als determinierendem Moment in der Dogmatik der Grundfreiheiten zu beschäftigen. Die Vorfrage muss lauten: Gilt, was einmal als durch die Rahmenbedingung determinierte Normstruktur der Grundfreiheiten festgestellt wurde, auch nach einem gewissen Zeitablauf und unter geänderten Bedingungen oder müssen die Rahmenbedingungen fortlaufend überprüft und die Normstruktur gegebenfalls angepasst werden? Dann wäre jede Aussage zur Normstruktur der Grundfreiheiten eine vorläufige oder relative Aussage. Zur Verdeutlichung soll ein Beispiel dienen: Die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, insbesondere die Grundfreiheiten, haben in der Anwendung durch den Gerichtshof mit der „Subjektivierung“ eine tiefgreifende strukturelle Änderung erfahren, die unter den gegebenen Rahmenbedingungen zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich und nötig war. Andere Rahmenbedingungen zu späteren Zeitpunkten haben andere strukturelle Anpassungen mit sich gebracht, wie etwa die vieldiskutierte Erweiterung der Grundfreiheiten von Diskriminierungsverboten zu all99 So blieben die Mitgliedstaaten über den Rat, der diese sekundärrechtlichen Durchführungsverordnungen erlässt, beteiligt. 100 EuGH v. 21.6.1974, Rs. 2/74, „Reyners“, Slg. 74, S. 631, 651 ff. für den Art. 43 EGV.
B. Rechte aus dem EG-Vertrag, insbesondere die Grundfreiheiten
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gemeinen Beschränkungsverboten. Diese sukzessiven Änderungen lassen sich offenbar addieren. Der im ersten Schritt erworbene Status als subjektives Recht bleibt den Grundfreiheiten scheinbar ungeprüft und auf alle Zeit erhalten.101 Die neuen (Teil-)Funktionen der Grundfreiheiten treten in den „wohlerworbenen“ Status der alten Grundfreiheitsfunktion ein. Will man dagegen dem Faktor Zeit grundsätzlich eine entscheidendere Rolle für die Struktur der gemeinschaftsrechtlichen Rechtssätze zugestehen, kann deutlicher zum Ausdruck gebracht werden, dass jede dogmatische Einordnung – etwa die Einordnung eines Rechts als subjektives Recht – als Funktion der Rahmenbedingungen des jeweiligen Zeitpunkts ausgedrückt werden muss. Strenggenommen müsste daher eine solche Eigenschaft zu jedem Zeitpunkt neu überprüft und festgestellt werden, so wie der Gerichtshof die unmittelbare Wirkung auch nicht für alle Grundfreiheiten en bloc, sondern für jede Grundfreiheit gesondert festgestellt hat. Insbesondere müsste eine Überprüfung aber dann stattfinden, wenn der rechtliche und tatsächliche Rahmen der Vorschriften oder die Struktur der Grundfreiheiten selber sich ändern. Wenn der Gerichtshof eine Grundfreiheit wegen der Klarheit und Unbedingtheit des Diskriminierungsverbots, das sie statuiert, zu einer unmittelbar wirksamen Norm erklärt, ist damit nicht ohne weiteres auch gesagt, dass das allgemeine Beschränkungsverbot, das aus derselben Grundfreiheit herausgelesen wird, ebenfalls so klar und unbedingt ist, dass es unmittelbar wirksam ist. Auch wenn das im Ergebnis zutreffend sein sollte, müsste sich der Gerichtshof bei strenger Betrachtungsweise bei jeder Anwendung erneut die Mühe machen und diese Voraussetzungen ein weiteres Mal abfragen.102 Vorsicht ist demnach geboten beim Versuch, die einzelnen Aussagen des Gerichtshofs zu den Entwicklungsschritten der Grundfreiheiten schlicht addieren zu wollen, um zu einer Aussage über deren Verhalten in bestimmten neuen Situationen (Drittwirkung/grundrechtlicher Charakter) zu gelangen.
101 Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, S. 483 f. hat diesen Punkt im Zusammenhang mit der Erweiterung des Art. 43 EGV zum Beschränkungsverbot gesehen und angesprochen; generell zum Problem der Rückwirkung der veränderten Rahmenbedingungen auf die Auslegung der Binnenmarktvorschriften vgl. Friedbacher, E.L.J. 1996, S. 226, 232 f. 102 Sind also – überspitzt formuliert – die Grundfreiheiten, wenn sie als Beschränkungsverbote wirken, keine geschriebenen subjektiven Rechte mehr, weil man mit den vom Gerichtshof ausgeweiteten Grundfreiheiten andere Normen vor sich hat als die Normen, die im Vertrag unter den Artikelnummern schriftlich fixiert sind? Das ist provozierend gefragt, deutet aber die Schwierigkeit an, den Schwebezustand der Grundfreiheiten zwischen „Verankerung im Vertrag“ und „Loslösen in Richtung auf richterrechtliche Grundsätze“ sprachlich und systematisch in den Griff zu bekommen.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
II. Die Normstruktur der Grundfreiheiten Nachdem die Einordnung der Grundfreiheiten als subjektive Rechte feststeht, sollen einige charakteristische Merkmale dieser Vorschriften genauer untersucht und dargestellt werden. Es bietet sich an, die Beschreibung der Grundfreiheiten in fünf Einzelaspekte zu zerlegen und entsprechend zunächst den Tatbestand (Anwendungsbereich, Schutzbereich) und die Schranken in den Blick zu nehmen, dazu (1.) und (2.). Für die weitere Untersuchung werden die Analyse der – angeblichen – Funktionserweiterung vom Diskriminierungsverbot zum allgemeinen Beschränkungsverbot (3.) und die Frage der Drittwirkung der Grundfreiheiten (4.) eine wichtige Rolle spielen. Zuletzt ist die sogenannte Konvergenz der Grundfreiheiten anzusprechen, d.h. die Überlegung, inwieweit die Regeln, die für eine der Grundfreiheiten als gültig anerkannt werden, auf alle anderen Grundfreiheiten übertragbar sind (5.). Diese Aspekte entsprechen bewusst in groben Zügen bereits einigen der Kriterien, entlang derer im Schrifttum die Abgrenzung der Grundfreiheiten zu den Grundrechten erfolgt. Eine wertende Auseinandersetzung mit diesen Kriterien und mit den möglichen grundrechtlichen Merkmalen der Grundfreiheiten bleibt dem Kapitel zum „Verhältnis von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte in der Literatur“ sowie dem Dritten Teil der Arbeit vorbehalten.103 Die Aufspaltung in die genannten fünf Einzelaspekte erfolgt an dieser Stelle vor allem, um die Intensität der Darstellung variieren zu können. Bestimmte Merkmale können sehr kurz abgehandelt werden. An anderen Stellen soll aber im Rahmen der Beschreibung der Grundfreiheiten bereits das Für und Wider der gefundenen Lösungen erörtert und eine Vorentscheidung getroffen werden. Die Darstellung der einzelnen Merkmale führt zwangsläufig zu Überschneidungen und Wiederholungen. Die veränderten Schranken der Grundfreiheiten lassen sich beispielsweise nicht beschreiben, ohne die Entwicklung vom Diskriminierungsverbot zum allgemeinen Beschränkungsverbot als bekannt vorauszusetzen. Dieser Schritt wiederum wird in der Rechtsprechung letztlich aus der Konvergenz der Grundfreiheiten abgeleitet. Einer dieser Punkte muss als Ausgangspunkt bestimmt werden. Dieser Ausgangspunkt soll hier die – denkbar weit verstandene – Frage nach der Einschlägigkeit der Grundfreiheiten sein, d.h. nach dem Anwendungsbereich und damit verbunden nach dem materiellen Tatbestand der Grundfreiheiten.
103 Siehe unten Abschnitt B. des zweiten Teils, sowie Abschnitte B. I. und C. II. des dritten Teils der Arbeit.
B. Rechte aus dem EG-Vertrag, insbesondere die Grundfreiheiten
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1. Der Tatbestand der Grundfreiheiten (Anwendungsbereich/Schutzbereich)
Kennzeichnend für den Anwendungsbereich aller vier Grundfreiheiten sind zum einen ihre Begrenzung auf grenzüberschreitende Sachverhalte (sogleich a)) und zum anderen ihre inhaltliche Nähe zum wirtschaftlichen Handeln im weitesten Sinne (dazu unten b)). a) Das „grenzüberschreitende Element“ als Tatbestandsmerkmal der Grundfreiheiten Die Grundfreiheiten gelten nur für Sachverhalte mit grenzüberschreitendem Bezug.104 Die Grundfreiheiten sollen gezielt die wirtschaftliche Tätigkeit unter besonderen Schutz stellen, die das Wagnis auf sich nimmt, über die Grenzen des eigenen nationalen Marktes hinaus in den im Entstehen begriffenen europäischen Markt zu expandieren. Alle Versuche von EU-Bürgern, Maßnahmen ihres eigenen Staates, die ihre innerstaatliche wirtschaftliche Tätigkeit einschränken, unter Berufung auf die Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts zu Fall zu bringen, blieben bislang ohne Erfolg. Der Gerichtshof nimmt diese Fallkonstellationen nicht zur Entscheidung an, selbst wenn ein mitgliedstaatliches Gericht zunächst bereit war, das Verfahren auszusetzen und nach Art. 234 EGV in Luxemburg vorzulegen.105 aa) Tatbestandsmerkmal oder Sachentscheidsvoraussetzung? Um diese rein innerstaatlichen Fälle zurückzuweisen, bediente sich der Gerichtshof in neueren Entscheidungen der Wendung „Die Bestimmungen des Vertrages über den freien Dienstleistungsverkehr finden keine Anwendung auf einen Sachverhalt (. . .), dessen Merkmale sämtlich nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaates hinausweisen“. Er beruft sich also auf eine Regel des Gemeinschaftsrechts, deren Formulierung nicht eindeutig erken104 EuGH v. 18.10.1990, verb. Rs. C-297/88 und C-197/89, „Dzodzi“, Slg. 90, S. 3763, 3791, Rz. 23; EuGH v. 23.1.1986, Rs. 298/84, „Iorio“, Slg. 86, S. 247, 255, Rz. 14 f.; EuGH v. 28.6.1984, Rs. 180/83, „Moser“, Slg. 84, S. 2539, 2547 f., Rz. 15 ff.; EuGH v. 27.10.82, verb. Rs. C-35/82 und C-36/82, „Morson“, Slg. 82, 3723, 3736, Rz. 15 f.; EuGH v. 28.3.1979, Rs. 175/78, „Saunders“, Slg. 79, S. 1129, 1135, Rz. 11; vgl. aber auch EuGH v. 7.7.1992, Rs. C-370/90, „Singh“, Slg. 92, S. 92, 4265, 4294, Rz. 21 ff.; Epiney, in: Calliess/Ruffert, Rn. 29 zu Art. 12 EGV, m. w. N. 105 Aus der neueren Rechtsprechung vgl. EuGH v. 21.10.1999, Rs. C-97/98, „Jägerskiöld“, Slg. 99, S. 7319, 7345 f., Rz. 42 bis 45, sowie auf S. 7347 der Leitsatz; EuGH v. 16.2.1995, verb.Rs. C-29/94 bis C-34/94, „Aubertin u. a.“, Slg. 95, S. 301, 316, Rz. 9.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
nen lässt, ob das – hier fehlende – grenzüberschreitende Sachverhaltselement ein Tatbestandsmerkmal der Grundfreiheiten ist oder ob es sich bei diesem Erfordernis nur um eine prozessuale Voraussetzung handelt, ohne die der Gerichtshof nicht zur Sachentscheidung befugt ist.106 Der Gerichtshof kann an dieser Stelle wegen der besonderen prozessualen Situation auf eine Festlegung verzichten. Seine Formulierung trifft auf beide Alternativen – Grenzübertritt als Tatbestandsmerkmal oder als prozessuale Voraussetzung – gleichermaßen zu. Der Gerichtshof kann den Grundfreiheitsschutz in beiden Fällen bereits nicht gewähren, weil in beiden Alternativen das Gemeinschaftsrecht nicht aufgerufen ist. Fehlt nämlich ein Tatbestandsmerkmal der Grundfreiheit, so kann die entsprechende Vertragsvorschrift nicht verletzt sein. Sie ist nicht einschlägig und der Gerichtshof kann entsprechend auch nicht zur Wahrung des Gemeinschaftsrechts – hier beispielsweise des Art. 28 EGV – aufgerufen sein. Sieht man in dem transnationalen Element eine prozessuale Voraussetzung, so wäre das Ergebnis äußerlich dasselbe. Ohne das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Bezugs kann der Gerichtshof keine Entscheidung in der Sache fällen, da er seine eigene Zuständigkeit für diese rein internen Sachverhalte wegen der Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalen Rechtsordnungen ablehnen muss. Eine Verletzung der Grundfreiheit läge dann zwar dem Tatbestand nach vor. Diese Verletzung könnte jedoch vom Gerichtshof nicht festgestellt werden, da die Frage nicht bis zu ihm vordringt. Sie kann ihn schlicht nicht erreichen.107 Für den rechtsschutzsuchenden Bürger ist es im Ergebnis zunächst scheinbar unerheblich, ob man das grenzüberschrei106
Dass der Gerichtshof das – im Kern unveränderliche Dilemma der Inländerdiskriminierung – hier anscheinend über die Klagebefugnis, also auf verfahrensrechtlicher Ebene löst, klingt in der Literatur verschiedentlich an, vgl. etwa: Troberg, in: GTE, Rn. 63 zu Art. 52 EGV, der das transnationale Element als prozessuales Element verstehen will, weil der Gerichtshof an keiner Stelle eine Abwägung der Bevorzugung oder Benachteiligung von In- und Ausländern vornimmt; ähnlich vorsichtig drückt Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 184, diese Beobachtung aus. Mit dem grenzüberschreitenden Element sei noch nicht die Frage beantwortet, wer sich unter welchen Umständen auf das Beschränkungsverbot berufen darf. Das sei eine zweite, eigenständige Frage; Weyer, EuR 1998, S. 435, 447 f. 107 Das wirft die Frage auf, ob ein nationales Gericht, das in einem rein nationalen Verfahren die Verletzung einer Grundfreiheit für sicher hält, diese nationale Maßnahme einfach kassieren darf. Damit könnte das Gemeinschaftsrecht seinen Anwendungsbereich, je nach Belieben der nationalen Richter, sprunghaft erweitern. Das Problem der Inländerdiskriminierung wäre dann gelöst. Nach deutschem Recht müsste ein solches Urteil aber wohl revidiert werden, da die Richter hier eine ungültige Rechtsnorm angewandt hätten. Daher hat der BGH in seinen FußballerUrteilen und in dem Eishockey-Transfersummen-Fall im Kielwasser der Sache „Bosman“ seine Entscheidung auf Art. 12 GG gestützt, und den Art. 39 EGV nur „im Übrigen“ herangezogen, vgl. BGH v. 27.9.99, II ZR 305/98, in: NJW 1999, S. 3552 f.
B. Rechte aus dem EG-Vertrag, insbesondere die Grundfreiheiten
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tende Merkmal als Tatbestandsmerkmal oder als prozessuale Voraussetzung ansieht. Diese Unterscheidung liefert aber – wie zu zeigen sein wird – ein klares Abgrenzungsmerkmal, weil es die abweichende innere Struktur der Grundfreiheiten und der Grundrechte offen legt. Daher ist die Frage für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung. Generalanwalt Alber hat in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Lehtonen zu diesem Punkt Stellung bezogen. Nach Ansicht des Generalanwalts ist „der Tatbestand der Arbeitnehmerfreizügigkeit (. . .) bereits dadurch begrenzt, dass sich nur diejenigen auf die Freizügigkeit berufen können, die sie „grenzüberschreitend“ in Anspruch nehmen. Dieser Anknüpfungspunkt bewirke bereits eine ähnlich starke Begrenzung des Tatbestandes, wie sich aus Keck für die Verkaufsmodalitäten ergibt“.108 Danach stellt sich der Tatbestand des Art. 39 EGV nicht mehr als „flächiger“ Schutzbereich dar, sondern er wird, wie Alber ausdrücklich sagt, durch das Erfordernis des Grenzübertritts begrenzt. Der Schutz ist punktuell. Der Schutzbereich wird auf die Ausnahmefälle zugespitzt, in denen nicht irgendeine Bewegung eingeschränkt wird, sondern die Bewegung, die über die Grenze führt. Aus der theoretisch unendlichen Anzahl von Zielorten, auf die der Wunsch nach Freizügigkeit gerichtet sein kann, unterfällt nur eine Teilmenge (Zielorte im EU-Ausland) dem Schutzbereich des Art. 39 EGV. Der Grenzübertritt prägt als Tatbestandsmerkmal ganz entscheidend den Schutzbereich und damit die Struktur der Grundfreiheiten. Auch die meisten Stimmen in der Literatur gehen davon aus, dass der grenzüberschreitende Bezug ein Tatbestandsmerkmal der Grundfreiheiten ist.109 Der Art. 39 EGV verleihe kein „Recht auf Freizügigkeit“, sondern ein „Recht auf Freizügigkeit über die Grenze“. Die Grenzüberschreitung determiniere nicht nur die Voraussetzungen, sondern maßgeblich auch den Inhalt der Grundfreiheiten.110 108
Schlussanträge Alber zu EuGH v. 13.4.00, Rs. C-176/96, „Lehtonen“, Slg. 00, S. 2681, 2696 f., Rz. 49. 109 Scheuer, in: Lenz, Kommentar, Rn. 3 zu Art. 39 EGV; Nettesheim, NVwZ 1996, S. 342, 344, 344; Classen, EWS 1998, S. 97, 105; Streinz, Europarecht 4. Aufl., S. 249; Kewenig, JZ 1990, S. 20 ff.; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 16, der den Grundfreiheiten als ausschließlichen Lebensraum die „transnationalen Gefährdungslagen“ zuweist. 110 Classen, EWS 1998, S. 97, 105, der diese Unterscheidung am Problem der Inländerdiskriminierung nachweist: „Da die Inländerdiskriminierung zu Recht vom EuGH nicht als Problem des Gemeinschaftsrechts angesehen wird, wird deutlich, dass die Grenzüberschreitung nicht nur die Voraussetzungen, sondern auch den Inhalt der Grundfreiheiten maßgeblich determiniert“; vgl. dazu auch die sehr bezeichnende Divergenz zwischen Herzig/Dautzenberg, DB 1997, S. 8, 10 und Birk, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, Rn. 500 zu § 4 AO. Herzig/Dautzenberg halten die Inländerdiskriminierung für EG-rechtlich unzulässig, gelangen aber nicht zur Anwendung des EG-Rechts, so dass die Verletzung folgenlos bleibt, während Birk die
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
Das Tatbestandsmerkmal lässt sich aus dem Wortlaut der Vertragsvorschriften herauslesen. Bei Art. 43 Abs. 1 EGV und Art. 49 Abs. 1 EGV findet es sich in der Bezugnahme auf den „anderen Mitgliedstaat“, in dem die Niederlassung erfolgen soll bzw. der Leistungsempfänger angesiedelt ist. Für Art. 28 f. EGV ergibt sich das „grenzüberschreitende Element“ spätestens aus dem Passus „zwischen den Mitgliedstaaten“, sofern man nicht bereits in den Wortbestandteilen „Einfuhr-“ bzw. „Ausfuhr-“ diesen grenzüberschreitenden Bezug angelegt sieht. Die Freizügigkeit des Art. 39 EGV geht auch an dieser Stelle einen kaum merklichen Sonderweg. Einen vergleichbaren Punkt im Wortlaut, an dem der Grenzübertritt festgemacht werden könnte, gibt es nicht, es sei denn man geht – zutreffend – davon aus, dass eine „auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung“ für einen Arbeitnehmer erfahrungsgemäß erst nach einem (geplanten oder durchgeführten) Grenzübertritt überhaupt zum Problem werden kann. Dass im Ergebnis auch bei Art. 39 EGV das „grenzüberschreitende Element“ untrennbar zum Tatbestand gehört, steht aber wegen der Vergleichssituation, die auch bei Art. 39 EGV den Kern der grundfreiheitlichen Funktion ausmacht, außer Frage. Der ausländische Arbeitnehmer misst seine Situation an der Situation des einheimischen Arbeitnehmers. Der Grundsatz der „Inländergleichbehandlung“ greift für Fälle, in denen die Attraktivität zweier wirtschaftlicher Optionen verglichen wird.111 Die eine Option ist – hypothetisch – die Durchführung der geplanten Tätigkeit in einem eindimensionalen rechtlichen Kontext, d.h. nach den Regeln einer nationalen Rechtsordnung. Zum Vergleich wird dieselbe geplante Tätigkeit in ihren – reellen – mehrdimensionalen Kontext gehalten, weil sie die Grenze in eine andere Rechtsordnung (nicht immer notwendig auch physisch in den anderen Staat) überschreitet. Auf diese Kernfunktion der Grundfreiheiten als systemvergleichende Regelungen wird im Zusammenhang mit der – angeblichen – Entwicklung der Grundfreiheiten von Diskriminierungsverboten zu allgemeinen Beschränkungsverboten ausführlicher einzugehen sein. Vom Tatbestandsmerkmal des Grenzübertritts ergibt sich zwangsläufig die Querverbindung zur Funktion der Grundfreiheiten als Diskriminierungs- oder Beschränkungsverbote. Aus Gründen der vereinfachten Darstellung sollen die einzelnen Aspekte der Dogmatik der Grundfreiheiten aber auch in der Folge zunächst isoliert betrachten werden. An dieser Stelle, an der die EleInländerdiskriminierung für gemeinschaftsrechtlich grundsätzlich zulässig hält; vgl. auch: König, AöR 118 (1993) S. 591, 598. 111 Streinz, Europarecht, S. 249, u. v. m.; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 16, 76, 82, „Beeinträchtigung“ statt „Eingriff“; Classen, EWS 98, 97,105 „In den Diskriminierungsverbot-Konstellationen vermittelt aber die Diskriminierung ausländischer Waren, Personen oder Dienstleistungen bereits den notwendigen grenzüberschreitenden Gesichtspunkt“; zur „Erosion“ dieses Merkmals siehe unten B. II. 1. a) bb) und B. II. 3. a).
B. Rechte aus dem EG-Vertrag, insbesondere die Grundfreiheiten
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mente des Tatbestands der Grundfreiheiten zunächst nur im Sinne von äußerlichen Merkmalen interessieren, kann als Ergebnis festhalten werden: Das grenzüberschreitende Element ist charakteristisches Tatbestandsmerkmal der Grundfreiheiten. Das Tatbestandsmerkmal erklärt sich aus der ursprünglichen Rolle der Grundfreiheiten, die gezielt an den „Trennwänden“ zwischen den Teilmärkten ansetzen, um die Durchlässigkeit für den Ausgleichsfluss von Teilmarkt zu Teilmarkt zu gewährleisten und zu erhöhen. Mit anderen Worten: Nur die Trennwand selber ist für das Normprogramm der Grundfreiheiten relevant. Was hinter den Trennwänden im Innern der Teilmärkte passiert, ist aus Sicht der Grundfreiheiten unerheblich. Ob das für die Gemeinschaftsgrundrechte in derselben Weise gilt oder ob nicht vielmehr für die Gemeinschaftsgrundrechte im Unterschied zu den Grundfreiheiten von einer „Tatbestandsintegrität“ ausgegangen werden kann, das fehlende Merkmal „Grenzübertritt“ also den Tatbestand als solchen gar nicht berührt, soll hier nur kurz als Frage aufgeworfen und dann bei der Darstellung der Gemeinschaftsgrundrechte und im Schlussteil der Arbeit ausgeführt werden.112 Interessant ist in dem Zusammenhang ein Vergleich mit dem Art. 18 Abs. 1 EGV, der seit Maastricht das Freizügigkeitsrecht des Unionsbürgers im Vertrag verankert. Dort ist nur von Freizügigkeit die Rede, nicht von grenzüberschreitender Freizügigkeit. Möglicherweise unterstellen die Vertragsstaaten, dass der Unionsbürger dieses europäische Recht nur dann in Anspruch nimmt, wenn er sich über eine Grenze hinweg in ein EU-Nachbarland begeben will. Aus Wortlaut und Struktur der Vorschrift ergibt sich eine solche Einschränkung indes nicht. Der Grenzübertritt ist kein Tatbestandsmerkmal des Freizügigkeitsrechts aus Art. 18 Abs. 1 EGV.113 bb) Die Erosion des Tatbestandsmerkmals „Grenzübertritt“ bei den Grundfreiheiten Das Erfordernis des „Grenzübertritts“ ist mehr als bloß charakteristisches Tatbestandsmerkmal der Grundfreiheiten. Indem es das freiheitliche Potenzial der Vorschriften auf die Trennwände und damit auf die Angleichung der Teilmärkte bündelt, prägt es als unverzichtbares Strukturelement unmittelbar die Funktion der Grundfreiheiten. Diese Unverzichtbarkeit des Merkmals „Grenzübertritt“ scheint in der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht mehr selbstverständlich. Es zeichnet sich eine Entwicklung ab, dieses Merk112 Siehe unten C. II. 2. b) sowie im dritten Teil unter B. I. 2. a) zur Rolle des grenzüberschreitenden Elements für die Grundrechte. 113 Hatje, in: Schwarze, Rn. 6 zu Art. 18 EGV „Anders als die wirtschaftlichen Freizügigkeitsrechte erfordert der Art. 18 EGV vom Tatbestand her keinen Grenzübertritt“; Reich, Bürgerrechte, S. 162.
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mal abzuschwächen und so sehr aufzuweichen, dass es zuletzt nur noch ein „verzichtbares“ Merkmal der Grundfreiheiten wird, das diese näher beschreibt („koloriert“), ohne deren Struktur mitzutragen. Das wäre ein Hinweis auf eine Annäherung der Struktur der Grundfreiheiten an die Struktur der Grundrechte. Als Folgeüberlegung lässt sich der folgende Dreisatz aufstellen: Eine Schwächung des Merkmals „Grenzübertritt“ bedeutet eine Annäherung der Grundfreiheiten an die Grundrechte. Ein Verschwinden des Merkmals „Grenzübertritt“ bedeutet die Gleichsetzung der Grundfreiheiten mit den Grundrechten. Diese These soll der Hintergrund für die folgende Rechtsprechungsanalyse sein, die der Frage nachgeht, wie weit die Erosion des Tatbestandsmerkmals „Grenzübertritt“ bei den Grundfreiheiten fortgeschritten ist. (1) Die Inländerdiskriminierung als Folge des Tatbestandsmerkmals des „Grenzübertritts“ Das starre Festhalten am Tatbestandsmerkmal des Grenzübertritts führt in den Augen vieler Kritiker zu ungerechten Ergebnissen. Aus Sicht des schutzsuchenden EU-Bürgers stellt sich das Tatbestandsmerkmal als ein Filter dar, der ihm in den zahlenmäßig meisten Fällen den Zugang zu den Grundfreiheiten versperrt. Denn in den Genuss der subjektiven Rechte der Grundfreiheiten kommt er nur, wenn seine wirtschaftliche Aktivität in irgendeiner Form und zu irgendeinem Zeitpunkt eine Staatengrenze überschreitet. Ein Händler in Deutschland muss seine Ware oder seine Dienstleistung für einen Abnehmer jenseits der Staatsgrenze bestimmen.114 Derselbe Händler, der seine Ware an einen Kunden nur wenige Meter diesseits der Grenze sendet, bleibt trotz gleicher Interessenlage aus Sicht des Händlers und des Kunden ohne den Schutz aus Art 28 f. oder des Art. 49 EGV. Ein EU-Ausländer wiederum, der als „Einwanderer“ Tür an Tür mit dem deutschen Händler sein Geschäft betreibt, kann für den Handel innerhalb Deutschlands ebenso gut wie für den Handel über die Grenze den Schutz aus Art. 28 EGV in Anspruch nehmen. Das muss von den Inländern hingenommen werden („Inländerdiskriminierung“).115 Die Inländerdiskriminierung wird von einigen Autoren wegen der in den Beispielen skizzierten „materiellen Ungerechtigkeiten“ scharf angegrif114 Dahinter steckt ersichtlich die Anreiz- und Belohnungsfunktion, vgl.: Wölker, in: GTE, Rn. 63 zu Art. 52 EGV. 115 Epiney, Umgekehrte Diskriminierung, S. 33 f. schlägt in Anlehnung an den französichen Begriff „discrimination à rebours“ die Bezeichnung „umgekehrte Diskriminierung“ als die präzisere Ausdrucksweise vor, da diese anders als die Bezeichnung „Inländerdiskriminierung“ auch die nicht-personalen Grundfreiheiten abdecke.
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fen.116 In einem Binnenmarkt dürfe, nachdem einmal ein gemeinsamer Marktplatz geschaffen worden sei, der Grenzübertritt überhaupt kein relevantes Kriterium mehr sein.117 Der grenzüberschreitende Marktbürger habe dem mobilen Unionsbürger Platz gemacht. Es ginge mittlerweile darum, den Bürgern in der Union vergleichbare Schutzstandards einzuräumen, und zwar auch dann, wenn sie ihren Heimatstaat gar nicht verließen.118 Trotz dieser klaren Worte findet sich die Literatur im Ergebnis mit dem Phänomen der Inländerdiskriminierung als Ausdruck der besonderen zwischenstaatlichen Struktur der Gemeinschaft ab.119 Die strukturellen Ursachen für die Inländerdiskriminierung werden offenbar als unveränderliche Vorgabe angesehen.120 Soweit ersichtlich unternimmt nur Epiney mit ihrem Ansatz den Versuch, das tieferliegende Problem der Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten als Ursache des Konzeptes der Inländerdiskriminierung neu zu bestimmen. Der Schutz gegen gemeinschaftliche Einflussnahme, den die Mitgliedstaaten um ihre Rechtsordnungen errichtet haben, wird auch von ihr letzten Endes nicht völlig preisgege116 Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 149 „widersinniges Ergebnis“; Bleckmann, Die umgekehrte Diskriminierung im EWG-Vertrag, RIW 1985, S. 917, 918 f., 921. 117 Heydt, EuZW 1993, S. 105; Reich, Bürgerrechte, S. 53 f., 162; Epiney, in: Calliess/Ruffert, Rn 33 zu Art. 12 EGV m. w. N.; Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 159; Wölker, in: GTE, Rn. 12 zu Art. 39 EGV; Der Grenzübertritt als Merkmal sei verschwunden, sagt auch Nachbaur, EuZW 1994, S. 281, 282 im Zusammenhang mit der Entscheidung EuGH v. 23.2.1994, Rs. C-419/92 „Ingetraut Scholz“, Slg. 94, S. 505 ff.; Schubert, Gemeinsamer Markt als Rechtsbegriff, S. 189 „Bei der allgemeinen Warenverkehrsfreiheit spielt das grenzüberschreitende Element keine Rolle mehr“; unschlüssig Bleckmann, RIW 1985, S. 917, 918 f., 921. 118 Reich, Bürgerrechte, S. 53 f., S. 162 „Als Unionsbürgerrecht sollte die Freizügigkeit umfassend und nicht nur grenzüberschreitend geschützt werden“. 119 Jarass, in: FS Everling, S. 593, 603, „Die Grundfreiheiten enthalten daher durchweg nur ein einseitig wirkendes Differenzierungsverbot zugunsten grenzüberschreitender Vorgänge“; Knobbe-Keuk, DB 1990, S. 2573, 2576 f. m. w. N.; König, AöR 118 (1993) S. 591, 598; Reitmaier, Inländerdiskriminierung, S. 3 mit der Begründung, die Inländerdiskriminierung gehe auf die Untätigkeit der nationalen Regierung zurück, die vom Gemeinschaftsrecht gewährten Vorteile auch ihren Staatsangehörigen zukommen zu lassen. Da diese Staatsangehörigen ihre nationale Regierung abwählen können, müssten sie, sofern sie das nicht tun, mit der Ungleichbehandlung wohl einverstanden sein; Wölker, in: GTE, Rn. 63 zu Art. 52 EGV; Holoubek, in: Schwarze, Rn. 33 zu Art. 12 EGV m. w. N. 120 Heydt, EuZW 1993, S. 105; Weyer, EuR 1998, S. 435, 455, 457 f., 460 f.; Bleckmann, RIW 1985, S. 917, 918, 921 kann als Beispiel dafür gelten, wie versucht wird, von dem Ergebnis der Inländerdiskriminierung wegzukommen, etwa über den allgemeinen Gleichheitssatz. Am Ende muss aber auch Bleckmann eingestehen, dass am „grenzüberschreitenden Bezug“ kein Weg vorbeiführt und dass dem Inländer, der die Auslandsberührung vermeidet, die Berufung auf die Grundfreiheiten abgeschnitten bleibt (S. 921); ebenso Reitmaier, Inländerdiskriminierung, S. 124 f.
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ben. Denn Epiney verzichtet zwar auf das grenzüberschreitende Element als Regulativ, um die nationalen Kompetenzen zu erhalten. Auch rein interne Sachverhalten unterfallen ihrer Ansicht nach damit grundsätzlich dem Binnenmarktrecht.121 Der Konflikt wird aber auch hier nur verschoben. Denn Epiney ersetzt diesen „Wall“ an den Staatsgrenzen durch einen neuen „Wall“, der auf das Territorium der Mitgliedstaaten zurückversetzt ist.122 Dennoch verraten die kritischen Stimmen viel über das jeweils zugrundeliegende Verständnis der Grundfreiheiten. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Inländerdiskriminierung als typisches Phänomen des Gemeinschaftsrechts akzeptiert wird, zeigt die Unverzichtbarkeit des Tatbestandsmerkmals des Grenzübertritts für die Struktur der Grundfreiheiten. Zugleich wird die enge Verknüpfung der Normstruktur der Grundfreiheiten mit der Förderung der gezielten Durchmischung der Teilmärkte – auch unter Inkaufnahme punktueller Ungerechtigkeiten – deutlich. (2) Die Tendenz in der Rechtsprechung: Der Begriff des Grenzübertritts verliert an Kontur und – scheinbar – an Bedeutung für die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten Die Stimmen in der Literatur, die das Kriterium des grenzüberschreitenden Elements als materiell ungerecht und überholt in Frage stellen, können sich vordergründig auf eine Entwicklung in der Rechtsprechung des Gerichtshofs stützen, in der das Merkmal des „Grenzübertritts“ seine Kontur und damit seine Bedeutung verloren zu haben schien. Das war Anlass, von einem Verschwinden des „transnationalen Elements“ zu sprechen.123 Im Ergebnis wird sich allerdings zeigen, dass das grenzüberschreitende Element 121
Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 235 f. Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 250, 255 ff. Das gelingt ihr, indem sie den Mitgliedstaaten gestattet, unter Berufung auf sogenannte „berechtigte Interessen“ eigene Regeln für bestimmte interne Sachverhalte beizubehalten. Das sind dann Regeln, die zwar prima facie grundfreiheitswidrig sind und auch nicht über die Rechtfertigungsgründe für Eingriffe in Grundfreiheiten gerechtfertigt werden können (Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 246; Epiney, in: Calliess/ Ruffert, Rn. 35 zu Art. 12 EGV), sondern über diese neuen „berechtigten Interessen“ auf einer Ebene etwas unterhalb der „offiziellen“, bisher bekannten Rechtfertigungsgründe angesiedelt sind. Aus nationalen Regelungen werden somit „lokale“ Regelungen, da die Staatsgrenze ja mit dem „grenzüberschreitenden Element“ irrelevant geworden ist. Entsprechend nennt Epiney auch ausdrücklich nationale und regionale Wertvorstellungen und die in diesen Wertvorstellungen begründeten kulturellen Interessen als praktisch bedeutsame denkbare „berechtigte Interessen“ im Sinne ihres Entwurfes (Epiney, in: Calliess/Ruffert, Rn. 36 zu Art 12 EGV). 123 So ausdrücklich Nachbaur, EuZW 1994, S. 281, 282, im Zusammenhang mit der Entscheidung EuGH v. 23.2.1994, Rs. C-419/92 „Ingetraut Scholz“, Slg. 94, S. 505 ff., in: EuZW 1994, S. 281. 122
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allen Versuchen, es aus dem Tatbestand der Grundfreiheiten herauszudrängen, widersteht. Es taucht im entscheidenden Moment – wenn auch nicht immer sofort als solches erkennbar – wieder auf. Der Gerichtshof hat die Begriffe „Grenzübertritt“ und „grenzüberschreitende Tätigkeit“ in einer Reihe von Entscheidungen immer weiter ausgedehnt und zuletzt auch sehr indirekte Bezüge zum Ausland ausreichen lassen, um die Anwendung der Grundfreiheiten zu ermöglichen. So kamen vermehrt einzelne Marktbürger unter den Schutz der Grundfreiheiten, ohne dass sie im konkreten Fall eine Tätigkeit im Ausland aufnehmen wollten. Sie konnten sich ihrem Heimatstaat gegenüber auf die Freizügigkeit oder die Niederlassungsfreiheit berufen, obwohl sie innerhalb der Grenzen dieses Heimatstaates ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen wollten. Bekanntestes Beispiel ist die Entscheidung Knoors.124 Der Niederländer Knoors hatte sein Diplom als Klempner in Belgien erworben. Die niederländischen Behörden weigerten sich, das belgische Diplom anzuerkennen, als er einige Jahre später in die Niederlande zurückkehren wollte.125 Knoors konnte sich auf die Grundfreiheiten berufen, obwohl die von ihm angestrebte Tätigkeit keinen grenzüberschreitenden Bezug aufwies.126 Erst der Blick in Knoors’ Lebenslauf zeigt, warum der Gerichtshof hier die Grundfreiheiten für einschlägig halten konnte. Die Grenze wurde zu einem früheren Zeitpunkt überquert, als Knoors in den sechziger Jahren seine Ausbildung im Nachbarland Belgien erhielt. Auf die Entscheidung, ins Ausland zu gehen, um dort zu arbeiten, kann die Vorschrift des Art. 43 EGV für Knoors keinen Einfluss mehr nehmen. Die Entscheidung, seine Berufsausbildung im europäischen Ausland zu erwerben, hatte Knoors bereits getroffen, bevor er sich jetzt auf die Grundfreiheiten beruft, um ohne administrative Hindernisse beruflich in sein Heimatland zurückkehren zu können. Sieht man in den Grundfreiheiten in erster Linie die Instrumente, mit denen die vertragsschließenden Staaten die gegenseitige Durchdringung der Märkte erreichen wollen, so kann dieser Zweck im Fall Knoors zum Zeitpunkt des Verfahrens ersichtlich nicht mehr erreicht werden. Seine Rückkehr in die Niederlande ist im Sinne der Durchmischung der Märkte bei bilanzierender Betrachtung sogar kontraproduktiv. Jeder Rückkehrer ist ein mobiler Marktteilnehmer weniger in den Statistiken. 124
EuGH v. 7.2.1979, Rs. 115/78, „Knoors“, Slg. 79, S. 399 ff. Daher die Bezeichnung „Rückkehrer-Fälle“ für diese Gruppe von Entscheidungen. Weitere Rückkehrerfälle sind: EuGH v. 6.10.1981, Rs. 246/80, „Broekmeulen“, Slg. 81, S. 2311, 2329, Rz. 18; EuGH v. 8.12.1987, Rs. 20/87, „Gauchard“, Slg. 87, S. 4879, 4896, Rz. 10 ff.; EuGH v. 7.7. 1992, Rs. C-370/90, „Singh“, Slg. 92, S. 4265, 4293 f., Rz. 16 ff.; EuGH v. 31.3.1993, Rs. C-19/92, „Kraus“, Slg 93, S. 1663, 2694 f., Rz. 17, 23. 126 EuGH v. 7.2.1979, Rs. 115/78, „Knoors“, Slg. 79, S. 399, 409, Rz. 19 f. 125
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Aus der Funktion der Grundfreiheiten, im Vorfeld einen „Anreiz“ zur Mobilität zu bieten, indem der migrationsbereite Arbeitnehmer unter Berufung auf Art. 39 EGV Hindernisse aus dem Weg räumen kann, die sich ihm bei der Umsetzung seines Vorhabens in den Weg stellen, ist so eine „Belohnung“ für den Arbeitnehmer geworden, der irgendwann einmal eine Grenze überquert hat.127 Allerdings bleibt im Gesamtsystem die positive Signalfunktion für andere potenziell migrationsbereite Arbeitnehmer bestehen.128 Nur aus der Einzelperspektive des heimkehrenden Arbeitnehmers kann die Vorschrift des Art. 39 EGV nicht mehr für den Entschluss zur Auswanderung kausal werden. Sehr deutlich wird diese leichte Verschiebung in der Funktion des Art. 39 EGV auch in der Entscheidung Scholz.129 Dort lebte die Klägerin – ursprünglich Deutsche, mittlerweile Italienerin – bereits lange Zeit in Italien, ohne dort zu arbeiten, bevor sie sich bei der Arbeitssuche erfolgreich dem italienischen Staat gegenüber auf Art. 39 EGV berufen konnte. Frau Scholz war zu diesem Zeitpunkt italienische Staatsbürgerin und wollte in Italien arbeiten. Die einzige grenzüberschreitende Tatsache des Verfahrens war der Moment, in dem Frau Scholz vor Jahren die Grenze nach Italien passiert hatte. Das reichte dem Gerichtshof aus, obwohl dieses grenzüberschreitende Element ein rein privates war, und von „einer Ortsveränderung im Hinblick auf eine wirtschaftliche Tätigkeit“ keine Rede sein konnte.130 Es kommt an dieser Stelle zur Überschneidung der beiden Tatbestandsmerkmale der Grundfreiheiten, das „grenzüberschreitende Element“ und die „Wirtschaftsbezogenheit“. Denn die Zuständigkeit des Gerichtshofs hängt in einem Fall wie dem der Frau Scholz davon ab, ob ein einzelnes – privates – grenzüberschreitendes Merkmal ausreicht, um den gesamten – wirtschaftlich geprägten – Sachverhalt zu einem grenzüberschreitenden Sachverhalt zu machen. Damit erhöht sich die Anzahl von Sachverhaltskonstellationen, die einer grundfreiheitlichen Kontrolle unterstellt werden können, ganz erheblich. Als Beleg dafür, dass mit der Entscheidung Ingetraut Scholz eine Veränderung der Struktur der Grundfreiheiten stattgefunden hat, kann die zeitlich etwas weiter zurückliegende Entscheidung Werner angeführt werden.131 Für Herrn Werner, der tagsüber als Deutscher in Deutschland arbeitete und nach Feierabend im Ausland lebte, hatte der Gerichtshof den Auslandsbezug 127 Klang, Soziale Sicherheit, S. 95 f., 191, der diese Anreizfunktion der Grundfreiheiten kritisch sieht. Eine Besserstellung des Mobilen sei durch die Freizügigkeitsregeln, jedenfalls in der Form des Diskriminierungsverbots, nicht gedeckt. 128 Denn denen wird klargemacht, dass es nicht von Schaden ist, ins Ausland zu gehen, weil man sich bei der Rückkehr ins eigene Land der Unterstützung durch die Grundfreiheiten gewiss sein kann. 129 EuGH v. 23.2.1994, Rs. C-419/92, „Ingetraut Scholz“, Slg. 94, S. 505 ff. 130 Schlussanträge Darmon zu EuGH v. 26.1.1993, Rs. C-112/91, „Werner“, Slg. 1993, S. 429, 459, 461, Rz. 30, 45.
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noch als „zu privat“ abgelehnt. Was Herr Werner nach Feierabend tat, war aus Sicht des Gerichtshofs unerheblich und konnte keinen Eingang in den entscheidungserheblichen Sachverhalt finden. Ein Jahr später nimmt er zugunsten von Frau Scholz keinen Anstoß mehr daran, dass sie vor Jahren nicht aus beruflichen Gründen, sondern „aus Liebe“ von Deutschland nach Italien ausgewandert war.132 Mit der Entscheidung Angonese aus dem Jahr 2000 hat der Gerichtshof den Faden, an dem er die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten aufhängt, noch eine Spur feiner gesponnen.133 Im Sachverhalt dieser Entscheidung lässt sich der grenzüberschreitende Bezug kaum noch aufspüren. Der Kläger Angonese aus Bozen in Südtirol klagte gegen die Einstellungspraxis einer örtlichen Bank, die von allen Bewerbern einen bestimmten Zweisprachigkeitsnachweis (sog. „Patentino“) verlangte, den man in Südtirol mehrmals im Jahr ablegen kann. Herr Angonese, der nach einem (nicht bankbezogenen) Studienaufenthalt in Österreich nach Südtirol zurückkehrte, konnte diesen Zweisprachigkeitsnachweis nicht rechtzeitig vorlegen und daher nicht wie beabsichtigt an dem Auswahlverfahren der Bank teilnehmen. Nach seiner – und des Gerichtshofs – Ansicht ist das Erfordernis eines solchen, ganz speziellen Nachweises eine Benachteiligung aller Menschen, die nicht in Südtirol ansässig sind und mehrmals im Jahr ohne großen Aufwand diesen Nachweis in ihrer Heimatstadt erhalten können. Angonese stammte aber aus Bozen und hätte sich diesen Nachweis ohne Problem zu der Zeit holen können, als er dort auch wohnte. Der Auslandsbezug ist entweder „hypothetisch“ – ein deutscher oder österreichischer Bewerber ist in der Tat benachteiligt – oder aber man lässt für die Anwendung der Grundfreiheiten ausreichen, dass Angonese als Austauschstudent in Österreich gelebt hat, was aber mit der Zulassung zum Bewerbungsverfahren nichts zu tun hatte.134 131 EuGH v. 26.1.1993, Rs. C-112/91, „Werner“, Slg. 1993, S. 429, 470 Rz. 17; siehe unten B. II. 1. b) zum Tatbestandsmerkmal der Wirtschaftsbezogenheit der Grundfreiheiten. 132 EuGH v. 23.2.1994, Rs. C-419/92, „Ingetraut Scholz“, Slg. 94, S. 505, 521, Rz. 9; Nachbaur, EuZW 1994, S. 281, 282. 133 EuGH v. 6.6.2000, Rs. C-281/98, „Angonese“, Slg. 00, S. 4139 ff. 134 Der Gerichtshof hat die Vorlage der eifrigen Präfektur von Bozen dankend aufgegriffen und die Begrenztheit der tatsächlichen Umstände auf einen möglicherweise rein nationalen Sachverhalt nicht erwähnt. Damit stellt der Gerichtshof sich gegen den Vorschlag des Generalanwalts Fennelly, der nicht bereit war, den Studienaufenthalt, der keinen Bezug zu der angestrebten Tätigkeit aufwies, zum grenzüberschreitenden Element zu erklären, oder das „grenzüberschreitende Element“ darin zu sehen, dass das geforderte Patentino in der Regel von Anwohnern irgendwann gemacht wird, und sie sich dann sofort damit bewerben können, während jemand, der von außen (Süditalien oder Ausland) kommt, es praktisch nicht schafft, innerhalb einer Bewerbungsfrist ein solches „Patentino“ zu erhalten; vgl. die
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Nach Angonese ist die Kontur des „grenzüberschreitenden Bezugs“ kaum noch zu bestimmen. Nimmt man den Gerichtshof beim Wort, so hat er den Begriff des „wirtschaftlichen Bezuges“ des Grenzübertritts so weit ausgedehnt, dass es ausreicht, wenn ein Kläger irgendwann in seinem Leben „als guter Europäer“ eine gewisse Zeit im Ausland zugebracht hat, um für den Rest seines Lebens in den Vorteil der Grundfreiheiten zu gelangen. Die Sache kann aber auch aus einer anderen Richtung betrachtet werden. Wenn nicht die Perspektive des Herrn Angonese ausschlaggebend ist, sondern die eines fiktiven Nicht-Bozeners, dann ist dessen Freizügigkeit in der Tat dadurch betroffen, dass es für ihn schwieriger ist, das Patentino zu erhalten als für die Bozener. Damit hat der Gerichtshof offensichtlich der Sache nach auch für die Arbeitnehmerfreizügigkeit die Dassonville-Formel angewandt.135 Auch das würde bedeuten, dass das Merkmal des Grenzübertritts durch inflationären Gebrauch aufgehoben ist. Denn ein solcher fiktiver Ausländer, der es mit lokalen Besonderheiten schwerer hätte als die Einheimischen, kann in jedem Verfahren beschworen werden. Am Beispiel der Warenverkehrsfreiheit ist auf diese rein hypothetischen Grenzübertritte im Folgenden einzugehen. (3) Verwässern des Tatbestandsmerkmals des Grenzübertritts durch rein hypothetische und bloß behauptete zukünftige Grenzübertritte? Eine Aufweichung des auf den ersten Blick klaren und unmissverständlichen Kriteriums des „grenzüberschreitenden Elements“ droht zum einen, wie gezeigt, durch die Verlagerung des für Art 39 EGV relevanten „Grenzübertritts“ in die Vergangenheit hinein.136 Ein zweiter Grund für ein Verwässern dieses Merkmals könnte in einer Erweiterung in die umgekehrte Richtung resultieren, falls zugelassen würde, dass auch weit in der Zukunft liegende und rein hypothetische Grenzübertritte die Rechtsfolgen der Grundfreiheiten auslösen. Dann würde es ausreichen, dass ein Kläger im Prozess vorträgt, er spiele mit dem Gedanken, seine wirtschaftliche Tätigkeit in Zukunft auch über die Grenze Schlussanträge Fennelly zu EuGH v. 6.6.2000, Rs. C-281/98, „Angonese“, Slg. 00, S. 4139, 4135, Rz. 28 sowie S. 4162 ff., Rz 9, 13 ff. der Entscheidungsgründe. 135 Zu der besonderen Situation in der Sache „Angonese“ wegen Art. 1418 und 1421 des italienischen Codice Civile siehe: Körber, EuR 2000, S. 932, 933, 939. 136 Das Merkmal wird diffuser, sagt etwa Nachbaur, EuZW 1994, S. 281, 282. Diese Tendenz spiegelt sich auch in der Wortwahl wieder, wenn etwa Begriffe wie „Gemeinschaftsbezug“ an die Stelle von „grenzüberschreitendem Bezug“ treten, vgl. auch „Community element“ oder „rattachement communautaire“ anstelle von „transboundary element“.
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hinaus ausüben zu wollen, um das Gericht an die Beachtung der Grundfreiheiten zu binden und diese Bindung notfalls vor dem Gerichtshof durchsetzen zu können. An dieser Stelle klaffen die Warenverkehrsfreiheit und die anderen Grundfreiheiten auseinander. Das grenzüberschreitende Element geht bei Art. 28 f. EGV auf den ersten Blick eigene Wege. Für einen Händler ist es in der Regel unproblematisch, den Bezug zur Warenverkehrsfreiheit herzustellen. Die „uferlose Weite“ der Dassonville-Formel mit ihrem Verbot jeglicher „potenzieller“ Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels, lässt jeden Versuch scheitern, das grenzüberschreitende Element in diese Richtung sinnvoll einzugrenzen.137 In Fällen wie Keck oder den Vorläuferfällen zum Sonntagsverkaufsverbot ist der grenzüberschreitende Bezug automatisch durch den Hinweis auf Warenimporte und -exporte gegeben, auch wenn von einzelnen, nachgewiesenen Importvorgängen nicht die Rede ist.138 Der Wortlaut der Art. 28 und 29 EGV und die „Dassonville-Formel“ sprechen für die Annahme eines solchen Automatismus. Wenn eine „potenzielle“ Beeinträchtigung ausreicht, um den Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit zu eröffnen, dann kann die Frage, wie ernsthaft der Grenzübertritt geplant ist, keine Rolle spielen. Ob ein Importeur konkret eine Einfuhr plant, oder ob eine bestimmte Ware in Wahrheit niemals über die Grenze wechseln soll und wird, ist in dem Moment ohne Bedeutung, da die abstrakte Möglichkeit der Behinderung im Raum steht und die Sanktion des Art. 28 EGV auslösen kann. So ist beispielsweise trotz des rein innerfranzösischen Sachverhalts die Zuständigkeit des Gerichtshofs in der Sache Keck nie ernsthaft in Zweifel gezogen worden. Dennoch kann daraus nicht geschlossen werden, dass der Gerichtshof das Tatbestandsmerkmal des „Grenzübertritts“ für die Warenverkehrsfreiheit vollständig fallengelassen hat. Der Grenzfall Keck kann nicht verallgemeinert werden. Die Grenznähe der elsässischen Supermärkte, um deren Verkaufspraktiken es ging, spielte zumindest eine atmosphärische Rolle, wenn die genaue rechtliche Relevanz dieser Grenznähe im Urteil auch unklar bleibt.139 Außerdem waren sich alle Beteiligten weitgehend einig darüber, dass der Gerichtshof die Gelegenheit zu einer Klärung nutzen sollte.140
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EuGH v. 11.7.1974, Rs. 8/74, „Dassonville“, Slg. 74, S. 837, 852, Rz. 5. EuGH v. 24.11.1993, verb. Rs. 267/91 und 268/91, „Keck und Mithouard“, Slg. 93, S 6079 ff.; EuGH v. 23.11.1989, Rs. C-145/88, „Torfaen“, Slg. 89, S. 3851 ff. 139 EuGH v. 24.11.1993, verb. Rs. 267/91 und 268/91, „Keck und Mithouard“, Slg. 93, S 6079, 6128 f., Rz. 4, dort unter Ziffer b; Schlussanträge Van Gerven, Slg. 93, I-6079, 6110 f., Rz. 2 sowie der Sitzungsbericht, Rz. 14, 19. 140 Vgl. auch Streinz/Leible, EuZW 2000, S. 459, 460. 138
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Der Eindruck, vollständig auf einen tatsächlichen Grenzübertritt verzichten zu können, resultiert letztlich aus der Summe grenzwertiger Sachverhalte im Vorfeld der Entscheidung Keck. Für große Handelsketten lässt sich immer ein grenzüberschreitender Bezug unterstellen, weil erfahrungsgemäß ein gewisser Prozentsatz der Waren aus dem EU-Ausland bezogen wird.141 Wegen dieser statistischen Gesetzmäßigkeit verzichtet der Gerichtshof darauf, einen konkreten Importvorgang zum Gegenstand des Verfahrens zu machen. Praktisch kann ein Händler demnach – sobald er ein gewisses Handelsvolumen erreicht – die Grundfreiheiten beliebig in Anspruch nehmen. Rechtlich allerdings bleibt ein konkret geplanter Import oder Export Voraussetzung für die Berufung auf die Warenverkehrsfreiheit.142 Der Versuch, die Keck-Konstellation zu verallgemeinern und als Beweis für das Verschwinden des grenzüberschreitenden Elements heranzuziehen, müsste aber auch aus einem anderen Grund scheitern: Es war gerade die Vorstellung, dass jeder Handeltreibende beliebigen Zugriff auf Art. 28 EGV habe und damit jede ungeliebte innerstaatliche Handelsvorschrift aushebeln könne, die den Widerstand gegen die Dassonville-Formel ausgelöst hat, der schließlich dazu führte, dass in Keck die „uferlose Weite“ der Formel beschnitten wurde.143 Wenn der Gerichtshof in Keck mit den Verkaufsmodalitäten einen großen inhaltlichen Bereich aus dem Tatbestand des Art. 28 EGV herausnimmt, dann ist das nicht zuletzt auch ein Versuch, das Tatbestandsmerkmal des Grenzübertritts wieder zu stärken. Denn die Keck-Rechtsprechung konzentriert die Funktion des Art. 28 EGV wieder auf die „Produkteigenschaften“, und es sind die Produkte, die tatsächlich Grenzen überschreiten. Bei den anderen Grundfreiheiten ist der Gerichtshof nicht in demselben Maße großzügig mit „rein hypothetischen“ Auslandsbezügen verfahren. Ein Einzelner, der sich etwa auf Art. 39 oder 43 EGV berufen möchte, muss nachweisen, dass er tatsächlich ins Ausland gehen will und eine grundfrei141 Füller, Warenverkehrsfreiheiten, S. 103; vgl. auch: EuGH v. 23.11.1989, Rs. C-145/88, „Torfaen“, Slg. 89, S. 3851, 3887, Rz. 7 (10% des Warenumsatzes werden im konkreten Fall mit ausländischer Waren gemacht); vgl. auch EuGH v. 24.11.1993, verb. Rs. 267/91 und 268/91, „Keck und Mithouard“, Slg. 93, S. 6079, 6130, Rz. 13, „solche Vorschriften berühren das Absatzvolumen und damit das Volumen des Absatzes von Erzeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten“. 142 Die Grenze ist schwer zu ziehen. Jeder Kiosk kann sich auf Art. 28 EGV berufen, sobald er ausländische Zeitungen anbietet. Auch ein kleiner Einzelhändler wird nicht ohne Waren aus dem Ausland auskommen. Erst der Bauer, der seine Produkte auf dem Hof verkauft, und dessen Hof weder im Grenzgebiet noch in einem von Touristen frequentierten Gebiet liegt, wird glaubhaft machen müssen, dass er sich durch eine staatliche Maßnahme daran gehindert sieht, ins Ausland zu verkaufen. 143 EuGH v. 24.11.1993, verb. Rs. 267/91 und 268/91, „Keck und Mithouard“, Slg. 93, S. 6079, 6131, Rz. 14.
B. Rechte aus dem EG-Vertrag, insbesondere die Grundfreiheiten
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heitswidrige Maßnahme ihn an diesem Vorhaben hindert oder ihm dieses Vorhaben erschwert. Zwar hat der Gerichtshof auch in Entscheidungen zur Niederlassungsfreiheit die Dassonville-Formel angewendet. In den Rechtsanwalts-Fällen etwa wurden administrative Hürden, die den zugewanderten Anwälten das Leben erschwerten, mit der Begründung verboten, „die staatlichen Maßnahmen dürf[t]en nicht geeignet sein, die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten zu behindern oder weniger attraktiv zu machen“.144 In dem Wort „geeignet“ scheint der Verzicht auf den nachgewiesenen, konkreten Grenzübertritt enthalten zu sein. Auch hier macht der Hintergrund der Fälle deutlich, dass das Tatbestandsmerkmal des Grenzübertritts vom Gerichtshof „mitgedacht“ und nicht fallengelassen wurde. Der Gerichtshof spricht in den genannten Fällen von der „potenziell abschreckenden Wirkung der Maßnahmen“, um die Funktionsweise der Grundfreiheiten klarzustellen und ausdrücklich jede Form der Benachteiligung zu erfassen. Die Weite der Dassonville-Formel wird hier als eine Art Drohgebärde eingesetzt und nicht um zu begründen, dass die Kläger Gebhard oder Klopp in den Geltungsbereich der Grundfreiheiten gelangen. Die beiden hatten bereits Büros in Rom und Paris. Dass sie es mit der Niederlassungsfreiheit im EU-Ausland ernst meinten, daran war in den Verfahren nicht zu zweifeln.145 In anderen Fällen hat der Gerichtshof daran gezweifelt, dass die Kläger es mit ihrem behaupteten Grenzübertritt ernst meinten. Die bloße Behauptung des Lehrers Moser, der wegen Zugehörigkeit zur DKP nicht mehr lehren durfte, ihm werde damit auch die Möglichkeit genommen, sich um eine Lehrerstelle in einem anderen Mitgliedstaat zu bewerben, ließ der Gerichtshof nicht ausreichen.146 Der Gerichtshof hält am Tatbestandsmerkmal „Grenzübertritt“ fest. Die bloße denkbare Möglichkeit des Grenzübertritts reicht nicht aus.147 Damit steht auch fest, dass in der Wendung „geeignet, 144 EuGH v. 30.11.1995, Rs. C-55/94, „Gebhard“, Slg. 95, S. 4165, 4197 f., Rz. 37; EuGH v. 31.3.1993, Rs. C-19/92, „Kraus“, Slg. 93, S. 1663, 1697, Rz. 32; EuGH v. 20.5.1992, Rs. C-106/91, „Ramrath“, Slg. 92, S. 3351, 3384, Rz. 28 f.; vgl. dazu auch Hoffmann, Grundfreiheiten als Abwehrrechte, S. 168; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 66 f. 145 EuGH v. 30.11.1995, Rs. C-55/94, „Gebhard“, Slg. 95, S. 4165 ff.; EuGH v. 12.7.1984, Rs. 107/83, „Klopp“, Slg. 84, S. 2971 ff. 146 EuGH v. 28.6.1984, Rs. 180/83, „Moser“, Slg. 84, S. 2539, 2545, 2547 f., Rz. 4, 18. 147 Anders höchstens EuGH v. 6.6.2000, Rs. C-281/98, „Angonese“, Slg. 00, S. 4139, 4169, Rz. 18 f., unter Hinweis auf die Cabour-Rechtsprechung des Gerichtshofs, vgl. EuGH v. 30.4.1998, Rs. C-230/96, „Cabour“, Slg. 2055, 2094, Rz. 21. Damit kann der Gerichtshof dem Problem ausweichen. Auch in der Entscheidung v. 11.07.2002, Rs. C-60/00, „Carpenter“, hat der Gerichtshof eine sehr
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
die Grundfreiheiten zu behindern“ der Begriff „geeignet“ zwar jede denkbare Art der Behinderung einschließen kann, dass er aber nicht zugleich in seiner Potenzialität den Fall des Grenzübertritts mit einschließt. Dieses Tatbestandsmerkmal wird nicht automatisch unterstellt, sobald ein Einzelner sich in seiner wirtschaftlichen Tätigkeit beschränkt sieht. Er muss dieses Merkmal zumindest plausibel machen. Wie genau die Anforderungen an eine solche „Darlegungslast“ sind, wenn ein Unionsbürger seine auslandsrelevanten Absichten vor Gericht anführt, um in den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten zu gelangen, ist offen. Der Fußballer Bosman aus Lüttich konnte konkrete Vertragsverhandlungen mit dem neuen Club aus dem nordfranzösischen Dünkirchen nachweisen. Der Lehrer Moser hätte – anwaltlich besser beraten – vielleicht erste Kontakte mit ausländischen Schulämtern dokumentieren sollen. Ähnlich wie Moser erging es dem wegen Mordes verurteilten pensionierten Richters Kremzow, der sich durch seine Strafhaft an der Ausreise in andere Mitgliedstaaten gehindert sah. Er wollte über die Freizügigkeit des Art. 39 EGV eine erneute Überprüfung seines Verfahrens auf Ebene des Gemeinschaftsrechts (materiell dann vor allem Gemeinschaftsgrundrechte und EMRK-Grundsätze) durch den Gerichtshof erreichen. Generalanwalt La Pergola hat deutlich gemacht, dass die „rein hypothetische Aussicht auf die Ausübung des Freizügigkeitsrecht“ nicht ausreiche, um zur Anwendung der Freizügigkeitsbestimmungen des Vertrags (Art. 39 EGV und Art. 18 Abs. 1 EGV) zu gelangen.148 Im Ergebnis geht der Gerichtshof daher weiterhin vom notwendigen Vorliegen des Tatbestandsmerkmals „Grenzübertritt“ aus. Nur wenn der Gerichtshof sicher weiß oder unterstellen kann, dass die wirtschaftliche Aktivität desjenigen, der sich auf die Grundfreiheiten berufen möchte, tatsächlich auf eine grenzüberschreitende Tätigkeit abzielt, sind die Grundfreiheiten anwendbar. Bei der Warenverkehrsfreiheit ist dieser Zusammenhang nicht immer erkennbar, weil – aufgrund der wirtschaftlichen Verflechtung und der statistischen Verteilung – davon ausgegangen werden kann, dass jede Einschränkung des Warenaustausches bei einem Händler auf einen gewissen Anteil grenzüberschreitender Warenströme zurückwirkt. Bei den Personenverkehrsfreiheiten gelten diese Überlegungen nicht. Eine Einzelperson kann nicht „statistisch“ zu einem gewissen Anteil ins Ausland gehen oder nicht ins Ausland gehen. Die Individualität der Person führt daher zu einer Entweder-Oder-Situation, die zu einer Festlegung zwingt. Entweder geht der lose und indirekte Verbindung zwischen der Beeinträchtigung, die den Schutz der Grundfreiheiten auslöst, und dem grenzüberschreitenden Element ausreichen lassen, vgl. Rz. 39; kritisch dazu Mager, JZ 2003, S. 203, 206. 148 EuGH v 29.5.1997, Rs. C-299/95, „Kremzow“, Slg. 97, S. 2629, 2645, Rz. 16 mit Verweis auf EuGH v. 28.6.1984, Rs. 180/83, „Moser“, Slg. 2539 ff.; vgl. auch die Schlussanträge La Pergola zu Rs. C-299/95, „Kremzow“, Slg. 2629, 2635, Rz. 7.
B. Rechte aus dem EG-Vertrag, insbesondere die Grundfreiheiten
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Gerichtshof davon aus, dass der Einzelne ins Ausland möchte, oder er hält diese Behauptung für vorgeschoben. Einen Automatismus gibt es nicht. Auf keinen Fall möchte der Gerichtshof das Tatbestandsmerkmal „Grenzübertritt“ der freien Disposition der Parteien überlassen, wie die Beispiele Moser, Kremzow und Iorio zeigen.149 Nur die oben genannte Entscheidung Angonese lässt sich in diese Bewertung nicht schlüssig einfügen. Allerdings sind die Passagen zum „hypothetischen Grenzübertritt“ keine tragenden Entscheidungsgründe. Der Gerichtshof sieht in Angonese vielmehr einen sehr weit verstandenen „Rückkehrer-Fall“. Dass die Urteilsbegründung zu Angonese grenzwertig ist, verrät im Übrigen bereits die Diskrepanz zwischen den Schlussanträgen und der Entscheidung.150 (4) Das grenzüberschreitende Element wird schwächer, besteht aber fort Als Befund kann ein Erosionsprozess des Tatbestandsmerkmals „Grenzübertritt“ vermerkt werden, ohne dass allerdings diese Entwicklung auf ein vollständiges Verschwinden diese Elements hin angelegt wäre oder strukturell überhaupt auf ein solches Verschwinden hinauslaufen könnte. Es zeigt sich eine Tendenz in Richtung einer Anwendung der Grundfreiheiten, die sich von ihren beiden Hauptmerkmalen (Grenzübertritt und Wirtschaftsbezug) loszulösen versucht und damit in Richtung einer stärker grundrechtlich geprägten Ausrichtung weist. Um im Einzelfall einem EU-Bürger über die Grundfreiheiten Schutz zukommen lassen zu können, ist der Gerichtshof bereit, auch bloße Spuren dieser beiden Merkmale ausreichen zu lassen. Wie weit in diesen Einzelfällen Billigkeitserwägungen eine Rolle spielen, ist nach außen hin nicht sichtbar. Grundsätzlich hält der Gerichtshof trotz dieser Erosionserscheinungen aber an der Weigerung fest, Sachverhalte zu prüfen, deren Elemente sämtlich nicht über die Grenzen eines Staates hinausweisen. Das „grenzüberschreitende Element“ als kennzeichnendes Merkmal der Grundfreiheiten übersteht daher alle Versuche, es wegzuinterpretieren.151 Das überrascht nicht, wenn man die Gegenkräfte in den Blick nimmt, die eine solche Entwicklung zwangsläufig auslösen muss. Denn hinter dem 149 EuGH v. 29.5.1997, Rs. C-299/95, „Kremzow“, Slg. 97, S. 2629, 2645, Rz. 16; EuGH v. 23.1.1986, Rs. 298/84, „Iorio“, Slg. 86, S. 247, 255, Rz. 14 f.; EuGH v. 28.6.1984, Rs. 180/83, „Moser“, Slg. 84, S. 2539, 2547 f., Rz. 15 ff. 150 EuGH v. 6.6.2000, Rs. C-281/98, „Angonese“, Slg. 00, S. 4139, 4175, Rz. 16; Körber, EuR 2000, S. 932, 946, 949 f. „horror iuris“. 151 Vgl. die Versuche von Reitmaier, Inländerdiskriminierungen, S. 124 f., das grenzüberschreitende Element wegzudefinieren. Auch sie muss letztlich zugeben, dass bei rein internen Sachverhalten die Grundfreiheiten nicht anwendbar sind; Heydt, EuZW 1993, S. 105; Bleckmann, RIW 1985, S. 917, 918, 921; u. v. m.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
Streit um das schwächer werdende „grenzüberschreitende Element“ und hinter der Inländerdiskriminierung steht der Kompetenzkonflikt zwischen der Gemeinschaftsebene und den Mitgliedstaaten, die nicht zulassen wollen, dass ihre innerstaatlichen Vorschriften auf heimischem Territorium und in rein internen Sachverhalten an den gemeinschaftlichen Grundfreiheiten gemessen werden. Wer das grenzüberschreitende Element aufgeben will, nähme den Mitgliedsstaaten sehr viel an Kompetenz.152 Ein vollständiger Verzicht auf dieses Kriterium wäre daher nicht nur begrifflich-systematisch, sondern auch verfassungspolitisch ein großer Schritt. Diese Überlegungen fallen – um nur kurz die Querverbindungen aufzuzeigen – mit der Umwandlung der Grundfreiheiten vom Diskriminierungsverbot in ein allgemeines Beschränkungsverbot zusammen. Denn es lässt sich folgendes Gedankenspiel anstellen: Ein Phänomen wie die Inländerdiskriminierung kann es nicht geben, wenn die Grundfreiheiten nur „ausgleichen“ wollen. Denn dann kann der Fremde maximal das erhalten, was der Inländer bereits hat. Erst wenn die Grundfreiheiten „überkompensieren“, wenn sie dem Ausländer anlässlich des Grenzübertritts weitere Vorteile bietet, kann der Inländer das als diskriminierend empfinden. Er muss erleben, wie der Ausländer mithilfe der Grundfreiheit lästige Beschränkungen abschütteln kann, die er als Inländer weiter tragen muss, weil er – mangels Grenzübertritt – nicht „an die Grundfreiheit herankommt“.153 Darauf wird an anderer Stelle eingegangen.154 Hier soll nur festgehalten werden, dass ein Verzicht auf das grenzüberschreitende Element zwei Dinge bedeuten würde: Zum einen eine Entwicklung der Grundfreiheiten in Richtung einer nicht lediglich ausgleichenden, sondern einer grundrechtlich-freiheitsrechtlichen Struktur. Zum anderen einen beachtlichen Verlust an Einfluss der nationalen Rechtsordnungen. b) Die „wirtschaftsbezogene Tätigkeit“ als Merkmal der Grundfreiheiten Neben dem grenzüberschreitenden Element ist das zweite charakteristische Merkmal der Grundfreiheiten ihre Begrenzung auf Sachverhalte mit 152
Und müsste ihnen dann etwas Anderes dafür geben, beispielsweise eine weitere Möglichkeit der Einflussnahme über eine neue Kategorie sogenannter „berechtigter Interessen“ (Kultur, Regionalpolitik etc.), wie Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 250, 255 ff. es vorschlägt. 153 Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 75, „Inländerdiskriminierung wird grundsätzlich nur relevant, wenn der inhaltliche Anspruch der Grundfreiheiten über die Inländergleichbehandlung hinausgeht“; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 148 f., nach dessen Ansicht die freiheitliche Struktur der Grundfreiheiten erst die Ungleichheit schaffe; Krogmann, Grundrechte im Sport, S. 220. 154 Siehe unten B. II. 3. c).
B. Rechte aus dem EG-Vertrag, insbesondere die Grundfreiheiten
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wirtschaftlichem Bezug. Diese inhaltliche Begrenzung ist durch den Gegenstand der jeweiligen Vorschrift vorgegeben und zeichnet zugleich die zwangsläufige Begrenztheit der Binnenmarktrechtsordnung als Rechtsordnung eines Gemeinwesens nach, das nur auf einer – limitierten – Zuteilung fremder Souveränität basiert. Innerhalb des Bereiches der „wirtschaftlichen Tätigkeit“ weisen die einzelnen Grundfreiheiten eigene, speziellere sachliche Anwendungsbereiche auf, die dann deren Tatbestand im engeren Sinne bilden. Durch die Beschreibung bestimmter Verhaltensweisen (Anstellung als Arbeitnehmer; Erbringen einer Dienstleistung; Einfuhr von Waren etc.) umreißen die Grundfreiheiten hier einen konkreten Lebenssachverhalt als gegenständlichen Bereich, der untechnisch als „Schutzbereich“ bezeichnet werden kann.155 Nach diesen geschützten Verhaltensweisen lassen sich die vier Grundfreiheiten kategorisieren und ins Verhältnis setzen. Typischerweise werden etwa die personenbezogenen Freiheiten der Art. 39 EGV und 43 EGV den produktbezogenen Freiheiten der Art. 28 f. EGV und 49 EGV gegenübergestellt.156 Ähnlich wie das Tatbestandsmerkmal „Grenzübertritt“ hat auch das Tatbestandsmerkmal „Bezug zu einer wirtschaftlichen Tätigkeit“ einen Erosionsprozess durchlaufen. Die Unterscheidung entlang der Trennlinie zwischen wirtschaftlicher und nichtwirtschaftlicher Aktivität ist nicht (mehr) so präzise, wie sie zunächst scheint. Der Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten deren Merkmale immer weiter ausgedehnt, so dass viele Situationen, die auf den ersten Blick mit beruflicher, wirtschaftlicher Tätigkeit nichts zu tun haben, mittlerweile unter den sehr großzügig verstandenen Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit fallen.157 Diese Ausweitung des Anwendungsbereiches in die vormals nicht-wirtschaftliche Sphäre hinein gelingt dem Gerichtshof insbesondere über die Dienstleis155 So etwa Kluth, in: Calliess/Ruffert, Rn. 21 zu Art. 50 EGV. Der Begriff „Schutzbereich“ soll hier keine Vorentscheidung für einen grundrechtlichen Charakter der Grundfreiheiten bedeuten, vgl. auch Jarass, EuR 1995, S. 202, 204, der zwar sagt, dass Grundfreiheiten und Grundrechte nicht in einen Topf geworfen werden dürften, der aber zugleich zugibt, dass vor allem aus der Perspektive des betroffenen Bürgers die Ähnlichkeiten überwiegen, was sich auch darin zeige, dass „der Prüfungsaufbau“ so ähnlich sei. 156 Benjes, Personenverkehrsfreiheiten, S. 151; Körber, EuR 2000, S. 932, 950; Bleckmann, Europarecht, S. 443 Rn. 1066; Nettesheim, NVwZ 1996, S. 342, 343; Jarass, EuR 1995, S. 202, 205 ff.; vgl. aber Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, S. 369 f., der davor warnt, diese Unterscheidung in ihrer Bedeutung zu überschätzen. Zum Ganzen siehe unten B. II. 5. 157 Und möglicherweise überdehnt. Das meint etwa Klang, Soziale Sicherheit, S. 191. Er hält diese Dehnung des Anwendungsbereichs für übertrieben. Es fehle die rechtliche Basis, die Systematik sei durch eine solche Auslegung gesprengt.
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tungsfreiheit des Art. 49 EGV. Nicht nur der Händler, sondern auch der Kunde kann sich auf die Dienstleistungsfreiheit berufen. Neben der aktiven Dienstleistungsfreiheit umfasse Art. 49 EGV auch die „passive Dienstleistungsfreiheit“. Dieser Begriff wurde vom Gerichtshof in der Entscheidung Luisi und Carbone ins Spiel gebracht und gilt spätestens seit der Entscheidung Cowan aus dem Jahr 1989 als gesicherte Rechtsprechung.158 In diesen Fällen geht es um Touristen, die im EU-Ausland in Hotels übernachten, Bus und Taxi fahren und andere Dienstleistung entgegennehmen. Sie stehen damit unter dem Schutz der Grundfreiheiten und können verlangen, in diesen Belangen den einheimischen Bürgern gleichgestellt zu werden.159 Damit ist das Tor aufgestoßen zu einem beinahe unübersehbar weiten Anwendungsbereich des Art. 49 EGV und damit der Grundfreiheiten ganz allgemein. Denn der Reisende, der auf seiner Wanderung durch Europa ganz ohne entgeltliche Dienstleistungen auskommt, wird die Ausnahme bleiben. Es fällt schwerer, einen lebensnahen Fall zu bilden, der vollständig ohne jeglichen wirtschaftlichen Berührungspunkt auskommt, als einen Beispielfall für die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten des EG-Vertrags zu entwerfen. Nur noch sehr wenige Bereiche der Privatsphäre liegen klar abgrenzbar außerhalb der Reichweite irgendeiner Form wirtschaftlicher Relevanz. Ein weiteres Einfalltor für nicht-wirtschaftliche Aspekte in den Tatbestand der Grundfreiheiten ist die Rechtsprechung zum „privaten Grenzübertritt“. Ursprünglich ging der Gerichtshof davon aus, dass die Grundfreiheiten ausschließlich für ein wirtschaftliches Handeln über die Grenzen hinweg angelegt seien. Die beiden Tatbestandsmerkmale mussten also nicht nur beide nebeneinander (kumulativ) vorliegen, sondern zwischen den beiden Merkmalen musste eine innere Verbindung bestehen. Der Grenzübertritt musste Teil des wirtschaftlichen Handelns sein und umgekehrt. Der bereits kurz angesprochenen Entscheidung Werner aus dem Jahr 1993 legte der Gerichtshof noch diese sehr enge, wirtschaftlich motivierte Vorstellung des Begriffes „Grenzübertritt“ zugrunde.160 Als deutscher Staatsangehöriger wohnte Herr Werner – aus privaten Gründen – in den Niederlanden, arbeitete aber in Deutschland. Durch einen streng wirtschaftlichen Filter betrach158 EuGH v. 31.1.1984, verb. Rs. 286/82 und 26/83, „Luisi und Carbone“, Slg. 84, S. 377, 403, Rz. 16; EuGH v. 2.2.1989, Rs. 186/87, „Cowan“, Slg. 89, S. 195, 220 f., Rz. 15 ff. 159 Aus der neuere Rechtsprechung siehe vor allem EuGH v. 19.1.99, Rs. C-348/ 96, „Calfa“, Slg. 99, S. 517 ff.; EuGH v. 12.5.1998, Rs. C-85/96, „Martínez Sala“, Slg. 98, S. 2691 ff.; vgl. auch die Kritik an der „Überdehnung“ des Dienstleistungsbegriffs, Schlussanträge La Pergola zu Rs. C-85/96, „Martínez Sala“, Slg. 98, S. 2691, 2706, Rz. 23; siehe dazu auch unten E. I. am Ende des ersten Teils der Arbeit zur Struktur und Funktion des Art. 18 Abs. 1 EGV als subjektives Recht des Gemeinschaftsrechts. 160 EuGH v. 26.1.1993, Rs. C-112/91, „Werner“, Slg. 1993, S. 429, 470 Rz. 17.
B. Rechte aus dem EG-Vertrag, insbesondere die Grundfreiheiten
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tet, lag also in der Tat der Fall eines Deutschen vor, der in Deutschland arbeitete und steuerpflichtig war. Dass er aus nicht-beruflichen Gründen abends und am Wochenende über die Grenze fuhr, weil er dort seinen Wohnsitz hatte, ist nach Ansicht des Gerichtshofs gemeinschaftsrechtlich irrelevant. Der Gerichtshof musste die Sache zurückweisen. Das hat sich mittlerweile geändert. Diese selektive Sichtweise, die nur die wirtschaftlich relevanten Punkte aus einem Sachverhalt herausliest und zur Grundlage einer Entscheidung nach Gemeinschaftsrecht macht, ist nach Inkrafttreten des Art. 18 Abs. 1 EGV nicht mehr möglich.161 Auch die reine Wohnsitznahme untersteht wegen Art. 18 Abs. 1 EGV nunmehr dem Schutz durch Gemeinschaftsrecht. Herr Werner hätte sich nach gegenwärtiger Rechtslage mit Erfolg auf die Grundfreiheiten berufen können.162 Damit wirkt der Art. 18 EGV nicht durch seine eigene Geltung, sondern – von innen her – auf ein Tatbestandsmerkmal einer anderen Norm (der Grundfreiheiten) in einer Weise ein, dass diese Rechtssätze eine veränderte, erweiterte Anwendung erfahren und über den Umweg über deren Geltung die Ziele des Art. 18 EGV im Ergebnis doch verwirklicht werden. Der Gerichtshof hat dieser veränderten Situation in nachfolgenden Entscheidungen Rechnung getragen.163 Für die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten reicht es jetzt offensichtlich aus, dass die beiden Tatbestandsmerkmale „Grenzübertritt“ und „wirtschaftlicher Bezug“ in irgendeiner Form im zugrundeliegenden Sachverhalt nachgewiesen werden, auch wenn sie unverbunden nebeneinander stehen. Im Ergebnis verliert daher auch das Tatbestandsmerkmal der „wirtschaftsbezogenen Tätigkeit“ durch eine sehr weite Auslegung in der Rechtsprechung des Gerichtshofs an Abgrenzungsschärfe. c) Zusammenfassung: Tatbestandsmerkmale der Grundfreiheiten Die Grundfreiheiten werden wesentlich geprägt von dem Merkmal des Grenzübertritts oder offener formuliert des grenzüberschreitenden Bezugs. Die Freizügigkeit von Waren und Personen innerhalb der Teilmärkte wird von den Grundfreiheiten nicht erfasst. Ihre Regelungswirkung wird auf die Konflikte hin gebündelt, die sich an der Trennwand zwischen den einzelnen Teilmärkten abspielen. Das Merkmal „Grenzübertritt“ ist daher nicht nur notwendige Voraussetzung, um den Geltungsbereich des Gemeinschafts161 Nach der Maastricht-Entscheidung des BVerfG trat der Maastricht-Vertrag am 1.11.1993 in Kraft. 162 Wernsmann, EuR 1999, S. 754, 759; Hertzig/Dautzenberg, DB 1997, S. 8, 10 f. 163 EuGH v. 23.2.1994, Rs. C-419/92, „Ingetraut Scholz“, Slg. 94, S. 505 ff. und die Doppelbesteuerungsfälle, die der Entscheidung „Werner“ nachfolgten. Vgl. die Nachweise bei Wernsmann, EuR 1999, S. 754, 764 ff.
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rechts als solchen zu eröffnen, sondern unverzichtbares Strukturelement der Grundfreiheiten. In der Rechtsprechung drohen die Konturen des Merkmals zu verschwimmen, weil der Gerichtshof – möglicherweise in dem Wunsch, im Einzelfall aus Billigkeitsgründen die Anwendung der Grundfreiheiten zu begründen – auch entfernteste Bezüge zum Grenzübertritt hat ausreichen lassen. Hinzu kommt, dass von Teilen der Literatur das Tatbestandsmerkmal als veraltet und unzeitgemäß abgelehnt wird. In einem Markt ohne Binnengrenzen dürften Freiheiten nicht von Grenzen abhängen. Trotz dieser Abschwächung des Merkmals „Grenzübertritt“ hat sich aber gezeigt, dass es aus der Struktur der Grundfreiheiten nicht wegzudenken ist. Ohne dieses Tatbestandsmerkmal wären die Grundfreiheiten in ihrer Normstruktur nicht allein erweitert oder verändert, sondern es gäbe keine Grundfreiheiten im eigentlichen Sinne mehr. Auch das zweite Tatbestandsmerkmal – der wirtschaftliche Bezug der Grundfreiheiten – ist vom Gerichtshof so stark überdehnt worden, dass bei lebensnaher Betrachtung kaum noch ein Sachverhalt, der vor einem nationalen Gericht verhandelt wird, außerhalb dieses wirtschaftlichen Bezugs gedacht werden kann. Die Schwächung des Merkmals „wirtschaftsbezogene Tätigkeit“ ist eng mit der Entwicklung der Wirtschaftsgemeinschaft zu einem umfassenderen Gemeinwesen verknüpft, wie schon die Rolle des Art. 18 EGV im Zusammenhang mit der Kehrtwende des Gerichtshofs nach der Entscheidung Werner zeigt. Aus der Schwächung sowohl des Merkmals „Grenzübertritt“ als auch des Merkmals „Wirtschaftsbezogenheit“ lassen sich Schlüsse auf die strukturellen Eigenschaften der Grundfreiheiten ziehen. Bereits an dieser Stelle zeigt sich aber auch die enge Wechselwirkung der beiden Merkmale. Die nachlassende Trennschärfe des Tatbestandsmerkmals der wirtschaftsbezogenen Tätigkeit erhöht den Druck auf die Abgrenzungsleistung, die das verbleibende Merkmal des grenzüberschreitenden Sachverhalts erbringen muss. 2. Die Schrankensystematik der Grundfreiheiten
a) Die im EG-Vertrag aufgeführten Ausnahmen von den Verboten der Grundfreiheiten Der Schutz der Grundfreiheiten ist nicht uneingeschränkt. Der Vertrag selber erlaubt den Mitgliedstaaten in den Art. 39 Abs. 3 EGV, Art. 46 Abs. 1 EGV sowie Art. 55 i.V. m. Art. 46 Abs. 1 EGV, sich unter bestimmten Voraussetzungen grundfreiheitsschädlich verhalten zu dürfen.164 Bei Vorliegen von Gefahren für die Trias der „öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit“ (Ordre-Public-Vorbehalt) kann das Interesse an der Bevor-
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zugung der Freizügigkeit, der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit hinter diese nationalen Interessen zurücktreten. Für die Warenverkehrsfreiheit hält Art. 30 EGV für die Adressaten der Art. 28 f. EGV eine noch weiter reichende Liste von Ausnahmen bereit. In die Warenströme kann daher auch zum Schutze der öffentlichen Sittlichkeit, des nationalen Kulturguts und des gewerblichen und kommerziellen Eigentums eingegriffen werden, solange diese Möglichkeit nicht missbraucht wird, um unter dem Deckmantel dieser schutzwürdigen Interessen der heimischen Industrie einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen.165 Wenn die Voraussetzungen dieser Ausnahmeklauseln vorliegen, kann ein Mitgliedstaat damit auch und gerade eine offene Ungleichbehandlung – eine Diskriminierung im Wortsinne – rechtfertigen. Das wird etwa in der Formulierung des Art. 46 Abs. 1 EGV deutlich zum Ausdruck gebracht, wenn aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit die nationalen Vorschriften eine Sonderregelung für Ausländer treffen dürfen. b) Die ungeschriebenen Ausnahmen von den Grundfreiheiten Neben diese im Vertrag fixierte Schranken der Grundfreiheiten hat der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zu den Warenverkehrsfreiheiten ein zweites Schrankensystem gestellt. In der Entscheidung Dassonville hatte der Gerichtshof den Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit denkbar weit gefasst. Jede Maßnahme, die potenziell den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen kann, wird demnach vom Verbot des Art. 28 EGV erfasst.166 Die anderen Grundfreiheiten folgten.167 Damit mussten die Staaten nicht mehr allein die Maßnahmen mit außenwirtschaftlichem Bezug den Anforderungen des Art 28 EGV anpassen. Theoretisch befanden sich die Mitgliedstaaten mit jeder Handelsregelung, die restriktiv – „verlangsamend“ – wirkte, mit einem Bein im Verstoß gegen Art. 28 EGV, weil jede dieser Regeln in irgendeiner Weise auch eine Export- oder Importware er164 Neutraler formuliert: Diese Rechtfertigungsmöglichkeit steht grundsätzlich allen offen, die an die Beachtung der Grundfreiheiten gebunden sind, vgl. die Überlegungen zur Drittwirkung der Grundfreiheiten, siehe unten B. II. 4. 165 Dazu: Epiney, in: Calliess/Ruffert, Rn. 2 zu Art. 30 EGV; u. v. m. 166 EuGH v. 11.7.1974, Rs. 8/74, „Dassonville“, Slg. 74, S. 837, 852, Rz. 5. 167 Nur die Arbeitnehmerfreizügigkeit blieb zunächst offensichtlich von dieser Formel ausgenommen. Für die Niederlassungsfreiheit siehe etwa die Entscheidungen „Gebhard“, „Kraus“ und „Ramrath“, in denen der Gerichtshof sinngemäß feststellt, dass eine Maßnahme nicht geeignet sein dürfe, die Niederlassung im anderen Land für den Ausländer wirtschaftlich unattraktiv zu machen, EuGH v. 30.11.1995, Rs. C-55/94, „Gebhard“, Slg. 95, S. 4165, 4197 f., Rz. 37; EuGH v. 31.3.1993, Rs. C-19/92, „Kraus“, Slg. 93, S. 1663, 1697, Rz. 32; EuGH v. 20.5.1992, Rs. C-106/ 91, „Ramrath“, Slg. 92, S. 3351, 3384, Rz. 28 f.
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fassen konnte. Dieses Herübergreifen in bisher mitgliedstaatliche Zuständigkeiten sollte über eine Änderung der Schrankenregelung aufgefangen werden. Über die sogenannten „zwingenden Gründe des Allgemeininteresses“ gab der Gerichtshof den Staaten eine Reihe neuer „Rechtfertigungsgründe“ an die Hand. Beispiele für diese neue Kategorie von Rechtfertigungsgründen sind etwa Umweltschutz, Medienpluralismus oder der Schutz des guten Rufes eines Finanzplatzes.168 Was am Beispiel der Warenverkehrsfreiheit vom Gerichtshof entwickelt wurde, gilt mittlerweile für alle Grundfreiheiten. Den Staaten wird über diese offene Liste an Rechtfertigungsgründen ermöglicht, bestimmte nationale oder regionale Eigenheiten „aus gutem Grund“ und „mit guter Begründung“ beizubehalten, auch wenn diese besonderen Regeln im Ergebnis möglicherweise den zwischenstaatlichen Handel erschweren. Voraussetzung ist allerdings, dass die Regelungen nicht offen oder gezielt zwischen einheimischer und importierter Ware unterscheiden. In der Terminologie des Gerichtshofs muss eine beschränkende Maßnahme eine „unterschiedslos geltende“ Maßnahme sein, damit ein Staat sie unter Berufung auf die „zwingenden Erfordernisse“ rechtfertigen darf. Die zusätzliche „Freiheit“ von der Bindung an die Grundfreiheiten, die den Staaten aus den neuen Rechtfertigungsgründen erwächst, gilt nicht für Diskriminierungen. Diese schwerste Form des Verstoßes gegen die Grundfreiheit kann nach wie vor nur über die im Vertrag aufgelisteten Ausnahmegründe vom Makel der Vertragsverletzung befreit werden. Die Literatur hat diese neuen Rechtfertigungsgründe zu einer „Schrankendogmatik“ der Grundfreiheiten fortgeschrieben. Für die Prüfung einer Grundfreiheitsverletzung ergibt sich das folgende Raster. Eine Maßnahme, die potenziell den zwischenstaatlichen Handel beschränkt, ist trotz dieses negativen Effekts kein Verstoß gegen die Grundfreiheiten, wenn sie – „unterschiedslos anwendbar“, d.h. nicht-diskriminierend, – aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt, – geeignet, die Verwirklichung der mit ihnen verfolgten Ziele zu gewährleisten und – verhältnismäßig ist.169 168 Im Anschluss an die Entscheidung EuGH v. 20.2.1979, Rs. 120/78, „Cassis de Dijon“, Slg. 79, S. 649, 662, Rz. 8 werden diese „zwingenden Erfordernisse“ auch „Cassis-Rechtfertigungsgründe“ genannt. Der „Gesundheitsschutz“, um den es in der Sache „Cassis de Dijon“ ging, wird allerdings nach zutreffender Ansicht wohl unter die geschriebenen Rechtfertigungsgründe des Art. 30 EGV zu zählen sein. Beispiel für „Medienpluralismus“ als zwingendes Erfordernis ist etwa EuGH v. 26.6.1997, Rs. C-368/95, „Familiapress“, Slg. 97, S. 3689, 3717, Rz. 26. Um den „Schutz des guten Rufes eines Finanzplatzes“ ging es in der Entscheidung des EuGH v. 10.5.1995, Rs. C-384/93, „Alpine Investments“, Slg. 95, S. 1141, 1178 ff., Rz. 40 bis 52.
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Die klare Zweiteilung in die geschriebenen Rechtfertigungsgründe des Art. 30 EGV170 für diskriminierende Maßnahmen auf der einen und die Liste der ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe für nicht-diskriminierende Maßnahmen auf der anderen Seite ist nicht mehr unumstritten. Der Gerichtshof hat in einigen Fällen Umweltschutzregelungen als Ausnahmen von den Grundfreiheiten zugelassen, obwohl diese Vorschriften zwischen einheimischer und ausländischer Ware unterschieden und damit formal diskriminierend waren. In keinem der Fälle hat der Gerichtshof allerdings diesen Bruch mit seiner eigenen Rechtsprechung ausdrücklich zugestehen wollen.171 In der Literatur wird im Anschluss an diese Rechtsprechung verstärkt gefordert, die Unterscheidung in geschriebene und ungeschriebene Rechtfertigungsgründe aufzugeben.172 Die Erweiterung des Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten in der Entscheidung Dassonville wurde durch die Gegenbewegung der erweiterten Rechtfertigungsmöglichkeiten nur teilweise kompensiert. Die Abneigung der Staaten gegen den Zwang, auch unterschiedslos wirkende staatliche Maßnahmen auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 28 EGV hin auszurichten, löste eine zweite Gegenbewegung aus. Zu Beginn der neunziger Jahre schnitt der Gerichtshof mit den Entscheidungen Keck und Hünermund den Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit deutlich zurück. Der Art. 28 EGV erfasst demnach nur noch „produktbezogene Maßnahmen“. Regelungen, die ganz allgemein die „Verkaufsmodalitäten“ für Waren innerhalb eines Landes festsetzen, fallen aus dem Tatbestand der Warenverkehrsfreiheit heraus.173 Damit ist zugleich deutlich, dass die Keck-Rechtsprechung allein 169
Wernsmann, EuR 1999, S. 754, 760; identischer Prüfungsaufbau bei: Daniele, E.L.Rev. 22 (1997) S. 191, 194; Epiney, in: Calliess/Ruffert, Rn. 51 zu Art. 30 EGV; Becker, in: Schwarze, Rn. 35 ff. zu Art. 30 EGV, m. w. N.; König/Harratsch, S. 210 f.; vgl. etwa EuGH v. 25.7.1991, Rs. C-76/90, „Säger“, Slg. 91, S. 4221, 4244, Rz. 15. 170 Sowie die Art. 39 Abs. 3 EGV, Art. 46 Abs. 1 EGV, Art. 55 i.V. m. 46 Abs. 1 EGV. 171 Zuletzt EuGH v. 13.3.2001, Rs C-379/98, „PreussenElektra“, in: ZNER 2001, S. 49 ff.; EuGH v. 9.7.1992, Rs. C-2/91, „Wallonische Abfälle“, Slg. 92 S. 4431 ff.; EuGH v. 14.7.1998, Rs. C-389/96, „Aher-Waggon“, Slg. 98 S. 4473 ff.; EuGH, Rs. C-203/96, „Dusseldorp“, Slg. 98, S. 4075 ff. 172 Vgl. Notaro, E.L.Rev. 25 (2000) S. 467, 467, 479, 490; Notaro, EELR 2000, S. 304, 312; Gebauer/Wollenteit/Hack, ZNER 2001, S. 12, 16 f. mit Verweis u. a. auf Ziegler, Trade and Environment, S. 65, 71 f. „Rule of Reason“; Himmelmann, EU-Umweltrecht und nationale Gestaltungsspielräume, S. 152 f.; Barnard, Fitting the remaining pieces into the goods and persons jigsaw?, E.L.Rev. 26 (2001), S. 35, 53 f., die diesen Schritt aus rein „dogmatischen“ Überlegungen für unausweichlich hält und die Stärkung der Umweltschutzgründe dabei als positiven Nebeneffekt ansieht. 173 EuGH v. 24.11.1993, verb. Rs. C-267/91 und 268/91, „Keck und Mithouard“, Slg. 93, S. 6079, 6130 f., Rz. 13, 16 f.
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die Ebene des Tatbestands der Grundfreiheiten berührt. Die hier interessierende Schrankensystematik ist nach zutreffender Ansicht von dieser Rechtsprechung nicht betroffen. c) Die Schrankensystematik bei Grundfreiheiten und bei Grundrechten Für die Frage nach der Grundrechtseigenschaft der Grundfreiheiten ist die Schrankensystematik unter mehreren Gesichtspunkten von Bedeutung. Die Anforderungen, die an die Ausnahmen von einem Recht gestellt werden, erlauben Rückschlüsse auf die Struktur dieses Rechts und auf dessen Rang und Wertigkeit im Gesamtsystem einer Rechtsordnung. Über die Schrankensystematik eröffnet sich der Vergleich der Grundfreiheiten mit den Grundrechten. Am Beispiel der Aufspaltung in zwei Kategorien von Ausnahmetatbeständen bei den Grundfreiheiten (geschriebene und ungeschriebene Rechtfertigungsgründe) lässt sich etwa die bevorzugte Stellung der Grundfreiheiten aufgrund ihrer engen Verbindung zum Binnenmarktziel veranschaulichen. Die Dogmatik der Grundfreiheiten gibt den anderen Politikzielen vor, wie sie sich in diese Systematik einzuordnen haben. Die Unterscheidung in diskriminierende und unterschiedslose Maßnahmen wird zur Vorentscheidung darüber, ob bestimmte Regelungsziele überhaupt bis zu einer Abwägung mit den Grundfreiheiten gelangen können. Dieser Vorsprung der Grundfreiheiten schwindet mit der zunehmenden Tendenz, die „zwingenden Erfordernisse“ auch auf solche Maßnahmen anzuwenden, die formal diskriminierend sind. Damit wären diese Politikziele – in der Rechtsprechung des Gerichtshofs vor allem der Umweltschutz – den Binnenmarktzielen nicht mehr untergeordnet, sondern gleichgestellt. Eine solche Feststellung hilft die Rolle der Grundfreiheiten richtig einzuschätzen. Häufig werden die Grundfreiheiten nur im Bezugsrahmen der Binnenmarktvorschriften gesehen. Innerhalb dieser Normengruppe sind die Grundfreiheiten „unbestrittene Stars“. An ihrer Einstufung als „Grundrechte“ oder „Grundnormen“ besteht bei binnenmarktimmanenter Argumentation kein ernstlicher Zweifel. Erst wenn der Binnenmarkt als ein Politikziel unter mehreren gesehen wird, relativiert sich diese Bewertung. Auch dann sind die Grundfreiheiten noch fundamental wichtige Normen für die Europäischen Gemeinschaften. Ihre Alleinstellung ist dann aber aufgehoben. Sie müssen ihre hohe Durchsetzungskraft – wie alle anderen Vorschriften – neu erklären. Aus einem weiteren Grund ist die Schrankensystematik der Grundfreiheiten für den Untersuchungsgegenstand der Arbeit von Interesse. Es ergeben sich mehrfach Berührungspunkte zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten. Zum einen können sich Grundfreiheiten und Grund-
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rechte im Einzelfall entgegenstehen. Hinter den Ausnahmen in Art. 30 EGV (Gesundheit; geistiges Eigentum) können Individualgrundrechte stehen. Daneben können Grundfreiheiten und Grundrechte sich aber auch gegenseitig in ihrer Wirkung verstärken. Eine Ausnahme von den Grundfreiheiten soll beispielsweise nach Überzeugung des Gerichtshofs nur dann zugelassen werden, wenn der Mitgliedstaat bei seinem Eingriff in die Marktfreiheiten zugleich die Gemeinschaftsgrundrechte beachtet.174 Auf diese Wechselwirkungen wird bei der Darstellung der Konkurrenzen und Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten einzugehen sein. 3. Die Weiterentwicklung der Grundfreiheiten von Diskriminierungsverboten zu allgemeinen Beschränkungsverboten
Die sehr weite Auslegung der Grundfreiheiten in der Rechtsprechung des Gerichtshofs wird in der Literatur in dem Satz „Die Grundfreiheiten haben sich von reinen Diskriminierungsverboten zu allgemeinen Beschränkungsverboten weiterentwickelt“ pointiert zusammengefasst. Damit ist eine entscheidende Aussage über die Struktur der Grundfreiheiten scheinbar außer Streit gestellt. Der Einzelne darf, falls es sich bei den Art. 28 f. EGV, Art. 39 EGV, Art. 43 EGV und Art. 49 EGV um allgemeine Beschränkungsverbote handelt, nicht nur verlangen, im Vergleich mit dem EU-Nachbarn nicht schlechter gestellt zu werden. Er kann darüber hinaus unter Berufung auf die Grundfreiheiten – losgelöst von jedem Vergleichsmoment – verlangen, dass ihm oder seinen Waren keine Hindernisse in den Weg gelegt werden. Damit hätte sich die Struktur der Grundfreiheiten in Richtung einer freiheitsrechtlichen Struktur verändert, wie sie für Grundrechte kennzeichnend ist. Ihren Ausgang nimmt diese Entwicklung in dem Begriff der „unterschiedslosen Maßnahme“, der mit der Entscheidung Dassonville Eingang in die gemeinschaftsrechtliche Terminologie fand.175 Nicht nur Maßnahmen, die bewusst (und ausdrücklich) auf ausländische Produkte gemünzt waren, müssen sich die Frage nach ihrer Vereinbarkeit mit den Art 28 f. EGV gefallen lassen. Das Verbot des Art. 28 EGV erfasst nach Ansicht des Gerichtshofs vielmehr jede „Handelsregelung, die geeignet ist, den innerstaatlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell 174 EuGH v. 28.10.1975, Rs. 36/75, „Rutili“, Slg. 75, S. 1219, 1232, Rz. 32; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Rn. 57 ff. zu Art. 6 EUV; Beutler, in GTE, Rn. 72 ff. zu Art. F EUV; Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 277, 283; Schneider, Öffentliche Ordnung als Schranke, S. 184 ff., 198; siehe dazu unten C. II. 3. a) sowie im zweiten Teil die Abschnitte B. III. 1. a) und B. IV. 1. b). 175 EuGH v. 11.7.1974, Rs. 8/74, „Dassonville“, Slg. 74, S. 837, 852, Rz. 5.
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zu behindern“, auch wenn sie von ihrer Zielrichtung her nicht zwischen einheimischen und fremden Produkten unterscheidet und deshalb a priori als eine „unterschiedslose Maßnahme“ gelten kann.176 Von der Warenverkehrsfreiheit ausgehend, erstreckte der Gerichtshof diese Rechtsprechung zu den „unterschiedslosen Maßnahmen“ sukzessive auf die anderen Grundfreiheiten. Als letzte Grundfreiheit folgte mit der Bosman-Entscheidung die Arbeitnehmerfreizügigkeit.177 Die Literatur ist dem Gerichtshof zunächst bei diesem Schritt gefolgt und hat die Funktionserweiterung als Stärkung der Grundfreiheiten und damit als fortschrittliche, integrationsfördernde Anwendung des Gemeinschaftsrechts begrüßt.178 Zugleich wurde sehr bald das Konfliktpotential erkannt, das in einer solchen Umdeutung der Grundfreiheiten in allgemeine Beschränkungsverbote enthalten ist. In der Tat lässt sich hier ein eindrucksvolles Szenario entwerfen: Wenn jede Vorschrift, die den Austausch von Waren und Leistungen berührt und damit stets auch potenziell importierte oder für den Export bestimmte Waren mitberührt, sich an den Grundfreiheiten messen lassen muss, ist kaum eine mitgliedstaatliche Norm vor dem Zugriff des Gemeinschaftsrechts sicher. Die nationalen Rechtsordnungen werden von den Grundfreiheiten überschwemmt. Während die englischsprachige Literatur in vergleichbaren Zusammenhängen von einem Floodgate-Argument 176 Die „Dassonville“-Formel ist im Wortlaut des Art. 28 EGV angelegt, wenn es dort heißt, mengenmäßige Beschränkungen oder Maßnahmen gleicher Wirkung seien verboten. Denn in dem Ausdruck „gleicher Wirkung“ findet sich bereits die Ausrichtung des Verbots an der (materiell-diskriminierende) Wirkung einer Maßnahme, die ebenso verboten ist wie die „offen diskriminierenden“ Kontingente und Einfuhrverbote; vgl. dazu Hoffmann, Grundfreiheiten als Abwehrrechte S. 30 ff. 177 In seinen Schlussanträgen zu „Bosman“ leitet Generalanwalt Lenz diesen Schritt vom Diskriminierungsverbot zum Beschränkungsverbot unter Rückgriff auf die vorangegangenen Entscheidungen zur Warenverkehrs-, Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit und auch unter Auswertung der wissenschaftlichen Literatur zu diesen Entscheidungen sehr ausführlich her, vgl. Lenz, Schlussanträge zu EuGH v. 15.12.1995, Rs. C-415/93, „Bosman“, Slg. 95, S. 4921, 5004 ff., Rz. 194 bis 208; dem folgend zuletzt etwa Becker, in: Ehlers, Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 232. 178 Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Rn. 49 zu Art. 39 EGV, m. w. N.; Pfeil, Historische Vorbilder, S. 251 f., 277; zuletzt ganz ausdrücklich für den Art. 43 EGV: Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, S. 426, 443 f.; Knobbe-Keuk, DB 1990, S. 2573, 2573, 2577; König/Harratsch, Europarecht, S. 198, sehr früh bereits: Bleckmann, DVBl. 1986, S. 69, 72 ff.; Steindorff, EuR 1988, S. 19 ff.; Behrens, EuR 1992, S. 145, 151 ff, 155; Wolf, JZ 1994, S. 1151, 1155 f.; im Zusammenhang mit dem BosmanUrteil: Schroeder, JZ 1996, S. 254, 254; Hilson, E.L.Rev. 24 (1999) S. 445, 448; Hilf/Pache, NJW 1996, S. 1169, 1172, nach deren Einschätzung die Art. 28 EGV und Art. 49 EGV bereits seit langem als umfassende Beschränkungsverbote anerkannt seien und mit Bosman ein längst überfälliger Schritt nachgeholt würde, m. w. N.; Hailbronner/Nachbauer, EuZW 1992, S. 105, 109 f.; zuletzt etwa Steinberg, EuGRZ 2002, S. 13, 19.
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spricht,179 soll in dieser Untersuchung im Folgenden das – verwandte – Bild des „Deichbruchs“ als Kürzel für die Bedenken verwendet werden, mit denen die Literatur diesem Schritt vom Diskriminierungsverbot zur Beschränkungsverbot begegnet.180 Im neueren Schrifttum mehren sich mittlerweile nicht nur die Stimmen, die wegen der Gefahr eines solchen Deichbruchs die Entwicklung der Grundfreiheiten von Diskriminierungsverboten zu allgemeinen Beschränkungsverboten für wenig wünschenswert halten. Es wird daneben die Ansicht vertreten, der Schritt hin zum Beschränkungsverbot habe in Wahrheit nie stattgefunden, die Grundfreiheiten seien und blieben Gleichheitsrechte.181 Diese neue Konzeption der Grundfreiheiten wird in der vorliegenden Arbeit eine zentrale Rolle spielen. Im Kern geht es um die Frage, ob ein weitverstandener materieller Diskriminierungsbegriff noch als Gleichheitssatz ausgedrückt werden sollte oder ob er bereits als Beschränkungsverbot gedacht werden kann. Der Gerichtshof hat diese Konsequenz der sehr weiten Dassonville-Formel ebenfalls erkannt und als ein erstes Korrektiv zunächst die Zahl der Rechtfertigungsgründe erhöht. Er hat dann zusätzlich – nach einigen grenzwertigen Entscheidungen182 – mit der Keck-Entscheidung eine Gegenbewe179 Weiler, European Court at a Crossroads, FS Pescatore S. 821, 839; Hilson, C.M.L.R. 24 (1999) S. 445, 453; Zampini, R.T.D.E. 1999, S. 659, 675 greift dieses „célèbre image d’un droit communautaire capable de faire tomber les obstacles, submerger les écluses, comme une vague déferlante ou comme un courant corrodant“ im Zusammenhang mit der Grundrechte-Rechtsprechung auf und schreibt den Ausdruck Lord Denning zu. 180 Nettesheim, NVwZ 1996, S. 342, 343 „[Das] würde zu dem absurden Ergebnis führen, dass die gesamte mitgliedstaatliche Wirtschaftsordnung vom EuGH auf ihre Rechtfertigung zu überprüfen wäre“; Jarass, EuR 1995, S. 202, 214 „Ziel der Freiheiten ist es nicht, alle Hemmnisse für einen freien Markt zu beseitigen“; Jarass, FS Everling, S. 593, 599 f.; Schroeder, JZ 1996, S. 255, 256, nach dessen Ansicht der Schritt vom Diskriminierungsverbot zum allgemeinen Beschränkungsverbot in der Sache Bosman überflüssig war, und der Interessenkonflikt besser über das Diskriminierungsverbot und die Wettbewerbsvorschriften hätte gelöst werden können; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 203. 181 Jarass, Die Grundfreiheiten als Grundgleichheiten, in: FS Everling, S. 593, 599 ff., 606 f.; Jarass, EuR 1995, S. 202, 216 ff., 218 „Die Erstreckung der Grundfreiheiten über Diskriminierungen hinaus auf andere Beschränkungen macht aus dem Diskriminierungsverbot kein Freiheitsrecht. Es ist daher irreführend, wenn gesagt wird, dass sich etwa die Niederlassungsfreiheit nicht in einem Gleichbehandlungsgebot erschöpfe“; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 16 f., 85, 118 ff., 127, 133, 190 ff.; Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 268 f., 288; Simm, Der Gerichtshof im föderalen Kompetenzkonflikt, S. 57, 58 ff., 67 ff., 157 ff., 201, 209 f., 257 ff.; im Ergebnis wohl auch Hoffmann, Grundfreiheiten als Abwehrrechte, S. 31 f., 37 f., 51, 206, unklar auf S. 98 ff., 204 f., 210 f.; Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 62 f., 65; sehr viel früher bereits in dieser Richtung: Marenco, CDE 20 (1984) 291 ff.
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gung eingeleitet. Formal hält der Gerichtshof demnach an der Idee von den Grundfreiheiten als Beschränkungsverboten fest. Er nimmt lediglich aus dem Schutzbereich des Art. 28 EGV von vornherein diejenigen beschränkenden Maßnahmen und Vorschriften heraus, die nicht direkt den Zugang zum benachbarten Markt betreffen. Nur die Maßnahmen und Vorschriften, die produktbezogen sind und den Importeur zu einer Anpassung des Produkts zwingen, wenn er auf den Nachbarmarkt will, unterfallen dem Verbot des Art. 28 EGV. Die Vorschriften, die die Produkte nur leicht berühren, weil sie ganz allgemein die Rahmenbedingungen festlegen, unter denen auf dem Markt verkauft werden darf, fallen dagegen bereits nicht in den Anwendungsbereich des Art. 28 EGV.183 Damit gelingt es dem Gerichtshof, die Grundfreiheiten wieder an ihre ursprüngliche marktöffnende Funktion anzubinden, ohne dass er die Weiterentwicklung der Grundfreiheiten von Diskriminierungsverboten zu Beschränkungsverboten nach außen hin in Frage stellen müsste. Für die Frage nach dem grundrechtlichen Charakter der Grundfreiheiten ist dieser behauptete Schritt von einer gleichheitsrechtlichen, nivellierenden Funktion zu einer echten freiheitsrechtlichen Funktion von Bedeutung, da die Grundfreiheiten mit dieser freiheitsrechtlichen Struktur ein typisch grundrechtliches (abwehrrechtliches) Merkmal aufweisen würden. Zugleich bedeutet eine Funktionsweise der Grundfreiheiten, die tatsächlich vollständig auf den Vergleich mit den Nachbarstaaten und Nachbarrechtsordnungen verzichtet, ein Loslösen von dem ursprünglichen instrumentalen Charakter der Grundfreiheiten. Ob dieser Schritt stattgefunden hat oder nicht, und ob sich der Punkt bestimmen lässt, von dem ab zu Recht von einer Grundfreiheit als einem „allgemeinen Beschränkungsverbot“ gesprochen werden kann, soll Gegenstand der folgenden Überlegungen sein. Um die verschiedenen Funktionsweisen der Grundfreiheiten gegeneinander abgrenzen zu können, kann an dieser Stelle auf das Modell des Binnenmarktes als Diffusionsprozess zurückgegriffen werden. Der Übergang vom Diskriminierungsverbot zum Beschränkungsverbot fällt nach diesem Modell mit einem Wechsel der Regelgröße zusammen. Solange die Grundfreiheiten über die Regelgröße „Durchlässigkeit der Membran“ auf den Binnenmarktprozess einwirken, erfüllen sie die ursprüngliche Funktion als An- und Ausgleichungsvorschrift. Von dem Moment an, wo sie über die Regelgröße „energetischer Zustand (Temperatur) des Systems“ einwirken, übernehmen sie eine neue, noch nicht näher bezeichnete freisetzende und beschleunigende Funktion (allgemeines Beschränkungsverbot). 182 EuGH v. 23.11.1989, Rs. C-145/88, „Torfaen“, Slg. 89, S. 3851 ff.; EuGH v. 16.12.1992, Rs. 169/91, „B&Q“, Slg. 92, S. 6635 ff., siehe unten B. II. 3. c) bb). 183 EuGH v. 24.11.1993, verb. Rs. C-267/91 und 268/91, „Keck und Mithouard“, Slg. 93, S. 6079, 6131, Rz. 16 f.
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Der Übergang vom Diskriminierungsverbot zum allgemeinen Beschränkungsverbot ist nicht so eindeutig, wie es die große Übereinstimmung vorgibt, mit der dieser Schritt in der Literatur zunächst begrüßt wurde. Insbesondere ist ein Grenzpunkt für diesen Übergang nicht exakt zu lokalisieren. Zwischen einer eindeutig diskriminierenden Maßnahme – etwa einem Importkontingent oder einer Regelung, die ausdrücklich dem ausländischen Arbeitnehmer zusätzliche Qualifikationen abverlangt – und einer eindeutig unterschiedslosen Maßnahme liegt die weite Grauzone der materiell diskriminierenden Maßnahmen.184 Der Weg „in das Beschränkungsverbot hinein“ ist ein fließender Übergang. Auf diesem Weg bieten sich verschiedene denkbare Anknüpfungspunkte, um den Beginn des „Beschränkungsverbotes“ zu markieren. Der Streit um die richtige Auslegung der Rechtsprechung in dieser Grauzone kommt daher nicht überraschend. Am Beispiel der Cassis-Rechtsprechung lässt sich diese begriffliche Unbestimmtheit nachweisen. Die deutsche Regelung (Branntwein-Verordnung) verlangte einen Mindestvolumenprozentsatz an Alkohol, um ein Getränk zur Kategorie Branntwein rechnen zu dürfen.185 Die Regel galt für alle Getränke innerhalb Deutschlands, ohne zwischen heimischer Produktion oder importierter Ware zu unterscheiden. Die Maßnahme ist eine unterschiedslose Maßnahme par excellence. In der Literatur werden die Entscheidungen Cassis und Dassonville daher bis heute als Grundlegung des freiheitsrechtlichen Gehaltes der Grundfreiheiten angesehen. Der Schritt vom Diskriminierungs- zum Beschränkungsverbot sei mit diesen beiden Urteilen bereits vollzogen.186 Diese Annahme soll im Folgenden in Frage gestellt werden. Denn auch bei Dassonville und Cassis ging es um Fälle von Diskriminierungen, wie sich bei schärferem Hinsehen zeigt. Zwar wurde nicht offen – formal – diskriminiert. Dem Wortlaut nach war die grundfreiheitswidrige Maßnahme neutral. De facto waren aber aufgrund dieser Maßnahme die ausländischen Produkte schlechter gestellt als die einheimischen Produkte. Die französischen Verkäufer hätten ihr Produkt verändern müssen, um auf dem deutschen Markt präsent sein zu können. Das bedeutet für sie gegenüber den eingesessenen deutschen Verkäufern von vornherein einen wirtschaftlichen Nachteil. Auf einer „materiellen“ Ebene findet sich die Diskriminierung in Form dieses wirtschaftlichen Nachteils demnach wieder. Wer in der Dassonville- und Cassis-Rechtsprechung den Schritt vom Diskriminierungsverbot zum allgemeinen Beschränkungsverbot sieht, kann – nach der 184 Vgl. den Begriff „indirect discrimination“ etwa bei Daniele, E.L.Rev. 22 (1997) S. 191, 191. 185 EuGH v. 20.2.1979, Rs. 120/78, „Cassis de Dijon“, Slg. 79, S. 649, 660 f., Rz. 3 f. 186 Classen, EWS 1998, S. 97, 98, 104; Blumenwitz, NJW 1989, S. 621, 623; Pfeil, Historische Vorbilder, S. 248, 251.
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hier vertretenen Ansicht – mit diesem Schritt also (lediglich) den Schritt vom Verbot der „offenen“ Diskriminierung hin zum weitergehenden Verbot auch solcher Maßnahmen meinen, die nur einen „versteckten“, faktisch diskriminierenden Effekt haben. a) Die Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote und – angebliche – allgemeine Beschränkungsverbote (Der Versuch, den Grenzpunkt zu definieren) Eine auf den ersten Blick unterschiedslose Maßnahme ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs dann grundfreiheitswidrig, wenn sie einer abstrakten Gruppe von Menschen rechtliche Nachteile aufbürdet, die sich – bei näherer, konkreter Betrachtung – ausschließlich oder vorrangig aus Ausländern zusammensetzt. Falls ein Staat eine solche Maßnahme und die damit verbundene selektive Wirkung nicht auf stichhaltige objektive Gründe stützen kann, vermutet der Gerichtshof, dass hier mit einem nach außen hin neutralen Vorgehen doch eine Bevorzugung der heimischen Wirtschaft erreicht werden soll. Die unterschiedslose „Hülle“ bewahrt dann die Maßnahme nicht vor dem Verdikt der Grundfreiheitswidrigkeit.187 Der Gedanke der Umgehung des formalen Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, die auf diese Weise verhindert werden soll, ist an dieser Stelle klar erkennbar. Beispiele für solche indirekten Diskriminierungen sind vor allem solche Regeln, die eine bevorzugte Rechtsstellung an den Wohnsitz oder die Sprache knüpfen. Diese Voraussetzungen werden in der Regel von einheimischen Arbeitnehmern oder Dienstleistern automatisch erfüllt, während sie für ausländische Wirtschaftsteilnehmer eine zusätzliche Hürde oder Belastung darstellen. Zugleich wird aber auch deutlich, dass etwa Sprachkenntnisse in vielen Berufen eine unverzichtbare Voraussetzung darstellen und eine Schlechterstellung der Ausländer an dieser Stelle sachlich gerechtfertigt ist.188 Die Schwierigkeit, die Grenze von der Diskriminierung zum tatsächlich vollständig unterschiedslosen Beschränkungsverbot klar zu bestimmten, zeigt sich in der Kette von Adverbialbestimmungen, mit denen der Gerichtshof die mittelbare Diskriminierung immer weiter gefasst hat. Als verbotene mittelbare Diskriminierungen galten zunächst nur Regelungen, die „ausschließlich“ Ausländer betreffen, dann auch solche, die „vor allem“ oder „insbesondere“, dann „typischerweise“ Ausländer betreffen, bis hin schließlich auch zu solchen Regelungen, die in erster Linie eigene Staatsbürger, daneben aber „auch“ Ausländer betreffen. Im Einzelnen dazu: 187 188
Daniele, E.L.Rev. 22 (1997) S. 191, 191. Vgl. dazu Somek, E.L.J. 1999, S. 243, 250 f.
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Mit dem Verbot von Maßnahmen, die in ihrer Auswirkung „ausschließlich“ Ausländer berührten, gab sich die Rechtsprechung zur „mittelbaren Diskriminierung“ ersichtlich noch als Versuch zu erkennen, der offensichtlichen Umgehung des formalen Diskriminierungsverbotes durch die Staaten einen Riegel vorzuschieben.189 Eindeutige Umgehungsversuche sind den offenen, direkten Diskriminierung gleichzustellen. Beide zielen auf die Abschaffung „echter Diskriminierungen“ im Binnenmarkt. Damit lässt sich eine erste relativ klare Trennlinie ziehen. Dieser Punkt eignet sich gut, um zwischen der Funktion der Grundfreiheiten als „echten Diskriminierungsverboten“ und sonstigen, erweiterten Funktionen zu unterscheiden. Der nächste Schritt in der Erweiterung der Funktion bzw. der Öffnung der Formulierung ist das Verbot auch solcher Maßnahmen, die „typischerweise“ Ausländer benachteiligen, auch wenn durchaus auch einzelne einheimische Marktbürger von den restriktiven Tendenzen der Maßnahme getroffen werden.190 Die Frage, wie viel Prozent der betroffenen Produkte oder Marktteilnehmer ausländischer Herkunft sein müssen, damit die Verbotsfolge ausgelöst wird, stellt sich spätestens bei den Maßnahmen, die „vorwiegend“ oder „häufig“ Ausländer betreffen.191 Der Gerichtshof greift nicht auf Prozentzahlen zurück, um den Übertritt in das Beschränkungsverbot zu begründen und berechenbar zu machen. Es taucht zwar im Wortlaut des Urteils Torfaen die Zahl 10% auf, um den Anteil der betroffenen ausländischen Waren zu beziffern. Für die weitere Begründung der Entscheidung spielt diese Zahl aber keine Rolle.192 Sobald allerdings – gedanklich – die Grenze von 50% erreicht ist, d.h. sobald die restriktive Maßnahme eine Gruppe von Waren oder Menschen trifft, die sich exakt zur Hälfte aus Ausländern und zur anderen Hälfte aus einheimischen Produkten bzw. Arbeitnehmern zusammensetzt, ist wieder ein möglicher Punkt gefunden, von dem ab sich berechtigterweise von der Grundfreiheit als einem „allgemeinen Beschränkungsverbot“ sprechen ließe. 189 EuGH v. 8.5.1990, Rs. 175/88, „Biehl“, Slg. 90, S. 1779, 1792 f., Rz. 13 f. Daher wird auch von „verschleierter Diskriminierung“ gesprochen, vgl. KnobbeKeuk, DB 1990, S. 2573, 2576, m. w. N. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Regelung des Art. 3 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich der VO 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (Abl. 1968 L 257, S. 1 f.), die solche Vorschriften und Praktiken bei der Vergabe von Stellen verbieten, die bezwecken oder bewirken, dass „ausschließlich oder hauptsächlich“ Angehörige der übrigen Mitgliedstaaten von der Stelle ferngehalten werden; zuletzt EuGH v. 6.6.2000, Rs. C-281/98, „Angonese“, Slg. 00, S. 4139, 4174, Rz. 40 f. 190 Grabitz, in: Grabitz/Hilf, Rn. 10 zu Art. 7 EGV; Bleckmann, in: GTE, Rn. 15 zu Art. 7 EGV; Knobbe-Keuk, DB 1990, S. 2573, 2576. 191 EuGH v. 8.5.1990, Rs. 175/88, „Biehl“, Slg. 90, S. 1779 ff., in: EuZW 1990, S. 284 f.; Knobbe-Keuk, DB 1990, S. 2573, 2576. 192 EuGH v. 23.11.1989, Rs. C-145/88, „Torfaen“, Slg. 89, S. 3851, 3887, Rz. 7.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
Denn wenn Ausländer und Einheimische sich zu gleichen Teilen in der benachteiligten Gruppe wiederfinden, kann von einer Diskriminierung auch im weiteren Sinne einer „Benachteiligung“ nicht mehr ohne weiteres gesprochen werden, es sei denn, man verlangte ein anteiliges Verhältnis von In- und Ausländern, das innerhalb der benachteiligten Gruppe das Verhältnis der In- und Ausländer im jeweiligen Mitgliedstaat nachbildet und somit bereits beim Überschreiten noch geringerer Prozentsätze von einer diskriminierenden Wirkung spricht. Die Nähe zum Gedankenspiel ist bewusst in Kauf genommen. Die Skala kann noch weiter in den Bereich der Spekulation hinein verlängert werden. Eine Maßnahme, die „auch“ Ausländer betrifft, lässt an eine Diskriminierung, wie sie die Grundfreiheiten ursprünglich im Auge hatten, kaum noch denken. In konsequenter Fortführung stellen beispielsweise Knobbe-Keuk und Generalanwalt Van Gerven fest, dass auch der Fall eines einzigen Ausländers, der durch eine ungerechtfertigte restriktive Regelung am Zug in das EU-Nachbarland gehindert würde, mit der Freizügigkeit nicht vereinbar wäre. Spätestens hier sei dann der Schritt zum Beschränkungsverbot unumkehrbar vollzogen.193 Dem „Deichbruch-Argument“ wird mit dieser Überlegung neue Nahrung gegeben. Die Kontrollfunktion der Grundfreiheiten, so die Befürchtung, lässt sich manipulieren. Es sei ausreichend, einen Ausländer in jedes EU-Land zu schicken, um auf diese Weise unter Berufung auf die Grundfreiheiten alle Vorschriften in allen Mitgliedstaaten überprüfen lassen zu können. Der Gerichtshof selber hat die Festlegung auf einen konkreten Punkt bisher vermeiden können. In der Sache Terhoeve stellte sich die Frage, ab welcher Prozentzahl mitbetroffener Ausländer eine unterschiedslose Maßnahme zu einer diskriminierenden Maßnahme werde. Die niederländische Steuervorschrift, die den Kläger Terhoeve belastete, galt für In- und Ausländer gleichermaßen. Herr Terhoeve, der mehrere Monate in Großbritannien gearbeitet hatte, machte geltend, dass die Regelung in ihrer Wirkung diskriminierend sei, da sie Arbeitnehmer benachteilige, die innerhalb eines Jahres sowohl im Ausland als auch im Inland tätig seien. Das traf nach seiner Ansicht vor allem auf Ausländer zu. Die Regel sei mittelbar diskriminierend.194 Nach Ansicht der niederländischen Regierung war dagegen zumindest die Hälfte aller betroffenen Steuerpflichtigen Niederländer, die zeitweilig im Ausland ihr Geld verdienten, die Maßnahme sei also auch nicht indirekt diskriminierend.195 Die Frage, wie viele Niederländer und 193 Knobbe-Keuk, DB 1990, S. 2573, 2576; Schlussanträge Van Gerven, zu EuGH v. 23.11.1989, Rs. C-145/88, „Torfaen“, Slg. 89, S. 3851, 3867, Rz. 6 f.; von einem fließenden Übergang geht auch Reitmaier, Inländerdiskriminierungen, S. 56 aus. 194 EuGH v. 26.1.1999, Rs. C-18/95, „Terhoeve“, Slg. 99, S. 345, 381, Rz. 20.
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wie viele Ausländer von dieser Vorschrift betroffen sind, ließ sich auf tatsächlicher Ebene nicht aufklären. Es drohte eine Entscheidung nach Beweislastregeln. Der Gerichtshof löste diese drohende Patt-Situation, indem er die Frage der Quote – und damit die Grauzone – übersprang und zu dem Ergebnis kam, dass eine vergleichbare nationale Regelung ein grundsätzlich durch Art. 39 EGV verbotenes Hemmnis für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer darstelle. Da jedenfalls die Funktion der Grundfreiheit als allgemeines Beschränkungsverbot aufgerufen sei, erübrigt sich nach Ansicht des Gerichtshofs die Frage, ob eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit vorliegt oder nicht.196 Der Gerichtshof bekennt sich mit dieser Begründung zum Verständnis der Grundfreiheiten als allgemeine Beschränkungsverbote, und zwar ausdrücklich auch in einem eng verstandenen Sinne, d.h. über ein weitverstandenes Diskriminierungsverbot hinaus, wie die Bezugnahme in dem angeführten Erwägungsgrund klarstellt. Den exakten Grenzverlauf, d.h. den Punkt, von dem ab das Diskriminierungsverbot zum Beschränkungsverbot wird, lässt der Gerichtshof aber auch in der Entscheidung Terhoeve offen. b) Der weitverstandene Diskriminierungsbegriff: Die Grundfreiheiten sind und bleiben Gleichbehandlungsgebote Um den Punkt des Übergangs vom Diskriminierungs- zum Beschränkungsverbot bestimmen zu können, müssen die verschiedenen Facetten des Begriffs „Diskriminierung“ offengelegt und transparent gemacht werden. Dabei soll zunächst auf das zurückgegriffen werden, was klar und konturiert erscheint. Als eine solche klare Unterscheidung bietet sich die Trennung in formelle Diskriminierung und materielle Diskriminierung an, weil dieser Unterschied sich am Wortlaut und an der Schutzrichtung verhältnismäßig sicher nachweisen lässt. Die Grenzlinie verliefe hier zwischen der Diskriminierung, die bewusst und damit „böswillig“ erfolgt, und der Diskriminierung, die sich gleichsam „aus Versehen“ und als „Nebenwirkung“ einer an sich gut gemeinten Maßnahme ergibt. Dass Mitgliedstaaten offen ein Gesetz erlassen, in dem EU-Ausländer ausdrücklich schlechter gestellt werden, ist mittlerweile selten. Die Staaten bemühen sich in der Regel, ihren Protektionismus zumindest zu tarnen. Aber auch die geschickte Formulierung, die so gewählt ist, dass sie ausschließlich Ausländer betrifft, wird als Umgehungsversuch unter den formellen Diskriminierungsbegriff gebracht. Dieser Diskriminierungsbegriff bestimmt sich folglich über die böse Absicht. Eine 195 196
EuGH v. 26.1.1999, Rs. C-18/95, „Terhoeve“, Slg. 99, S. 345, 381, Rz. 21. EuGH v. 26.1.1999, Rs. C-18/95, „Terhoeve“, Slg. 99, S. 345, 390, Rz. 41.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
Prüfung wird bei der Maßnahme selbst ansetzen und das Handeln des Mitgliedstaates unter die Lupe nehmen.197 Dehnt man den Diskriminierungsbegriff dann in den Bereich der materiellen Diskriminierung aus, so tritt stärker die Wirkung der Maßnahme in den Mittelpunkt. Der böse Wille des Mitgliedstaates spielt keine entscheidende Rolle mehr. Was zählt, ist allein die Perspektive des Einzelnen und das Plus oder Minus an Marktintegration. Dieser Schritt von der „Absichtskontrolle“ zur „Wirkungskontrolle“ lässt sich etwa in der Entscheidung Torfaen ablesen. Dort hat der Gerichtshof diese Abschichtung in den Erwägungsgründen 14 und 15 gleichsam en miniature vorgenommen.198 Erst jenseits dieses Schrittes von der bösen Absicht zur bösen Wirkung der grundfreiheitswidrigen Maßnahme, im Bereich der „Wirkungskontrolle“, verwischen die Grenzen zwischen den Begriffen „Diskriminierung“ und „Beschränkung“. An zwei Beispielen soll diese klare Unterscheidung sichtbar gemacht werden. Als bewusst diskriminierende Maßnahme verstößt etwa das italienische Verbot für Ausländer, in der Nähe bestimmter militärischer Einrichtungen Grund zu erwerben, gegen die Grundfreiheiten.199 Die Absicht der Ungleichbehandlung – hier offensichtlich aus einem „Misstrauen gegenüber dem Fremden“ heraus motiviert – ist in diesem Fall nicht einmal kaschiert. Damit liefert dieses Urteil ein selten gewordenes Beispiel einer beabsichtigten Diskriminierung. Nur von der Wirkung her diskriminierend sind dagegen die zahlreichen Vorschriften, die einen Importeur zwingen, seine Produkte vor der Einfuhr umzuetikettieren. Aus Sicht eines betroffenen Marktteilnehmers ist sowohl das italienische Verbot des Grunderwerbs als auch die Etikettierungspflicht zunächst – ganz neutral betrachtet – ein Ärgernis. Da es sich bei den Betroffenen in der Regel um Kaufleute handelt, lassen sich beide Ärgernisse – Diskriminierung oder Beschränkung – als „Mehrkosten“ darstellen, die eine geplante wirtschaftliche Maßnahme weniger profitabel machen und damit ihre Durchführung weniger wahrscheinlich werden lassen. Ein rechtliches Verbot etwa käme dann prohibitiv hohen Kosten gleich. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht scheint die Unterscheidung in Diskriminierungsverbot und Beschränkungsverbot offensichtlich 197
Vgl. auch zu den Grundfreiheiten als Begründungsverboten: Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 137 f. 198 EuGH v. 23.11.1989, Rs. C-145/88, „Torfaen“, Slg. 89, S. 3851, 3887, Rz. 14 und 15. 199 EuGH v. 13.7.2000, Rs. C-423/98, „Albore“, Rz. 16 ff (Sonderregeln für Ausländer beim Erwerb von Grundstücken in Italien); Schlussanträge Stix-Hackl v. 12.06.2003, Rs. C-47/02, „Anker“ und C-405/01, „Marina Mercante“, (Ausländer dürfen nicht Kapitän eines Fischerbootes/Handelsschiffes sein); EuGH v. 29.4.1999, Rs. C-224/97, „Ciola“, Slg. 99, S. 2517, 2536, Rz. 14 (Österreichische Bootsliegeplätze unzulässiger Weise an österreichischen Wohnsitz gekoppelt).
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nur ein gradueller Unterschied zu sein – abhängig von der Frage, wie hoch diese Mehrkosten sind und ob ein vernünftig handelnder Kaufmann sich von den Kosten abschrecken lässt oder nicht.200 Ein wichtiger Unterschied bleibt. Für die Person des Handelnden – im Sinne von Persönlichkeit – ist es vergleichsweise unerheblich, dass etwa die französische Rechtsordnung ihn zwingt, Mehrkosten für Etikette in Kauf zu nehmen, um auf den französischen Markt zu gelangen. Dagegen wird den Einzelnen, der gerade wegen seiner Nationalität oder seiner Sprache diskriminiert wird, diese Zurücksetzung auch in „grundrechtlichen Belangen“ treffen. Sein Anspruch auf gleiche Achtung der Person ist tangiert. Innerhalb der Grundfreiheiten lassen sich offensichtlich verschiedene Funktionen abschichten, die näher oder weiter von einem grundrechtlichen Regelungsgehalt entfernt sind. Aus diesem Grunde sollte diese Grenze zwischen den echten „Absichts-Diskriminierungen“ und den bloßen „Wirk-Diskriminierungen“ nicht verdeckt oder aufgelöst, sondern verstärkt als Trennlinie herausgearbeitet werden.201 Beide Diskriminierungen bleiben aber von ihrer Struktur her Diskriminierungen. Ob man die Fälle, in denen die Mehrkosten einen Ausländer davon abhalten, ins Nachbarland zu exportieren, als Diskriminierung oder als Beschränkung bezeichnet, ist für die Funktionsweise der Grundfreiheiten ohne Belang und in erster Linie eine Definitionsfrage. Die beiden Begriffe werden wechselseitig als Ober- und Unterbegriffe verwendet. Beide lassen sich als Funktion des jeweils anderen Begriffs ausdrücken. So wird die Diskriminierung als „schlimmste Form der Beschränkung“ und als „Grundform der Beschränkung“ bezeichnet.202 Zugleich kann jede Beschränkung, die sich auf zwei Personen unterschiedlich auswirkt, zur Diskriminierung werden.203 Der Gerichtshof verzichtet bislang auf eine Klarstellung dieser Begrifflichkeiten.204 200 Simm, Der Gerichtshof im föderalen Kompetenzkonflikt, S. 65; Poiares Maduro, E.L.J. 1997, S. 55, 58 f., 68, mit Verweis auf Marenco, CDE 20 (1984) S. 291 ff.; Schubert, Gemeinsamer Markt als Rechtsbegriff, S. 186 f., 189 f.; Hilson, C.M.L.R. 24 (1999) S. 445, 454: „Increased cost borne by imports having to comply with a second set of requirements (dual burden)“; Plötscher, Diskriminierung, S. 150 f. 201 Plötscher, Diskriminierung, S. 147 ff., 202 Jarass, EuR 1995, S. 202, 211 „Diskriminierung als Grundform der Beschränkung“; ihm folgend Störmer, AöR 123 (1998) S. 451, 556; Knobbe-Keuk, DB 1990, S. 2573, 2575; Füller, Warenverkehrsfreiheiten, S. 127, „Jede Diskriminierung ausländischer Waren ist per se eine Marktzutrittsschranke“. 203 EuGH v. 7.7.76, Rs. 118/75, „Watson und Belmann“, Slg. 76, S. 1185, S. 1198, Rz. 17/18 sowie der Tenor auf S. 1200: „Soweit derartige Rechtsvorschriften keine Beschränkungen der Freizügigkeit enthalten, stellen sie keine nach Art. 7 EGV verbotene Diskriminierung dar“; vollständig aufgehoben ist jeder Unterschied zwischen diesen Begriffen „Beschränkung“ und „Diskriminierung“ bei Hoffmann,
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Es spricht – wenn man sich vom Sprachgefühl leiten lässt – einiges dafür, die materiellen Diskriminierungen als „Beschränkungen im weitesten Sinne“ zu bezeichnen, vor allem weil das Wort Diskriminierung immer noch den Ruch der bösen Absicht und der persönlichen Herabsetzung suggeriert.205 So ließe sich auch sprachlich die beschriebene klare Grenze zur absichtsvollen Diskriminierung nachzeichnen. Das Entscheidende ist aber, dass beide Konstellationen – Verbot der direkten und der indirekten Diskriminierung – in der Sache eines gemeinsam haben. In beiden Fällen suchen die Grundfreiheiten einen Nachteil auszugleichen. Auch wenn sie als „Beschränkungsverbote“ bezeichnet werden, sind sie von der Funktion her keine echten Beschränkungsverbote, weil sie nicht ohne ein Vergleichsmoment auskommen. Wenn auch nur ein einzelner deutscher Händler, um das zugespitzte Beispiel aufzugreifen, sich durch die französischen Produktvorschriften so belastet sieht, dass er die direkte Konkurrenz mit den französischen Händlern auf deren Markt scheut, so bleibt diese Konstellation strukturell eine vergleichende Situation und damit bleiben die Grundfreiheiten Gleichheitsrechte.206 Diese Vergleichssituation, die als Grundmuster fortbesteht, auch wenn die grundfreiheitswidrige Vorschrift keine böse Absicht hatte, sondern sich zufällig und in der Wirkung geringfügig als Mehrbelastung für eine grenzüberschreitende Transaktion darstellt, ist die Konstellation eines „SystemGrundfreiheiten als Abwehrrechte, S. 38, wenn er sagt: „Die Beschränkung der durch ein Unterscheidungsverbot gewährten Position ist daher stets nur durch Diskriminierung möglich“. Das folgt für Hoffmann zwingend aus seinem Ansatz, der den Gegensatz „Beschränkung“ – „Diskriminierung“ dadurch auflöst, dass er eine neue, übergeordnete Kategorie schafft („Schutzgut“), die beide Kategorien umfasst (S. 22 f., 34 ff.). 204 Vgl. Knobbe-Keuk, DB 1990, S. 2573, 2577, nach deren Ansicht der Schritt vom Diskriminierungsverbot zum allgemeinen Beschränkungsverbot bereits vollzogen sei, vom Gerichtshof aber durch Floskeln und Formulierungen, die das Attribut oder Adverb „diskriminierend“ verwenden, verdeckt werde; sehr anschaulich auch der Vorwurf an den Gerichtshof, dieser wisse selber nicht mehr, was eine Diskriminierung sei, Novak, EuZW 1999, S. 84, 85 unter Verweis auf EuGH v. 24.11.1998, Rs. C-274/96, „Bickel“, Slg. 98, S. 7637 ff. und EuGH v. 15.1.1998, Rs. 15/96, „Schöning-Kougebetopolou“, Slg. 98, S. 47 ff.; ähnlich: Plötscher, Diskriminierung, S. 321; Streinz/Leible, EuZW 2000, S. 459, 463; Nettesheim, NVwZ 1996, S. 342, 343, „begriffliche Konturlosigkeit“ oder S. 343, dort Fn. 6 „verwaschener Begriff der indirekten Diskriminierung etwa bei Generalanwalt Lenz“; Knobbe-Keuk, DB 1990, S. 2573, 2577. 205 Vgl. etwa Somek, E.L.J. 1999, S. 243, 250 f. und seine Abstufung der verschiedenen Intensitätsstufen diskriminierenden Verhaltens (humiliation, stereotypisation, overdetermination). 206 Durch das Ausweichen auf den Begriff „Gleichheitsrecht“ anstelle von „Diskriminierungsverbot“ fällt diese Überlegung leichter, weil auf diese Weise die Schärfe des Begriffs „Diskriminierung“ herausgenommen ist.
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vergleichs“. Verglichen wird eine „binnenmarktneutrale“ inländische Transaktion mit der geplanten „binnenmarktrelevanten“ Transaktion in den Nachbarmarkt. In dem Sachverhalt mit grenzüberschreitendem Bezug darf der EU-Bürger nicht schlechter gestellt sein als in dem – hypothetischen – vergleichbaren Sachverhalt ohne grenzüberschreitenden Bezug.207 Hier taucht erneut das „grenzüberschreitende Element“ als das bestimmende Merkmal der Grundfreiheiten auf. Das „grenzüberschreitende Element“ hat nicht allein die Funktion, den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten zu begrenzen. Im Tatbestandsmerkmal des „grenzüberschreitenden Elements“ ist das Normprogramm der Grundfreiheiten enthalten, weil dieses Merkmal die Begrenzung der jeweiligen Grundfreiheit auf ihre eigentliche und – wie zu zeigen ist – ausschließliche Aufgabe festschreibt. Diese „an- und ausgleichende Funktion“ geht unmittelbar auf die Zweckbestimmung und damit auf den instrumentalen Charakter der Grundfreiheiten zurück. Nach wie vor ist der Fluss von Waren und anderen Wirtschaftsfaktoren im Binnenmarkt durch die unterschiedlichen rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen auf den einzelnen Teilmärkten gestört. Der Unternehmer, der in den Nachbarstaat expandieren will, sieht sich erhöhten Kosten gegenüber, die er nicht hätte, wenn er nicht „von außen“ auf diesen Markt wollte. Diese Nachteile sollen die Grundfreiheiten auffangen, mehr aber auch nicht.208 Das Ziel der Grundfreiheiten ist weiterhin die Durchlässigkeit der Staatsgrenzen, um auf diese Weise den Fluss der Waren- und Personenströme zu ermöglichen, der die noch vorhandenen Gefälleunterschiede im Binnenmarkt zum Ausgleich bringen soll. In den Kategorien des Diffusionsmodells entspricht das der Festlegung der Grundfreiheiten auf die Durchlässigkeit als der Regelgröße, auf die sie Einfluss nehmen können und sollen. Jeder noch so unbedeutende Nachteil, den ein von außen kommender Marktteilnehmer im Vergleich zu den ansässigen Marktteilnehmern auf sich nehmen muss, zeichnet die ursprüngliche Grenze des Teilmarkts – wenn auch unter Umständen nur sehr schwach – wieder nach und hält so die Segmentierung aufrecht, die von den Grundfreiheiten überwunden werden soll. Erst in dem Moment, in dem es für den Importeur kostenneutral ist, die Teilmarktgrenze zu passieren, verschwindet mit dem letzten Cent an Mehrkosten auch die Segmentierung. Die Membran ist zu 100% durchlässig und damit aufgelöst. Damit wäre die Aufgabe der Grundfreiheiten erfüllt. Ohne den Vergleich dagegen laufen die Grundfreiheiten ins Leere. 207 „Systemvergleich“ oder „transnationale Gefährdungslage“, vgl.: Kingreen, S. 115 ff., 118, 119 f., 148; gegen eine solche Gleichsetzung des Merkmals „grenzüberschreitender Bezug“ mit dem Diskriminierungsbegriff der Grundfreiheiten zuletzt etwa Plötscher, Diskriminierung, S. 303. 208 Nettesheim, NVwZ 1996, S. 342, 343; Puth, EuR 2002, S. 860, 869, 875; Mager, JZ 2003, S. 204, 206; Poiares Maduro, in: Roth/Andenas, Services and Free Movement, S. 54 f.; u. v. m.
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Sehr anschaulich spricht daher etwa Kingreen in diesem Zusammenhang von der transnationalen Situation als dem „Lebensraum“ der Grundfreiheiten, außerhalb dessen sie nicht existieren könnten.209 Von einer strukturell vorgegebenen Unterscheidung einer Funktion der Grundfreiheiten als „Diskriminierungsverbote“ und einer Funktion der Grundfreiheiten als „allgemeine Beschränkungsverbote“ kann daher zu Recht nicht gesprochen werden. Vielmehr lassen sich die verschiedenen Anwendungsbeispiele der Grundfreiheiten unter einen äußerst weit verstandenen Begriff des Diskriminierungsverbots zusammenfassen. Innerhalb dieser gleichheitsrechtlichen Funktion finden sich die „diskriminierenden Diskriminierungen“, die „beschränkenden Diskriminierungen“ und die „aus einem Systemvergleich resultierenden Beschränkungen“ als Abstufungen nach abnehmender Intensität der Diskriminierung wieder. c) Beispiele von Grundfreiheiten als „echten“ Beschränkungsverboten Es bleibt eine geringe Anzahl von Fällen, die sich jedem Versuch entziehen, sie unter diesen sehr weiten Begriff der „Grundfreiheiten als Gleichheitsrechte“ zu fassen. Das sind die Fallkonstellationen, wie sie etwa den Entscheidungen Bosman, Lehtonen, Deliège, Graf sowie Torfaen, B&Q und Alpine Investments zugrunde liegen. Diese Beispiele werden im Folgenden als „echte Beschränkungsverbotsfälle“ bezeichnet.210 Diese Fälle weisen keinerlei „vergleichendes Moment“ auf und können deshalb nicht unter den Diskriminierungsbegriff gebracht werden.211 Sie 209 Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 16; vgl. Jarass, Grundfreiheiten als Grundgleichheiten, in: FS Everling, S. 593 ff.; Jarass, EuR 1995, S. 202, 218. 210 EuGH v. 15.12.1995, Rs. C-415/93, „Bosman“, Slg. 95, S. 4921 ff.; EuGH v. 13.4.00, Rs. C-176/96, „Lehtonen“, Slg. 00, S. 2681 ff.; EuGH v. 11.4.2000, Rs. C191/97, „Deliège“, Slg. 00, S. 2549 ff.; EuGH v. 27.1.00, Rs. C-190/98, „Volker Graf“, Slg. 00, S. 493 ff.; EuGH v. 23.11.1989, Rs. C-145/88, „Torfaen“, Slg. 89, S. 3851 ff.; EuGH v. 16.12.1992, Rs. 169/91, „B&Q“, Slg. 92, S. 6635 ff.; EuGH v. 10.5.1995, Rs. C-384/93, „Alpine Investments“, Slg. 95, S. 1141 ff. 211 Auf eine Besonderheit der Entscheidung „Lehtonen“ muss hingewiesen werden: Die Maßnahme des belgischen Basketballverbandes ist nicht diskriminierend, auch wenn zunächst dieser Eindruck entsteht. Art. 244 und 245 Ziff. 4 der FRBSBStatuten (vgl. Rz. 10 des Urteils) listen zwar Ausländer und Belgier getrennt auf. In der Sache sind aber die ausländischen Spieler nicht benachteiligt (vgl. die ausdrückliche Feststellung in Rz. 34 der Schlussanträge). Es ergibt sich sogar eine leichte Besserstellung der ausländischen Spieler (Rz. 34 der Schlussanträge sowie Rz. 48 und 49 des Urteils). Für die Entscheidung „Alpine Investments“ gilt in Abweichung zu den anderen genannten Konstellationen, dass die holländische einschränkende Regelung zwar unterschiedslos für alle Dienstleistungen galt, die das holländische Unternehmen europaweit anbot (Rz. 33, 35), die Regelungen in anderen Ländern
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sind weder „Systemvergleich“ noch „Vergleich der Rechtsordnungen“. Aus Sicht der Autoren, die eine Funktion als „Beschränkungsverbot“ für die Grundfreiheiten ablehnen, müssen diese Urteile daher als „Irrläufer“ bei den Systematisierungsversuchen außer Betracht bleiben.212 Für die vorliegende Untersuchung ist gerade diese Handvoll Fälle von besonderer Bedeutung. Denn die Grundfreiheiten haben in diesen Fällen eine unbestritten rein freiheitsrechtliche und damit auch eine (abwehr-) grundrechtliche Struktur. Die freiheitsrechtliche Struktur der Grundfreiheiten lässt sich in diesen Konstellationen ohne jedes „störende“ vergleichende Element isolieren, das an die instrumentale, an- und ausgleichende Ratio der Grundfreiheiten erinnert. Dieses Ablösen von der Zweckbindung ist zugleich ein mögliches weiteres Indiz für die Annäherung an einen grundrechtlichen Charakter. Dass diese Fallgruppe von den anderen Anwendungsfällen der Grundfreiheiten durch eine klare Grenzüberschreitung getrennt ist, zeigt auch die folgende Beobachtung: Die Einordnung als „echtes Beschränkungsverbot“ bei gleichzeitigem Festhalten am Tatbestandsmerkmal des grenzüberschreitenden Elements führt zu einer entlarvenden – weil widersprüchlichen – Zuspitzung. Denn das Problem der Inländerdiskriminierung verschärft sich für diese Konstellationen, wie das Beispiel der Entscheidung Bosman zeigt. In einer Situation, in der alle Staaten dieselben – restriktiven – Transferregeln für Fußballer haben, ist der Spieler Bosman mit seinem durch Art. 39 EGV ermöglichten grenzüberschreitenden Transfer den innerstaatlichen Transfers nicht gleichgestellt, sondern im Verhältnis bessergestellt. Erst nachdem der Art. 39 EGV von Bosman erfolgreich ins Spiel gebracht wurde, gibt es überhaupt ein Besser oder Schlechter in Bezug auf die Transferregeln. In dieser sehr weiten Lesart der Grundfreiheiten verursacht das Tatbestandsmerkmal des grenzüberschreitenden Bezugs demnach das Gefälle, anstatt es zu beseitigen.213 Dieses seltsam verzerrte Ergebnis ist ein Hinweis darauf, dass hier die logische Grenze der ausgleichenden Funktion der Grundfreiheiten überschritten wird. Ein solches verzerrtes Ergebnis ließe sich nur vermeiden, wenn für diese Fallkonstellationen das grenzüberschreitende Element als Tatbestandsmerkmal fallen gelassen würde. Damit ergäbe sich ein weiteres Indiz auf eine grundrechtliche Struktur. Denn nach dem Verzicht auf das Tatbestandsmerkmal des grenzüberschreitenden Bezugs – unaber weniger einschränkend waren, vgl. die Schlussanträge Jacobs zu „Alpine Investments“, Slg. 95, S. 1141, 1153, Rz. 39 und die Ausführungen unter B. II. 3. c) cc). 212 Simm, Der Gerichtshof im föderalen Kompetenzkonflikt, S. 201; Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 57, 63, 65; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 149; Hilson, E.L.Rev. 24 (1999) S. 445, 554 f.; Hoffmann, Grundfreiheiten als Abwehrrechte, S. 204, 207. 213 Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 75; Krogmann, Grundrechte im Sport, S. 220; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 148 f.
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verzichtbar für die Grundfreiheiten – müssten die Grundfreiheiten in diesen Ausnahmefällen ihren grundfreiheitlichen Charakter verlieren und sich zugleich den Grundrechten auch im Aufbau der Norm annähern. Vor allem aber lenken diese „echten Beschränkungsverbotsfälle“ den Blick auf eine dogmatische Lücke. Der neue gleichheitsrechtliche Ansatz in der Literatur, der – mit guten Gründen – die Grundfreiheiten auf ihre ursprüngliche Funktion als weitverstandene Diskriminierungsverbote zurückführt, kann diese Fälle nicht unter den Begriff der Grundfreiheiten einordnen, ohne den sorgfältig neukonturierten Anwendungsbereich der Grundfreiheiten wieder aufzuweichen. Hier setzt eine zentrale Arbeitshypothese dieser Untersuchung an. Diese Lücke lässt sich schließen, indem man annimmt, dass in diesen besonderen Fällen die Grundfreiheiten keine grundfreiheitliche, sondern eine typisch grundrechtliche Funktion haben und der Gerichtshof es lediglich – aus welchen Gründen auch immer – unterlässt, diese Funktion der „Grundrechte-Grundfreiheiten“ als solche explizit kenntlich zu machen, und weiterhin schlicht von der Anwendung der Grundfreiheiten spricht. Auf diese Weise könnten die Vorteile der neuen Definition der Grundfreiheiten als Grundgleichheiten ohne Abstriche erhalten bleiben. aa) Die Abgrenzung der „echten Beschränkungsverbote“ von den „allgemeinen Beschränkungsverboten“ Die Fälle der „echten Beschränkungsverbote“ müssen sorgfältig von den Fällen abgegrenzt werden, in denen ein Systemvergleich vorliegt und deswegen die Grundfreiheiten zwar begrifflich als Beschränkungsverbote gelten können, in der Sache aber als weitverstandene Diskriminierungsverbote wirken. Dem Tatbestandsmerkmal des grenzüberschreitenden Bezugs kommt hier eine Schlüsselrolle zu. Zu einem Systemvergleich kommt es nach dem oben Gesagten, wenn ein Wirtschaftsteilnehmer eine Transaktion in einen anderen Teilmarkt hinein vornimmt und ihm dabei Mehrkosten entstehen, die er nicht tragen müsste, falls er im eigenen Land bliebe oder der Binnenmarkt bereits vollständig angeglichen wäre. Es ist das Tatbestandsmerkmal des grenzüberschreitenden Elements, das im Moment der Anwendung der Grundfreiheiten den Systemvergleich bewirkt, weil es zur Aufspaltung in zwei verschiedene Kategorien zwingt, ohne die ein Vergleich nicht möglich wäre: Eine Kategorie ist der real vorliegende Sachverhalt mit grenzüberschreitendem Bezug. Die andere Kategorie ist ein hypothetischer Sachverhalt ohne grenzüberschreitenden Bezug als Schablone, an der die Mehrkosten sich ablesen lassen. Das ist die Situation der lediglich begrifflichen „allgemeinen Beschränkungsverbote“, die in Wahrheit Systemvergleiche
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bleiben. Das grenzüberschreitende Element ist nicht nur Teil des Sachverhalts, sondern Teil des Normprogramms. Teil des Sachverhalts ist das grenzüberschreitende Element aber zwangsläufig auch in den seltenen Konstellationen, die in der hier entwickelten Terminologie als „echte Beschränkungsverbote“ bezeichnet werden. Denn ohne das grenzüberschreitende Element hätte der Gerichtshof die Anwendung der Grundfreiheiten auf den Fall abgelehnt. Die Auflösung dieses Widerspruchs kann nur darin liegen, dass das grenzüberschreitende Element nicht in allen Konstellationen auch zu einem Systemvergleich führt. Nicht in allen Konstellationen ist das grenzüberschreitende Element Teil des Normprogramms. Das mag in der Mehrzahl der Fälle so sein. In den hier interessierenden Fällen der „echten Beschränkungsverbote“ dagegen ist das grenzüberschreitende Element zwar präsent. Es kann aber nicht kausal für die Kosten werden, die der Wirtschaftsteilnehmer hat. Eine Besserstellung der rein nationalen Sachverhalte erfolgt auf keiner Ebene. Die Maßnahmen wirken sich daher in der Tat auf jeden denkbaren Betroffenen als einfache Beschränkungen aus, die der grundfreiheitlichen Prüfung nur – scheinbar zufällig – unterfallen, weil sie von einem Ausländer geltend gemacht werden, oder weil die von der Beschränkung konkret betroffene schützenswerte Handlung – vermittelt durch den Willen des Einzelnen – auf einen Grenzübertritt gerichtet ist. Das grenzüberschreitende Element bringt diese Sachverhalte wenn auch nicht „strukturell“, so doch „akzidentell“ in den Zuständigkeitsbereich des Gemeinschaftsrechts und damit des Gerichtshofs. Aus Sicht des Einzelnen entstehen ihm keine Nachteile aufgrund des grenzüberschreitenden Bezugs, sondern der Gerichtshof prüft Nachteile, die sich unabhängig von jedem grenzüberschreitenden Bezug ergeben, weil er anlässlich des grenzüberschreitenden Bezugs das Gemeinschaftsrecht auf den Fall anwenden kann. An den Beispielen aus der Rechtsprechung soll dieser Unterschied erläutert werden. Vor allem die bereits erwähnten Transferregeln aus der Entscheidung Bosman eignen sich sehr gut, um die Rolle des grenzüberschreitenden Elements in diesen „echten Beschränkungsfällen“ zu demonstrieren. Der Profifußballer Jean-Marc Bosman war beim belgischen Fußballclub Lüttich unter Vertrag. Der geplante Wechsel von Lüttich zum französischen Verein Dünkirchen scheiterte daran, dass Dünkirchen die geforderte Ablösesumme nicht aufbringen konnte oder wollte und Lüttich ohne die Zahlung dieser Summe die Freigabe des Spielers blockieren konnte. Die Statuten des belgischen Fußballverbandes erlaubten ein solches Vorgehen, ebenso wie alle anderen europäischen Verbandsstatuten zu der Zeit.214 Dieses Detail ist die Besonderheit, die Bosman zum Musterfall der echten Beschränkungsver-
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botsfälle macht. Die Transfersummen waren damals Teil des europäischen Fußballalltags. Die Transferregeln der Sportverbände galten jeweils gleichermaßen für In- und Ausländer.215 Eine besondere Härte für ausländische Spieler oder eine Benachteiligung der grenzüberschreitenden Transfers bedeutete diese Regelung nicht. In Bosmans Fall wäre für beide Transfers, den innerbelgischen ebenso wie für den Transfer über die Grenze ins nordfranzösische Dünkirchen, eine Ablösesumme fällig gewesen. Die Kosten für den Wechsel auf den Heimatmarkt und die Kosten für den (angestrebten) Wechsel auf den Nachbarmarkt waren gleich hoch. Da in allen Ländern vergleichbare Transfersummen erlaubt waren, verhielt sich der Grenzübertritt hinsichtlich der Kosten für den Spieler in alle Richtungen neutral. Der Grenzübertritt konnte folglich in dieser Konstellation nicht kausal werden für die Schwierigkeiten, die Bosman mit seinem Weggang aus Lüttich hatte. Es war nicht seine grenzüberschreitende Bewegungsfreiheit, die beeinträchtigt wurde. Die Transferregeln trafen ihn viel grundlegender. Die angegriffene Regelung beschnitt seine berufliche Bewegungsfreiheit als solche. Entsprechend ist es auch die Mobilität als solche, die der Gerichtshof in der Entscheidung geschützt hat. Allein die Mobilität in ihrer puren Ausprägung – ohne den Systemvergleich – wird durch ein solches Transfersystem gehemmt. Wenn alle Spieler ablösefrei schneller und häufiger zirkulieren, resultiert daraus, den statistischen Gesetzmäßigkeiten folgend, auch ein im entsprechenden Verhältnis erhöhter grenzüberschreitender Wechsel. Erst über diesen „statistisch“ vermittelten Zusammenhang ergibt sich die Binnenmarktrelevanz und der Mehrwert für das Marktintegrationsziel.216 Wenn die belgische Vorschrift ganz grundsätzlich alle Transfers erschwert, so wird sie aller Wahrscheinlichkeit nach auch eine bestimmte Anzahl X von 214
Dinkelmeier, Profifußball in Europa, S. 20 f. EuGH v. 15.12.1995, Rs. C-415/93, „Bosman“, Slg. 95, S. 4921, S. 5069 f., Rz. 98 f., 103; Generalanwalt Lenz legt sich dagegen hinsichtlich der Frage, ob die Regelungen in den einzelnen Ländern bis ins Detail identisch sind und der Wechsel in einen anderen Landesverband tatsächlich unter den gleichen Voraussetzungen stattfinden kann wie ein Wechsel innerhalb eines Verbandes, nicht fest, vgl. die Schlussanträge zu „Bosman“, Slg. 95, S. 4921, 4985 ff., Rz. 152 bis Rz. 164, insb. S. 4988, Rz. 159 ff. Siehe dazu unten B. II. 3. c) aa) die Überlegungen zu den unvermeidlichen Abweichungen zwischen den Tatsachen, wie sie sich in der Realität finden, und den Tatsachen, die zur Grundlage einer Entscheidung gemacht werden. Um den Fall „Bosman“ als Beispiel für den Übergang vom Diskriminierungsverbot zum echten Beschränkungsverbot nutzen zu können, sollen die Zweifel des Generalanwalts zunächst beiseite gelassen werden. 216 Das im Zusammenhang mit der Warenverkehrsfreiheit angesprochene Diffusionsmodell ist auch hier zum Verständnis dieser Vorgänge von Wert: siehe oben B. I. 1. im ersten Teil; zum Begriff des „Gesetzes der großen Zahl“ siehe auch: Forsthoff, EWS 2001, S. 59, 61 f. 215
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Transfers erschweren, die über die Grenze ins Ausland erfolgen sollten. Wie groß diese Anzahl X ist, hängt aber nicht von Faktoren, die mit einer Schlechterstellung irgendwie in Zusammenhang gebracht werden könnten, sondern von sportlichen, wirtschaftlichen, persönlichen Gründen ab. Der Auslandsbezug verhält sich in der Entscheidungsfindung des Ausreisewilligen neutral.217 Das zweite Beispiel, an dem sich ein Verständnis der Grundfreiheiten als echte Beschränkungsverbote in Reinform nachweisen lässt, sind die Sonntagsverkaufsverbotsfälle (Torfaen, B&Q).218 Es ist für die Durchmischung des Marktes von Vorteil, wenn an allen sieben Tagen der Woche Handel getrieben werden darf. Darauf ist im Zusammenhang mit dem Modell des Binnenmarktes als Diffusionsprozess bereits hingewiesen worden.219 Mit jedem Tag, an dem Waren zirkulieren, werden auch Waren oder Dienstleistungen über die Grenzen der Teilmärkte strömen. Die angestrebte Nivellierung der Verteilung der einzelnen Wirtschaftsfaktoren auf die Teilmärkte ließe sich also – zugespitzt formuliert – um ein Siebtel rascher erreichen, wenn gemeinschaftsweit der Sonntag ohne Einschränkung für den Handel freigegeben würde. Von einem Vor- oder Nachteil für einzelne Teile des Binnenmarktes ist keine Rede mehr. Der Sonntag ist in allen EU-Staaten zumindest dem Grundsatz nach (noch) ein handelsfreier Tag. Kein Staat verschafft sich einen Vorteil. Kein Teilmarkt ist von den anderen Teilmärkten separiert, weil er die Durchlässigkeit seiner Grenzen um ein Siebtel verringert. Die Regelung verhält sich – wie Bosmans Transferregeln – in alle Richtungen neutral. Dass hier der Punkt überschritten ist, an dem noch von einer vergleichenden – und damit angleichenden – Funktion der Grundfreiheiten gesprochen werden kann, liegt auf der Hand. Das Sonntagsverkaufsverbot musste sich abstrakt die Frage nach seiner Begründbarkeit und Verhältnismäßigkeit im Binnenmarkt gefallen lassen. Der grenzüberschreitende Bezug – über die zehn Prozent ausländische Ware in den Regalen220 – war nur der Anlass zu dieser Überprüfung. Anders als in der Sache Bosman, der er die Entscheidungen Graf, Lehtonen, Deliège folgen ließ, hat der Gerichtshof diese Funktionsüberschreitung in den Sonntagsverkaufsverbotsfällen offensichtlich als Fremdkörper in seiner Rechtsprechung erkannt. Die 217 Vgl. Schlussanträge Fennelly zu EuGH v. 27.1.00, Rs. C-190/98, „Volker Graf“, Slg. 00, S. 493, 499 f., Rz. 14. 218 EuGH v. 23.11.1989, Rs. C-145/88, „Torfaen“, Slg. 89, S. 3851 ff.; EuGH v. 16.12.1992, Rs. 169/91, „B&Q“, Slg. 92, S. 6635 ff.; EuGH v. 16.12.1992, Rs. C304/90, „Payless DIY“, Slg. 92, S. 6493 ff.; EuGH v. 16.12.1992, Rs. C-306/88, „Anders“, Slg. 92, S. 6457 ff. 219 Siehe oben B. I. 1. a) und c). 220 EuGH v. 23.11.1989, Rs. C-145/88, „Torfaen“, Slg. 89, S. 3851, 3887, Rz. 7; vgl. dazu etwa Poiares Maduro, in: Roth/Andenas, Services and Free Movement, S. 48.
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Entscheidungen zum Sonntagsverkaufsverbot waren die Wegbereiter der Keck-Rechtsprechung, die dann den Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit auf die Produktregelungen verkleinerte.221 Es lassen sich für die „echten Beschränkungsverbotsfällen“ weitere Beispiele finden, in denen es um die Mobilität als solche geht, etwa die Sachen Lehtonen oder Deliège, in denen es ähnlich der Sache Bosman um beschränkenden Klauseln in den Statuten belgischer Sportverbände ging.222 Beide Entscheidungen ergingen ersichtlich als Nachfolgeentscheidungen zum Bosman-Urteil. Im Verfahren Volker Graf nennt die beklagte Partei das strittige neue Schutzgut der „Mobilität um ihrer selbst willen“ ausdrücklich beim Namen.223 Herr Graf, der von seinem österreichischen Arbeitgeber zu einem deutschen Unternehmen wechseln wollte, war gegen die nach seiner Einschätzung zu geringe Abfindungssumme vorgegangen. Wenn ein häufiges und rasches Wechseln des Arbeitsplatzes mit Abzügen bei der Abfindung bestraft werde, verringere das die Bereitschaft der Arbeitnehmer, mobil zu sein, und beeinträchtige so auch den Arbeitsplatzwechsel über die Grenzen. Der Gerichtshof hielt diesen Nachteil nicht für so schwerwiegend, als dass von einem Eingriff in die Freizügigkeit gesprochen werden könnte.224 Der Grenzübertritt und die Mobilität sind in der 221 EuGH v. 24.11.1993, verb. Rs. 267/91 und 268/91, „Keck und Mithouard“, Slg. 93, S. 6079, 6131, Rz. 14, 16 f.; ausdrücklich etwa bereits im Jahre 1989 in den Schlussanträgn Van Gerven zu EuGH v. 23.11.1989, Rs. C-145/88, „Torfaen“, Slg. 89, S. 3851, 3879 f., Rz 26 f., nach dessen Einschätzung zu befürchten sei, dass die Liste der zwingenden Erfordernisse immer länger werde und sich zu einer Art Restbefugnis der Mitgliedstaaten auswachse. Er plädiert daher dafür, die Tragweite des Art. 20 EGV „anhand der allgemeinen Ziele dieser Vorschrift und des Vertrags näher zu bestimmen“. 222 EuGH v. 13.4.2000, Rs. C-176/96, „Lehtonen“, Slg. 00, S. 2681 ff.; EuGH v. 11.4.2000, Rs. 191/97, „Deliège“, Slg. 00, S. 2549 ff.; Herr Lehtonen war finnischer Basketballspieler in Belgien, der sich durch die Statuten des belgischen Basketballverbandes eingeschränkt sah, weil diese einen Wechsel in der laufenden Saison verbieten. Frau Deliège fühlte sich zu Unrecht vom belgischen Judokaverband von internationalen Wettkämpfen ausgeschlossen. In beiden Fällen hielt der Gerichtshof die Beschränkungen in den Statuten – anders als in der Sache „Bosman“ – für gerechtfertigt. Auf die Besonderheit der Sache „Lehtonen“, in der es um eine äußerlich diskriminierende Maßnahme geht, die aber bei näherem Hinsehen unstreitig keine Benachteiligung der ausländischen Spieler bedeutet, ist bereits hingewiesen worden, vgl. Schlussanträge Rz. 34 und Urteil, Rz. 48 und 49; vgl. zuletzt aber Möstl, EuR 2002, S. 318, 330, der auch in der Bosman-Konstellation offenbar kein echtes Beschränkungsverbot sehen möchte. 223 Schlussanträge Fennelly zu EuGH v. 27.1.00, Rs. C-190/98, „Volker Graf“, Slg. 00, S. 493, 499 ff., Rz. 14. 224 EuGH v. 27.1.00, Rs. C-190/98, „Volker Graf“, Slg. 00, S. 493, 523, Rz. 24 f.; vgl. auch die Schlussanträge Fennelly zu „Volker Graf“, Slg. 00, S. 493, 495, 510 f., Rz 1, 34 f.; vgl. Connor, E.L.Rev. 24 (1999) S. 525, 529 zu einem vergleichbaren Fall vor dem High Court.
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Sache Graf nicht unmittelbar aufeinander bezogen. Die Verbindung gelingt allein über die höhere „Volatilität“ der Arbeitnehmerschaft, die zwangsläufig auch auf den grenzüberschreitenden Austausch rückwirkt. Der Vergleich der Bewegungsprozesse von Waren, Dienstleistungen und Arbeitnehmern im Binnenmarkt mit der Bewegung von Teilchen in einem Diffusionsprozess ist zu Beginn der vorliegenden Analyse der Struktur der Grundfreiheiten als Erklärungsmodell herangezogen worden. Auch an dieser Stelle, an der es um die Bestimmung des Punktes geht, an dem die Funktion der Grundfreiheiten von einem Diskriminierungsverbot in ein Beschränkungsverbot umschlägt, ist dieses Modell von Bedeutung. Denn dieser gesuchte Grenzpunkt fällt – wie sich zeigen wird – mit der Unterscheidung zweier verschiedener Regelgrößen des Diffusionsmodells zusammen. Die Durchmischung des einheitlichen Marktraumes ist in idealer Weise gewährleistet, wenn die Fließgeschwindigkeit und damit der Austausch der einzelnen Wirtschaftsfaktoren über den gesamten Marktraum möglichst hoch ist. Diese Fließgeschwindigkeit hängt von mehreren Faktoren ab, unter anderem von der Durchlässigkeit der Membrane, die die einzelnen TeilRäume gegeneinander abgrenzen, und von der Temperatur, d.h. dem energetischen Zustand der Teilchen. Die Membrane sind die Grenzen der unterschiedlichen Rechtsordnungen, die aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit eine mehr oder weniger durchlässige Trennwand zwischen den Teilmärkten einziehen. Die Mehrkosten für eine Transaktion ins Nachbarland hemmen die Bewegung der Teilchen im Gesamtraum. Durch die Summe der „gebremsten Transaktionen“ wird der Raum, innerhalb dessen keine Mehrkosten auftreten, als separater Teilraum wahrnehmbar. Über die verringerte Durchlässigkeit aufgrund der Mehrkosten werden so die Staatsgrenzen nachgezeichnet. An diesem Parameter können (und sollen) die Grundfreiheiten ansetzen, indem sie die Durchlässigkeit der einzelnen Subsysteme untereinander zunächst ermöglichen und dann erhöhen, indem der Widerstand (= Kosten), den eine Staatsgrenze für den Handel bietet, immer weiter abgebaut wird und im Idealfall der Wechsel ins Nachbarland nicht auf einen höheren Widerstand trifft als der Wechsel innerhalb des eigenen Landes. Das ist die Funktion, die mit der Lesart der Grundfreiheiten als weitverstandene „Gleichheitsrechte“ treffend dogmatisch umschrieben wird.225 225
Jarass, Die Grundfreiheiten als Grundgleichheiten, in: FS Everling, S. 593, 599 ff., 606 f.; Jarass, EuR 1995, S. 202, 216 ff., 218; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 16 f., 85, 118 ff., 127, 133, 190 ff.; Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 268 f., 288; Simm, Der Gerichtshof im föderalen Kompetenzkonflikt, S. 58, 67 ff., 157 ff., 201, 209 f., 257 ff.; Puth, EuR 2002, S. 860, 869; im Ergebnis wohl auch Hoffmann, Grundfreiheiten als Abwehrrechte, S. 31 ff., 44, 54 ff., 101 f., 206, unklar allerdings auf S. 72, 73 ff., 204 f., 210 f.; ähnlich, aber in ausdrücklicher Abgrenzung etwa zu Kingreens Konzept: Plötscher, Diskriminierung, S. 298 f., 303.
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Eine spürbar andere Funktion – und damit auch eine andere Qualität – haben die Grundfreiheiten in dem Moment, in dem sie versuchen, über die zweite Regelgröße Einfluss auf die weitere Durchmischung des Binnenmarktes zu nehmen. Das sind die Konstellationen, in denen versucht wird, die Zirkulationsgeschwindigkeit dadurch erhöhen, dass der energetische Zustand des Systems erhöht wird, indem ganz allgemein beschränkende – und damit verlangsamende – Regeln zugunsten eines rascheren Wechsels aufgehoben werden. Dieser Wechsel zu einem neuen Parameter im Diffusionsmodell markiert zugleich die Grenze zwischen den zahlreichen „unechten Beschränkungsverboten“ und den seltenen „echten Beschränkungsverboten“ in der Fallpraxis des Gerichtshofs. Bei der Übertragung dieser Vorgaben aus dem Modell auf die Realität der Binnenmarktvorschriften wird die zentrale Rolle des Tatbestandsmerkmals des grenzüberschreitenden Bezugs ein weiteres Mal deutlich: Es ordnet die Rechtsnormen in ihrer Funktionsweise den verschiedenen Regelgrößen im Modell zu. Als unverzichtbares Tatbestandsmerkmal der Grundfreiheiten bindet es diese an die Regelgröße der Durchlässigkeit der Membrane. Nur wo eine Diskrepanz zwischen zwei Teilmärkten sich als – wenn auch im Einzelfall kaum wahrnehmbare – Trennwand im Binnenmarkt zeigt, können die Grundfreiheiten ausgleichend eingreifen. Dort, wo das grenzüberschreitende Element leer läuft – wie in der Bosman-Konstellation – fehlt es an einem segmentierenden Unterschied. Damit läuft auch die ausgleichende Funktion der Grundfreiheiten leer. In diesen Fällen deutet das Fehlen des Tatbestandsmerkmals des „grenzüberschreitenden Elements“ auf eine veränderte Normstruktur hin. Falls diese Funktion weiterhin als eine binnenmarktbezogene grundfreiheitliche Funktion verstanden werden soll, können die Vorschriften in diesen Fällen nur bei der zweiten Regelgröße, dem energetischen Zustand des Systems, ansetzen und die Durchmischung über eine Verstärkung der Mobilität als solcher zu forcieren.
bb) Eine Einschränkung: Auch diese Grenze ist nur eine näherungsweise Grenze Eine erste Einschränkung muss an dieser Stelle gemacht werden. Die Anleihe bei den Naturwissenschaften darf keine Exaktheit vorspiegeln, die eine juristische Darstellung nicht leisten kann. Auch die hier vorgeschlagene Grenze zwischen den „echten Beschränkungsverboten“ und den nur scheinbaren „allgemeinen Beschränkungsverboten“ ist keine absolute Grenze. Zwar spricht nach der hier vertretenen Auffassung alles dafür, die Zäsur an dieser Stelle zu setzen, weil der Punkt mit dem Übergang von einer Grundfreiheits-Funktion zu einer anderen, noch nicht näher bestimmten Funktion zusammenfällt. Eine in der Natur der Sache vorgegebene, hun-
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dertprozentig trennscharfe Grenze ist diese Grenzziehung aber nicht. Die folgenden Überlegungen zeigen, dass auch diese Grenze auf einer – angreifbaren – Wertung beruht und ein willkürliches Element enthält. Die Tatsache, dass es nur eine Handvoll Entscheidungen gibt, die als Beispiel für diese Wirkweise der Grundfreiheiten dienen können, ist kein Zufall. Es gibt unter reellen Bedingungen nicht viele Konstellationen, in denen ein Sachverhalt in allen fünfzehn Mitgliedsstaaten identisch geregelt ist, so dass der Grenzübertritt sich in alle Richtungen kostenneutral verhält. Im Sachverhalt der Entscheidung Bosman war – auch ausweislich der tatsächlichen Feststellungen der vorlegenden Richter – eine solche Situation gegeben. Alle Länder erlaubten es, Spielertransfers von der Zahlung einer Ablösesumme abhängig zu machen. Diese Einheitlichkeit ist unter anderem auf die starke Stellung der UEFA in Europa zurückzuführen.226 Ähnlich war die Ausgangslage bei den Sonntagsverkaufsverbotsfällen. Dort galt das Sonntagsverkaufsverbot in allen Mitgliedstaaten.227 Diese beiden Aussagen sind nur scheinbar so klar und eindeutig, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Auch diese exemplarisch genannten Sachverhalte sind lediglich näherungsweise Umschreibungen einer Ideal-Konstellation des echten Beschränkungsverbotsfalls. Denn bei schärferem Hinsehen würde man feststellen, dass auch in den Konstellationen Bosman und Torfaen minimale Regelungsunterschiede von Land zu Land nachweisbar sind. So mag es in Frankreich für einzelne Produkte Ausnahmen vom Sonntagsverkaufsverbot geben, die es in Belgien oder Deutschland nicht gibt. In einem Mitgliedstaat sind möglicherweise nur Autobahntankstellen, in einem zweiten Staat dagegen auch innerstädtische Tankstellen vom Sonntagsverkaufsverbot befreit. Die Verkaufsbedingungen wären dann in dem ersten Staat minimal besser als in dem zweiten. Damit bleibt die Idee des Systemvergleichs – wenn auch in kaum wahrnehmbarer Weise – in der Praxis auch für die „echten Beschränkungsverbote“ bestehen. Die echte Beschränkungsverbots-Konstellation, deren Regelungen alle Teilmärkte vollständig gleich regeln und in der die strittige Maßnahme sich vollständig neutral gegenüber dem Grenzübertritt verhält, existiert nur als Modell-Fall unter Laborbedingungen.228
226 Demaret, Rev.M.U.E. 1996, S. 11, 13, 15; Dinkelmeier, Profifußball in Europa, S. 20 f.; Wassmer, Auswirkungen der Grundfreiheiten auf den Berufssport, S. 21 f., 24. 227 Hier sind es möglicherweise die Kirchen in Europa, die eine ähnliche unitarisierende und zugleich „verlangsamende“ Wirkung ausüben, wie die UEFA und FIFA das für den Bereich des Fußballs tun. Das müsste dann in besonderem Maße für die katholische Kirche gelten, die stärker als die protestantischen Kirchen einen einheitlichen grenzüberschreitenden Regelungsanspruch geltend macht. Vgl. dazu auch die „Zehn Thesen“ der Deutschen Bischofskonferenz zum „Zeitalter der Beschleunigung“ und zum Sonntagsverkaufsverbot (www.dbk.de), u. v. m.
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cc) Eine Erweiterung: Die Entscheidung „Alpine Investments“ und die Export-Konstellationen als Beispielfälle der echten Beschränkungsverbote Die hundertprozentig reine Konstellation eines echten Beschränkungsverbots existiert demnach nur im Modell. Einige wenige Fälle, in denen ein bestimmter Lebenssachverhalt in allen Mitgliedstaaten gleich geregelt ist, kommen diesem Modell so nahe, dass sie als Anwendungsbeispiele benannt werden können. Kleinere verbleibende Unterschiede auf tatsächlicher Ebene können zusätzlich im juristischen Verfahren geglättet werden, indem die erstinstanzlichen nationalen Richter oder der Gerichtshof in den Ausführungen zum Sachverhalt feststellen, dass es sich um eine einheitliche Regelung in allen Mitgliedstaaten handelt. Damit wird dieses fehlende Gefälle außer Streit gestellt, wie es etwa in den Entscheidungen Lehtonen und Deliège gehandhabt wurde.229 Die rechtlichen Überlegungen ergehen dann zu einer dem Modell entsprechenden idealen Konstellation. Es gibt aber auch Fälle, in denen diese Idealbedingungen nicht vorliegen, die aber dennoch zu den echten Beschränkungsverboten gezählt werden können. Ein solches Beispiel ist die Entscheidung Alpine Investments. Die in Holland ansässige Vermögensberatungsfirma Alpine Investments, die per Telefon Kunden in ganz Europa einwirbt, wehrte sich unter Berufung auf die Dienstleistungsfreiheit des Art. 49 EGV gegen eine holländische Regelung, die ihr nicht erlaubte, Kunden ohne deren Einverständnis direkt per Telefon zu kontaktieren (Cold Calling). In diesem Fall war das Verbot der aggressiven telefonischen Kundenwerbung in den einzelnen Mitgliedstaaten nicht einheitlich geregelt. In einigen Ländern gab es liberalere Regeln als in Holland. Andere Rechtsordnungen sahen dagegen strengere Verbote vor. Dennoch konnte die Tatsache, dass im Sachverhalt ein grenzüberschreiten-
228 Vgl. die Zweifel, die in den Schlussanträgen Lenz zu „Bosman“, Slg. 95, S. 4921, 4988 ff., Rz. 159 ff., 161 f., 164 zum Ausdruck kommen. 229 Vgl. zunächst die Besonderheit bei „Lehtonen“. Obwohl es äußerlich so aussieht, als würden die Ausländer einer diskriminierenden Extra-Behandlung unterzogen, stellen der Generalanwalt und der Gerichtshof in den Ausführungen zum Sachverhalt ausdrücklich den nicht-diskriminierenden Charakter der belgischen Regelung außer Streit (Rz. 34 der Schlussanträge sowie Rz. 48 f. des Urteils). Der Gerichtshof entscheidet damit bewusst einen „echten Beschränkungsverbotsfall“, unabhängig davon, ob sich nicht doch kleinste Abweichungen in der Behandlung der einheimischen und der ausländischen Spieler ergeben hätten. Ähnlich verhält es sich in der Sache „Deliège“. Dass es um ein reines Beschränkungsverbot geht, entnimmt der Gerichtshof bereits der Tatsache, dass die Klägerin eine Diskriminierung nicht vorgetragen hat (Rz. 61). Der Fall wird hier von Anfang an als „Bosman“-Konstellation angesehen und auch so gelöst, allerdings mit für Frau Deliège ungünstigerem Ausgang.
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des Element vorkam (Alpine telefonierte von Holland aus in alle Mitgliedstaaten), nicht kausal für die Einschränkungen werden. Zu einem Vergleich der einzelnen Rechtsordnungen gelangt man in dieser Konstellation nicht. Denn die einzige Regelung, die in diesem Sachverhalt zum Tragen kam, war das holländische Verbot. Die strengeren oder laxeren Regeln in den anderen Mitgliedstaaten konnten für das Verhalten der Firma Alpine Investments – unterstellt, dass die Standortentscheidung im konkreten Verfahren nicht als Variable gesehen wird – keine Regelungswirkung entfalten. Ein Vergleich mit einem zweiten Regelungssystem findet nicht statt. Das ist der Unterschied der Konstellation von Alpine Investments zu den Fällen, in denen der Grenzübertritt Mehrkosten schafft. Ein holländischer Händler, der seine Ware auch nach Deutschland exportieren möchte, müsste sie zunächst an die holländischen Produktvorschriften anpassen und daneben die deutschen Produktvorschriften berücksichtigen. Falls diese strenger wären als die holländischen, stünde er vor der Wahl, entweder seine ganze Produktion am strengeren (und damit teureren) Standard zu orientieren oder seine Produktion aufzuteilen, was aus betriebswirtschaftlicher Sicht ebenfalls Mehrkosten verursacht. In der Konstellation der Entscheidung Alpine Investments dagegen gilt der holländische Standard für sämtliche Tätigkeiten der Firma unabhängig davon, ob sie Kunden innerhalb Hollands oder in anderen europäischen Mitgliedstaaten werben. Aus der Perspektive der Firma Alpine Investments liegt der Binnenmarkt daher als einheitlich geregelter Marktraum vor ihnen ausgebreitet. Grenzen können sich nicht kostentreibend auf ihr wirtschaftliches Handeln auswirken und sie daher weder anziehen noch abschrecken. Die Grundfreiheiten als kompensierende An- und Ausgleichungsrechte greifen an dieser Stelle ins Leere. Dass es für das Unternehmen möglicherweise wirtschaftlich günstiger gewesen wäre, in einen ultra-liberalen Mitgliedstaat überzusiedeln und von dort aus den Binnenmarkt mit cold callings zu erobern, ist eine davon zu trennende Überlegung. Denn diese Frage betrifft die verbleibenden Unterschiede im Regelungsniveau innerhalb der einzelnen Teilmärkte und nicht die Durchlässigkeit der Grenzen zwischen den Teilmärkten. Nur für diese Größe sind die Grundfreiheiten nach dem oben Gesagten ausgelegt. Die Durchlässigkeit der Grenzen bleibt bei Alpine Investments gewahrt. Damit fällt ein wichtiger Zusammenhang ins Auge: Jeder Fall einer Exportbeschränkung scheint nach diesen Vorgaben auch ein echter Beschränkungsverbotsfall zu sein. Auch die Entscheidungen Bosman, Lehtonen, Graf, Deliege waren Exportkonstellationen. Der Fall Bosman wäre folglich auch dann ein Beispiel für ein echtes Beschränkungsverbot, wenn die Transferregeln in den Mitgliedstaaten nicht einheitlich geregelt wären, sondern etwa in Italien und Frankreich andere, günstigere Transferregeln ge-
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golten hätten. Diese Fälle teilen mit der Entscheidung Alpine Investments die gemeinsame Situation, dass der Herkunftsstaat einen Lebenssachverhalt (Vereinswechsel, Spielberechtigung, aggressive Werbung) einheitlich für sein eigenes Territorium und in der Wirkung darüber hinaus für den gesamten Binnenmarkt regelt. Aus der Perspektive des Einzelnen können die Grenzen in diesen Fällen keine Rolle mehr spielen. Die Exportkonstellationen – von den bewusst diskriminierenden Regelungen abgesehen, die Exporte schlechter stellen als den eigenen Markt, um Waren und Arbeitskräfte im Land zu halten – sind daher echte Beschränkungsverbotsfälle, weil es für den konkreten Wirtschaftvorgang nicht zu einem Vergleich zweier Teilmarktordnungen kommen kann. Damit schließt sich der Kreis zu dem oben Gesagten. Entscheidend für die Abgrenzung der echten Beschränkungsverbotsfälle von den nur angeblichen Beschränkungsverbotsfällen ist die Frage, ob der grenzüberschreitende Bezug für das Handels des Einzelnen ursächlich werden kann. Das ist nur in Importfällen der Fall. Die Unterscheidung in Importfälle und Exportfälle scheint willkürlich, weil jeder Export zwangsläufig aus der Sicht des Ziellandes ein Import ist. Eine Unterscheidung kann nur aus Sicht desjenigen sinnvoll sein, der sich belastet fühlt und die Grundfreiheiten für sich geltend macht. Eine Importkonstellation zeichnet sich also dadurch aus, dass die Regelung des Ziellandes restriktiver ist als die Regelung des Herkunftslandes. Der Warenfluss in ein Land wird gehemmt. Eine Exportkonstellation muss sich im Umkehrschluss dadurch auszeichnen, dass die Regelung des Herkunftslandes strenger ist als die der umliegenden (Ziel-)Länder. Entsprechend müsste der Warenfluss aus dem Land gehemmt werden. Diese Symmetrie der Argumentation lässt sich nicht durchhalten: Während in den Importfällen die strenge Regelung des Ziellandes den Einzelnen davon abhalten kann, in das Land zu gehen oder dorthin zu liefern, weil andere Optionen für ihn günstiger sind, hat der Einzelne in den Exportfällen diese Wahlmöglichkeit nicht. Sein Handeln ist durch die Regelung des Ausgangsstaats für beide Optionen – Inland und Ausland – gleichermaßen determiniert. Das Regelungsniveau kann nicht ursächlich werden für seine Entscheidung, über die Grenze zu gehen oder im Land zu bleiben. Es gilt demnach: Die Exportfälle, in denen ein Mitgliedstaat für das wirtschaftliche Handeln seiner Rechtsunterworfenen eine Norm bereitstellt, die dieses Handeln einheitlich und aus der Perspektive des Einzelnen grenzenlos für den gesamten Binnenmarktraum, einschließlich des eigenen Teilmarktes regelt, sind als echte Beschränkungsverbotsfälle zu werten, auch wenn derselbe Sachverhalt in anderen Mitgliedstaaten unter Umständen auf einem anderen Niveau geregelt ist. Soweit ersichtlich durchbrechen nur die Urteile zum Sonntagsverkaufsverbot (Torfaen, B&Q) diese Logik. Die Entscheidungen gehen auf eine
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Import-Konstellation zurück. Die Grundfreiheiten wurden gegen die – angeblich zu restriktiven – Regelungen des Ziellandes (Großbritannien) in Stellung gebracht. Wenn diese Regelungen tatsächlich strenger gewesen wären als die der Herkunftsstaaten, hätte eine Situation des Systemvergleichs vorgelegen. Die Grundfreiheiten wären aufgerufen gewesen, dieses Gefälle abzubauen. Damit hätten auch Torfaen und „B&Q“ in Wahrheit als ein Diskriminierungsfall und nicht als ein Fall eines Beschränkungsverbots eingeordnet werden müssen. Dass diese Konstellation dennoch als Beispiel eines echten Beschränkungsverbotsfalls genannt wird, liegt an der oben beschriebenen Besonderheit, dass die Sonntagsverkaufsregelung im Wesentlichen in allen Mitgliedstaaten gleichgeregelt war und es deshalb an einem Gefälle an den Grenzen der Teilmärkte fehlte, an dem die Grundfreiheiten in ihrer gleichheitsrechtlichen Funktion hätten ansetzen können. Durch die Unterscheidung der Verkaufsmodalitäten und der produktbezogenen Regelungen in Keck hat der Gerichtshof diese Zuordnungsprobleme entschärft. Mit den Verkaufsmodalitäten hat der Gerichtshof den Mitgliedstaaten weite Bereiche zurückgegeben, in denen die Mitgliedstaaten ihr eigenes Regelungsniveau weiterführen dürfen. Diese Bereiche sind nach der Entscheidung Keck dem Systemvergleich – und damit der Prüfung einer abschreckenden Wirkung aus Sicht des importwilligen Nachbarn – per definitionem entzogen.230 Andere Entscheidungen, die häufig als Beispiele für echte Beschränkungsverbote genannt werden, fallen nach diesen Überlegungen dagegen unter einen weitverstandenen Systemvergleich und können damit der klassischen ausgleichenden Funktion der Grundfreiheiten zugeordnet werden.231 Dazu gehört insbesondere auch die Entscheidung Klopp zur Niederlassungsfreiheit der Rechtsanwälte.232 Der deutsche Rechtsanwalt Klopp sah sich an der Eröffnung einer Zweitniederlassung in Paris gehindert, weil das französische Standesrecht ihn nur an einem französischen Gericht zulassen wollte, wenn er seine deutsche Niederlassung aufgäbe (Unicité de cabinet).233 Diese Regel galt zwar absolut unterschiedslos für jeden Anwalt in Frankreich, ob Franzose oder Ausländer.234 Diese Konstellation ähnelt aber we230 EuGH v. 24.11.1993, verb. Rs. 267/91 und 268/91, „Keck und Mithouard“, Slg. 93, S. 6079, 6131, Rz. 16 f. 231 Beispiele für diese nur scheinbaren echten Beschränkungsverbote sind etwa EuGH v. 24.3.1994, Rs. C-275/93, „Schindler“, Slg. 1039, 1093, Rz. 43; EuGH v. 25.7.1991, Rs. C-76/90, „Säger“, Slg. 4221, 4243, Rz. 12. Dass das Nebeneinander der beiden Teilmarktordnungen in den Importfällen zu einer Vergleichssituation und dann zu einer denkbaren Schlechterstellung des grenzüberschreitenden Vorgangs führt, weist etwa Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 119 f. am Beispiel der Entscheidung „Säger“ nach. 232 EuGH v. 12.7.1984, Rs. 107/83, „Klopp“, Slg. 84, S. 2971 ff. 233 EuGH v. 12.7.1984, Rs. 107/83, „Klopp“, Slg. 84, S. 2971, 2985 f., Rz. 3 f.
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der der Lage in der Sache Bosman noch ist sie eine Exportkonstellation. Denn das Recht, als Anwalt mehrere Standorte abzudecken, ist von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich geregelt. In Deutschland wäre es Herrn Klopp möglich gewesen, eine Zweitniederlassung aufzubauen. Die Regelung im Zielland Frankreich ist demnach restriktiver als im Ausgangsland. Die Entscheidung Klopp ist damit als Importfall zu werten und scheidet als Beispiel eines echten Beschränkungsverbotsfalls aus. Der Generalanwalt und der Gerichtshof prüfen indes die beschränkende Wirkung des französischen Standesrechts, als ob es sich um eine rein beschränkende Maßnahme handeln würde.235 Diese Unklarheiten bei der Bestimmung der Normstruktur, die dem Art. 43 EGV in der Entscheidung Klopp zugrundeliegt, lassen sich größtenteils auf Besonderheiten dieses Verfahrens zurückführen.236 d) Zusammenfassung: Die Grundfreiheiten als Beschränkungsverbote Als Zwischenergebnis lässt sich für die beschriebene Funktionserweiterung der Grundfreiheiten von Diskriminierungs- zu Beschränkungsverboten festhalten: Die uneinheitliche Verwendung der Begriffe „Diskriminierung“ und „Beschränkung“ erschwert es, den Punkt zu definieren, ab dem eine Grundfreiheit unmissverständlich als Beschränkungsverbot eingeordnet werden kann. Die Konstellationen, in denen üblicherweise Grundfreiheiten als allgemeine Beschränkungsverbote bezeichnet werden, sind in den meisten Fällen der Sache nach Diskriminierungsfälle, in denen ein Sachverhalt mit 234 Art. 83 des Dekret nº 72-468, vgl. EuGH v. 12.7.1984, Rs. 107/83, „Klopp“, Slg. 84, S. 2971, 2973 f., Rz. 1; vgl. Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, S. 283, Frahm, Libre circulation des avocats, S. 16 f. 235 EuGH v. 12.7.1984, Rs. 107/83, „Klopp“, Slg. 84, S. 2971, 2989, Rz. 18 f.; vgl. auch Schlussanträge Slynn, Slg. 84, S. 2971, 2994 f. 236 So sprechen Gerichtshof und Generalanwalt zwar von Art. 43 EGV als einem Recht, sich im Ausland niederzulassen, weichen aber an der entscheidenden Stelle auf eine Art „Grundrecht auf mehrere Niederlassungen“ aus, das in Art. 43 EGV enthalten sei, vgl. Rz. 19 der Entscheidungsgründe und S. 2994 der Schlussanträge. Offensichtlich unterstellen zudem alle Verfahrensbeteiligten eine Diskriminierung zu Lasten der Ausländer, weil die französische Ordre des Avocats duldet, dass Franzosen im Ausland Zweigstellen gründen (Rz. 13 der Entscheidungsgründe und S. 2975, 2978, 2981 des Sachberichts). Ähnlich: Simm, Der Gerichtshof im föderalen Kompetenzkonflikt, S. 64 ff. „Sonderfall“, mit weiteren Gründen für die Ausnahmestellung dieser Entscheidung; Schlag, in: Schwarze, Rn. 47 zu Art. 43 EGV „Mehrdeutig hinsichtlich des Schutzgehalts der Niederlassungsfreiheit“; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 64; Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, S. 287 f., nach dessen Einschätzung aus dem Urteil „Klopp“ zwar nicht der Schritt vom Diskriminierungsverbot zum umfassenden Beschränkungsverbot herausgelesen werden könne, der Art. 43 EGV neben dem Diskriminierungsverbot aber offensichtlich auch Freiheitsverbürgungen enthalte.
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grenzüberschreitendem Bezug einem Sachverhalt ohne grenzüberschreitenden Bezug gegenübergestellt ist und in denen die Grundfreiheiten ihre ursprüngliche Rolle als Gleichheitsrechte wahrnehmen. Der Einzelne soll keine – auch nicht geringfügige – Mehrkosten auf sich nehmen müssen, weil er grenzüberschreitend wirtschaftlich tätig werden möchte. In dieser weitverstandenen gleichheitsrechtlichen Funktion erschöpft sich nach vordringender Ansicht der Literatur die Aufgabe der Grundfreiheiten. Der Gerichtshof hat die Grundfreiheiten aber darüber hinaus in einer Reihe von Fällen auf Sachverhalte angewandt, in denen ein Vergleichsmoment unter keinem denkbaren Gesichtspunkt nachgewiesen werden kann. Hier sind die Grundfreiheiten „echte Beschränkungsverbote“, bei denen das grenzüberschreitende Element für die Nachteile/Kosten der Transaktion nicht ursächlich wird. Eine staatliche Maßnahme wird nicht aufgrund der Nachteile beim Grenzübertritt an den Grundfreiheiten gemessen, sondern die Auswirkungen einer Maßnahme auf die Mobilität als solche werden anlässlich des Grenzübertritts vom Gerichtshof an den (Personen-) Verkehrsfreiheiten als absoluten Freiheitsrechten gemessen. An dieser Stelle ist ein interessantes Phänomen zu beobachten: Es tut sich ein Spalt auf zwischen der Linie des Gerichtshofs, der mit diesen wenigen, aber eindeutigen Fällen für die Grundfreiheiten punktuell den Schritt zum „echten“ Beschränkungsverbot vollzogen hat, und der neuen, stärker werdenden Linie in der Rechtswissenschaft, die einen solchen Schritt ausdrücklich verneint und die Grundfreiheiten – zu Recht – als weitverstandene Diskriminierungsverbote auf ihre Kernkompetenzen zurückführen will. Die Entscheidungen des Gerichtshofs, der zunächst in der Grauzone zwischen Diskriminierungsverbot und allgemeinem Beschränkungsverbot bewusst auf eine eindeutige systematische Zuordnung der Fälle verzichtet hatte, lassen nach Bosman und den Folgeentscheidungen scheinbar keinen Zweifel mehr an dessen klarem Bekenntnis zu einer freiheitsrechtlichen Struktur der Grundfreiheiten. Die Literatur hält dagegen auch in Kenntnis dieser Rechtsprechung mit guten Gründen an ihrem Ansatz fest. Denn viele Besonderheiten der Grundfreiheiten – etwa das grenzüberschreitende Element als prägendes Tatbestandsmerkmal, die marktöffnende Funktion der Grundfreiheiten oder das Fehlen einer Spürbarkeitsschwelle – lassen sich durch die Annahme der strikt als „Gleichbehandlungsgrundsätze“ konzipierten Grundfreiheiten schlüssiger erklären. Auch der Gerichtshof selber erkennt prinzipiell die Vorteile dieser Bemühungen, die Dogmatik der Grundfreiheiten wieder stärker an ihre ursprüngliche Rolle im Vertrag anzubinden. Denn trotz der vereinzelten Urteile, in denen er die „echten Beschränkungsverbote“ anerkannt hat, signalisiert er auf einer grundlegenderen „rechtspolitischen“ Ebene, dass er die Idee der Rückanbindung der Grundfreiheiten an ihre marktöffnende Funktion für richtig hält. Das zeigt
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
sich vor allem in der „Bremsung“, die mit der Entscheidung Keck eingeleitet wurde.237 Dass – vereinfachend – der Zugang zum Nachbarmarkt den Grundfreiheiten, die Spielregeln auf dem Nachbarmarkt dagegen weitgehend den nationalen Vorschriften überlassen werden sollte, ist eine Erkenntnis, die nach Keck auf die anderen Grundfreiheiten ausgedehnt wurde.238 Die Keck-Formel des Gerichtshofs wiederum ist damit im Ergebnis nur eine andere Art auszudrücken, was die Literatur meint, wenn sie die Grundfreiheiten wieder auf Diskriminierungsverbote zurückschneiden will.239 Nach Keck hätte man also vom Gerichtshof erwarten dürfen, dass er in den Fällen, in denen die Grenzen der Grundfreiheiten erreicht sind und die gleichheitsrechtliche Funktion ins Leere läuft, es ablehnt, eine staatliche Maßnahme an den Grundfreiheiten zu messen. Dennoch – entgegen seinem eigenen vorsichtigen Umlenken in Keck und entgegen dem geschilderten Ansatz in der Literatur – hat der Gerichtshof in Bosman und den Folgeentscheidungen die Grundfreiheiten der Art. 39 bzw. Art. 49 EGV zur Anwendung gebracht. Dieses Auseinanderdriften der Tendenzen in der Literatur und der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist – so die Hypothese dieser Arbeit – nicht Ausdruck einer auseinanderlaufenden Auffassung über die Struktur der Grundfreiheiten, sondern allein Folge eines Missverständnisses aufgrund einer „falschen Etikettierung“. Die Divergenz ist nur eine scheinbare. Der Gerichtshof ist in den Entscheidungen, in denen er – der äußeren Form und der Sprache nach – die Grundfreiheiten zu echten Beschränkungsverboten ausgedehnt hat, in der Sache nicht (mehr) von Grundfreiheiten sondern von Gemeinschaftsgrundrechten ausgegangen, ohne diesen „Wechsel der angewandten Norm“ durch eine angepasste Terminologie hinreichend deutlich 237 EuGH v. 24.11.1993, verb. Rs. 267/91 und 268/91, „Keck und Mithouard“, Slg. 93, S. 6079, 6131, Rz. 14; Poiares Maduro, in: Roth/Andenas, Services and Free Movement, S. 52. 238 Dass die Idee hinter „Keck“ der Sache nach auch auf die anderen Grundfreiheiten übertragen werden soll, ist wohl unstrittig. Ob das unter ausdrücklicher Berufung auf die Entscheidung „Keck“ oder nur dem Grundsatz nach geschieht, hat der Gerichtshof in „Bosman“ und „Lehtonen“ offengelassen. Vgl. aber die Bezugnahme in den Schlussanträgen Lenz zu EuGH v. 15.12.1995, Rs. 415/93, „Bosman“, Slg. 95, S. 4921, 5009 f., Rz. 206, sowie die Schlussanträge Alber zu EuGH v. 13.4.00, Rs. C-176/96, „Lehtonen“, Slg. 00, S. 2681, 2696 f., Rz. 49, wo er zum einen bestätigt, dass er in dem grenzüberschreitenden Moment ein Tatbestandsmerkmal der Grundfreiheiten sieht, zum andern in diesem Charakteristikum der Grundfreiheiten die immanente Begrenzung der grundfreiheitlichen Reichweite gewährleistet sieht, die für den Art. 28 EGV die „Keck“-Formel leistet; dazu vor allem Füller, Warenverkehrsfreiheiten, S. 127, 139, 142 f. 239 Simm, Der Gerichtshof im föderalen Kompetenzstreit, S. 157 ff., 260 ff.; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 122 ff., vgl. aber die kritischen Äußerungen im Zusammenhang mit der Entscheidung „Keck“ auf S. 18 und 98, dort Fn. 126; Nettesheim, EuZW 1995, S. 106, 108; Hilson, E.L.Rev. 24 (1999) S. 445, 452.
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zu machen. Diese Vermutung ist Ausgangs- und Zielpunkt der vorliegenden Untersuchung. Im dritten Teil der Arbeit wird darauf zurückzukommen sein.240 4. Die Adressatenfrage und die Drittwirkung der Grundfreiheiten
Die Struktur einer Norm wird zunächst geprägt durch die Frage, wer sich auf diese Vorschrift berufen darf, d.h. wer Berechtigter der Norm ist. Für die Grundfreiheiten hat etwa die Möglichkeit der Einklagbarkeit durch einzelne EU-Bürger eine Annäherung an grundrechtliche Eigenschaften mit sich gebracht. Neben der Frage nach dem Berechtigten ist für die Struktur einer Rechtsnorm aber auch die Frage nach dem Normadressaten – dem Verpflichteten – von entscheidender Bedeutung. Eine grundlegende Vorschrift kann denkbar den Staat, einzelne Gruppen von Privaten oder alle handelnden Akteure in einem System zur Beachtung ihrer Normziele verpflichten. Indem sie einzelne Akteure zu Adressaten ihres Regelungsauftrags bestimmt, andere Akteure dagegen ausspart, gibt sie den Blick auf ihr Normprogramm und ihre Normstruktur frei. Für die Grundfreiheiten können sich hier Kriterien zur Abgrenzung gegen die Grundrechte ergeben. Der offene Wortlaut der Grundfreiheiten, der nur das zu erreichende Ziel (freier Verkehr der jeweiligen Güter) vorgibt, ohne den Verbots- oder Gebotsadressaten zu benennen, lässt eine Bindung von drei Gruppen von Adressaten vorstellbar erscheinen.241 Das sind zunächst die vertragsschließenden Mitgliedstaaten, dann die Gemeinschaftsorgane und schließlich die privaten Wirtschaftsteilnehmer. Die beiden letztgenannten Gruppen üben einen immer stärker werdenden Einfluss auf die Marktbedingungen aus. Von beiden kann mittlerweile auch eine Gefahr für die Binnenmarktziele ausgehen. Ein strenges Verständnis der Grundfreiheiten als Mittel zur Erreichung des politischen Ziels „Binnenmarkt“ legt eine Ausweitung und Betonung der Pflichtenseite nahe. Eine Kontrolle aller am Marktgeschehen beteiligten Akteure über eine unmittelbare Verpflichtung zu grundfreiheitskonformem Handeln würde – aus Sicht des Binnenmarktprojektes – dessen Erfolgschancen optimieren. Im Ergebnis wird der Adressatenkreis der Grundfreiheiten von der Literatur allerdings nicht so weit gefasst. Die Grundfreiheiten binden grundsätzlich nur die Mitgliedstaaten, an die sie sich ursprünglich ausschließlich gerichtet hatten.242 Daneben binden sie die Gemeinschaftsorgane, deren sämt240
Siehe unten C. II. 1. im dritten Teil. Vgl. Schaefer, Unmittelbare Wirkung von Art. 30 EWGV, S. 141, 147, der von der „Unerheblichkeit des formellen Normadressaten“ für die Anerkennung einer unmittelbaren und damit nach seiner Argumentation zugleich auch horizontalen Wirkung spricht. 241
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
liches Bestehen durch das Politikziel der „Marktintegration“ bedingt ist und die bereits aus diesem Grund unmittelbar an die Beachtung der Binnenmarktfreiheiten gebunden sein müssen, will man eine widersprüchliche Wertung in diesem Bereich vermeiden.243 Für die privaten Wirtschaftsteilnehmer lehnen die meisten Autoren eine unmittelbare Bindung an die Grundfreiheiten dagegen grundsätzlich ab.244 Gegen eine solche Einbeziehung der einzelnen Marktbürger in den Adressatenkreis der Grundfreiheiten sprechen zunächst systematische Argumente, die an die Stellung der Art. 28 f. EGV, 39 EGV, 43 EGV und 39 EGV innerhalb des Vertragswerks anknüpfen. Die Grundfreiheiten des Vertrages, einschließlich ihrer Rechtfertigungsgründe, seien ersichtlich mit Blick auf die Staaten als Protagonisten bei der Schaffung des Binnenmarktes angelegt worden.245 Dass die privaten Unternehmen eine eigene, separate Rolle in der Systematik des Gründungsvertrages zugewiesen erhalten hätten, zeige bereits die Existenz der Wettbewerbsvorschriften der Art. 81 ff. EGV. Hier greife das Gemeinschaftsrechts ausnahmsweise bis auf die privatrechtliche Ebene durch, um den spezifisch kartellrechtlichen Gefahren zu begegnen, die mächtige Unternehmen für das Funktionieren des Binnenmarktprojektes darstellen. Im Gegenschluss sei daher davon auszugehen, dass die Unternehmen an die Grundfreiheiten gerade nicht gebunden sein sollten.246 Die 242 Pfeil, Historische Vorbilder, S. 234 f., 270 ff., 276; Roth, FS Everling, S. 1231, 1241, der davon spricht, dass sich aus dem Umfeld der grundfreiheitlichen Vorschriften ein Verständnis der Grundfreiheiten als „staatengerichtete Verhaltensnormen“ geradezu aufdränge. 243 Füller, Warenverkehrsfreiheiten, S. 31; Schilling, EuGRZ 2000, S. 3, 8, 10; Gramlich, DÖV 1996, S. 801, 805, wonach freilich auch die Organe der Gemeinschaft gebunden seien; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 27; Kingreen/ Störmer, EuR 1998, S. 263, 277 „Die Grundfreiheiten können ihre volle Wirkung nur entfalten, wenn alles hoheitliche Handeln in der EG an ihnen gemessen werden kann“; Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, S. 208, m. w. N.; Roth, EuR 1987, S. 7, 9; Jones, Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte, S. 168; Jaensch, Unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 137; Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz, S. 75, mit Verweis auf Beutler, in: GTE, Rn. 43 zu Art. F EUV; u. v. m. 244 Möllers, EuR 1998, S. 20, 34 m. w. N.; Weber, NJW 2000, S. 537, 543; Kainer JuS 2000, S. 431, 432; Hirsch, in: Kreuzer/Scheuing/Sieber, Europäischer Grundrechtsschutz, S. 9, 18 f.; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 21, 23, 83, 192 ff.; Burgi, EWS 1999, S. 327, 330; Burgi, EuR 1997, S. 261, 282; als ungelöstes Thema sehen es Streinz/Leible, EuZW 2000, S. 459, 459, die auf S. 467 vorsichtig für eine mittelbare Drittwirkung plädieren; a. A. wohl Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 200, m. w. N.; a. A. zuletzt auch Ganten, Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 223. 245 Roth, FS Everling, S. 1231, 1241; Streinz/Leible, EuZW 2000, S. 459, 463. 246 Roth, FS Everling, S. 1231, 1242; Jaensch, Unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 140, 143 f., 181; Burgi, EWS 1999, S. 327, 329; Milner-Moore, Accountability of Private Parties, S. 29 ff.; a. A. offensichtlich Steindorff, FS Lerche, S. 575, 588.
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strukturellen Gräben zwischen dem Regime der Grundfreiheiten und den wettbewerbsrechtlichen Vorschriften der Art. 81 ff. EGV werden sehr anschaulich an dem Vorhandensein bzw. dem Fehlen einer Spürbarkeitsschwelle („de-minimis-Regel“) aufgezeigt. Den wettbewerbsrechtlichen Vorschriften ist eine solche Spürbarkeitsschwelle vorgeschaltet. Eine gewisse Beschneidung seiner wirtschaftlichen Freiheit muss daher jeder Marktteilnehmer hinnehmen, solange das wettbewerbsfeindliche Handeln seiner Konkurrenten unterhalb einer bestimmten „Bagatell-Schwelle“ bleibt. Erst wenn die Wettbewerbsfreiheit signifikant eingeschränkt wird, greift der Schutz der Art. 81 ff. EGV ein.247 Anders dagegen die Verpflichtung zum grundfreiheitsfreundlichen Handeln bzw. das Verbot, grundfreiheitswidrig tätig zu werden. Auch ein kleiner, kaum spürbarer Verstoß gegen eine der Grundfreiheiten macht die entsprechende Maßnahme gemeinschaftsrechtswidrig. Die Mitgliedstaaten, die sich zu diesem Binnenmarktprojekt selber verpflichtet haben, müssen sich eine solche Engführung entlang ihrer eigenen Vorgaben gefallen lassen. Für private Wirtschaftsteilnehmer dagegen ist eine solche enge und einschnürende Verpflichtung bis hinunter in den Bagatellbereich nicht praktikabel. Die Grundfreiheiten mit ihrem rigiden Regelungsanspruch, der keinen „Spielraum“ im Sinne einer Spürbarkeitsschwelle vorsieht, eignen sich daher nach zutreffender Ansicht der Literatur nicht für den Bereich der privaten Wirtschaftsteilnehmer.248 Hinter diesen eher formalen Einwänden gegen die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten steht die Einsicht, dass jede Bindung Privater an die Grundfreiheiten einen Eingriff in die Privatautonomie bedeutet, der auf eine entsprechende Ermächtigungsgrundlage gestützt werden müsste. Für einen solchen Durchgriff des Gemeinschaftsrechts auf die Ebene der privatrechtlichen Beziehungen fehle dem Gemeinschaftsrecht schlicht die Zuständigkeit.249 Diese Rechte der Privaten, die gegen einen solchen ungebremsten Durchgriff der Grundfreiheiten geschützt werden müssen, können auch (Gemeinschafts-) Grundrechte sein. Die Frage der Drittwirkung ist über diesen Zusammenhang eng mit der Frage nach dem Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten verbunden.
247
Korah, EC Competition Law, S. 60 f.; Vgl. die „Commission Notice on Minor Agreements“ („De-Minimis-Notice“) in der Fassung von 1986, ABl. 1986, C 231/2 Ziff. 7. Demnach liegt diese Schwelle zur Zeit bei 5% des gemeinschaftsweiten Produktmarktes und einem Höchstumsatz von unter 200 Millionen ECU. 248 Roth, FS Everling, S. 1231, 1232, 1243; Cruz, E.L.Rev. 24 (1999) S. 606, 619; Jaensch, Unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 145 f., 150 f., 152, 181; Möllers, EuR 1998, S. 20, 35 f; a. A. wohl Ganten, Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 141, der aber auf S. 143 zugeben muss, dass das Kriterium der Spürbarkeit für die Grundfreiheiten nicht vernünftig handhabbar sei. 249 Möllers, EuR 1998, S. 20, 36 m. w. N.; Körber, EuR 2000, S. 932, 946, 949.
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Trotz der grundsätzlichen Bedenken des Schrifttums gegen eine Einbindung der privaten Ebene in die Regelungsgehalte der Grundfreiheiten verfolgt der Gerichtshof eine Linie, die in eine etwas andere Richtung zu weisen scheint. In der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsprechung finden sich immer wieder Entscheidungen, in denen der Gerichtshof das Marktverhalten von privaten Wirtschaftsteilnehmern an den Grundfreiheiten gemessen und z. T. auch als „grundfreiheitswidrig“ verworfen hat. Diese Entscheidungen hat die Literatur zur Kenntnis genommen und in ihre Systematik eingebaut, ohne deshalb die prinzipielle Ablehnung einer solchen horizontalen Bindungswirkung aufzugeben. a) Die Entscheidungen zu Art. 28 EGV – der „alte“ Ansatz Für den Bereich des Freien Warenverkehrs ist vor allem die Entscheidung Dansk Supermarked zu nennen, in der es um Vertragsklauseln ging, die den Weiterverkauf von Waren unterbinden sollten. Der Gerichtshof befand in der Passage im 17. Erwägungsgrund der Entscheidung, dass „Vereinbarungen zwischen Privaten auf keinen Fall von den zwingenden Bestimmungen des Vertrages über den freien Warenverkehr abweichen dürf(t)en“, und ging damit scheinbar von einer vollen Einbindung der privaten Rechtsverhältnisse in den Geltungsbereich der Grundfreiheiten aus, ohne diese Aussage weiter zu begründen.250 Als Beweis für eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten kommt diese Entscheidung aber nach Ansicht der Kommentatoren bereits aufgrund ihres Einzelfallcharakters nicht in Betracht. Sie blieb ohne Nachfolgeentscheidungen.251 In vergleichbaren Konstellationen, in denen der Gerichtshof diesen Ansatz hätte ausbauen können, hat er andere Lösungswege gesucht, die zum Teil in die entgegengesetzte Richtung weisen.252 Im Übrigen ordnet sich die Entscheidung Dansk Supermarked in den Zusammenhang der Fälle zu den gewerblichen Schutzrechten ein, für die sich eine eindeutige Grenze zwischen dem privaten Handeln des Rechtsinhabers (Geltendmachen des Rechts) und der staatlichen Gewährleistung dieses Schutzrechtes (Existenz des Rechts) nur schwer bestimmen lässt. Eine un250
EuGH v. 22.1.1981, Rs. 58/80, „Dansk Supermarked“, Slg. 81, S. 181 ff. Cruz, E.L.Rev. 24 (1999) S. 603, 608 „Since this statement has not been confirmed by subsequent judgements, this chamber judgement may no longer be good law“; Roth, in: FS Everling, S. 1231, 1236. 252 EuGH v. 5.4.1984, Rs. 177 und 178/82, „Van de Haar“, Slg. 84, S. 1797, 1812, Rz. 11 f.; EuGH v. 1.10.1987, Rs. 311/85, „Vlaams Reisbureau“, Slg. 87, S. 3801, 3830 Rz. 30. In diesen Entscheidungen unterscheidet der Gerichtshof ausdrücklich die Grundfreiheiten und die Wettbewerbsvorschriften auch hinsichtlich der Bindungswirkung. Die Grundfreiheiten gelten für staatliche Maßnahmen, die Art. 81 ff. EGV für das Handeln privater Unternehmer. 251
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mittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten ist aus der Rechtsprechung Danks Supermarked nicht herzuleiten.253 b) Die Profisportler-Entscheidungen zu Art. 39 EGV und Art. 49 EGV aa) Ausnahmsweise Drittwirkung für quasi-staatliche private Wirtschaftsteilnehmer Für Art. 39 EGV und Art. 49 EGV hat der Gerichtshof dagegen in einer ganzen Reihe von Urteilen erkennen lassen, dass er bei bestimmten Gruppen von Privaten nicht bereit ist, sie aus seiner grundfreiheitlichen Kontrolle zu entlassen. Es ist dies die Kette von „Sportler-Urteilen“, die ihren Ausgangspunkt mit der Sache Walrave (1974) nimmt und über Donà/Mantero (1976) und Bosman (1995) zu Lehtonen und Deliège (beide 2000) führt.254 Allen Entscheidungen liegt im Wesentlichen der gleiche Konflikt zugrunde: Die Sportler wehren sich in gerichtlichen Verfahren gegen Beschränkungen ihrer beruflichen Bewegungsfreiheit, die ihnen von Seiten ihrer nationalen Sportverbände drohten. Den Statuten dieser Sportverbände konnten die Sportler durch Austritt aus dem Verband nicht entkommen, sofern sie weiterhin an den Sportwettkämpfen teilnehmen wollten. In seiner Begründung zu Walrave stellt der Gerichtshof ohne weitere Erklärungen schlicht fest, dass es „außer Frage stünde, dass der Art. 39 EGV gleichermaßen Verträge und sonstige Vereinbarungen erfass(e), die nicht von staatlichen Stellen herrühren“.255 Die Wirksamkeit der Grundfreiheiten dürfe nicht unterlaufen werden, indem in privatrechtlicher Form zulässig, was den Staaten ansonsten verboten sei (Umgehungsargument).256 Zudem 253
Epiney, in: Calliess/Ruffert, Rn. 46 zu Art. 28 EGV; Lux, in: Lenz, Rn. 9, 16 f. zu Art. 28 EGV; Leible, in: Grabitz/Hilf, Rn. 44 zu Art. 28 EGV; Streinz/Leible, EuZW 2000, S. 459, 460, vgl. aber S. 465; a. A. die frühen und heute wohl überholten Ansätze von Steindorff, FS Lerche, S. 575, 586 f., 589 und Schaefer, Unmittelbare Wirkung von Art. 30 EWGV, S. 103 f. 254 EuGH v. 13.4.2000, Rs. C-176/96, „Lehtonen“, Slg. 00, S. 2681 ff. (Basketballer); EuGH v. 11.4.2000, Rs. 191/97, „Deliège“, Slg. 00, S. 2549 ff. (Judoka); EuGH v. 15.12.1995, Rs. 415/93, „Bosman“, Slg. 95, S. 4921 ff. (Fußballer); EuGH v. 12.12.1974, Rs. 36/74, „Walrave“, Slg. 74, S. 1405 ff. (Radrennfahrer); EuGH v. 14.7.1976, Rs. 13/76, „Donà/Mantero“, Slg. 76, S. 1333 ff. (Fußballer); Nicht um verbandsrechtliche Klauseln, sondern um die Klauseln in Versicherungsbedingungen ging es in den Entscheidungen des EuGH v. 9.6.1977, Rs. 90/76, „Van Ameyde“, Slg. 77, S. 1091 ff.; EuGH v. 13.12.1984, Rs. 251/83, „Van de Haar“, Slg. 84, S. 4277 ff.; EuGH v. 13.12.1984, Rs. 251/83, „Haug-Adrion“, Slg. 84, S. 4277 ff.; vgl. zuletzt EuGH v. 6.6.2000, Rs C-281/98, „Angonese“, Slg. 00, S. 4139 ff. (Einstellungsanforderungen einer privaten Bank). 255 EuGH v. 12.12.1974, Rs. 36/74, „Walrave“, Slg. 74, S. 1405, 1420, Rz. 20/24 (22).
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
sei die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts in Gefahr, wenn derselbe Sachverhalt in einem Mitgliedstaat privatrechtlich und im nächsten Mitgliedstaaten staatlich geregelt sei (Einheitlichkeitsargument).257 Das in Art. 39 EGV geregelte Diskriminierungsverbot gelte daher auch für nichtstaatliche Wirtschaftsteilnehmer. Ebenso wie der Gerichtshof in den Folgeentscheidungen stets auf seine eigene Formulierung aus der zitierten Passage der Entscheidung Walrave zurückgreift, um privates Verhalten einer grundfreiheitlichen Kontrolle zu unterziehen, wird in der Literatur die Frage nach der Drittwirkung der Grundfreiheiten häufig mit dem einfachen Hinweis auf Walrave bejaht. Die oben genannten Bedenken gegen einen Durchgriff auf die private Ebene werden dabei in der Regel nicht thematisiert oder das „Umgehungs- und das Einheitlichkeitsargument“ aus Walrave wird als so gewichtig angesehen, dass Abstriche bei der Privatautonomie der privaten Wirtschaftsteilnehmer gerechtfertigt sein sollen.258 Zum Teil hat die Literatur allerdings diese Einbindung privater Wirtschaftsteilnehmer durch den Gerichtshof eingehender hinterfragt und schließlich als eine – eng begrenzte – Ausnahme zum Grundsatz der NichtBindung dogmatisch erfasst und akzeptiert. Der Gerichthof könne die Verpflichtung zur Beachtung der Grundfreiheiten auf private Wirtschaftsteilnehmer erstrecken, die von der Machtfülle her wie quasi-staatliche Akteure aufträten. Das sei beispielsweise der Fall, wenn ein privates Unternehmen oder ein privater Verband eine Monopolstellung einnehme, so dass andere Private dem Handeln dieses Verbandes ausgeliefert seien.259 Insbesondere sei das Handeln eines privaten Akteurs einem quasi-staatlichen Handeln dann gleichzusetzen, wenn der Staat diesem Privaten eine eigene Rechtsetzungsbefugnis eingeräumt habe.260 Die Zwitterstellung dieser Wirtschafts256 EuGH v. 12.12.1974, Rs. 36/74, „Walrave“, Slg. 74, S. 1405, 1419 f., Rz. 16/ 19 (18). 257 EuGH v. 12.12.1974, Rs. 36/74, „Walrave“, Slg. 74, S. 1405, 1420, Rz. 16/19 (19). 258 Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 245, Rn. 804 „ansatzweise Drittwirkung“; Plath, Individualrechtsbeschränkungen im Berufsfußball, S. 83 f.; Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, S. 128, 298, die allerdings erkennt, dass der Gerichtshof wahrscheinlich nur aus Gründen der Entscheidungsökonomie darauf verzichtet hat, eine Begrenzung der Drittwirkung auf die Fälle „kollektiver Maßnahmen“ vorzunehmen; Müller-Graff, Gemeinschaftsprivatrecht, S. 20; Wetter, Grundrechtscharta, S. 100 f., die dann von der Drittwirkung der Grundfreiheiten auf die Drittwirkung der Gemeinschaftsgrundrechte schließt, weil die Grundfreiheiten im Lichte dieser Grundrechte auszulegen seien (S. 102). Das ist zumindest verwirrend. 259 Cruz, E.L.Rev. 24 (1999) S. 603, 618; Jaensch, Unmittelbare Drittwirkung, S. 275 „Unentrinnbarkeit“; Roth, FS Everling, S. 1231, 1247.
B. Rechte aus dem EG-Vertrag, insbesondere die Grundfreiheiten
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teilnehmer zwischen staatlicher und privater Ebene wird durch den Begriff „intermediäre Gewalten“ zum Ausdruck gebracht.261 Nach dem Urteil in der Sache Angonese vom 6.6.2000 müssen diese Systematisierungsversuche neu überdacht werden. Der Gerichtshof war der Ansicht, dass auch ein kleines privates Bankunternehmen, das weder eine besondere Marktmacht innehat, noch mit Rechtsetzungsbefugnissen ausgestattet ist, sich an Art. 39 EGV messen lassen müsse.262 Die Walrave-Formel, mit der bislang die Drittwirkung begründet werden konnte, wurde zwar nach außen hin weiterhin verwendet, wegen der fehlenden Machtstellung der privaten Bank schien dem Gerichtshof diese Formel aber nicht mehr tragfähig genug. Er verband den Verweis auf Walrave mit einem Hinweis auf die unmittelbare Drittwirkung des Art. 141 EGV (Lohngleichheitsgrundsatz) aus der Defrenne-Rechtsprechung. Was für diese Vorschrift gelte, müsse erst recht für den Art. 39 EGV als Sonderfall des gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbotes gelten.263 bb) Drittwirkung für Diskriminierungsverbote, aber nicht für allgemeine Beschränkungsverbote? Die Entscheidung Angonese verwischt damit die Konturen der unmittelbaren Drittwirkung, die von der Literatur um die Walrave-Formel und mithilfe des Begriffs der „intermediären Gewalten“ gezeichnet worden waren.264 Möglicherweise zieht der Gerichtshof aber in Angonese entlang einer etwas anders verlaufenden Grenze eine neue, schärfere Kontur. Denn die Entscheidung Angonese lässt sich in die Tendenz einfügen, innerhalb der Struktur einer einzelnen Grundfreiheit verstärkt zwischen deren einzelnen Funktionen (Diskriminierungsverbot/Beschränkungsverbot) zu unterscheiden. Diese differenzierte Sichtweise muss auch für die Frage nach der Drittwirkung gelten. Die Drittwirkung in Angonese wird vom Gerichtshof 260 Roth, FE Everling, S. 1231, 1247 „kollektive Rechtsetzung“; Jaensch, Unmittelbare Drittwirkung, S. 276 f. 261 Roth, FS Everling, S. 1231, 1246, verwendet den Begriff „intermediäre Gewalten“; Jaensch, Unmittelbare Drittwirkung, S. 263 ff. greift diese Terminologie auf. 262 Vgl. Streinz/Leible, EuZW 2000, S. 459, 465, die dort eine unmittelbare Verpflichtung Privater ganz grundsätzlich ablehnen. Damit sind ihrer Ansicht nach auch „intermediäre Gewalten“ nicht an die Grundfreiheiten gebunden. 263 EuGH v. 6.6.2000, Rs. C-281/98, „Angonese“, Slg. 00, S. 4139, 4172, Rz. 32, 34 f.; diesen Schluss aus dem Nebeneinander von „Walrave“ und „Defrenne“ hat Clapham, Human Rights in the Private Sphere, S. 252 lange vor „Angonese“ gezogen: „From Walrave and Defrenne it is now clear that Articles 7, 48, 59 and 119 of the Treaty of Rome create legal duties for private individuals“. 264 Und wird entsprechend auch scharf angegriffen, vgl. Körber, EuR 2000, S. 932, 946, 949 „schwere Bedenken“.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
ausdrücklich nur auf das „gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot“ bezogen.265 Eine Drittwirkung scheint offenbar für dieses Diskriminierungsverbot, das den Kern der Grundfreiheit des Art. 39 EGV bildet, leichter vorstellbar, als für denkbare weitergehenden Funktionen, die in dem Art. 39 EGV enthalten ist.266 Bei den Versuchen der Literatur, die ausnahmsweise Einbindung privater Wirtschaftsteilnehmer durch den Gerichtshof in der knappen Walrave-Formel mit systematischen Begründungen zu untermauern, ist diese wichtige Aufspaltung zeitweise etwas aus dem Blick geraten. Bereits in der Walrave-Entscheidung hatte der Gerichtshof die Drittwirkung nur für das Diskriminierungsverbot der Art. 12 und 39 EGV angenommen. Die systematische Herleitung, die der Gerichtshof nur in Walrave vornahm, und die dann unverändert durch alle späteren Entscheidungen weitergetragen wurde, war auf diese Funktion des Art. 39 EGV als Spezialfall des Verbotes der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit zugeschnitten. Der Schritt vom Diskriminierungsverbot zum allgemeinen Beschränkungsverbot, den die Grundfreiheiten nach der wohl herrschenden Ansicht in den letzten Jahren durchlaufen haben, findet keinen Eingang in die neueren Begründungen des Gerichtshofs hinsichtlich der Einbindung privater Wirtschaftteilnehmer. Der Gerichtshof übernimmt in der Entscheidung Bosman wörtlich die Passagen zur Drittwirkung aus Walrave, ohne sie an die veränderte Situation der nicht-diskriminierenden Maßnahmen (Transferregeln) anzupassen. Die kommentierende Literatur füllt diese Lücke nur sehr vorsichtig aus. So haben vor allem Kluth und Jaensch die Notwendigkeit einer neuen dogmatischen Fundierung der Drittwirkung nach dieser Funktionserweiterung der Grundfreiheiten gesehen und ausdrücklich auch so benannt.267 Beide kommen zu dem Ergebnis, dass die alten Erklärungsansätze – und auch die alten „Kompetenzen“ – diese „neue“, erweiterte Drittwirkung nicht tragen. 265
EuGH v. 6.6.2000, Rs C-281/98, „Angonese“, Slg. 00, S. 4139, 4172, Rz. 32, 34. Ausdrücklich mit Blick auf diese neue Rechtsprechung: Forsthoff, EWS 2000, S. 389, 393 f.; bereits vorher beobachtet Roth, FS Everling, S. 1239, dass es sich bei allen diesen Fällen um Konstellationen gehandelt habe, die Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit betrafen und daher auch über Art. 12 EGV hätten gelöst werden können; Jaensch, Unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 262, 287; Jarass EuR 1995, S. 202, 210 f., u. v. m.; vgl auch: Milner-Moore, Accountability of Private Parties, S. 18, 53 f., 98; Roloff, Beschränkungsverbot des Art. 39 EG, S. 209 ff., 238. 267 Kluth, AöR (122) 1997, S. 557, 563, 569, 577; Jaensch, Unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 108 ff., 112; Schindler, Kollisionsmodell, S. 74 f.; als Randnotiz zum „Bosman“-Urteil vermerkt bei Burgi, EWS 1999, S. 327, 328 und Schroeder, JZ 1996, S. 254, 256; sehr früh hat Steindorff, FS Lerche, S. 575, 585, das Auseinanderfallen der beiden Rechtsprechungslinien erahnt; nach der Entscheidung „Angonese“ kamen weitere kritische Stimmen hinzu, vgl.: Körber, EuR 2000, S. 932, 464, der vor einer „maßstabslose Ausdehnung“ warnt. 266
B. Rechte aus dem EG-Vertrag, insbesondere die Grundfreiheiten
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Für eine Bindung an das Diskriminierungsverbot reiche die verpflichtende Kraft des Gemeinschaftsrechts dagegen aus.268 An dieser Stelle zeigt sich – hier aus Sicht der Grundfreiheiten – eine Querverbindung zur Frage der Grundrechte. Das Diskriminierungsverbot in den Grundfreiheiten wird in der Literatur offensichtlich ohne weiteres als „grundrechtliche“ Norm akzeptiert. Vor diesem Hintergrund fällt es den Autoren leichter, eine Drittwirkung zuzusprechen. Der Einzelne soll nicht der Willkür anderer Privater ausgeliefert sein.269 Zugleich ist die Literatur nicht bereit, den Grundfreiheiten als solchen ebenfalls diese Drittwirkung zuzuerkennen, obwohl die Grundfreiheiten als teilidentisch mit Art. 12 EGV gelten und sogar verstärkt wieder ausschließlich als „Gleichheitssätze“ eingeordnet werden. Eine Grundfreiheit ist von der Normstruktur her ebenso Diskriminierungsverbot wie der Art. 12 EGV. An dessen grundrechtlichem Charakter scheint sie dennoch nicht teilzuhaben. Eine denkbare Erklärung für diese Zurückhaltung der Literatur wäre die Aufspaltung der Grundfreiheiten in ein enges grundrechtliches und ein weites grundfreiheitliches Diskriminierungsverbot. In den Passagen, in denen der Gerichtshof die Drittwirkung der Grundfreiheiten herleitet (Walrave, Angonese), begründet er entgegen dem äußeren Anschein möglicherweise nicht die Drittwirkung der Grundfreiheiten, sondern die Drittwirkung eines grundrechtlichen Diskriminierungsverbots, das in den Grundfreiheiten enthalten ist.270 Damit ist es das Grundrecht in den Grundfreiheiten, das auch vom privaten Dritten respektiert werden muss, und nicht die objektive „Harmonisierungs- und Nivellierungsfunktion“ der Grundfreiheiten. Die Rechtsprechung zur Drittwirkung der Grundfreiheiten lenkt den Blick auf diese Kluft zwischen grundfreiheitlichen und grundrechtlichen Bindungen und spricht daher gegen eine Gleichsetzung der Grundfreiheiten mit den Grundrechten.
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Wobei soweit ersichtlich nur Jaensch, Unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 262, 287, die weitere Unterscheidung zwischen den Diskriminierungsverboten in den Grundfreiheiten und dem isolierten, „puren“ Diskriminierungsverbot des Art. 12 EGV vornimmt. Die grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbote könnten keine Drittwirkung erzeugen, während das dem allgemeineren gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbot des Art. 12 EGV möglich sei. Ohne das staatsgerichtete System der Grundfreiheiten zu durchbrechen, würden private Maßnahmen vom Verbot des Art. 12 EGV erfasst. 269 Steindorff, FS Lerche, S. 575, 585; Somek, E.L.J. 1999, 243, 245, 250 f.; Steinberg, EuGRZ 2002, S. 13, 17. 270 Das klingt bei Forsthoff, EWS 2000, S. 389, 393, 396 an, wenn er auf die Parallele zu Art. 141 EGV hinweist und als Gemeinsamkeit der beiden Konstellationen die „Verletzung des Einzelnen in seinem personalen Achtungsanspruch“ sieht; auch Streinz/Leible, EuZW 2000, S. 459, 462, werten die Entscheidung „Angonese“ als Versuch des Gerichtshofs, einen Gleichlauf des Art. 12 EGV und des Art. 39 EGV herzustellen.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
c) Ein neuer Ansatz: Grundfreiheitliche Schutzpflichten Im Anschluss an das Urteil aus dem Jahr 1997 zu den französischen LKW-Blockaden, auch unter dem Kürzel Spanische Erdbeeren, Französische Bauernproteste oder – weniger bildhaft – Kommission/Frankreich bekannt, hat sich ein neuer Lösungsansatz für das Problem der Drittwirkung der Grundfreiheiten durchgesetzt.271 Das Grundproblem bleibt gleich: Private Marktteilnehmer handeln nicht selten grundfreiheitswidrig und behindern in aller Regel272 mit diesem Verhalten andere private Marktteilnehmer, deren Handeln auf die Wahrnehmung ihrer grundfreiheitlich garantierten Möglichkeiten gerichtet ist. aa) Das Verhältnis der Schutzpflichtentheorie zu den Drittwirkungslehren Unter dem Stichwort „grundfreiheitliche Schutzpflichten“ wird vorgeschlagen, solche Konflikte nicht mehr direkt über das Verhältnis der beiden Privaten zueinander zu steuern, sondern die Mitgliedstaaten als Instanz zwischenzuschalten.273 Dasselbe Ergebnis soll gleichsam „über Bande“ erreicht werden. Die Mitgliedstaaten seien aus dem EG-Vertrag dazu verpflichtet, die Verletzung der Grundfreiheiten zu verhindern, auch wenn die Verletzungsursache privates Handeln sei. Der Einzelne ist – wenn man eine sol271 EuGH v. 9.12.1997, Rs. C-265/95, „Kommission/Frankreich“, Slg. 97, S. 6959 ff. Der Gerichtshof hat die Grundsätze der Entscheidung „Kommission/ Frankreich“ in der Entscheidung v. 12.06.2003, Rs. C-112/00, „Schmidberger“ im Wesentlichen bestätigt (Rz. 57 ff.), auch wenn er im Ergebnis die Warenverkehrsfreiheit hinter dem Versammlungs- und Demonstrationsrecht der österreichischen Blockierer zurücktreten ließ. 272 In dieser Einschränkung verbirgt sich eine Prämisse. Denn es lässt sich nicht ausschließen, dass ein grundfreiheitswidriges privates Verhalten nur die Allgemeinheit – das „Projekt Binnenmarkt“ – beeinträchtigt, nicht aber zugleich auf der Gegenseite Rechte oder Interessen anderer Wirtschaftsteilnehmer berührt. Es fällt schwer, lebensnahe Konstellationen für eine solche „reine“ Grundfreiheitsbeeinträchtigung zu erfinden: so wäre etwa der Fall vorstellbar, dass jemand erfolglos eine Kampagne startet, die de iure den innerstaatlichen Handel beeinträchtigt, de facto aber völlig ohne Auswirkungen bleibt, da ohnehin niemand einen solchen Handel durchführen will. Einem Staat wäre auch die bloße „Gefährdung“ des Binnenmarktes verboten. Beim privaten Wirtschaftsteilnehmer wird man wohl in irgendeiner Form eine „Beeinträchtigung“ verlangen. 273 Jaeckel, Schutzpflichten, S. 222 ff., 234 f.; Epiney, in: Calliess/Ruffert, Rn. 47 f. zu Art. 28 EGV; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 192 f.; Sczcemkalla, DVBl. 1998, S. 219, 221 f., m. w. N.; Burgi, EWS, S. 327, 327, 330; Füller, Warenverkehrsfreiheiten, S. 36; u. v. m., vgl. zuletzt auch die Untersuchung von Koch, Gewährleistungspflicht, sowie erschöpfend: Szczekalla, Schutzpflichten, 2. Teil.
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che Einbeziehung überhaupt begrifflich als „Bindung“ gelten lassen will – nach dieser Konzeption nur noch indirekt („mittelbar“) an die Beachtung der Grundfreiheiten gebunden, da ihn im Falle der Zuwiderhandlung sein eigener Staat mit Sanktionen belegen muss.274 Im Ausgangsfall attackierten militante Gruppen aus dem Umfeld der französischen Bauernverbände über Jahre hinweg die LKW der spanischen Obstlieferanten, so dass die Einfuhr nach und der Transport durch Frankreich erheblich gestört wurden. Die französische Regierung verfolgte zwar vereinzelt Straftaten, zu denen es in diesem Zusammenhang kam, konnte die Kampagne aber nie vollständig unterbinden. Vor allem schaffte es die französische Polizei nicht, wirksame Präventivmaßnahmen durchzusetzen. In einzelnen Fällen griffen die anwesenden französischen Ordnungskräfte bei Gewalttaten gegen spanische Lastwagen überhaupt nicht ein. In dieser „offenkundigen und beharrlichen Weigerung“ der französischen Regierung, „ausreichende und geeignete Maßnahmen“ zu ergreifen, um den freien Warenverkehr sicherzustellen, liegt nach Meinung des Gerichtshofs ein Verstoß gegen Art. 28 EGV in Verbindung mit der Pflicht aus Art. 10 EGV (Grundsatz der Gemeinschaftstreue).275 Dieser Art. 10 EGV, der die Mitgliedstaaten in ihrem Tun und ihrem Unterlassen (vgl. Art 10 Abs. 2 EGV) an die Pflicht zur Förderung der Vertragsziele bindet, ist – zusammen mit der jeweiligen Grundfreiheit – das Fundament, auf das der Gerichtshof diesen neuen Ansatz stellt.276 Mit der Einbindung der privaten Ebene über weitverstandene staatliche Schutz274 Die aus dem deutschen Verfassungsrecht geläufige Unterscheidung einer „mittelbaren“ und einer „unmittelbaren Drittwirkung“ spielt zumindest begrifflich im Gemeinschaftsrecht keine vergleichbare Rolle. In der Sache entsprechen die Versuche, über die „Walrave“-Formel (und jetzt „Angonese“) eine Horizontalwirkung der Grundfreiheiten zu konstruieren, einer „unmittelbaren Drittwirkung“, weil sie auf eine direkte Verpflichtung der Privaten durch die Grundfreiheiten gerichtet sind. Wenn der Schutz der Grundfreiheiten den Einzelnen dagegen nur durch die „Vermittlung“ staatlicher Schutzpflichten zukommt, sind allein die Staaten Adressaten der grundfreiheitlichen Pflichten. Das entspräche einer „mittelbaren Drittwirkung“; a. A. Schindler, Kollisionsmodell, S. 175 f. 275 EuGH v. 9.12.1997, Rs. C-265/95, „Kommission/Frankreich“, Slg. 97, S. 6959, 7005, Rz. 65 f. 276 EuGH v. 9.12.1997, Rs. C-265/95, „Kommission/Frankreich“, Slg. 97, S. 6959, 7005, Rz. 66. Diese Möglichkeit, den Art. 10 EGV für eine solche Schutzpflicht zu instrumentalisieren, wurde bereits von Schaefer, Unmittelbare Wirkung des Art 30 EWGV, S. 263 m. w. N., 264 f. ins Spiel gebracht; vgl. die Schlussanträge Trabucchi in der Sache „Donà/Mantero“, Slg. 76, S. 1333, 1346; in der Literatur war umstritten, ob eine solche Schutzpflicht der Mitgliedstaaten allein auf Art. 10 EGV basiere, ob sie auf Art 10 EGV in Verbindung mit der jeweiligen Grundfreiheiten oder „unter Umgehung“ des Art. 10 EGV direkt auf die entsprechende Grundfreiheit gestützt werden könne, vgl.: Schaefer, Unmittelbare Wirkung des Art. 30 EWGV, S. 264 ff.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
pflichten begibt sich das Gemeinschaftsrecht auf ein dogmatisches Terrain, das aus den nationalen Rechtsordnungen bekannt ist.277 Im deutschen Verfassungsrecht hat das Konzept „grundrechtlicher Schutzpflichten“ nach Einschätzung vieler Beobachter die frühe Drittwirkungsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abgelöst und den Streit um die „unmittelbare“ oder „mittelbare“ Drittwirkung der Grundrechte des Grundgesetzes überflüssig werden lassen.278 Gleiches gilt nach Ansicht der Europarechtler jetzt für eine „Theorie der unmittelbaren Drittwirkung“ im Gemeinschaftsrecht. Eine solche „unmittelbare Drittwirkung“ sei aufgrund der neuen „Schutzpflichten“-Rechtsprechung überholt.279 Ob aus der Entscheidung Französische Bauernproteste jetzt bereits auf das Ende der Debatte über die Drittwirkung der Grundfreiheiten geschlossen werden kann, scheint entgegen dieser zuversichtlichen Stimmen zweifelhaft. Zum einen wird das Verhältnis der „Drittwirkungstheorie“ zu der „Schutzpflichtentheorie“ nicht als ein alternatives, sondern als ein sich ergänzendes und in weiten Teilen überschneidendes Verhältnis gesehen.280 277 Für das deutsche Verfassungsrecht: Kainer, JuS 2000, S. 431, 433 f., der ausdrücklich den Vergleich mit dem Gemeinschaftsrecht anstellt; Ziekow, Freizügigkeit und Aufenthalt, S. 583 ff., insb. S. 590, m. w. N.; zum Begriff der „State action“ im US-amerikanischen Verfassungsrecht, Thüsing, ZVglRWiss 99 (2000) S. 69, 79 ff.; vgl. den ähnlichen Ansatz für das entsprechende Grundproblem auf Ebene des Völkerrechts bei Kamminga, Holding Multinational Corporations Accountable for Human Rights Abuses: A Challenge for the EC, in: Alston, EU and Human Rights, S. 553 ff.; vgl. dazu auch Art. 36 Abs. 2 der Schweizerischen Bundesverfassung, der die Drittwirkung von Grundrechten zu regeln versucht. 278 In der Regel im Zusammenhang mit dem „Handelsvertreterbeschluss“ des BVerfG v. 7.2.1990, BVerfGE 81, 242 ff; Oeter, AöR 119 (1994) S. 529, 549; v. Münch, in: v. Münch/Coderch/Ferrer i Riba, Drittwirkung der Grundrechte, S. 7, 26. Hermes, NJW 1990, S. 1764, 1766 f. 279 Sczcemkalla, DVBl. 1998, S. 219, 221 f. m. w. N.; Jaeckel, Schutzpflichten, S. 242; Epiney, in: Calliess/Ruffert, Rn. 47 f. zu Art. 28 EGV; Burgi, EWS, S. 327, 327, 330; Füller, Warenverkehrsfreiheiten, S. 36; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 192 f.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Rn. 63 zu Art. 6 EUV; für den grundrechtlichen Kontext, in dem dieselbe Diskussion stattfindet, vgl. Gersdorf, AöR 119 (1994) S. 400, 420; a. A. Forsthoff, EWS 2000, S. 389, 396, der wegen des klaren Bekenntnisses des Gerichtshof zur Horizontalwirkung der Grundfreiheiten in der Entscheidung Angonese jetzt umgekehrt die Schutzpflichtentheorie in Frage gestellt sieht. 280 Vor dem Hintergrund des deutschen Verfassungsrechts ausdrücklich Langner, Geltung der Grundrechte zwischen Privaten, S. 235, 244, 246, nach dessen Auffassungen sich die beiden Konzepte gegenseitig bedingen. Nur weil der Private an die Beachtung der Grundrechte gebunden seien, dürfe der Staat überhaupt gegen ihn vorgehen; Burgi, EWS 1999, S. 327, 330, dort in Fn. 46; unentschlossen v. Münch, in: v. Münch/Coderch/Ferrer i Riba, Drittwirkung der Grundrechte, S. 7. 26 f.; a. A.: Epiney, in: Calliess/Ruffert, Rn. 48 zu Art. 28 EGV; Oeter, AöR 119 (1994) S. 529, 549, dort m. w. N. aus der deutschen Verfassungslehre, S. 551; Schaefer, Unmittelbare Wirkung des Art. 30 EWGV, S. 265.
B. Rechte aus dem EG-Vertrag, insbesondere die Grundfreiheiten
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Diese Einschätzung ist zutreffend. Zwei verschiedene Erklärungsmodelle für ein- und dasselbe zugrundeliegende Phänomen können sich nicht logisch ausschließen.281 Sie konkurrieren nicht um Geltung, sondern höchstens um Anschaulichkeit und Nachvollziehbarkeit. Zum anderen ist die Entscheidung in einem Grenzfall ergangen, der sich nicht ohne weiteres verallgemeinern lässt. Die Verletzung der Warenverkehrsfreiheit lag nicht in einer punktuellen privaten Maßnahme, sondern zog sich über Jahre hinweg, was der Gerichtshof in seiner Urteilsbegründung ausdrücklich als eine der tragenden Erwägungen für die Inpflichtnahme des französischen Staates anführt. Die privaten Verstöße waren schwer, häufig und für jedermann erkennbar.282 Damit lässt der Gerichtshof die Hintertür weit offen, um in einem denkbaren Folgefall, bei dem es um eine „ganz normale“ grundfreiheitswidrige private Maßnahme gehen würde, die Schutzpflichten ins Leere laufen lassen zu können, da er es in das Ermessen der Mitgliedstaaten stellt, wie diese ihrer Treuepflicht aus Art. 10 EGV nachkommen. Ein Anspruch auf staatliches Handeln ergibt sich nur in der Ausnahmesituation der Reduzierung des Verwaltungsermessens auf Null.283 Ein Detail der Entscheidungsgründe in der Sache Französische Bauernproteste entlarvt zudem das Konzept der Schutzpflichten als eine sehr aleatorische Art, Grundfreiheitsschutz zu erlangen. Die Schutzpflicht wird erst ausgelöst, wenn die Beeinträchtigung nicht nur schwerwiegend, sondern – das ist hier von Bedeutung – auch lang andauernd ist. Der erste betroffene spanische Importeur hatte demnach keine Aussicht, einen Anspruch gegenüber dem französischen Staat durchzusetzen. Die Schutzpflichtenschwelle war – zeitlich – noch nicht erreicht, eine Schutzpflicht existierte entsprechend noch nicht. Ebenso wäre es den folgenden fünf oder zehn Importeuren ergangen, bis die beharrliche Weigerung der Regierung ein so hohes grundfreiheitswidriges Potential akkumuliert hätte, dass die Handlungspflicht ausgelöst würde und der elfte Importeur mit seiner Klage durchdringen könnte. Die Rechtsschutzfunktion der Grundfreiheiten tritt hier in den Hintergrund, ohne dass diese Nebenwirkung thematisiert oder aufgefangen würde.284 Auch das 281 Letztlich geht es um einen Interessenkompromiss im Sinne der Kant’schen Imperative. Eine hundertprozentige horizontale Grundrechtsbindung würde jedes privatrechtliche System sprengen, da Grundrechte stets mehr versprechen, als sie einlösen können. Ein privatrechtliches System dient aber gerade dazu, konkrete Versprechungen einzulösen. Vgl. Coderc/Ferrer i Riba, in: v. Münch/Coderch/Ferrer i Riba, Drittwirkung der Grundrechte, S. 33, 73 „Die Lehre ist sich darin einig, dass eine totale, homogene „horizontale“ Wirksamkeit der Grundrechte mit keinem Privatrechtssystem vereinbar wäre.“ 282 EuGH v. 9.12.1997, Rs. C-265/95, „Kommission/Frankreich“, Slg. 97, S. 6959, 7000 ff., Rz. 40, 44 ff., 49 f., 52; Kadelbach/Petersen, EuGRZ 2002, S. 213, 214. 283 Schwarze, EuR 1998, S. 53, 59; Langner, Geltung der Grundrechte zwischen Privaten, S. 173, 175, 190; offen bei Schindler, Kollisionsmodell, S. 201 f.
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spricht dagegen, in der Entscheidung Französische Bauernproteste die Keimzelle eines geschlossenen Konzepts oder die Lösung des Drittwirkungsdilemmas zu sehen. Zudem ist diese Rechtsprechung bislang auf den Bereich der Warenverkehrsfreiheiten beschränkt geblieben. bb) Das Konzept der Schutzpflichten verdeckt eine Kollision von subjektiven Rechten Die Entscheidung Französische Bauernproteste wirft aber – gerade wegen der beschriebenen Konstruktionsprobleme – ein Licht auf die Strukturen, die der Gerichtshof seiner Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten zugrundelegt. Die markanteste Besonderheit ist die Spürbarkeitsschwelle, die der Gerichtshof hier vor die Anwendung der Grundfreiheiten schaltet. Ein solches Spürbarkeitserfordernis ist den Grundfreiheiten grundsätzlich fremd. Für den Bereich der Drittwirkung, d.h. in den Fällen, in denen private Interessen zum Ausgleich gebracht werden müssen, scheint der Gerichtshof eine Ausnahme zu machen. Hier tritt die kompromisslose Bindung an die Grundfreiheiten zurück und lässt einen gewissen Spielraum, innerhalb dessen der Private sich bewegen kann. Der Schutz der Grundfreiheiten setzt erst ein, wenn die Grundfreiheit seines Gegenübers nicht lediglich beeinträchtigt wird, sondern die Verletzung eine so hohe Intensität erreicht, dass die Schutzpflichtenschwelle überschritten wird. Das führt dazu, dass auf beiden Seiten – auf der Seite des GrundfreiheitStörers und auf der Seite des Grundfreiheitsberechtigten – die rechtliche Relevanz der jeweiligen Interessen auf einen „Kern“ hin verdichtet wird. Diese beiden Kerne können als subjektive Rechte dargestellt werden. Auf einer tiefer liegenden Ebene gibt sich die „Spürbarkeitsschwelle“ demnach als notwendiger logischer Schritt in Richtung einer Abwägung zwischen kollidierenden subjektiven Rechten zu erkennen. Ohne die Verdichtung von Handlungspflichten zu korrespondierenden Rechten, die sich einzelnen Rechtsträgern zuordnen lassen, sind Handlungs- und Schutzpflichten grundsätzlich nicht steuerbar, weil sie „wirkungsblind“ sind und tendenziell über ihr Ziel hinausschießen.285 Das zeigt der angenommene Fall eines Mitgliedstaates, der als europäischer Musterschüler bereitwillig eine 100%ige Bin284
Langner, Geltung der Grundrechte zwischen Privaten, S. 242 f.; Streinz/ Leible, EuZW 2000, S. 459, 466 f., die folgerichtig auch die Nähe dieses Konzeptes zu der „Staatshaftungsrechtsprechung“ des Gerichtshofs herausstellen. Der in seiner grundfreiheitlichen Position Verletzte hätte die Möglichkeit, vom Staat Schadensersatz zu verlangen, wenn dieser es pflichtwidrig unterlassen hat, sich schützend zwischen die private Beeinträchtigung und den Verletzten zu stellen. Damit schneiden die Autoren zugunsten der mitgliedstaatlichen Autonomie ein wichtiges Segment – den präventiven Schutz vor Beeinträchtigungen – aus der Schutzfunktion der Grundfreiheiten heraus.
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dung an die Grundfreiheiten annimmt und durchzusetzen bereit ist. Eine Spürbarkeitsschwelle ist aus Sicht dieses Muster-Mitgliedstaates überflüssig. Jede noch so geringfügige Störung des zwischenstaatlichen Handels, die irgendwo auf seinem Hoheitsgebiet eintritt, wird von diesem Staat im Namen des Binnenmarktes behoben. Dass das im Ergebnis nicht so gewollt sein kann, wird deutlich, wenn man die Position des Binnenmarkt-Störers mit in den Blick nimmt. Ein übereifrig schützender Staat würde in dessen Interessen (Streikrecht, Privatautonomie etc.) pausenlos und vor allem – wenn es keine Spürbarkeitsschwelle gäbe – aus geringfügigstem Anlass eingreifen. Die Spürbarkeitsschwelle respektiert damit zum einen die Verwaltungsautonomie der Mitgliedstaaten.286 Zum andern aber schützt sie aber auch die Interessen der Privatleute, die auf der Gegenseite stehen, und sie zwingt die Mitgliedstaaten in eine Abwägung entgegenstehender privater Rechte.287 Der Blick auf die Kollision von (subjektiven) Rechten, die als Muster den Fällen der Drittwirkung von Grundfreiheiten zugrunde liegt, eröffnet möglicherweise einen weiteren Lösungsansatz. Neben „unmittelbarer Drittwirkung“ und „Schutzpflichten“ ist eine „direkte Abwägung der betroffenen Rechte“ vorstellbar. Diese Idee der „direkten Abwägung“ stellt etwa Gramlich unter dem Stichwort „Konkordanz“ sehr konsequent in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zum Bosman-Urteil. Er vermeidet bewusst die Begriffe „Bindung“ oder „Verpflichtung“ im Zusammenhang mit den privaten Wirtschaftsteilnehmern und benennt stattdessen direkt den darunter liegenden Konflikt. Dieser Konflikt ist nach seiner Herangehensweise weniger ein Konflikt zwischen verschiedenen Verpflichtungen, sondern ein Problem der „Zuordnung der verschiedenen gemeinschaftsrechtlich gewährleisteten Verbürgungen im mehrseitigen Verhältnis von Individuum, privatem Verband, Mitgliedstaaten und EG“.288 Damit wird der Schwerpunkt von der Pflichtenseite auf die Berechtigtenseite verlagert. In der Folge treten sich dann die Grundfreiheiten und die Gemeinschaftsgrundrechte als subjektive 285 Schilling, EuGRZ 2000, S. 3, 40 „Die Grundfreiheiten sind umfassend ausgestaltet. Alles, was sich ihnen in den Weg stellt, wird verworfen“; mit Verweis auf: Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 174, „Schutzpflichten sind aus sich heraus ohne Maß“. 286 Schwarze, EuR 1998, S. 53, 59. 287 Eine Unterscheidung, wie Sczcemkalla, DVBl. 1998, S. 219, 223 sie einführt, der zwischen der jeweiligen Grundfreiheit als Handlungnorm (ohne Spürbarkeitskriterium) und als Kontrollnorm (mit Spürbarkeitskriterium, d.h. im Ergebnis nur eine Evidenzkontrolle durch den Gerichtshof) trennt, ist daher nicht haltbar und verkennt diese entscheidende Funktion einer solchen „Spürbarkeitsschwelle“; in diesem Sinne wohl auch: Schärf, EuZW 1998, S. 617, 618 m. w. N.; Jaeckel, Schutzpflichten, S. 241 f.; a. A. offenbar Kadelbach/Petersen, EuGRZ 2002, S. 213, 217. 288 Gramlich, DÖV 1996, S. 801, 806, 810.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
Rechte auf beiden Seiten der Abwägung gleichberechtigt entgegen. Auf die Vorteile dieses Konzepts kommt die Untersuchung im dritten Teil der Arbeit zurück. Dass der Gerichtshof in der Entscheidung Französische Bauernproteste sein Urteil ausschließlich unter dem Blickwinkel der Grundfreiheit des Art. 28 EGV geprüft und die Gegenrechte nicht erwähnt hat, gilt in der Literatur als Schwachstelle der konkreten Umsetzung dieses neuen Konzeptes in der Rechtsprechung.289 d) Zusammenfassung: Drittwirkung der Grundfreiheiten Ursprünglich sollten die Grundfreiheiten – trotz ihres offenen Wortlauts – nur die Mitgliedstaaten zu einem binnenmarktfreundlichen Verhalten verpflichten. Mittlerweile ist der Kreis der Normadressaten um die Gemeinschaftsorgane erweitert worden. Auch sie sind an die Beachtung der Grundfreiheiten gebunden. Ob die Grundfreiheiten auch unmittelbar im Verhältnis zwischen Privaten gelten, bleibt in der Rechtsprechung des Gerichtshofs offen. Mit beachtlichen Argumenten stellen sich die meisten Autoren gegen eine rechtliche Verpflichtung einzelner privater Wirtschaftsteilnehmer auf das politische Ziel der Marktintegration. Der Gemeinschaft fehle es an der Ermächtigungsgrundlage für einen so weitreichenden Eingriff in die Privatautonomie der EU-Bürger. Der Gerichtshof hat seit der Entscheidung Walrave aus dem Jahr 1974 mehrfach das Regelwerk nationaler Sportverbände an den Personenverkehrsfreiheiten gemessen, obwohl diese Verbände sich auf ihren Status als privatrechtliche Wirtschaftsteilnehmer berufen hatten. Damit war eine Faustformel für die Drittwirkung der Grundfreiheiten gefunden, die von der Literatur aufgegriffen und ausgebaut wurde. Die Grundfreiheiten gelten demnach nicht für den einzelnen Privaten, können aber unter bestimmten Umständen (Monopolstellung, Rechtsetzungsbefugnis) eine Bindungswirkung für einflussreiche private Organisationen sein, denen eine quasi-staatliche Stellung in der Gesellschaft zukommt. Von dieser relativ klaren und praktikablen Linie scheint sich der Gerichtshof jetzt mit der Entscheidung Angonese aus dem Jahr 2000 wieder distanzieren zu wollen. In der Sache Angonese wird ein privates Kreditinstitut an die Beachtung der Arbeitnehmerfreizügigkeit gebunden, obwohl es weder aufgrund von Marktmacht noch aufgrund von Rechtsetzungsbefugnissen dem Einzelnen gegenüber freiheitsbedrohend auftreten kann. 289 Schorkopf, EWS 2000, S. 156, 161; Kainer, JuS 2000, S. 431, 435; Schärf, EuZW 1998, S. 617, 618; Gramlich, DÖV 1996, S. 801, 804, 806; Szczekalla, DVBl. 1998, S. 219, 223 f.; Streinz, in: Tettinger, Sport im Schnittfeld, S. 46; u. v. m.
B. Rechte aus dem EG-Vertrag, insbesondere die Grundfreiheiten
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Für die Warenverkehrsfreiheit hat der Gerichtshof in der Entscheidung Französische Bauernproteste aus dem Jahr 1997 einen anderen Weg gewählt, um eine Drittwirkung des Art. 28 EGV zu begründen. Die Mitgliedstaaten seien über Art. 10 EGV in Verbindung mit Art. 28 EGV verpflichtet, die Freiheit des Warenverkehrs sicherzustellen, und müssten notfalls gegen private Wirtschaftsteilnehmer vorgehen, wenn diese schwerwiegend und langandauernd gegen die Grundfreiheiten verstießen. Die Grundfreiheiten verleihen dem Einzelnen unter Umständen einen Anspruch auf Schutz. Ob dieser Sonderfall aus den Wirren des französisch-spanischen Erdbeerkrieges als Ausgangspunkt einer neuen, geschlossenen Dogmatik der grundfreiheitlichen Drittwirkung gelten kann, muss offen bleiben. Für die Struktur der Grundfreiheiten und deren Nähe zu den Grundrechten können zwei interessante Beobachtungen vermerkt werden. Zum einen scheinen sowohl der Gerichtshof als auch die Literatur eher bereit, eine unmittelbare (horizontale) Bindungswirkung der Grundfreiheiten anzunehmen, wenn die privaten Akteure durch das Diskriminierungsverbot in den Grundfreiheiten verpflichtet werden sollen. Der Ausgangsfall Walrave (ebenso wie jetzt Angonese) zielen in ihrer Herleitung und Begründung ausdrücklich auf die Grundfreiheit „als spezielle Ausprägung des Diskriminierungsverbots aus Art. 12 EGV“ und damit auf eine Norm, die einer grundrechtlichen Verbürgung näher steht als die Grundfreiheiten als solche. In der Sache Bosman aus dem Jahr 1995 überträgt der Gerichtshof die Horizontalwirkung auch auf die Funktion der Grundfreiheiten als „Beschränkungsverbote“ (Transferregeln als unterschiedslos wirksame Maßnahme), ohne dass die Begründung aus Walrave, die noch auf das Diskriminierungsverbot zugeschnitten war, aktualisiert oder auch nur neu überdacht wurde. Diese Verbindung der alten Walrave-Begründung mit der neuen erweiterten Grundfreiheitsfunktion in Bosman birgt eine Instabilität, die dazu zwingt, die Frage nach der materiellen Begründung der Horizontalwirkung für jede der Grundfreiheitsfunktionen isoliert und neu zu stellen. Die zweite Besonderheit zeigt sich beim Versuch, die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den „grundfreiheitlichen Schutzpflichten“ zu einem allgemeingültigen Konzept der Drittwirkung auszubauen. Die Mitgliedstaaten sind zum Eingreifen erst dann verpflichtet, wenn der Private schwerwiegend gegen die Grundfreiheit verstößt und dadurch das Recht eines anderen Privaten in seiner Substanz berührt wird. Diese „Schutzpflichtenschwelle“ ist Hinweis darauf, dass es in Drittwirkungsfällen nur vordergründig um Pflichten, sondern auf einer tieferen Ebene vielmehr um die Kollision zwischen (subjektiven) Rechten einzelner Privater geht. In den Drittwirkungsfällen kommt es nach dieser Lesart daher zu einer unmittelbaren Berührung von Grundfreiheiten und Grundrechten, die Aufschluss über das Verhalten der beiden Normkategorien zueinander gibt.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht 5. Die Konvergenz der Grundfreiheiten
Die Frage nach einer möglichen Gleichsetzung der Grundfreiheiten mit den Grundrechten wurde bisher für alle vier Grundfreiheiten gemeinsam gestellt. Wenn von der Struktur der Grundfreiheiten gesprochen wurde, lag dem die Vorstellung einer einheitlichen grundfreiheitlichen Funktion und Normstruktur zugrunde. Diese vereinfachende Sicht soll im folgenden Abschnitt hinterfragt werden. Jede der Grundfreiheiten hat ihren eigenen Anwendungsbereich und hat in der Rechtsprechung des Gerichtshof einen eigenen Weg durchlaufen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass etwa eine einzelne Grundfreiheit grundrechtlichen Status erlangt hat, während das für die anderen Grundfreiheiten nicht nachweisbar ist. Unter dem Stichwort der „Konvergenz der Grundfreiheiten“ werden die Gemeinsamkeiten und die trennenden Merkmale der einzelnen Grundfreiheiten zum Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung gemacht. Die Unterschiede hinsichtlich der verschiedenen „Anwendungsbereiche“ – Lohnarbeit, Niederlassung als Selbständiger, Dienstleistungen, Waren – liegen offen zutage. Umstritten ist dagegen, ob die unter der Oberfläche liegenden Strukturen für diese jeweiligen geschützten wirtschaftlichen Tätigkeiten den gleichen Gesetzmäßigkeiten folgen oder ob die geringfügigen Unterschiede im Wortlaut sich in einer abweichenden rechtlichen und dogmatischen Einordnung wiederfinden.290 Der Ansatz in der Literatur, der diese „Konvergenz der Grundfreiheiten“ – im Wortsinne – annimmt, geht von einer immer stärker angenäherten Struktur der vier Grundfreiheiten aus. Was für die Warenverkehrsfreiheit hinsichtlich der einzelnen Strukturelemente, wie Drittwirkung, Rechtfertigungsgründe oder Weiterentwicklung vom Diskriminierungsverbot zum Beschränkungsverbot gelte, müsse auch auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit oder die Dienstleistungsfreiheit übertragbar sein.291 Die Grundfreiheiten unterscheiden sich nach dieser Auffassung nur nach den Sachbereichen, die sie schützen sollen. Der dogmatische Unterbau könne gleichsam vor die Klammer gezogen werden. In ihrer extremen Ausprägung verschmilzt diese Konzeption die einzelnen Grundfreiheiten zu einem „Grundrecht auf wirtschaftliche Liberalität“.292 Wenn man die Konvergenz als „gegebene Größe“ unterstellt, ist das 290 Behrens, EuR 1992, S. 145, 145 unterscheidet zwischen dem „gegenständlichen Zuschnitt“ und der „rechtlichen Qualität“ der Vorschriften. 291 Füßer, DÖV 1999, S. 96, 99; Blumenwitz, NJW 1989, S. 621, 622; Pfeil, Historische Vorbilder, S. 249, 267; u. a. 292 Füßer, DÖV 1999, S. 96, 99; ähnlich: Schubert, Gemeinsamer Markt als Rechtsbegriff, S. 361 ff., 399, 404 ff., 408, der von einer „allgemeinen Wirtschaftsfreiheit“ spricht.
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folgerichtig. Die Abgrenzung der einzelnen Anwendungsbereiche der Grundfreiheiten ist unter dieser Voraussetzung überflüssig. Zusammengenommen decken die einzelnen Tätigkeitsbereiche alles wirtschaftliche Handeln im Binnenmarkt ab. Ob eine Arbeit selbständig oder abhängig erbracht wird, kann als Abgrenzungsmerkmal nicht mehr relevant sein, sobald in beiden Fällen die identische Rechtsfolge der Grundfreiheiten ausgelöst wird. Etwaige Unterschiede zwischen den Grundfreiheiten seien durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs eingeebnet worden und in einem umfassenden Diskriminierungsverbot und einem allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgebot aufgegangen.293 Ihr Vorbild finden diese Befürworter der Konvergenz in der Rechtsprechung des Gerichtshofs, der in einigen seiner Urteilsbegründungen in der Tat den Eindruck vermittelt, auch er ginge von einer einheitlichen Grundfreiheit aus, die nur noch aus „traditionellen Gründen“ an den unterschiedlichen Artikeln des Vertrages festgemacht werde. Zum einen hat der Gerichtshof teilweise auf die Abgrenzungen der einzelnen Anwendungsbereiche der Grundfreiheiten verzichtet und die Art. 39 und 43 EGV oder auch die Art. 39 bis 49 EGV en bloc geprüft. Wenn der dem Vorlageverfahren zugrundeliegende Sachverhalt denkbar unter mehrere Grundfreiheiten gefasst werden kann, lässt der Gerichtshof die genaue tatsächliche Zuordnung dahinstehen und konzentriert sich ausschließlich auf die – vor die Klammer gezogenen – rechtlichen Fragen. Diese Vorgehensweise hat der Gerichtshof in der Entscheidung Watson und Belmann ausdrücklich protokolliert.294 Das vorlegende Gericht fragt pauschal nach der Vereinbarkeit einer italienischen Vorschrift mit den Art. 48 bis 66 a. F. EGV, ohne dabei genau zu schildern, welche wirtschaftliche Tätigkeit Frau Watson, die als eine Art Au-pair nach Italien eingereist war, durch die entsprechenden Grundfreiheiten geschützt sehen will. Der Gerichtshof merkt diese Lücke im Sachverhalt unter Randziffer 8 kritisch an, geht dann aber unmittelbar zur Beantwortung der Frage über, weil „ein Vergleich der genannten Bestimmungen zeig(e), dass die Grundfreiheiten, soweit sie in Fällen wie dem vorliegenden Anwendung finden können, auf denselben Grundsätzen beruhen.“295 Ähnlich ist der Gerichtshof in einer jüngeren Entscheidung vorgegangen und hat die Vereinbarkeit einer griechischen Straf293 So ausdrücklich etwa Wernsmann, EuR 1999, S. 754, 755; ähnlich Eberhartinger, EWS 1997, S. 43, 48, m. w. N.; Blumenwitz, NJW 1989, S. 621, 622; Pfeil, Historische Vorbilder, S. 249, der in etwas eigener Wortwahl von einer „einheitlichen Konvergenz“ spricht, m. w. N.; Hilf/Pache, NJW 1996, S. 1169, 1172. 294 EuGH v. 7.7.1976, Rs. 118/76, „Watson und Belmann“, Slg. 76, S. 1185 ff. 295 EuGH v. 7.7.1976, Rs. 118/75, „Watson und Belmann“, Slg. 1976, 1185, 1197, Rz. 8–10.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
vorschrift mit den Art. 39, 43 und 49 EGV en bloc geprüft, ohne die Art der betreffenden Tätigkeit im Ausland weiter zu thematisieren.296 Zum anderen scheint der Gerichtshof implizit von einer Parallelität in der Struktur der Grundfreiheiten auszugehen, wenn er in seinen Urteilen grundfreiheitsübergreifend Bezug nimmt, um richterrechtliche Neuschöpfungen, die für eine bestimmte Grundfreiheit entwickelt wurden, auch für die anderen Grundfreiheiten fruchtbar zu machen. Diese Vorgehensweise ist anschaulich demonstriert in den Entscheidungen, die jeweils für „ihre“ Grundfreiheit den Schritt vom Diskriminierungsverbot zum Beschränkungsverbot markieren und bei denen regelmäßig die Berufung auf Dassonville und Cassis mit dem Hinweis verknüpft wird, was für die Warenfreiheit gelte, müsse wegen der Konvergenz der Grundfreiheiten auch für die Niederlassungsfreiheit gelten. Was für diese richtig sei, könne dann auch für die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht falsch sein.297 Beispielhaft in diesem Zusammenhang ist auch die Argumentation sowohl des Generalanwalts als auch des Gerichtshofs in der Rechtssache Walrave, in der erstmals die Bindung privater Wirtschaftsteilnehmer an die Grundfreiheiten konstatiert wurde.298 Die Drittwirkung des Art. 39 EGV wurde als „außer Frage“ stehend vorausgesetzt. Anders als die Kommission, die für Art. 49 EGV – am Wortlaut festhaltend – nur eine Bindung der Mitgliedstaaten zulassen wollte,299 konnten Generalanwalt und Gerichtshof feststellen, „die in Art. 49 EGV aufgeführten Leistungen untersch(ie)den sich ihrer Natur nach nicht von den in Art. 39 EGV erwähnten, sondern nur dadurch, dass sie außerhalb eines Arbeitsvertrages erbracht würden. Allein dieser Unterschied könne es nicht rechtfertigen, den Freiheitsraum, den es zu wahren gilt, enger zu fassen“. Noch deutlicher in Richtung einer echten Konvergenz weist der englische Wortlaut der entsprechenden Textstelle: „Art. 39 and 49 are parallel in every material respect“. 300 Diese Art des Gerichtshofs, eine solche neue Rechtsprechung mit einem eher formalen Argument – dem Hinweis auf die Parallelität der Grundfrei296 EuGH v. 19.1.1999, Rs. 348/96, „Calfa“, Slg. 99, S. 11, 31, Rz. 29; allerdings ließ der Gerichtshof in „Calfa“ nicht ausdrücklich dahinstehen, welche Grundfreiheiten einschlägig seien. Der Art. 49 EGV wurde als „Leitgrundfreiheit“ durchgeprüft und dann ohne weitere Begründung auf die Art. 39 und 43 EGV erstreckt, vgl. „Calfa“, Slg. 99, S. 11, 28 f., Rz. 16–18. 297 Schlussanträge Lenz zu EuGH v. 15.12.1995, Rs. C-415/93, „Bosman“, Slg. 95, S. 4921, 5004 ff., Rz. 194 ff. 298 Siehe oben B. II. 4. b). 299 EuGH v. 12.12.1974, Rs. 36/74, „Walrave“, Slg. 74, S. 1405, 1411 (Sachbericht). 300 EuGH v. 12.12.1974, Rs. 36/74, „Walrave“, Slg. 74, S. 1405, 1425, Rz 23–34.
B. Rechte aus dem EG-Vertrag, insbesondere die Grundfreiheiten
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heiten – zu begründen, führt vor allem dazu, dass die materiellen Grundlagen dieser richterrechtlichen Schöpfungen aus dem Blick geraten und die Begründung eine eigene, teilweise „zirkuläre“ Zwangsläufigkeit entfaltet. Das ist in dem Moment von Bedeutung, in dem solche Rechtsprechungserweiterungen auf Aussagen über den materialen Gehalt der Grundfreiheiten, wie vorliegend deren Grundrechtscharakter, hin untersucht werden. Die Begründungen des Gerichtshofs müssen dann im Einzelfall vor einer Auswertung von nur scheinbar weiterführenden Aussagen befreit werden, die letztlich nur auf die schematische Herübernahme aus dem Kontext einer anderen Grundfreiheit zurückgehen.301 Diese Gefahr der schematischen Verwendung der Parallelstruktur der Grundfreiheiten erklärt möglicherweise die Zurückhaltung vieler Stimmen in der Literatur, die Verschmelzung der einzelnen Grundfreiheiten zu einer „Gesamtgrundfreiheit“ mit tragen zu wollen.302 Eine gewisse „normstrukturelle“ Parallelführung sei zwar geboten, um Wertungswidersprüche zu vermeiden, jedoch nur, soweit nicht „funktionsspezifische Eigenheiten“ der einzelnen Grundfreiheiten vorlägen.303 Dem ist zuzustimmen. Diese spezifischen Eigenheiten jeder Grundfreiheit wurzeln im jeweiligen Schutzbereich der Vorschrift. Die einzelnen Grundfreiheiten sind untrennbar mit den Lebensbereichen verwoben, die sie repräsentieren (Lohnarbeit, Dienstleistungsgewerbe, Handel). Diese Verbindung erfolgt auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt sowohl über die ursprüngliche Ratio, als auch daneben laufend über die begleitende Sekundärrechtsetzung304 und punktuell über den Kontext, aus dem die konkret zu entscheidenden Sachverhalte entstammen und der die Denk- und Argumentationsweise der Verfahrensbeteiligten prägt. Es 301 Siehe oben B. I. 2. d). Die Gültigkeit einer bestimmten Aussage zur Dogmatik der Grundfreiheiten muss fortlaufend auf ihre Begründbarkeit hin überprüft werden, vgl. Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, S. 483 f. für die Bewertung der Grundfreiheiten als subjektive Rechte, sowie Kluth, AöR (122) 1997, S. 557, 563, 569, 577 und Jaensch, Unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 108 ff., 112 für die Drittwirkung der Grundfreiheiten. 302 Kluth, AöR 122 (1997) S. 557, 565, der sich ausdrücklich gegen solche Verschmelzungstendenzen wendet, wie er sie etwa in den Schlussanträgen des Generalanwalts Lenz zu „Bosman“ erkennt; Classen, EWS 1995, S. 95, 101, 104; Simm, Gerichtshof im föderalen Kompetenzkonflikt, S. 51; Becker, EuR 1999, S. 522, 532, der sich im Zusammenhang mit der Entscheidung des EuGH v. 19.1.1999, Rs. C348/96, „Calfa“, Slg. 99, S. 11 ff. gegen die Anwendung eines „bunten Straußes aller Grundfreiheiten“ ausspricht. 303 Müller-Graff, in: GTE, Rn. 6 zu Art. 30 EGV. 304 Vgl. die Art. 1 bis 12 der Verordnung 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, Abl. 1968 L 257, S. 1 f.; ein vergleichbarer Impetus aus dem Sekundärrecht fehlt für die anderen Grundfreiheiten und sondert erneut den Art. 39 EGV aus dem Kreise der Grundfreiheiten ab. Vgl. insb. auch die dritte und die fünfte Begründungserwägung der Verordnung, die das individualschützende Potential des Art. 39 EGV zu diesem frühen Zeitpunkt deutlich machen.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
setzt sich daher im Schrifttum eine etwas gelassenere Einstellung zum Zwang zur Parallelsicht der Grundfreiheiten durch. Der Begriff der Konvergenz solle „nicht überstrapaziert werden, alle Grundfreiheiten hätten ihre Besonderheiten“.305 Im Ergebnis stellt sich die Frage, ob bei der vergleichenden Betrachtung der Grundfreiheiten die Gemeinsamkeiten oder das Trennende überwiegen, als ein Problem der Relativität der Wahrnehmung dar. Entscheidend ist die Wahl des Beobachtungspunktes, d.h. vor allem der Abstand, den der Betrachter zu dem Gegenstand seiner Untersuchung einnimmt. Ordnet man die einzelnen Grundfreiheiten in einen weiteren Zusammenhang ein und stellt sie neben Rechtsnormen einer anderen Rechtsordnung als der des Gemeinschaftsrechts oder auch neben andere Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, wie etwa die Unionsbürgerrechte der Art. 18 ff EGV, die Wettbewerbsvorschriften der Art. 81 ff. EGV oder die „allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts“, so werden die vier Grundfreiheiten als einheitliche Erscheinung wahrgenommen. Sie erscheinen dann als ein monolithischer Block, der eine bestimmte Funktion innerhalb des Systems des Vertrages erfüllt. Nähert man sich diesem Block und nimmt beispielsweise die Perspektive ein, die für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit von Bedeutung ist, so ändert sich die Wahrnehmung. Um Aussagen über einen etwaigen Grundrechtscharakter der Grundfreiheiten treffen zu können, werden neue Eigenschaften, wie die „Rolle der Willensbildung und Willensbetätigung des einzelnen Individuums im Binnenmarkt“, das „Gesetz der großen Zahl“ oder die „Nähe der jeweiligen Grundfreiheiten zum nichtwirtschaftlichen Bereich“ relevant, die aus größerer Entfernung nicht ins Gewicht fielen. Dass derartige Unterschiede, die aus der Anbindung der Grundfreiheiten an bestimmte wirtschaftliche Bereiche resultieren, auch zu wahrnehmbaren Unterschieden in der Struktur der Grundfreiheiten führen, wurde in der Darstellung der Dogmatik der Grundfreiheiten deutlich. Am sichtbarsten ist dabei die Kluft, die sich zwischen den Personenverkehrsfreiheiten und den Produktverkehrsfreiheiten auftut. Als Beispiele sollen die Schwierigkeiten beim Versuch, die Dassonville-Formel oder die KeckRechtsprechung auf die anderen Grundfreiheiten zu übertragen, erwähnt werden.306 Dazu kommt, dass eine Drittwirkung für die Warenfreiheiten 305
Bröhmer in Calliess/Ruffert, Rn. 30 zu Art. 43 EGV; Behrens, EuR 1992, S. 145, 146, der als tieferen Grund für die Divergenzen zwischen den einzelnen Grundfreiheiten den „jeweils unterschiedlich weitgehenden Regelungsverzicht, dem sich die Mitgliedstaaten in den Freiheitsregeln unterworfen haben“ ausmacht; Daniele, E.L.Rev. 22 (1997) S. 191, 195, 200; Hilson, E.L.Rev. 24 (1999) S. 445, 462 „One cannot really argue differential treatment between the freedoms without thinking of precise reasons as to why there should be differences (. . .). Those advocating greater unity between the freedoms should not sacrifice necessary complexity on the altar of homogeneity.“
B. Rechte aus dem EG-Vertrag, insbesondere die Grundfreiheiten
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nicht anerkannt wird, und umgekehrt die Schutzpflichtentheorie bislang nicht auf die anderen Grundfreiheiten angewandt wird.307 Für die Warenverkehrsfreiheit können statistische Gesetzmäßigkeiten leichter in die Argumentation einfließen. Das ist im Zusammenhang mit den Überlegungen zu hypothetischen Grenzübertritten bei Waren und Personen deutlich geworden.308 Dagegen schlagen bei den Personenverkehrsfreiheiten Einzelentscheidungen stärker auf die Gesamtwirkung durch. Die Entscheidung für oder gegen grenzüberschreitende Mobilität ist für den einzelnen Arbeitnehmer eine Entweder-Oder-Situation. Für statistische Überlegungen sind solche Einzelentscheidungen schwerer zu fassen. Zudem sind diese Entscheidungen anfälliger für irrationale Motive und können dann aus den wirtschaftswissenschaftlichen Normalverteilungskurven ausbrechen. Auch das Auseinanderdriften von Rechtsprechung und Teilen der Literatur im Zusammenhang mit dem Schritt vom Diskriminierungsverbot zum allgemeinen Beschränkungsverbot liefert möglicherweise weiteres Anschauungsmaterial für die dogmatische Eigenständigkeit des Art. 39 EGV innerhalb der Grundfreiheiten. Diese Schere hat sich bisher vorrangig bei den Fällen zu den Personenverkehrsfreiheiten, insbesondere der Arbeitnehmerfreizügigkeit aufgetan. Dieses Auseinanderdriften scheint mit bestimmten Eigenarten zusammenzuhängen, die sich an Art. 39 EGV besonders exemplarisch zeigen.309 Der Bezug zur Frage nach der Grundrechtsqualität liegt auf der Hand, wenn etwa der Generalanwalt Jacobs in seinen Schlussanträgen zu der Sache Konstantinidis feststellt, dass „das Gemeinschaftsrecht (. . .) den Wanderarbeitnehmer (oder den wandernden Selbständigen) nicht nur als einen Wirtschafts- oder Produktionsfaktor (betrachte), der Anspruch auf gleiches Gehalt und gleiche Arbeitsbedingungen wie Staatsangehörige des Gastlandes habe“, sondern „(. . .) ihn als einen Menschen (sehe), der Anspruch darauf hat, in diesem Staat „in Freiheit und Menschenwürde“ zu leben.310
306 Schlussanträge Fennelly in der Sache EuGH v. 27.1.2000, Rs. C-190/98, „Volker Graf“, Slg. 00, S. 493, 501, Rz. 18; Barnard, E.L.Rev. 26 (2001), S. 35, 56; Hilson, C.M.L.R. 24 (1999) S. 445, 456, 462 „In distinguishing Keck in Alpine and Bosman the Court itself has informed us that services and workers are not like goods: non-discrimination with the latter may fall outside the scope of Art 28, but non-discrimination with the former does not exclude application of Art. 39 and 49“. 307 Körber, EuR 2000, S. 932, 950; Steinberg, EuGRZ 2002, S. 13, 18 grenzt noch weitergehend den Art. 39 EGV gegen den Art. 43 EGV ab, dessen personenbezogene Komponente wesentlich schwächer ausgeprägt sei. 308 Siehe oben B. II. 1. a) bb) (3); Forsthoff, EWS 2001, S. 59, 61 f. 309 Sieh oben B. II. 3. c) und d) zu den echten Beschränkungsverbotsfällen. 310 Schlussanträge Jacobs zu EuGH v. 30.3.1993, Rs. C-168/91, „Konstantinidis“, Slg. 95, S. 1205 ff. Rz. 24, 31.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
Das bringt auch Generalanwalt Fennelly in der Sache Graf mit der Aussage „Menschen sind keine Waren“ unmissverständlich auf den Punkt.311 Auch in der Literatur scheint sich die Auffassung herauszukristallisieren, dass jedenfalls die Personenverkehrsfreiheiten in Abgrenzung zu den Produktverkehrsfreiheiten eine abweichende dogmatische Behandlung erfahren sollten.312 Umso leichter gelingt dann die Gleichbehandlung von Art. 39 EGV und Art. 43 EGV unter dem Dach der „Personenverkehrsfreiheit“.313 Unterschiede in den Strukturen der einzelnen Grundfreiheiten können sich auch im Verhältnis der Grundfreiheiten zu anderen Vertragsvorschriften zeigen. Die Art und Weise, wie jede einzelne Grundfreiheit im Konflikt oder im Zusammenspiel mit anderen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts reagiert, lässt Rückschlüsse auf ihren eigenes Potential zu. Für Art. 39 EGV etwa lässt sich die Besonderheit der „Verdopplung“ des grundfreiheitlichen Freizügigkeitsrechts im unionsbürgerlichen Freizügigkeitsrecht des Art. 18 EGV nachweisen.314 Eine vergleichbare Beobachtung lässt sich für die anderen Grundfreiheiten nicht machen und sondert bereits aus diesem Grunde die Freizügigkeit von den andern Freiheiten ab. Auf diese Zusammenhänge wird bei der Darstellung des Art. 18 Abs. 1 EGV ausführlicher eingegangen.
C. Subjektive Rechte außerhalb des Vertrags: Die Gemeinschaftsgrundrechte Die Grundfreiheiten, die als erste Kategorie der subjektiven Rechte des Gemeinschaftsrechts in den vorstehenden Kapiteln Gegenstand der Untersuchung waren, sind seit Inkrafttreten der Römischen Verträge im Jahr 1957 in den Vorschriften der Art. 28 f., 39, 43 und 49 EGV verankert. Auch 311 Schlussanträge Fennelly zu EuGH v. 27.1.2000, Rs. C-190/98, „Volker Graf“, Slg. 00, S. 493, 501, Rz. 18 „Menschen sind keine Waren, und der Prozess der Abwanderung zum Zweck der Beschäftigung oder Niederlassung im Ausland einschließlich der Vorbereitung dafür kann nicht so klar in (Massen-) Produktion und Vermarktungsstufen eingeteilt werden“; Schlussanträge Jacobs zu EuGH v. 31.5.89, Rs. 344/87, „Bettray“, Slg. 89, S. 1621, 1637, Rz. 29, wonach Arbeit nicht als Handelsware anzusehen sei; dazu auch: Barnard, E.L.Rev. 26 (2001), S. 35, 56. 312 Körber, EuR 2000, S. 932, 950; Benjes, Personenverkehrsfreiheiten, S. 151; Bleckmann, Europarecht, S. 443, Rn. 1066; Nettesheim, NVwZ 1996, S. 342, 343; Jarass, EuR 1995, S. 202, 205 ff.; Steinberg, EuGRZ 2002, S. 13, 25; nicht ganz eindeutig bei Behrens, EuR 1992, S. 145, 155; a. A. Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, S. 369 f., der davor warnt, die Divergenz zwischen Personenverkehrsfreiheiten und Produktverkehrsfreiheiten zu überschätzen. 313 Nettesheim, NVwZ 1996, S. 342, 342 f.; vgl. aber Steinberg, EuGRZ 2002, S. 13, 18. 314 Siehe unten E. III. 1. und 2. b).
C. Rechte außerhalb des Vertrags: Gemeinschaftsgrundrechte
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wenn die weite Auslegung der Grundfreiheiten durch den Gerichtshof teilweise die Grenze zur richterrechtlichen Neuschöpfung streift, bleiben die Grundfreiheiten geschriebenes Recht. Anders die Gemeinschaftsgrundrechte als zweite große Kategorie subjektiver Rechte des Gemeinschaftsrechts. Die Gemeinschaftsgrundrechte sind in ihrer Entstehung und ihrer Ausformung von den Verträgen unabhängig. Der Gerichtshof verleiht kraft Richterrechtes dem einzelnen EU-Bürger im Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts einen Grundrechtsschutz, wie er ihn aus den Verfassungen der Mitgliedstaaten kennt. Die nationalen Grundrechte bilden dabei für den Gerichtshof zum einen die Quelle, aus der er die Gemeinschaftsgrundrechte schöpft, zum anderen aber auch den dogmatischen Hintergrund, gegen den er die neugeschaffenen – genuin gemeinschaftsrechtlichen – Grundrechte absetzen kann. Mit seinen Ansätzen einer Dogmatik der Gemeinschaftsgrundrechte, die er fallweise weiterentwickelt, gibt der Gerichtshof die Messpunkte vor, an denen sich die Mindestanforderungen an die Bezeichnung „Grundrecht“ in einem gemeinschaftsrechtlichen Kontext ablesen lassen. Die Frage nach der grundrechtlichen Qualität der Grundfreiheiten wird demnach vor allem über den Vergleich der Eigenschaften der Grundfreiheiten mit den Eigenschaften der Gemeinschaftsgrundrechte führen.315 I. Die Gemeinschaftsgrundrechte als ungeschriebene Rechte Die Gemeinschaftsgrundrechte sind jünger als die Grundfreiheiten.316 In den Gründungsverträgen von 1951 und 1957 war eine Kodifizierung von Grundrechten bewusst vermieden worden. Die Schaffung der Montanunion und des Binnenmarktes war aus Sicht der vertragsschließenden Staaten ein rein wirtschaftspolitisches Vorhaben der mitgliedstaatlichen Regierungen. Von einer Staatlichkeit der Gemeinschaften, wie ein Grundrechtskatalog sie impliziert, konnte zu dem Zeitpunkt nicht ausgegangen werden. Auch der Gerichtshof lehnte es in der Anfangszeit seiner Rechtsprechung ab, zu behaupteten Grundrechtsverletzungen Stellung zu nehmen. Die Grundrechte seien Teil des nationalen Verfassungsrechts und lägen damit außerhalb sei315 Seit Ende des Jahres 2000 tritt neben die Rechtsprechung des Gerichtshofs als bislang einzige Quelle der Dogmatik der Gemeinschaftsgrundrechte eine zweite, kodifizierte Quelle, nachdem die Grundrechte-Charta der EU von den Staats- und Regierungschefs verabschiedet worden ist. Der Schwerpunkt der Untersuchung wird aber – am geltenden Recht ausgerichtet – bei der tradierten Dogmatik des Gerichtshofs verbleiben. 316 Jedenfalls die Abwehrgrundrechte, um die es geht, denn schon in den fünfziger Jahren hat der Gerichtshof einige „Verfahrensgrundsätze“ mit grundrechtlichem Charakter entwickelt. Vgl. die Beispiele bei Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 243 f.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
ner Zuständigkeit.317 Diese Zurückhaltung musste der Gerichtshof unter dem Druck sich wandelnder Verhältnisse aufgeben. Mit steigendem Einfluss des Gemeinschaftsrechts und der Gemeinschaftsorgane auf die wirtschaftliche Tätigkeit der Unternehmen in den Mitgliedstaaten hatte sich eine Rechtsschutzlücke aufgetan. Einerseits war den von einer gemeinschaftlichen Maßnahme betroffenen Unternehmen wegen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts die Berufung auf nationale Grundrechte verwehrt. Auf der anderen Seite erklärte sich der gemeinschaftsrechtliche Richter für Grundrechte unzuständig. Auch die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte erkannten diese Gefahr und drohten damit, zum Schutze ihrer Rechtsunterworfenen ihre eigenen nationalen Grundrechte wieder über die gemeinschaftsrechtlichen Maßnahmen zu stellen und damit den Vorrang des Gemeinschaftsrechts außer Kraft zu setzen.318 Der Schutzgedanke stand demnach von Anfang an im Vordergrund der Rechtsprechung zu den Gemeinschaftsgrundrechten, die der Gerichtshof in den Siebziger Jahren entwickelte. Als Keimzelle dieser Kette grundrechtlicher Entscheidungen gelten die Urteile Stauder, Internationale Handelsgesellschaft und Nold.319 Prägend für die Gemeinschaftsgrundrechte ist deren richterrechtliche Abstammung bei Fehlen jeglicher schriftlicher Fixierung oder formaler Normsetzung durch eine legislative oder konstituierende Gewalt.320 Der Gerichtshof schöpft die Gemeinschaftsgrundrechte aus drei Quellen, wobei eine eindeutige Zuordnung zu einer dieser Quellen in der Regel nicht erfolgt und auch das Verhältnis der Quellen untereinander ungeklärt bleibt: Ihren ursprünglichen Geltungsgrund finden die Gemeinschaftsgrundrechte zunächst in der Anerkennung als „allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts“.321 Darüber hinaus sind es die „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“, aus deren Gesamtschau der Gerichtshof die 317 EuGH v. 15.7.1960, verb. Rs. 36–38 und 40/59, „Ruhrkohlenverkaufsgesellschaft“, Slg. 60, S. 889, 920. 318 Beschluss des BVerfG v. 29.5.1974, „Solange I“, BVerfGE 37, S. 271 ff.; italienische Corte Constituzionale v. 18.12.1973, in: EuR 1974, S. 255 ff. 319 EuGH v. 12.11.1969, Rs. 29/69, „Stauder“, Slg. 69, S. 94 ff.; EuGH v. 17.12.1970, Rs. 11/70, „Internationale Handelsgesellschaft“, Slg. 70, S. 1125 ff.; EuGH v. 14.5.1974, Rs. 4/73, „Nold“, Slg. 74, S. 491 ff. Dass daneben der Gerichtshof den Vorrang und die Einheit des Gemeinschaftsrechts sichern und daher die Grundrechtskontrolle nicht den nationalen Gerichten überlassen wollte, ist unbestritten, ändert aber nichts an der vorrangig individualschützenden Ausrichtung der Gemeinschaftsgrundrechte. Nur vereinzelt wird dem Gerichtshof unterstellt, er habe die Grundrechte nur als „Vorwand“ benutzt, um seinen Einfluss zu Lasten der Mitgliedstaaten weiter ausdehnen zu können, vgl. Coppel/O’Neill, C.M.L.R. 29 (1992) S. 669, 692. Siehe unten B. IV. 2. e) aa) im zweiten Teil und D. II. 2. b) im dritten Teil. 320 Seit Ende des Jahres 2000 kommt die Grundrechte-Charta als geschriebene Bestandsaufnahme der Gemeinschaftsgrundrechte hinzu.
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Grundrechte auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene gewinnt, sowie die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), die immer stärker in die Dogmatik der Gemeinschaftsgrundrechte mit einbezogen wird.322 Die Gründungsverträge selber spielen als Quelle für die Gemeinschaftsgrundrechte in der Diktion des Gerichtshofs keine Rolle, mit Ausnahme der Sonderfälle der Art. 12 und 141 EGV, die zu „allgemeinen Grundsätzen“ ausgebaut werden.323 Im Schrifttum dagegen wurde vereinzelt auf das grundrechtliche Potenzial der Vertragsvorschriften hingewiesen und beispielsweise die Grundfreiheiten ausdrücklich als neue, zusätzliche Quelle der Gemeinschaftsgrundrechte ins Spiel gebracht.324 Das gilt insbesondere für die Personenverkehrsfreiheiten.325 Diese Überlegung ist für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit von großem Interesse. Es bleibt aber zunächst offen, wie sich das Verhältnis der Vertragsvorschriften (als Quelle) zu dem daraus abgeleiteten Grundrecht im Einzelnen gestaltet. Ob beispielsweise eine vertragliche Vorschrift ihre Struktur verändert, um zum Gemeinschaftsgrundrecht zu werden, ob eine unveränderte Vorschrift schlicht zum Grundrecht deklariert wird oder ob ein eigenständiges, neues Grundrecht aus der Vorschrift herauswächst, darauf wird im dritten Teil der Arbeit erneut einzugehen sein. An dieser Stelle kann festhalten werden, dass in den Vertragsvorschriften ein Potenzial für Gemeinschaftsgrundrechte liegen könnte, das der Gerichtshof selber in seiner Rechtsprechung bisher nicht ausgeschöpft hat. Mittlerweile sind die Gemeinschaftsgrundrechte in ihrer als Richterrecht geschaffenen Form in Art. 6 Abs. 2 EUV (früher: Art. F Abs. 2 EUV) auch 321 Dahinter steht das Konzept der „principes généraux de droit“ des französischen Verwaltungs- und Verfassungsrechts. 322 EuGH v. 14.5.1974, Rs. 4/73, „Nold“, Slg. 74, S. 491 ff.; EuGH v. 13.12. 1979, Rs. 44/79, „Hauer“, Slg. 79, S. 3727 ff. 323 Beutler, in GTE, Rn. 58 zu Art. F EUV, nach dessen Ansicht der „ungeschriebene Gleichheitsgrundsatz“ zu den Grundrechten gehöre und die Vertragsgrundrechte des Diskriminierungsverbots und des Gebots gleichen Entgelts mit einschließe, vgl. EuGH v. 15.6.1978, Rs. 149/77, „Defrenne III“, Slg. 78, S. 1365 ff.; so ausdrücklich auch Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 175; zu dieser Frage siehe aber im folgenden Abschnitt D die Darstellung der Art. 12 und Art. 141 EGV. 324 Notthoff, RIW 1995, S. 541, 544 f., nach dessen Ansicht die Entscheidungen Rutili, Choquet, Ramrath, Royer, Thieffry, Klopp, Gullung eine deutliche Tendenz der Rechtsprechung in Richtung auf einen absoluten Grundrechtsschutz erkennen lassen. Die Personenverkehrsfreiheiten und insbesondere Art. 39 EGV können nach seiner Einschätzung daher im Ergebnis als absolute Grundrechte beziehungsweise weitere Rechtsquelle für Grundrechte auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene verstanden werden, mit Verweis auf Gornig, NJW 1989, S. 1120 und Bleckmann, Europarecht, Rn. 413 ff.; Pernice, NJW 1990, S. 2409, 2413, einschränkend allerdings auf S. 2417; Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 125, 139 ff. 325 Bleckmann, DVBl. 1986, S. 69 ff.
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im geschriebenen Recht verankert, ohne damit Eingang in das schriftliche „Gemeinschafts“-Recht im engen Sinne gefunden zu haben. In der Amsterdamer Fassung des EG-Vertrages fehlt eine solche Bezugnahme weiterhin.326 Das schriftliche Bekenntnis zu ungeschriebenen Rechtssätzen im Unionsvertrag macht diese nach wie vor nicht zu geschriebenem Recht. Dennoch stehen die Gemeinschaftsgrundrechte als primärrechtliche Normen unbestritten im Rang den Grundfreiheiten und den anderen Vertragsvorschriften gleich.327 II. Die Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte 1. Verschiedene Funktionen der Gemeinschaftsgrundrechte: Objektive Rechtsgrundsätze, Gleichheitsgrundrechte, subjektive Abwehrrechte
In ihrer Erscheinungsform sind die Gemeinschaftsgrundrechte keineswegs einheitlich. Die Versuche, die verschiedenen Typen von Gemeinschaftsgrundrechten in Kategorien zusammenzufassen, gleichen den Klassifizierungen, die für die verschiedenen Funktionen der Grundrechte auf nationaler Ebene bekannt sind. Unter den Oberbegriff der „allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts“, der den Ausgangspunkt der Grundrechtskasuistik des Gerichtshofs bildet, fasst dieser sowohl objektiv-rechtliche Prinzipien als auch klassische Abwehrrechte. Beispiele für diese erste, objektiv-rechtlich geprägte Kategorie der Gemeinschaftsgrundrechte, die in der deutschen Verfassungslehre mit den Rechtsstaatsprinzipien oder Verfahrensgrundsätze vergleichbar wären, sind der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung oder der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als typische Prinzipien.328 Als Verfahrensgrundsätze werden der Anspruch auf rechtliches Gehör oder der Grundsatz ne bis in idem verstanden.329 Klassische Abwehrrechte hat der Gerichtshof zunächst, dem wirtschaftsorientierten Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts folgend, in der Regel zum Schutz wirtschaftlich relevanter Positionen entwickelt. Das Eigentum, den freien Zugang zum Beruf oder die freie wirtschaftliche Betä326 In der Präambeln zum EUV („Maastricht-Vertrag“) und zur EEA wird auf die EMRK Bezug genommen. 327 Borchardt, in: Lenz, Kommentar, Rn. 38 zu Art. 220 EGV; Beutler, in: GTE, Rn. 73 zu Art. F EUV. 328 EuGH v. 24.9.1985, Rs. 181/84, „Man Sugar/IBAP“, Slg. 85, S. 2889, 2903. 329 EuGH v. 13.2.1979, Rs. 85/76, „Hoffmann-La Roche“, Slg. 1976, S. 461, 511. Die ausschließliche Zuordnung einzelner Grundrechte in diese Kategorien ist im Einzelfall schwierig. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird zum Teil nicht als eigenes Grundrecht, sondern als Teil der Schrankensystematik aller anderen Grundrechte aufgefasst.
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tigung hält er entsprechend von unzulässigen gemeinschaftsrechtlichen Eingriffen frei. Die Rechtsprechung zu den Gemeinschaftsgrundrechten erfasst aber auch Bereiche wie die Unverletzlichkeit der Wohnung, die Achtung der Privatsphäre, die Meinungs- und Veröffentlichungsfreiheit oder die Religionsfreiheit.330 Diese letztgenannte Gruppe von Gemeinschaftsgrundrechten lässt deutlich den freiheitsrechtlichen „absoluten“ Ansatz erkennen und dokumentiert zugleich die Öffnung des Gemeinschaftsrechts für Sachverhalte, die nur noch mittelbar an die Wirtschaftsaktivitäten der betroffenen Marktbürger anknüpfen.331 Daneben können die Gleichheitsrechte als eine dritte Kategorie innerhalb der Gemeinschaftsgrundrechte aufgeführt werden. Wenn von mehreren Gleichheitsrechten gesprochen wird, sind damit in der Regel verschiedene Erscheinungsformen des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes gemeint, den der Gerichtshof in der Entscheidung Ruckdeschel erstmals als solchen bezeichnet hat.332 Der Grundsatz „Gleiches gleich und Ungleiches nicht gleich zu behandeln“ lässt im Grunde keine inhaltliche Auffächerung oder materielle Abstufung zu, sondern erlaubt höchstens eine Spezialisierung durch Zuweisung bestimmter Anwendungsbereiche. Dennoch lassen sich weitere eigenständige Ausprägungen dieses Gleichheitssatzes mit eigenem grundrechtlichen Charakter auf Ebene der Gemeinschaftsgrundrechte herausfiltern.333 Neben dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz sind auch das allgemeine Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit und der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz (der weitverstandene Grundsatz der Lohngleichheit von Mann und Frau) Rechtssätze im Range eines Gemeinschaftsgrundrechts.334 Diese beiden Gleichheitssätze bilden eine Brücke zwischen geschriebenem Vertragsrecht und ungeschriebenen Gemeinschaftsgrundrechten. Sie wurzeln in vertraglichen Vorschriften, sind aber wegen veränderter tatsächlicher Umstände und eines veränderten gemeinschaftsrechtlichen Kontextes durch die Rechtsprechung des Gerichtshof über ihre ursprüngliche Funktion 330 EuGH v. 27.10.1976, Rs. 130/75, „Prais“, Slg. 76, S. 1589, 1598; weitere Nachweise bei: Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 245 f. 331 Vgl. Schwarze, NJ 1994, S. 53, 56; Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 9 f., 233 ff. 332 EuGH v. 19.10.1977, verb. Rs. 117/76 und 16/77, „Ruckdeschel“, Slg. 77, S. 1753, 1770, Rz. 7; der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz wird hier aus einem speziellen vertraglichen Diskriminierungsverbot (Art. 34 Abs. 2 Satz 2 EGV – Diskriminierungsverbot in den Agrarmarktordnungen) entwickelt; vgl. auch: EuGH v. 16.10.1980, Rs. 147/79, „Hochstrass“, Slg. 80, S. 3005, 3019, Rz. 7. 333 Siehe unten den Abschnitt D zur Struktur der Art. 12 EGV und Art. 141 EGV. 334 EuGH v. 15.6.1978, Rs. 149/77, „Defrenne III“, Slg. 78, S. 1365, 1379, Rz. 26/29; vgl. Beutler, in: GTE, Rn. 58 zu Art. F EUV, dort Fn. 162.
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im Vertragszusammenhang hinaus zu Gemeinschaftsgrundrechten erweitert worden. Zugleich wird von diesen erweiterten „grundrechtlichen“ Gleichheitssätzen weiterhin als von den Vertragsvorschriften der Art. 12 EGV oder Art. 141 EGV gesprochen, wie etwa der Ausdruck „Vertragsgrundrechte“ bei Beutler zeigt.335 Die Erweiterung zu Gemeinschaftsgrundrechten ist daher weniger als Funktionsänderung als vielmehr im Sinne einer Verdopplung der rechtsschützenden Funktion dieser Vorschriften zu werten. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den „Brückenvorschriften“ der Art. 12 und 141 EGV nimmt daher den Erklärungsansatz einer Verdopplung der Funktion der Grundfreiheiten in eine vertragsimmanente grundfreiheitliche und eine weiter reichende grundrechtliche Funktion, wie er im zweiten Hauptteil vorgeschlagen werden soll, in einigen wichtigen Zügen bereits vorweg.336 Für die Gleichheitsgrundrechte auf Ebene des Gemeinschaftsrechts zeigen sich dieselben Besonderheiten im Aufbau der Prüfung einer möglichen Grundrechtsverletzung, wie sie für vergleichbare Gleichheitsrechte aus den mitgliedstaatlichen Verfassungen (Art. 3 GG) bekannt sind. Die Struktur eines Gleichheitsrechtes zwingt den Rechtsanwender zu einer zweistufigen Prüfung, die nicht dem klassischen Schema von Schutzbereich, Eingriff und Abwehr dieses Eingriffs folgt, sondern nach Bildung von Vergleichsgruppen entweder eine Gleich- oder eine Ungleichbehandlung konstatiert.337 Einen sachlichen Schutzbereich im Sinne eines sachlich-gegenständlichen Lebensbereiches, der dem Einzelnen als Freiheitsraum unabhängig von dritten Bezugspersonen zugewiesen wird, weisen die Gleichheitsrechte von ihrer Struktur her nicht auf. Ein Gleichheitsrecht ist zwangsläufig relativ. Den Status des Gleichheitsrechts als Grundrecht scheint diese strukturelle Eigenheit aber weder in den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen noch im gemeinschaftsrechtlichen Zusammenhang in Frage stellen zu können. Diese Aufspaltung der Gemeinschaftsgrundrechte in die soeben genannten Kategorien „Rechtsstaatsprinzipien“, „Freiheitsrechte“ und „Gleich335
Beutler, in: GTE, Rn. 58 zu Art. F EUV, nach dessen Auffassung der ungeschriebene Gleichheitsgrundsatz zu den Grundrechten gehört und die Vertragsgrundrechte des Art. 12 EGV (Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit) und des Art. 141 EGV (Gebot gleichen Entgelts für Mann und Frau) mit einschließt. 336 Der Gerichtshof unterscheidet aber zwischen Art. 141 EGV als Vertragsvorschrift und Art. 141 EGV als Ausdruck des Gleichheitsgrundrechts, wenn es um die unmittelbare Wirkung der Rechtsnorm geht, vgl. EuGH v. 15.6.1978, Rs. 149/77, „Defrenne III“, Slg. 78, S. 1365, 1378 f., Rz. 24 f. 337 Hoffmann, Grundfreiheiten als Abwehrrechte, S. 20, 22 ff. versucht diesen zweistufigen Aufbau in ein dreistufiges Schema hineinzulesen, indem er als übergeordnetes „Schutzgut“ das „Interesse, nicht diskriminiert zu werden“ setzt, in welches dann eine diskriminierende Handlung eingreift, siehe oben B. II. 3. zum Schutzbereich der Grundfreiheiten.
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heitsrechte“ ist notwendiger vorbereitender Gedankenschritt für den folgenden Vergleich mit den Grundfreiheiten. Die Kategorisierung ermöglicht es, bereits an dieser Stelle die stark objektiv-rechtlich ausgeprägten „Rechtsstaatsprinzipien“ aus dem Kreis der Gemeinschaftsgrundrechte auszusondern und in den Hintergrund treten zu lassen. Wie zu Beginn dieses Ersten Teils der Arbeit geschildert, soll der Vergleich der Grundfreiheiten mit den Gemeinschaftsgrundrechten auf der Grundlage eines vereinfachten Modells des klassischen Abwehrgrundrechts erfolgen. Auf die dort angestellten Überlegungen zur Zulässigkeit eines solchen reduzierten Grundrechtsbegriffs kann verwiesen werden. Dass sowohl Gemeinschaftsgrundrechte als auch Grundfreiheiten sich auf den gemeinsamen Nenner des „subjektiven Rechts“ zurückführen lassen, ist zur unabdingbaren Voraussetzung für eine mögliche Gleichsetzung der beiden Rechtsbegriffe gemacht worden. Sowohl Gemeinschaftsgrundrechte als auch Grundfreiheiten enthalten unstreitig, wie gezeigt, objektive und subjektive Elemente.338 In den Grundrechten abwehrrechtlicher Prägung überwiegt nach der hier zugrundegelegten Ansicht das subjektive Element. Grundrechte sind ursprünglich und in erster Linie Schutzrechte für den Einzelnen. Daneben können andere – objektive – Funktionen treten. Die Gemeinschaftsgrundrechte abwehr- bzw. freiheitsrechtlicher Ausprägung stehen daher im Mittelpunkt der weiteren Darstellung. 2. Anwendungsbereich, Tatbestand und Schranken der Gemeinschaftsgrundrechte
a) Der Schutzbereich der Gemeinschaftsgrundrechte Der Tatbestand dieser freiheitsrechtlichen oder abwehrrechtlichen Gemeinschaftsgrundrechte ist durch den Begriff des Schutzbereiches gekennzeichnet, wie er aus der Grundrechtslehre der meisten mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen vertraut ist. Die Gemeinschaftsgrundrechte umreißen demnach einen bestimmten Ausschnitt aus der tatsächlichen Lebenswelt und stellen diesen Bereich, diese Tätigkeit oder dieses Interesse bis auf weiteres unter Schutz. Den Mittelpunkt oder Kristallisationskeim dieser geschützten Sphäre bildet der Grundrechtsträger, in der Regel eine Einzelperson.339 Über die Willensbetätigung, die die Möglichkeit umfasst, diesen Bereich mit eigenem Handeln auszufüllen oder – auch das ist Willensbetätigung – 338 Häberle, DVBl. 2000, S. 840, 846 sieht unter dem Stichwort „Multifunktionalität“ in den Grundrechten noch viele weitere Aspekte enthalten. 339 Das Bild vom Zirkel oder Schutzwall um die Einzelperson taucht häufig auf, vgl. Weiler, Rev.M.U.E. 1996, S. 35, 42 „remparts de liberté autour de l’individu“; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 188 f., u. v. m.
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nicht auszufüllen, ist der sie umgebende Bereich mit dieser Person verbunden. Die Intensität des Schutzes ist in der Regel nicht festgelegt. Wie weit der Kreis dieses Schutzbereiches um die Person gezogen wird oder wie hoch die Mauern sind, die hier um den Schutzbereich gezogen werden, ist von Einzelfall zu Einzelfall verschieden. Mit diesen bildhaften Aussagen sind zwei unterschiedliche gedanklich-logische Ansätze angesprochen, über die sich der zunächst scheinbar „allumfassende“ Schutzanspruch der Freiheitsgrundrechte handhabbar machen lässt. Zum einen ist die Verkleinerung dieses Schutzbereiches denkbar. Bestimmte Handlungen oder Interessen werden aus dem Schutzbereich herausgenommen. Das wäre ein Einschnitt bereits auf tatbestandlicher Ebene. Zum zweiten ist vorstellbar, den Schutzbereich zwar nicht zu verkleinern, aber die Anforderungen an Eingriffe in diesen Schutzbereich abzusenken. Auch dann verkürzt sich der Schutz aus Sicht des Einzelnen, weil Ausnahmen vom Schutz leichter zu rechtfertigen sind. Diese Frage nach der Einschränkung des zunächst absolut gewährten Schutzes auf Tatbestands- oder Eingriffsebene ist ein konzeptionelles Problem, das für die Grundrechte auf Gemeinschaftsebene ebenso gilt wie für die nationalen Grundrechte. Der Vorwurf, der Gerichtshof unterscheide nicht sauber zwischen Schutzbereich und unantastbarem Wesensgehalt der Grundrechte, der Schutzbereich sei folglich nicht berechenbar und „vorausliegend“, sondern verhalte sich gleichsam variabel in Abhängigkeit vom letztlich zugestandenen Schutzniveau, wäre daher nicht allein an den Gerichtshof in Gegenüberstellung zu den nationalen Instanzen zu richten.340 In der Praxis wirkt sich dieses dogmatische Problem möglicherweise über geringfügige Verschiebungen der Darlegungs- und Argumentationslast aus. Wenn eine Handlung zunächst einmal geschützt ist, muss der Eingreifende dartun, weshalb in seinem Fall eine Ausnahme vom Schutz zu machen sei. b) Das „grenzüberschreitende Element“ als Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Gemeinschaftsgrundrechte Im Gegensatz zu den Grundfreiheiten spielt der „Grenzübertritt“ oder das „grenzüberschreitende Element“ für die Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte – jedenfalls auf Ebene des Schutzbereiches – keine prägende Rolle. Das ist nur auf den ersten Blick überraschend. Der Gerichtshof nimmt eine Grundrechtsprüfung „im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ vor.341 Dieser Anwendungsbereich umfasst eine größere Anzahl an Fällen 340
Beutler, in: GTE, Rn. 78 zu Art. F EUV; vgl. auch Pauly, EuR 1998, S. 242,
261. 341 EuGH v. 29.5.1997, Rs. C-299/95, „Kremzow“, Slg. 97, S. 2629 ff.; EuGH v. 13.6.1996, Rs. C-144/95, „Maurin“, Slg. 96, S. 2909 ff.; EuGH v. 28.6.1984, Rs. 180/83, „Moser“, Slg. 84, S. 2539 ff.; EuGH v. 11.7.1985, verb. Rs. 60/84 und 61/
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als die Summe aller Sachverhalte mit „grenzüberschreitendem Bezug“, die in Bezug auf den Anwendungsbereich also eine – wenn auch sehr bedeutende – Teilmenge bilden. Denn vom Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts können im Einzelfall auch Fallkonstellationen erfasst sein, die „faktisch“ auf rein nationalen Sachverhalten basieren, aber „rechtlich“ dem Gemeinschaftsrecht unterstellt sind, weil eine bestimmte Materie der gemeinschaftsrechtlichen Regelung überantwortet wird.342 Für den Anwendungsbereich der Gemeinschaftsgrundrechte bedeutet das: Nicht das „grenzüberschreitende Element“ ist von Bedeutung, sondern ein „gemeinschaftsrechtliches Element“. Dieses gemeinschaftsrechtliche Element eröffnet ganz grundsätzlich den Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts und damit auch den Anwendungsbereich für die Gemeinschaftsgrundrechte.343 Die Erklärung liegt in der Entstehung und Zielrichtung der Gemeinschaftsgrundrechte. Sie sollen für die Situationen gelten, in denen der Einzelne durch den Vollzug gemeinschaftsrechtlicher Normen in seinen Rechten berührt wird und die nationalen Grundrechte wegen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts gesperrt sind. In den Bereichen, in denen es eine gemeinschaftsweit gültige Norm des Gemeinschaftsrechts gibt, die an Stelle einzelner nationaler Normen diesen Bereich regelt, befindet sich der Einzelne in dieser Situation, unabhängig davon, ob der konkrete Sachverhalt innerhalb eines Mitgliedstaates bleibt. Solche Situationen treten vor allem dann auf, wenn ein Lebensbereich auf Ebene des sekundären Gemeinschaftsrechts abschließend und intensiv „durchgeregelt“ ist, wie das beispielsweise für Teile des Arbeitsrechts der Fall ist. Wegen der Gleichstellungsrichtlinie 76/207/EWG (Chancengleichheit beim Zugang zu bestimmten Berufen) konnten sich Kreil und Sidar auf das Gemeinschaftsgrundrecht der „Gleichbehandlung von Mann und Frau im Arbeitsleben“ berufen, um ihre Anstellung in den Streitkräften zu erreichen. Frau Kreil wollte als 84, „Cinéthèque“, Slg. 85, S. 2605, 2627, Rz. 26; EuGH v. 30.9.1987, Rs. 12/86, „Demirel“, Slg. 87, S. 3719, 3754, Rz. 28; vgl. auch Schlussanträge Jacobs in EuGH v. 30.3.1993, Rs. C-168/91, „Konstantinidis“, Slg. 95, S. 1191, 1207 ff., 1211, Rz. 31 ff., 42 f., 45 f. Jacobs geht im Zusammenhang mit seinem drastischen Beispiel der Strafe des Handabhackens davon aus, dass ein EU-Bürger überall in der Gemeinschaft den Schutz der EMRK durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs mit sich trage und sich als Europäer frei und geschützt in Europa bewegen dürfe („Civis europaeus sum“). 342 Mit anderen Worten: Jeder (wirtschaftsrelevante) Sachverhalt mit grenzüberschreitendem Bezug fällt in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts. Nicht jeder Sachverhalt im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts weist aber einen grenzüberschreitenden Bezug auf. 343 Jürgensen/Schlünder, AöR 121 (1996) S. 200, 226 liefern ein weiteres Rechtsprechungsbeispiel dazu: EuGH v. 16.2.1995, verb. Rs. C-29/94 bis C-34/94, „Aubertin u. a.“, Slg. 95, S. 301, 316, Rz. 9, in: EuZW 1995, S. 185, 186; Schubert, Gemeinsamer Markt als Rechtsbegriff, S. 215.
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Deutsche zur Bundeswehr, Frau Sirdar als Britin zur britischen Armee. Ein Grenzübertritt oder ein grenzüberschreitender Bezug war ersichtlich nicht nachweisbar.344 Es ist die Gleichstellungsrichtlinie 76/207/EWG, die zur Zuständigkeit des Gemeinschaftsrechts und des Gerichtshofs führt. Ist der Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts eröffnet, so erfolgt die Frage, ob ein bestimmtes Gemeinschaftsgrundrecht einschlägig ist, in einem zweiten Schritt. Das Vorliegen eines „grenzüberschreitenden Elements“ ist im Falle der Gemeinschaftsgrundrechte demnach kein Bestandteil des Tatbestandes, sondern gleicht in seiner Funktion einer „prozessualen“ Voraussetzung. Der „grenzüberschreitende Bezug“ eines Sachverhalts ist ein denkbarer und in der Praxis häufiger Weg, um den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts zu eröffnen und dann eine Grundrechtsprüfung vornehmen zu können. Konstituierend für die Struktur und die Funktionsfähigkeit der grundrechtlichen Norm ist der grenzüberschreitende Bezug nicht.345 Anders als bei den Grundfreiheiten, bei denen ohne das grenzüberschreitende Element der Tatbestand der jeweiligen Grundfreiheit nicht vollständig ist, kann folglich das Fehlen eines grenzüberschreitenden Moments die Integrität des Grundrechtstatbestandes als solche nicht berühren.346 Damit kann eine These formuliert werden, die für die weitere Untersuchung von entscheidender Bedeutung ist: Die Gemeinschaftsgrundrechte existieren offensichtlich auch jenseits der Fallkonstellationen weiter, in denen sie zur Anwendung auf konkrete, anhängige Verfahren kommen. Ein Eigentumsgrundrecht oder ein sonstiges Freiheitsrecht gibt als Gemeinschaftsgrundrecht für die gesamte Gemeinschaft ein Schutzniveau als verbindlichen Standard vor.347 344 EuGH v. 11.1.2000, Rs. C-285/98, „Kreil“, Slg. 00, S. 69, 101 f., Rz. 10 ff.; EuGH v. 26.10.1999, Rs. C-271/97, „Sirdar“, Slg. 99, S. 7403, 7438 ff., Rz. 11 ff. 345 Vgl. im Zusammenhang mit dem Freizügigkeitsrecht des Unionsbürgers: Hatje, in: Schwarze, EU-Kommentar, Rn. 6 zu Art. 18, der am Beispiel des Art. 18 Abs. 1 EGV zeigt, dass Grundrechte, anders als Grundfreiheiten, vom Wortlaut her keine Grenzüberschreitung voraussetzen „Diese Gewährleistungsdimension unterscheidet die Ansprüche nach Art. 18 Abs. 1 von den wirtschaftlichen Freizügigkeitsrechten“. 346 Von der Frage der „Tatbestandsintegrität“ scharf zu trennen ist die Überlegung, ob nicht der beschränkte Anwendungsbereich die Gemeinschaftsgrundrechte insgesamt gegenüber den nationalen Grundrechten „abwertet“, wie das bei Nettesheim, EuZW 1995, S. 106, 108 anklingt. Er ist der Ansicht, die Gemeinschaftsgrundrechte hätten noch nicht den „Entwicklungsstand“ der nationalen Grundrechte (Teilhabe/Leistungsrechte etc.), weil sie auf grenzüberschreitende Sachverhalte beschränkt seien, die nur eine verminderte Grundrechtsrelevanz hätten. 347 Bereits die Tatsache, dass eine bestimmte Handlung oder ein bestimmtes Rechtsgut auf Gemeinschaftsebene unter den Schutz eines Grundrechts gestellt werden, trifft eine Aussage über Werte und Wertungen. Auf diese Idee des Wertediskur-
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Als „Idee“ und als „Zusage, ein bestimmtes Gut in einer bestimmten Weise zu schützen“ ist ein Gemeinschaftsgrundrecht unabhängig von der Beschränktheit seines Anwendungsbereiches. Wenn für die Fälle, die – aus welchen Gründen auch immer – dem Gemeinschaftsrecht unterfallen, ein bestimmter Standard gemeinschaftsweit für angemessen gehalten wird, so muss dieser Standard, will man Wertungswidersprüche vermeiden, in der Sache – also unter materiellen Gerechtigkeitsgesichtspunkten – auch in den Fällen angemessen sein, in denen der Gerichtshof unzuständig ist. Es ist allein der Respekt vor der Verfassungsautonomie der Einzelstaaten, der den Gerichthof hier daran hindert, in diesen Einzelfällen den Standard nicht auf den Fall anzuwenden. Die Kontrollüberlegung lautet: Würde dieser Bereich eines Tages dem Gemeinschaftsrecht unterstellt, dann müsste der Schutzstandard nicht neu definiert werden, sondern das „bereits vollständig existierende“ Gemeinschaftsgrundrecht würde, ohne sich inhaltlich oder strukturell zu verändern, in einer Seitwärtsbewegung oder Seitwärtsausdehnung seinen Anwendungsbereich erweitern. Die Gemeinschaftsgrundrechte spielen im Übrigen selbst in den Streitfällen, die weder „grenzüberschreitend“ noch vom Gemeinschaftsrecht geregelt sind, eine gewisse Rolle. In einem rein deutschen Verfahren etwa, das ausschließlich nach deutschem Recht entschieden wird, dürfte der Richter sein Urteil nicht direkt auf ein Gemeinschaftsgrundrecht stützen. Die Norm ist in dem Rechtsstreit kein geltendes Recht. Die Anwendung einer ungültigen Norm wäre ein Revisionsgrund. Die Gemeinschaftsgrundrechte können in diesen Sachverhalten ohne „gemeinschaftsrechtlichem Bezug“ keine unmittelbare Geltung haben. Sie können aber dennoch eine Wirkung entfalten, die einer „mittelbaren Geltung“ sehr nahe kommt. Denn der nationale Richter wird die Gemeinschaftsgrundrechte als Hintergrund für seine eigene Abwägung „mitdenken“. Ein Gemeinschaftsgrundrecht findet auf diese Weise als „Standard“ Eingang in rein nationale Verfahren. Dieses Hineinsickern der Gemeinschaftsgrundrechte in die einzelnen Verfassungsordnungen hat Frowein bereits 1986 beschrieben.348 In Einzelfällen kann dieser Einfluss der gemeinschaftsrechtlichen Normen noch einen Schritt weitergehen. In ses, der auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene noch zu führen ist, kommt das Schlusskapitel der Arbeit zurück. 348 Frowein, in: Cappelletti/Seccombe/Weiler, Integration through Law, S. 300, 302; Clapham, Human Rights in the Private Sphere, S. 270 f.; Die Existenz eines gemeinsamen Standards wirke auf die einzelnen Rechtsordnungen ein, auch wenn dieser Standard (noch) nicht in den rein internen Sachverhalten Anwendung – im engen Sinne – finde; Jürgensen/Schlünder, AöR 121 (1996) S. 200, 218 ff.; ähnlich: König, AöR 118 (1993), S. 591, 614 f., die auch in den nationalen Rechtsordnungen das Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht mehr in einem nationalen, sondern in einem gemeinschaftsrechtlichen Kontext ausgelegt sehen möchte; Reich, E.L.J. 1997, S. 131, 141.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
einer Profifußballer-Entscheidung aus dem Jahr 1999 – dem „deutschen Bosman-Urteil“ – hat der Bundesgerichtshof die Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 39 EGV nicht nur „mitgedacht“, sondern die Richter haben in den nicht-tragenden Entscheidungsgründen ausdrücklich auf das gemeinschaftliche Freizügigkeitsgrundrecht und die Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Sache Bosman Bezug genommen.349 Die Grundfreiheit des Art. 39 EGV wird im Zusammenhang dieses Verfahrens von allen Beteiligten im Übrigen ohne weiteres wie ein Grundrecht gesehen und behandelt. Das ist ein Hinweis darauf, dass in bestimmten Konstellationen Art. 39 EGV den Gemeinschaftsgrundrechten näher zu stehen scheint als den anderen Grundfreiheiten. Die Gemeinschaftsgrundrechte sind daher in ihrer Struktur (und nach der hier vertretenen Auffassung auch in ihrer materiellen Geltung i. w. S.) vom Vorliegen des „grenzüberschreitenden Elements“ unabhängig. Anders als bei den Grundfreiheiten ist dieses „grenzüberschreitende Element“ kein konstituierendes Tatbestandsmerkmal, sondern lediglich eine in der Praxis sehr häufige Voraussetzung, um einen Rechtsstreit vom Gerichtshof entscheiden zu lassen. c) Die Schranken der Gemeinschaftsgrundrechte Die Gemeinschaftsgrundrechte gewähren für ihren jeweiligen Schutzbereich keinen absoluten Schutz. Der Einzelne muss unter bestimmten Umständen hinnehmen, dass in seine Freiheitssphäre eingegriffen wird. Der Gerichtshof hat in seinen Entscheidungen eine Systematik der Beschränkbarkeit der Gemeinschaftsgrundrechte entwickelt. Ein solcher Eingriff in ein Gemeinschaftsgrundrecht muss sich an den folgenden drei Voraussetzungen messen lassen: Zunächst muss der Eingriff durch ein dem Allgemeinwohl dienendes Gemeinschaftsziel gerechtfertigt sein (sog. Gemeinschaftsvorbehalt). Der Eingriff muss verhältnismäßig sein, er muss zur Zielerreichung geeignet, erforderlich und dem Zweck angemessen sein (Verhältnismäßigkeit als Schranken-Schranke). Zuletzt darf der Wesensgehalt des geschützten Grundrechts nicht in Frage gestellt werden (Wesensgehaltsgarantie).350 349 BGH v. 27.9.99, II ZR 305/98, in: NJW 1999, S. 3552 f., SpuRt 1999, S. 237; vgl.: Stopper, SpuRt 2000, S. 1, 3 f.; Gramlich, SpuRt 2000, S. 89, 92. 350 Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 25 f.; Schwarze, NJ 1994, S. 53, 57; Notthoff, RIW 1995, S. 541, 544, m. w. N. in Fn. 41; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Rn. 76 zu Art. 6 EUV, befürchtet eine Schwächung des Konzepts eines Wesensgehalts auf gemeinschaftlicher Ebene. Die Wesensgehaltsgarantie gelte nur für unverhältnismäßige Eingriffe und könne daher keinen über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hinausgehenden Schutz leisten.
C. Rechte außerhalb des Vertrags: Gemeinschaftsgrundrechte
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Die drei genannten Kern-Bestandteile dieser Grundrechtsprüfung sind durch den individualschützenden Normzweck der Grundrechte (sowie durch die Zweckmäßigkeit und letztendlich durch praktische Vernunftserwägungen) vorgegeben. Die grundsätzliche Übereinstimmung mit der Schrankensystematik der nationalen Grundrechte kann daher nicht überraschen. Von diesen nationalen Grundrechten unterscheidet sich die Schrankensystematik auf Gemeinschaftsebene allerdings – nach außen nicht stets sichtbar – durch die fehlende Rückanbindung der Eingriffsschranken an das Demokratieprinzip, wie es der Gesetzesvorbehalt in den Grundrechtsartikeln des Grundgesetzes zum Ausdruck bringt. Dieses Vakuum in der Dogmatik der Gemeinschaftsgrundrechte muss nach Ansicht der Literatur durch eine besondere Dogmatik auf Gemeinschaftsebene kompensiert werden.351 So will Pauly die Gemeinschaft strikt an die begrenzten Ermächtigungen der Gemeinschaftsziele gebunden sehen. Über diese Ziele sei dann – nach Art eines qualifizierten Gesetzesvorbehaltes – die Macht der Gemeinschaft zu kontrollieren, weil so die Rückanbindung an die souveränen Nationen über den Umweg der „Zielvorgaben“ wiederhergestellt wird.352 Die Ziele sollen mit anderen Worten die Gemeinschaftsorgane stets daran erinnern, dass sie nur „im Auftrag“ der vertragsschließenden Staaten unterwegs sind. Damit scheinen die Ziele, um derentwillen in die Gemeinschaftsgrundrechte eingegriffen werden darf, auf den Kanon der Vertragsziele festgelegt. Solche klassischen Gemeinschaftsziele sind die Schaffung des Binnenmarktes, das Funktionieren der einzelnen Marktordnungen, die Wirtschafts- und Währungsunion, zunehmend aber auch das Erarbeiten gemeinsamer Positionen in anderen Politikbereichen. Eingriffe in das Eigentum sind etwa zulässig, um das (Preis-) Gefüge bestimmter Agrarmarktordnungen aufrechtzuerhalten. Eine interessante Folgeüberlegung wäre an dieser Stelle, ob diese typischen Gemeinschaftsziele sich auch in ihrer Struktur von den Allgemeininteressen unterscheiden, wie sie aus den anderen Gemeinwesen (Staaten, Länder oder vergleichbare regionale Einheiten) vertraut sind. Fest steht offensichtlich, dass die Gemeinschaftsziele – wie das Gemeinschaftsrecht selber – dynamisch sind und „mitwachsen“. Bei der Schaffung des Binnenmarktes muss – in Anlehnung an das „Diffusionsmodell“, mit dem die verschiedenen Funktionen der Grundfreiheiten beschrieben worden sind – weiter unterschieden werden zwischen dem Erreichen des Ziels „Binnenmarkt“ und dem Beschleunigen der Entwicklung auf dieses Ziel hin. Das „Fördern“ eines politischen Projektes wie des Binnenmarkts kann ohne Zweifel ein Ziel sein, um dessentwillen ein Gemeinwesen von seinen Mitgliedern Opfer verlangen darf. Ob auch das Beschleunigen dieses Projektes 351 352
Pauly, EuR 1998, S. 242, 243, 247 „spezifische Dogmatik notwendig.“ Pauly, EuR 1998, S. 242, 262.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
einen Eingriff in eine Grundrechtsposition erlaubt, soll an dieser Stelle offen bleiben. Jedenfalls müssten die Gemeinschaftsorgane ein schützenswertes Interesse an einer bestimmten Geschwindigkeit der Zielerreichung nachweisen, weil etwa das Ziel insgesamt gefährdet wäre, wenn es nicht innerhalb eines bestimmten Zeitraums einen kritischen Punkt erreicht. Die oben genannten Kernbestandteile der gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsprüfung sind in Art. 52 Abs. 1 der Grundrechtscharta festgeschrieben worden. Damit hat sich die Gemeinschaft zugleich auch für eine Einheitsschranke für alle Grundrechte und gegen ein System von Einzelschranken entschieden, wie es aus den Art. 1 bis Art. 19 GG oder aus der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) bekannt ist. 3. Die Adressaten der Gemeinschaftsgrundrechte/Drittwirkung
Die Gemeinschaftsgrundrechte sollten zunächst den wachsenden Einfluss der Gemeinschaftsorgane auf die wirtschaftliche Tätigkeit der Unternehmen in den Mitgliedstaaten abfedern und deren Tätigkeit unter eine grundrechtliche Kontrolle nach gemeinschaftsweitem Maßstab stellen. Damit waren die Gemeinschaftsgrundrechte ganz unmissverständlich allein an die Organe der Gemeinschaft gerichtet. Die Mitgliedstaaten blieben weiterhin ausschließlich an ihre eigenen nationalen Grundrechte gebunden. a) Bindung auch der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte Es zeigte sich in der Folge, dass der gemeinschaftsweite Kontrollmaßstab der Gemeinschaftsgrundrechte zweckmäßigerweise nicht allein an den handelnden Organen festgemacht werden sollte, sondern an der Herkunft der belastenden Norm. Der EU-Bürger empfindet eine belastende Maßnahme, die auf Gemeinschaftsrecht zurückgeht, als Angriff „aus Brüssel“, auch wenn diese Maßnahme gegen ihn im Einzelfall nicht unmittelbar von einem Gemeinschaftsorgan, sondern von einem Mitgliedstaat – in Vollziehung des Gemeinschaftsrechts – erlassen wurde. Hinter diesen Überlegungen stehen nicht zuletzt der Grundsatz der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts und der Vorrang des Gemeinschaftsrechts. Der Gerichtshof hat daher seine Grundrechtsrechtsprechung in Einzelfällen auch auf solche Konstellationen ausgedehnt, in denen die Mitgliedstaaten für die Gemeinschaft tätig werden und für diese gemeinschaftsrechtliche Anordnungen vollziehen. Nach den Entscheidungen, die diese Erweiterung mit sich brachten, wird diese ausnahmsweise Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte im Schrifttum als Klensch- oder als Wachauf- Fallgruppe bezeichnet.353
C. Rechte außerhalb des Vertrags: Gemeinschaftsgrundrechte
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Eine weitere Fallgruppe hat sich im Anschluss an die Entscheidung Rutili herauskristallisiert.354 Ein in Frankreich lebender italienischer Staatsbürger war aufgrund seiner politischen Aktivitäten von der französischen Regierung mit einem (Teil-) Einreiseverbot belegt worden. Er sah darin eine unzulässige Einschränkung seiner aus Art. 39 EGV gewährten Arbeitnehmerfreizügigkeit. Der französische Staat hielt die Ausnahme vom Grundsatz der Freizügigkeit wegen der Rechtfertigungsgründe aus Art. 39 Abs. 3 EGV (öffentliche Sicherheit und Ordnung) für zulässig. Wann die öffentliche Sicherheit gefährdet sei und welche Maßnahmen ergriffen werden könnten, sei allein nach französischem Recht zu beurteilen. Die Ausnahmen von den Grundfreiheiten seien Sache der Mitgliedstaaten. Der Gerichtshof setzt genau an dieser Grenze zwischen Gemeinschaftsrecht (Grundfreiheiten) und mitgliedstaatlicher Rechtsordnung (die Ausnahmen von den Grundfreiheiten) an. Im Ergebnis unterstellt er diese Grenze der gemeinschaftsrechtlichen Kontrolle. Die Mitgliedstaaten müssen bei der Berufung auf einen der Ausnahmegründe die Gemeinschaftsgrundrechte beachten, wenn sie die Grundfreiheiten beschränken wollen.355 Mit dieser zweiten Fallgruppe hat der Gerichtshof den Anwendungsbereich der Gemeinschaftsgrundrechte noch einmal erheblich erweitert und auf ein ursprünglich fremdes Terrain ausgedehnt. Jeder Sachverhalt mit Bezug zu einer Grundfreiheit gibt nunmehr den Weg frei für eine Kontrolle mitgliedstaatlichen Handelns am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte. Dass er die Grenze zwischen gemeinschaftlicher Rechtsordnung und den einzelstaatlichen Rechtsordnungen gleichsam unter Aufsicht des Gemeinschaftsrechts gestellt hat, hat dem Gerichtshof zum Teil scharfe Kritik eingetragen. Damit sei er in einen Bereich vorgedrungen, der nach dem Vertrag klar den Mitgliedstaaten als „autonomer Bereich“ zugewiesen sei. In diesen Bereichen, die von den Grundfreiheiten gerade freigehalten werden 353
EuGH v. 13.7.1989, Rs. 5/88, „Wachauf“, Slg. 89, S. 2609, 2939, Rz. 19; EuGH v. 25.11.1986, verb. Rs. 201/85 und 202/85, „Klensch“, Slg. 86, S. 3477, 3507 f., Rz. 9 f.; EuGH v. 24.3.1994, Rs. C-2/92, „Bostock“, Slg. 94, S. 955, 983, Rz. 16; als Vorläuferentscheidung ist EuGH v. 11.7.1985, verb. Rs. 60/84 und 61/ 84, „Cinéthèque“, Slg. 85, S. 2605, 2627, Rz. 26 anzuführen; vgl. auch Borchardt, in Lenz, Rn. 35 zu Art. 220 EGV, m. w. N.; Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 191 ff.; Weiler, FS Pescatore, S. 821, 824 ff.; Weiler/Lockhart, C.M.L.R. 32 (1995) S. 579, 581 ff.; Clapham, Human Rights in the Private Sphere, S. 269 ff, 273 f; Jones, Bindung der Mitgliedstaaten, S. 64 f. 354 EuGH v. 28.10.1975, Rs. 36/75, „Rutili“, Slg. 75, S. 1219, 1232, Rz. 32. 355 Schneider, Öffentlich Ordnung als Schranke, S. 185 f., 193 f.; Jürgensen/ Schlünder, AöR 121 (1996) S. 200, 216 f.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Rn. 57 ff. zu Art. 6 EUV; Beutler, in GTE, Rn. 72 ff. zu Art. F EUV; vgl. auch die Kritik von Rengeling, Grundrechtschutz, S. 76, der zu Recht feststellt, dass von Grundrechten in „Rutili“ keine Rede ist, und der in diesem Zusammenhang die Schlussfolgerungen von Bleckmann, Europarecht, S. 269 in Frage stellt.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
sollten, sei der Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts nicht eröffnet. Für eine grundrechtliche Kontrolle durch den Gerichtshof fehle es bereits an dieser unverzichtbaren Vorbedingung.356 Im Übrigen werte der Gerichtshof die Grundrechte gegenüber den Grundfreiheiten ab, da – wenn man den Gerichtshof beim Wort nimmt – die „Grundfreiheiten im Lichte der Grundrechte“ auszulegen seien und damit die Grundrechte zu bloßen Interpretationshilfen herabgestuft würden. Unter dem Vorwand, den Grundrechtsschutz stärken zu wollen, benütze der Gerichtshof die Grundrechte, um seinen Einflussbereich in den Regelungsbereich der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen hinein auszudehnen.357 Nur vereinzelt wird dieser Schritt als Stärkung des Grundrechtsschutzes begrüßt und sogar die Frage aufgeworfen, ob sich die Grenze nicht noch weiter in den Kompetenz- und Regelungsbereich der Mitgliedstaaten hinein verschieben ließe. In Anlehnung an den Rahmen, den sich der Gerichtshof selber steckt, wird daher in diesem Zusammenhang davon gesprochen, dass die Gemeinschaftsgrundrechte ganz generell „im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ gelten sollen.358 Damit ist – auf den ersten Blick – die Begrenzung auf die Gemeinschaftsorgane als Adressaten vollständig aufgehoben. Auf den zweiten Blick führt diese Argumentation aber zur Rutili-Fallgruppe der Rechtsprechung zurück. Denn an dieser Stelle taucht der Streit um die „Ausnahmen von den Grundfreiheiten“ wieder auf. Wenn man diese Ausnahmen dem Gemeinschaftsrecht zuschlägt, gelten auch hier die Gemeinschaftsgrundrechte. Unterstellt man die Ausnahmen von den Grundfreiheiten ausschließlich dem einzelstaatlichen Recht, ist für die Gemeinschaftsgrundrechte kein Raum.359 Die Extremposition der Literatur möchte alle Sachverhalte unter den Schutz der Gemeinschaftsgrundrechte bringen, die potenziell von einer Gemeinschaftszuständigkeit erfasst werden können.360 Das wird zutreffend nach geltendem Recht als „uferlos“ abgelehnt. 356 Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 277, 283 „verdeckte Unitarisierung“; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 160 ff., 166; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Rn. 56 f. zu Art. 6 EUV; Beutler, in: GTE, Rn. 27 zu Art. F EUV „zuviel Bundesstaatlichkeit“; Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 28 „unzulässiger Qualitätssprung“. 357 Coppel/O’Neill, C.M.L.R. 29 (1992) S. 669, 692 „vehicle“; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Rn. 60 zu Art. 6 EUV „Transmissionsriemen“; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 166. 358 Jones, Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte, S. 61 f., 69, 157 mit Verweis auf Clapham, Human Rights in the Private Sphere, S. 269 ff., 273 f. und Weiler, FS Pescatore, S. 821, 824 ff. 359 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Rn. 56 f. zu Art 6 EUV, nach dessen Ansicht ein Bedürfnis für einheitliche Gemeinschaftsgrundrechte nur da bestünde, wo Maßnahmen der Gemeinschaft regierten. Die Ausnahmen von den Grundfreiheiten seien aber gerade keine gemeinschaftlichen Maßnahmen, sondern Reservat der Mitgliedsstaaten; Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 277, 283.
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Ein Nachteil dieses sehr „gemeinschaftsrechtsfreundlichen“ weiten Adressatenkreises ist zum einen eine gewisse Schwammigkeit und Beliebigkeit, die daraus für den Anwendungsbereich der Gemeinschaftsgrundrechte resultiert. Zum anderen sträuben sich die Mitgliedstaaten zu Recht gegen eine Einmischung in bestimmte gesellschaftlich sensible Lebensbereiche, die von einer gemeinschaftlichen Regelung bisher bewusst freigehalten wurden. Hier hätten die Staaten einen Ermessensspielraum (Verfassungsautonomie).361 Das betrifft vor allem die nicht-wirtschaftlichen Aspekte des menschlichen Lebens, siehe etwa das Dilemma des Gerichtshofs bei der Frage nach der Vereinbarkeit von Dienstleistungsfreiheit und Abtreibungsverbot in Irland in der Entscheidung SPUC/Grogan.362 Es bleibt daher im Ergebnis bei der grundsätzlich ausschließlichen Bindung der Gemeinschaftsorgane, angereichert um die beiden Fallgruppen Rutili und Klensch/Wachauf als – in der praktischen Wirkung recht weite – Ausnahmen von dieser Regel. Dass diese juristische Grenze die momentan politisch gewünschte Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten realistisch abbildet, zeigt die Grundrechtscharta, in deren Art. 51 Abs. 1 die Geltung der Grundrechte auf Akte der Gemeinschaftsorgane beschränkt und eine Ausnahme für die Mitgliedstaaten nur insoweit gemacht wird, als sie zur Durchführung von Unionsrecht tätig werden. Für die Frage des Grundrechtscharakters der Grundfreiheiten ist diese zunehmende Überschneidung des Anwendungsbereichs von Interesse, weil in den verschiedenen Adressatenkreisen ein klassisches Abgrenzungsmerkmal zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten gesehen wird. Zudem ergibt sich hier eine Gruppe von Fallkonstellationen, in denen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte unmittelbar aufeinandertreffen und die Aufschluss geben können über das Konkurrenzverhältnis der beiden Normen.
360
Jones, Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte, S. 69, 157. Weiler/Lockhart, C.M.L.R. 32 (1995) S. 579, 603 „Margin of discretion in absence of a uniform European conception of morals“. 362 EuGH v. 4.10.1991, Rs. C-159/90, „SPUC/Grogan“, Slg. 91, S. 4685, 4739 f., Rz. 20, 24 ff.; vgl. dazu das Schlusskapitel sowie: Weiler/Lockhart, C.M.L.R. 32 (1995) S. 51, 66 f., 79, 82, 579 ff., 603 oder Mager, JZ 2003, S. 204, 207, die in der Entscheidung EuGH v. 11.07.2002, Rs. C-60/00, „Carpenter“, den Versuch des Gerichtshofs sieht, eine Grundfreiheit (Art. 49 EGV) vorzuschieben, um den Anwendungsbereich der Gemeinschaftsgrundrechte zu erweitern und ein neues „Gemeinschaftsgrundrecht auf Achtung des Familienlebens“ zu etablieren. 361
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
b) Die Bindung Privater an die Gemeinschaftsgrundrechte (Drittwirkung) Zu einer möglichen Drittwirkung der Gemeinschaftsgrundrechte sind – mit Ausnahme der Entscheidungen zur Lohngleichheit, die gesondert besprochen werden – noch keine Entscheidungen des Gerichtshofs ergangen. Die Antworten der Literatur auf die Frage, ob die Gemeinschaftsgrundrechte auch im horizontalen Verhältnis zwischen einzelnen EU-Bürgern gelten, fallen entsprechend kurz und spekulativ aus. Die meisten Autoren halten es für wahrscheinlich, dass der Gerichtshof gegebenenfalls seine Grundrechtsrechtsprechung auch auf die horizontale Ebene der privatrechtlichen Beziehungen ausdehnen wird und diese horizontale Wirkung sich ohne Brüche in die bisherige Linie der Kasuistik einfügen ließe. Ausdrücklich zu einer solchen – noch unerkannt schlummernden – Drittwirkung bekennen will sich die Mehrzahl der Autoren aber offensichtlich nicht.363 Nur sehr vereinzelt wird die direkte Bindung der privaten Wirtschaftsteilnehmer an die Gemeinschaftsgrundrechte gefordert. Diese horizontale Wirkung der Grundrechte auf Gemeinschaftsebene sei aus der Systematik des Gemeinschaftsrechts zwingend ableitbar. Die Drittwirkungsrechtsprechung des Gerichtshofs zu den Grundfreiheiten, insbesondere die Walrave-Entscheidung, könne und müsse auf die Gemeinschaftsgrundrechte übertragen werden.364 Etwas ausführlicher erfolgt die Begründung einer indirekten Bindung von Privatpersonen und privaten Unternehmen an die Gemeinschaftsgrundrechte. Zu dieser indirekten Bindung gelangt die Literatur auf zwei verschiedenen Wegen, die beide an die deutsche Verfassungsrechtsprechung angelehnt sind. Es ist dies zum einen das Konzept der „grundrechtlichen Schutzpflichten“ und zum anderen die Lehre von der sogenannten „mittelbaren Drittwirkung“. Nach der Theorie von den grundrechtlichen Schutzpflichten verleihen die Gemeinschaftsgrundrechte dem Einzelnen einen Anspruch gegen den Hoheitsträger (Gemeinschaft, aber wohl auch Mitgliedstaaten) auf Schutz seiner grundrechtlichen Position.365 Wird diese grundrechtliche Position aus Richtung eines anderen Privaten bedroht oder beeinträchtigt, muss der Ho363 Borchardt, in: Lenz, Rn. 35 zu Art. 220 EGV „Frage der Drittwirkung ist noch offen, aber vorstellbar“; Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 245, Rn. 804 „noch ungeklärt“; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Rn. 63 zu Art. 6 EUV „noch nicht Stellung genommen, aber verzichtbar wegen Schutzpflichten“; Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 199 „noch offen“. 364 Etwas unklar bei Wetter, Grundrechtscharta, S. 100, 102. 365 Gersdorf, AöR 119 (1994) S. 400, 414 f.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Rn. 46 f., 47a, 48 zu Art. 6 EUV.
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heitsträger eingreifen und unter Umständen das Handeln des angreifenden Privaten begrenzen, so dass aus dessen Sicht die Gemeinschaftsgrundrechte eine freiheitsbeschränkende Wirkung haben, die einer Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte gleichkommt.366 Diese Art der Drittwirkung über die grundrechtlichen Schutzpflichten ist aus den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen bekannt und wurde im Zusammenhang mit den grundfreiheitlichen Schutzpflichten im vorangegangenen Kapitel näher beleuchtet. Die dogmatischen Überlegungen laufen hier zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten soweit ersichtlich ausnahmslos parallel. Die Überlegungen sind auf Seiten der Grundrechte bislang weitgehend akademisch.367 Vereinzelt wird eine solche Schutzpflichtenkonstruktion von vornherein für verfehlt gehalten, weil der Grundrechtsschutz – anders als der Grundfreiheitenschutz – dem Gemeinschaftsrecht nicht durch den Vertrag aufgegeben sei.368 Der zweite Weg, eine solche indirekte Verpflichtung von Privatpersonen durch die Gemeinschaftsgrundrechte zu erreichen, führt über den Begriff einer „objektiven Wertordnung“, wie sie im deutschen Verfassungsrecht aus der Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte“ bekannt ist. Der Grundgedanke lässt sich – mit Einschränkungen – auf das Gemeinschaftsrecht übertragen. So werden in der Literatur die Gemeinschaftsgrundrechte in eine „umfassende Grundrechtsordnung“ eingebettet, die den jeweiligen Entwicklungsstand einer europäischen Wirtschaftsgesellschaft abbilden soll.369 Diese Gleichsetzung trifft aber auf Bedenken. Das Netz 366
Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Rn. 47a zu Art. 6 EUV; u. a. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Rn. 47 ff. zu Art. 6 EUV, m.w.N; Gersdorf, AöR 119 (1994) S. 400, 411 sowie S. 403 mit Hinweis auf EuGH v. 2.2.1989, Rs. 186/87, „Cowan“, Slg. 89, S. 195, 221. Dort hat der Gerichtshof den Fall aber gerade nicht über eine gemeinschaftsgrundrechtliche Schutzpflicht, sondern über das grundfreiheitliche Diskriminierungsverbot in Verbindung mit den nationalen Schutzpflichten gelöst. Diese dürften dem Gast aus dem EU-Ausland nicht vorenthalten werden, ansonsten sei die Dienstleistungsfreiheit in Gefahr. Es wird hier die seltsam verzerrte, auf die Grundfreiheiten ausgerichtete Denk- und Argumentationsweise spürbar, wie etwa Coppel/O’Neill, C.M.L.R. 29 (1992) S. 669 ff. sie kritisieren. Als Lösung bietet sich hier an, eine grundrechtliche Funktion innerhalb der Grundfreiheiten anzunehmen. Dann spricht der Gerichtshof zwar von Grundfreiheiten, meint aber das Grundrecht auf Nichtdiskriminierung aus Art. 12 EGV; Duvigneau, Legal Issues 1998, S. 61, 72, der allerdings seit der Entscheidung „Young, James & Webster“ (NJW 1982, S. 2717) die Schutzpflichtentheorie in der Rechtsprechung des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs etabliert sieht. 368 Schilling, EuGRZ 2000, S. 4, 33 „Bei gemeinschaftlichen Grundrechten ist anders als bei den Grundfreiheiten eine wertende Rechtfertigung für die Konstruktion einer Schutzpflicht kaum ersichtlich. Es gehört beim derzeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts nicht zu den Aufgaben der Gemeinschaft, nach Art. 2 EGV sicherzustellen, dass die grundrechtlich verbürgten Freiheitsrechte auch eine effektive Rolle in der Verfassungswirklichkeit spielen“, m. w. N. 367
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
der Gemeinschaftsgrundrechte sei – anders als die Grundrechtskataloge der nationalen Verfassungen – gerade nicht „umfassend“. Die sachliche Begrenztheit der Gemeinschaftsrechtordnung ließe nach wie vor ganze (nichtwirtschaftliche) Lebensbereiche aus dieser „Ordnung“ herausfallen.370 Zudem warnen einige Stimmen vor einer unbedachten Hereinnahme der „neoliberalen“ marktwirtschaftlichen Axiome, die der liberalen – einseitig wirtschaftlich ausgerichteten – Binnenmarktordnung zugrunde liegen, in eine europäische Werteordnung mit weitergehendem Anspruch.371 Für zwei Gemeinschaftsgrundrechte „besonderer Art“ hat der Gerichtshof die unmittelbare Drittwirkung ohne weiteres bejaht. An den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz in seinen verschiedenen Ausprägungen bindet der Gerichtshof in seinen Entscheidungen auch private Arbeitgeber.372 III. Zusammenfassung: Gemeinschaftsgrundrechte als subjektive Rechte Die Gemeinschaftsgrundrechte sind ungeschriebenes primäres Gemeinschaftsrecht. Der Gerichtshof entwickelt die Gemeinschaftsgrundrechte fallweise als „allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts“ unter Berücksichtigung der „gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten“ und zunehmend auch der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK). Seit Ende des Jahres 2000 sind die Gemeinschaftsgrundrechte in der Grundrechtscharta schriftlich fixiert. Die Gemeinschaftsgrundrechte sind die Antwort des Gerichtshofs auf eine drohende Rechtsschutzlücke, die sich mit dem immer größer werdenden Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf alle Lebensbereiche für die Bürger im Binnenmarkt auftat. Der individualschützende Aspekt ist für die Gemeinschaftsgrundrechte prägend. Sie binden zunächst die Gemeinschafts369 Beutler, in: GTE, Rn. 89 zu Art. F EUV, der im selben Gedankenschritt eine unmittelbare Drittwirkung für die Gemeinschaftsgrundrechte mit Hinweis auf die „Fixierung“ dieser Grundrechte auf die Kontrolle gemeinschaftlicher Rechtsakte ablehnt. 370 Gersdorf, AöR 119 (1994) S. 400, 419. Das Argument stammt aus dem Kontext der EMRK-Grundrechte. Vgl. ähnliche Ansätze bei Bleckmann Europarecht 5. Aufl., Rn. 455; Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 200. 371 Poiares Maduro, E.L.J. 1997, S. 55, 64; Streit/Mussler, E.L.J. 1995, S. 5, 14 f.; Hepple, C.L.P. 48 (1995) S. 39, 41; Reich, E.L.J. 1997, S. 131, 132 f.; andere Autoren begrüßen ausdrücklich das liberale, deregulierende Potenzial der Grundfreiheiten, vgl. Stein, EuZW 2000, S. 337, 338. 372 Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 200; u. v. m. Vgl. dazu die Passagen zu Art. 12 und Art. 141 EGV unter D.
D. Die vertraglichen Gleichheitssätze als subjektive Rechte
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organe, dann auch die Mitgliedstaaten, soweit sie für die Gemeinschaft tätig werden (Fallgruppe Klensch/Wachauf) und soweit sie Ausnahmen von den Grundfreiheiten zulassen wollen (Fallgruppe Rutili). Fälle einer grundrechtlichen Drittwirkung sind noch nicht entschieden worden. Die Gemeinschaftsgrundrechte lassen sich, ähnlich den nationalen Grundrechten, in stärker objektiv-rechtlich geprägte Grundprinzipien, in Gleichheitsrechte und in stärker subjektiv-rechtlich ausgerichtete Abwehr- oder Freiheitsrechte einteilen. Für die vorliegende Untersuchung sind vor allem die Abwehrgrundrechte von Interesse. Auch von ihrer Struktur her sind diese gemeinschaftlichen Abwehrgrundrechte den nationalen Grundrechten ähnlich. In einen Schutzbereich darf nur eingegriffen werden, wenn dieser Eingriff dem (gemeinschaftlichen) Allgemeinwohl dient, wenn er verhältnismäßig ist und den Wesensgehalt des Grundrechts nicht in Frage stellt. Die Gemeinschaftsgrundrechte können auch in Fällen zum Tragen kommen, die auf rein nationalen Sachverhalten beruhen. Sie gelten grundsätzlich im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts. Dieser Bereich ist weiter als die Summe aller grenzüberschreitenden Sachverhalte. Der „Grenzübertritt“ oder das „grenzüberschreitende Element“ ist – anders als bei den Grundfreiheiten – kein unverzichtbares Tatbestandsmerkmal für die Gemeinschaftsgrundrechte. Die Integrität ihres Tatbestands (Schutzbereich) wird vom Fehlen eines „grenzüberschreitenden Elements“ nicht berührt. Die Gemeinschaftsgrundrechte existieren als „Standards“ auch außerhalb ihres Anwendungsbereichs weiter.
D. Die vertraglichen Gleichheitssätze als subjektive Rechte (Art. 12 und 141 EGV) Zu den subjektiven Rechten des Gemeinschaftsrechts zählen auch die Gleichheitssätze des EG-Vertrags. Jeder Einzelne kann vor Gericht vorbringen, dass eine ihn betreffende Maßnahme unter Nichtbeachtung eines gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbotes zustande gekommen ist. Dem Einzelnen steht ein Recht auf Gleichbehandlung zu. Wenn von Gleichheitssätzen gesprochen wird, ist damit immer auch das entsprechende Diskriminierungsverbot gemeint. Die beiden Begriffe (Gleichheitsgebot; Diskriminierungsverbot) umschreiben dasselbe logische Problem: In beiden Fällen sind bestimmte Differenzierungen nicht statthaft. Bei einigen dieser Rechtssätze hat es sich eingebürgert, von Diskriminierungsverboten zu sprechen. Bei anderen liegt es näher, den Ausdruck „Gleichheitssatz“ zu verwenden. Diskriminierungsverbote legen dabei einen
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
Akzent auf den Handelnden, der potenziell diskriminiert, während der Gleichheitssatz oder das Gleichheitsrecht stärker die Rechtsposition des „Zurückgesetzten“ im Auge hat. Da an dieser Stelle der Untersuchung die Eigenschaft der Rechtssätze als „subjektive Rechte“ im Vordergrund steht, bietet sich der Blickwinkel des Geschützten als Bezugspunkt an. Es ist daher im Folgenden in erster Linie von „Gleichheitssätzen“ und nicht von „Diskriminierungsverboten“ die Rede. Auch für die Gleichheitssätze lässt sich die Aufteilung in vertragliche und außervertragliche vornehmen. Ist die Rechtsnorm, die eine Gleichbehandlung sicherstellen soll, als Vorschrift in den Europäischen Verträgen enthalten, so gehört sie zu den vertraglichen subjektiven Rechten. Andernfalls ist sie als Case Law des Gerichtshofs Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung, ohne Teil der Vertragstexte zu sein. Im EG-Vertrag finden sich die sogenannten „speziellen“ oder „besonderen“ Gleichheitssätze. Das sind zunächst der Art. 12 EGV (Keine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit) sowie der Art. 141 EGV (Gleicher Lohn für Männer und Frauen) und der Art. 34 Abs. 2 Satz 2 EGV (Verbot der unterschiedlichen Behandlung innerhalb einer Gruppe landwirtschaftlicher Erzeuger). Daneben sollen auch die Art. 72 EGV (Verbot der Benachteiligung ausländischer Verkehrsunternehmen und Art. 294 EGV (Verbot der Benachteiligung ausländischer Gesellschafter bei Kapitalgesellschaften) an dieser Stelle genannt werden.373 Nicht zuletzt gehören auch die Grundfreiheiten in diese Auflistung der vertraglichen Gleichheitssätze. Das gilt insbesondere, wenn man sie wegen ihrer an- und ausgleichenden Grundfunktion als sachlich speziellere Ausformungen des Diskriminierungsverbots aus Art. 12 EGV versteht, wie das in den Ausführungen zur Dogmatik der Grundfreiheiten bereits deutlich geworden ist. Der gleichheitsrechtliche Gehalt der Grundfreiheiten ist im Zusammenhang der Erweiterung der Grundfreiheiten von Diskriminierungsverboten zu Beschränkungsverboten besprochen worden. An dieser Stelle sollen daher nur die Art. 141 EGV und 12 EGV – stellvertretend für die vertraglichen Gleichheitssätze – als subjektive Rechte vorgestellt und deren Verhältnis zu den Grundfreiheiten geklärt werden. Der „allgemeine Gleichheitssatz“ oder „allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz“ dagegen ist nicht Teil der Vorschriften des EG-Vertrags. Vom Gerichtshof als Grundsatz oder Grundprinzip des Gemeinschaftsrechts bezeichnet, zählt er zu den Gemeinschaftsgrundrechten, die als Richterrecht im Range des Primärrechts neben die Vertragsvorschriften treten.374 Das 373
Vormalige Art. 76 EGV und Art. 221 EGV. EuGH v. 19.10.1977, verb. Rs. 117/76 und 16/77, „Ruckdeschel“, Slg. 77, S. 1753, 1770, Rz. 7. 374
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Verhältnis dieses Grundrechts zu den im Vertrag verankerten spezielleren Gleichheitssätzen ist bei der Darstellung der Gemeinschaftsgrundrechte bereits kurz angesprochen worden. Da die Grenze zwischen den vertraglichen Gleichheitssätzen und dem „allgemeinen Gleichheitssatz“ in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu verschwimmen scheint, soll dieser außervertragliche Gleichheitssatz auch bei der folgenden Darstellung der vertraglichen Gleichheitssätze mit im Auge behalten werden. Wie die Darstellung der Dogmatik der Grundfreiheiten gezeigt hat, sind die Grundfreiheiten und das Diskriminierungsverbot des Art. 12 EGV sehr eng miteinander verwandt. Daher sind Überlegungen zu der Frage, ob Art. 12 EGV den Rang eines Grundrechts hat oder nicht, von Interesse für die Fragestellung dieser Arbeit. Das gilt insbesondere, wenn man sich der Auffassung anschließt, dass der (angebliche) Schritt vom Diskriminierungsverbot zum Beschränkungsverbot nur scheinbar die Struktur der Grundfreiheiten verändert hat, und dass die Grundfreiheiten auf ihre „gleichheitsrechtliche“ Funktion zurückzuführen sind. Die Vorschriften der Art. 12 und 141 EGV sind darüber hinaus interessante Modelle für allgemeinere Aussagen über Veränderungsprozesse bei Normstrukturen im Gemeinschaftsrechts. Art. 12 und 141 EGV befinden sich in einem recht fortgeschrittenen Entwicklungsstadium auf dem Weg von einer objektiven, instrumental-binnenmarktsteuernden Norm hin zu einer eindeutig grundrechtlichen Position. Zugleich sind sie im Grenzbereich zwischen vertraglicher geschriebener Vorschrift und Richterrecht angesiedelt. Diese Stellung auf „halbem Wege“ und im Grenzbereich ist denkbar auch ein Vorbild für die Grundfreiheiten. Die gehören zwar als elementarer Teil der Binnenmarktvorschriften unstreitig zum geschriebenen Recht. Zugleich haben sich aber teilweise die Inhalte der Grundfreiheiten in der Rechtsprechung des Gerichtshofs so verändert, dass sie richterrechtlichen Neuschöpfungen näher zu stehen scheinen als den ursprünglichen Ge- und Verboten, wie sie in den Textfassungen der Verträge zu finden sind. Falls – hypothetisch – für den Art. 12 und den Art. 141 EGV ein nahtloser oder stufenloser Übergang von der objektiven Lenkungsvorschrift zum Gemeinschaftsgrundrecht gelänge, dann spräche einiges dafür, auch die Metamorphose der Grundfreiheiten zu Grundrechten zuzulassen. Falls allerdings – das soll hier bewiesen werden – für die Art. 12 EGV und Art. 141 EGV die Kluft zwischen vertraglicher Vorschrift und den Gemeinschaftsgrundrechten nicht zuwächst, sondern der vertraglichen Vorschrift nur ein inhaltlich korrespondierendes Grundrecht zugeordnet wird (also eine Verdopplung eintritt), dann wäre das ein starkes Indiz dafür, auch für die Grundfreiheiten von einer solchen unüberwindbaren strukturellen Grenze zu den Gemeinschaftsgrundrechten auszugehen.
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I. Strukturelle Besonderheiten der gleichheitsrechtlichen Normen Beim Versuch, auch die Gleichheitsrechte in die Reihe der subjektiven Rechte einzuordnen und diese Rechtsposition dann auf die „Grundrechtshöhe“ zu untersuchen, muss der besonderen Struktur der Gleichheitssätze Rechnung getragen werden. Die erste Besonderheit ergibt sich aus der Angebundenheit eines Gleichheitssatzes an die – relative – Situation eines Vergleichs. So ist es nur bedingt möglich, den Inhalt der Rechtsposition, die ein Gleichheitsrecht zum subjektiven Recht macht, in derselben Weise zu umschreiben, wie das für Rechte gelingt, die einen Anspruch auf eine bestimmte Sache oder ein bestimmtes Tun oder Unterlassen verleihen. Dort ist der Gegenstand des Rechts ein „faktischer“. In den klassischen Kategorien eines Abwehrrechts entspricht ein bestimmtes tatsächliches Tun oder ein bestimmter tatsächlicher Zustand dem Schutzbereich. Ein anderes tatsächliches Tun ist der Eingriff. Über das Verhältnis dieser beiden „Handlungen“ trifft das Recht eine Aussage. Bei einem Gleichheitsrecht dagegen ergibt sich eine sinnvolle Aussage über den Gegenstand der rechtlich geschützten Position nur über den Gedankenschritt der Vergleichsgruppenbildung und den Vergleich des zu regelnden Sachverhalts mit einem – realen oder fiktiven – dritten Sachverhalt. Eine absolute Aussage ist nicht möglich. Das Bild vom räumlich vorgestellten „Frei-Raum“ lässt sich zum Verständnis eines Gleichheitsrechts nicht in gleicher Weise nutzbar machen. Zum Teil finden sich in der Literatur Ansätze, die versuchen, auch die Gleichheitssätze unter die einheitliche Dogmatik der Abwehrrechte – sachlich-gegenständlicher Schutzbereich und Eingriff – zu fassen.375 Das wird möglich, wenn das Recht, gleichbehandelt zu werden, als „Freiheit von der Willkür“ eines anderen oder als „Freiheit vom SchlechterbehandeltWerden“ gedacht wird.376 Eine Ungleichbehandlung ist dann als Eingriff in 375 Zuletzt etwa Hoffmann, Grundfreiheiten als Abwehrrechte, S. 21, 22 f., 34 ff., 38 f., der dort das grundfreiheitliche Diskriminierungsverbot als abwehrrechtliche Position aus Sicht des Geschützten konstruiert; Somek, E.L.J. 1999, S. 243, 245; Borchardt, NJW 2000, S. 2057, 2058 im Zusammenhang mit Art. 17 EGV und der Rechtssache „Martínez Sala“; zum Ganzen: Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 19 ff., 438 ff.; Epiney, in: Calliess/Ruffert, Rn. 1 ff., 37 zu Art. 12 EGV, m. w. N. 376 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 389, unter Verweis auf: Leibholz, Gleichheit vor dem Gesetz, S. 235, der von einem subjektiven Recht spricht, das „auf Unterlassung rechtswidriger Störungen der Rechtsgleichheit gerichtet“ sei; ähnlich auch Kloepfer, Gleichheit als Verfassungsfrage, S. 54 ff, zitiert nach Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 390 f., dort Fn. 91; Sachs, Zur dogmatischen Struktur der Gleichheitsrechte als Abwehrrechte, DÖV 1984, S. 411, 414 f.
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diesen Schutzbereich zu verstehen. Über die Vorteile und Schwächen eines solchen einheitlichen Ansatzes kann gestritten werden.377 Für die Frage nach der Zugehörigkeit der Gleichheitsrechte zu den subjektiven Rechten des Gemeinschaftsrechts sind diese Überlegungen im Ergebnis aber unerheblich. Sie sind subjektive Rechte, weil der Einzelne sich auf sie berufen kann und es nach der hier für diese Untersuchung gewählten weiten Definition des subjektiven Rechts im Gemeinschaftsrecht nur auf die Einklagbarkeit ankommt. Auch für den Grundrechtscharakter ist die „Vergleichsstruktur“ kein prinzipielles Hindernis, wie die Existenz von grundrechtlichen Gleichheitssätzen in allen Verfassungen der EU-Staaten zeigt. Die zweite strukturelle Besonderheit der Gleichheitssätze ist das Verhältnis des „allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes“ zu seinen speziellen Ausformungen in Form der „besonderen Gleichheitssätze“. Die genaue Grenzziehung zwischen den besonderen Gleichheitssätzen und dem übergeordneten allgemeinen Gleichheitssatz entzieht sich einer trennscharfen Darstellung.378 Relevant wird diese Besonderheit vor allem, wenn es darum geht, die Gleichheitssätze auf ihre Nähe zu den Grundrechten und auf ihre Übereinstimmung mit grundrechtlichen Eigenschaften hin zu überprüfen. Die Struktur als Gleichheitssatz als solche steht der Einordnung der gleichheitsrechtlichen Normen als Grundrechte nicht entgegen, wie etwa die Existenz des Art. 3 GG als eines der zentralen Grundrechte des deutschen Grundgesetzes zeigt. Alle nationalen Verfassungsordnungen und die Gemeinschaftsrechtsordnung selber kennen vergleichbare Grundrechte auf Gleichbehandlung.379 Die Schwierigkeiten ergeben sich erst, wenn es im Einzelfall darum geht, ob auch ein besonderer Gleichheitssatz Grundrecht sein kann. 377 Eine Schwäche dieses einheitlichen Ansatzes ist etwa die Verwässerung der Aussagekraft der Begriffe „Schutzbereich“ und „Eingriff“, die mit solchen mehrfach verschachtelten Definitionen zwangsläufig verbunden ist. Wenn ein Gleichheitsrecht als Abwehrrecht „Freiheit von der Ungleichbehandlung“ ist, dann wird diese Freiheit zu einem zweifach abstrahierten Begriff. Sowohl die Freiheit selbst, als auch das Objekt der Freiheit – die „Ungleichbehandlung“ – sind nur als Ergebnis eines Abstraktionsprozesses vermittelbar. Sie wäre damit noch schwerer gedanklich und sprachlich fassbar als die Freiheit von einem gegenständlich darstellbaren Tun oder Unterlassen, vor dem geschützt werden soll, das also in den bekannten Kategorien den Eingriff bildet; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 76, 82 f. versucht diese begrifflichen Schwierigkeiten zu umgehen, indem er vorschlägt, eine Diskriminierung nicht als „Eingriff in einen Schutzbereich“, sondern als „Beeinträchtigung einer Rechtsposition“ zu bezeichnen. 378 Vgl. Martin, R.T.D.E. 1995, S. 555, 596 „L’égalité de traitement, principe général de droit communautaire, est un principe à facettes multiples qui a recu des significations différentes, ou à tout le moins une portée plus ou moins extensive, selon les dispositions dans lesquelles il a recu une application spécifique“. 379 Siehe oben C. II. 1. zur Darstellung der verschiedenen Arten der Gemeinschaftsgrundrechte.
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Im Kontext des Gemeinschaftsrechts bringen sowohl Literatur als auch der Gerichtshof aus der Reihe der oben genannten besonderen Gleichheitssätze den Art. 141 EGV und den Art 12 EGV begrifflich und systematisch – zunächst vorsichtig gesagt – in die Nähe eines Grundrechts.380 Diese Annäherung geschieht allerdings vor allem in Fallkonstellationen, in denen der Gerichtshof die Art. 12 EGV und Art. 141 EGV nicht als solche anwendet, sondern diese Vorschriften als Platzhalter eines übergeordneten Rechtssatzes sieht. Die Art. 12 EGV und Art. 141 EGV werden in den entscheidenden Passagen als „Ausprägungen des allgemeinen Gleichheitssatzes“ bezeichnet.381 In diesen Fällen, in denen Gerichtshof oder Literatur von den Gleichheitssätzen als „Grundrechten“ oder „Grundprinzipien“ sprechen, scheinen die vertraglichen Gleichheitssätze als Grundlage der Entscheidung nicht auszureichen. Dafür bieten sich verschiedene Gründe als Erklärung an. So trafen im Einzelfall die in den Vertragsvorschriften niedergelegten speziellen Gleichheitssätze für sich genommen den Sachverhalt nicht voll, weil die Vergleichsgruppenbildung zu eng vorgegeben war. Möglicherweise hielt der Gerichtshof die vertraglichen Gleichheitssätze von der Durchsetzungskraft her für nicht hinreichend tragfähig und musste sie daher „aufbrechen“ und zu einem „allgemeinen Gleichheitsgrundsatz im Gemeinschaftsrecht“ erweitern.382 Den grundrechtlichen Charakter spricht der Gerichtshof also weniger den vertraglichen speziellen Gleichheitssätzen als vielmehr dem „allgemeinen Gleichheitsgrundsatz“ zu, der im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung entwickelt wurde. Von der Genese her ist dieser Gleichheitsgrundsatz deshalb ein „allgemeiner Rechtsgrundsatz“ und als solcher den Gemeinschaftsgrundrechten – dem ungeschriebenen Recht – mindestens ebenso nahe wie den vertraglich fixierten speziellen Gleichheitssätzen, die seine Geltung in
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Roth, FS Everling, S. 1231, 1240, der zwischen Art. 141 EGV als vertraglicher Vorschrift und dem „Gemeinschaftsgrundrecht des allgemeinen Gleichheitssatzes“ unterscheidet, das durch rechtsschöpferischen Akt aus dem Art. 141 Abs. 1 EGV hervorgegangen sei; Grabitz, in: Grabitz/Hilf, Rn. 22 zu Art. 7 EGV und EuGH v. 15.6.1978, Rs. 149/77, „Defrenne III“, Slg. 78, S. 1365, 1378 f., Rz. 26/ 29 „Grundrecht des Menschen“; Reich, E.L.J. 1997, S. 131, 136, 158 „One of the fundamental rights of the citizens is the right to non-discriminatory treatment“, m. w. N.; ausdrücklich als „Grundrechtsregelungen in den Gemeinschaftsverträgen“ bezeichnet Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 175, die Art. 12 EGV und Abs. 141 Abs. 1 EGV. 381 EuGH v. 19.10.1977, verb. Rs. 117/76 und 16/77, „Ruckdeschel“, Slg. 77, S. 1753, 1770, Rz. 7; EuGH v. 16.10.1980, Rs. 147/79, „Hochstrass“, Slg. 80, S. 3005, 3019, Rz. 7. 382 EuGH v. 19.10.1977, verb. Rs. 117/76 und 16/77, „Ruckdeschel“, Slg. 77, S. 1753, 1770, Rz. 7; EuGH v. 16.10.1980, Rs. 147/79, „Hochstrass“, Slg. 80, S. 3005, 3019, Rz. 7.
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bestimmten Sachbereichen und für bestimmte, vorgegebene Vergleichsgruppen normieren. Damit scheint sich auf den ersten Blick eine klare Lösung aufzudrängen. Die besonderen Gleichheitssätze wären überflüssig, wenn jede Ungleichbehandlung im Binnenmarkt über das Grundrecht des „allgemeinen Gleichheitssatzes“ beseitigt werden könnte. Das ist nicht der Fall, wie in der Entscheidung Defrenne III deutlich wird.383 Denn seine Allgemeingültigkeit bezahlt der „allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz“ mit dem Verlust der unmittelbaren Wirkung. Die unmittelbare Wirkung – und damit die Qualität als subjektive Rechte – steht nur den im Vertrag aufgeführten speziellen Gleichheitssätzen ohne weiteres zu. Für den allgemeinen Gleichheitssatz des ungeschriebenen Gemeinschaftsrechts muss die Frage wieder neu gestellt werden. Das geschieht mit der Begründung, die Vergleichsgruppen und damit der Anwendungsbereich dieser neuen, weiteren Gleichheitssätze seien (noch) nicht hinreichend scharf konturiert, um den „Test“ der unmittelbaren Wirkung zu bestehen. Die Kommentatoren, die die allgemeinen Gleichheitssätze zusammen mit den dazugehörigen speziellen vertraglichen Gleichheitssätzen unter deren Artikelnummer im Vertrag behandeln, unterscheiden daher in der Regel streng zwischen Aussagen, die sie zur unmittelbaren Wirkung des speziellen Gleichheitssatzes treffen, und Aussagen, die zur unmittelbaren Wirkung des allgemeinen Gleichheitssatzes gemacht werden.384 Diese Unterschiede in der „unmittelbaren Wirkung“ der Rechtssätze sind Hinweis darauf, dass es grundsätzlich sinnvoll ist, zwischen den speziellen Gleichheitssätzen und dem allgemeinen Gleichheitssatz zu trennen und die Fragen nach der Struktur und der Wertigkeit der Gleichheitssätze zunächst isoliert zu stellen. Dass diese Trennung nicht immer durchzuhalten ist, zeigen die folgenden Überlegungen. Von der Normstruktur her ist nur ein einziger, einheitlicher Gleichheitssatz vorstellbar. Dieser Gleichheitssatz ist die rechtlich relevante Ausfor383 EuGH v. 15.6.1978, Rs. 149/77, „Defrenne III“, Slg. 78, S. 1365, 1378 f., Rz. 26/29, 30/32. 384 Krebber, in: Calliess/Ruffert, Rn. 5 und Rn. 79 zu Art. 141 EGV, nach deren Ansicht der einzelne Arbeitnehmer aus dem allgemeinen Diskriminierungsverbot bei der derzeitigen Rechtslage kein subjektives Recht ableiten könne, weil dies allgemeine Gebot zu unbestimmt und daher nicht unmittelbar anwendbar sei. Für das Entgelt dagegen stünde die unmittelbare Anwendbarkeit spätestens seit der Entscheidung des EuGH vom 31.3.1981, Rs. 96/80, „Jenkins“, Slg. 81, S. 911, 925, Rz. 11 fest; vgl. auch Coen, in: Lenz, Kommentar, Rn. 2 zu Art. 141 EGV, der Art. 141 EGV für unmittelbar anwendbar hält. Zum allgemeinen Gleichheitssatz selber trifft Coen keine Aussage; wenn man tatsächlich die allgemeinen Gleichheitssätze für nicht unmittelbar anwendbar hielte, dann wären diese nach der hier vertretenen Definition auch keine subjektiven Rechte. Damit würde man sich wieder Schilling, EuGRZ 2000, S. 3, 27 f., und seinem „objektiv-rechtlichen“ Verständnis der Gemeinschaftsgrundrechte annähern.
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mung des Gerechtigkeitsgedankens. Nach diesem Gleichheitssatz in seiner reinsten Ausprägung sind alle Menschen als Menschen gleich. Entsprechend sind sie auch stets gleich zu behandeln. Diese absolute oder „blinde“ Gerechtigkeit steht einem religiös-philosophischen Satz deutlich näher als einem Rechtssatz. In der Wirklichkeit verändert sich dieser Gleichheitssatz rasch zu einer relativen Aussage. Alle Menschen erfahren dann dieselbe Behandlung solange, bis ein sachlicher Grund eine abweichende Behandlung rechtfertigt.385 Ohne auf den ideengeschichtlichen Hintergrund eingehen zu können, der mit dem Gerechtigkeitsbegriff untrennbar verbunden ist, sollen hier nur die „rechtstechnischen“ Implikationen dieser Abstufung von der absoluten zur relativen Gleichheit angesprochen werden. Mit dem „sachlichen Grund“ hält das Recht ein Steuerungsmittel in der Hand, das stufenlos die jeweilige Vorstellung von Gerechtigkeit in einen Rechtssatz übersetzt. An dieser Schnittstelle ist die rechtliche Einordnung der Norm in besonderer Weise offen für „weiche Faktoren“ wie Politik, Religion, Gesellschaft und für Werte, die über diese Größen transportiert werden. Rechtstechnisch erfolgt diese Steuerung zum einen über die Vorgabe bestimmter erlaubter oder verbotener Differenzierungskriterien und zum anderen durch eine Begrenzung des Gleichheitssatzes auf bestimmte Lebensbereiche. Dennoch bleiben diese „vorgesteuerten“ oder „zugeschnittenen“ Gleichheitssätze strukturell und funktionell Teil des „allgemeinen Gleichheitssatzes“. Die abgeleiteten Gleichheitssätze können nur typisieren und sind, je nach ihrem materiellen Gerechtigkeitsgehalt, näher oder weiter entfernt vom Charakter des allgemeinen Gleichheitssatzes als Grund- und Menschenrecht. Das soll die Darstellung einiger Gleichheiten und Ungleichheiten im Gemeinschaftsrecht verdeutlichen. Ein Beispiel für ein verbotenes Kriterium ist das Geschlecht. Wegen der Gleichheit von Mann und Frau hat das Kriterium – in den fünfzehn betroffenen Kulturkreisen – eine nahezu vollständige Tabuisierung erfahren. Eine Differenzierung darf nur noch in ganz wenigen Fällen auf den Geschlechterunterschied gestützt werden. Dass ein Beruf typischerweise für Männer oder typischerweise für Frauen besonders geeignet ist, reicht bei der Frage des Zugangs zu diesem Beruf nicht mehr aus. Nur für die Kampfschwimmereinheiten in der britischen Armee ist es der britischen Militärführung vor dem Gerichtshof gelungen, eine Eignung von Frauen pauschal auszu385 „Es sind niemals zwei menschliche Individuen oder menschliche Lebenssituationen in allen Hinsichten gleich“, BVerfGE 6, 273, 280; 13, 181, 202; 13, 225, 228; 50, 57, 77; 50, 177, 186; 53, 164, 178, vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 362, dort Fn. 22.; vgl. auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 363, nach dessen Auffassung es stets nur eine wertmäßige Gleichheit/Ungleichheit gebe. Eine universelle faktische Gleichheit/Ungleichheit existiere nicht.
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schließen.386 Für jemanden, der diskriminieren (im Sinne von differenzieren) möchte, ist der Begründungsaufwand für diese letzten möglichen Differenzierungen stark gestiegen.387 Zugleich zeigt dieses Beispiel aber auch unmissverständlich die historische Relativität des Umgangs mit dem verbotenen Differenzierungskriterium. Die Gleichheit zwischen Mann und Frau wird erst seit Anfang/Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts im europäischen Gedankengut als eine so grundlegende Selbstverständlichkeit angesehen, dass sie in den Rang eines Grund- und Menschenrechts eintritt. Vor einigen Jahrzehnten wäre ein vergleichbares Urteil auch in Westeuropa nicht vorstellbar gewesen. Mittlerweile scheint sich die Einsicht in die Gleichwertigkeit von Mann und Frau unabhängig von Kulturkreisen weltweit durchzusetzen. Anderes gilt für das Kriterium der Staatsangehörigkeit. Weltweit betrachtet sind die einzelnen Nationalstaaten weit davon entfernt, auf dieses Unterscheidungskriterium vollständig verzichten zu wollen. Der Hinweis auf die fremde Staatsangehörigkeit reicht für den nationalen Gesetzgeber häufig aus, um ohne weiteren Begründungsaufwand einen Fremden gegenüber einem eigenen Staatsbürger zu benachteiligen oder dem Fremden eine Leistung vorzuenthalten, die dem eigenen Staatsbürger gewährt wird. Innerhalb der Europäischen Union muss aber – mittlerweile – ein anderer Maßstab gelten.388 Nicht die Bevorzugung des eigenen Bürgers ist die Regel, sondern umgekehrt ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Angehörige aus einem EU-Nachbarstaat wie ein eigener Staatsangehöriger zu behandeln ist. Grund für diesen Verzicht auf das Unterscheidungskriterium der Staatsangehörigkeit ist vor allem der politische Wille der beteiligten Staaten, wie er in der Aufnahme des Diskriminierungsverbots (Art. 12 EGV) in die Gründungsverträge zum Ausdruck kommt. Zum anderen ist die Vermi386 EuGH v. 11.1.2000, Rs. C-285/98, „Kreil“, Slg. 00, S. 69 ff.; EuGH v. 26.10.1999, Rs. C-271/97, „Sirdar“, Slg. 99, S. 7403 ff. 387 Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 143, der vorschlägt, die Grundfreiheiten als „Begründungsverbote“ zu verstehen. Dem möchte ich an dieser Stelle die Idee der Grundfreiheiten als „Begründungsgebote“ entgegenstellen. Denn ein Schutz vor Diskriminierung kann auch über einen „Begründungszwang“ und über erhöhte Anforderungen an eine Begründung erreicht werden. Grundsätzlich gilt: Jede Einzelfallentscheidung ist ein zusätzlicher Kostenfaktor. Eine typisierende Betrachtung ist umso kostengünstiger, je gröber (simpler) das Unterscheidungskriterium gewählt ist. Über diesen Kostendruck durch den Zwang zur Begründung einer unterschiedlichen Behandlung übt ein Gleichheitssatz seine schützende Wirkung aus, weil es für den Entscheider unter Umständen günstiger ist, nicht zu diskriminieren, als aufwendig eine Diskriminierung zu begründen; Garronne, RTDE 1994, S. 425, 445; vgl. auch Kämmerer, EuR 2000, S. 102, 111 f. 388 Anders sieht das Wolf, JZ 1994, S. 1151, 1155. Dem Differenzierungsverbot Staatsangehörigkeit komme nicht jener fundamentale Gerechtigkeitsgehalt zu, der den Differenzierungsverboten des Art. 3 Abs. 2 und 3 GG zugrunde liege.
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schung der Lebensverhältnisse und des Arbeitsalltags in der Europäischen Union inzwischen so weit fortgeschritten, dass sich das gleichberechtigte Nebeneinander von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Dienstleistern aus allen fünfzehn EU-Staaten als Normalfall etablieren konnte. Einige der besonderen Gleichheitssätze des Gemeinschaftsrechts spezifizieren nur hinsichtlich des Unterscheidungskriteriums (Staatsangehörigkeit). Daneben tritt im Einzelfall eine sachlich-gegenständliche Begrenzung auf bestimmte Lebenssachverhalte. Beispiel ist hier erneut der Art. 141 Abs. 1 EGV, der die Gleichheit von Mann und Frau festschreibt. Diese Gleichheit ist ausdrücklich nur „Lohngleichheit“. Der Schutz vor Benachteiligung erfasst gerade nicht alle Lebensbereiche, nicht einmal alle Bereiche des Arbeitsalltags, wie Frau Defrenne schmerzlich erfahren musste.389 Ähnliches gilt für die Art. 72 und 294 EGV. Hier ist das Verbot des Kriteriums „Staatsangehörigkeit“ für ganz spezielle Sachverhalte (Kabotage, Kapitalbeteiligungen) nochmals ausdrücklich im Vertrag verankert worden. Ein letztes Beispiel ist Art. 34 Abs. 2 Satz 2 EGV, der das Diskriminierungsverbot speziell auf den Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik zuschneidet. Das verbotene Differenzierungsmerkmal wird hier offengelassen, eine Eingrenzung etwa auf „Staatsangehörigkeit“ o. ä. erfolgt nicht. Dafür darf aber ein Vergleich überhaupt nur zwei genau bezeichnete Personengruppen – Erzeuger und Verbraucher landwirtschaftlicher Erzeugnisse – einbeziehen.390 II. Das Verbot der Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit (Art. 12 EGV) als subjektives Recht 1. Einordnung des Art. 12 EGV als subjektives Recht
Im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts kann jeder einzelne Marktbürger vor Gericht unter Hinweis auf Art. 12 EGV verlangen, eine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit nicht hinnehmen zu müssen. Dem Verbot des Art. 12 Abs. 1 EGV kommt unmittelbare Wirkung zu. Art. 12 EGV verleiht dem Einzelnen ein subjektives Recht.391 Dass das 389 EuGH v. 15.6.1978, Rs. 149/77, „Defrenne III“, Slg. 78, S. 1365, 1278 f., Rz. 19/23, 24. Der Gerichtshof hatte zu Gunsten von Frau Defrenne versucht, den Begriff „Lohn“ möglichst weit zu fassen. Das ist ihm nur begrenzt gelungen. 390 Borchardt, in: Lenz, Kommentar, Rn. 81 f. zu Art. 34 EGV; Hix, in: Schwarze, Rn. 70 f. zu Art. 34 EGV. 391 Epiney, in: Calliess/Ruffert, Rn. 2 zu Art. 12 EGV m. w. N.; Holoubek, in: Schwarze, Rn. 14, 38 zu Art. 12 EGV; Störmer, AöR 123 (1998) S. 541, 560 f.; Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 265 f.
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Verbot seiner Struktur nach ein Gleichheitssatz ist, ändert an dieser Einordnung nichts. 2. Einordnung des Art. 12 EGV als Grundrecht
Obwohl der Gleichheitssatz des Art. 12 EGV das zentrale Problem der Gemeinschaft – die fünfzehn unterschiedlichen Staatsangehörigkeiten – in den Griff zu bekommen sucht und damit unfreiwillig fundamental und „allgemein“ ist, bleibt die Vorschrift nach richtiger Ansicht ein spezieller Gleichheitssatz, da mit der Staatsangehörigkeit das Kriterium vorgegeben ist, aufgrund dessen nicht unterschieden werden darf. Auf den Streit, inwieweit Art. 12 EGV „absolut“ gilt, d.h. inwieweit diese Vorgabe im Ergebnis jede Differenzierung nach dem Kriterium der Staatsangehörigkeit – auch aus sachlich gerechtfertigtem Grund – kategorisch ausschließt, soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden.392 Das logische Stufenverhältnis des allgemeinen Gleichheitssatzes zu seinen „speziellen Ausprägungen“ in bereichsspezifischen und kriterienspezifischen Gleichheitssätzen ist oben bereits dargestellt worden. Ähnlich wie bei Art. 141 EGV hat der Gerichtshof den speziellen Gleichheitsgrundsatz des Art. 12 EGV mit dem „allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts“ in Verbindung gebracht und damit eine grundrechtliche Komponente in den Art. 12 EGV hineingetragen bzw. eine solche grundrechtliche Komponente aus dem Art. 12 EGV heraus entwickelt.393 Auch in der Literatur wird der grundrechtliche oder grundrechtsähnliche Status des Diskriminierungsverbots aus Art. 12 EGV in der Regel ohne weiteres bejaht. Einige Autoren folgern den „grundrechtsähnlichen Charakter“ des Art. 12 EGV bereits aus dessen unmittelbarer Wirkung.394 Damit setzen sie den Grundrechtscharakter mit der – formellen – Einklagbarkeit gleich. Diese Art der Gleichsetzung ist für die vorliegende Untersuchung an anderer Stelle bereits als zu rascher Schluss abgelehnt worden.395 Denn über den Rückgriff auf das formale Kriterium der unmittelbaren Wirkung 392 Epiney, in: Calliess/Ruffert, Rn. 40 f. zu Art. 12 EGV, insb. den Streitstand in Rn. 14; Koenig/Harratsch, Europarecht, S. 274 f., mit Verweis auf: Kischel, EuGRZ 1997, S. 1, 5 f.; vgl. auch: Jaensch, Unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 256 f., dort Rn. 17 mit weiteren Nachweisen zu dieser Frage des relativen oder absoluten Verbots des Art. 12 EGV. 393 EuGH v. 19.10.1977, verb. Rs. 117/76 und 16/77, „Ruckdeschel“, Slg. 77, S. 1753, 1770, Rz. 7; EuGH v. 16.10.1980, Rs. 147/79, „Hochstrass“, Slg. 80, S. 3005, 3019, Rz. 7. 394 Epiney, in: Calliess/Ruffert, Rn. 2 zu Art. 12 EGV; Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 196 ff., 202. 395 Siehe oben A. II. 3. am Ende. Die Einklagbarkeit ist lediglich als eine Mindestvoraussetzung festgesetzt, um von subjektiven Rechten sprechen zu können. Die
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
ergibt sich zwar eine eindeutige Zuordnung der Norm zu den subjektiven Rechten des Gemeinschaftsrechts. Der Schritt vom „einfachen“ subjektiven Recht zum Grundrecht muss aber an weitergehenden, materiellen und außerhalb des rein rechtlichen Kontextes liegenden Merkmalen festgemacht werden. Dennoch kann es als starkes Indiz für den Grundrechtsstatus einiger dieser Gleichheitssätze angesehen werden, dass ihre Nähe zu grundrechtlichen Verbürgungen offensichtlich von vielen Kommentatoren unterstellt und ohne großen Begründungsaufwand angenommen wird.396 Gegen das Verständnis des Art. 12 EGV als Grundrecht spräche dagegen eine Lesart des Diskriminierungsverbots als reine wirtschaftssteuernde Programmnorm. Das klingt in Formulierungen der Literatur an, die in Art. 12 EGV in erster Linie das „Leitmotiv des EG-Vertrags“ sehen oder die etwa in der sogenannten „Vollintegration“ ein Konzept zur Schaffung des einheitlichen Marktraums über Art 12 EGV als Aus- und Angleichungsprogramm sehen.397 Der Art 12 EGV wird dann zu einer Art Algorithmus des Binnenmarktes. Diese Sichtweise blendet den Einzelnen weitgehend aus und ermöglicht eine stark volkswirtschaftlich geprägte Sicht auf die Vorgänge im Gemeinsamen Markt. Diese Überlegungen können praktisch relevant werden, wenn man die Frage nach einer Spürbarkeitsschwelle bei Art. 12 EGV stellt. Das Verbot des Art. 12 EGV gilt auch für minimale Diskriminierungen/Schlechterstellungen. Eine Spürbarkeitsschwelle kennt der Grundsatz der Inländergleichbehandlung offensichtlich nicht. Auch das spräche gegen einen grundrechtlichen Charakter, denn ein grundrechtliches Diskriminierungsverbot würde wohl erst bei Diskriminierungen greifen, die eine Ungleichbehandlung oberhalb einer Bagatellschwelle bedeuten.398
Frage der Grundrechtseigenschaft muss über weitergehende materielle, kontextuelle Argumente beantwortet werden. 396 Everling, in: FS Pescatore, S. 227, 236, 244, m. w. N.; Jacobs, in: Guild (Hrsg.), Legal Framework, S. 3, 5; Roth, FS Everling, S. 1231, 1241 mit Verweis auf: Grabitz, in: Grabitz/Hilf, Rn. 22 zu Art. 7 EGV, aus dem sich ergibt, dass Grabitz offensichtlich aus dem Grundrechtscharakter des Art. 12 EGV auf dessen Drittwirkung rückschließt; nicht ganz eindeutig bei Beutler, in: GTE, Rn. 34 zu Art. F EUV; a. A. Wolf, JZ 1994, S. 1151, 1155. 397 Epiney, in: Calliess/Ruffert, Rn. 1 zu 12 EGV und Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Rn. 1 zu Art. 6 EGV sprechen vom „Leitmotiv des Vertrages“; ähnlich: Somek, E.L.J. 1999, S. 243, 249 „The fundamental liberties were originally conceived of as equality rights proper“. Somek möchte das „equality principle“ zum Fundament einer gesamteuropäischen Verfassung machen; den Begriff „Vollintegration“ im Zusammenhang mit Art. 12 EGV verwenden etwa Pechstein/Bunk, EuGRZ 1997, S. 547, 548; Füßer, DÖV 1999, S. 96, 100. 398 Jaensch, Unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 253, 254 f.; für ein Spürbarkeitserfordernis offensichtlich von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Rn. 9 zu Art. 6 EGV.
D. Die vertraglichen Gleichheitssätze als subjektive Rechte
191
Für den Grundrechtscharakter des Art. 12 EGV spricht aber ganz entscheidend dessen enge Verknüpfung mit der Person des EU-Bürgers, der vor einer Diskriminierung aufgrund seiner Staatsangehörigkeit geschützt werden soll. Dieser (Haupt-)Begründungsansatz für einen grundrechtlichen Charakter des Art. 12 EGV verbirgt sich hinter der Frage, wie eng das verbotene Differenzierungskriterium „Staatsangehörigkeit“ im Rahmen des Art. 12 EGV verstanden wird. Ob darunter lediglich die Staatsangehörigkeit als juristische Kategorie, oder auch Herkunft, Wohnort, Muttersprache als Ausdruck einer Staatszugehörigkeit gefasst werden, kann in dem hier interessierenden Zusammenhang dahinstehen. Es steht mittlerweile übereinstimmend fest, dass jedenfalls nur solche Merkmale von Art. 12 EGV erfasst werden sollen, die erkennbar „personenbezogen“ sind.399 Das Kriterium der Staatsangehörigkeit bei Art. 12 EGV bewirkt so für den Schutz, den diese Vorschrift leistet, einen Zuschnitt auf den Marktbürger als Person, die ihre Persönlichkeit in der Regel nach wie vor stark mit ihrer Herkunft und mit der eigenen Staatsangehörigkeit verbindet. Damit ist eine Ungleichbehandlung, die an der Staatsangehörigkeit ansetzt, von vornherein potenziell grundrechtsintensiver als die Ungleichbehandlung von Waren oder Dienstleistungen. Den einzelnen Arbeitnehmer trifft eine Herabsetzung aufgrund seiner Herkunft stärker und tiefgehender als den Importeur eine Einfuhrkontingentierung. Eine solche Herabsetzung kann den Einzelnen in seinem personalen Achtungsanspruch verletzen.400 Das erklärt zugleich den hohen Symbolwert eines solchen Diskriminierungsverbots. Im Ergebnis kann beim momentanen Stand des Gemeinschaftsrechts daher – im Kontext der politischen und verfassungsrechtlichen „weichen Faktoren“ – dem Recht, nicht aufgrund seiner Staatsangehörigkeit herabgesetzt zu werden, in der Europäischen Union der Rang eines Grundrechts zugesprochen werden. Damit ist das Normprogramm des Vergleichs zwischen den einzelnen Teilmärkten zwar nicht insgesamt, aber doch für einen Kernbereich (Herabsetzung der Person) unter besonderen Schutz gestellt. Der grundrechtliche oder grundrechtsähnliche Schutz des Diskriminierungsverbots aus Art. 12 EGV gilt nicht für die gesamte Breite und Tiefe der 399 Epiney, in: Calliess/Ruffert, Rn. 14, 16 zu Art. 12 EGV, m. w. N.; Zuleeg, in: GTE, Rn. 4 zu Art. 6 EGV; Nicolaysen, EuR 1991, S. 95, 99; a. A. Reitmaier, Inländerdiskriminierungen, S. 92. 400 Forsthoff, EWS 2000, S. 389, 396, der ausdrücklich an dieser Stelle die Art. 12 EGV und Art. 141 EGV gleichsetzt. Auch in den Fällen der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts werde dieser personale Achtungsanspruch verletzt; ähnlich sieht das Körber, EuR 2000, S. 932, 950, der eine weite Drittwirkung der Grundfreiheiten, wie sie in „Angonese“ zum Ausdruck kommt, scharf ablehnt, persönliche Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit aber auch zwischen Privaten verbieten will; Milner-Moore, Accountability of Private Parties, S. 53 f., 98.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
Waren- und Personenbewegungen, über die eine Marktintegration erreicht werden soll. Art. 12 EGV garantiert nur für persönlichkeitsbezogene und schwere Verletzungen des Rechts auf Nicht-Diskriminierung einen grundrechtlichen Schutz. Hier deutet sich bereits ein entscheidender Unterschied zu den Grundfreiheiten an. 3. Das Verhältnis des Art. 12 EGV zu den Grundfreiheiten
Auch die Grundfreiheiten enthalten im Kern jeweils ein Diskriminierungsverbot, das – wie der Art. 12 EGV – die Benachteiligung aufgrund des Ausländerstatus’ im EU-Nachbarland verbietet. Der Umstand, dass eine Ware oder eine Dienstleistung über eine Grenze hinweg verkauft werden soll, darf nicht zu einer Erschwerung oder Verteuerung dieses Vorgangs führen. Die Grundfreiheiten regeln diesen Grundsatz der „Inländergleichbehandlung“ für ihre jeweils eigenen Sachbereiche entsprechend der in den Art. 28 f., 39, 43 und Art. 49 EGV genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten. Insoweit ein Sachverhalt sachlich in den Anwendungsbereich einer der Grundfreiheiten fällt, geht die speziellere Grundfreiheit dem Art. 12 EGV vor. Die Anwendung des Art. 12 EGV ist subsidiär.401 In der Praxis wird in den Entscheidungsgründen des Gerichtshofs der Art. 12 EGV allerdings häufig neben den Grundfreiheiten genannt.402 Damit tritt die streng logische Relation des Spezialitätsverhältnisses hinter einen gesamtheitlichen Ansatz zurück. Der Gerichtshof bindet die Grundfreiheiten offensichtlich gerne an einen allgemeinen „Grundsatz der Inländergleichbehandlung“ und damit ganz grundsätzlich an das Binnenmarktprojekt als solches an. An anderer Stelle bemüht sich der Gerichtshof dagegen wieder verstärkt, den Anwendungsvorrang der speziellen Diskriminierungsverbote der Grundfreiheiten vor Art. 12 EGV auch in der Systematik herauszustellen.403 Eine ganz eindeutige Linie ist für das Konkur401
Epiney, in: Calliess/Ruffert, Rn. 7 zu Art. 12 EGV; Jaensch, Unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 261; Störmer, AöR 123 (1998) S. 541, 552 f. m. w. N. 402 EuGH v. 7.7.1976, Rs. 118/75, „Watson und Belmann“, Slg. 1185, 1196 f., Rz. 5/6, 21/22, Leitsätze; EuGH v. 15.10.1987, Rs. 222/86, „Heylens“, Slg. 86, S. 4097, 4115 f., Rz. 9; EuGH v. 30.4.1970, Rs. 155/73, „ Sacchi“, Slg. 74, S. 409, 431 f., Rz. 19 ff.; EuGH v. 26.1.1999, Rs. C-18/95, „Terhoeve“, Slg. 99, S. 345, 390, Rz. 41, gegen das Votum des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer; EuGH v. 2.2.1989, Rs. 186/87, „Cowan“, Slg. 89, S. 195, 220, Rz. 14; EuGH v. 12.12.1974, Rs. 36/74, „Walrave“, Slg. 74, S. 1405, 1419, Rz. 16/19 (16); EuGH v. 6.6.2000, Rs. C-281/98, „Angonese“, Slg. 2000, S. 4139, 4171 f., Rz. 26, 30, 34 ff.; vgl. dazu Jaensch, Unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 162 m. w. N. 403 EuGH v. 13.4.00, Rs. C-176/96, „Lehtonen“, Slg. 00, S. 2681, 2730, Rz. 37, mit Verweis auf EuGH v. 14.7.1994, Rs. C-379/92, „Peralta“, Slg. 94, S. 3453,
D. Die vertraglichen Gleichheitssätze als subjektive Rechte
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renzverhältnis zwischen Grundfreiheiten und Art. 12 EGV nicht erkennbar.404 Für die Übertragbarkeit der Aussagen zu Art. 12 EGV auf die Grundfreiheiten ist weniger das Konkurrenzverhältnis, als vielmehr die Frage nach den Übereinstimmungen in der Struktur der Rechtsnormen von Interesse. Die Darstellung der Dogmatik der Grundfreiheiten hat gezeigt, dass auch die Grundfreiheiten der Struktur nach Gleichheitsrechte sind, selbst wenn sie unter der Bezeichnung „allgemeine Beschränkungsverbote“ gehandelt werden. Sie verbieten es, eine Sachverhaltskonstellation mit grenzüberschreitendem Bezug schlechter zu stellen als eine Sachverhaltskonstellation ohne grenzüberschreitenden Bezug. Dieses Verbot folgt derselben Logik wie das Verbot des Art. 12 EGV, der verhindert, dass ein fremder Staatsangehöriger schlechter gestellt wird als ein einheimischer Marktteilnehmer. Wenn Art. 12 EGV als „Leitmotiv“ des Binnenmarkts oder als ProgrammNorm der Integration angesehen wird, so deckt sich diese Funktion mit der Funktion der Grundfreiheiten, die genau diese Integration über eine An- und Ausgleichung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zum Inhalt haben.405 Die Normstruktur und die Wirkweise der „Grundfreiheiten als Grundgleichheiten“ stimmen daher mit der Struktur des Gleichheitsrechts aus Art. 12 EGV überein und können eine Unterscheidung der beiden Rechts3495, Rz. 18; vgl. auch die Schlussanträge Ruiz-Jarabo Colomer in der Sache Rs. C-18/95, „Terhoeve“, Slg. 99, S. 345, 360, Rz. 33 m. w. N. insb. auf die Entscheidungen EuGH v. 23.2.1994, Rs. C-419/92 „Ingetraut Scholz“, Slg. 94, S. 505, 520, Rz. 6; EuGH v. 17.5.1994, Rs. C-18/93, „Corsica Ferries“, Slg. 94, S. 1783, 1819 f., Rz. 19; EuGH v. 29.2.1996, Rs. C-193/94, „Skanavi und Chryssanthakopoulos“, Slg. 96, S. 929, 951, Rz. 20. 404 Einen eigenständigen Anwendungsbereich hat der Art. 12 EGV in den Fällen, in denen (zwar) das Gemeinschaftsrecht zuständig, eine Grundfreiheit tatbestandlich aber nicht einschlägig ist. Dieser Bereich ist vor allem wegen der Ausweitung der grundfreiheitlichen Schutzbereiche (passive Dienstleistungsfreiheit in „Cowan“ etc.) sehr eingeschränkt. Beispiele sind etwa Studenten und Rentner, vgl. Holoubek, in: Schwarze, Rn. 12 zu Art. 12 EGV; Streinz, Europarecht 4. Aufl. S. 244, umschreibt den eigenen Bereich des Art. 12 EGV als die Fälle, in denen die „Grundfreiheiten zwar berührt, aber nicht konkret tatbestandlich einschlägig“ seien. Das ist nach Streinz’ Ansicht bei solchen Bestimmungen/Maßnahmen der Fall, die sich in ihrer Zielrichtung nicht gegen eine bestimmte Grundfreiheit richten, sondern allgemein und unspezifisch die Ausübung der Grundfreiheiten behindern können; zum eigenständigen Anwendungsbereiches des Art. 12 EGV siehe auch EuGH v. 13.4.00, Rs. C-176/96, „Lehtonen“, Slg. 00, S. 2681, 1730, Rz. 37, m. w. N. 405 Epiney, in: Calliess/Ruffert, Rn. 1 zu Art. 12 EGV; Bogdandy, in: Grabitz/ Hilf, Rn. 1 zu Art. 6 EGV; Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, S. 266 „Diskriminierungsverbot als Ausfluss der Grundfreiheiten“, und umgekehrt „Grundfreiheiten als Emanation des Diskriminierungsverbots“ (S. 207); Somek, E.L.J. 1999, S. 243, 249.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
normen nicht rechtfertigen. Wenn der Art. 12 EGV grundrechtlichen Charakter hat, müssten demnach auch oder möglicherweise sogar „erst Recht“ die Grundfreiheiten zu den Grundrechten gezählt werden. In der Zuspitzung muss die Frage erlaubt sein, welches Interesse an einer ausführlichen isolierten Betrachtung des Art. 12 EGV besteht, wenn das Diskriminierungsverbot des Art. 12 EGV und die Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote identisch sind. Eine solche Identität der beiden Normen lässt sich aber nicht feststellen, auch wenn es wegen der gleichartigen Struktur und der gleichgerichteten Ratio auf den ersten Blick den Anschein haben kann. Die Abgrenzung des Art. 12 EGV gegen die Grundfreiheiten kann zwar nicht auf Ebene der Struktur erfolgen. Die Unterschiede liegen aber auf der Ebene der flankierenden „kontextuellen“ Eigenschaften der Rechtsnormen und damit – das ist für die vorliegende Untersuchung von Interesse – im Bereich von Merkmalen, die für die Bestimmung des Grundrechtsstatus’ relevant sind. Als erstes Unterscheidungsmerkmal ist die bereits angesprochene stärkere Ausrichtung des Art. 12 EGV auf die Person des Diskriminierten zu nennen. Eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit setzt an Merkmalen an, die mit der Persönlichkeit des Einzelnen (Herkunft, Sprache, Wohnort) untrennbar verknüpft sind. Diskriminierungen, die „weiter entfernt vom Persönlichkeitskern liegen“ und etwa Produkteigenschaften oder die Marktbedingungen betreffen, unter denen der Einzelne seine Arbeitskraft anbieten kann, fallen nicht unter das Verbot des Art. 12 EGV. Damit kommt es zu einer Abgrenzung in zwei Richtungen: Zum einen wird deutlich, dass die Personenverkehrsfreiheiten dem Art. 12 EGV näher stehen als die Produktverkehrsfreiheiten.406 Daneben ergibt sich ein Unterschied zwischen Art. 12 EGV und den Grundfreiheiten innerhalb des Begriffs der „Diskriminierung“. Der Art. 12 EGV lässt sich über die Intensität der Diskriminierung von den Grundfreiheiten scheiden: Eine Herabsetzung, die die Person als solche trifft, ist intensiver als eine Benachteiligung durch wirtschaftliche Rahmenbedingungen.407 406 Damit sind die Personenverkehrsfreiheiten auch einem Grundrechtsstatus spürbar näher als die Produktverkehrsfreiheiten. Zur Frage der Konvergenz der Grundfreiheiten, siehe oben B. II. 5.; vgl. auch Forsthoff, EWS 2001, S. 59, 61 f. 407 Mit diesen Überlegungen verbunden ist ein weiteres Mal das Konzept einer Spürbarkeitsschwelle. Während der Schutz des Art. 12 EGV nur bei Diskriminierungen ausgelöst wird, die von einer Person wirklich als diskriminierend empfunden werden, greift das Gleichbehandlungsgebot der Grundfreiheiten bei jeder denkbaren Benachteiligung (Mehrkosten) bis hinunter in den kaum mehr spürbaren Bereich voll durch. Alles was im Ergebnis zu einer Schlechterstellung führen kann, unterfällt dem materiellen Diskriminierungsbegriff und ist von den Grundfreiheiten verboten.
D. Die vertraglichen Gleichheitssätze als subjektive Rechte
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Die praktischen Auswirkungen dieser Unterschiede werden in der Literatur vor allem im Zusammenhang mit der Frage nach der Horizontalwirkung der Grundfreiheiten und des Diskriminierungsverbots nach Art. 12 EGV diskutiert. Jaensch zeigt am Beispiel der Drittwirkung, dass jedenfalls für Art. 28 EGV eine Identität mit Art. 12 EGV sich nicht nachweisen lässt.408 Zugleich schlägt er eine klare Funktionsteilung vor: Die Grundfreiheiten gelten für alles staatliche Handeln. Der Art. 12 EGV soll für diskriminierende Maßnahmen gelten, die von Privatpersonen ausgehen.409 Dem schließen sich die meisten Autoren an.410 Diese klare Zweiteilung bildet die Unterschiede zwischen Art. 12 EGV und den Grundfreiheiten sehr gut ab, ist aber mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht ohne weiteres zu vereinbaren. Der Gerichtshof hat die Drittwirkung ausdrücklich für die Grundfreiheiten festgestellt. Eine Entscheidung, in der der Gerichtshof „isoliert“ zur Drittwirkung des Art. 12 EGV Stellung bezogen hätte, fehlt bislang. In den Leitentscheidungen Walrave, Bosman oder zuletzt Angonese sind die privaten Wirtschaftsteilnehmer an die Grundfreiheiten „als Ausdruck des in Art. 12 EGV verankerten Diskriminierungsverbots“ gebunden worden.411 Der Gerichtshof hält der Form nach damit an den Grundfreiheiten als Anspruchsgrundlage fest, geht aber in der Sache von einer Anwendung des Art. 12 EGV – und damit eines Grundrechts – aus. Zuletzt wird eine Abgrenzung der grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbote gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 12 EGV an dem formalen Unterschied der nicht übereinstimmenden Rechtfertigungsgründe festgemacht. Das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 12 EGV sei im Wortlaut von den möglichen Rechtfertigungsgründen her „offen“ und nicht auf die staatengerichteten Rechtfertigungsgründe der Art. 30 S. 1 EGV und Art. 46 Abs. 1 EGV beschränkt.412 408 Jaensch, Unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 70, 253, 254 f., nach dessen Ansicht Art. 12 EGV auch für Privatpersonen gelte. Art. 12 EGV könne aus diesen Gründen anders bewertet werden als die Grundfreiheiten. 409 Jaensch, Unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 262. 410 Forsthoff, EWS 2000, S. 389, 395 f., der ebenfalls diese Unterscheidung treffen will: Direkte Diskriminierungen verpflichten auch Private, die sich aus dieser Verpflichtung in solchen Fällen auch nur sehr schwer befreien können. Mittelbare Diskriminierungen von Seiten Privater müssen dagegen hingenommen werden, da ansonsten zu stark in die Privatautonomie eingegriffen würde; dazu auch MilnerMoore, Accountability of Private Parties, S. 18, 53 f., 98; zweifelnd Holoubek, in: Schwarze, Rn. 25, 27 zu Art. 12 EGV; a. A. offensichtlich Zuleeg, in: GTE, Rn. 18 zu Art. 6 EGV. 411 EuGH v. 12.12.1974, Rs. 36/74, „Walrave“, Slg. 74, S. 1405, 1419 f., Rz. 16/ 19; EuGH v. 15.12.1995, Rs. 415/93, „Bosman“, Slg. 95, S. 4921, 5065 f., Rz 82 ff.; EuGH v. 6.6.2000, Rs. C-281/98, „Angonese“, Slg. 00, S. 4139, 4172, Rz. 32, 34 f.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
Als Ergebnis folgt aus diesen Beobachtungen: Auch wenn die Grundfreiheiten und der Art. 12 EGV in Struktur und Zielsetzung weitgehend gleichgerichtet sind, können das Gleichheitsrecht des Art. 12 EGV und die grundfreiheitlichen Gleichheitsgebote jedenfalls im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht vollständig gleichgesetzt werden. Die Unterschiede kommen insbesondere in dem für die Ausgangsfrage relevanten Bereich der Nähe zu „grundrechtlichen“ Merkmalen zum Tragen. Die Grundfreiheiten regeln die Aus- und Angleichung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für eine größere Anzahl von Fällen (auch minimale Nachteile lösen den Schutz der Grundfreiheiten aus), aber mit einer geringeren Schutzintensität (keine Horizontalwirkung, normierte Ausnahmen in Art. 30 EGV; CassisRechtsprechung). Die Diskriminierungsverbote in den Grundfreiheiten sind also lediglich teilidentisch mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 12 EGV. Nur für einen sich deckenden Kernbereich (Benachteiligung aufgrund des personenbezogenen Merkmals der Staatsangehörigkeit) lassen sich die Aussagen zu Art. 12 EGV als Grundrecht auf die Grundfreiheiten übertragen. III. Der Grundsatz der Lohngleichheit (Art. 141 Abs. 1 EGV) als subjektives Recht Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer in der Europäischen Union kann sich auf Art. 141 EGV berufen, um vom Arbeitgeber gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu verlangen. Eine unterschiedliche Entlohnung für Männer und Frauen ist im Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts verboten. Art. 141 Abs. 1 EGV ist wie Art. 12 EGV ein besonderer Gleichheitssatz. Während Art. 12 EGV die Nationalität als Differenzierungskriterium ausschließt, verwirft Art. 141 EGV die Geschlechtszugehörigkeit als unerlaubtes Differenzierungskriterium. Anders als bei Art. 12 EGV ist die Wirkung des Art. 141 Abs. 1 EGV allerdings auf einen eng umrissenen Anwendungsbereich beschränkt. Nur für die Entlohnung und die Arbeitsbedingungen, die unmittelbar mit der Entlohnung verbunden sind, kann Art. 141 Abs. 1 EGV seinen Schutz vor Benachteiligung entfalten. Für die allgemeinen Arbeitsbedingungen oder ganz generell für die Stellung von Mann und Frau in der Gesellschaft trifft Art. 141 Abs. 1 EGV keine Regelung. 1. Einordnung des Art. 141 Abs. 1 EGV als subjektives Recht
Art. 141 Abs. 1 EGV verleiht jeder Arbeitnehmerin und jedem Arbeitnehmer das Recht, sich vor Gericht gegen eine schlechtere Entlohnung auf412 Roth, FS Everling, S. 1231, 1242, insoweit zeige sich von der Normstruktur der Grundfreiheiten her ein gravierender Unterschied zu Art. 6 EGV; ihm folgend Jaensch, Unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 258, 262.
D. Die vertraglichen Gleichheitssätze als subjektive Rechte
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grund des Geschlechts zur Wehr zu setzen. Die Vorschrift hat unmittelbare Wirkung. Dass Art. 141 Abs. 1 EGV zu den subjektiven Rechten im EGVertrag gehört, wird von keiner Seite in Zweifel gezogen.413 Der Art. 141 Abs. 1 EGV hat – ähnlich den Grundfreiheiten – den Schritt von der rein objektiv-rechtlichen Norm, die gleiche Wettbewerbsbedingungen innerhalb des entstehenden Marktes sicherstellen sollte, zu einem mittlerweile unstreitig individualschützenden subjektiven Recht durchlaufen. Der instrumentale Ursprung als Wettbewerbsvorschrift ist in der gesetzestechnischen Ausgestaltung des Art. 141 Abs. 1 EGV nach wie vor erkennbar. Eine subjektive Berechtigung des Einzelnen ergibt sich aus dem Wortlaut nicht. Noch deutlicher als die Grundfreiheiten ist der Art 141 EGV von der Sprachform her nicht nur „passivisch“ und „neutral“ formuliert, sondern ganz klar allein an die Mitgliedstaaten gerichtet. Nach Art. 141 Abs. 1 EGV gilt, dass „jeder Mitgliedstaat die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts sicher[stellt]“. Das ist von der Normstruktur her ein Auftrag an die Staaten. Der Einzelne profitiert nur indirekt.414 Diese ersichtlich objektiv-rechtliche Form des Art. 141 Abs. 1 EGV hat den Gerichtshof in der Entscheidung Defrenne II aus dem Jahre 1976 nicht daran gehindert, in Art. 141 Abs. 1 EGV eine Vorschrift zu sehen, die dem einzelnen Marktbürger ein subjektives Recht verleiht. Frau Defrenne konnte ihren Anspruch unmittelbar auf Art. 141 EGV stützen.415 Das subjektive Element setzt sich damit über Herkunft und Form der Norm hinweg. Auch eine ausgesprochen objektiv formulierte Regel kann für den Einzelnen Quelle eines subjektiven Rechts sein. Der formale Normadressat ist im Kontext des Gemeinschaftsrechts kein entscheidendes Kriterium, um die Wirkung eines Rechtssatzes zu bestimmen.416
413 Coen, in: Lenz, Kommentar, Rn. 2 zu Art. 141 EGV, mit Hinweis auf EuGH v. 8.4.1976, Rs. 43/75, „Defrenne II“, Slg. 1976, S. 455, 476; aus der neueren Rechtsprechung EuGH v. 27.6.1990, Rs. C-33/89, „Kowalska“, Slg. 90, S. 2591 ff.; EuGH v. 7.2.1991, Rs. C-184/89, „Nimz“, Slg. 91, S. 291, 320, Rz. 17. 414 Die ursprüngliche Fassung des Art. 119 Abs. 1 EGV, „Jeder Mitgliedstaat wird während der ersten Stufe den Grundsatz des gleichen Entgelts (. . .) anwenden und in der Folge beibehalten“ bleibt an Schärfe hinter der Neufassung nach Amsterdam noch etwas zurück. 415 EuGH v. 8.4.1976, Rs. 43/75, „Defrenne II“, Slg. 76, S. 455, 476, Rz 40. Die belgische Stewardess Gabrielle Defrenne hatte – unstrittig – über mehrere Jahre weniger Lohn erhalten als ihr männlicher Kollege, der dieselbe Arbeit leistete. Ihre Klage auf den Differenzbetrag, die das belgische Arbeitsgericht dem Gerichtshof vorlegte, begründete sie u. a. auch mit dem Hinweis auf den Art. 141 EGV. 416 EuGH v. 8.4.1976, Rs. 43/75, „Defrenne II“, Slg. 76, S. 455, 475 f., Rz. 30 ff., 37; Schaefer, Unmittelbare Wirkung des Art. 30 EWGV, S. 141 f., 147 f.; Schlussanträge Trabucchi zu Rs. 43/75, „Defrenne II“, Slg. 76, S. 455, 488 f.
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Dieser Vorgang der „Subjektivierung einer Rechtsnorm des Gemeinschaftsrechts“ tritt bei Art. 141 Abs. 1 EGV besonders klar hervor und soll deshalb an dieser Stelle – als denkbares Modell für die Grundfreiheiten – zu einer weiter gehenden Überlegung überleiten.417 Die Loslösung von einem bestimmten Normadressaten erlaubt es, die Rechtsbeziehungen im Binnenmarkt nicht in erster Linie als Pflichten, sondern als Rechte abzubilden. Das ist zunächst lediglich ein Wechsel der Blickrichtung. Der Wechsel der Blickrichtung hat aber nach der hier vertretenen Auffassung Rückwirkungen auf die Struktur der Rechtsnormen. Ganz grundsätzlich gilt: Bestimmten Pflichten – an wen sie sich auch richten – entsprechen „auf der Gegenseite“ Vorteile oder Rechte anderer Marktteilnehmer, weil diese durch die Grenzen, die dem Verpflichteten aufgezeigt werden, Freiräume erlangen. Wenn jetzt von einer „Unerheblichkeit des Normadressaten“ gesprochen wird, verstärkt das die Eigenständigkeit dieser Rechte. In dem Maße, in dem der Adressat der Pflicht als „unerheblich“ in den Hintergrund gedrängt wird, gelangt das korrespondierende Recht zu einer eigenen, von der Pflichtenseite weitgehend losgelösten Existenz. Je klarer dieses Recht in einer eigenständigen Existenz hervortritt, umso enger wird seine Verknüpfung mit der Person des Berechtigten. Aus dieser stärker werdenden Verbindung des Berechtigten zu seinem Recht, ergibt sich in einem weiteren Gedankenschritt die Möglichkeit für den Berechtigten, die geschützte Position auch gegen weitere Beteiligte verteidigen, die möglicherweise ursprünglich nicht zu den In-die-Pflicht-Genommenen zählten.418 Deswegen kann es nicht überraschen, dass in der Entscheidung Defrenne II der Test für die unmittelbare Wirkung mit dem Test für die horizontale Wirkung des Art. 141 EGV zusammenfällt. Mit dem argumentativen Schritt, den Blick von den – oberflächlich, formal – verpflichteten Mitgliedstaaten weg auf die Arbeitnehmer als Träger eines subjektiven Rechts aus Art. 141 EGV zu lenken, war es dem Gerichtshof zugleich möglich, dieses Recht auch in den Rechtsbeziehungen zwischen Privaten gelten zu lassen.419 Interessanter Weise scheint dieser „Sprung“ von der Pflichten- auf 417
Das ist im Zusammenhang mit den grundfreiheitlichen Schutzpflichten bereits angesprochen worden, siehe oben B. II. 4. c). 418 Diese Abfolge wird im dritten Teil der Arbeit bei der Diskussion der Vor- und Nachteile eines grundfreiheitlichen oder grundrechtlichen Ansatzes von Bedeutung sein, vgl. dort die Abschnitte A. II. 3. und B. I. 2. a) sowie D. I. 419 EuGH v. 8.4.1976, Rs. 43/75, „Defrenne II“, Slg. 76, S. 455, 475 f., Rz. 30 ff., 38–39. Damit hatte der Gerichtshof in einem wichtigen Bereich des Gemeinschaftsrechts eine unmittelbare Bindung Privater an eine „grundrechtliche“ Norm festgeschrieben, ohne diesen Schritt ausdrücklich zu markieren, und ohne dass diese Ausdehnung in der Literatur eine ähnlich Aufmerksamkeit erlangt hätte wie etwa „Walrave“ oder „Doná/Mantero“. Dabei betreffen die Sachverhalte, auf die Art. 141 Abs. 1 EGV abzielt, gerade die Konstellationen, in denen sich typi-
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die Berechtigtenseite in den jeweiligen Entscheidungsgründen immer dann möglich, wenn der Gerichtshof Art. 141 EGV in seinem materiellen Gehalt aufwertet. In der Sache Defrenne wurde Art. 141 EGV zum einen als „Vorschrift mit zwingendem Charakter“ und als Ausdruck des „allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes im Arbeitsrecht“ bezeichnet.420 In der Sache Angonese wurde Art. 141 EGV in Fortführung dieser Rechtsprechung zu den „Vertragsvorschriften mit zwingendem Charakter“ gezählt und dessen Bindungswirkung auch für Private dann auf das Diskriminierungsverbot übertragen.421 Das leitet über zur Frage des Grundrechtscharakters des Art. 141 Abs. 1 EGV. 2. Einordnung des Art. 141 Abs. 1 EGV als Grundrecht
Der Art. 141 Abs. 1 EGV wird in Rechtsprechung und in Literatur regelmäßig mit den Begriffen „Grundrecht“ oder sogar „Menschenrecht“ in Verbindung gebracht.422 Das ist für das Rechtsgefühl vor dem Hintergrund des Menschenbilds, das den europäischen Demokratien zugrunde liegt, ohne weiteres nachvollziehbar. Der Gedanke der Gleichheit von Mann und Frau hat einen besonders hohen materiellen „Gerechtigkeitswert“. Das Unterscheidungsmerkmal scherweise Private als Arbeitgeber und Arbeitnehmer gegenüberstehen und in denen die Ungleichbehandlung von privater Seite droht. Es ist zu vermuten, dass die Drittwirkungsproblematik bei Art. 141 Abs. 1 EGV durch eine Reihe von Faktoren etwas verdeckt wurde. Zum einen ist das die stark entwickelte gesetzgeberische Tätigkeit auf Ebene des sekundären Gemeinschaftsrechts in diesem Bereich. Daneben ist in das Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis das soziale Machtgefälle in Ansätzen schon eingebaut, mit dem die Literatur nach „Walrave“, „Doná/Mantero“ die horizontale Wirkung zu erklären versucht hat. 420 EuGH v. 8.4.1976, Rs. 43/75, „Defrenne II“, Slg. 76, S. 455, 476, Rz. 38/39. 421 EuGH v. 6.6.2000, Rs. C-281/98, „Angonese“, Slg. 00, S. 4139, 4172, Rz. 34 f.; Streinz/Leible, EuZW 2000, S. 459, 462; Forsthoff, EWS 2000, S. 389, 394, 396; Körber, EuR 2000, S. 932, 945, 949, der den Erst-Recht-Schluss von der Defrenne-Rechtsprechung auf die Grundfreiheit des Art. 39 EGV für nicht zulässig hält. 422 EuGH v. 15.6.1978, Rs. 149/77, „Defrenne III“, Slg. 78, S. 1365, 1379, Rz. 25 ff. Der Hinweis auf die Entscheidung „Defrenne III“, in der vom Gerichtshof die Beseitigung der auf dem Geschlecht beruhenden Diskriminierungen zu den „Grundrechten des Menschen“ gezählt wird, ist mit einer für diese Untersuchung wichtigen Einschränkung zu versehen: Der Art. 141 Abs. 1 EGV wird vom Gerichtshof gerade nicht mit diesem Grundrecht gleichgesetzt, wie Rz. 19/23, 25 und Rz. 30/32 der Entscheidung zeigen; ähnlich Roth, FS Everling, S. 1231, 1240; unklar bei Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 147; Everling, in: FS Pescatore, S. 227, 236, 244 „Regelungen über die Gleichheit von Mann und Frau, bei denen aus Bestimmungen zur Angleichung von Kostenfaktoren grundrechtsähnliche bürgerliche Rechte entwickelt wurden“.
200
1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
des Geschlechts ist – mittlerweile – in den meisten Gesellschaften als ein grundsätzlich verbotenes Kriterium „geächtet“. Innerhalb der Gattung Mensch existieren keine Abstufungen hinsichtlich der Wertigkeit. Das gilt, wenn man es nicht aus der Gottesebenbildlichkeit ableiten möchte, als von der Natur vorgegebener überpositiver Rechtssatz. Das Gleichheitsrecht wird daher zu Recht als Grundrecht angesehen.423 a) Das Verhältnis von Art. 141 Abs. 1 EGV zum Grundrecht auf Gleichbehandlung Allerdings wird an dieser Stelle die – oben bereits skizzierte – Schwierigkeit deutlich, die besonderen Gleichheitssätze gegen den allgemeinen Gleichheitssatz abzugrenzen. Der grundlegende, und damit auch der grundrechtliche Charakter eines Satzes, der die Gleichwertigkeit von Mann und Frau sanktioniert, geht (möglicherweise) verloren, wenn ein Rechtssatz wie der Art. 141 Abs. 1 EGV diese Gleichwertigkeit nur für einen sehr begrenzten Ausschnitt des täglichen Lebens, die Arbeitswelt, und innerhalb dieser Arbeitswelt wiederum nur für einen Einzelaspekt, die Entlohnung, zum Prinzip erklären kann. Als Frage formuliert: Strahlt der Grund- und Menschenrechtscharakter des übergeordneten Gleichheitssatzes auch aus dem Fragment, das diese Gleichheit in einem kleinen, umgrenzten Raum gewährleistet? Oder führt die „kleine Münze“, in der der materielle Gerechtigkeitsgedanke hier ausgegeben wird, dazu, dass dem besonderen Gleichheitssatz ein grundrechtlicher Status gerade nicht zuerkannt werden kann? Dafür spräche insbesondere, dass die scharfe Eingrenzung des Bereichs, für den die Gleichheit propagiert wird, im Umkehrschluss den Weg für die Ungleichheit in den (weiten) Bereichen ebnet, die außerhalb des Anwendungsbereichs des besonderen Gleichheitssatzes liegen. Die Frage kann hier nicht abschließend erläutert werden. Sie erklärt aber möglicherweise die vorsichtigen Formulierungen, mit denen Gerichtshof und Literatur sich dem Grundrechtscharakter des Art. 141 EGV annähern. Die besondere Grenzlage des Art. 141 EGV zwischen vertraglicher Vorschrift und richterrechtlichem allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts findet ihren Niederschlag in den changierenden Begrifflichkeiten der kommentierenden Literatur. 423
Vgl. Forsthoff, EWS 2000, S. 389, 396 „Den Arbeitnehmer treffen Diskriminierungen seines Arbeitgebers, denen er in aller Regel nur schlecht ausweichen kann, nicht nur in seiner Eigenschaft als Wirtschaftsteilnehmer, sondern unmittelbar persönlich“; Coen, in: Lenz, Kommentar, Rn. 1, 3 zu Art. 141 EGV, der eine „menschenrechtliche Dimension der Vorschrift“ sieht und Art. 141 EGV wie Art. 12 EGV zu den Gemeinschaftsgrundrechten zählt; Sieveking, Liber Amicorum Norbert Reich, S. 483, 505.
D. Die vertraglichen Gleichheitssätze als subjektive Rechte
201
Ein echtes Nebeneinander der beiden Rechtssätze unter dem gemeinsamen Dach des Art. 141 EGV kann man etwa aus Einschätzungen herauslesen, die in Art. 141 EGV auch die Grundlage für die Annahme eines ungeschriebenen „allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichheitsgebots der Geschlechter“424 sehen, oder die von einer „Verankerung“ des ungeschriebenen arbeitsrechtlichen Gleichheitsgrundsatzes im (geschriebenen) Primärrecht sprechen.425 Zum Teil wird versucht, die Spannung durch den Hinweis auf ein evolutives Element aufzulösen. Solche Formulierungen sprechen dann davon, dass sich der Art. 141 Abs. 1 EGV selber zu einem echten Grundrecht fortentwickelt habe.426 Damit würde in Art. 141 EGV die Unterscheidung zwischen ungeschriebenen Gemeinschaftsgrundrechten und geschriebenen Vertragsvorschriften vollständig aufgehoben. Die Kategorie der vertraglichen subjektiven Rechte fiele dann an dieser Stelle mit der Kategorie der Gemeinschaftsgrundrechte zusammen. Eine Abgrenzung der beiden Kategorien voneinander würde gegenstandslos. Die Übertragung dieses Gedankens auf die Abgrenzung der Grundfreiheiten von den Gemeinschaftsgrundrechten liegt nahe. Ein solches konsequentes Auflösen der Kategorien zeichnet sich auch in den Kommentierungen ab, die Art. 141 Abs. 1 EGV ausdrücklich als Gemeinschaftsgrundrecht bezeichnen. Die Vorschrift selber werde um eine „menschenrechtliche Dimension“ angereichert, die neben die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Ziele trete.427 Diesen Vorstellungen von der Auflösung des Unterschiedes von Vertragsvorschrift und Gemeinschaftsgrundrecht schiebt der Gerichtshof in der Entscheidung Defrenne III einen Riegel vor. Dort stellt er klar, dass Art. 141 Abs. 1 EGV zwar als subjektives Recht unmittelbare Geltung habe, jedoch nur in seinen scharfen, vom Vertragswortlaut vorgegebenen Grenzen. Eine weitere und grundlegendere Schutzfunktion, wie etwa die generelle Gleichbehandlung von Mann und Frau, sei auf Ebene der Gemeinschaftsgrundrechte angesiedelt und von Art. 141 Abs. 1 EGV selber streng zu trennen. Wie streng der Gerichtshof diese Trennung durchführt, zeigte sich für Frau Defrenne auf schmerzliche Weise: Während in der Entscheidung der Art. 141 Abs. 1 EGV einschlägig war und sie damit unter Berufung auf diese Vorschrift den gleichen Lohn für die gleiche Arbeit durchsetzen 424
Krebber, in: Calliess/Ruffert, Rn. 1 zu Art. 141 EGV. Krebber, in: Calliess/Ruffert, Rn. 76 zu Art. 141 EGV. 426 Langenfeld/Jansen in: Grabitz/Hilf, Rn. 1 zu Art. 119 EGV; Everling, FS Pescatore, S. 227, 244. 427 Coen, in: Lenz, Kommentar, Rn. 1 und 3 zu Art. 141 EGV; Jürgensen/Schlünder, AöR 121 (1996) S. 200, 214; Everling, FS Pescatore, S. 227, 236, 244 „Aus Bestimmungen zum Ausgleich von Kostenfaktoren wurden grundrechtsähnliche bürgerliche Rechte entwickelt“; Everling, EuR 1989, S. 338, 345. 425
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
konnte, erklärte sich der Gerichtshof hinsichtlich der anderen, verbleibenden Ungerechtigkeiten für unzuständig. Die Gemeinschaftsgrundrechte könne er auf den rein belgische Sachverhalt nicht anwenden.428 Damit relativiert der Gerichtshof die Aussagen, die zum Grundrechtsstatus des Art. 141 Abs. 1 EGV und zur Veränderung der Wertigkeit der Vorschrift des Art. 141 Abs. 1 EGV gemacht werden können. Es wird deutlich, dass der Gerichtshof nicht bereit ist, die speziellen vertraglichen, binnenmarktsteuernden Vorschriften selbst zu Grundrechten zu erheben. Eine Evolution der Vertragsvorschriften zu Gemeinschaftsgrundrechten ließe sich durch diese Rechtsprechung nur schwer erklären. Der Gerichtshof tendiert vielmehr dazu, eine „parallele“ oder „korrespondierende“ Rechtsnorm zu erfinden oder in seinem Fundus der Gemeinschaftsgrundrechte aufzuspüren, um den Rechtsschutz – soweit möglich – ausschließlich auf Ebene seiner Grundrechte-Rechtsprechung zu gewährleisten. b) Die Anwendbarkeit des Art. 141 Abs. 1 EGV auf rein innerstaatliche Sachverhalte Eine weitere Besonderheit des Art. 141 Abs. 1 EGV ist in diesem Zusammenhang von Interesse: Art. 141 Abs. 1 EGV scheint Geltung auch für rein inländische Sachverhalte beanspruchen zu können. Das wäre ein starkes Indiz für einen grundrechtlichen Charakter, weil sich als ein Hauptunterschied zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten die abweichende Rolle des Merkmals „grenzüberschreitender Bezug“ erwiesen hat. Auch Fälle von geschlechtsbedingten Benachteiligungen, die auf „rein nationale“ Sachverhalte zurückgehen, können im Wege des Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 234 EGV vor den Gerichtshof gebracht und von diesem entschieden werden. Das zeigen etwa die drei Defrenne-Entscheidungen aus dem langjährigen Streit zwischen der belgischen Stewardess Gabrielle Defrenne und der belgischen Fluggesellschaft Sabena.429 In neuerer Zeit sind die Entscheidungen zur Aufnahme von Frauen in die Bundeswehr oder in die Britische Armee (Kreil und Sirdar) zu nennen.430 Der Art. 141 Abs. 1 EGV wirkt in diesen Konstellationen aus der Sphäre des Gemeinschaftsrechts direkt in die nationalen Rechtsordnungen hinein, ohne 428 EuGH v. 15.6.1978, Rs. 149/77, „Defrenne III“, Slg. 78, Rz. 19–23, 25, sowie Rz. 30–32. 429 EuGH v. 25.5.1971, Rs. 80/70, „Defrenne I“, Slg. 71, S. 8.4.1976, Rs. 43/75, „Defrenne II“, Slg. 76, S. 455 ff.; EuGH 149/77, „Defrenne III“, Slg. 78, S. 1365 ff. 430 EuGH v. 11.1.2000, Rs. C-285/98, „Kreil“, Slg. 00, S. 26.10.1999, Rs. C-271/97, „Sirdar“, Slg. 99, S. 7403 ff.
S. 1365, 1378 f., 445 ff.; EuGH v. v. 15.6.1978, Rs. 69 ff.; EuGH v.
D. Die vertraglichen Gleichheitssätze als subjektive Rechte
203
dass ein Element des jeweiligen Ausgangsrechtsstreits über die Grenzen des betreffenden Mitgliedstaates hinauswiese, wie es der Gerichtshof für die Grundfreiheiten ganz konsequent verlangt.431 Ein rein deutscher oder ein rein britischer Rechtsstreit, bei dem die Beteiligten auch nicht die ernsthafte Absicht nachweisen, demnächst eine Grenze überqueren zu wollen, oder zu einem früheren Zeitpunkt eine Grenze überquert zu haben, würde vom Gerichtshof als „unzulässig“ nicht zur Entscheidung angenommen, wenn es um Grundfreiheiten ginge.432 Anderes gilt offensichtlich für das Recht aus Art. 141 Abs. 1 EGV. Nur vereinzelt wird in der Literatur die für die Grundfreiheiten typische Einschränkung auf grenzüberschreitende Sachverhalte auch auf das subjektive Recht aus Art. 141 EGV übertragen und entsprechend dem Arbeitnehmer nur in einem grenzüberschreitenden Sachverhalt ein Anspruch auf gleiches Entgelt zugestanden.433 Der Gerichtshof scheint eine solche Beschränkung bei Art. 141 Abs. 1 EGV nicht zu kennen.434 Weder in der Sache Kreil noch in der vergleichbaren britischen Sache Sirdar scheint die Tatsache, dass es sich hier ersichtlich um rein innerstaatliche Sachverhalte handelte, eine Rolle für die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts und damit für die Zulässigkeit der Vorlage gespielt zu haben. Die Tatsache, dass Frau Kreil und Frau Sirdar als Angestellte in den Anwendungsbereich der Gleichstellungsrichtlinie fielen, überdeckte die Tatsache, dass jegliches grenzüberschreitende Moment in beiden Fällen fehlte.435 Der Weg zur Zuständigkeit ist nach Ansicht des Gerichtshofs offenbar der folgende: Das 431 Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 183; Streinz, Europarecht, S. 334; Weis, NJW 1983, S. 2721,2723; Szczemkalla, DVBl. 1998, S. 222, 222, der den Art. 141 EGV und die wettbewerbsrechtlichen Vorschriften als Beweis dafür heranziehen will, dass der Anwendungsbereich des Vertrages nicht vor rein innerstaatlichen Sachverhalten Halt macht. Der nötige grenzüberschreitende Bezug der Grundfreiheiten könne an deren grundrechtlicher Qualität schwerlich etwas ändern; siehe oben B. II. 1. a) aa) sowie C. II. 2. b). 432 Zuletzt EuGH v. 21.10.1999, Rs. C-97/98, „Jägerskiöld“, Slg. 99, S. 7319, 7345 f., Rz. 42 bis 45; EuGH v. 16.2.1995, verb.Rs. C-29/94 bis C-34/94, „Aubertin u. a.“, Slg. 95, S. 301, 316, Rz. 9; EuGH v. 23.1.1986, Rs. 298/84, „Iorio“, Slg. 86, S. 247 ff., u. v. m. 433 Krebber, in: Calliess/Ruffert, Rn. 21 zu Art. 141 EGV, nach dessen Ansicht der Art. 141 EGV nur die Frage regele, wann einem Arbeitnehmer in einem grenzüberschreitenden Sachverhalt ein Anspruch auf gleiches Entgelt zustehe. 434 Jedenfalls nicht für den Art. 141 EGV und die Entgeltgleichheit als Kernbereich als Vertragsvorschrift. Für das Grundrecht auf „Geschlechtergleichbehandlung“ hält er sich aber für rein belgische Sachverhalte nicht für zuständig, vgl. die oben angesprochene Entscheidung des EuGH v. 15.6.1978, Rs. 149/77, „Defrenne III“, Slg. 78, S. 1365, 1379, Rn. 30/32. 435 EuGH v. 11.1.2000, Rs. C-285/98, „Kreil“, Slg. 00, S. 69 ff.; EuGH v. 26.10.1999, Rs. C-271/97, „Sirdar“, Slg. 99, S. 7403 ff.; Richtlinie 76/207/EWG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
streitige Rechtsverhältnis ist ein Beschäftigungsverhältnis, also greift die Richtlinie, damit auch grundsätzlich das Gemeinschaftsrecht und die Gemeinschaftsgrundrechte. Eine Ausnahme für militärische Ziele hätte vom Mitgliedstaat begründet werden müssen, was in den genannten Fällen Kreil und Sirdar nicht gelang.436 Diese Überlegung findet eine erste Stütze bereits darin, dass der Gerichtshof in seiner Antwort ohne Umschweife auf die Richtlinien als anwendbares Recht zurückgriff und seine Erwägungen sich damit auf einem „sehr eng durchnormierten Kerngebiet des Gemeinschaftsrechts“ bewegen konnten. Der Bereich der Lohngleichheit ist seit den siebziger Jahren von der Gemeinschaft besetzt und mit gemeinschaftlichen Normen überformt worden, so dass dieser sachliche Bereich – unabhängig von dem „Grenzübertritt“ – als typisch gemeinschaftlicher Bereich akzeptiert ist und daher dem Gemeinschaftsrecht und dem Gerichtshof nicht streitig gemacht werden kann.437 Diese Überlegung muss sich allerdings vorhalten lassen, dass auch im Bereich der Freizügigkeit eine ausgeprägte und starke sekundärrechtliche Normierung erfolgt ist. Trotz der vielen Verordnungen und Richtlinien zu der Arbeitnehmerfreizügigkeit und den anderen Grundfreiheiten verzichtet der Gerichtshof hier nicht auf das Erfordernis des grenzüberschreitenden Elements, bevor er die Berufung auf eine Grundfreiheit gestattet. Weitere „kontextuelle“ Gründe für die binnenstaatliche Geltung des Art. 141 Abs. 1 EGV könnten auf der Ebene der politisch-juristischen Kräfteverhältnisse des Gemeinschaftsrechts gesucht werden. Der Gerichtshof muss nicht mit einem übertrieben harten Widerstand von Seiten der Staaten rechnen, wenn er den Art. 141 EGV in rein nationale Verfahren „injiziert“. Im Falle der Grundfreiheiten dagegen muss er auf die große Sorge der Mitgliedstaaten Rücksicht nehmen, die die externe Einflussnahme (gesellschaftliche Grundentscheidungen und Wertmaßstäbe) über das Vehikel der Grundfreiheiten fürchten.438 Im Gegensatz zu den „sich öffnenden FlutFrauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsausbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen. 436 Kämmerer, EuR 2000, S. 102 ff.; Stein, EuZW 2000, S. 213, 214; Stahn, EuGRZ 2000, S. 121 ff.; Sieberichs, NJW 2000, S. 2565, 2566; u. v. m. 437 Vgl. Streinz, Europarecht 4. Aufl., S. 335, Rn. 914; Weiler/Alston, Jean Monnet Working Paper 1/99, S. 15 „In some fields, unchallenged Community competences which underpin legislation also coincide with a classic fundamental right – such as the right to freedom of movement, acces to employment and Art. 141 TEC establishing the principle that men and women have the right to receive equal pay for equal work and for work of equal value“; Duvigneau, Legal Issues of European Integration 1998, S. 61, 71. 438 Simm, Der Gerichtshof im föderalen Kompetenzkonflikt, S. 74 „Die Urteile zum primärrechtlich vorgesehenen Recht auf Lohngleichheit betreffen überdies weniger einen „vertikalen“ Interessenkonflikt zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten als vielmehr das Verhältnis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern
D. Die vertraglichen Gleichheitssätze als subjektive Rechte
205
toren“ der Grundfreiheiten wirkt sich die Verpflichtung des Art. 141 EGV wesentlich weniger einschneidend auf das gewachsene Niveau und die Wertvorstellungen der arbeitsrechtlichen Regelungen einer nationalen Rechtsordnung aus. Der Anpassungsdruck bleibt rechtsordnungsimmanent. Es reicht aus, die eigenen einheimischen Arbeitnehmerinnen auf das Niveau der einheimischen Arbeitnehmer zu heben. Ein Abgleich mit weiteren, von außen kommenden Normen ist nicht notwendig, um dem Normbefehl des Art. 141 EGV Folge zu leisten. Zugespitzt formuliert heißt das, die britische Rechtsordnung hat weniger Angst vor den Forderungen britischer Frauen, als vor den Forderungen deutscher oder französischer Arbeitnehmer.439 Möglicherweise ist es aber tatsächlich die Nähe zum Grund- und Menschenrecht, die diesem Grundsatz der Lohngleichheit eine solche inhaltliche Überzeugungskraft verleiht und die inzwischen in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten als so etabliert und unumstößlich gilt, dass bereits aus diesem Grund von Seiten der Mitgliedstaaten kein Protest gegen eine innerstaatliche Geltung der gemeinschaftlichen Vorgabe zu erwarten ist. Das wäre ein wertvolles kontextuelles Argument. Dieser Annahme stehen allerdings erneut die Entscheidungsgründe in der Sache Defrenne III entgegen. Dort scheiterte die Berufung auf den allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichheitssatz an der fehlenden unmittelbaren Wirkung im rein belgischen Rechtsstreit.440 Über die engen Grenzen des Art. 141 Abs. 1 EGV hinaus scheint ein allgemeiner Grundsatz der Gleichheit von Mann und Frau noch nicht so selbstverständlich zu sein, dass er – ohne die nötigen Umsetzungsschritte – unmittelbar geltendes Recht innerhalb der Gemeinschaft wäre. Zugleich wird deutlich, dass der Gerichtshof an seiner Überzeugung, die Gleichbehandlung von Mann und Frau als Grund- und Menschenrecht zu werten, keinen Zweifel lässt. Das Grundrecht existiert also auf Ebene des Gemeinschaftsrechts, unabhängig von der Möglichkeit, es im konkreten Fall zur Anwendung bringen zu können.441 Ein weiterer denkbarer Erklärungsversuch für die Binnenwirkung geht in eine entgegengesetzte Richtung und setzt beim Ursprung des Art. 141 EGV als Wettbewerbsvorschrift an. Der Grundsatz der Lohngleichheit sollte Verdesselben Mitgliedstaates“; Garronne, La discrimination indirect en droit communautaire: vers une théorie générale, RTDE 1994, S. 425, 447. 439 Das sind nicht zuletzt Kosten- und Umverteilungsfragen. Bei der Angleichung der Arbeitsverhältnisse nach Art. 141 Abs. 1 EGV bleiben – aus Sicht der gewählten Regierungen vorteilhaft – die Mehraufwendungen zumindest im Land. 440 EuGH v. 15.6.1978, Rs. 149/77, „Defrenne III“, Slg. 78, S. 1365, 1378 f., Rz. 30–32. 441 Siehe oben B. II. 1. a) aa) und C. II. 2. b) die Darstellung der unterschiedlichen Funktion, die das Tatbestandsmerkmal des grenzüberschreitenden Bezugs für die Grundfreiheiten und die Gemeinschaftsgrundrechte übernimmt.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
zerrungen zwischen den einzelstaatlichen Märkten verhindern. Ähnlich wie bei den Grundfreiheiten in ihrer ursprünglichen Funktion als „Gleichbehandlungsgrundsätze“ ist wegen der „vergleichenden“ Wettbewerbssituation zwischen den einzelnen nationalen Arbeitsmärkten der grenzüberschreitende Bezug (und damit die Zuständigkeit des Gerichtshofs) in eine solche Vorschrift wie den Art. 141 EGV von vornherein eingebaut. 3. Das Verhältnis des Art. 141 Abs. 1 EGV zu den Grundfreiheiten
Die Grundfreiheiten zielen auf die Beseitigung der Nachteile, die einem EU-Bürger dadurch entstehen, dass sein wirtschaftliches Handeln über Grenzen hinweg stattfinden soll. Der Status als Fremder darf idealer Weise keine nachteilige Wirkung für den EU-Bürger zeitigen, der im Binnenmarkt wirtschaftlich tätig wird. Anders dagegen die Zielrichtung des Art. 141 EGV. Auch hier geht es um die Verhinderung von Ungleichbehandlungen. Diese Ungleichbehandlung bleibt allerdings innerhalb der Landesgrenzen. Über Art. 141 Abs. 1 EGV soll verhindert werden, dass die Geschlechtszugehörigkeit einer Arbeitnehmerin oder einem Arbeitnehmer zum Nachteil gereicht.442 Die unterschiedliche Zielrichtung ist der Grund dafür, dass das Verhältnis des Art. 141 Abs. 1 EGV zu den Grundfreiheiten nicht, wie das bei Art. 12 EGV möglich war, als Identität oder auch nur als Teilidentität ausgedrückt werden kann. Der Art. 12 EGV und die Grundfreiheiten decken sich in ihrem Kern-Regelungsziel. Beide verbieten die „Fremdheit“ als Anknüpfungspunkt für eine Unterscheidung. Das ist bei Art. 141 Abs. 1 EGV und den Grundfreiheiten gerade nicht der Fall. Ein förmliches Spezialitätsverhältnis kommt wegen der fehlenden Überschneidung nicht in Betracht. Wenn nach dem „Verhältnis“ des Art. 141 Abs. 1 EGV zu den Grundfreiheiten gefragt wird, kann mit dem Begriff „Verhältnis“ demnach nur ein informelles logisches Verhältnis gemeint sein, d.h. der Versuch einer Einschätzung, inwieweit sich Aussagen über einen Gegenstand A (Art. 141 EGV) auf einen zweiten Gegenstand B (Grundfreiheiten) übertragen lassen. Ein solches Verhältnis ist etwa die bereits angesprochene Vorbild- oder Modellfunktion des Art. 141 Abs. 1 EGV für die Grundfreiheiten. Der Grundsatz der Lohngleichheit bewegt sich in einem – nicht genau bestimmbaren – Zwischenstadium zwischen wettbewerbsrechtlich inspirierter geschriebener Binnenmarktvorschrift und einem ungeschriebenen Gemein442 Mittelbar steht auch hier wieder der Vergleich zwischen den einzelnen Teilrechtsordnungen hinter dieser Vorschrift, weil durch die Regelung auf Gemeinschaftsebene auch erreicht werden soll, dass sich kein Land über eine diskriminierende Lohnpolitik Wettbewerbsvorteile verschafft.
D. Die vertraglichen Gleichheitssätze als subjektive Rechte
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schaftsgrundrecht typisch richterrechtlicher Prägung. Vergleichbares gilt für die Grundfreiheiten. Für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit – den möglichen Grundrechtscharakter der Grundfreiheiten – ist eine weitere aufschlussreiche Verknüpfung von Art. 141 Art. 1 EGV mit den Grundfreiheiten der ErstRecht-Schluss, wie er in der Rechtssacht Angonese ausdrücklich angesprochen wird.443 Dort wollte der Gerichtshof ein privates Unternehmen an die Beachtung der Grundfreiheit des Art. 39 EGV binden. Die übliche Berufung auf Walrave schien dem Gerichtshof an dieser Stelle alleine nicht tragfähig genug zu sein, so dass er zusätzlich auf die Formulierung aus Defrenne II verwies, die Vertragsvorschriften „mit zwingendem Charakter“ – wie etwa das Diskriminierungsverbot – auch zwischen Privaten für anwendbar erkläre. Möglicherweise sind es die unterschiedlichen Sachverhalte, die den Gerichtshof an der Tragfähigkeit der Walrave-Formel zweifeln lassen. Walrave betraf nicht zwei gleichberechtigte Private, sondern einen Monopolisten und einen Arbeitnehmer, der diesem Monopolisten nicht entkommen konnte. Die private Bank, die Herrn Angonese nicht zum Auswahlverfahren zulassen wollte, war von einer solchen Monopolstellung weit entfernt. Wenn nun bereits der Art. 141 EGV eine horizontale Wirkung habe, so der Gerichtshof, dann müsse erst Recht der Art. 39 EGV eine solche horizontale Wirkung haben. Denn in Art. 39 EGV sei eine Grundfreiheit formuliert. Der Art. 39 EGV sei zudem eine Spezialvorschrift des allgemeinen Diskriminierungsverbotes aus Art. 12 EGV.444 Die Arbeitnehmerfreizügigkeit wird folglich vom Gerichtshof als „grundlegender“ und „zwingender“ als der in Art. 141 EGV verankerte Grundsatz des arbeitsrechtlichen Diskriminierungsverbotes eingestuft. Wenn bereits dieser Grundsatz als Grundrecht und als „menschenrechtsähnlich“ bezeichnet wird, müsste eine solche Qualifikation umso mehr auch für die Grundfreiheit des Art. 39 EGV gelten. Zugleich wird deutlich, dass dieser Erst-Recht-Schluss weniger den Art. 39 EGV als solchen im Auge hat, sondern gleichsam „durch den Art. 39 EGV hindurch“ auf den allgemeinen Gleichheitssatz zielt, der sich im Kern der Grundfreiheiten mit Art. 12 EGV deckt. In Randziffer 36 des Urteils Angonese stellt der Gerichtshof das noch einmal klar. Nur das Diskriminierungsverbot sei so zwingend und grundlegend, dass auch Privatleute sich ihm nicht entziehen können.
443 EuGH v. 6.6.2000, Rs. C-281/98, „Angonese“, Slg. 00, S. 4139, 4172, Rz. 34 f.; Streinz/Leible, EuZW 2000, S. 459, 462; Forsthoff, EWS 2000, S. 389, 394,396; Körber, EuR 2000, S. 932, 945, 949. 444 EuGH v. 6.6.2000, Rs. C-281/98, „Angonese“, Slg. 00, S. 4139, 4172, Rz. 34 f.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht 4. Zusammenfassung: Vertragliche Gleichheitsrechte als subjektive Rechte
Die vertraglichen Gleichheitssätze des Gemeinschaftsrechts sind – unabhängig von ihrer jeweiligen Formulierung als Verbot bestimmter Ungleichbehandlungen – in der Rechtsprechung des Gerichtshofs und in der Literatur als subjektive Rechte auf „Gleichbehandlung“ bzw. „Freiheit von bestimmten Diskriminierungen“ ausgestaltet. Der Einzelne kann sich vor Gericht auf diese Vorschriften berufen. Das Recht, nicht aus Gründen der Staatsangehörigkeit diskriminiert zu werden, wie es in Art. 12 EGV festgeschrieben ist, hat beim momentanen Stand des Gemeinschaftsrechts und unter den gesellschaftlich-weltanschaulichen Rahmenbedingungen in der Europäischen Union den Rang eines Grundrechts. Da die Grundfreiheiten mit Art. 12 EGV teilidentisch sind, soweit sie im Kern ein Verbot der Herabsetzung des EU-Bürgers aufgrund seines Fremdenstatus’ enthalten, lässt sich diese Wertung „anteilig“ auf die Grundfreiheiten übertragen. Die Übertragung gelingt nur, soweit diese Teilidentität besteht. Der „überschießende“ weitergehende Regelungsgehalt der Grundfreiheiten, d.h. der Ausgleich auch geringfügiger, nicht personenbezogener Mehrkosten aufgrund der Marktzersplitterung, ist von diesem abgeleiteten Werturteil gerade nicht erfasst. Die Grundfreiheiten erscheinen demnach nur im Kern als Grundrechte. Auch die subjektiv-rechtliche Position der einzelnen Arbeitnehmerin und des einzelnen Arbeitnehmers, nicht aufgrund des Geschlechts einen geringeren Lohn hinnehmen zu müssen, wird in der Europäischen Union als so grundlegend und vom Menschenbild „vorgegeben“ angesehen, dass dieses Gleichheitsrecht als Grund- oder sogar Menschenrecht klassifiziert wird. Die exakte Zuordnung des Attributs „grundrechtlich“ zu dem besonderen vertraglichen Gleichheitsrecht des Art. 141 Abs. 1 EGV wird allerdings erschwert und überlagert durch das ungeklärte Verhältnis der speziellen vertraglichen Gleichheitssätze zum „allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts“, als dessen spezielle Ausprägung der Art. 141 Abs. 1 EGV angesehen wird. Der „allgemeine Gleichheitsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts“ gehört unbestritten zu den Gemeinschaftsgrundrechten. Für seine „speziellen Ausformungen“ ist der grundrechtliche Charakter fraglich, wenn die Gleichheit nur noch für eng begrenzte Sachbereiche garantiert wird. Im Fall des Art. 141 Abs. 1 EGV ist die Gleichheit beschränkt auf die Entlohnung. Sie gilt nicht für die allgemeinen Arbeitsbedingungen oder für andere Lebensbereiche außerhalb des Arbeitsverhältnisses. Eine mögliche Deutung dieses Verhältnisses des ungeschriebenen allgemeinen Gleichheitssatzes zu den geschriebenen Art. 12 EGV, Art. 34 EGV und Art. 141 EGV wäre ein „Herauswachsen“ des Grundrechts aus den zu-
E. Art. 18 Abs. 1 EGV als subjektives Recht
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nächst begrenzteren, dafür aber auch präziseren Vertragsvorschriften in den Fällen, in denen die Situation im Einzelfall es nötig und gerecht erscheinen lässt, den materiellen Schutz zu erweitern. Damit würde die Grenze zwischen vertraglichen Binnenmarktvorschriften und richterrechtlichen Gemeinschaftsgrundrechten aufgelöst. Die Vertragsvorschriften änderten ihre Struktur zu Grundrechten. Das scheint bei Art. 12 EGV der Fall zu sein. Eine zweite entgegengesetzte Lesart scheint dagegen das Vorgehen des Gerichtshofs bei Art. 141 Abs. 1 EGV besser abzubilden (Defrenne III). Hier bleibt der spezielle Gleichheitssatz des EG-Vertrags in seinen Merkmalen als nicht-grundrechtliche „einfache“ Vertragsnorm unverändert. Eine Schutzintensivierung – etwa die Horizontalwirkung oder die Ausweitung des sachlichen Anwendungsbereichs – wird erreicht, indem der Gerichtshof bei Bedarf auf Ebene der Gemeinschaftsgrundrechte ein „Parallelgrundrecht“ schafft, das inhaltlich im Wesentlichen dem speziellen vertraglichen Rechtssatz entspricht. Diese Erklärungsmodelle lassen sich möglicherweise auf das Verhältnis der Grundfreiheiten (als vertragliche „speziellere“ Binnenmarktvorschriften) zu den Gemeinschaftsgrundrechten übertragen.
E. Art. 18 Abs. 1 EGV als subjektives Recht Bereits dem Wortlaut nach echte subjektive Rechte sind die Art 18 ff. EGV, die mit der Änderung der Verträge nach „Maastricht“ unter der Überschrift „Die Unionsbürgerschaft“ in das Anfangskapitel des EG-Vertrags aufgenommen wurden.445 In Art. 18 Abs. 1 EGV ist das „Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten (. . .) frei zu bewegen und aufzuhalten“ für jeden Unionsbürger festgeschrieben. Diese Formulierung – ohne den weiten Vorbehalt mitzulesen, der sich hinter den Auslassungszeichen verbirgt – entspricht der Formulierung eines Grundrechts im Sinne eines Freiheitsrechts. Die anderen Artikel sind nicht ganz so offensichtlich als freiheitliche Abwehrrechte gestaltet, verleihen aber ebenfalls subjektive Rechte. Nach Art. 19 Abs. 1 EGV hat jeder Unionsbürger in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohn445
Art. 17 EGV selbst enthält kein subjektives Recht. Die Vorschrift führt den Begriff „Unionsbürgerschaft“ ein und ist Überschrift und Klammer für die Rechte aus den Artikeln 18 bis 21 EGV. Bei der Vertragsänderung von „Amsterdam“ wurde die „deklassierende“ Buchstaben-Nummerierung (Art. 8a bis d EGV) durch die jetzige Zählung (Art. 17 bis 21 EGV) ersetzt, ohne dass sich der Wortlaut wesentlich geändert hätte. Die Änderungen im Einzelnen: Es wurden die neuen Artikel für die Verweise verwendet anstatt den Inhalt dieser Artikel wiederzugeben; in Art. 20 EGV ist die Frist zur Umsetzung, die in Art. 8c EGV noch enthalten war, ersatzlos gestrichen; Art. 21 EGV enthält im Vergleich zum früheren Art. 8 d EGV noch einen neuen dritten Absatz, der das Recht auf eine Antwort in der Sprache der eingereichten Beschwerde beinhaltet.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
sitz hat, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen und entsprechend gemäß Art. 19 Abs. 2 EGV auch bei Wahlen zum Europäischen Parlament. Nach Art. 20 EGV genießt jeder Unionsbürger diplomatischen und konsularischen Schutz auch durch die Vertretungen der anderen Mitgliedstaaten. In Art. 21 Abs. 1 bis 3 EGV finden sich das Petitionsrecht, das Beschwerderecht zum Bürgerbeauftragten und das Recht auf eine Antwort in der Sprache der schriftlichen Eingabe. Für die vorliegende Untersuchung ist vor allem das Freizügigkeitsrecht des Art. 18 Abs. 1 EGV von Interesse. Das Verhältnis dieser Vorschrift zur Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 39 EGV kann entscheidend werden für die Frage, ob der grundfreiheitlichen Gewährleistung des Art. 39 EGV ein grundrechtlicher Status zuerkannt werden kann oder nicht. Erweist sich der Art. 18 EGV als ein vollwertiges Freizügigkeitsgrundrecht, so könnte er individualschützende Funktionen des Art. 39 EGV übernehmen. Der Druck, den Art. 39 EGV von der ursprünglich objektiv-instrumentalen Grundfreiheit zu einer individualschützenden grundrechtlichen Norm weiterzuentwickeln, wäre dann von der Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 39 EGV genommen. Der Art. 39 EGV könnte zurückgeschnitten werden auf die typisch grundfreiheitliche Funktion als An- und Ausgleichsnorm. Umgekehrt würde eine allgemein schwache Stellung des Art. 18 EGV bedeuten, dass die jeweiligen Normanwender die Schutzfunktion des Art. 39 EGV – sei es als Grundfreiheit oder als Grundrecht – auch bzgl. der rein individualrechtlichen Positionen weiterführen und sogar ausbauen müssten. I. Einordnung des Art. 18 Abs. 1 EGV als subjektives Recht Das Freizügigkeitsrecht des Art. 18 Abs. 1 EGV ist ausdrücklich als ein „Recht des Unionsbürgers“ in den Vertrag aufgenommen worden. Damit ist es eines der wenigen subjektiven Rechte des Gemeinschaftsrechts, die als einklagbare Rechtsposition zu den „subjektiven Rechten“ gezählt werden können, ohne dass der Gerichtshof die „unmittelbare Wirkung“ der Norm zunächst feststellen musste. Der Art. 18 EGV konstituiert nicht in erster Linie eine objektive Rechtspflicht, die der Einzelne einfordern darf, wie das bei den Grundfreiheiten der Fall ist, sondern von Beginn an ein Recht, das keinen anderen Zweck verfolgt als den Schutz der Mobilitätsinteressen des einzelnen EU-Bürgers. Vor dem Hintergrund scheint es zunächst erstaunlich, dass die unmittelbare Wirkung des Art. 18 Abs. 1 EGV nicht unumstritten ist. Anders als bei den Grundfreiheiten oder den Artikeln 12 Abs. 1 EGV und 141 Abs. 1 EGV sträuben sich Teile der Literatur gegen den Gedanken, in Art. 18 Abs. 1 EGV mehr zu sehen als einen politischen und unverbindlichen Programmsatz.
E. Art. 18 Abs. 1 EGV als subjektives Recht
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Das Zögern geht auf die schwache Stellung der Vorschrift im System der Verträge und des Gemeinschaftsrechts zurück. Diese Schwäche spielt sowohl bei der Frage nach der unmittelbaren Wirkung als auch bei der Bewertung der Grundrechtseignung des Freizügigkeitsrechts aus Art. 18 Abs. 1 EGV eine Rolle. Im Kern geht es um den Vorwurf, die Art. 17 ff. EGV seien Fremdkörper im Gefüge des EG-Vertragswerks. Sie seien bei ihrer Einführung – polemisch formuliert – eine bloße „PR-Maßnahme der Vertragsstaaten“ gewesen. Art. 18 Abs. 1 EGV werde vom Gerichtshof nicht angewandt und sei ohnehin wegen des weiten Vorbehalts in Art. 18 Abs. 2 EGV praktisch entwertet.446 Die großzügige Formulierung – das „Recht, sich im Hoheitsgebiet frei zu bewegen und aufzuhalten“ – wird tatsächlich noch im selben Satz ausgehöhlt durch die weite Einschränkung, dieses Recht nur „vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen“ zu gewähren. Damit stehen dem Recht auf Aufenthalt und freien Zug sofort eine nur schwer überschaubare Reihe von Grenzen und Schranken entgegen. Die im Wortlaut genannten Beschränkungen und Bedingungen sind die Summe der Vorschriften, die sich im primären und sekundären Gemeinschaftsrecht über die Jahre hin angesammelt haben, einschließlich der Vorschriften, die noch folgen werden. Diese Bedingtheit des Freizügigkeitsrechts durch eine große Anzahl von anderen Vorschriften und die Abhängigkeit von einer Vielzahl von Durchführungsvorschriften ist der vorrangige Grund dafür, dass einzelne Autoren dem Art 18 EGV die unmittelbare Wirkung absprechen wollen447 oder sich doch zumindest schwer damit tun.448 Denn nach dem Konzept der unmittelbaren Wirkung ist die Unbedingtheit der Geltung einer Norm Voraussetzung dafür, dass die unmittelbare Wirkung anerkannt wird und die Norm zu einem einklagbaren – subjektiven – Recht für den Einzelnen wird. Im Fall des Art. 18 EGV seien es aber gerade die Durchführungsvorschriften auf Ebene des Sekundärrechts, die den Bereich der Freizügigkeit lange vor 446
Weiler, Rev.M.U.E. 1996, S. 35, 36 spricht von einer „zynischen PR-Aktion der Vertragsstaaten“. Das angebliche Bürgerrecht des Art. 18 EGV habe sich als „Chimäre“ erwiesen. Die Art. 17 ff. EGV seien ein „carnet d’attractions gratuites“ aus dem Fremdenverkehrsbüro, von dem sich zeige, dass die Attraktionen in Wahrheit keine seien (S. 39); Hall, Migration Rights, S. 117, 127 f. 447 Kaufmann-Bühler, in: Lenz, Kommentar, Rn. 1 zu Art. 18 EGV; Pechstein/ Bunk, EuGRZ 1997, S. 547, 548, die keinen Nutzen darin sehen, dem Art. 18 EGV eine unmittelbare Wirkung zuzusprechen, da alles bereits in den Richtlinien und Verordnungen stehe, m. w. N. auf S. 548 dort Fn. 2; O’Leary, C.M.L.R. 24 (1999) S. 68, 78 f. 448 Hall, Nationality, Migration Rights and the Citizenship of the Union, S. 188 ff., 205, 207. Im Ergebnis hält Hall den Art. 18 EGV trotz der Beschränkungen und der Bedingtheit für unmittelbar anwendbar, hauptsächlich mit der Begründung, die Beschränkungen seien einer gerichtlichen Kontrolle unterworfen.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
der Einführung des Art. 18 EGV geregelt hätten. Eine unmittelbare Wirkung liefe also leer, da der Art. 18 EGV nicht mehr bieten könne als das bekannte und bewährte Sekundärrecht. Bei den Grundfreiheiten dagegen sei es gerade das Fehlen solcher sekundärrechtlicher Vorschriften gewesen, das die unmittelbare Wirkung auf den Plan gerufen habe.449 Anders sehen das die Befürworter der unmittelbaren Wirkung. Der Norm, die offensichtlich darauf angelegt sei, ein subjektives Recht zu verleihen, könne nicht allein deshalb die unmittelbare Wirkung abgesprochen werden, weil diese Wirkung wegen der vielen Ausnahmemöglichkeiten häufig keinen effektiven Schutz bieten kann. Die Einschränkbarkeit, auch wenn sie im Einzelfall sehr weitgehend sei, setze eine Wirkung nicht außer Kraft, sondern setze eine solche Wirkung vielmehr voraus.450 Der Gerichtshof ist auf diesen Streit nicht eingegangen, sondern hat die unmittelbare Wirkung des Art. 18 Abs. 1 EGV unterstellt, indem er in der Rechtssache Calfa den Art. 18 Abs. 1 EGV als eine der möglichen Anspruchsgrundlagen mit aufführt. Auch wenn der Gerichtshof im Ergebnis seine Entscheidung auf Art. 49 EGV und nicht auf den Art. 18 Abs. 1 EGV stützt, lässt er an der grundsätzlichen Wirksamkeit des Art. 18 Abs. 1 EGV keinen Zweifel. Ohne eine Anwendbarkeit des Art. 18 Abs. 1 EGV könnte der Gerichtshof nicht Art. 43 EGV, Art. 49 EGV und Art. 18 Abs. 1 EGV in ein Spezialitätsverhältnis stellen. Das müssen auch die Gegner der „unmittelbaren Wirkung“ zugeben.451 Der Streit soll an dieser Stelle daher nicht weiter vertieft werden. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Art. 18 ff EGV unmittelbar wirksam sind und zu Recht in die Kategorie der „subjektiven Rechte“ aufgenommen werden.452 II. Einordnung des Art. 18 Abs. 1 EGV als Grundrecht Die oben angesprochenen Zweifel an der Stellung des Art. 18 Abs. 1 EGV im System der Vertragsvorschriften bestimmen auch die Diskussion darüber, ob der Art. 18 Abs. 1 EGV den Rang eines Grundrechts hat oder nicht. Die weite Fassung des Art. 18 Abs. 1 EGV, seine Verankerung auf höchster Normebene und sein klares Bekenntnis zum einzelnen Unionsbür449
Pechstein/Bunk, EuGRZ 1997, S. 547. So ausdrücklich Hatje, in: Schwarze, Rn. 5 zu Art. 18 EGV. 451 EuGH v. 19.1.99, Rs. C-348/96, „Calfa“, Slg. 99, S. 11, 31 f., Rz. 29 f.; Pechstein/Bunk, EuGRZ 1997, S. 547, 548. 452 Haag, in: GTE, Rn. 4 zu Art. 8a EGV; Kluth, in: Calliess/Ruffert, Rn. 9 zu Art. 18 EGV; Hatje, in: Schwarze, EU-Kommentar, Rn. 5 zu Art. 18 EGV; Geiger, Kommentar, Rn. 1 zu Art. 8a EGV; Füßer, DÖV 1999, S. 96, 100; weitere Nachweise der unterschiedlichen Ansichten bei: Becker, EuR 1999, S. 522, 528, dort in Fn. 50; Hilf, in: Grabitz/Hilf, Rn. 1 zu Art. 8a EGV. 450
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ger als Träger des Rechts sind für Teile der Literatur ausreichender Beweis für einen grundrechtlichen Status. Die Vorschrift kann dann ohne weiteres in die Nähe der Freizügigkeitsgrundrechte gerückt werden, wie sie aus den nationalen Verfassungen bekannt sind.453 Nur vereinzelt wird der Grundrechtscharakter des Art. 18 EGV explizit mit systematischen Argumenten zurückgewiesen. Der Art. 18 Abs. 1 EGV sei kein Gemeinschaftsgrundrecht, weil er nicht „ungeschrieben“ sei. Er fehle in der Aufzählung der Grundrechte des Art. 6 Abs. 2 EUV. Im Übrigen habe der Art. 18 Abs. 1 EGV nicht, wie die anderen Gemeinschaftsgrundrechte, die Gemeinschaft als Adressatin im Blick.454 Diese Einwände überzeugen nicht. Trotz der äußeren Merkmale eines Grundrechts bleiben in der Literatur aber diffuse Vorbehalte gegen eine solche Klassifizierung, die – ähnlich der Diskussion um die unmittelbare Wirkung – an der fehlenden Substanz des Art. 18 Abs. 1 EGV festgemacht werden. Der Gerichtshof hält sich mit der Anwendung dieser Vorschriften bisher zurück.455 Im Schrifttum hält sich der Vorwurf, die Unionsbürgerrechte entbehrten eines harten justiziablen Kerns bei einer vielversprechenden Verpackung.456 In der Tat wird die Ver453 Reich, Bürgerliche Rechte, S. 180; Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 271 „Die Art 18 ff. EGV sind keine Gleichheitsrechte, sondern Freiheitsrechte, die den nationalen Grundrechten vergleichbar sind“; Hatje, in: Schwarze, Rn. 1 zu Art. 18 EGV „Grundrecht wie in Art. 11 GG“; Griller, 12. ÖJT (1994) Bd. I/2, S. 7, 10, der dort sehr knapp und ohne Begründung feststellt, dass Art. 18 Abs. 1 EGV ein Grundrecht sei; Kluth, in: Calliess/Ruffert, Rn. 9 zu Art. 18 EGV; Rossi, AöR 127 (2002) S. 612, 619. 454 Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 179, 181, 183. 455 EuGH v. 12.5.1998, Rs. C-85/96, „Martínez Sala“, Slg. 98, S. 2691 ff.; EuGH v. 19.1.99, Rs. C-348/96, „Calfa“, Slg. 99, S. 11 ff.; Doppelhammer, E.L.Rev. 24 (1999) S. 621, 623, 625, zeigt sich überrascht darüber, dass in der Sache „Calfa“ weder der Gerichtshof noch der Generalanwalt La Pergola die Frage der Grundrechte ansprechen, obwohl von der Konstellation und Schutzrichtung streichen (Ausweisung, „Verbannung“) ein typisch grundrechtliches Problem betroffen sei. 456 Rossi, AöR 127 (2002) S. 612, 621 f.; Weiler/Alston, Jean Monnet Working Paper 1/99, S. 39 „The implementation of this right is still far from complete“; Hall, Nationality, Migration Rights and the Citizenship of the Union, S. 118 „It would be most incongrous if the EC-Treaty could subject the narrower category of Art 48–66 economic migrants to a raft of limitations and conditions, when the broader category of Art 8a – Union citizens was free from the possibility of being subject to any similar limitations. This would result in serious distortion of Community law“; vgl. dazu auch die Stellungnahme der deutschen, französischen und britischen Regierung in den Schlussanträgen La Pergola zur Entscheidung des EuGH v. 12.5.1998, Rs. C-85/96, „Martínez Sala“, Slg. 97, S. 2691, 2701, Rz. 15; a. A. die Kommission in Rz. 59 des Urteils; der Gerichtshof selber geht in Rz. 60 des Urteils dem Problem aus dem Weg. Er nimmt Art. 18 EGV aber zur Unterstützung des Art. 12 EGV zu Hilfe. Ebenso Generalanwalt La Pergola auf S. 2704, Rz. 20.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
sprechung der Freizügigkeit in Art. 18 Abs. 1 EGV noch im selben Satz unter den geschilderten weiten Vorbehalt aller Vorschriften des geltenden EU-Rechts gestellt, die diese Freiheit wieder einschränken können. Das Grundrecht des Art. 18 Abs. 1 EGV „nimmt damit, noch bevor es gegeben hat“.457 Ein solcher Gesetzesvorbehalt ist zwar grundsätzlich auch in nationalen Verfassungen eine zulässige Schranke für ein Grundrecht. Allerdings ist das Verhältnis des gewährten Rechts zu seinen möglichen Beschränkungen im Fall des Art. 18 Abs. 1 EGV auf seltsame Weise verzerrt. Das zeitlich nachfolgende Grundrecht steht einem um ein Vielfaches größeren und „erfahreneren“ Schrankensystem gegenüber, in das es sich einfügen muss. Nicht etwa wird umgekehrt vom Schrankensystem erwartet, dass es sich an das Grundrecht anzupassen hätte. Vor allem aber ist die Folge, dass die Freizügigkeit nach Art. 18 Abs. 1 EGV im Ergebnis nicht über das Maß an Freizügigkeit hinausgehen kann, das nach den drei Freizügigkeitsrichtlinien gewährt wird.458 Diese Richtlinien, zum einen die sogenannte Aufenthaltsrichtlinie, dann die Richtlinie betreffend ehemalige Arbeitnehmer und Selbstständige sowie die Richtlinie betreffend Studenten gehen ebenso wie eine Reihe ähnlicher Verordnungen auf Art. 39 EGV zurück.459 Damit bleibt Art. 18 Abs. 1 EGV in seiner Reichweite Gefangener des Art. 39 EGV. Als eine der entscheidenden Einschränkungen der Rechtsschutzwirkung des Art. 18 Abs. 1 EGV muss in dem Zusammenhang daher auch die Koppelung an das nachgewiesene Mindesteinkommen gesehen werden.460 Ohne diesen Nachweis kommt ein EU-Bürger weder in den Genuss des Schutzes aus Art. 39 EGV noch des Schutzes aus Art. 18 Abs. 1 EGV. Art. 39 EGV 457 Das mag vordergründig auf die syntaktischen Besonderheiten der deutschen Sprache zurückzuführen sein. In der englischen und französischen Fassung ist der Vorbehalt der Gewährung jeweils nachgeordnet. 458 Pechstein/Bunk, EuGRZ 1997, S. 547, 552; Hall, Nationality, Migration Rights and the Citizenship of the Union, S. 127, der klarstellt, dass die Grenzen aus Art. 39 Abs. 3 EGV, Art. 46 Abs. 1 EGV und Art. 55 EGV in der Schranke des Art. 18 Abs. 1 EGV enthalten sind; Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 189, 209; Becker, EuR 1999, S. 522, 528 f.; vgl. auch Closa, C.M.L.R. 29 (1992) S. 1137, 1153 ff., 1161 f. zur Entstehungsgeschichte der Art. 17 ff. EGV. 459 Richtlinie 90/364 EWG über das Aufenthaltsrecht (ABl. 1990 L 180/26), Richtlinie 90/365/EWG über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbständigen Erwerbstätigen (ABl. 1990 L 180/28), Richtlinie 93/96/EG über das Aufenthaltsrecht der Studenten (ABl. 1993 L 317/59); daneben die Verordnung (EWG) des Rates über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (Nr. 1612/68) vom 15.10.1968 (ABl. 1968 L 257/1). 460 Vgl. jeweils die Art. 1 Abs. 1 der Richtlinien 90/364, 90/365 und 93/96; zu den Anforderungen, die ein Mitgliedstaat an diese Nachweise stellen darf, siehe zuletzt EuGH v. 25.5.00, Rs. C-424/98, „Kommission/Italien“, Slg. 00, S. 4001, 4030 f., Rz. 34/37.
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und Art. 18 EGV laufen hier trotz der unterschiedlichen systematischen Stellung im Vertrag, trotz unterschiedlichen Alters und abweichender Rhetorik parallel. Beide Vorschriften stoßen an eine immanente Grenze, weil sie zulassen müssen, dass ein ganzes Bevölkerungssegment aufgrund eines Kriteriums, das quer zur Schutzrichtung liegt, von vornherein aus dem Schutzbereich der Norm herausgenommen wird. Diese „Soziale-Absicherungs-Klausel“ stellt sich daher bei Art. 18 EGV als tatbestandliche Beschränkung des Schutzbereiches dar.461 Die Kräfteverhältnisse zwischen den Binnenmarktvorschriften und den Vorschriften zur Unionsbürgerschaft werden an dieser Stelle für den Beobachter greifbar und lassen sich mit seltener Deutlichkeit nachweisen. Auch wenn die Art. 18 ff. EGV zunächst scheinbar den engen Rahmen der Wirtschaftsgemeinschaft verlassen und den Schritt hin zur „Union der Bürger“ markieren, werden sie von den Spielregeln der Wirtschaftsgemeinschaft über den Vorbehalt des Art. 18 Abs. 1 EGV sehr bald wieder eingeholt. Hinter dem weiten Vorbehalt stecken die Zweckgebundenheit und die Binnenmarktnützlichkeit, die den Binnenmarktvorschriften eigen sind. Diese Binnenmarktnützlichkeit beschneidet von innen heraus die Freizügigkeit des Art. 18 Abs. 1 EGV, der nach außen hin mit dem Anspruch antritt, den Bürgern ein zweckfreies Recht auf Aufenthalt und Freizügigkeit zu gewähren. Zugespitzt formuliert bleibt auch nach Einführung der Art. 18 ff EGV der Unionsbürger damit der „Produktionsfaktor“, der er nach kritischer Lesart im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten war und ist.462 Den Reifegrad, den der Art. 18 Abs. 1 EGV seinem äußeren Ansehen nach hat, besitzt er demnach nicht. Die Zweckgebundenheit der Binnenmarktvorschriften kann er (noch) nicht abschütteln. Das kann gegen einen Grundrechtscharakter des Art. 18 Abs. 1 EGV angeführt werden. Jedenfalls aber sprechen diese Überlegungen klar dagegen, aus Art. 18 Abs. 1 EGV mehr an Grundrechtsnähe herauslesen zu wollen als aus Art. 39 EGV. 461 Becker, EuR 1999, S. 522, 530, der für die Aufenthaltsrechte nach Art. 39 EGV und Art. 43 EGV diese Einschränkung des Schutzbereiches nicht gegeben sieht; Hall, Migration Rights, S. 118, 179 f.; O’Leary, E.L.Rev. 24 (1999) S. 68, 78 f., die diesen Vorbehalt als die drängendste ungelöste Frage auch nach der Entscheidung „Martínez Sala“ herausstreicht; Aeschlimann, Citizenship of the Union, S. 26; vgl. auch Closa, C.M.L.R. 29 (1992) S. 1137, 1162, der in der Angst der Mitgliedstaaten vor einem „Sozialtourismus“ den Hauptgrund für den weiten Vorbehalt sieht; Schulz, Freizügigkeit für Unionsbürger, S. 249. 462 Weiler, Rev.M.U.E. 1996, S. 35, 38, der hier das gängige Schlagwort aufgreift. Die Gegenüberstellung des EU-Bürger als „Citoyen“ oder „Civis“ auf der einen und als bloßer „Produktionsfaktor“ auf der anderen Seite steht stellvertretend für den (angeblichen) Antagonismus „Union“ und „reiner Binnenmarkt“. Vgl. auch Generalanwalt Jacobs’ Wort vom „Civis europaeus sum“ in den Schlussanträgen zu der Entscheidung EuGH v. 30.3.1993, Rs. C-168/91, „Konstantinidis“, Slg. 95, S. 1191, 1212, Rz. 46; Hall, Migration Rights, S. 118, 179 f.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
Ganz kurz muss an dieser Stelle auf eine Lesart der Art. 17 ff. EGV eingegangen werden, die in eine etwas andere Richtung weist. Einige Autoren vermuten hier ein Grundrecht, allerdings kein Freizügigkeitsrecht als Abwehrrecht – wie etwa Art. 11 des deutschen Grundgesetzes – sondern ein weitgefasstes Gleichbehandlungsrecht. Jeder Unionsbürger sei überall und in allen Belangen wie ein Einheimischer zu behandeln („Vollintegration“).463 Das ist eine interessante Überlegung. Sie lässt sich mit der Rechtsprechung Martínez Sala verbinden und schlägt eine Brücke zu Art. 12 EGV.464 Sie gilt allerdings nur für die Unionsbürgerschaft, die aus den Art. 17 ff. EGV en bloc hergeleitet wird, und nicht für den „isolierten“ Art. 18 Abs. 1 EGV als Freiheitsrecht. Nur dessen Struktur soll aber hier untersucht werden. Der Wert einer Aussage zur Normstruktur verwässert, wenn an Stelle einer einzelnen Norm auf die Unionsbürgerschaft als Status rekurriert wird, der sich aus einem „Bündel von Rechten“ ableitet. Daher soll dieser Ansatz hier nicht vertieft werden. III. Das Verhältnis des Art. 18 Abs. 1 EGV zu den Grundfreiheiten Für die vorliegende Untersuchung sind die Art. 18 ff. EGV vor allem wegen ihrer Modellfunktion und ihrer Rolle als Indikatoren für den Stand der Entwicklung der Dogmatik des Gemeinschaftsrechts von Interesse. Das klare Bekenntnis zur freiheitsrechtlichen Struktur der Art. 18 ff. EGV wird als bewusste Festschreibung des erreichten Standards im Gemeinschaftsrecht verstanden. Die Aufnahme der Norm in den Vertrag zeige, dass die Entwicklung des einzelnen EU-Bürgers zu einem Träger subjektiver Rechte mittlerweile nicht mehr umkehrbar sei.465 Selbst falls ihre Durchsetzungskraft im System der Vertragsvorschriften (noch) zu schwach sein sollte, um den Schutz, den sie ihrem Wortlaut nach in Aussicht stellen, im Einzelfall effektiv gewährleisten zu können, geben sie doch durch ihre Struktur die Richtung vor, in die der Rechtsschutz in 463 Borchardt, NJW 2000, S. 2057, 2058 „Die Unionsbürgerschaft vermittelt im Anwendungsbereich des EG-Vertrags den Unionsbürgern einen umfassenden Anspruch auf Nichtdiskriminierung“; Füßer, DÖV 1999, S. 96, 100 „Art. 18 EGV leistet mehr, als nur die bestehende Rechtslage nachzuzeichnen.“ Nach Füßers Ansicht sollte durch Art. 18 EGV ein allgemeines Aufenthaltsrecht – unabhängig von den Richtlinien – geschaffen werden, vgl. den Titel seines Beitrags: „Grundrecht auf wirtschaftliche Freizügigkeit und Art. 8a EGV als Auffangbeschränkungsverbot des Gemeinschaftsrechts“; Pechstein/Bunk, EuGRZ 1997, S. 547, 552 f. 464 EuGH v. 12.5.1998, Rs. C-85/96, „Martínez Sala“, Slg. 98, S. 2691 ff.; Schlussanträge La Pergola zu „Martínez Sala“, S. 2691, 2704 f., Rz. 20 ff. 465 Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 270, nach deren Ansicht die Formulierung der Art. 18 ff. EGV den Erkenntnisfortschritt dokumentiere, dass der EG-Vertrag subjektiv-öffentliche Rechte begründet.
E. Art. 18 Abs. 1 EGV als subjektives Recht
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der Gemeinschaft sich entwickeln kann und wird. Für einen späteren Zeitpunkt, an dem die Gemeinschaft möglicherweise noch stärker Funktionen eines staatlichen Gemeinwesens übernehmen wird, sind die Staatsbürgerrechte in den Art. 18 ff. EGV in der Anlage bereits ausgebaut. Für die hier vorliegende Untersuchung ist von Interesse, dass mit dem Art. 18 Abs. 1 EGV der Struktur nach ein echtes, zweckfreies Freizügigkeitsgrundrecht bereits vorliegt und – trotz aller oben geltend gemachten Vorbehalte – auch anwendbar und über den Status einer bloßen politischen Absichtserklärung hinaus gültiges Gemeinschaftsrecht ist. Das Freizügigkeitsrecht ist zudem an prominenter Stelle zu den juristisch bindenden Kern-Vorschriften des EG-Vertrages gestellt worden. 1. Die Modellfunktion des Art. 18 Abs. 1 EGV
Die Struktur der Grundfreiheiten und deren Nähe zu den Grundrechten stehen im Mittelpunkt dieser Untersuchung. Art. 18 Abs. 1 EGV interessiert daher vor allem in seinem Verhältnis zu den Grundfreiheiten. Zum einen gibt das Nebeneinander dieser Normengruppen den Blick auf die immanente Begrenztheit der Grundfreiheiten als Binnenmarktregeln frei. Daneben konkurrieren Art. 39 EGV und Art. 18 Abs. 1 EGV unmittelbar um die Anwendung als Schutznorm für die Freizügigkeit auf Gemeinschaftsebene. Falls dem Art. 18 Abs. 1 EGV ein grundrechtlicher Status und damit eine starke individualschützende Rolle zukäme, könnte die Vorschrift den Schutz bieten, der bisher im Regelwerk des Binnenmarkts fehlte und den der Gerichtshof teilweise über die weite individualschützende Auslegung der Grundfreiheit des Art. 39 EGV ausgleichen musste. Das Argument des lückenhaften Rechtsschutzes, das die Weiterentwicklung des Art. 39 EGV von einer Marktregel zur individualschützenden grundrechtsähnlichen Norm vorangetrieben hat, wäre dem Gerichtshof abgeschnitten. Der Art. 39 EGV ließe sich dann leichter wieder auf die an- und ausgleichende Funktion als Binnenmarktregel und damit auf eine einheitliche Normstruktur als Gleichheitssatz zurückführen, die für die Grundfreiheiten kennzeichnend ist. Ein weiteres Mal wird hier die Arbeitnehmerfreizügigkeit als Untersuchungsobjekt herangezogen, während die anderen Grundfreiheiten und die Art 19 bis 21 EGV weitgehend vernachlässigt werden. Grund sind die guten „Laborbedingungen“. Die Konkurrenzsituation der beiden Freizügigkeitsrechte bietet eine ideale Versuchsanordnung. Sie weisen bei ganz unterschiedlichem Alter und unterschiedlicher Herkunft beinahe identische Sachverhaltskonstellationen und – zumindest auf den ersten Blick – dieselbe Schutz- und Zielrichtung auf. Hinzu kommt, dass beide Normen in ihrem jeweiligen Kontext weit ausgereift (Art. 39 EGV) oder doch zumindest
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
vergleichsweise ausgereift (Art. 18 EGV) sind.466 Die sporadische Rechtsprechung zu Art. 18 Abs. 1 EGV bringt es dennoch mit sich, dass auch die wissenschaftlichen Stellungnahmen zum Verhältnis der beiden Freizügigkeitsrechte über weite Strecken spekulativ ist. Wichtige Unterscheidungslinie wird sein, ob es sich bei der Grundfreiheit des Art. 39 EGV und dem Freizügigkeitsrecht des Art. 18 Abs. 1 EGV um zwei separate, getrennte Normenkategorien handelt oder ob sie nur „verschiedene Ausdrucksformen“ eines einheitlichen Rechts auf freien Zug sind. Im zweiten Fall müsste mit wechselseitiger Einflussnahme auf die zugrundeliegenden Normstrukturen gerechnet werden. Für die Grundfreiheiten ist nicht auszuschließen, dass Art. 39 EGV oder die Grundfreiheiten insgesamt unter dem Einfluss des Art. 18 Abs. 1 EGV ihre Funktion und Struktur verändern. a) Art. 39 EGV und Art. 18 Abs. 1 EGV als „nicht vermischbare“ Elemente Zum Teil werden die beiden Vorschriften als so grundverschieden angesehen, dass eine Verschmelzung oder auch nur eine gegenseitige Einfärbung ausgeschlossen wird. Art. 18 EGV und Art. 39 EGV bleiben separat. Den Grundfreiheiten könnten keine „materiell-rechtlichen Gehalte aus anderem Zusammenhang im Wege der Auslegung zuwachsen“.467 Ähnliches klingt an, wenn der Art. 18 EGV auf seine „integrative Kraft“ hin untersucht wird, d.h., wenn versucht wird, aus seinem klaren, die Staatsgrenzen ignorierenden Wortlaut zu folgern, dass er die fortbestehende Relevanz der Binnengrenzen im Binnenmarkt auflösen könne. Eine solche integrierende Kraft, die das Problem der Inländerdiskriminierung – typisches Problem der Grundfreiheiten – zusammen mit den Binnengrenzen auflösen würde, hat der Art. 18 EGV nach Ansicht dieser Stimmen gerade nicht. Mit dem Anwendungsbereich der Grundfreiheiten habe der Art. 18 EGV nichts zu tun.468 Im Gegenteil zeige sich in der unterschiedlichen Funktion des Merkmals „Grenzübertritt“ ein klarer struktureller Unterschied zwischen Art. 18 Abs. 1 EGV und den wirtschaftlichen Freizügigkeitsrechten.469 Der Tatbe466 Das zeigt sich vor allem im Verhältnis zu den Art. 19–21 EGV. Soweit ersichtlich bislang einziges Beispiel für die Anwendung der Vorschriften über das Wahlrecht der Unionsbürger nach Art. 19 EGV ist EuGH v. 9.7.1998, Rs. C-323/97, „Kommission/Belgien“, Slg. 98, S. 4281, 4287, Rz. 1 ff., ohne dass allerdings diese Entscheidung für die Frage der subjektiven Rechte von Interesse wäre. 467 Hoffmann, Grundfreiheiten als Abwehrrechte, S. 51; Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 245 f. 468 Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 230. Die mangelnde Kraft, die Binnengrenzen aufzulösen, führt Epiney im Übrigen auch darauf zurück, dass die Unionsbürgerschaft nach wie vor an die Staatsbürgerschaft gekoppelt bleibe. Damit lebten die Grenzen stets wieder auf.
E. Art. 18 Abs. 1 EGV als subjektives Recht
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stand des Art. 18 Abs. 1 EGV ist – anders als bei den Grundfreiheiten – durch das Fehlen eines „grenzüberschreitenden Elements“ nicht in seiner Integrität berührt. Die Tendenz dieser Aussagen – „Grundfreiheiten verändern nicht aufgrund der Berührung mit den neuen Unionsbürgerrechten ihr Wesen“ – soll eine klare Grenze zwischen diesen beiden Gruppen von Rechtsnormen ziehen und verteidigen. Die Grundfreiheiten seien auf ihre spezielle Rolle als Marktfreiheiten beschränkt, eine „darüber hinausgehende und persönlichkeitsentwickelnde Funktion“ bleibt ihnen nach dieser Auffassung „weitestgehend versagt“.470 Eine solche zurückhaltende Formulierung – „weitestgehend“ – macht aber bereits deutlich, dass die Grenze möglicherweise doch nicht so trennscharf gezogen werden kann, wie das zunächst anklingt. Dieselben Stimmen, die zuvor eine gegenseitige Beeinflussung von Grundfreiheiten und Unionsbürgerrechten kategorisch verneint haben, kommen zum Teil in der Bewertung ihrer eigenen Analyse doch zu dem Ergebnis, die Grundfreiheiten hätten „eine qualitative Verbesserung“ erfahren und seien von „bloßen Grundfreiheiten zum Unionsbürgerrecht erhoben“ worden.471 Unklar bleibt dabei, welche Rolle der Art. 18 Abs. 1 EGV bei dieser Aufwertung der Grundfreiheiten im Einzelnen spielt und ob die Grundfreiheiten diese Aufwertung mit oder ohne Wesensveränderung durchlaufen. Geht man von Art. 18 EGV und den Grundfreiheiten als von zwei eigenständigen, nicht-vermischbaren Normkategorien aus, so stellt sich zwangsläufig die Frage nach dem Konkurrenzverhältnis der beiden Vorschriften für den Fall, dass beide auf denselben Sachverhalt anwendbar sind. Die kommentierende Literatur geht im Anschluss an die Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Sache Calfa in der Regel davon aus, dass Art. 18 EGV subsidiär Anwendung gegenüber etwa dem spezielleren Freizügigkeitsrecht aus Art. 39 EGV findet.472 Der Gerichtshof hatte es hier nicht für nötig befunden, auf Art. 17 und 18 EGV einzugehen, weil Frau Calfa sich bereits auf den Schutz aus Art. 39, 43 und 49 EGV und Art. 3 der Richtlinie 64/ 221 EWG berufen konnte.473 Zuvor hatte der Gerichtshof bereits im Jahr 1994 in der Sache Skanavi und Chryssanthakopoulos dieses Konkurrenzverhältnis mit ähnlichen Worten klargestellt. Das Unionsbürgerrecht des Art. 18 EGV finde in Art. 43 EGV seinen besonderen Ausdruck. Wenn Art. 43 469
Hatje, in: Schwarze, Rn. 6 zu Art. 18 EGV, m. w. N. Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 245 f. 471 Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 269. 472 Becker, EuR 1999, S. 522, 531; Pechstein/Bunk, EuGRZ 1997, S. 547, 553; Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 221; vor „Calfa“ bereits Schulz, Freizügigkeit für Unionsbürger, S. 251 f. 473 EuGH v. 19.1.99, Rs. C-348/96, „Calfa“, Slg. 99, S. 11, 31 f., Rz. 29. 470
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
EGV einschlägig sei, müsse über die Auslegung des Art. 18 EGV nicht mehr entschieden werden.474 Praktisch decken die Grundfreiheiten damit den gesamten Bereich ab, der für eine Anwendung der beiden Freizügigkeitsrechte in Betracht kommt. Denn wegen des sehr weiten Verständnis der „passiven Dienstleistungsfreiheit“ in der Rechtsprechung Cowan und Luisi und Carbone sind auch Touristen und andere – auf den ersten Blick nicht wirtschaftlich tätige – EUBürger in den Schutz der Grundfreiheiten miteinbezogen.475 Für Art. 18 Abs. 1 EGV bleibt demnach offensichtlich kein Anwendungsfeld. In der Rechtssache Martínez Sala war Generalanwalt La Pergola zwar bereit, seinen Entscheidungsvorschlag auf zwei Säulen zu gründen und den Art. 18 Abs. 1 EGV unterstützend neben die Grundfreiheiten als Anspruchsgrundlage treten zu lassen. Diese seien in ihrer sehr weiten Auslegung (Cowan) bereits stark strapaziert.476 Damit deutet La Pergola eine eigenständige Bedeutung des Art. 18 Abs. 1 EGV an. Der Art. 18 Abs. 1 EGV könnte an die Stelle des überdehnten Art. 49 EGV treten und den Schritt hinaus aus dem Binnenmarkt absichern, den die Freizügigkeit hier vollzieht, indem sie sich von der Arbeitnehmereigenschaft und vom Wirtschaftsbezug löst. Weder der Generalanwalt noch der Gerichtshof haben dem Art. 18 Abs. 1 EGV allerdings im Ergebnis eine solche Funktion zugeordnet. Im Übrigen sind diese Überlegungen weniger auf den Art. 18 Abs. 1 EGV als Einzelrecht als vielmehr auf die Unionsbürgerschaft als Status und damit auf die Art. 17 ff. EGV als Normenbündel gemünzt. Daher bleibt es bislang bei Appellen der Literatur, dem Art. 18 Abs. 1 EGV entweder einen eigenständigen Anwendungsbereich oder an Stelle des Art. 39 EGV den Vorrang in der Konkurrenz um die Anwendung zu geben.477 Das Freizügigkeitsrecht des Art. 18 Abs. 1 EGV erfasse die genuin grundrechtlichen Belange, die bei einer Ausweisung auf dem Spiel ständen, viel treffender als die wirtschaftsorientierten Grundfreiheiten und die daraus abgeleitete Rechtsprechung.478 474 EuGH v. 29.2.96, Rs. C-193/94, „Skanavi und Chryssanthakopoulos“, Slg. 96, S. 929, 951, Rz. 22. 475 EuGH v. 31.1.1984, verb. Rs. 286/82 und 26/83, „Luisi und Carbone“, Slg. 84, S. 377, 403, Rz. 16; EuGH v. 2.2.1989, Rs. 186/87, „Cowan“, Slg. 89, S. 195, 220 f., Rz. 15 ff. 476 Schlussanträge La Pergola zu EuGH v. 12.5.1998, Rs. C-85/96, „Martínez Sala“, Slg. 98, S. 2691, 2706, Rz. 23. 477 Becker, EuR 1999, S. 522, 532, der Art. 18 EGV anstelle eines „bunten Straußes an Grundfreiheiten“ anwenden möchte; Doppelhammer, E.L.Rev. 24 (1999) S. 621, 626; Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 243, der vorschlägt, den Art. 18 Abs. 2 EGV als Ermächtigungsgrundlage für sekundärrechtliche Vorschriften auszubauen. 478 Doppelhammer, E.L.Rev. 24 (1999) S. 621, 624 f.
E. Art. 18 Abs. 1 EGV als subjektives Recht
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b) Die Verbindung oder Verschmelzung von Art. 18 Abs. 1 EGV und Art. 39 EGV Den eben genannten Ansichten ist gemeinsam, dass sie von einer sauberen Trennbarkeit und Unterscheidung des Art. 18 Abs. 1 EGV und des Art. 39 EGV ausgehen. Ein anderer Weg ist denkbar. Art. 18 Abs. 1 EGV und Art. 39 EGV könnten zu einem einheitlichen Freizügigkeitsgrundrecht verschmolzen werden oder doch so miteinander verbunden werden, dass sie – einzeln oder getrennt – eine neue Qualität erhalten. Wie eine solche Wechselwirkung zwischen Art. 18 EGV und der Grundfreiheit des Art. 39 EGV im Einzelnen abläuft, darüber finden sich in der Literatur nur Andeutungen. Die hier zusammengetragenen Szenarien sollen ebenfalls nur kurz angerissen werden. Einen zwingenden Schluss auf eine dieser Lösungen stellt keine der Stellungnahmen in der Literatur in Aussicht. Insoweit auf Quellen verwiesen wird, ist damit in der Regel nicht Bezug auf ein geschlossenes Konzept genommen, sondern es soll an einzelnen Formulierungen gezeigt werden, dass die Szenarien durch die Formulierungen der Literatur jedenfalls nicht ausgeschlossen werden. Die sprachliche und begriffliche Offenheit ist Ausdruck des noch nicht abgeschlossenen „Reaktionsprozesses“. aa) Art. 18 Abs. 1 EGV als Katalysator Eine erste denkbare Verknüpfung von Art. 18 Abs. 1 EGV und Art. 39 EGV soll unter dem Stichwort der „Katalysatorfunktion“ des Art. 18 Abs. 1 EGV greifbar gemacht werden. Die Existenz des Art. 18 Abs. 1 EGV ermöglicht und fördert die Weiterentwicklung des Art. 39 EGV von einer reinen Grundfreiheit zu einem Bürger- oder Menschenrecht. Es bleibt offen, ob nach Ansicht der Kommentatoren die Existenz des Art. 18 EGV bereits den ersten Schritt des Art. 39 EGV von einer reinen Grundfreiheit zum Zwischenstadium des „Unionsbürgerrechts“ ermöglicht hat oder zukünftig den zweiten Schritt vom „Unionsbürgerrecht“ zum Menschenrecht ermöglichen soll.479 Bei Art. 39 EGV handele es sich „wegen des auf die Unionsbürger und ihre Angehörigen (. . .) beschränkten persönlichen Anwendungsbereiches noch nicht um ein Menschenrecht, wohl aber um ein Unionsbürgerrecht, das angesichts der Anerkennung in Art. 17 und 18 EGV auf Erweiterung und Vertiefung angelegt“ sei.480 Der hervorgehobene Passus „angesichts der Anerkennung in Art. 17 und 18 EGV“ enthält hier den Hinweis auf die Katalysatorfunktion. 479 Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 183 ff.; vgl. Schulz, Freizügigkeit für Unionsbürger, S. 252. 480 Reich, Bürgerrechte, S. 180, 450 f. Hervorhebung vom Verfasser.
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
Auch Generalanwalt La Pergola greift auf die Präposition „angesichts“ zurück, um die Relation zwischen dem alten Art. 39 EGV und den neuen Art. 17 ff. EGV zu beschreiben. Es läge „angesichts des durch die Unionsbürgerschaft begründeten Status’ und der Aufenthaltsfreiheit“ nahe, dass die Staaten die Freizügigkeit auch über die bisher gewährten Bereiche hinaus erweitern würden.481 Noch besser in das Bild einer Katalyse passt seine Schilderung des Ablösungsprozesses des Art. 39 EGV von den anderen Grundfreiheiten. Ursprünglich sei die Freizügigkeit eine binnenmarktorientierte Verkehrsfreiheit wie die anderen Grundfreiheiten auch gewesen. Art. 18 Abs. 1 EGV habe nun „von den anderen Verkehrsfreiheiten diese Freiheit abgelöst“, die danach zu einem echten Aufenthaltsrecht geworden sei.482 Das zeigt sehr bildhaft, wie man sich diese Katalysatorwirkung vorstellen kann. Der Art. 39 EGV verändert sich unter dem Einfluss des Art. 18 EGV so stark, dass er aus dem gewohnten Normenumfeld (die anderen Grundfreiheiten) herausgenommen wird, um in ein neues Umfeld – eine andere Normenkategorie – zu wechseln. Seine Struktur hat sich von den anderen Grundfreiheiten so weit entfernt, dass an eine Konvergenz nicht mehr zu denken ist. Ein weiteres Beispiel für die „Katalysatorwirkung“ des Art. 18 Abs. 1 EGV ist im Zusammenhang mit den Tatbestandsmerkmalen der Grundfreiheiten bereits angesprochen worden. Die Grundfreiheiten setzen – nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Grenzpendler-Fällen – einen Grenzübertritt voraus, der wirtschaftlich motiviert ist oder zumindest in engem Zusammenhang mit einer wirtschaftlichen Tätigkeit steht. Dass ein Deutscher in Deutschland arbeitet, nach Feierabend aber in Belgien wohnt, reichte dem Gerichtshof in der Entscheidung Werner aus dem Jahr 1993 nicht, um einen grenzüberschreitenden Sachverhalt und damit die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten anzunehmen. Der Wohnsitz im Ausland ist unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten irrelevant und muss daher bei der Begründung der Entscheidung außer Betracht bleiben.483 Nach Ansicht der Literatur wäre eine solche Begründung nach Einführung des Art. 18 Abs. 1 EGV nicht mehr möglich. Die Existenz des Art. 18 Abs. 1 EGV zeige, dass das Freizügigkeitsrecht auch den privaten Bereich umfasse.484 Der Art. 18 Abs. 1 EGV wirkt nach dieser Vorstellung auf den Art. 39 EGV ein, indem 481 Schlussanträge La Pergola zu EuGH v. 12.5.1998, Rs. C-85/96, „Martínez Sala“, Slg. 98, S. 2691, 2703, Rz. 19. 482 Schlussanträge La Pergola zu EuGH v. 12.5.1998, Rs. C-85/96, „Martínez Sala“, Slg. 98, S. 2691, 2703, Rz. 18 „Ablösen“; vgl. auch Reich, Bürgerrechte, S. 450 „Subjektive Bürgerrechte aus den Grundfreiheiten herausgeschält“. 483 EuGH v. 26.1.1993, Rs. C-112/91, „Werner“, Slg. 93, S. 429, 470, Rz. 17. 484 Wernsmann, EuR 1999, S. 754, 759; Hertzig/Dautzenberg, DB 1997, S. 8, 10 f.
E. Art. 18 Abs. 1 EGV als subjektives Recht
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er dessen Tatbestandsmerkmal „Grenzübertritt“ aufweicht und nicht-wirtschaftliche Sachverhaltselemente in dieses Tatbestandsmerkmal einschleust. Eine letzte Beobachtung im Zusammenhang mit dieser Katalysatorfunktion: Erst beim genaueren Hinsehen zeigt sich, dass einige der (eingangs erwähnten) Stimmen, die den Art. 18 ff. EGV insgesamt kritisch gegenüberstehen, diesem soeben beschriebenen Ansatz der Katalysatorfunktion im Ergebnis recht nahe stehen. Wenn etwa gefordert wird, die Art 18 ff. EGV abzuschaffen und die „wirr in den Art. 18 ff. EGV zusammengewürfelten Maßnahmen“ aus ihrer Sonderstellung zu entfernen und wieder auf die Gebiete des restlichen Gemeinschaftsrechts zu verteilen, zu denen sie thematisch gehören, dann kann diese gewünschte Unterordnung der Art. 18 EGV unter die anderen Vertragsvorschriften durchaus in ähnlicher Weise wie die Katalysatorfunktion des Art. 18 EGV für den Art. 39 EGV gelesen werden.485 bb) Die Unionsbürgerfreizügigkeit als drittes Recht neben Art. 39 EGV und Art. 18 Abs. 1 EGV Eine weitere Variante soll kurz angedacht werden. Aus dem Nebeneinander der beiden Artikel kann eine neue Rechtsnorm erwachsen. Diese Rechtsnorm könnte als „einheitliches gemeinschaftsrechtliches Freizügigkeitsgrundrecht“ Elemente beider Vorschriften in sich vereinen. Als ein Tertium im Verhältnis zu Art. 18 Abs. 1 EGV und Art. 39 EGV hätte der neue Rechtssatz eine eigenständige Existenz. Im Unterschied zum ersten Szenario blieben Art. 18 EGV und der Art. 39 EGV hier in ihrer Substanz unverändert. Dem Status der Unionsbürgerschaft kommt nach Ansicht einzelner Autoren eine so starke integrierende Kraft zu, dass sie als neue, dritte Kategorie die unterschiedlichen Elemente sowohl des Art. 18 Abs. 1 EGV als auch der Art. 39 und der anderen Grundfreiheiten in einem einheitlichen Bürgerrecht auf Freizügigkeit einschließen könne. Als „Unionsbürgerfreizügigkeit“ sei dieses neu entstehende bzw. entstandene Recht unter dem Dach der Art. 17 ff. EGV angesiedelt.486 Ungeklärt ist bisher auch das Ver485 Weiler, Rev.M.U.E. 1996, S. 35, 48 „Les mesures actuellement mêlées de facon confuse dans l’article 8 peuvent être réaffectées complètement à leur place naturelle dans le Traité, dans les chapitres consacrés aux compétences du Parlement européen, á la libre circulation, á la politique sociale, aux relations extérieures, etc.“ 486 Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 183 ff., 219 ff., 245 f., der das Problem zunächst löst, indem er auf eine neue Ebene der „Unionsbürgerrechte“ als neutrale dritte Kategorie ausweicht. Rothfuchs lässt diese Konturen aber dann auf S. 269 wieder verschwimmen, wenn er davon spricht, dass „eine bloße Grundfreiheit zum Unionsbürgerrecht erhoben“ wurde. Damit hat seiner Vorstellung nach zumindest Art. 39 EGV eine Wesensänderung durchlaufen; Reich, Bürgerrechte, S. 159, vgl. aber S. 62 „Ein allgemeines Freizügigkeitsrecht für alle
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
hältnis des Freizügigkeitsrechts aus Art. 45 der Grundrechtscharta, das möglicherweise als ein drittes oder sogar viertes Freizügigkeitsrecht neben die bisher genannten Rechtsnormen tritt. 2. Die Indikatorfunktion des Art. 18 Abs. 1 EGV
a) Art. 17 ff. EGV als Schritt vom Marktbürger zum Unionsbürger Eine wichtige Zielsetzung und Funktion der Art. 17 ff. EGV ist die Überwindung der bisher rein wirtschaftsorientierten Ausrichtung der Vertragsvorschriften. Die neuen subjektiven Rechte der Art. 18 ff. EGV verzichten erstmals ganz offen auf jeden Bezug zu Binnenmarkt und Wirtschaftsgemeinschaft. Dennoch sind sie nicht wie die Vorschriften zur Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZBJI) oder zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) in eine der Säulen ausgelagert, sondern an zentraler Stelle im EG-Vertrag platziert. Selbst wenn der Vorwurf berechtigt sein mag, dass die Begrenztheit der Binnenmarktvorschriften auf wirtschaftliche Ziele über den weiten Vorbehalt des Art. 18 Abs. 1 EGV wieder in die neuen Unionsbürgerrechte eingeschleust wird, lässt sich der Schritt vom Marktbürger zum Unionsbürger zumindest dem ersten Anschein nach juristisch an den Art. 18 ff. EGV festmachen. Die Binnenmarktvorschriften müssen sich diesen (Grenz-)Bereich erst wieder zurückerobern, auch wenn ihnen das nach Ansicht der Kritiker allzu leicht gelingt. Unabhängig von den Kräfteverhältnissen zwischen den „alten“ Binnenmarktvorschriften und den „neuen“ Unionsbürgerrechten zwingt die Einführung der unmissverständlich als subjektive Rechte ausgestalteten Normen zu einer Beschäftigung mit dem streitigen Verhältnis zwischen Binnenmarktvorschriften und Vorschriften, die für eine Union im weiteren Sinne ausgelegt sind. Diese Auseinandersetzung weist notwendig über die Grenzen des Binnenmarktes und damit über die bekannten Begründungsmuster hinaus. Das Loslösen von binnenmarktimmanenten Argumentationslinien öffnet die Vorschriften für neue Elemente aus dem zweckfreien, nicht-wirtschaftlichen Kontext. Der Bezugsrahmen „Binnenmarkt“ wird in seiner Relativität erkennbar. Darauf kommt der Schlussteil der Arbeit zurück.487
Unionsbürger, das sich aus einer Zusammenschau der verschiedenen Einzelfreiheiten ergibt und durch Sekundärrecht nur abgesichert, aber nicht neu geschaffen wird.“ 487 Siehe unten D. I. 2. c) im dritten Teil.
E. Art. 18 Abs. 1 EGV als subjektives Recht
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b) Art. 18 Abs. 1 EGV als grundsätzliche Aufwertung des Schutzguts der Freizügigkeit Eine weitere wichtige Funktion des Art. 18 Abs. 1 EGV ist die grundsätzliche Aufwertung des Rechtsguts der Freizügigkeit. Bereits die Tatsache, dass dieses Recht für hinreichend grundlegend befunden wurde, ein zweites Mal im Vertrag Erwähnung zu finden, gibt dem Gedanken der Freizügigkeit – ob in Form des Art. 39 EGV oder abstrakter als schützenswertes Gut – einen starken Auftrieb. Auch wenn der weite Vorbehalt des Art 18 Abs. 1 EGV dazu führt, dass in der Praxis das Freizügigkeitsrecht nach wie vor über die existierenden Durchführungsvorschriften gehandhabt wird, kann es legitimes Ziel dieser neuen Verbürgung sein, „dem zuvor bestehenden Recht einen anderen Platz in der Normenhierarchie zuzuweisen“.488 Mit der Grundfreiheit des Art. 39 EGV war das Freizügigkeitsrecht auch zuvor auf Ebene des primären Gemeinschaftsrechts vertreten.489 In der Rechtssprechung des Gerichtshofs und in einer großen Zahl sekundärrechtlicher Vorschriften hatte sich aber daneben eine ganze Reihe von individualschützenden Einzelpositionen angesammelt.490 Art. 18 Abs. 1 EGV soll das Freizügigkeitsrecht von dieser „zerstückelten Grundlage“ unabhängig machen. Beschränkungen oder Lücken des Sekundärrechts sollen nicht mehr auf die Existenz des Freizügigkeitsrechts als solches durchschlagen können.491 Insoweit trifft die Umschreibung, es sei Sinn des Art. 18 EGV, die „existierende Rechtslage durch die neuen Vertragsbestimmungen quasi verfassungsrechtlich zu verfestigen“, die Rolle des Art. 18 Abs. 1 EGV sehr gut.492 Ob dieses vorsichtige Aufwerten in der Normenhierarchie auch durchschlägt in eine verbesserte Rechtslage für den Unionsbürger, muss 488
Becker, EuR 1999, S. 522, 529. So ausdrücklich La Pergola in den Schlussanträgen zu EuGH v. 12.5.1998, Rs. C-85/96, „Martínez Sala“, Slg. 98, S. 2691, 2702, Rz. 18 „Neu an dieser Bestimmung ist nicht, wohlgemerkt, dass die Freizügigkeit unmittelbar im Vertrag verankert worden ist.“ 490 Richtlinie 90/364 EWG über das Aufenthaltsrecht (ABl. 1990 L 180/26), Richtlinie 90/365/EWG über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbständigen Erwerbstätigen (ABl. 1990 L 180/28), Richtlinie 93/96/EG über das Aufenthaltsrecht der Studenten (ABl. 1993 L 317/59); Verordnung (EWG) des Rates über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (Nr. 1612/68) vom 15.10.1968 (ABl. 1968 L 257/1). Dazu siehe auch oben E. II. die Frage der Schwächung der materiell-rechtlichen Stellung des Art. 18 Abs. 1 EGV durch diesen dichten sekundärrechtlichen Unterbau. 491 Schlussanträge La Pergola zu EuGH v. 12.5.1998, Rs. C-85/96, „Martínez Sala“, Slg. 98, S. 2691, 2702 f., Rz. 18; Benjes, Personenverkehrsfreiheiten, S. 150 ff., 155, 157. 492 Becker, EuR 1999, S. 522, 529. Der Ausdruck „verfestigen“ reiht sich in eine Tendenz ein, der evolutiven Weiterentwicklung des Gemeinschaftsrechts auch sprachlich gerecht zu werden. 489
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
Vermutung bleiben, solange der Gerichtshof die neuen Vorschriften nicht zur Anwendung bringt. Dass der Gerichtshof weiter auf die Grundfreiheiten zurückgreift, wenn er die Wahl zwischen den alten und den neuen Vorschriften hat, spricht dafür, dass er dem neuen Art. 18 Abs. 1 EGV jedenfalls keine stärkere Rolle zugestehen will. Ähnlich auch der Generalanwalt La Pergola in der Sache Calfa, wenn er sagt, der Schutz aus Art. 49 EGV sei ausreichend, so dass auf den zusätzlichen Schutz aus der Unionsbürgerschaft nicht zurückgegriffen werden müsse.493 c) Die symbolische Bedeutung des Art. 18 Abs. 1 EGV Als gesichert gilt dagegen die Symbolfunktion des Art. 18 Abs. 1 EGV. Diesen Verdienst sprechen ihm auch seine schärfsten Kritiker nicht ab. Der Einzelne könne über die Vorschrift eine direkte Beziehung zur EU aufbauen.494 Selbst Weiler gibt diesen fortschrittlichen Ansatz der Art. 17 ff. EGV zu. Das klassische Band zwischen dem Staatsbürgertum (citoyenneté) und der Staatsangehörigkeit (nationalité) werde zerschnitten. Das sei per se bereits positiv zu bewerten und zugleich der erste Schritt, um die Hoheitsgewalt auf Ebene der Gemeinschaft auch über eine europäische Citoyenneté zu legitimieren. 495 Diese Lesart der Art. 17 ff. EGV ist unter gewissen Einschränkungen zu teilen. Bei einer nüchterneren Betrachtung wird das Band zwischen Staatsbürgertum und Nationalität nicht wirklich zerschnitten. Die Staatsangehörigkeit bleibt auch weiterhin das entscheidende Anknüpfungsmerkmal.496 Allerdings ist ein Fortschritt zu Recht bereits darin zu sehen, dass das klassische Band zumindest geschwächt wird. Denn es wird ihm ein zweites Band zur Seite gestellt, seine Exklusivität dadurch in Frage gestellt und seine Relevanz entsprechend geschmälert. IV. Zusammenfassung: Art. 18 Abs. 1 EGV als subjektives Recht des Gemeinschaftsrechts Art. 18 Abs. 1 EGV ist eines der wenigen geschriebenen subjektiven Rechte des Gemeinschaftsrechts. Sein Wortlaut zeigt erkennbar die Absicht, im EG-Vertrag ein Recht zu verankern, das ausdrücklich dem Unionsbürger 493 Schlussanträge La Pergola zu EuGH v. 19.1.99, Rs. C-348/96, „Calfa“, Slg. 99, S. 11, 19, Rz 10. 494 Handoll, Free Movement, S. 311. 495 Weiler, Rev. M. U. E. 1996, S. 35, 46; Jacobs, in: Guild, Legal Framework, S. 3 f.; Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 135; Hatje, in: Schwarze, Rn. 5 zu Art. 18 EGV. 496 Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 230; Handoll, Free Movement, S. 311; Closa, C.M.L.R. 29 (1992) S. 1137, 1161; u. v. m.
E. Art. 18 Abs. 1 EGV als subjektives Recht
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zu seinem Schutze verliehen wird. Auch wenn die Freizügigkeit des Art. 18 Abs. 1 EGV wegen des weiten Vorbehalts, der den Art. 18 EGV in seiner Reichweite an die Reichweite des Art. 39 EGV bindet, nicht das halten kann, was ihre großzügige Formulierung verheißt, so bestehen – entgegen einzelner Stimmen in der Literatur – an seiner unmittelbaren Anwendbarkeit keine Zweifel. Für die Frage nach dem Grundrechtscharakter ergibt sich: Von der Struktur her ist Art. 18 Abs. 1 EGV ein echtes Freizügigkeitsgrundrecht, wie es vergleichbar in den nationalen Verfassungen gewährt wird (Art. 11 GG). Anders als die Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 39 EGV hat Art. 18 Abs. 1 EGV zumindest auf dem Papier auch den Anspruch „zweckfrei“ und über die engen Grenzen der wirtschaftlichen Tätigkeit hinaus den Willen zum freien Zug zu schützen. Allerdings fehlt ihm in weiten Teilen die Durchsetzungskraft. Der Gerichtshof hat die Vorschrift bisher nicht entscheidungserheblich zur Anwendung gebracht. Ein eigenständiger, von den Grundfreiheiten unabhängiger Anwendungsbereich scheint sich für den Art. 18 EGV nicht abzuzeichnen. Ein wichtiges strukturelles Hindernis, das die Anerkennung eines echten Grundrechtscharakter erschwert, liegt in dem weiten Vorbehalt des Art. 18 Abs. 1 EGV, über den die immanente Begrenzung der „wirtschaftlichen Freizügigkeitsrechte“ (vgl. etwa die Mindesteinkommensvoraussetzungen und damit die Zweckbindung/Binnenmarktnützlichkeit) in den Art. 18 Abs. 1 EGV eingeschleust werden. Im Verhältnis zu den Grundfreiheiten kommt dem Art. 18 Abs. 1 EGV eine Modell- und Indikatorfunktion zu. Das Nebeneinander der beiden Freizügigkeitsrechte aus Art. 18 Abs. 1 EGV und Art. 39 EGV lässt sich in verschiedenen Modellen beschreiben. So ist vorstellbar, dass Art. 18 Abs. 1 EGV als „Katalysator“ eine Umwandlung des Art. 39 EGV von einer reinen Grundfreiheit zum vollwertigen Freizügigkeitsgrundrecht beschleunigt. Denkbar ist auch eine strikte Trennung der beiden Rechte. Der Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung offensichtlich eine solche Trennung zugrundegelegt. Er lässt Art. 18 Abs. 1 EGV als subsidiär hinter die Grundfreiheiten zurücktreten, soweit diese denselben Schutz gewährleisten. Auch wenn damit eine direkte Einwirkung des Art. 18 Abs. 1 EGV auf die Struktur des Art. 39 EGV nicht angenommen werden kann, ist die Existenz des Art. 18 Abs. 1 EGV als Indikator für das rechtliche und rechtspolitische Umfeld des Art. 39 EGV von Bedeutung. Mit der Einführung des Art. 18 Abs. 1 EGV ist eine vorsichtige Neugewichtung der einzelnen Schutzgüter (Freizügigkeit, Binnenmarktziele, Zweckfreiheit) verbunden, die darauf hindeutet, dass eine rein binnenmarktorientierte Ausrichtung des Art. 39 EGV eine systemwidrige Lücke ließe. Ob diese Lücke durch Art. 39 EGV selbst, durch Art. 18 Abs. 1 EGV oder durch ein – eigenständiges – Gemeinschaftsgrundrecht auf Freizügigkeit geschlossen werden soll, bleibt
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1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
offen. Zugleich vergrößert dieses veränderte rechtliche Umfeld des Art. 39 EGV aber die Kluft zwischen Art. 39 EGV und den anderen Grundfreiheiten. Deren Umfeld wird nicht in demselben Maße einer Neubewertung unterzogen. Diese besondere „reifere“ Stellung des Art. 39 EGV kann als eine mögliche Begründung dafür angeführt werden, dass sich grundrechtliche Spuren und Merkmale in den Fällen zu Art. 39 EGV häufiger und deutlicher nachweisen lassen als in den Entscheidungen, die zu den anderen Grundfreiheiten ergangen sind.497
F. Weitere subjektive Rechte des Gemeinschaftsrechts Im Folgenden sollen kurz weitere subjektive Rechte des Gemeinschaftsrechts aufgeführt werden, die für die Frage nach dem Grundrechtscharakter der Grundfreiheiten von untergeordneter Bedeutung sind. Wegen der weiten Definition des „subjektiven Rechts“, die dieser Untersuchung zugrundegelegt wird, fallen zum Teil sehr unterschiedlicher Rechte unter diesen Oberbegriff. Jede gemeinschaftsrechtlichen Norm, die unmittelbare Wirkung besitzt und auf die ein Einzelner sich daher vor Gericht berufen darf, gilt als subjektives Recht. Eine solche unmittelbare Wirkung kommt mittlerweile einer großen Zahl von Rechtsnormen des EG-Vertrags zu. I. Die Zollvorschriften der Art. 25 ff. EGV Ein Beispiel für diese verbleibende Kategorie der subjektiven Rechte sind etwa die Zollvorschriften (Art. 25 bis 27 EGV), die eine Erwähnung bereits aus dem Grunde verdienen, dass es in der Entscheidung Van Gend & Loos ein Zollverbot war, das als erste Norm die unmittelbare Wirkung zugesprochen erhielt und zum Ausgangspunkt der dogmatischen Figur der unmittelbaren Wirkung wurde.498 An den Zollvorschriften lässt sich – in Gegenüberstellung zu den Grundfreiheiten – zudem ablesen, wie diese Vorschriften zwar aufgrund ihrer Einklagbarkeit zu subjektiven Rechten wurden, dann aber auf diesem untersten Entwicklungsstand der „Subjektivierung“ stehen geblieben sind. Mit grundrechtlichen Kategorien werden die Zollvorschriften auch nach Van Gend & Loos nicht in Verbindung gebracht. Zumindest einige der Grundfreiheiten dagegen haben im Laufe der Zeit über die bloße Einklagbarkeit hinaus offensichtlich zusätzliches individualschützendes Potential ansammeln können.
497 498
Siehe unten C. I. 2. b) im dritten Teil. EuGH v. 5.2.1963, Rs. 62/26, „Van Gend & Loos“, Slg. 1963, S. 1, 25 f.
F. Weitere subjektive Rechte des Gemeinschaftsrechts
229
II. Die Wettbewerbsvorschriften der Art. 81 bis 89 EGV Daneben sollen die Wettbewerbsvorschriften der Art. 81 bis 89 EGV kurz unter dem Blickwinkel des „subjektiven Rechts“ betrachtet werden. Die gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln sehen einige klare und unmissverständliche Verbote vor. Dennoch fehlt es bei Art. 81 EGV – dem Kartellverbot und damit der Zentralnorm des Wettbewerbsrechts – nach herrschender Meinung bereits an der unmittelbaren Wirkung und damit an der Mindestvoraussetzung, um in die Liste der subjektiven Rechte aufgenommen zu werden. Der Art. 81 EGV ist als Kuriosum unter den gemeinschaftsrechtlichen Normen zu vermerken. Nachdem der Gerichtshof ursprünglich davon ausging, dass die Vorschrift unmittelbare Wirkung haben müsse, hat er diese Ansicht mittlerweile revidiert. Der Schutz wird jetzt nicht mehr unmittelbar aus der Vorschrift des Art. 81 EGV, sondern aus den entsprechenden sekundärrechtlichen Vorschriften abgeleitet.499 Anders der Art. 82 EGV, der das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung festschreibt. Dessen unmittelbare Wirkung wird vom Gerichtshof ohne weiteres bejaht.500 Ob Art. 82 EGV darüber hinaus als Grundrecht einzustufen ist, wird soweit ersichtlich in der Literatur nicht ausdrücklich zum Thema gemacht. Dass kartellrechtliche Vorschriften den Rahmen einer wirtschaftlichen „Verfasstheit“ eines Marktes und auch einer Rechtsordnung bilden, ist unbestritten. Daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, dass das Kartellrecht den Einzelnen grundrechtliche Positionen verleihen möchte. Kartellvorschriften sind vielmehr typisch ordnungsrechtliche und in erster Linie auch vorrangig allgemeinschützende Vorschriften. Eine Besonderheit im System des Gemeinschaftsrechts sind die Wettbewerbsvorschriften vielmehr aus einem anderen Grund. Das Besondere ist nicht die Tatsache, dass einzelne Marktbürger Rechte aus diesen Vorschriften herleiten können, sondern im Gegenteil die Tatsache, dass hier Privatpersonen durch diese Vorschriften zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet werden. Die Wettbewerbsvorschriften durchbrachen von Beginn an die klassische völkerrechtliche Ordnung der Staaten als Verpflichtete der Verträge. Von der ersten Fassung der Vertragstexte an war dieser Abschnitt die einzige Textstelle, an der der Blick der Verfasser des Vertrages auf Privatpersonen fiel und diese in die entstehende Rechtsordnung mit einbezogen 499 Jung, in: Calliess/Ruffert, Rn. 3 zu Art. 83 EGV, m. w. N.; Weiß, in: Calliess/ Ruffert, Rn. 30 zu Art. 81 EGV. 500 EuGH v. 30.4.1974, Rs. 155/73, „Sacchi“, Slg. 74, S. 409 ff., Ziff. 9 der Leitsätze: „Die Verbotsvorschriften des Artikels 86 haben auch im Rahmen des Art. 90 unmittelbare Wirkung und begründen Rechte der einzelnen, welche die nationalen Gerichte zu wahren haben.“
230
1. Teil: Subjektive Rechte im Gemeinschaftsrecht
wurden.501 Das hat sich bei den Überlegungen zur Drittwirkung der Grundfreiheiten gezeigt. Hier sind die Wettbewerbsvorschriften wichtiges Kontrastmittel, um die Drittwirkung der Grundfreiheiten systematisch aufarbeiten und – im Ergebnis – ablehnen zu können. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Drittwirkung der Wettbewerbsvorschriften hingenommen wird, kann als ein Indiz gegen einen grundrechtlichen Status gelesen werden. Denn die Struktur dieser Vorschriften erinnert an einfachgesetzliche Vorschriften, etwa die Kartellgesetze in den Mitgliedstaaten. Daher wendet sich der „Ausnahmecharakter“ der Art. 81 ff. EGV hier gegen sie selbst. Sie durchbrechen zwar die Systematik des EG-Vertrages, da sie von Beginn an als einzige Vorschriften diese Drittwirkung ohne weiteres voraussetzten. Damit erscheinen sie – bei weniger wohlwollender Betrachtungsweise – als Fremdkörper unter den „Verfassungsnormen“ des Vertrages und – bei noch weniger wohlwollender Lesart – als Normen einer niedrigeren (sekundären) Hierarchiestufe, die nur zufällig im Vertrag und damit auf Ebene des Primärrechts verankert wurden, weil das „Handwerkszeug“ zum Erreichen der im Vertrag festgelegten Politikziele mit in den Vertrag geschrieben wurde. Für die Beihilfevorschriften der Art. 87 bis 89 EGV gelten im Wesentlichen dieselben Einschätzungen. III. Die Haftungsregelung des Art. 288 Abs. 2 EGV Eine Sonderstellung im Vertrag hat auch der Art. 288 Abs. 2 EGV, der die Haftung der Gemeinschaft gegenüber den EU-Bürgern regelt. Seine Hauptzielrichtung ist unstreitig der Schutz von Individualrechtsgütern. Die Vorschrift ist für den einzelnen EU-Bürger und aus dessen Sicht konzipiert. Für den Einzelnen ist es kein entscheidender Unterschied, ob der Schaden, den er aufgrund hoheitlichen Handelns erleidet, aus Richtung der mitgliedstaatlichen Organe oder aus Richtung der Gemeinschaftsorgane droht. Damit ist Art. 288 Abs. 2 EGV soweit ersichtlich neben den Art. 17 ff. EGV das einzige subjektive Recht, das ausdrücklich und auch der Form nach als solches im EG-Vertrag verankert ist. Eine verallgemeinerungsfähige Aussage über die Stellung des Einzelnen im System der Verträge lässt sich aus Art. 288 Abs. 2 EGV indes nicht ableiten. Die durch den Charakter als Ausgleichsnorm vorgegebene Ex-post-Perspektive grenzt den Anspruch aus Art. 288 Abs. 2 EGV von den anderen subjektiven Rechten ab. Eine Parallele besteht hier allein mit den richterrechtlichen Staatshaftungsansprüchen nach der Francovich-Rechtsprechung. 501
Mit Ausnahme des nachstehend erwähnten Art. 288 Abs. 2 EGV.
F. Weitere subjektive Rechte des Gemeinschaftsrechts
231
IV. Die Staatshaftungsansprüche nach der Francovich-Rechtsprechung Auch diese Staatshaftungsansprüche nach der Francovich-Rechtsprechung werden vereinzelt zu den subjektiven Rechten des Gemeinschaftsrechts gezählt.502 Damit könnte neben die Gemeinschaftsgrundrechte eine zweite Gruppe an außervertraglichen „ungeschriebenen“ subjektiven Rechten des Gemeinschaftsrechts gestellt werden. Ob sich aus den Entscheidungen Francovich, Brasserie, Dillenkofer tatsächlich subjektive Rechte ableiten lassen, kann an dieser Stelle offen bleiben.503 Für den Untersuchungsgegenstand wären diese Rechte von geringem Interesse. Wegen der „Ex-postPerspektive“ dieser Schadensersatzansprüche müssten auch hier – vergleichbar der Regelung des Art. 288 Abs. 2 EGV – Vorbehalte gegen eine Verallgemeinerung geltend gemacht werden. Zudem ist der Einzelne, anders als bei den bisher aufgeführten subjektiven Rechten des Gemeinschaftsrechts, bei der Geltendmachung dieser Francovich-Rechte auf nationale Amtshaftungsansprüche als Anspruchsgrundlagen angewiesen.
502 Vgl. etwa Grzeczik, Subjektive Gemeinschaftsrechte als Grundlage des europäischen Staatshaftungsrechts, EuR 1998, 417 ff. 503 EuGH v. 19.11.1991, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, „Francovich“, Slg. 91, S. 5357 ff.; EuGH v. 5.3.1996, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, „Brasserie du Pêcheur“, Slg. 96, S. 1029; EuGH v. 8.10.1996, verb. Rs. C-179/94 und C-188-190/ 94, „Dillenkofer“, Slg. 96, S. 4845 ff.
Zweiter Teil
Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten in Rechtsprechung und Literatur Unter dem gemeinsamen Nenner der „subjektiven Rechte des Gemeinschaftsrechts“ sind die Grundfreiheiten und die Gemeinschaftsgrundrechte vorgestellt und einige tragende Strukturen eingehender herausgearbeitet worden. Nach diesem Überblick lassen sich sowohl übereinstimmende als auch trennende Elemente innerhalb dieser Strukturen wahrnehmen. Die Besonderheit der Zugehörigkeit beider Normengruppen zu der zwischenstaatlichen Rechtsordnung des Gemeinschaftsrechts führt unvermeidlich zu gleichgelagerten Problemen. Dazu gehört etwa die Frage des begrenzten Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts, der Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte gleichermaßen von den Normen einer nationalen Rechtsordnung unterscheidet. Auf diese Frage müssen beide, Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte, systematisch stimmige Antworten finden. Ähnlichkeiten zeigen sich auch bei der konkreten Anwendung in der Fallprüfung, etwa bezüglich der Schrankensystematik oder bezüglich einzelner dogmatischer Konzeptionen wie den Schutzpflichten, die sowohl als grundfreiheitliche als auch als grundrechtliche Schutzpflichten gedacht werden können. Nicht zuletzt ist für beide Normengruppen je nach dogmatischem Ansatz ein veränderlicher Anteil an subjektivem und objektivem Element nachweisbar. Beiden Rechten wird ein Mindestanteil an individualschützender subjektiv-rechtlicher Funktion und daneben unstreitig auch ein objektiv-rechtlicher „prinzipieller“ Gehalt zugestanden. Diesen Gemeinsamkeiten stehen Unterschiede vor allem in Herkunft und grundsätzlicher Zielrichtung gegenüber. Während die Grundfreiheiten, vom völkerrechtlichen Ansatz her kommend, als objektive und instrumentale Programmnormen zum Erreichen des Zieles „Binnenmarkt“ fest in der Logik des EG-Vertrages und des Markt-Denkens verankert sind, stammen die Gemeinschaftsgrundrechte aus einer anderen Zeit und einem anderen Kontext. Sie folgen den Grundfreiheiten zeitlich nach. Von Beginn an waren die Gemeinschaftsgrundrechte vorrangig auf den Schutz des einzelnen Marktbürgers gerichtet. Die Grundfreiheiten haben, nachdem sie für unmittelbar anwendbar erklärt worden sind und damit unstreitig einen Minimalanteil an subjektiver
A. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Rechtsprechung
233
Funktion übernommen haben, ihr individualschützendes Element in der Rechtsprechung des Gerichtshof Schritt für Schritt verstärkt. Die Grundfreiheiten wurden immer häufiger auch als Recht des einzelnen Marktbürgers aufgefasst, mit Hilfe dessen er sich gegen Einschränkungen seiner wirtschaftlichen Handlungsfreiheit zur Wehr setzen konnte. Damit haben sich die Grundfreiheiten in ihrer Funktion den Gemeinschaftsgrundrechten angenähert. Ob diese Annäherung so weit geht, dass von einer Gleichsetzung gesprochen werden kann, ist Gegenstand der folgenden Teile dieser Untersuchung. Ausgangspunkt ist dabei die Rechtsprechung des Gerichtshofs (A), bevor dann die Stellungnahmen der Literatur zu dieser These zusammengetragen werden (B).
A. Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten in der Rechtsprechung des Gerichtshofs Der Gerichtshof unterscheidet in seinen Urteilen grundsätzlich, trotz der erwähnten funktionalen Annäherung der Grundfreiheiten an die Grundrechte, weiterhin sowohl begrifflich als auch in der Sache zwischen den vertraglichen Grundfreiheiten (Art. 28 f. EGV, Art. 39 EGV, Art. 43 EGV und Art. 49 EGV) und den Gemeinschaftsgrundrechten. Die Terminologie des Gerichtshofs, zu der hier – soweit nicht anders vermerkt – auch die Schlussanträge der Generalanwälte gerechnet werden, ist dabei nicht so einheitlich, wie diese klare Zweiteilung vermuten lässt. Der Gerichtshof verwendet eine Vielzahl unterschiedlicher Begriffe, um die grundfreiheitlichen Vorschriften zu bezeichnen. Auch auf Seiten der Gemeinschaftsgrundrechte ist die begriffliche Zuordnung nicht immer einheitlich. Die genaue Grenze zwischen den beiden Normkategorien wird in Einzelfällen verwischt durch Begriffe wie „Grundsätze des Gemeinschaftsrechts“ oder ähnlich unbestimmte Formulierungen, die für beide Arten von Rechten – Grundfreiheiten und Grundrechte – Verwendung finden.1 Die jeweils bezeichnete Kategorie ergibt sich dann allerdings in der Regel ohne weiteres aus dem Kontext der rechtlichen Prüfung. Nur an einigen wenigen Stellen in der Rechtsprechung ist es zu einer echten Überschreitung der begrifflichen Grenze gekommen. Der Gerichtshof hat in der Entscheidung Heylens aus dem Jahr 1987 im Rahmen einer Prüfung des Art. 39 EGV festgestellt: „Der freie Zugang zur Beschäftigung ist ein Grundrecht, das jedem Arbeitnehmer der Gemeinschaft individuell vom Vertrag verliehen ist“.2 Die Grundfreiheit des Art. 39 EGV ist damit ausdrücklich als „Grundrecht“ be1 Vgl. etwa EuGH v. 15.12.1995, Rs. C-415/93, „Bosman“, Slg. 95, S. 4921, 5065, Rz. 79. Die Vereinigungsfreiheit wird im selben Satz zunächst als „Grundsatz“ und dann als „Grundrecht“ bezeichnet.
234
2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
zeichnet und klassifiziert worden. Diese Textstelle wurde in eine Folgeentscheidung (Bosman) hineingetragen.3 Darüber hinaus taucht diese explizite begriffliche Gleichsetzung einige Male in den generalanwaltlichen Schlussanträgen auf.4 Mit dieser Benennung als Grundrecht ist, jedenfalls für den Art. 39 EGV, die Gleichsetzung der Grundfreiheiten mit den Gemeinschaftsgrundrechten prima facie erfolgt. Gegen diese Einordnung durch den Gerichtshof muss zunächst der Beweis geführt werden. Solange der Gerichtshof diese Gleichsetzung nicht in der Folge bewusst, etwa durch eine ebenso klare Aussage gegenteiligen Inhalts, außer Kraft gesetzt hat – was nicht geschehen ist – kann die bloße Tatsache, dass diese richterliche Feststellung in der zitierten Form vereinzelt geblieben ist, deren vermutete Richtigkeit nicht erschüttern, wenn sie die Allgemeingültigkeit der dahinterstehenden Regel auch abschwächen mag. Um eine mögliche Überzeugung des Gerichtshofs, eine solche Gleichsetzung sei auch materiell-rechtlich zwingend, entweder nachweisen oder widerlegen zu können, muss das Verhältnis der Grundfreiheiten zu den Gemeinschaftsgrundrechten in den weiteren Urteilen des Gerichtshofs näher betrachtet werden. Dieses „Verhältnis“ der Grundfreiheiten zu den Gemeinschaftsgrundrechten ist zur besseren Orientierung in zwei Fragestellungen aufzuspalten. Unter dem „Verhältnis“ soll auf einer ersten Stufe die Frage der Gleichsetzung im engeren Sinne verstanden werden, d.h. die Frage, ob Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte so viele gemeinsame Faktoren aufweisen, dass sie als wesensgleich angesehen werden können. Zum „Verhältnis“ der beiden Kategorien gehört aber ebenso die sich anschließende zweite Frage, wie die beiden Rechte sich verhalten, wenn sie in der konkreten Anwendung aufeinander treffen. Diese zweite Stufe des „Verhältnisses“ bezeichnet das Konkurrenz- und Kollisionsverhältnis der beiden Normengruppen. Die beiden Ebenen sind inhaltlich nur schwer voneinander zu trennen. Aus der 2
EuGH v. 15.10.1987, Rs. 222/86, „Heylens“, Slg. 87, S. 4097, 4117, Rz. 14 f. unter Hinweis auf die 3. Begründungserwägung der VO 1612/68; Tettinger, in: Tettinger, Sport im Schnittfeld, S. 20; Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 125 m. w. N. 3 EuGH v. 15.12.1995, Rs. C-415/93, „Bosman“, Slg. 95, S. 4921, 5076, Rz. 129. Siehe dazu im Folgenden die Abschnitte A. I. 1. a) und A. II. 1. b) sowie die Abschnitte C. II. 1. c) und D. II. 1. im dritten Teil. 4 Schlussanträge Lenz zu „Bosman“, Slg. 95, S. 4921, 5007 f., Rz. 203; Schlussanträge Alber zu EuGH v. 13.4.00, Rs. C-176/96, „Lehtonen“, Slg. 00, S. 2681, 2701, Rz. 76 in seiner Abwägung. Beide unter ausdrücklichem Verweis auf die „Heylens“-Rechtsprechung. Als Grundrecht bezeichnet darüber hinaus Generalanwalt Van Gerven die Grundfreiheit des Art. 49 EGV in seinen Schlussanträgen zur Rs. C-159/90, „SPUC/Grogan“, Slg. 91, S. 4685, 4719, Rz. 25; vgl. die Schlussanträge Slynn zur Rs. 107/83, „Klopp“, Slg. 84, S. 2971, 2993, sowie im Sachbericht zu „Klopp“, Slg. 84, S. 2971, 2980, Rz. 7 als Vorbringen der Kommission.
A. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Rechtsprechung
235
Art, wie die beiden Rechte sich zueinander verhalten, muss notwendig auch eine Aussage über die „Wesensart“ des jeweiligen Rechts abgeleitet werden können. In umgekehrter Richtung beeinflusst etwa eine Bewertung, die beide Normengruppen für wesensgleich erklärt, das Konkurrenz- oder Kollisionsverhältnis der beiden Rechtsnormen. Ein Grundrecht, das mit einem anderen Grundrecht in Kollision tritt, verhält sich – möglicherweise – anders als ein Grundrecht, das mit einer Grundfreiheit in Kollision tritt, der die grundrechtliche Qualität abgesprochen wurde. Trotz dieser gegenseitigen Bedingtheit der beiden Aspekte des „Verhältnisses“ von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten sollen die beiden Ebenen aber im Folgenden als eigenständige Punkte dargestellt werden. Abgesehen von der oben erwähnten Passage in der Entscheidung Heylens bezieht der Gerichtshof zu der Frage des Verhältnisses der Grundfreiheiten zu den Gemeinschaftsgrundrechten in seiner weiteren Rechtsprechung nicht Stellung.5 In den generalanwaltlichen Schlussanträgen finden sich unmittelbare Aussagen zu diesem Verhältnis ebenfalls nur sehr vereinzelt.6 Die Rückschlüsse auf die Qualität dieses Verhältnisses sind daher hauptsächlich indirekt über die Auswertung bestimmter Rechtsprechungspositionen als Indizien möglich. Die Indizien, die über dieses Verhältnis Auskunft geben, sind wiederum in zwei Ebenen zu scheiden. Zum einen ist das die rein terminologische Ebene, wie sie bereits mit dem Zitat aus der Entscheidung Heylens angesprochen wurde. Die Verwendung der Begriffe „Grundfreiheiten“ und „Grundrechte“ durch die Rechtsprechung muss notwendig Ausgangspunkt aller Systematisierungsversuche sein. Antworten können aus dieser oberflächlicheren rein begrifflichen Ebene vor allem zu dem ersten Aspekt des „Verhältnisses“ – der Frage der Gleichsetzung – erwartet werden. Weitere Indizien zum Verhältnis der Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte lassen sich auf einer zweiten systematischen Ebene finden. Die Art, in der die Rechtsprechung eine bestimmte Grundfreiheit in der rechtlichen Prüfung „einsetzt“, kann Aufschluss darüber geben, ob der Ge5 EuGH v. 15.10.1987, Rs. 222/86, „Heylens“, Slg. 87, S. 4097, 4117, Rz. 14 f. Hinzu kommt die Bezeichnung der Gleichheitssätze in Art. 12 EGV und Art. 141 EGV als Grundrechte, vgl.: etwa EuGH v. 19.10.1977, verb. Rs. 117/76 und 16/77, „Ruckdeschel“, Slg. 77, S. 1753, 1770, Rz. 7; EuGH v. 15.6.1978, Rs. 149/77, „Defrenne III“, Slg. 78, S. 1365, 1379, Rz. 28/29. Die genannten Vorschriften sind allerdings keine Grundfreiheiten. Auch ist das ungeklärte Verhältnis der Vorschriften zum allgemeinen Gleichheitssatz zu berücksichtigen, siehe oben D. im zweiten Teil. 6 Schlussanträge Lenz zu EuGH v. 15.12.1995, Rs. 415/93, „Bosman“, Slg. 95, S. 4921, 5007 f., Rz. 203, S. 5013, Rz. 126; Schlussanträge Alber zu EuGH v. 13.4.00, Rs. C-176/96, „Lehtonen“, Slg. 00, S. 2681, 2703, Rz. 76; Schlussanträge Van Gerven zu EuGH v. 4.10.1991, Rs. C-159/90, „SPUC/Grogan“, Slg. 91, S. 4685, 4719, Rz. 25, S. 4727 f., Rz. 37.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
richtshof – losgelöst von der Etikettierung der Norm auf terminologischer Ebene – in dieser Norm eine grundrechtliche Vorschrift sieht oder nicht. Zugleich lässt sich aus der Art, in der diese Norm „eingesetzt“ wird, unter Umständen auch eine Antwort zum Konkurrenzverhältnis zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten gewinnen. Auch diese beiden Ebenen sind nicht vollständig voneinander zu trennen. Insbesondere die formellen Argumentationsmuster des Gerichtshofs – zum Beispiel der wiederholte, floskelhafte Hinweis darauf, dass die Vertragsartikel 28 ff. EGV „grundlegend“ und „Grundsätze des Gemeinschaftsrechts“ seien – sind an sich auf der rein terminologischen Ebene anzusiedeln, enthalten zugleich aber in der dem Gerichtshof eigenen formelhaften Diktion auch materiellrechtliche Wertungen und Weichenstellungen. I. Die Gleichsetzung von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten auf begrifflicher Ebene Der Gerichtshof bezeichnet die Grundfreiheiten erstmals in der Entscheidung Casati aus dem Jahr 1980 als „Grundfreiheiten“.7 Danach verwendet er – soweit ersichtlich – diese Bezeichnung in den Urteilsbegründungen allerdings nur noch äußerst selten.8 Am nächsten kommt dem die gelegentlich benutzte Wendung „Freiheit“ oder „Freiheiten“, in Verkürzung der Begriffe „Niederlassungsfreiheit“, „Freier Dienstleistungsverkehr“ oder „Freier Warenverkehr“, wie sie im Text der Vertragsvorschriften vorkommen. Häufiger jedoch werden die Begriffe des Vertrags in verschiedenen Abwandlungen in den Urteilsbegründungen eingesetzt. Entsprechend ist dann von der „Freizügigkeit“, dem „freien Warenverkehr“, dem „freien Dienstleistungsverkehr“ die Rede. Daneben finden sich, ohne dass diese abweichende Sprachregelung ein System erkennen ließe, Ausdrücke wie „Recht auf . . .“, „Garantie“ oder aber der Gerichtshof benennt den Vertragsartikel als solchen unter Anführung der Artikelnummer. Dabei wechselt die Terminologie nicht nur von Entscheidung zu Entscheidung, sondern auch innerhalb ein- und desselben Urteils, z. T. auch innerhalb desselben Erwägungsgrundes.9 Wegen der Vielzahl der Fälle und 7 EuGH v. 11.11.1981, Rs. 203/80, „Casati“, Slg. 80, S. 2595, 2614, Rz. 8; Pfeil, Historische Vorbilder, S. 4 f., 261. 8 Ein weiterer Nachweis für den Begriff „Grundfreiheiten“ lässt sich nicht finden. Wegen der großen Zahl der Entscheidungen, in denen der Gerichtshof die Grundfreiheiten zur Anwendung gebracht hat, ist eine solche Aussage negativen Inhalts nicht mit letzter Gewissheit zu treffen. 9 Als ein Beispiel für diesen Wechsel der Bezeichnung innerhalb desselben Erwägungsgrundes kann ein weiteres Mal die Entscheidung EuGH v. 11.11.1981, Rs. 203/80, „Casati“, Slg. 80, S. 2595, 2614, Rz. 8 angeführt werden.
A. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Rechtsprechung
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wegen der Unübersichtlichkeit des Befundes ist ein System kaum auszumachen. Erschwerend kommt hinzu, dass die begriffliche Zersplitterung durch die Vielzahl der Sprachen, die ein Text auf dem Weg von der gedanklichen Konzeption bis zur Veröffentlichung in der deutschen Sprache durchläuft, verstärkt werden kann.10 Eine realistische und wahrscheinliche Erklärung ist daher in der Tat, von einer zufälligen ad-hoc-Wortwahl auszugehen. Die verschiedenen Bezeichnungen für die Grundfreiheiten sind dann synonym mit den entsprechenden Vertragsartikeln als solchen. Dennoch lassen sich auch auf Ebene der terminologischen Unterscheidung einige vorsichtige Systematisierungsversuche unternehmen. Es fällt beispielsweise auf, dass einzelne Wendungen häufig in Kombination mit anderen Formulierungen eingesetzt werden und zum Teil auch in bestimmten – inhaltlich verwandten – Gedankenschritten innerhalb einer Urteilsbegründung angesiedelt zu sein scheinen. Wenn es darum geht, den Anwendungsbereich einer Grundfreiheit über den bisherigen Stand auszudehnen, wird die Nennung der Grundfreiheit häufig mit einem bekräftigenden Zusatz wie „grundlegendes Prinzip des Binnenmarktes“ verbunden. Dieser formelhafte Hinweis des Gerichtshofs auf die „grundlegende Bedeutung“ der Art. 28, 39, 43 und 49 EGV innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung ist das auffälligste gemeinsame Merkmal der Terminologie im Bereich der Grundfreiheiten, ohne dass sich hier allerdings eine Abgrenzung in Richtung Gemeinschaftsgrundrechte ergäbe. Vielmehr trifft diese Beobachtung sowohl auf die Grundfreiheiten als auch – nicht ganz so durchgehend – auf die Gemeinschaftsgrundrechte zu. Eine weitere Auffälligkeit, die für alle Grundfreiheiten gleichermaßen zu gelten scheint, ist in der Tenorierung zu beobachten. Im Tenor tendiert der Gerichtshof dazu, die Grundfreiheiten nicht zu umschreiben, sondern die Artikelnummer anzugeben und, soweit es im zu entscheidenden Fall eine Rolle spielt, auch den Absatz, die Ziffer und den Spiegelstrich mit zu zitieren. Diese Art der Zitierweise macht deutlich, dass hier trotz der Nähe der Grundfreiheitsnormen zu „Grundlagen“ und „Prinzipien“ ganz konkret geschriebenes Recht so präzise wie möglich zur Anwendung kommt.11
10 Grundrechte werden bezeichnet als: libertés fondamentales, libertés publiques, libertés, Grundfreiheiten dagegen als: libertés fondamentales, i. d. R. aber spezifisch: libre circulation des services, libre circulation des travailleurs etc.; Grundrechte sind: Fundamental rights, fundamental freedoms; right to free movement, basic rights, Human rights. Grundfreiheiten sind: Treaty freedoms, free movement principles, market freedoms, „the four freedoms“. 11 Soweit sich das im Einzelfall mit den prozessualen Besonderheiten eines Vorlageverfahrens nach Art. 234 EGV vereinbaren lässt.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten 1. Die Terminologie im Bereich der Grundfreiheiten
Mit dem Wortlaut des EG-Vertrags und den Artikelnummern, unter denen die einzelnen Grundfreiheiten unmissverständlich aufgerufen werden können, verfügt der Gerichtshof über einen festen Anknüpfungspunkt im Vertrag, auf den er sich bei der Bezeichnung der Grundfreiheiten stets zurückziehen kann. Die im Vertrag vorgegebenen Begriffe stehen als neutrale Terminologie bereit. Eine Wertung der Normen bleibt dem Gerichtshof erspart. Solange die Vertragsvorschriften „einfach angewendet“ werden, reicht diese vertragsimmanente Nomenklatur zur Identifizierung der entsprechenden Grundfreiheit aus. Eine weitergehende „Charakterisierung“ oder „Klassifizierung“ über eine stärker wertende Terminologie ist in diesen Normalfällen für die jeweilige Falllösung überflüssig. Der Gerichtshof vermeidet es zu Recht, ohne Not aus einem schlichten Hinweis auf die anzuwendende Vorschrift ein Abgrenzungskriterium gegenüber anderen Rechtsnormkategorien zu machen. In einigen Fällen allerdings kann der Gerichtshof dem Bekenntnis zu einer wertenden Terminologie nicht einfach durch das Zitat der Vertragsvorschrift entgehen. Es sind dies die Passagen in den Entscheidungsgründen, in denen die grundfreiheitlichen Vertragsnormen nicht lediglich angewandt werden, sondern in denen der Gerichtshof entweder die Norm erweitert (a) oder die Norm gegen eine andere Rechtsnorm abwägen muss (b). a) Erweiterung des Anwendungsbereiches In diesen „Erweiterungsfällen“ nimmt der Gerichtshof die vertragliche Norm zum Anlass, seine eigene Vorstellung von der Reichweite der Marktfreiheiten durch seine Rechtsprechung in der Gemeinschaftsrechtsordnung festzuschreiben. Dabei zeigt sich erneut, dass sich die Funktion oder die Tragweite der Rechtsnorm über ihre vertragliche Verankerung hinaus in der Anwendung durch den Gerichtshof erheblich verändern kann. Der Gerichtshof muss in diesen Fällen „Anlauf nehmen“, um den Qualitätssprung über die ursprüngliche Funktion der Vertragsvorschriften hinaus zu bewältigen. Das geschieht zum einen dadurch, dass der Gerichtshof bei der Nennung die Vorschrift auch sprachlich über die Norm selber hinausverweist, indem er etwa den Art. 39 EGV oder den Art. 49 EGV als eines der „Grundprinzipien“ des Binnenmarktes bezeichnet und damit einen archimedischen Punkt außerhalb der Vertragsvorschrift vorgibt, über den eine Erweiterung der Norm möglich gemacht wird.12 Zum andern erfolgt im gleichen Schritt 12 Vgl. in der Entscheidung EuGH v. 12.12.1974, Rs. 36/74, „Walrave“, Slg. 74, S. 1405, 1419 f., Rz. 16/19 (18) die Passagen, die der Begründung der Drittwirkung vorangestellt sind. Vgl. auch EuGH v. 15.12.1995, Rs. C-415/93, Bosman“, Slg. 95,
A. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Rechtsprechung
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die Klassifizierung der Norm dadurch, dass sie in diesen weiteren Kontext eingeordnet wird. Die Erweiterung erscheint dann als notwendige Anpassung der „Benennung“ und der „Verwendung“ an das tieferliegende Wesen der Rechtsnorm, welches in der vertraglich fixierten Form nur ausschnittsweise erfasst ist. Als ein Beispiel sollen erneut die Entscheidungsgründe des Bosman-Urteils angeführt werden. Im 78. Erwägungsgrund baut der Gerichtshof den Art. 39 EGV als „grundlegende Freiheit im System der Gemeinschaften“ auf, um die Zuständigkeit der Wirtschaftsregeln für den Sportbereich zu begründen, der als „kulturelle“ Angelegenheit den Grundfreiheiten zu entkommen sucht. Das gelingt nicht. Die Grundfreiheiten erstrecken sich auch auf die Grenzbereiche zwischen Kultur und Wirtschaft, wie etwa den bezahlten Sport.13 b) Abwägungssituationen Die zweite Situation, in der der Gerichtshof von einer neutralen terminologischen Linie abweicht und den Grundfreiheiten auf begrifflicher Ebene zusätzliches Gewicht verleiht, ist die Abwägungssituation.14 Beispielhaft kommt dies in der generalanwaltlichen Stellungnahme in der Sache Lehtonen zum Ausdruck. Dort musste Generalanwalt Alber prüfen, ob der belgische Basketballverband die Freizügigkeit von Herrn Lehtonen durch das Verbot, in der laufenden Saison den Verein zu wechseln, zu Unrecht beschnitten hatte. Der Verband berief sich auf sein Interesse an einer „verzerrungsfreien Meisterschaft“ (der Vergleichbarkeit der Spielergebnisse), um die Beschränkung zu rechtfertigen. Dieses Interesse setzt Alber, wie er selber schreibt, „in ein Verhältnis zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer“. Das umschreibt den Abwägungsvorgang. Er spricht dann der ArbeitnehmerfreiS. 4921, 5064 f., Rz. 78, 79 die Enscheidungsgründe, bevor auch der Bereich des Sports den Grundfreiheiten unterworfen und die Verbandsfreiheit der Verbände als Gegenrecht entkräftet wird. Ein weiteres Beispiel wäre etwa die Entscheidung des EuGH v. 6.10.1981, Rs. 246/80, „Broekmeulen“, Slg. 81, S. 2311, 2329, Rz. 20, um die erweiterte Auslegung der Grundfreiheit zu begründen, die hier erstmals – in Abweichung von der geltenden Praxis – von den „Rückkehrern“ auch ihrem Heimatstaat entgegengehalten werden können. 13 EuGH v. 15.12.1995, Rs. C-415/93, „Bosman“, Slg. 95, I-4921, 5065, Rz 78. 14 Dagegen kann mit Recht eingewandt werden, dass jede Anwendung einer Norm eine Abwägung mitumfasst. Die Anwendung einer Grundfreiheit beinhaltet, dass in Abwägung mit dem gegengerichteten staatlichen Interesse an der Beschränkung dieser Grundfreiheit bestimmt werden muss, wieweit die Grundfreiheit effektiv zur Geltung kommt. Dennoch verbleibt ein formeller Unterschied zwischen der „vorgesteuerten Abwägung“ eines Schrankensystems (Art. 30 EGV, Art. 39 Abs. 2 EGV) oder einer freien Abwägung von Interessen (bei „Lehtonen“ der reibungslose Spielbetrieb als zwingendes Erfordernis des Allgemeininteresses) außerhalb eines solchen Systems. Diese Form der Abwägung ist hier gemeint.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
zügigkeit ein hohes Gewicht „sowohl als Grundfreiheit als auch als Grundrecht“ zu.15 c) Zusammenfassung: Auffälligkeiten in der Terminologie Es wird an diesen Beispielen die Technik des Gerichtshofs deutlich, bei entscheidenden Weichenstellungen in den Entscheidungsgründen die Grundfreiheiten nicht einfach mit ihrer Artikelnummer zu benennen, sondern ihnen für den Schritt über die „gewöhnliche Anwendung“ hinaus oder für die Abwägung gegen andere – grundfreiheitskonträre – Interessen begrifflich den Rücken zu stärken. Daraus lassen sich zwei Merkmale der Grundfreiheiten isolieren, die für die Frage des Grundrechtscharakters von Bedeutung sein können. Zum einen kann am Beispiel dieser begrifflichen Aufwertung der grundfreiheitlichen Vorschriften die untrennbare Verbindung der Grundfreiheiten und des Binnenmarktes sichtbar gemacht werden. Die Grundfreiheiten verfügen über eine immanente Legitimationsreserve. An jeder Stelle in einer Entscheidungsbegründung können sie durch Rückanbindung an das „Projekt Binnenmarkt“ und an die grundlegenden Gemeinschaftsziele ein hohes Potenzial am Durchsetzungskraft freisetzen. Das unterscheidet sie von anderen gemeinschaftlichen Rechtsnormen, die keine vergleichbare Anbindung aufweisen können. Zum anderen kann an den genannten Beispielen eine gewisse Loslösung der verschiedenen Funktionen der Grundfreiheiten von der Vertragsvorschrift selber beobachtet werden. Der entsprechende Vertragsartikel ist nach wie vor der Anknüpfungspunkt bei der Anwendung der Grundfreiheiten und er wird auch nach wie vor synonym mit der Grundfreiheit selber verwendet. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs deutet sich aber bereits sprachlich eine Konzeption von den Grundfreiheiten als Rechtsnormen an, die über das ursprünglich im Vertragswortlaut fixierte und dort zugrundegelegte Verständnis der Grundfreiheiten hinausweisen. Der Artikel fungiert dann als Klammer, durch die verschiedene Funktionen der Grundfreiheiten zusammengefasst werden. Die beiden eben benannten Phänomene – die „Legitimationsreserve“ und das „Loslösen“ – finden sich en miniature in einzelnen Bezeichnungen wieder, die der Gerichtshof für die Grundfreiheiten wählt. Eine solche häufig wiederkehrende Wendung ist etwa die Bezeichnung „der in Art. 39 EGV enthaltene Grundsatz der Freizügigkeit“ oder „der in Art. 43 EGV verankerte Grundsatz der Dienstleistungsfreiheit“ für die entsprechende Grundfreiheit. Diese Ausdruckweise – abstrahiert in der Formel: „Der in Art. X 15 Schlussanträge Alber zu EuGH v. 13.4.00, Rs. C-176/96, „Lehtonen“, Slg. 00, S. 2681, 2703, Rz. 76.
A. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Rechtsprechung
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verankerte Grundsatz der XY-Freiheit“ – transportiert ebenfalls die beiden angesprochenen Informationen. So wird suggeriert, dass XY nicht mit X identisch ist, sondern neben der vertraglichen Verankerung eine gewisse eigenständige Stellung als Rechtsnorm hat, und um den Betrag Y über die vertragliche Verankerung hinausweist. Daneben ist die Benennung der XYFreiheit als „Grundsatz“ der bekannte Hinweis auf die Wichtigkeit der Norm für den Binnenmarkt. 2. Die Terminologie im Bereich der Gemeinschaftsgrundrechte
Auf Seiten der Gemeinschaftsgrundrechte erklärt sich das Herantasten an eine einheitliche Bezeichnung für diese Grundrechte bereits aus der Entstehungsgeschichte der Rechte als rein richterrechtliche Schöpfung. Einen – auch begrifflichen – Anknüpfungspunkt im Vertragstext hatte der Gerichtshof nicht, als er erstmals diese neue Kategorie von Rechten in seine Erwägungsgründe einbaute. Die neueren Bezugnahmen auf die Gemeinschaftsgrundrechte in den Texten zeichnen diese richterliche Terminologie lediglich nach.16 Mit der zunehmenden Einbindung der EMRK und der Rechtsprechung des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs in die Gemeinschaftsrechtsordnung hat sich diese Situation geändert. Immer häufiger nennt der Gerichtshof unmittelbar den einschlägigen Artikel der Konvention, wenn er Grundrechte wie etwa die Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene prüft.17 Der Begriff „Gemeinschaftsgrundrechte“, der in der vorliegenden Untersuchung dem Begriff der Grundfreiheiten gegenübergestellt wird, wird vom Gerichtshof – soweit ersichtlich – nicht verwendet. Ganz allgemein von „Grundrechten“ spricht dagegen die Formel, die der Gerichtshof seinen Grundrechtsprüfungen voranstellt: „Die Grundrechte gehören nach ständiger Rechtsprechung zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung 16
Vgl. die Präambeln und Art. 6 Abs. 2 EUV. EuGH v. 4.10.1991, Rs. C-159/90, „SPUC/Grogan“, Slg. 91, S. 4685, 4741, Rz. 30 f.; EuGH v. 18.6.1991, Rs. C-260/89, „ERT“, Slg. 91, S. 2925, 2963, Rz. 41 f., vgl. auch Schlussanträge Lenz zu „ERT“, Slg. 91, S. 2925, 2946 ff., Rz. 46, 48 ff.; EuGH v. 26.6.1997, Rs. C-368/95, „Familiapress“, Slg. 97, S. 3689, 3715, 3717, Rz. 18, 26, und die Schlussanträge Tesauro zu „Familiapress“, Slg. 3689, 3706, Rz. 26 ff.; Generalanwalt Jacobs sucht in seinen Schlussanträge zur Entscheidung des EuGH v. 30.3.1993, Rs. C-168/91, „Konstantinidis“, Slg. 95, S. 1191, 1208, Rz. 35 dagegen vergeblich nach einem Namensgrundrecht oder Persönlichkeitsgrundrecht in der EMRK und muss ein solches Recht daher aus den einzelnen Verfassungen herleiten. Der Gerichtshof bleibt trotz der Möglichkeit, sich auf die EMRK zu beziehen, häufig bei seiner Strategie, die Gemeinschaftsgrundrechte auf mehrere Säulen zu stützen. Er bringt die EMRK-Vorschrift dann als „Ausprägung“ des allgemeinen Rechtsgrundsatzes zur Anwendung. 17
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
der Gerichtshof sichert.“18 Die Gemeinschaftsgrundrechte werden in Anlehnung an ihre Herleitung entsprechend als „allgemeine Grundsätze“ oder „allgemeine Prinzipien des Gemeinschaftsrechts“ bezeichnet.19 Auch den Begriff „Freiheiten“ verwendet der Gerichtshof für einzelne Gemeinschaftsgrundrechte. Das scheint vor allem dann der Fall zu sein, wenn der Eigenname des jeweiligen Grundrechts diesen Wortbestandteil enthält, wie das bei der Meinungsfreiheit oder der Vereinigungsfreiheit der Fall ist.20 Die Gefahr, dass der Gerichtshof aus Richtung der Gemeinschaftsgrundrechte die begriffliche Grenze zu den Grundfreiheiten verwischen könnte, ist geringer als für die umgekehrte Richtung. Der Gerichtshof ist nicht in Versuchung, ein gemeinschaftsrechtliches Grundrecht als Grundfreiheit bezeichnen oder kategorisieren zu wollen. Dass vereinzelt in den Erwägungsgründen Grundrechte unter der Bezeichnung „Grundfreiheiten“ angesprochen werden, ist ein Scheinproblem. Diese Bezeichnung „Grundfreiheiten“ für die Gemeinschaftsgrundrechte kommt nur in Zitatform in den Urteilsgründen des Gerichtshofs vor, wenn auf die EMRK-Vorschriften Bezug genommen wird. Entsprechend taucht der Terminus „Grundfreiheiten“ in der Regel als Teil des feststehenden Gesamtbegriffes „Menschenrechte und Grundfreiheiten“ auf, wie ihn die Konvention vom 4. November 1950 im Titel führt.21 Trotz der wenig einheitlichen Terminologie auf Seiten der Grundrechte im Gemeinschaftsrecht ist eine gezielte sprachliche Annäherung in Richtung der „Grundfreiheiten“ oder „Verkehrsfreiheiten“ – an die technischen 18 EuGH v. 18.6.1991, Rs. C-260/89, „ERT“, Slg. 91, S. 2925, 2963, Rz. 41 f.; EuGH v. 26.6.1997, Rs. C-368/95, „Familiapress“, Slg. 97, S. 3689, 3715, 3717, Rz. 18, 24; EuGH v. 29.5.1997, Rs. C-299/95, „Kremzow“, Slg. 97, S. 2629, 2640 f., Rz. 6; EuGH v. 4.10.1991, Rs. C-159/90, „SPUC/Grogan“, Slg. 91, S. 4685, 4741, Rz. 30 f.; u. v. m. 19 Schlussanträge Lenz zu EuGH v. 18.6.1991, Rs. C-260/89, „ERT“, Slg. 91, S. 2925, 2948, Rz. 49 „Gemeinschaftsrechtliche Ausprägung eines allgemeinen Prinzips, nämlich der Freiheit der Meinungsäußerung“; EuGH v. 15.12.1995, Rs. C415/93, „Bosman“, Slg. 95, S. 4921, 5065, Rz. 79 „Dieser Grundsatz [der Vereinigungsfreiheit] gehört zu den Grundrechten, die nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs (. . .) in der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützt werden.“ 20 EuGH v. 26.6.1997, Rs. C-368/95, „Familiapress“, Slg. 97, S. 3689, 3717, Rz. 26 (Meinungsfreiheit); EuGH v. 15.12.1995, Rs. C-415/93, „Bosman“, Slg. 95, S. 4921, 5065, Rz. 80 (Vereinigungsfreiheit) sowie auf S. 5068 f., Rz. 93, 96 (Arbeitnehmerfreizügigkeit). 21 Vgl. dazu Pfeil, Historische Vorbilder, S. 3 ff., 37 ff., 43; als Beispiel einer verwirrenden Begriffswahl siehe auch La Pergola in seinen Schlussanträgen zu EuGH v. 29.5.1997, Rs. C-299/95, „Kremzow“, Slg. 97, S. 2629, 2635, Rz. 7. Er bezeichnet die nationalen Grundrechte als Grundfreiheiten. Auch das lässt sich aber wohl durch die – bewusste oder unbewusste – Anlehnung an die EMRK-Rechtsprechung erklären.
A. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Rechtsprechung
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Bezeichnungen der Grundfreiheiten – nicht zu erkennen. Als auffälliger Befund ist an dieser Stelle festzuhalten, dass der Gerichtshof auch dann nicht zu einer klaren Kategorisierung und einer eindeutigen Terminologie neigt, wenn die beiden Rechtsnormkategorien sich in einer Kollision (Abwägungssituation) unmittelbar begegnen. Auch in diesen Abschnitten behält der Gerichtshof eine „austauschbare“ Begriffswahl bei, anstatt die Chance wahrzunehmen, die aufeinandertreffenden verschiedenen Kategorien sauber zu trennen.22 II. Die Gleichsetzung von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten auf materiell-rechtlicher Ebene Über diese rein begrifflichen Systematisierungsversuche hinaus lassen sich Aussagen des Gerichtshofs zum Verhältnis der Grundfreiheiten zu den Gemeinschaftsgrundrechten aus der Art und Weise ableiten, in der die Rechtsprechung diese Rechtsnormen in ihre konkreten Falllösungen einbaut. Auch ohne den Grundfreiheiten ausdrücklich bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben, legt der Gerichtshof mit jeder Anwendung der grundfreiheitlichen Vorschriften, insbesondere in den Fällen, in denen die Anwendung den ursprünglichen Vertragswortlaut hinter sich lässt, bestimmte Eigenschaften dieser Grundfreiheiten fest. Es sind dies Eigenschaften, die als vorausgesetzt mitgedacht werden müssen, wenn eine eingeschlagene Linie des Gerichtshofs konsistent fortgeführt werden soll. 1. Hinweise auf eine (mögliche) Gleichsetzung von Grundfreiheiten und Grundrechten
Für die Frage der Gleichsetzung von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten sind drei Phänomene in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Grundfreiheiten von besonderem Interesse. Das ist zum einen der sich ständig wiederholende Hinweis auf die „grundlegende Bedeutung“ der Art. 28 EGV, Art. 39 EGV, Art. 43 EGV und Art. 49 EGV (a). Daneben erlauben die Weiterentwicklung der Grundfreiheiten von Diskriminierungsverboten zu allgemeinen Beschränkungsverboten (b) und der Umgang mit 22 Siehe dazu vor allem die Entscheidungen EuGH v. 4.10.1991, Rs. C-159/90, „SPUC/Grogan“, Slg. 91, S. 4685 ff.; EuGH v. 26.6.1997, Rs. C-368/95, „Familiapress“, Slg. 97, S. 3689 ff.; EuGH v. 9.12.1997, Rs. C-265/95, „Kommission/ Frankreich“, Slg. 97, S. 6959 ff. sowie die Stellungnahmen der Literatur zur Abwägung der Grundfreiheiten gegen die Grundrechte: Gramlich, DÖV 1996, S. 801, 804, 806; Schärf, EuZW 1998, S. 617, 618; Kainer, JuS 2000, S. 431, 435; Szczekalla, DVBl. 1998, S. 219, 223 f.; Schorkopf, EWS 2000, S. 156, 161; vgl. aber zuletzt Schindler, Kollisionsmodell, S. 178 ff.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
der Problematik der Drittwirkung (c) Rückschlüsse auf die Annahmen, die der Gerichtshof für das Verhältnis der Grundfreiheiten zu den Grundrechten zugrundelegt. a) Beide Rechtsnormen sind von fundamentaler Bedeutung Die erste Aussage des Gerichtshofs zur materiellen „Gewichtung“ der Grundfreiheiten fällt zum Teil mit den Beobachtungen zusammen, die bereits unter den rein terminologischen Systematisierungsansätzen aufgeführt worden sind. Indem der Gerichtshof die Art. 28 ff. EGV durchgehend mit der Vorsilbe „Grund-“ versieht oder mit den Worten „grundlegend“ oder „Grundsätze“ in Verbindung bringt, wirft er diese Vertragsvorschriften als sehr hohe Gewichte in die juristische Waagschale. Durch die enge Rückanbindung an die Verträge selber und an die Idee der Wirtschaftsgemeinschaft als solche wird den Grundfreiheiten eine inhärente Autorität mit auf den Weg gegeben. Die Grundfreiheiten haben auf diese Weise per se, d.h. noch bevor sie in Beziehung zu den jeweils im Streit stehenden Interessen und Positionen des Einzelfalls gesetzt werden, einen hohen Durchsetzungsanspruch innerhalb des Systems des Gemeinschaftsrechts. Sie stehen für die Kernbereiche dieser Rechtsordnung. Gegen die Vermutung der Richtigkeit und Gewichtigkeit der Binnenmarktfreiheiten als Grundfreiheiten trägt derjenige, der sie in Zweifel ziehen möchte, die Darlegungs- und Argumentationslast. Für den Fall einer Abwägung der Grundfreiheiten gegen andere, grundfreiheitskonträre Interessen ist auf Seiten der Grundfreiheiten in der Art und Weise, in der sie in den Erwägungsgründen auftreten, der Abwägungsgesichtspunkt des wichtigen Gemeinschaftsinteresses schon in die bloße Anwendung der Norm selbst mit eingestellt. Diese unmittelbare Anbindung der Grundfreiheiten an die übergeordneten Binnenmarktziele geschieht in den Urteilsgründen indes in einer so verknappten und stereotypen Form, dass dadurch die Aussagekraft zur dogmatischen Frage eines potenziell „grundrechtlichen“ Charakters der Grundfreiheiten stark relativiert ist. Insbesondere ergibt sich aus dieser formelhaften Wiederholung des „grundlegenden Charakters“ der Grundfreiheiten keine Stärkung des subjektiv-individualrechtlichen Elements innerhalb einer Grundfreiheit. Das Herausstellen der grundlegenden Bedeutung der Grundfreiheiten erfolgt in gleichem Maße für die Fälle, in denen der individualschützende Aspekt im Vordergrund steht wie für die Fälle, in denen die Berufung auf die Grundfreiheit in erster Hinsicht dazu dient, das objektivrechtliche Prinzip der raschen Marktdurchdringung sicherzustellen.23 23 Vgl. die Durchsetzung der Beachtung der Grundfreiheiten in reinen Vertragsverletzungsverfahren.
A. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Rechtsprechung
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In diesem Befund laufen Grundfreiheiten und Grundrechte daher weitgehend parallel. Die „grundlegende Wichtigkeit“ können beide für sich beanspruchen. Insoweit ist diese Wichtigkeit ein einigendes und kein trennendes Element. Ein Unterschied besteht allerdings hinsichtlich des Bezugsrahmens, der jeweils für die „Wichtigkeit“ ausschlaggebend ist. Die Grundfreiheiten sind fundamental für den Binnenmarkt. Die Gemeinschaftsgrundrechte sind fundamental für die einzelnen EU-Bürger und damit für die Gemeinschaft als Gemeinwesen (Union der Bürger etc.) in einem über die wirtschaftlichen Ziele hinausweisenden Kontext. b) Der Gerichtshof geht von einer freiheitsrechtlichen Struktur der Grundfreiheiten aus Mit seiner Feststellung, „nur die Auslegung des Art. 39 EGV als Beschränkungsverbot“ sei in der Lage, „dem Charakter des Rechtes auf Freizügigkeit als einem Grundrecht, das jedem Arbeitnehmer der Gemeinschaft individuell vom Vertrag verliehen ist, gerecht zu werden“ stellt Generalanwalt Lenz in seinen Schlussanträgen zu der Rechtssache Bosman den Zusammenhang her, der als weiteres Indiz für eine inhaltliche Gleichsetzung von Grundfreiheiten und Grundrechten in der Rechtsprechung gewertet werden kann.24 Jede Beschränkung des Freizügigkeitsrechtes, so der Generalanwalt, verletze den Betroffenen in diesem Grundrecht. Die nicht-diskriminierende Natur der Maßnahme könne daher nicht bewirken, dass sie aus dem Anwendungsbereich des Art. 39 EGV herausfalle.25 Der Gerichtshof ist im Fall Bosman dem Vorschlag des Generalanwalts gefolgt und hat die unterschiedslos beschränkende Maßnahme (Transferregeln) an Art. 39 EGV gemessen. Mit dieser Erweiterung der Funktion des Art. 39 EGV vom grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbot zum allgemeinen Beschränkungsverbot hat der Gerichtshof dem Art. 39 EGV – wie zuvor bereits in parallelen Fällen auch den anderen Grundfreiheiten – eine Struktur zuerkannt, die der eines Freiheitsrechts ähnelt und demnach der Struktur des „einfachsten, ursprünglichsten Grundrechts“ im Sinne eines Abwehrrechts entspricht. Der Vergleich mit dem europäischen Nachbarn und damit die ausgleichende und angleichende Funktion der Grundfreiheiten entfällt. Geschützt wird nunmehr die Beweglichkeit des Marktteilnehmers als solche. Aus der relativen Konstellation, die für die Grundfreiheiten 24 Schlussanträge Lenz zu EuGH v. 15.12.1995, Rs. C-415/93, „Bosman“, Slg. 95, S. 4921, 5007 f., Rz. 203, unter Verweis auf „Heylens“, Rz. 14. 25 Schlussanträge Lenz zu EuGH v. 15.12.1995, Rs. C-415/93, „Bosman“, Slg. 95, S. 4921, 5007 f, Rz. 203, unter Verweis auf Schlussanträge Jacobs zu EuGH v. 30.3.1993, Rs. C-168/91, „Konstantinidis“, Slg. 95, S. 1191, 1212.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
typisch ist, wird eine absolute Konstellation, die nur noch den Einzelnen und die ihn störende Vorschrift in den Blick nimmt. Damit ergibt sich aus der Entscheidung Bosman ein klares Votum für eine funktionale Gleichsetzung der Grundfreiheiten und der Gemeinschaftsgrundrechte. Vor allem indem die Grundfreiheiten hier – in der besonderen Konstellation der Transferregeln in der Sache Bosman – auf eine typische grundfreiheitliche Funktion verzichten, verhalten sie sich wie Grundrechte. Die Analyse der Grundfreiheiten im ersten Teil der Untersuchung hat aber gezeigt, dass dieser Schluss nicht ohne weiteres auf die Struktur der Grundfreiheiten als solche übertragen werden kann. Die Entscheidung Bosman gehört zu einer kleinen Gruppe von Fällen, in denen tatsächlich ein struktureller Gleichlauf der Grundfreiheiten mit den grundrechtlichen Abwehrrechten nachweisbar ist. Für die Mehrzahl der Entscheidungen, die zu den Grundfreiheiten ergangen sind, gelingt diese Gleichsetzung nicht. Der Schritt vom Diskriminierungsverbot zum Beschränkungsverbot ist zwar in der Literatur begrifflich vollzogen worden. In vielen Fällen, in denen von einem echten Beschränkungsverbot gesprochen wird, kommt aber bei genauer Analyse des zugrundeliegenden Sachverhalts die ursprüngliche Funktion der Grundfreiheiten als Mittel, um protektionistische Marktabschottungen auszuhebeln, wieder zum Vorschein. „Echte“ unterschiedslose Maßnahmen finden sich nur in einer sehr begrenzten Zahl von Fällen.26 Bei Import-Fällen ist durch die Bezugnahme auf zwei Rechts- und Marktordnungen der „relative“ Aspekt zwangsläufig wieder gegeben. Es kommt stets zum Vergleich der Sachverhalte mit Auslandsbezug und solchen ohne Auslandsbezug. Es ist nicht mehr allein der freie Wille des Einzelnen, der geschützt wird, sondern mit jeder Anwendung der Grundfreiheiten wird vor allem auch das objektive Ziel der Marktdurchmischung gefördert. Damit bewegt sich der Schwerpunkt der grundfreiheitlichen Regelung in der Grauzone zwischen Diskriminierungsverbot und allgemeinem Beschränkungsverbot von einer scheinbar verstärkt individualschützenden Ausrichtung wieder zurück zur ursprünglichen Aufgabe der Grundfreiheiten. Mit den besprochenen Entscheidungen Bosman, Lehtonen, Graf, Deliège sind allerdings eine Reihe von Fällen vorgestellt worden, in denen das grenzüberschreitende Element nicht kausal für eine Schlechterstellung werden konnte. Entlang dieses Kausaliätskriteriums sollen diese Fälle als „echte Beschränkungsfälle“ von den „allgemeinen Beschränkungsverboten“ abgesetzt werden.27 In diesen Fällen kann die Funktion der Vorschriften 26 Vgl. die Ausführungen im ersten Teil unter B. II. 3. b) und c); auch bei den Entscheidungen „Cassis“ oder „Dassonville“ ging es nicht um freiheitsrechtliche Überlegungen, als der – angebliche – Schritt vom Diskriminierungsverbot zum allgemeinen Beschränkungsverbot gemacht wurde.
A. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Rechtsprechung
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(Art. 39 EGV und Art. 43 EGV) durch die typisch grundfreiheitliche Wirkungsweise nicht mehr erklärt werden. Der Gerichtshof setzt die Grundfreiheiten hier – ungeachtet der Etikettierung – wie Grundrechte ein. Klar erkennbar ist hier erstmals die „Verdopplung“ der Funktion innerhalb einer Grundfreiheit. Mit dem Diskriminierungsverbot und dem „echten“ Beschränkungsverbot sind unter dem Dach der Vorschrift des Art. 39 EGV mindestens zwei strukturell unterschiedliche Rechte entstanden. Von der Form und Funktion grenzt sich das freiheitsrechtliche Beschränkungsverbot unter dem Dach des Art. 39 als ein Aliud sowohl gegen das grundfreiheitliche Diskriminierungsverbot, als auch gegenüber dem – weiteren – Begriff „Arbeitnehmerfreizügigkeit“ ab. Die „Arbeitnehmerfreizügigkeit“ schließt als Oberbegriff die beiden separaten Elemente „Diskriminierungsverbot“ und „Beschränkungsverbot“ ein. Diese Rechte sind auch in ihrem Wesen voneinander unabhängig.28 Unklar ist dann, wie sich die Vorschrift als solche – d.h. der Aufruf der Norm unter der Artikelnummer – zu diesen Einzelfunktionen verhält. Am naheliegendsten ist, dass die neutrale Nennung des Art. 39 EGV den Oberbegriff „Arbeitnehmerfreizügigkeit“ bezeichnen soll und damit beide Funktionen umfasst. Denkbar ist auch, dass mit der Nennung des Art. 39 EGV weiterhin in erster Linie die ursprüngliche grundfreiheitliche „Kernkompetenz“ (das Diskriminierungsverbot) gemeint ist, oder dass sich der Art. 39 EGV wahlweise entweder auf das Diskriminierungsverbot oder das „echte“ Beschränkungsverbot bezieht, je nachdem, welches der beiden Rechte im konkreten Fall zur Anwendung kommt. Probleme des „Zusammenwohnens“ dieser beiden Rechte unter dem Dach der Grundfreiheit des Art. 39 EGV können entstehen, wenn sie sich wegen ihrer unterschiedlichen Textur und Zielrichtung in ihrer Entfaltung behindern oder es zumindest zu störenden Interferenzen kommt. Ein grundrechtliches Abwehrrecht wäre in erster Linie durch seine individualschützende Funktion geprägt, es hätte die Tendenz, zweckfrei den Willen des Rechtsinhabers zu schützen und nicht an ein Zwischenziel (Marktdurchmischung) gekoppelt zu sein. Das ist aber bei den Grundfreiheiten in ihrer ursprünglichen Fassung als Gleichbehandlungsregeln der Fall. Der objektiv integrationsfördernde Beitrag ist bei den Grundfreiheiten über das unverzichtbare Tatbestandsmerkmal des grenzüberschreitenden Bezugs so eng an die jeweilige Anwendung der Norm gekoppelt, dass fraglich ist, ob ein 27
Siehe oben B. II. 3. c) bb) im ersten Teil. Noch deutlicher als Lenz in den Schlussanträge zu Rs. 415/93, „Bosman“, Slg. 95, S. 4921, 5007 f., Rz. 203 bringt Alber diese Sachfunktion des Art. 39 EGV in den Schlussanträgen der Entscheidung EuGH v. 13.4.00, Rs. C-176/96, „Lehtonen“, Slg. 00, S. 2681, 2703, Rz. 76 zum Ausdruck („Sowohl Grundfreiheit als auch Grundrecht“). 28
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
zweckfreies Abwehrrecht in sinnvoller Weise zusammen mit dem An- und Ausgleichungsprogramm der Grundfreiheiten unter dem Dach der Grundfreiheit des Art. 39 EGV gehalten werden kann. Diese Überlegung wird noch zugespitzt durch die gut begründete Ansicht in der Literatur, die den Schritt vom Diskriminierungsverbot zum Beschränkungsverbot für die Grundfreiheiten wieder rückgängig machen möchte. Indem diese Ansicht nachweist, dass sich beide Funktionen „Diskriminierungsverbot“ und „allgemeines Beschränkungsverbot“ systematisch wieder an die ursprüngliche Grundfreiheitsfunktion ankoppeln lassen und unter dem „gleichheitsrechtlichen“ Grundfreiheitsbegriff auch die „Beschränkungsverbote“ als „Systemvergleiche“ gefasst werden können, konnte sie zunächst die Spannung aus diesem „Zusammenwohnen“ herausnehmen und die beiden Funktionen einander angleichen. Dass der Gerichtshof aber mit den „echten Beschränkungsfällen“ zeigt, dass er die Rückanbindung der Grundfreiheiten an ihre gleichheitsrechtliche Funktion nicht in allen Fällen mittragen will, verschärft diese Spannung innerhalb der Grundfreiheiten umso mehr. Eine bewusst auf ihre instrumentalen Wurzeln zurückgeführte grundfreiheitliche Normfunktion sieht sich jetzt einer von jedem vergleichenden Moment bereinigten freiheitsrechtlichen Funktion gegenüber. Von einem „Wandel“ der Grundfreiheiten zu „Freiheitsrechten“ zu sprechen, fällt angesichts dieser auseinanderlaufenden Entwicklungslinien schwer. Die Spannung könnte aus dem Begriff der Grundfreiheit aber möglicherweise dadurch herausgenommen werden, dass diese überschießende freiheitliche Funktion als „Grundrecht in der Grundfreiheit“ gesehen und gedanklich aus dieser Grundfreiheit herausgelöst wird. Auf dieses „Grundrecht in der Grundfreiheit“ wird im dritten Teil der Arbeit eingegangen. c) Die Rechtsprechung zur Drittwirkung der Grundfreiheiten lässt sich durch die Annahme eines grundrechtlichen Kerns in den Grundfreiheiten erklären Eine Aussage über den – möglichen – grundrechtlichen Charakter der Grundfreiheiten lässt sich nicht zuletzt auch aus der Analyse der Drittwirkungsfälle gewinnen. Dieser Bezug liegt nicht so offen zutage wie der Bezug über das Bekenntnis des Gerichtshofs zur abwehrrechtlichen Struktur der Grundfreiheiten, der im vorstehenden Abschnitt hergestellt wurde. Der Zusammenhang zwischen Drittwirkung und grundrechtlicher Dogmatik erschließt sich aber über eine Akzentuierung der Trennung von subjektiv-individualschützendem und objektivem Element innerhalb einer Rechtsnorm. Diese Aufspaltung korreliert mit einer zweiten grundlegenden Unterscheidung, die sich am Beispiel der Drittwirkungsfälle am deutlichsten zeigen lässt und sich dort auch praktisch auswirkt. Diese zweite Unterscheidung ist – vereinfacht ausgedrückt – die Gegenüberstellung von Rechten und
A. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Rechtsprechung
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Pflichten. Die Wirkung einer Rechtsnorm lässt sich wahlweise mithilfe eines Ansatzes beschreiben, der in rechtlichen Regeln in erster Linie (objektive) Verhaltenspflichten sieht oder aber mithilfe eines Ansatzes, der in rechtlichen Regeln vor allem (subjektive) Rechte sieht, die einzelnen Rechtsinhabern zugeordnet sind und die diese gegen fremde Einflussnahme verteidigen können. Im amerikanischen Rechtskreis wird diese Gegenüberstellung der beiden Ansätze unter den Stichworten „obligation-based approach“ und „rights-based approach“ diskutiert.29 Diese Begriffe bilden auch den Ausgangspunkt für die Übertragung dieser Erklärungsmuster auf das Gemeinschaftsrecht in der englischsprachigen gemeinschaftsrechtlichen Literatur.30 Beide Ansätze zielen auf dasselbe Ergebnis. Die rechtlichen Regeln sollen einen bestimmten, vom Normgeber gewünschten Zustand (Macht- und Interessengleichgewicht) schaffen, indem ein Korridor der Möglichkeiten und Nicht-Möglichkeiten für das Handeln aller Beteiligten vorgegeben wird. Unterschiede können sich nur in Nuancen und in Grenzfällen ergeben, denn die Verpflichtung einer Person A schafft – indirekt – stets einen Freiraum für eine Person B, die durch diese Verpflichtung reflexhaft geschützt wird, so wie ein ihr zugeordnetes eigenes Recht die Person B schützen würde. Ob man diesen Schutz auch äußerlich in die Hände des Geschützten geben will – und ihm diesen Freiraum als Recht zuordnet – oder ob man den Normbefehl zu seinem Schutz in einer objektiven Regel fest29 Clapham, Human Rights in the Private Sphere, S. 140 f., der für den „obligation-based approach“ unter Berufung auf Rawls (A Theory of Justice) die Bezeichnung „duty-based theory“ verwendet. Neben die „duty-based theory“ und die „rights-based theory“ stellt er die „goal-based theory“. Damit ist allerdings nicht viel mehr ausgesagt als die oben angesprochene Absicht jedes Normgebers, mit seinen Regeln eine bestimmte Wirkung zu erzielen, sei es auf dem Umweg über „Verpflichtungen“ oder über „Rechte“. Etwas anders Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 171 f., der klar zwischen „rights-based theory“ und „goal-based theory“ unterscheidet und unter „goal-based theory“ einen utilitaristischen, zweckgebundenen Ansatz versteht, während die „rights-based theory“ die Norm allein dem Schutz individueller Rechte diene. Als Beispiel für eine echte „rights-based theory“ führt Dworkin den Kant’schen Kategorischen Imperativ an. Dworkin fächert allerdings noch weiter auf. Die EU-Rechtsordnung wäre nach Dworkins Systematik eher eine sogenannte „goal-based theory“ (Dworkin, S. 172 f.). Die Zuordnung der Begriffe variiert von Autor zu Autor. Eine unveränderte Übernahme der Terminologie in den gemeinschaftsrechtlichen Kontext führt zu verzerrten Ergebnissen. In der vorliegenden Untersuchung soll daher zwar auf das Begriffspaar „rights-based“ und „dutybased“ zurückgegriffen werden, ohne jedoch die jeweils damit verknüpften Theorien mit einzubeziehen; vgl. dazu Hilson/Downes, E.L.Rev. 24 (1999) S. 121, 123, die die Hohfeldsche Lehre auf diese Konzeptionen von Verpflichtung und Recht anwenden; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 182 ff., insb. S. 185 ff. 30 Clapham, Human Rights in the Private Sphere, S. 140 f.; Hilson/Downes, E.L.Rev. 24 (1999) S. 121, 123; Milner-Moore, Accountability of Private Parties, S. 80 f.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
schreibt, scheint daher zunächst eine Stilfrage und keine Frage des Schutzniveaus zu sein. Dieser „Wechsel von der direkten zur indirekten Bindung“ lässt sich als leichte Schwerpunktverlagerung allerdings doch sichtbar und spürbar machen. Ob der Verpflichtete oder der Berechtigte in den Mittelpunkt der gewählten rechtlichen Lösung gestellt wird, kann sich über kontextuelle Faktoren möglicherweise doch auf die einzelne Entscheidung auswirken. Solche „weichen“ Faktoren sind der symbolische Gehalt eines „eigenen Rechts“, die Verteilung der Darlegungs- und Argumentationslast im Streitfall, der erschwerte Zugriff des Normgebers auf ein einmal gewährtes Recht. Vor allem aber zeigen sich diese Unterschiede an den Extrempunkten, wie etwa in der Existenz einer Spürbarkeitsschwelle.31 Eine Schutzpflicht verdichtet sich nur in eindeutigen Fällen zu einem Recht auf Schutz, wie etwa die folgenden Beispiele zeigen. Auf die Auswirkungen, die eine Verschiebung des Schwerpunktes von Pflichten zu Rechten für den Gesamtzustand eines Systems hat, kommt der Schlussteil der Arbeit zurück. An dieser Stelle soll allein der Bezug zum Verhältnis Grundfreiheiten – Grundrechte aufgezeigt werden: Ein Grundrecht tendiert zu einem auf „Rechte“ gegründeten Ansatz, während die Grundfreiheiten ihre volle Effektivität nach ihrer immanenten Logik am besten als „Pflichtenkanon“ erreichen können. Eine Weiterentwicklung der Grundfreiheiten zu Grundrechten müsste sich daher auch darin zeigen, dass die Grundfreiheiten – entgegen der Logik des Pflichtenkanons – sich ebenso gut (oder besser) als auf Rechte basiertes Erklärungsmodell darstellen lassen. Falls die Grundfreiheiten mittlerweile vorrangig Rechte in den Händen der Einzelnen wären und nicht lediglich Verhaltenspflichten, von deren Einhaltung durch die Staaten der Einzelne profitiert, spräche das in der Tat für eine wesensmäßige Annäherung der Grundfreiheiten an die Grundrechte. Die Frage der Drittwirkung wird dabei zum Prüfstein für die Weichenstellung zwischen Rechte-basiertem und Pflichten-basiertem Ansatz, weil die Unterschiede zwischen den beiden Erklärungsmustern sich mit der Erweiterung von der Zwei-Personen-Konstellation zur Drei-Personen-Konstellation zuspitzen. Solange die Verhaltenspflicht sich allein an den Staat richtet, können auf Ebene der privaten Wirtschaftsteilnehmer nur Rechte entstehen oder verstärkt werden. Eine negative Bilanz gibt es nicht. Je strenger der Mitgliedstaat in die grundfreiheitliche Pflicht genommen wird, desto größer der Zuwachs an Freiheit für den Einzelnen und der Zuwachs an Homogenität im Binnenmarkt. Diese einfache Relation gilt nicht mehr, sobald den Grundfreiheiten Drittwirkung zugesprochen wird. Auf Ebene der privaten Wirtschaftsteilnehmer erzeugt die Geltung der Grundfreiheiten dann 31
Siehe oben B. II. 4. c) im ersten Teil.
A. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Rechtsprechung
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nicht mehr ausschließlich Rechte. Die Geltung der Grundfreiheiten beschneidet zugleich Rechte, weil dem Einzelnen, der durch die Grundfreiheiten verpflichtet ist, bestimmte Handlungsmöglichkeiten genommen werden. Je strenger die Pflicht zur Beachtung der Grundfreiheiten, umso tiefer die Einschnitte in die Privatautonomie oder Verbandsfreiheit oder ähnliche Rechte, die den Grundfreiheiten gegengerichtet sind. Ein Pflichten-basierter Ansatz, der dennoch – auch auf Ebene der privaten Wirtschaftsteilnehmer – eine möglichst effiziente Durchsetzung der Grundfreiheiten über die Intensivierung der Pflichtenseite erreichen möchte, muss hier in Kauf nehmen, dass diese Gegenrechte aus dem Blickfeld geraten. Der Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung zur Drittwirkung der Grundfreiheiten keine einheitliche Antwort auf dieses Dilemma finden können. Erste Ansätze einer unmittelbaren Drittwirkung – also eines eindeutig pflichten-basierten Ansatzes – für die Warenverkehrsfreiheiten sind nicht weiter ausgebaut worden.32 Die Rechtsprechung zur Drittwirkung der Personenverkehrsfreiheiten in den „Sportlerfällen“ (Walrave/Bosman etc.) ging zwar äußerlich weiterhin von einer unmittelbaren Bindung der privaten Sportverbände an die Grundfreiheiten aus. In der Sache hat der Gerichtshof in diesen Entscheidungen die Drittwirkung aber in mehrfacher Hinsicht auf Grenzfälle beschränkt. Zum einen waren alle diese Privaten mit quasi-staatlichen Befugnissen ausgestattet, so dass bereits ihre Zugehörigkeit zur „dritten Ebene“ – der Ebene der privaten Wirtschaftsteilnehmer – in Frage gestellt werden könnte. Darüber hinaus kam es aufgrund der Monopolstellung der privaten Verbände zu einer Alles-oder-Nichts-Situation für die Betroffenen. Ein Ausweichen auf andere Handlungsoptionen war nicht möglich. Die Beschränkungen der Verbände wirkten sich daher in der Regel nicht lediglich als einfache Beschränkungen (im Sinne von Mehrkosten oder Mehraufwand) aus, sondern führten dazu, dass die freie Willensbetätigung der Einzelnen nicht nur beeinträchtigt, sondern negiert wurde.33 Die Drittwirkung wurde im Übrigen auf die Kern-Funktion der Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote zugeschnitten.34 Insofern mit der Entscheidung 32
EuGH v. 22.1.1981, Rs. 58/80, „Dansk Supermarked“, Slg. 81, S. 181 ff.; vgl. dazu: Roth, in: FS Everling, S. 1231, 1236; Cruz, E.L.Rev. 24 (1999) S. 603, 608. 33 EuGH v. 13.4.2000, Rs. C-176/96, „Jyri Lehtonen“, Slg. 00, S. 2681 ff. (Basketballer); EuGH v. 11.4.2000, Rs. 191/97, „Deliège“, Slg. 00, S. 2549 ff. (Judoka); EuGH v. 15.12.1995, Rs. 415/93, „Bosman“, Slg. 95, S. 4921 ff. (Fußballer); EuGH v. 12.12.1974, Rs. 36/74, „Walrave“, Slg. 74, S. 1405 ff. (Radrennfahrer); EuGH v. 14.7.1976, Rs. 13/76, „Donà/Mantero“, Slg. 76, S. 1333 ff. (Fußballer); zuletzt allerdings: EuGH v. 6.6.2000, Rs C-281/98, „Angonese“, Slg. 00, S. 4139 ff. (Einstellungsanforderungen einer privaten Bank). 34 Vgl. EuGH v. 12.12.1974, Rs. 36/74, „Walrave“, Slg. 74, S. 1405 ff.; EuGH v. 6.6.2000, Rs. C-281/98, „Angonese“, Slg. 00, S. 4139 ff.; Körber, EuR 2000, S. 932, 950; Forsthoff, EWS 2000, S. 389, 395 f.; Jaensch, Unmittelbare Drittwir-
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
Bosman die Drittwirkung auch auf die Funktion des Art. 39 EGV als „echtes Beschränkungsverbot“ erstreckt wird, bleibt der Gerichtshof eine dogmatische Begründung dieser erweiterten Drittwirkung schuldig.35 Auch im Fall Bosman geht es wegen der Monopolstellung indes nicht um den Ausgleich wirtschaftlicher Nachteile, sondern um die faktische Aufhebung der Freizügigkeit. Auch hier liegt damit ein „eindeutiger“ Fall vor. Eine grundsätzliche und flächendeckende Horizontalwirkung der Grundfreiheiten gibt es demnach in der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht, auch wenn nach außen hin zum Teil dieser Eindruck entstehen könnte. Eine verpflichtende Geltung der Grundfreiheiten auf Ebene der privaten Wirtschaftsteilnehmer ist vom Gerichtshof nur punktuell für die Fälle angenommen worden, in denen die Betroffenen offen aufgrund ihrer Nationalität benachteiligt wurden oder ihnen eine wirtschaftliche Option nicht nur erschwert, sondern wegen der Übermacht des privaten Gegenübers faktisch genommen wurde. Zugleich deutet der Gerichtshof mit der Rechtsprechung in der Sache Französische Bauernproteste scheinbar unmissverständlich in Richtung einer Pflichten-basierten Lösung für die Drittwirkungsfrage.36 Der französischen Staat ist nach Ansicht des Gerichtshofs verpflichtet, die Geltung der Grundfreiheiten sicherzustellen. Weder darf er selber den Grundfreiheiten zuwider handeln noch darf er zulassen, dass französische Bürger sich grundfreiheitswidrig verhalten, indem sie die spanischen Importeure an der Einfuhr hindern. Die spanischen Händler kommen in den Genuss des Freien Warenverkehrs nur auf dem Umweg über die weitgefasste Pflicht des französischen Staates. Allerdings zeigen sich auch bei dieser „Schutzpflichtenrechtsprechung“ einzelne Spuren, die auf die Anwesenheit von Rechten in einer Konzeption hindeuten, die – bereits dem Namen nach – den Konflikt ausschließlich über Pflichten in den Griff zu bekommen versucht. So hat insbesondere die Existenz einer Spürbarkeits- oder Schutzpflichtenschwelle gezeigt, dass der Gerichtshof – auf einer tieferen materiellen Ebene – den Konflikt ebenfalls als eine Kollision von Rechten sieht. Das ist im Zusammenhang mit der Entscheidung Französische Bauernproteste dargelegt worden.37 Erst wenn von privater Seite massiv in die Grundfreiheiten eingegriffen wird, ist der Staat zum Eingreifen verpflichtet. In der Grauzone läuft die Schutzpflicht leer. kung der Grundfreiheiten, S. 262; Milner-Moore, Accountability of Private Parties, S. 53 f., 98. 35 EuGH v. 15.12.1995, Rs. 415/93, „Bosman“, Slg. 95, S. 4921, 5065 ff., Rz. 82 bis 87. 36 EuGH v. 9.12.1997, Rs. C-265/95, „Kommission/Frankreich“, Slg. 97, S. 6959 ff. 37 Siehe oben B. II. 4. c) im ersten Teil.
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Der Gerichtshof bleibt also auf halbem Wege stehen und zeichnet ein „hybrides“ Bild der Grundfreiheiten. Nach außen hin verleiht er ihnen unmittelbare Drittwirkung, spricht teilweise ausdrücklich von Schutzpflichten. Das deutet in Richtung der Grundfreiheiten als eines „Pflichtenkanons“. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, dass diese Bindung nicht für die Grundfreiheiten als solche gilt, sondern nur für Extrempunkte, d.h. für die Fälle, in denen die grundfreiheitlichen Interessen der Betroffenen so sehr verdichtet sind, dass sie als Rechte zu einer eigenständigen, von der Pflichtenseite unabhängigen Existenz gelangen. Wenn von diesen zu Rechten verdichteten Interessen die Rede ist, scheint der Gerichtshof von einer Rechtebasierten Struktur der Grundfreiheiten auszugehen. Für die Frage nach dem Grundrechtscharakter der Grundfreiheiten heißt das: Innerhalb der Grundfreiheiten finden sich Anhaltspunkte sowohl für eine Tendenz in Richtung eines Pflichten-basierten und damit eher grundrechtsfernen Ansatzes, als auch – punktuell – für eine Tendenz in Richtung eines Rechte-basierten und damit grundrechtsnahen Ansatzes. Diese auseinanderstrebenden Tendenzen lassen sich widerspruchsfrei erklären, indem Kern-Rechte von der grundfreiheitlichen Struktur abgelöst werden. Diesen Rechten kann dann eine eigene Struktur zugewiesen werden. Für diese isolierten „verdichteten Rechte“ innerhalb der Grundfreiheiten ist eine grundrechtliche Struktur leichter nachweisbar als für die Grundfreiheiten als solche. Denn diese Rechte sind in der Tat dem Einzelnen in der Weise zugeordnet, dass sie ihm einen Kernbereich zugestehen, innerhalb dessen sein Wille zweckfrei und in alle Richtungen geschützt ist. Nach der Richtung, aus der die Bedrohung der freien Willensbetätigung erfolgt, wird zunächst gar nicht gefragt, sondern dieser Kernbereich kann in alle Richtungen (gegen staatliche, gemeinschaftliche und private Maßnahmen) verteidigt werden.38 Das Argument des „autonomen Kerns“ eines subjektiven Rechtes, der so durchsetzungsstark und so untrennbar mit der Person des Rechteinhabers verbunden ist, dass er in alle Richtungen hin abgegrenzt werden soll und kann, markiert auch in der Literatur den Übergang zum Grundrecht. Es gebe das Bedürfnis, gerade die Grundrechte nicht nur gegenüber staatlicher oder sozialer Macht, sondern auch zwischen gleichgeordneten Privaten zur Geltung zu bringen.39 Ob und wieweit diesem Bedürfnis in der (gemeinschaftsrechtlichen) Praxis nachgegangen wird, soll hier nicht interessieren. Dass es dieses Bedürfnis im Zusammenhang mit einem bestimmten Recht oder rechtlichen Interesse gibt, liefert bereits eine Aussage über 38 Im Einzelnen zur Zweckfreiheit dieses Schutzes im Kernbereich der Grundfreiheiten siehe unten die Abschnitte A. II. 2. und 3. zu Beginn des dritten Teils. 39 Vgl. Langner, Geltung der Grundrechte zwischen Privaten, S. 37 f., der seine Überlegungen allerdings in einem rein nationalen Kontext anstellt.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
die grundrechtliche Qualität dieses Rechts. Der Gerichtshof selber deutet in diese Richtung, wenn er für die Normen, denen er eine Drittwirkung zukommen lassen möchte, höhere Voraussetzungen ansetzt und einen besonderen Charakter fordert. Nur Vertragsvorschriften mit „zwingendem Charakter“, wie etwa Art. 141 Abs. 1 EGV (Lohngleichheit) oder dem Diskriminierungsverbot (Art. 12 EGV) käme eine verpflichtende Wirkung für Private zu.40 Die Formulierung „zwingender Charakter“ ist neutral, vor allem insoweit es um die Frage der subjektiv-rechtlichen oder objektiv-rechtlichen Ausrichtung einer solchen Norm geht. Auf jeden Fall aber verknüpft der Gerichtshof hier ausdrücklich ein besonders hohes materiell-rechtliches Gewicht mit der Annahme einer Drittwirkung. Das kann auch ein besonders hohes individualschützendes Potential sein. In den Konstellationen, in denen äußerlich Grundfreiheiten zur Anwendung kommen, lassen sich demnach in bestimmten verdichteten Kernbereichen grundrechtliche Funktionen beschreiben. Diese Kern-Grundrechte sind es, die eine – indirekte – Bindungswirkung auch privater Wirtschaftsteilnehmer herbeiführen, weil deren Handlungsfreiheit durch dieses grundrechtliche Kernrecht in die Schranken gewiesen wird. Nach außen sieht es – solange die grundrechtlichen Kerne nicht als solche isoliert und benannt werden – weiterhin so aus, als sei es die Grundfreiheit selbst, die die Bindung des Privaten herbeiführt. In der Gegenprobe müsste sich daher ein Unterschied für die Fälle zeigen, in denen nicht der „grundrechtliche Kern“, sondern eine Funktion der Grundfreiheit Geltung beanspruchen will, die außerhalb dieses Kerns liegt. Die Bestimmung des Kernbereichs und der „Restgrundfreiheit“ – also der Grundfreiheiten abzüglich des Kernbereichs – soll am Beispiel deutlich werden. Ein „grundrechtlicher Kern“ ist etwa in jeder Grundfreiheit das Recht, nicht offen aufgrund der Staatsangehörigkeit diskriminiert zu werden. Hier ist der Einzelne – wie oben gezeigt – in seiner Person und seinem „personalen Achtungsanspruch“ getroffen. Diesen grundrechtlichen Kern muss jeder andere Private im Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts respektieren. Daher wird für diese „offenen Diskriminierungssituationen“ eine Drittwirkung des Art. 12 EGV und der Grundfreiheiten ohne weiteres angenommen.41 Es bleibt der Bereich der indirekten („materiellen“) Diskriminierung als der Bereich, der zwar von den Grundfreiheiten umfasst wird, sich aber nicht mit dem grundrechtlichen Kern in der Grundfreiheit deckt. In dem 40
EuGH v. 6.6.2000, Rs. C-281/98, „Angonese“, Slg. 00, S. 4139, 4172, Rz. 34 f. Vgl. zuletzt: EuGH v. 6.6.2000, Rs. C-281/98, „Angonese“, Slg. 00, S. 4139, 4172, Rz. 36; Forsthoff, EWS 2000, S. 389, 396, der die Parallele zwischen Art. 12 EGV und Art. 141 EGV zieht. In beiden Fällen werde der Einzelne in seinem personalen Achtungsanspruch verletzt. Vgl. auch Somek, E.L.J. 1999, S. 243, 250 f. 41
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Bereich, in dem die Grundfreiheiten als „weitverstandene Diskriminierungsverbote“ (in der Regel unter der Bezeichnung „allgemeine Beschränkungsverbote“) die Nachteile aufzufangen versuchen, die einzelnen Marktteilnehmern durch die Zersplitterung der Markt- und Rechtsordnungen entstehen, tut sich die Literatur mit dem Anerkenntnis einer Drittwirkung entsprechend schwerer.42 Das lässt sich durch das Fehlen eines grundrechtlichen Kerns an dieser Stelle erklären. Denn die Nachteile, die diese „systemvergleichende“ Funktion der Grundfreiheiten in diesen Fällen auszugleichen sucht, sind Marktunebenheiten, Mehrkosten, Gewinnausfälle usw. Diese wirtschaftlichen Nachteile betreffen höchstens in den Extremsituationen der Knebelung oder der konfiskatorischen/inhibitorischen Wirkung auch grundrechtliche Positionen. Von der Pflichtenseite her betrachtet sind die Mitgliedstaaten zu Recht verpflichtet, auch diese Funktion der Grundfreiheiten voll zur Geltung zu bringen, da der Abbau der Marktunebenheiten erklärtes Ziel der Politik der Gemeinschaft ist. Dieses Ziel kann aber einen privaten Wirtschaftsteilnehmer nicht binden. Denn der erleichterte (profitable) Marktzugang eines Einzelnen zu einem Teilmarkt der EU ist keine Position, auf die ein privater Widersacher Rücksicht nehmen müsste. Es fehlt an dieser Stelle an einem grundrechtlichen Kern. Ohne diesen grundrechtlichen Kern, der eine Drittwirkung vermitteln könnte, ist die Grundfreiheit für Private weder unmittelbar noch mittelbar bindend. Deutlich ist der grundrechtliche Kern in einigen der „echten Beschränkungsfälle“ erkennbar, wenn ein Privater – etwa im Fall Bosman – den freien Zug eines anderen Privaten vereitelt. Hier fällt es verhältnismäßig leicht, von einem anderen Privaten zu verlangen, dass er zumindest in einem Kernbereich das Freizügigkeitsgrundrecht seines Gegenübers respektiert. Von außen betrachtet scheint auch hier die Grundfreiheit des Art. 39 EGV als solche eine Drittwirkung zu vermitteln, obwohl es nach der hier entwickelten Unterscheidung gerade die „überschießende“, von der grundfreiheitlichen Ratio nicht mehr gedeckte grundrechtliche Funktion des Art. 39 EGV ist, die zu dieser mittelbaren Bindung des privaten Wirtschaftsteilnehmers führt. Wenn die „grundrechtlichen Kerne“ in den Grundfreiheiten und die Grundfreiheiten als solche begrifflich und systematisch klar getrennt werden – was im dritten Teil geschehen soll – so heißt das für die Grundfreiheiten, dass sie im Ergebnis überhaupt keine Drittwirkung, weder unmittelbar, noch mittelbar oder in bestimmten Fallgruppen entfalten können. Denn es sind, wie eben gezeigt, die grundrechtlichen Kerne in den Grundfreihei42 Forsthoff, EWS 2000, S. 389, 396, nach dessen Ansicht für die mittelbare Diskriminierung weniger strenge Maßstäbe gelten. Hier wiege die Privatautonomie höher als das Interesse desjenigen, der die Grundfreiheit für sich geltend machen möchte; Jaensch, Unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 262; u. v. m.
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ten, die die Gegenseite respektieren muss und die die Drittwirkung vermitteln, und nicht die Grundfreiheit selber. Soweit die Grundfreiheit ihre „systemvergleichende“ Funktion wahrnimmt, ohne dass dem ein grundrechtlicher Kern entspräche, sind Private nicht gebunden. Die Grundfreiheiten werden damit wieder zu Steuerungsmitteln, um die Mitgliedstaaten von staatlichen Verzerrungen des Binnenmarktes abzuhalten. Private Wirtschaftsteilnehmer können sich – wenn sie wollen – grundfreiheitswidrig verhalten, solange sie nicht Grundrechte anderer privater Akteure verletzen. Mit diesen Feststellungen ist bereits sehr weit auf die Ergebnisse des Schlussteils der Arbeit vorgegriffen worden. Zur Frage, ob die Grundfreiheiten mit den Grundrechten gleichgesetzt werden können, hat der Gerichtshof zwar auch in seiner Drittwirkungsrechtsprechung nicht unmittelbar Stellung bezogen. Er hat sich aber in seinen Entscheidungen klar gegen eine grundsätzliche unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten ausgesprochen und damit deutlich gemacht, dass er in den Grundfreiheiten weiterhin in erster Linie Verhaltenspflichten sieht, die im Verhältnis der Gemeinschaft zu den Mitgliedstaaten bindend sind. Eine Übertragung dieses Konzepts auf die „dritte Ebene“ der privaten Wirtschaftsteilnehmer führt zu unbefriedigenden Ergebnissen. Der Gerichtshof hat eine Bindungswirkung der Grundfreiheiten daher nur in Einzelfällen ausnahmsweise angenommen. Das Pflichten-basierte Erklärungsmodell stößt hier an seine Grenze. Die ausnahmsweise Bindung privater Wirtschaftsteilnehmer an die Grundfreiheiten lässt sich am schlüssigsten erklären, wenn unterstellt wird, dass der Gerichtshof in diesen Fällen „Grundrechte in den Grundfreiheiten“ zur Anwendung gebracht hat. Diese grundrechtlichen Kerne in der Grundfreiheit müssen im Einzelfall auch von einem privaten Dritten respektiert werden und führen daher im Ergebnis zu einer mittelbaren Drittwirkung. Die Grundfreiheiten selber – ohne die grundrechtlichen Kerne – binden den Einzelnen weder unmittelbar noch mittelbar. 2. Konkurrenzen und Kollisionen zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten
Neben der Frage, ob einzelne Grundfreiheiten vom Gerichtshof ihrer Funktion nach wie Grundrechte angesehen und behandelt werden, soll die Rechtsprechung des Gerichtshofs auch kurz auf die Aussagen hin untersucht werden, die sich für das „Verhältnis im eigentlichen Sinne“ der beiden Rechtsnormen zueinander ergeben. Es sollen die Fälle erwähnt werden, in denen die Grundfreiheiten und die Gemeinschaftsgrundrechte um die Anwendung und/oder Durchsetzung konkurrieren. Die Frage eines solchen Konkurrenzverhältnisses zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten lenkt das Augenmerk zunächst auf die
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Berührungspunkte, die sich für diese beiden Normengruppen in der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergeben. Die unterschiedliche Entstehungsgeschichte der beiden Kategorien schien zunächst in zwei weitgehend unabhängigen Kreisen von Entscheidungen zu resultieren mit der weiteren Folge, dass auch die Konkurrenzfrage sich mangels Überschneidungen oder Berührungsmöglichkeiten nicht stellen konnte. Die Fälle, in denen der Einzelne sich gegen störende Akte der Gemeinschaftsgewalt wehrte, unterfielen dem Regime der Gemeinschaftsgrundrechte. Die Fälle, in denen der Einzelne sich mithilfe des Gemeinschaftsrechts gegen störende Akte der Mitgliedstaaten zur Wehr setzen wollte, unterfielen der ausdifferenzierten Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Grundfreiheiten. Mit der Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Gemeinschaftsgrundrechte auf mitgliedstaatliche Maßnahmen in bestimmten Fallgruppen hat der Gerichtshof seit den Entscheidungen Rutili, ERT, Cinétheque etc. einen Bereich eröffnet, in dem es zu einer echten Überschneidung der grundfreiheitlichen und der grundrechtlichen Rechtsprechung kommt. Es sind dies die Konstellationen der sogenannten Rutili-Fallgruppe, in denen die Berufung auf eine Ausnahmeklausel von den Grundfreiheiten für die Mitgliedstaaten zusätzlich unter den Vorbehalt der Beachtung der Gemeinschaftsgrundrechte gestellt wird.43 a) Gleichlauf von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten Die Grundfreiheiten und die Gemeinschaftsgrundrechte laufen an dieser Schnittstelle der Rutili-Fälle aus Sicht des schutzsuchenden Einzelnen parallel. Beide richten sich gegen die beschränkende Wirkung, die von der mitgliedstaatlichen Gewalt ausgeht. Die einschränkende Maßnahme, die der Mitgliedstaat zu Lasten seiner Bürger plant, muss sich nicht allein an den Anforderungen der Art. 30, 39 Abs. 3, 46 und 46, 55 EGV, sondern darüber hinaus auch an dem ungeschriebenen Grundrechtskatalog des Gerichtshofs messen lassen. Der Sache nach kommt es in dieser Konstellation nicht zu einer Kollision der Grundfreiheiten mit den Grundrechten, sondern die beiden zielen als sich verstärkende Vektoren in dieselbe Richtung. Ihnen gegenüber stehen in den Entscheidungen der Rutili-Fallgruppe in der Regel die einzelstaatlichen Allgemeininteressen, mit denen der Mitgliedstaat seine restriktive Maßnahme zu begründen versucht. 43 Siehe oben C. II. 3. a) im ersten Teil; EuGH v. 18.6.1991, Rs. C-260/89, „ERT“, Slg. 91, S. 2925, 2964, Rz. 43; EuGH v. 28.10.1975, Rs. 36/75, „Rutili“, Slg. 75, S. 1219, 1232, Rz. 32; als Vorläuferentscheidung gilt EuGH v. 11.7.1985, verb. Rs. 60/84 und 61/84, „Cinéthèque“, Slg. 85, S. 2605, 2627, Rz. 26.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
Der logischen Zuordnung nach laufen diese beiden Rechte allerdings nicht vollständig parallel, sondern entfalten ihre Geltung in einer verschachtelten Prüfungsreihenfolge. Nur die einschlägige Grundfreiheit kommt im eigentlichen Wortsinn zur Anwendung. Die Gemeinschaftsgrundrechte sind dieser Grundfreiheitsprüfung nachgeschaltet und finden ihren Platz in der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Einschränkung der Grundfreiheit. Diese Struktur der Prüfung spiegelt sich in der Feststellung „Grundfreiheiten im Lichte der Gemeinschaftsgrundrechte auslegen“.44 Damit ordnet der Gerichtshof die Grundrechte in der praktischen Abfolge der Begründungsschritte den Grundfreiheiten unter. Die Anwendbarkeit der Gemeinschaftsgrundrechte ist durch die Anwendbarkeit einer korrelierenden Grundfreiheit bedingt. Das kommt besonders in den Fällen zum Tragen, in denen es wegen der nicht-wirtschaftlichen Thematik des Streitgegenstands an einer anwendbaren Grundfreiheit fehlt, und entsprechend der oben aufgezeigten Bedingtheit ein Gemeinschaftsgrundrecht nicht geprüft werden kann.45 Ob mit dieser logischen Nachordnung zugleich eine Aussage über die materielle Wertigkeit der beiden Normengruppen verbunden sein soll oder ob diese Prüfungssystematik zufällig oder aus Zweckmäßigkeitserwägungen heraus erfolgte, kann an dieser Stelle offen bleiben. Eine naheliegende Erklärung für das Vorgehen des Gerichtshofs könnte in einer Art Filterfunktion der Grundfreiheiten gesehen werden. Die Grundfreiheiten sind KernBestandteile des Binnenmarktrechts, das selber Kernmaterie des Gemeinschaftsrechts ist. Nach Art einer Faustregel kann der Gerichtshof demnach ganz sicher sein, sich im Rahmen seiner Zuständigkeit zu bewegen, sobald eine Grundfreiheit einschlägig ist. Die Literatur hat diese formale Unterordnung der Grundrechte unter die Grundfreiheiten verschiedentlich zum Anlass genommen, den Gerichtshof scharf zu kritisieren und von einem Primat der Grundfreiheiten zu sprechen, durch das die Grundrechtsrechtsprechung des Gerichtshofs als eine „leere Rhetorik“ entlarvt werde.46 Im Einzelnen dazu im folgenden Kapitel der Überblick über die Rezeption des Verhältnisses der Grundfreiheiten zu den Grundrechten in der Literatur.47
44 EuGH v. 26.6.1997, Rs. C-368/95, „Familiapress“, Slg. 97, S. 3689, 3717, Rz. 24, unter Verweis auf EuGH v. 18.6.1991, Rs. C-260/89, „ERT“, Slg. 91, S. 2925, 2964, Rz. 43 „Im Lichte der Gemeinschaftsgrundrechte auslegen“. 45 Am deutlichsten sichtbar ist diese Abhängigkeit der Gemeinschaftsgrundrechte von den Grundfreiheiten in der Entscheidung des EuGH v. 4.10.1991, Rs. C-159/90, „SPUC/Grogan“, Slg. 91, S. 4685, 4741, Rz. 31, in der der Gerichtshof die Grundrechtsprüfung unter Hinweis auf die fehlende Einschlägigkeit der behaupteten Grundfreiheit vermeiden konnte. Vgl. dazu den Schlussteil der vorliegenden Untersuchung, siehe unten D. II. 2. c) im dritten Teil. 46 Coppel/O’Neill, C.M.L.R. 29 (1992) S. 669, 674 f., 692. 47 Siehe unten B. IV. 2. e) aa).
A. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Rechtsprechung
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b) Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten Der zweite wichtige Berührungspunkt zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten ist die direkte „frontale“ Kollision dieser beiden subjektiven Rechte, wie sie in den Drittwirkungsfällen auftreten kann.48 Auch hier ist der äußere Rahmen des Aufeinandertreffens stets eine Grundfreiheitsprüfung. Die Gemeinschaftsgrundrechte werden zunächst als zusätzlicher Kontrollmaßstab ins Spiel gebracht, entweder auf Seiten der Grundfreiheit (wie soeben beschrieben) oder aber auf der Gegenseite, d.h. auf Seiten des privaten Dritten, gegen den die Grundfreiheit in Ansatz gebracht wird. Nicht zuletzt können Gemeinschaftsgrundrechte auf beiden Seiten relevant werden.49 Im Ergebnis wirkt sich – wie zu zeigen ist – die logische Nachrangigkeit auf die Abwägung nicht aus. Alle relevanten Rechte und Interessen werden – formal gleichrangig – in die Abwägung eingestellt. Als Beispiele für diese Interessenkollisionen können aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs die folgenden Entscheidungen benannt werden. aa) Die Beispiele aus der Rechtsprechung In der Sache Bosman steht für den Fußballer Jean-Marc Bosman dessen Grundfreiheit aus Art. 39 EGV und für den Binnenmarkt die verringerte grenzüberschreitende Zirkulation auf dem Spiel, während auf der anderen Seite der Abwägung die Sportverbände um ihre grundrechtlich abgesicherte Vereinigungsfreiheit und Verbandsautonomie fürchten.50 Gleiches gilt für die anderen „Sportlerfälle“. Die Vereins- und Verbandsinteressen, über Koalitionsgrundrechte abgestützt, stehen der individuellen Mobilität der Sportler entgegen. Sehr klar ist in der Sache Lehtonen die Abwägung als Schnittstelle von Grundfreiheiten und Grundrechten zu erkennen. Unmittelbar vor der direkten Abwägung der individuellen Mobilität aus Art. 39 EGV mit den grundrechtlichen Interessen der Verbände wertet Generalanwalt Alber die Position des Basketballspielers Lehtonen begrifflich wie funktionell zu einer grundrechtlichen Position auf. Das geschieht indes nicht, wie auch denkbar wäre, indem er die Grundfreiheit in ein Grundrecht umwandelt, sondern er schafft diese Gewichtung, indem er vom 48
Siehe oben B. II. 4. c) im ersten Teil; Kluth, AöR 122 (1997) S. 563, 578 ff. Oder sogar ein und dasselbe Grundrecht auf beiden Seiten, vgl. die Pressefreiheit in der Entscheidung EuGH v. 26.6.1997, Rs. C-368/95, „Familiapress“, Slg. 97, S. 3689, 3715, 3717, Rz. 18, 25 f. Die Pressefreiheit nimmt allerdings eine Sonderstellung ein. Es kann nicht sicher gesagt werden kann, ob es sich bei der „individuellen Pressefreiheit“ und der „Pressefreiheit als Sicherung des Pluralismus“ nicht um zwei separate Grundrechte handelt, die auf Kollision angelegt sind. 50 EuGH v. 15.12.1995, Rs. 415/93, „Bosman“, Slg. 95, S. 4921, 5065, Rz. 79 f. 49
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
„hoch einzustufenden Schutzgut“ der Arbeitnehmerfreizügigkeit spricht. Damit lagert der Generalanwalt die materielle Wertigkeit der Norm aus der vertraglichen Vorschrift in das „Schutzgut der Norm“ aus. Die materielle Wertigkeit kommt außerhalb des ursprünglichen grundfreiheitlichen Bereichs zu liegen. Das öffnet in gewisser Weise den Art. 39 EGV für weitere – grundrechtliche – Funktionen. Zugleich bleibt die grundfreiheitliche Funktion des Art. 39 EGV trotzt dieses „neuen“ grundrechtlichen Elements unverändert. Auf materieller Ebene zeichnet dieser Umgang mit der Grundfreiheit in der Kollision also die „Verdopplung“ nach, die auf terminologischer Ebene bereits beobachtet werden konnte.51 Die offene Abwägungssituation, in der gleichermaßen objektiv-rechtliche, subjektiv-rechtliche, grundfreiheitliche und grundrechtliche Interessen eingestellt und gegeneinander gehalten werden, findet sich in einer Reihe weiterer Entscheidungen: In den Blockade-Fällen (Französischen Bauernproteste; Schmidberger) standen auf der einen Seite das objektive Binnenmarktinteresse am freien Warenverkehr und das gleichgerichtete Interesse der Importeure und Spediteure an der Realisierung ihres subjektiven Rechts aus Art. 28 EGV, dieses wiederum unterteilbar in das (grundrechtliche) Recht, nicht diskriminiert zu werden, und das Recht, keine unverhältnismäßigen Mehrkosten erdulden zu müssen. Auf der anderen Seite stand möglicherweise das Streikrecht und die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit und die Meinungsfreiheit der Blockierer. In der Ausgangsentscheidung Französische Bauernproteste reichte dem Gerichtshof eine dieser zahlreichen Interessenpositionen, nämlich das objektive Interesse am Funktionieren des Binnenmarktes, um die Abwägung zu entscheiden. Die anderen Positionen haben zumindest nicht erkennbar Eingang in die Entscheidungsgründe gefunden, so dass der Begriff „Abwägung“ ins Leere zu gehen scheint.52 Der Sache nach lag aber eine Abwägungssituation vor. Inwieweit der Gerichtshof sich bei der Entscheidungsfindung von dieser Abwägungssituation hat leiten lassen, geht aus den Entscheidungsgründen nicht hervor. Das hat sich nunmehr in der Folgeentscheidung Schmidberger geändert. Hier benennt der Gerichtshof ausdrücklich die Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit als Grundrechte der Blockierer. Die Grundrechte seien sowohl auf Ebene der nationalen österreichischen Verfassung, auf Ebene der EMRK und des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Die Rechtspositionen der Blockierer müssten im Einzelfall gegen das Grund51
Siehe oben A. I. 1. c). EuGH v. 9.12.1997, Rs. C-265/95, „Kommission/Frankreich“, Slg. 97, S. 6959, 7000 ff., Rz. 38 ff., insb. auf S. 7003 f., Rz. 54, 62. 52
A. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Rechtsprechung
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prinzip des Freien Warenverkehrs abgewogen werden.53 Wegen des vergleichsweise maßvollen Vorgehens der österreichischen Blockierer und möglicherweise auch aufgrund der altruistischen Motive (Umweltschutz) muss nach Ansicht des Gerichtshofs der Warenverkehr hier zurücktreten.54 In der Sache Familiapress standen die Warenverkehrsfreiheit und die individuelle Pressefreiheit Seite an Seite. Während der deutsche Bauer-Verlag sich zunächst über eine weitverstandene Warenverkehrsfreiheit freuen durfte, die ihm erlaubt, mithilfe bestimmter in Österreich eigentlich verbotener scharfer Marketinginstrumente (Preisrätsel) auf den Nachbarmarkt vordringen zu können, sahen die dortigen Verleger die grundrechtlich geschützte Vielfalt der Meinungen und der Presse in Gefahr. Die Warenverkehrsfreiheit des Art. 28 EGV als objektives Prinzip, die individuelle grundfreiheitliche Position des Bauer-Verlages aus Art. 28 EGV und die individuelle Pressefreiheit standen der objektiven Pressefreiheit (Pluralismus) gegenüber, die letztlich eine Einschränkung der Grundfreiheit rechtfertigen konnte.55 Während die Studenten in der Rechtssache SPUC/Grogan auf ihrer Seite die Grundfreiheit des Art. 49 EGV (Dienstleistungsfreiheit), die Freiheit, über eine Abtreibung selber zu bestimmen, und die Meinungsfreiheit in der Waagschale versammeln konnten, war nach Ansicht der irischen Regierung auf der anderen Seite das Recht des ungeborenen Kindes auf Leben zu schützen. Hier sah sich der Gerichtshof außerstande, die Abwägung vorzunehmen. Die Grundrechte, die diesen Interessenkonflikt prägten, fielen nicht in den Zuständigkeitsbereich des Gerichtshofs. So hatte der Generalanwalt Van Gerven dem Gerichtshof zwar eine Brücke gebaut, indem er einen sehr weiten (passiven) Dienstleistungsbegriff zugrundelegte und so die Dienstleistungsfreiheit des Art. 49 EGV für einschlägig erklären konnte. 53
EuGH v. 12.06.2003, Rs. C-112/00, „Schmidberger“, Rz. 69 ff., 81. EuGH v. 12.06.2003, Rs. C-112/00, „Schmidberger“, Rz. 83 ff., 94; der Gerichtshof stützt die Abweichung von der Entscheidung „Kommission/Frankreich“ vollständig auf die Unterschiede im zugrundeliegenden Sachverhalt. Der Gerichtshof nimmt die Gelegenheit nicht wahr, die systematischen Schwächen der Entscheidung „Kommission/Frankreich“ (Keine Berücksichtigung der gegenläufigen grundrechtlichen Positionen der Blockierer) selbstkritisch anzusprechen oder zu korrigieren. In Rz 86 wird vielmehr deutlich, dass der Gerichtshof offenbar nach wie vor davon ausgeht, dass den französischen Blockierern keine Rechtspositionen zukamen, die hätten beachtet werden müssen. Möglicherweise spielt bei dem unterschiedlichen Ausgang der beiden Entscheidungen auch eine Rolle, dass in der Sache „Schmidberger“ das nationale Gericht in den Vorlagefragen nach Art. 234 EGV die Grundrechtskollisionen bereits vorzeichnete. Das war im Vertragsverletzungsverfahren in der Sache „Kommission/Frankreich“ nicht der Fall. Ob und wieweit die Verfahrensart Auswirkungen auf die Abwägung haben könnte, bliebe zu untersuchen. 55 EuGH v. 26.6.1997, Rs. C-368/95, „Familiapress“, Slg. 97, S. 3689, 3715, 3717 ff., Rz. 18 ff., 24 ff., 34. 54
262
2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
Damit schien der Weg für die Grundfreiheitsprüfung und damit für die Grundrechtsprüfung frei. Der Gerichtshof sah aber zwischen dem Sachverhalt des Ausgangsverfahrens (den Flugblättern der Studenten) und der Dienstleistungsfreiheit (den im Ausland vorgenommenen Abtreibungen) keinen hinreichend engen Zusammenhang.56 Damit war Art. 49 EGV nicht einschlägig. Der Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts war nicht eröffnet, so dass der Gerichtshof zu den Grundrechtsfragen keine Stellung beziehen musste.57 bb) Ergebnisoffene Abwägung zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten in der Kollision Die Art und Weise, in der die Grundfreiheiten und Grundrechte hier vom Gerichtshof eingesetzt werden, lassen eine wertmäßige Über- oder Unterordnung nicht erkennen. Alle Positionen werden in der Abwägung selber gleichrangig behandelt. Ihre Einordnung als „Grundfreiheit“ oder „Grundrecht“ spielt in der Auseinandersetzung mit den sachlichen Erwägungen, die dem Interessenkonflikt zugrunde liegen, keine Rolle mehr. Zwar bleibt die Anwendbarkeit der Gemeinschaftsgrundrechte nach wie vor bedingt durch die Anwendung der Grundfreiheiten. Dieses Verhältnis zeichnet aber keine wertende Aussage im Sinne einer hierarchischen vertikalen Einteilung nach, sondern es drückt eine horizontale Abgrenzung aus. Diese Idee ist bereits kurz angedeutet worden. Die Grundfreiheiten mit ihrem unbestritten wirtschaftsnahen Anwendungsbereich sind ein sicherer Indikator für die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts, das wiederum den Weg für eine Prüfung der Gemeinschaftsgrundrechte erst frei macht. Wenn die Anwendung der Grundfreiheiten fraglich wird, ist das umgekehrt ein Hinweis darauf, dass sich der Fall zu weit weg von der ursprünglichen Idee der Gemeinschaft und zu nah an den nationalen Besonderheiten bewegt. Der Gerichtshof wird dann in der Regel auf die Prüfung der Gemeinschaftsgrundrechte verzichten. Deswegen ist die Entscheidung SPUC/ Grogan auch im materiellen Ergebnis richtig. Den Studenten ging es ersichtlich nicht um die Dienstleistungsfreiheit oder um das Funktionieren des Binnenmarktes. Sie wollten die Dienstleistungsfreiheit als Vehikel nutzen, um ein inner-irisches Problem auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene verhandeln zu können. In der Absage des Gerichtshofs an die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten des Art. 49 EGV stecken weniger Überlegungen zum Geltungsbereich dieser Vorschrift, sondern die Sorge des Gerichtshofs, auf 56 EuGH v. 4.10.1991, Rs. C-159/90, „SPUC/Grogan“, Slg. 91, S. 4685, 4740, Rz. 24. 57 EuGH v. 4.10.1991, Rs. C-159/90, „SPUC/Grogan“, Slg. 91, S. 4685, 4741, Rz. 31.
A. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Rechtsprechung
263
diesem Umweg auf das Terrain der irischen Abtreibungsdebatte gezogen zu werden, die ersichtlich nicht dem Gemeinschaftsrecht unterstellt werden sollte.58 Der Gerichtshof trennt auf diese Weise in seinen Entscheidungen klar zwischen nationalen Grundrechten und Gemeinschaftsgrundrechten. Nur Gemeinschaftsgrundrechte können in die Abwägung mit eingestellt werden. Auch die Abwägung im eigentlichen Sinne erfolgt dann fair und ohne eine erkennbar Bevorzugung der Grundfreiheiten oder der Grundrechte. Auf die kritischen Stimmen, die an einer Fairness der Abwägung zweifeln, kommt die Darstellung der Literaturmeinungen zurück.59 Die einzige Besonderheit, die hier noch angemerkt werden könnte, ist die Beobachtung, dass der Gerichtshof nicht immer alle beteiligten Interessen in den Entscheidungsgründen sichtbar macht. Als Beispiel wurde die Sache Französische Bauernproteste genannt.60 Ob einzelne Interessen in die Abwägung eingeflossen sind, und welche Rolle sie in der Abwägung selber gespielt haben, bleibt im Dunkeln. Der Gerichtshof könnte die Klarheit und Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen erhöhen, indem er alle Interessen und Rechte offen legt. Die Transparenz wäre noch größer, wenn dabei zwischen den einzelnen Funktionen einer Rechtsnorm unterschieden würde. Dieser Ansatz sollte anhand der oben aufgeführten Fallbeispiele deutlich werden. Für den Untersuchungsgegenstand der Arbeit ist es wichtig, ob der Gerichtshof im Rahmen einer Abwägung vor allem die subjektiven oder stärker die objektiven Elemente einer Rechtsnorm prüft. Denn nur dann lässt sich die unterschiedliche Wirkweise der subjektiven und der objektiven Elemente innerhalb ein und derselben Norm noch deutlicher nachvollziehen. Es wird leichter, dem subjektiven Teil einer Grundfreiheit eine grundrechtliche Funktion zuzuweisen, nachdem er zuvor gegen die objektiven Komponenten der Grundfreiheit abgegrenzt und gleichsam „isoliert“ worden ist.61
58
Siehe unten D. II. 2. b) und c) im dritten Teil. Siehe unten B. IV. 2. e) am Ende des zweiten Teils. 60 EuGH v. 9.12.1997, Rs. C-265/95, „Kommission/Frankreich“, Slg. 97, S. 6959 ff. 61 Vgl. das Modell der Doppelfunktionalität unter C. I. im dritten Teil. 59
264
2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
B. Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten in der Literatur I. Gleichsetzung oder Annäherung der beiden Kategorien? In der gemeinschaftsrechtlichen wissenschaftlichen Literatur werden die Grundfreiheiten des EG-Vertrages in der Regel als „grundrechtsähnliche Rechte“ bezeichnet.62 Dieser Begriff „grundrechtsähnlich“ soll stellvertretend für diejenigen Einordnungsversuche stehen, die der verbindlichen Antwort auf die Frage nach der Wesensgleichheit von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten ausweichen und auf Wendungen wie „grundrechtsgleiche Rechte“ oder „grundrechtsartige Rechte“ und vergleichbare Begriffe zurückgreifen.63 1. Näherungsweise Umschreibungen reichen in der Regel aus
Dass es auf eine eindeutige Grenzlinie zwischen Grundfreiheitscharakter und Grundrechtscharakter nach Ansicht vieler Autoren im jeweiligen Zusammenhang nicht ankommt, machen häufig Formulierungen wie „Grundfreiheiten sind Grundrechte oder zumindest grundrechtsähnliche Rechte“ deutlich, die – nach praktisch-juristischer Arbeitsweise – die genaue Abgrenzung dahinstehen lassen.64 In den meisten Fällen, in denen auf diese 62 Nachweise etwa bei Pfeil, Historische Vorbilder, S. 257, dort Fn. 14; dazu Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 136 m. w. N. in Fn. 72; Schreiber, ZNER 2000, S. 202, 203, dort in Fn. 3; Matthies, FS Sasse, S. 115, 117; Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz in der EU, S. 74 „grundrechtsähnliche Gewährleistungen“; Schroeder, JZ 1996, S. 256; Gersdorf, AöR 119 (1994) S. 400, 404; Crones, Grundrechtlicher Schutz, S. 22 „grundrechtliche Garantien“; u. v. m. 63 Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Rn. 1, 49 zu Art. 39 EGV, der von „grundrechtsgleichen“ Rechten spricht, ohne die Kategorien aber letztlich gleichzusetzen; Krogmann, Grundrechte im Sport, S. 186, „grundrechtsartige Rechte“; Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, S. 266 „Grundfreiheiten sind Grundrechte im weitesten Sinne“. 64 Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 241; Griller, 12. ÖJT (1994) Bd. I/2, S. 3, 10; Szczekalla, Schutzpflichten, S. 465; Hirsch, Gemeinschaftsgrundrechte als Gestaltungsaufgabe, S. 15, nach dessen Ansicht es nachrangig sei, ob man diese subjektiven Rechte als Grundrechte oder als „Grundsätze von fundamentalem Charakter“ bezeichne; Gersdorf, AöR 119 (1994) S. 400, 404; Bleckmann, Die Freiheiten des Gemeinsamen Marktes als Grundrechte, GS Sasse, S. 665, 667, was in diesem Zusammenhang zunächst erstaunt, da der Titel des Aufsatzes eine Beantwortung der Frage in Aussicht stellt. Allerdings sagt Bleckmann nur, dass unter bestimmten Voraussetzungen – Stärkung des subjektiven Elements – die Frage der Grundrechtsgleichheit oder Grundrechtsähnlichkeit ohne praktische Folgen bleiben müsse. Auf Seite 675 bekennt Bleckmann sich dann doch zu den Grundfreiheiten als „ab-
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
265
Formel zurückgegriffen wird, kommt es für die Argumentation auf den letzten Schritt von der bloßen Ähnlichkeit der Grundfreiheiten mit den Gemeinschaftsgrundrechten hin zur vollständigen Gleichsetzung der beiden Kategorien in der Tat nicht an. Soweit diese letzten Meter auf der Annäherung der beiden Rechtsinstitute nicht unmittelbar im Visier der gemeinschaftsrechtlichen Untersuchung stehen, reicht es in der Regel aus, die Annäherung oder einen hohen Grad der Annäherung nachzuweisen und zu begründen.65 Gerade im gemeinschaftsrechtlichen Zusammenhang ist diese Art der juristischen Argumentation von Vorteil, weil sie dem richterrechtlichen Ansatz des Gerichtshof nahe steht. Eine Festlegung über den konkreten Fall hinaus lässt sich vermeiden und die Systematisierung kann für die unterschiedlichen Sichtweisen aus den Rechtsordnungen und Rechtswissenschaften der einzelnen Mitgliedstaaten offen gehalten werden.66 Eine ausdrückliche Antwort auf die Frage der Gleichsetzung von Grundfreiheiten und Grundrechten ist daher sehr vereinzelt geblieben. In der Literatur finden sich Stellungnahmen zu der grundrechtlichen Natur der Grundfreiheiten meist als Randbemerkungen zu Ausführungen zur grundfreiheitlichen Dogmatik oder – seltener – zur Dogmatik der Grundrechte. Auch wenn diese Einordnungsversuche die Frage nach der vollständigen Gleichsetzung im Ergebnis bewusst oder unbewusst ausklammern, sind vor allem die Begründungen, mit denen die Ähnlichkeit der Grundfreiheiten zu den Gemeinschaftsgrundrechten nachgewiesen werden sollen, für die Ausgangsfrage – „Sind Grundfreiheiten Grundrechte?“ – von Wert. Ein Erkenntnisgewinn ist zu erwarten hinsichtlich des Grades an Übereinstimmung, der sich möglicherweise außer Streit stellen lässt und als gesichert angesehen werden kann. Vor allem kann diese dogmatische Absicherung einer hohen Ähnlichkeit relevant werden in der Auseinandersetzung mit den Stimmen in der Literatur, die einen auch nur teilweisen Gleichlauf von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten scharf ablehnen und die beiden Rechtsinstitute als strukturell so unterschiedlich ansehen, dass sie überhaupt nicht, auch nicht partiell zur Deckung zu bringen sein können.67 soluten Grundrechten“, vgl. auch: Bleckmann, Europarecht, S. 278 „echte Grundrechte“. 65 Notthoff, RIW 1995, S. 541, 545 spricht von einer Tendenz der Grundfreiheiten zu einem absoluten Grundrechtsschutz. Eine Tendenz zeigt sich auch bei Hirsch, Gemeinschaftsgrundrechte als Gestaltungsaufgabe, S. 15, 22 „Aus Grundfreiheiten erwachsende Grundrechte“; Emmerich-Fritsche, EWS 2001, S. 365 „subjektive Rechte mit Grundrechtsfunktion im grenzüberschreitenden Bereich“; u. v. m. 66 Vgl. den Abschnitt A. II. 4. zu Beginn des ersten Teils, in dem ein minimalistischer „offener“ gemeinschaftsrechtliche Ansatz einem am deutschen Verfassungsrecht orientierten Ansatz vorgezogen wird; vgl. auch: Nettesheim, NVwZ 1996, S. 342, 343.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
Die Argumente, die aus diesem Streit um den Grad der Ähnlichkeit stammen, können hilfreich sein, um eine solche behauptete Trennlinie zu beleuchten. Für die vorliegende Arbeit ist gerade der letzte Schritt von der bloßen Ähnlichkeit zur vollständigen Gleichsetzung von Interesse. Hier liegen die Argumente nicht offen zutage. Dieser letzte Schritt verlangt zudem möglicherweise eine Überprüfung der Tragfähigkeit jedes einzelnen Arguments für diese neue Situation. Vorsicht ist geboten bei der Annahme, es ließen sich die Argumente für eine annähernd gleiche Behandlung bis zur Überschreitung der Gleichsetzungsgrenze gleichsam extrapolieren. 2. Gibt es eine klar definierte Grenze? – Welchen Wert hat eine genaue Bestimmung dieser Grenze?
Zum Teil wird ausdrücklich bestritten, dass eine solche klare Abgrenzung zwischen grundrechtlichem und grundfreiheitlichem Charakter überhaupt getroffen werden könne. Grundrechtliche und grundfreiheitliche Elemente seien innerhalb der entsprechenden subjektiven Rechte nicht (mehr) unterscheidbar oder trennbar.68 Anderen Autoren erscheint die klare Grenze zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten dagegen so selbstverständlich, dass – teilweise ohne nähere Begründung – eine Gleichsetzung kategorisch ausgeschlossen oder als willkürlich bezeichnet wird.69 Es sind dies bezeichnen67 Jarass, Die Grundfreiheiten als Grundgleichheiten, in: FS Everling, S. 593, 599 ff., 606 f.; Jarass, EuR 1995, S. 202, 216 ff., 218; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 16 f., 85, 118 ff., 127, 133, 190 ff; Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 268 f., 288; Simm, Der Gerichtshof im föderalen Kompetenzkonflikt, S. 58, 67 f., 157 ff., 201, 209 f., 257 ff.; Müller-Graff, Grundfreiheiten, S. 1281, 1285; Marenco, CDE 20 (1984) 291 ff.; vgl. aber zuletzt Kingreen, in: Bogdandy, Verfassungsrecht, S. 631, 680, wo er die Frage des Verhältnisses der beiden Kategorien als ungeklärt bezeichnet. 68 Szczekalla, Schutzpflichten, S. 467; Griller, 12. ÖJT (1994) Bd. I/2, S. 3, 11. 69 Hoffmann, Die Grundfreiheiten als Abwehrrechte, S. 20. Zwar hätte es sich im deutschen Schrifttum eingebürgert, auf die Grundfreiheiten Konstruktionsmodelle anzuwenden, die der Grundrechtsdogmatik entstammten. Da dies jedoch ohne zwingende Begründung geschehe, seien derartige Versuche „nicht zur Nachahmung angetan“, wie Hoffmann findet; Kingreen in: Calliess/Ruffert (1. Aufl.), Rn. 163 zu Art. 6 EUV „Das Grundrecht der Freizügigkeit, das nicht mit der Grundfreiheit der Freizügigkeit nach Art. 39 EGV verwechselt werden darf“; Caspar, EuZW 2000, S. 237, 241, der Grundfreiheiten klar gegen die Grundrechte absetzt, da sie „eine andere Schutzrichtung“ hätten; ähnlich Schindler, Kollisionsmodell, S. 23, 166; Burgi, EWS 1999, S. 327, 329; Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 25, die Grundfreiheiten seien wegen Genese, Sinn und Zweck von den Grundrechten strikt zu trennen; Ziekow, Freizügigkeit und Aufenthalt, S. 16 f.
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
267
derweise vor allem die Stimmen, die der Verwässerung der typisch grundfreiheitlichen Funktion der Art. 28 f. EGV, Art. 39 EGV etc. entgegenwirken wollen und eine Rückkehr zu den „Kernkompetenzen“ der Grundfreiheiten als Aus- und Angleichungsvorschrift fordern. Einen Mittelweg bietet im Rahmen eines geschlossenen Konzeptes der Grundfreiheiten als „Recht auf allgemeine Wirtschaftsfreiheit“ Schubert für das Verhältnis der Grundfreiheiten zu den Grundrechten an. Die Grundfreiheiten seien „geschwächte Grundrechte“.70 Nur vereinzelt haben Autoren über die bloß terminologische Gleichsetzung hinaus ausdrücklich die Grundfreiheiten den Gemeinschaftsgrundrechten gleichgestellt und diesen Schritt bewusst mit einer auf die Wesensgleichheit zugeschnittenen Begründung versehen.71 Häufig folgt auf die verbale Gleichsetzung wenig später ein Gedankengang, der deutlich macht, dass die Argumentation nicht auf die Wesensgleichheit hin angelegt war.72 „Grundfreiheiten wurden in übertriebener Eile zu (. . .) Grundrechten mutiert“; Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 76, 172, 231; Beutler, in: GTE, Rn. 91 zu Art. F EUV und – etwas abgeschwächt – Rn. 108 zu Art. F EUV. 70 Schubert, Gemeinsamer Markt als Rechtsbegriff, S. 213 f. Auf S. 214 spricht Schubert den Grundfreiheiten den Grundrechtsstatus allerdings wieder grundsätzlich ab. Wegen des fragmentarischen Charakters der Gemeinschaftsrechtsordnung könnten die Grundfreiheiten keine echten Gemeinschaftsgrundrechte sein. Auf S. 216 trifft Schubert ferner eine Unterscheidung, die für die vorliegende Arbeit von Relevanz ist. Die Grundfreiheiten als solche könnten keine Grundrechte sein, sondern nur die „speziellen Wirtschaftsfreiheiten“, die von den Grundfreiheiten verbürgt würden. Zu den Überschneidungen dieses Konzepts mit der Idee der Doppelfunktionalität, siehe unten C. II. 2. e) im dritten Teil. 71 Bleckmann, Europarecht, S. 269, 278; Bleckmann, Die Freiheiten des Gemeinsamen Marktes als Grundrechte, GS Sasse, S. 665, 675 f., 680 f.; Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 139, 141, 175; Bleckmann, DVBl. 1986, S. 69, 74; Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, S. 485, der nach detaillierter Untersuchung den Art. 43 EGV in den Rang eines Grundrechts erhebt; Füller, Warenverkehrsfreiheiten, S. 30 f, der die Gleichsetzung der Grundfreiheiten mit den Grundrechten am Beispiel der Art. 28 f. EGV nachweist; Notthoff, RIW 1995, S. 541, 545 f. „Die Personenverkehrsfreiheiten der Art. 39 EGV können daher im Ergebnis als absolute Grundrechte beziehungsweise als weitere Rechtsquelle für Grundrechte auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene verstanden werden“. 72 Häberle, DVBl. 2000, S. 840, 841, der ausdrücklich die Niederlassungsfreiheit des Art. 43 EGV als Grundrecht i. S. eines Abwehrrechtes („status negativus“) bezeichnet; Triantafyllou, DÖV 1997, S. 192,193 „Die sogenannten Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes können auch als Grundrechte gedeutet werden“, ohne diese Wertung in der Folge zu begründen; Meier, NJW 1976, S. 1557, 1558, der Grundfreiheiten als gemeinschaftsverliehene Grundrechte bezeichnet, ohne das weiter auszuführen; Füßer, DÖV 1999, S. 96, 97 spricht bei der Schilderung der Grundfreiheiten von „Gemeinschaftsgrundrechten“, von „grundrechtsdogmatischen Befunden, dem „Grundrecht auf wirtschaftliche Liberalität“ (S. 99) und dem „Grundrecht auf wirtschaftliche Freizügigkeit“, ohne dass aber die „Gemeinschaftsgrundrechte“ als Kategorie in seinem Text auftauchen; Schwarze, EuGRZ 1986,
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
Diese Ansichten, die auf den ersten Blick unbedingt eine Gleichsetzung zu propagieren scheinen, sollen daher in der folgenden Übersicht über die verschiedenen Lösungsansätze kritisch auf ihre Aussagekraft hin untersucht werden. Bei schärferer Lesart lassen sich einige der vermeintlich eindeutigen Positionen möglicherweise stark relativieren.73 Vom Ansatz her erfahren im Folgenden alle vier Grundfreiheiten dieselbe Aufmerksamkeit und gleiche Behandlung, um zumindest von der Fragestellung her eine Aussage zum Begriff der Grundfreiheit als solcher leisten zu können. Es wird sich allerdings hier ein weiteres Mal zeigen, dass die Kluft zwischen den (stärker grundrechtlich strukturierten) Personenverkehrsfreiheiten und den (stärker grundfreiheitlich-instrumentalen) Produktverkehrsfreiheiten auch in der Aufarbeitung des Themas Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur wieder zum Tragen kommt.74 II. Anhaltspunkte für eine Ähnlichkeit oder Gleichsetzung der Grundfreiheiten mit den Gemeinschaftsgrundrechten Die Argumente, mit denen die Literatur die Annäherung der Grundfreiheiten an die Gemeinschaftsgrundrechte zu begründen versucht, lassen sich in einige Hauptaussagen bündeln. Es sind dies zunächst die grundlegende Bedeutung der Grundfreiheiten (1.), dann die Entwicklung der Grundfreiheiten von Diskriminierungsverboten hin zu allgemeinen Beschränkungsverboten (2.) und eine weitgehende Übereinstimmung der Normadressaten (3.). Hinzu kommen weitere einzelne Begründungsansätze, wie ganz grundsätzlich die verstärkt individualschützende Ausrichtung („Subjektivierung“) der grundfreiheitlichen Rechtsprechung (4.).
S. 293, 296, 299; Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 241; Szczekalla, DVBl. 1998, S. 219, 222, nach dessen Einschätzung der nötige grenzüberschreitende Bezug der Grundfreiheiten an deren grundrechtlichen Qualität etwas ändern könne; Hirsch, Gemeinschaftsgrundrechte als Gestaltungsaufgabe, S. 15, 23. 73 Vgl. etwa Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 241, die zunächst die Grundfreiheiten als Grundrechte bezeichnen, dann aber ihren Maßstab mitliefern: Alles was die öffentliche Gewalt irgendwie beschränke und subjektive Rechte des Einzelnen gewähre, sei Grundrecht. Ihrer begrifflichen Kategorisierung ist demnach ein so weites Grundrechtsverständnis zugrundegelegt, dass die Aussagekraft zur Frage des Grundrechtscharakters der Grundfreiheiten stark geschwächt ist; ähnlich bei Gersdorf, AöR 119 (1994), S. 400, 404 und Pernice, NJW 1990, S. 2409, 2413, 2417; Roloff, Beschränkungsverbot des Art. 39 EG, S. 112 f.; 118. 74 Sehr deutlich etwa bei Notthoff, RIW 1995, S. 541, 545; Bleckmann, DVBl. 1986, S. 69 ff. Siehe oben B. II. 5. im ersten Teil den Abschnitt zum Thema „Konvergenz der Grundfreiheiten“.
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
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1. Die grundlegende Bedeutung der Grundfreiheiten als Hinweis auf einen grundrechtlichen Status
a) Die „Wichtigkeit“ als Merkmal eines Grundrechts Ein sehr naheliegender Grund für eine weitgehende Gleichsetzung der beiden Rechtsinstitute ist in der Literatur – der Rechtsprechung des Gerichtshofs folgend – der Wunsch, die grundlegende Bedeutung der Grundfreiheiten innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung zu unterstreichen, indem man ihnen eine grundrechtliche oder grundrechtsähnliche Qualität zuschreibt. Das liegt insbesondere dann nahe, wenn die Grundfreiheiten von Einzelpersonen geltend gemacht werden und die Bezeichnung als Grundrecht neben der grundlegenden Bedeutung auch den subjektiv-rechtlichen Charakter der Grundfreiheit zum Ausdruck bringen soll, den jede der Grundfreiheiten unstreitig besitzt. Ähnlich der Vorgehensweise des Gerichtshofs bei Verwendung dieser Begriffe kann auch bei der Literatur hinter der begrifflichen Annäherung der Grundfreiheiten an die Grundrechte die Absicht vermutet werden, durch die Wortwahl das Gewicht der jeweiligen Grundfreiheit in der Abwägung mit einem entgegenstehenden Interesse oder einem entgegengerichteten Recht zu stärken. Dafür spricht, dass diese Qualifizierungen häufig im Zusammenhang mit Überlegungen zu solchen Kollisions- und Abwägungssituationen zu finden sind. Die Benennung der Grundfreiheiten als Grundrechte oder grundrechtsähnliche Rechte erfolgt dann allerdings in der Regel ohne weitere inhaltliche Begründung. Die Bezugnahme auf den Binnenmarkt wird offenbar als ausreichende Begründung angesehen.75 Dieser Begründungsansatz über das Kriterium der Wichtigkeit ist an die Formelsprache des Gerichtshofs angelehnt und erhält dadurch selbst einen starken formalen Einschlag. Echte materielle Aussagen über die Wertigkeit der Grundfreiheiten lassen sich daher aus diesen Stellungnahmen der Literatur nicht gewinnen. Interessanter ist dagegen möglicherweise die Verknüpfung zweier Eigenschaften, die sowohl für die Grundfreiheiten als auch für die Grundrechte nachweisbar sind. Die Verknüpfung ließe sich auf die einfache Formel „Subjektives Recht + Wichtigkeit = Grundrecht“ bringen. Mit dieser Formel nähert man sich ohne Zweifel auf der Skala der „Grundrechtlichkeit“ dem grundrechtlichen Ende an. Die Berufung auf die „Wichtigkeit“ ist also 75
Ein schönes Beispiel für eine solche – fast schon tautologische – Verwendung des Wortbestandteils „Grund-“ findet sich bei Müller-Graff, in: GTE, Rn. 10 zu Art. 30 EGV „Der freie Warenverkehr ist elementare Grundlage des Binnenmarktes; (. . .) laut Vertragssystematik zu Recht zu den Grundlagen der Gemeinschaft gezählt, und gehört daher zu den Grundnormen des Marktrechts in der Gemeinschaft“; vgl. auch Reich, Bürgerrechte, S. 158 „Grundfreiheiten als Grundlegungen der Gemeinschaft“, u. v. m.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
in jedem Fall von Bedeutung, um rechtfertigen zu können, warum man von den Grundfreiheiten als „grundrechtsähnlichen“ Rechten spricht. Ob diese „Wichtigkeit“ ausreicht, um daraus eine Gleichsetzung von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten ableiten zu können, wird dagegen auch in der Literatur bezweifelt. Als alleiniger Anknüpfungspunkt reiche eine solche Übereinstimmung in der Bezeichnung als „grundlegend“ jedenfalls nicht aus. In jeder Rechtsordnung gebe es eine ganze Reihe von Rechten, die „wichtig“ (im englischsprachigen Original: „fundamental“) sind, ohne dass alle diese Rechte zu derselben Kategorie gehören oder denselben Rang haben müssten. Von der bloß lexikalischen Gleichsetzung könne keinesfalls auf die normative Gleichsetzung geschlossen werden.76 b) Die Konvergenz der Grundfreiheiten als schematischer Begründungsmechanismus Es taucht in der gemeinschaftsrechtlichen Literatur ein weiterer Begründungsansatz auf, der als „formaler“ Begründungsansatz eingeordnet werden muss und deshalb dem Erklärungsansatz über die „Wichtigkeit“ der Grundfreiheiten nahe steht. Dieser zweite formale Ansatz macht sich die Überlegungen zur Konvergenz der Grundfreiheiten zunutze, um den Grundrechtsstatus für einzelne Grundfreiheiten herzuleiten. Der Grundrechtscharakter wird für eine der Grundfreiheiten unterstellt, in der Regel allerdings ohne diese Annahme mit einer dogmatischen Begründung abzustützen. Unter Hinweis auf die „Parallelität“ und die „Konvergenz“ der vier Grundfreiheiten erstrecken die Autoren dann den grundrechtlichen Status auf die Grundfreiheit, um deren systematische Einordnung es jeweils geht.77 Diese Art des Gleichsetzens – oder des „Gleichziehens“ - der Grundfreiheiten hat für die Suche nach einer dogmatischen Aufarbeitung des grundrechtlichen Elements keinen Aussagewert, sofern nicht zumindest zu der Grundfreiheit, die als Ausgangspunkt dieser Argumentationsfigur diente, inhaltliche Argumente für deren Grundrechtscharakter geliefert werden. Ansonsten muss sich diese Art der Argumentation den Vorwurf gefallen lassen, lediglich schematisch – und an der Grenze zum Zirkelschluss – zu operieren. Die argumentative Technik des „Gleichziehens“ der Grundfreiheiten hat ihr 76 Weiler/Lockhart, C.M.L.R. 1995, S. 579, 594. Einen letzten formalen, möglicherweise eigenständigen Ansatz liefert Füller, Die Warenverkehrsfreiheiten, S. 31. Die Grundfreiheiten seien Grundrechte, da sie denselben Regelungsgehalt hätten und nicht einzusehen sei, warum allein der wirtschaftliche Bezug dazu führen solle, dass man die Grundfreiheiten nicht als Grundrechte bezeichnen dürfe. Dann entwertet Füller diesen Gedanken allerdings, indem er mit dem Wortlaut der EMRK („Menschenrechte und Grundfreiheiten“) argumentiert. 77 Siehe etwa: Blumenwitz, NJW 1989, S. 621, 622; Füßer, DÖV 1999, S. 96, 99; Pfeil, Historische Vorbilder, S. 249, 267.
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
271
Vorbild in der Argumentationsweise des Gerichtshofs und der Generalanwälte.78 2. Die freiheitsrechtliche Struktur der Grundfreiheiten (Die Ausweitung der Grundfreiheiten von Diskriminierungsverboten zu allgemeinen Beschränkungsverboten)
Vor allem die Ausweitung der Funktion der Grundfreiheiten von Diskriminierungsverboten zu weitergehenden allgemeinen Beschränkungsverboten wird in der Literatur als Hinweis darauf verstanden, dass Grundfreiheiten und Grundrechte vom Wesen her so ähnlich seien, dass eine Gleichsetzung in diesem Punkt zwingend sei und eine Unterscheidung – so es sie geben sollte – in anderen, untergeordneten Erscheinungsmerkmalen gesucht werden müsse.79 Dabei wird eine Wesensähnlichkeit auch und gerade dadurch anerkannt, dass die Grundfreiheiten mit den nationalen Grundrechten gleichgesetzt werden.80 a) Das „Rutili“-Argument: Dieselben Schranken – also gleichsetzen? Die Struktur eines Freiheitsgrundrechts zeichnet sich, schematisch gesprochen und ohne einer Festlegung auf Kriterien an dieser Stelle vorgreifen zu wollen, dadurch aus, dass sie zunächst dem Einzelnen einen geschützten Bereich zuweist, bevor dann – in einem zweiten gedanklichen Schritt – bestimmte Anforderungen an die Maßnahmen gestellt werden, durch die in diesen geschützten Bereich eingegriffen werden darf. Ausgehend von diesem Basismuster eines Grundrechts und in Verbindung mit der Rutili-Entscheidung des Gerichtshofs scheint eine überraschend einfache und eindeutige Gleichsetzung der Grundfreiheiten mit den Grundrechten möglich. In der Rutili-Entscheidung hatte der Gerichtshof vorgegeben, dass die Grundfreiheiten (in dem Fall die Freizügigkeit) nur unter den Voraussetzungen der Art 8 ff. EMRK eingeschränkt werden dürften. Eine Beschränkung der Grundfreiheiten könne also nur erfolgen, soweit die Be78
Schlussanträge Lenz zu EuGH v. 15.12.1995, Rs. 415/93, „Bosman“, Slg. 95, S. 4921, 4991 bis 5008, Rz. 165 bis 203. Siehe unten B. II. 2. c) am Ende. 79 Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, S. 485, 376, 381; Bleckmann, GS Sasse, S. 665, der aus Richtung der Grundrechte kommend feststellt, dass fast alle Probleme der allgemeinen Grundrechtslehren bei den Freiheiten des Gemeinsamen Marktes wiederkehren: Grundrechtsträgerschaft, das Adressatenproblem, insbesondere die Frage der Drittwirkung, die Grundrechtsfunktionen (Abwehrrechte, Teilhabe- und Leistungsrechte), die Schutzbereichs- und Schrankenproblematik. 80 Blumenwitz, NJW 1989, S. 622 „wie Art. 12 GG“; Bleckmann, DVBl. 1986, S. 69, 69 f., 74; Borrmann, Berufsfreiheit, S. 239; u. v. m.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
schränkung gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft zur Wahrnehmung der typischen Ordre-Public-Interessen notwendig sei.81 Wenn die Grundfreiheiten aber dieselben Schranken wie die Grundrechte der EMRK aufwiesen, so die Literatur, dann müssten sie ebenso wie diese echte Grundrechte sein.82 Ob diese Gleichsetzung im Ergebnis überzeugen kann, muss hier nicht entschieden werden. Der Gedankengang bleibt bestechend einfach. Sein Mehrwert für die Suche nach Gemeinsamkeiten von Grundfreiheiten und Grundrechten ist indes gering. Dass die Grundfreiheiten nicht schrankenlos gewährt werden, war auch vor Rutili unbestritten. Die Schranken aus den Art 8 ff. EMRK sind so allgemein und offen formuliert, dass ein Rückschluss auf eine besondere Struktur oder auf die materiellen Inhalte der geschützten Bereiche, die sie begrenzen, nicht aussagekräftig sein kann. Der Begründungsansatz ist daher auch eher als „formaler“ Begründungsansatz einzuordnen. Vor allem aber bleibt dieser Ansatz in seiner Unterscheidungskraft hinter den Stimmen zurück, die in der bewussten Ausweitung der Grundfreiheiten von Diskriminierungsverboten zu Beschränkungsverboten einen Hinweis auf den grundrechtlichen Charakter der Grundfreiheiten sehen. Denn diese gedankliche Aufspaltung der Grundfreiheiten in Diskriminierungsverbot und Beschränkungsverbot spielt jedenfalls nach außen hin für das genannte Argument der EMRK-Schranken keine Rolle.83 In der Folge soll aber gerade diese Aufspaltung einer der Messpunkte für den Nachweis grundrechtlicher Elemente innerhalb der Grundfreiheiten sein. b) Die freiheitsrechtliche Struktur als Indiz für einen „absoluten“ Gehalt der Grundfreiheiten Grundrechte in ihrer ursprünglichsten Form als Abwehrrechte sind Freiheitsrechte. Sie garantieren dem Einzelnen einen Freiraum, in dem er Beschränkungen seines Willens und seines Handelns nur unter ganz bestimm81
EuGH v. 28.10.1975, Rs 36/75, „Rutili“, Slg. 75, 1219, 1232, Rz. 32. Vgl. die Art. 8 bis 11 EMRK, jeweils deren Absatz 2 mit leicht variiertem Wortlaut hinsichtlich der genannten Ordre-Public-Gründe. 82 Bleckmann, Europarecht, S. 269; ähnlich bei Schneider, Öffentliche Ordnung als Schranke, S. 186; Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 140 f., im Zusammenhang mit der Entscheidung EuGH v. 7.7.1976, Rs. 118/75, „Watson und Belmann“, Slg. 76, S. 1185 ff.; a. A. Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 76. 83 In der Entscheidung v. 28.10.1975, Rs 36/75, „Rutili“, Slg. 75, 1219, 1229, Rz. 9/13 unterscheidet der Gerichtshof klar zwischen dem Diskriminierungsverbot des Art. 39 Abs. 2 EGV, den Beschränkungsverboten des Art. 39 Abs. 3 EGV und dem Diskriminierungsverbot des Art. 12 EGV. Wenn die Schrankendogmatik an diese Unterscheidung angepasst worden wäre, hätte man möglicherweise ein sehr aussagekräftiges Argument gewinnen können. Das haben aber weder der Gerichtshof in der Sache „Rutili“ noch in der Folge Bleckmann, Europarecht, S. 269 getan.
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
273
ten Voraussetzungen dulden muss. Die Einordnung der Grundfreiheiten als „allgemeine Beschränkungsverbote“ impliziert eine vergleichbare Struktur von „Freiraum“ und „Eingriff unter bestimmten Voraussetzungen“ auch für die Grundfreiheiten. Diese Annäherung oder Gleichsetzung in der Struktur liegt auf der Hand, wenn man bereit ist, mit einem überwiegenden Teil des Schrifttums den Schritt vom Diskriminierungsverbot zum allgemeinen Beschränkungsverbot als bewusste Vorgabe durch den Gerichthof anzusehen. Damit wäre für alle Grundfreiheiten ein unumkehrbarer qualitativer Sprung festgeschrieben worden.84 Bei der Darstellung der Dogmatik der Grundfreiheiten hat sich bereits gezeigt, dass dieser Sprung in eine andere Qualität nicht von allen Autoren mitgetragen wird. Immer stärker wird ganz grundsätzlich in Zweifel gezogen, dass sich diese neue Kategorie der allgemeinen Beschränkungsverbote überhaupt als ein Aliud im Verhältnis zu einem (weit verstandenen) Diskriminierungsverbot darstellen lässt. Folgerichtig verlangen diese Ansichten, die Grundfreiheiten begrifflich und systematisch wieder auf ihre ursprüngliche Funktion als „Grundgleichheiten“ zurückzuführen.85 In der Mehrzahl wird aber die Ausweitung vom Diskriminierungsverbot zum allgemeinen Beschränkungsverbot in der Literatur (noch) als klar abgrenzbare Funktionsänderung angesehen. Mit der Ausweitung verbunden ist – unter dieser Prämisse eines echten „qualitativen Sprungs“ – in der Tat die Entwicklung von einem reinen Diskriminierungsverbot zu einem Freiheitsrecht. Damit folgt dann prinzipiell die Prüfung eines Eingriffs in diese als Freiheitsrecht verstandene Grundfreiheit demselben Schema von Eingriff, Rechtfertigung des Eingriffs und Schranken-Schranke, wie es im deutschen Verfassungsrecht der Fall ist oder wie es in vergleichbarer Weise auch für die Gemeinschaftsgrundrechte vom Gerichtshof gehandhabt wird. Die Anlehnung an die „Prüfungsschritte“, die sich in der grundrechtlichen Dogmatik herausgebildet haben, wird dann als klarer Hinweis auf einen grundrechtlich-freiheitsrechtlichen Charakter der Grundfreiheiten gewertet.86 84 So ausdrücklich für das „Bosman“-Urteil etwa Nettesheim, NVwZ 1996, S. 342, 343, u. v. m.; Kewenig, JZ 1990, S. 20, 21; Reich, Bürgerrechte, S. 174. Siehe oben B. II. 3. a) im ersten Teil. 85 Jarass, FS Everling, S. 593, 599 ff., 606 f.; Jarass, EuR 1995, S. 202, 216 ff., 218; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 16 f., 85, 118 ff., 127, 133, 190 ff.; Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 268 f., 288; Simm, Der Gerichtshof im föderalen Kompetenzkonflikt, S. 58, 67 f., 157 ff., 201, 209 f., 257 ff.; Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 62 f., 65; siehe oben B. II. 3. im ersten Teil. 86 Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 140 „Indem sich der Gerichtshof zur Sicherung der Freizügigkeit mit dem Übermaßverbot eines für den Grundrechtsschutz typischen Instruments bedient, festigt er den Charakter dieser Gewährleistung objektiv als bestimmenden Wertfaktor des öffentlichen Interesses, wie auch als subjektives
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
Einem Freiheitsrecht lässt sich ein Schutzbereich zuordnen. Dieser Gedanke verbirgt sich hinter Formulierungen, die den Grundfreiheiten materiale Freiheitsgehalte zuordnen wollen.87 Mit dem – unterstellten – Übergang vom Diskriminierungsverbot zum Beschränkungsverbot haben die Grundfreiheiten nach Auffassung der Befürworter dieses Schrittes notwendig auch den Wechsel vom „relativen“ zum „absoluten“ Recht vollzogen. Anders als ein Diskriminierungsverbot, das sich stets an einem Vergleichsmoment orientieren müsse – also ein relatives Recht sei – werde die Grundfreiheit in dem Augenblick, in dem man ihr einen freiheitsrechtlichen Anspruch zugestehe, zu einem absoluten Recht.88 Nicht alle Autoren ziehen daraus allerdings auch die Folgerung, in dieser Funktion seien die Grundfreiheiten nunmehr den Grundrechten gleichzustellen. Zum einen wird hier in der Regel der Begriff „absolut“ nur logischtechnisch in der Gegenüberstellung „relativ“ (also auf eine Vergleichsgröße gerichtet) und „absolut“ (ohne Vergleichsgröße) verwendet. Nicht automatisch verbunden mit der Verwendung des Begriffes „absolut“ ist daher der Anspruch einer „absoluten“ Geltung im Sinne etwa einer universellen Geltung oder einer besonderen überpositiven Verankerung eines Rechtes. Aber selbst die Verwendung des Begriffes „absolutes Recht“ in der bloßen Gegenüberstellung zu den relativen Gleichheitssätzen ist, wie bereits mehrfach angesprochen, nicht unumstritten. Die Ansichten, die den Schritt vom Diskriminierungsverbot zum allgemeinen Beschränkungsverbot nicht mitgehen wollen, sehen auch in den Rechten, die die Gegenseite als Beispiele für „absolute Rechte“ anführt, in Wahrheit lediglich „relative“ Rechte. Das Tatbestandsmerkmal des „grenzüberschreitenden Bezugs“ wird zur Wasserscheide zwischen diesen beiden Ansichten. Durch das Festhalten am Tatbestandsmerkmal des grenzüberschreitenden Moments, so die Gegner der „absolut verstandenen Grundfreiheiten“, bleibe immer eine Vergleichsgruppe bestehen.89 Ein solcher behaupteter absoluter Charakter lässt sich also nur für die sehr kleine Gruppe der „echten“ Beschränkungsverbote (Bosman etc.) nachweisen.90 Freiheitsrecht des Marktbürgers“; Bleckmann, GS Sasse, S. 655, 655 f.; Mehler, Grundrechtsbindung, S. 154 ff. und dessen Kritik an der Schrankendogmatik des EuGH. 87 Kluth, AöR 122 (1997) S. 561, 563. Es geht hier nur um die sprachliche Annäherung an die grundrechtliche Terminologie. In der Sache ist Kluth ist gegen eine Gleichsetzung der Grundfreiheiten mit den Grundrechten, trotz der „materialen Freiheitsgehalte“. 88 Classen, EWS 1995, S. 97, 99; Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, S. 245 f., 357 f., 381 f.; Bleckmann, Europarecht, S. 274; Bleckmann, GS Sasse, S. 655, 675; Wernsmann, EuR 1999, S. 754, 755; Roloff, Beschränkungsverbot des Art. 39 EG, S. 28, 37, 113; u. v. m. 89 Classen, EWS 1995, S. 97, 100; Möstl, EuR 2002, S. 318, 329.
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
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c) Ist das Kriterium der freiheitsrechtlichen Struktur ein zwingendes Indiz? Dass die freiheitsrechtliche Struktur allein den zwingenden Schluss auf den Grundrechtscharakter erlaubt, zeigt sich als leicht angreifbare Vereinfachung, wenn man die Gleichheitsgrundrechte in den Blick nimmt, sei es auf gemeinschaftsrechtlicher oder auf nationaler Ebene. Die Qualität des Art. 3 GG als Grundrecht steht außer Zweifel, obwohl Art. 3 GG nur über einen „relativen“ Regelungsgehalt verfügen kann. Gleiches gilt für den allgemeinen Gleichheitssatz des Gemeinschaftsrechts, der zu den Gemeinschaftsgrundrechten zählt. Diese beiden Grundrechte folgen als „Gleichheitsgrundrechte“ ihrem – aus der Logik des Gleichheitsgedankens vorgegebenen – zweistufigen Aufbau. Das erfordert die Bildung von Vergleichsgruppen und dann die Frage, ob eine abweichende Behandlung sachlich zu rechtfertigen ist. Der fehlende klassische Drei-Stufen-Aufbau kann an der Grundrechtseigenschaft dieser Normen nichts ändern. Gegen diese Überbetonung der „freiheitsrechtlichen Struktur“ für die Qualifizierung als Grundrecht sprechen in diesem Zusammenhang einige weitere Beobachtungen: Das Diskriminierungsverbot selbst ist in Form des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes im Gemeinschaftsrecht von fast allen Seiten als Gemeinschaftsgrundrecht anerkannt, obwohl es kein Freiheitsrecht ist.91 Wenn man in den Grundfreiheiten in erster Linie eine spezielle Ausprägung des Art. 12 EGV bzw. des allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes sieht, wie das vor Cassis und auch noch vor Bosman der Fall war, dann hätte die Antwort auf die Frage, ob Grundfreiheiten Gemeinschaftsgrundrechte sind, viel klarer bejaht werden müssen. Mit dieser Funktion verfügen die Grundfreiheiten also bereits seit Inkrafttreten der Verträge über eine (Teil-) Funktion, die – unter einer anderen Artikelnummer (nämlich der des Art. 12 EGV) – durchgängig als Grundrecht angesehen wird. Wenn eine vollständige Gleichsetzung der Grundfreiheiten mit den Grundrechten dennoch nicht erfolgte, muss es andere entscheidende Faktoren gegeben haben, die diese Gleichsetzung verhinderten. Der Unterschied zwischen Art. 12 EGV und den Grundfreiheiten könnte ein solcher Faktor sein, wenn er von seiner Prägung her einer Anerkennung als Grundrecht entgegenwirkt. Die Frage nach dem Grundrechtscharakter muss entsprechend mehrfach gestellt werden – zunächst für Art. 12 EGV, danach für jeden der einzelnen (Funktions-)Bausteine, aus denen sich jede Grundfreiheit zusammensetzt, und dann erst für die Grundfreiheit als Gesamtnorm.92 90
Siehe oben B. II. 3. c) im ersten Teil. Das wurde im Zusammenhang mit der Darstellung der Art. 12 EGV und Art. 141 EGV unter D. II. 2. und D. III. 2. im ersten Teil angesprochen. 91
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
Ob im Übrigen der Schluss von der freiheitsrechtlichen Struktur auf den Status der Grundfreiheiten als Grundrechte nur in dieser einen Denkrichtung zulässig ist, beantwortet auch die Literatur nicht abschließend. Genauso gut bleibt vorstellbar, dass der Grundrechtscharakter der Grundfreiheiten als gegeben unterstellt und aus diesem Status dann die freiheitsrechtliche Struktur gefolgert werden muss. Das ist der Gedankengang des Generalanwalts Lenz in den Schlussanträgen zu der Rechtssache Bosman.93 Im Schrifttum findet sich die These, nur die Ausgestaltung als Freiheitsrecht könne dem Grundrechtscharakter des Art. 39 EGV gerecht werden, entsprechend auch unter Hinweis auf diese Passagen in den Schlussanträgen zu Bosman. Damit ist dann auch die Rückführung des – prä-existenten – grundrechtlichen Charakters des Art. 39 EGV auf den 14. Erwägungsgrund des Heylens-Urteils bewusst oder unbewusst in die Argumentation übernommen.94 Wie sehr diese Austauschbarkeit von Ursache und Wirkung die Aussagekraft des Arguments schmälert, soll hier nicht entschieden werden. Letztlich geht es um ein Henne-Ei-Problem. Ohne Grundrechtscharakter des Art. 39 EGV hätte der Gerichtshof in dem Moment, in dem die Frage der Erweiterung zum Freiheitsrecht anstand, diesen Schritt nicht unternehmen können. Umgekehrt lässt die Entfaltung als Freiheitsrecht in der „rechtlichen Realität“ (Phänotyp) die Anlage des Art. 39 EGV als Grundrecht (Genotyp) sichtbar hervortreten, so dass auch ein Schluss von der gefundenen Form auf das Wesen als Freiheitsgrundrecht möglich sein muss. Zusammenfassend gilt für die Herleitung des Grundrechtscharakters der Grundfreiheiten aus der Erweiterung von Diskriminierungs- zu allgemeinen Beschränkungsverboten: Die Entwicklung der Grundfreiheiten zu einer Struktur von Schutzbereich und Eingriff wäre ein starkes Indiz für eine Gleichsetzung. Für sich genommen kann die Struktur den Beweis eines grundrechtlichen Charakters aber nicht erbringen. Auch relative Normen 92
Zu dieser Abhängigkeit der Aussagen zur Dogmatik von der jeweiligen Teilfunktion der Grundfreiheiten siehe auch oben B. I. 3 im ersten Teil. 93 Vgl. Schlussanträge Lenz zu EuGH v. 15.12.1995, Rs. 415/93, „Bosman“, Slg. 95, S. 4921, 5007 f., Rz. 203; dazu siehe auch B. II. 3 im ersten Teil. Lenz selber äußert in einem wissenschaftlichen Beitrag im Jahr 1993 noch sein Erstaunen darüber, dass der Gerichtshof in „Heylens“ die Arbeitnehmerfreizügigkeit als Grundrecht bezeichnet. Es sei seiner Ansicht nach fraglich, ob der Gerichtshof hier eine bewusste Unterscheidung treffen wollte, vgl. Lenz, EuGRZ 1993, S. 585, 588; Tettinger, in: Tettinger, Sport im Schnittfeld, S. 20; vgl. aber zuletzt Roloff, Beschränkungsverbot des Art. 39 EG, S. 112 f. 94 Kluth, AöR 122 (1997) S. 561, 564. Auch bei Bleckmann, Europarecht, S. 278 deutet sich die Austauschbarkeit von Ursache und Wirkung an, wenn er sagt, die Grundfreiheiten seien Grundrechte, und mit diesem Befund die stärker subjektivrechtliche Ausrichtung der Grundfreiheiten begründet. Aus dieser subjektiv-rechtlichen Ausrichtung kann umgekehrt deren Grundrechtsähnlichkeit erst gefolgert werden.
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
277
können den Rang von Grundrechten haben. Nicht jede absolute Norm ist automatisch Grundrecht. Entscheidend gegen diese Herleitung eines Grundrechtscharakters spricht aber die zutreffende Einschätzung, dass der behauptete Schritt vom Diskriminierungsverbot zum allgemeinen Beschränkungsverbot in der Mehrzahl der Fälle eine rein begriffliche Grenze markiert. 3. Die Überschneidung der Adressatenkreise von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten
Schließlich wäre eine Übereinstimmung der Adressatenkreise der beiden Rechtsinstitute ein starkes Indiz für eine parallele Behandlung und parallele Bewertung von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten. In der Literatur finden sich nur sehr vereinzelt Ansichten, die bereit sind, die Adressatenkreise vollständig zur Deckung zu bringen.95 Es verbleibt auch bei weitgehender Annäherung stets ein Unterschied, d.h. für die Grundfreiheiten bleibt es bei einer Bindung in erster Linie der Mitgliedstaaten und für die Gemeinschaftsgrundrechte bei einer Bindung vorrangig der Gemeinschaft. Eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte wird nach wie vor nur ausnahmsweise zugelassen. Die Adressatenkreise werden daher in der Regel nicht als verbindendes Element, sondern vielmehr als typisches Abgrenzungsmerkmal zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten gesehen. Es soll auf diese Frage daher nicht im Rahmen der Gemeinsamkeiten, sondern im Rahmen der Übersicht über die trennenden Unterschiede zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten eingegangen werden.96 Das Potenzial, das in einer zunehmenden Übereinstimmung der Adressatenkreise für die Dogmatik von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten steckt, ist in der Literatur interessanterweise aus dem Blickwinkel der Grundrechte und nicht aus der Blickrichtung der Grundfreiheiten beschrieben worden. Zusammenhang ist die (eng umgrenzte) Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte. Wenn – unterstellt – diese Beschränkung der Bindung aufgegeben würde und die Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte in demselben unbeschränkten Umfang gebunden wären wie an die Grundfreiheiten, so wäre dieser Gleichlauf ein überzeugendes Argument für eine Gleichsetzung der Grundfreiheiten mit den Gemeinschaftsgrundrechten.97 95 Füller, Warenverkehrsfreiheiten, S. 30 f., der aus der Tatsache, dass die Grundfreiheiten auch die Gemeinschaft selber binden, folgert: Grundfreiheiten seien Grundrechte, weil dieselben Hoheitsträger verpflichtet sind; Bleckmann, DVBl. 1986, S. 69, 74 „Grundfreiheiten können Grundrechte sein, denn die Gemeinschaftsgrundrechte binden nicht nur die Gemeinschaft, sondern auch die Mitgliedstaaten“. 96 Siehe unten B. III. 97 Jones, Die Bindung der Mitgliedstaaten, S. 169; Bleckmann, DVBl. 1986, S. 69, 74.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
Aus Richtung der grundfreiheitlichen Dogmatik spielt die Frage des Adressaten eine Rolle, wenn etwa eine Stärkung des Schutzes der Grundfreiheiten daraus gefolgert wird, dass sie nicht allein Schutz gegenüber dem Nachbarstaat, sondern auch gegenüber dem eigenen Staat gewährten.98 Diese „Binnenwirkung“ der Grundfreiheiten wird aber vor allem unter dem Gesichtspunkt des Tatbestandsmerkmals „grenzüberschreitendes Element“ von Bedeutung sein.99 Ein Wechsel des Adressaten findet gerade nicht statt. Es wird lediglich der eigene Mitgliedstaat – wie alle anderen Mitgliedstaaten – in die Bindung miteinbezogen. Damit bleibt die Argumentation innerhalb der grundfreiheitlichen Dogmatik und greift auf Elemente einer grundrechtlichen Dogmatik nicht zurück. 4. Die verstärkte Ausrichtung der Grundfreiheiten auf den einzelnen EU-Bürger als Hinweis auf einen grundrechtlichen Status der Grundfreiheiten
Es lassen sich in der Literatur eine Reihe weiterer Begründungsansätze für die Einordnung der Grundfreiheiten als Gemeinschaftsgrundrechte ausmachen. Diese Ansätze, die eher eine Tendenz nachzeichnen als ein klar umrissenes juristisches Argument zu beschreiben, sind am besten in der vereinfachten Aussage „Bei der Anwendung der Grundfreiheiten rückt vermehrt der Einzelne in den Mittelpunkt“ zusammengefasst. Unter diesem Schlagwort finden sich verschiedene Hinweise auf eine Schwerpunktverlagerung weg von einem objektiven, instrumentalen Verständnis der Grundfreiheiten hin zu einer verstärkt individualistisch-subjektiven Ausrichtung dieser Freiheiten. Dieser Aspekt der fortschreitenden „Individualisierung“ oder „Subjektivierung“ der Grundfreiheiten wird vor allem von den Autoren hervorgehoben, die bereit sind, den Grundfreiheiten vollen Grundrechtscharakter zuzuerkennen, und ist daher besonders aufschlussreich.100 Auffallend ist dabei – 98
Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 141; vgl. die indirekte Gültigkeit der Grundfreiheiten auch für Inländer in der Entscheidung des EuGH v. 7.7.1976, Rs. 118/7, „Watson und Belmann“, Slg. 76, S. 1185, 1119, Rz. 23; Nettesheim, NVwZ 1996, S. 342, 345 möchte aus diesem „Schutz auch gegenüber dem eigenen Staat“ den Grundrechtscharakter der Grundfreiheiten ableiten; Bleckmann, GS Sasse, S. 655, 675 „Auch gegenüber dem eigenen Staat“; Bleckmann, RIW 1985, S. 917, 921; Heydt, EuZW 1993, S. 105. 99 Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 141 „Normative Wirkung der Freizügigkeit im staatlichen Binnenbereich“. 100 Bleckmann, Europarecht, S. 269, 274; Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 139 f., 174 f.; Gersdorf, AöR 119 (1994) S. 400, 404 „Aus Gründen der terminologischen Klarheit wird zwischen Grundfreiheiten des EG-Vertrages und den Gemeinschaftsgrundrechten unterschieden, ohne damit den grundrechtsähnlichen, d.h. subjektiven Charakter der Grundfreiheiten in Frage stellen zu wollen.“
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
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um eine der Beobachtungen vorweg zu nehmen –, dass die „Anreicherung“ der Grundfreiheiten mit „individual-schützenden“, subjektiven Gehalten nicht notwendig zugleich eine Abkehr von der objektiv-rechtlichen Konzeption der Grundfreiheiten bedeutet.101 So wählt beispielsweise Bleckmann den Weg über die „objektive Wertordnung“, um die stärkere Subjektivierung und damit den Grundrechtscharakter der Grundfreiheiten zu begründen. Um zu begründen, dass contra legem die Grundfreiheiten auch gegenüber dem eigenen Staat gelten müssten – ein Gedanke, der aus der Sichtweise des zu schützenden Einzelnen gedacht werden könnte102 – zieht Bleckmann das klar objektiv-rechtliche Argument heran, dass andernfalls die Verkehrsströme zwischen den Staaten zu sehr gestört seien.103 Ähnlich argumentiert Pernice, der durchgängig das problemlose Nebeneinander der objektiven und subjektiven Elemente betont.104 Einen „rein subjektiven“ Weg scheint es in der Literatur nicht zu geben. Im Einzelnen lassen sich die folgenden Aspekte dieser Tendenz unterscheiden:
a) Grundfreiheiten im nicht spezifisch wirtschaftlichen Kontext Zunächst umfasst diese Abwendung vom instrumentalen Charakter als rein wirtschaftslenkende Maßnahme die Öffnung des Art. 39 EGV für nicht strikt wirtschaftliche Tätigkeiten. Dahinter steckt die Einsicht, dass das Leben der Gemeinschaftsbürger nur zu einem Teil durch deren wirtschaftliche Tätigkeit bestimmt wird. Die Teilnahme am Wirtschaftsleben – als Produzierende oder Konsumenten – ist für alle Gemeinschaftsbürger von existentieller Bedeutung. Die wirtschaftliche Tätigkeit sei aber in der Regel nicht Selbstzweck, sondern nur eine unter vielen Voraussetzungen, um ein – mehr oder minder – glückliches Leben zu leben. Die Rechtsordnung solle diesem Prioritätenverhältnis dadurch Rechnung tragen, dass sie die Regeln des täglichen Lebens nicht ausschließlich und vorrangig an den Axiomen des Teilbereiches „wirtschaftliche Tätigkeit“ ausrichte. Pointiert gefasst finden sich diese Überlegungen in der Gegenüberstellung der Begriffe des „Menschen als Wirtschaftsfaktor“ und dem „Civis europaeus“.105 Um diese 101 Vgl. den Begriff „Anreicherung“ bei Hirsch, Gemeinschaftsgrundrechte als Gestaltungsaufgabe, S. 15. 102 Heydt, EuZW 1993, S. 105. 103 Bleckmann, GS Sasse, S. 655, 675. 104 Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 141, mit Verweis auf Pescatore, Schutz der Grundrechte, S. 66. 105 Vgl. die Schlussanträge Jacobs zu EuGH v. 30.3.1993, Rs. C-168/91, „Konstantinidis“, Slg. 95, S. 1191, 1212, Rz. 46 (Civis europaeus sum). Von der anderen Seite her kommend: Weiler, FS Pescatore, S. 812, 841 „Individuals turned into factors of production.“
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
Aufspaltung zu überwinden, bieten sich für das Gemeinschaftsrecht verschiedene Wege an. Zum einen können neben den bestehenden Vorschriften, die auf wirtschaftliche Belange hin ausgerichtet sind, neue Vorschriften in den Vertrag aufgenommen werden, die die Stellung des Gemeinschaftsbürgers als „Civis“ stärken sollen, vgl. etwa die Art. 18 ff. EGV (Unionsbürgerrechte). Dann wird sich in der praktischen Anwendung zwangsläufig die Frage nach dem Konkurrenzverhältnis dieser neuen Vorschriften zu den alten „rein wirtschaftsrechtlichen“ Vorschriften stellen. Das ist etwa in der Rechtssache Calfa der Fall gewesen.106 Zum andern kann der Versuch, diese Aufspaltung zu überwinden, durch eine schrittweise Veränderung und Anpassung der wirtschaftsrechtlichen Vorschriften selber erfolgen. Das entspricht im hier interessierenden Zusammenhang der Öffnung der Grundfreiheiten für nicht-wirtschaftliche Sachverhalte und damit verbunden auch der Öffnung für nicht-wirtschaftliche Denkmuster und Wertmaßstäbe.107 Diese Öffnung, die im älteren Schrifttum noch eingefordert wird, ist in der Rechtsprechung des Gerichtshof über den weiten „passiven“ Dienstleistungsbegriff in Luisi und Carbone und Cowan bereits in weiten Teilen vollzogen, ohne dass dies allerdings offen so benannt würde.108 Die Grundfreiheiten umfassen mittlerweile fast alle Bereiche des täglichen Lebens. Ein nichtwirtschaftlicher Alltag lässt sich nicht von wirtschaftlich relevanten Verhaltensweisen trennen. Es ist schwierig, einen europaweiten Sachverhalt zu finden, der nicht in den Anwendungsbereich einer der Grundfreiheiten fiele. Die Herauslösung der Grundfreiheiten aus einem streng wirtschaftlichen Kontext ist damit bei lebensnaher Betrachtung als Faktum anzusehen. Es bleiben Spuren des rein wirtschaftlichen Ausgangspunktes zurück, etwa in der Frage des nachgewiesenen Mindesteinkommens als Voraussetzung der Freizügigkeit. Ob diese Spuren auf ein strukturelles Hindernis gegen eine vollständige Öffnung der Grundfreiheiten für nicht-wirtschaftliche Sachverhalte hinweisen oder ob diese „Überreste“ mit der fortschreitenden Entwicklung auch aufgelöst werden, bleibt in der Literatur offen.
106 EuGH v. 19.1.99, Rs. C-348/96, „Calfa“, Slg. 99, S. 11 ff. 31 f., Rz. 29. Allerdings sind bei „Calfa“ die Grundfreiheiten durch den weiten Dienstleistungsbegriff bereits weitgehend „ent-wirtschaftlicht“. 107 Der Nachteil dieser Art der Vorgehensweise ist die Gefahr, dass die Vorschriften „zerbrechen“, weil sie zwei konträre „Logiken“ in sich aufnehmen müssen, die von unterschiedlichen Prämissen ausgehen und unterschiedlichen Grundsätzen folgen. Das wird im Schlussteil eines der Hauptargumente für die Doppelfunktionalität sein. 108 EuGH v. 31.1.1984, verb. Rs. 286/82 und 26/83, „Luisi und Carbone“, Slg. 84, S. 377, 403, Rz. 16; EuGH v. 2.2.1989, Rs. 186/87, „Cowan“, Slg. 89, S. 195, 220 f., Rz. 15 ff.; siehe oben B. II. 1. b) im ersten Teil; vgl. Schwarze, EuGRZ 1986, S. 263, 296, 299; Bleckmann, GS Sasse (1981) S. 665, 668 f. hatte diese Entwicklung eingefordert.
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
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Auffällig ist auch hier, dass die Argumente des Schrifttums im Zusammenhang mit der „Subjektivierung“ der Grundfreiheiten in erster Linie auf die Personenverkehrsfreiheiten zugeschnitten sind. Eine echte Konvergenz wird hier in erster Linie zwischen den Art. 39 und Art. 43 EGV angenommen. Die Dienstleistungsfreiheit schließt sich an. Ein deutlicher Abstand entsteht dagegen zwischen diesen drei Grundfreiheiten und der Warenverkehrsfreiheit des Art. 28 EGV. Die Überlegungen, die an der Person – im Sinne von Persönlichkeit – des Marktteilnehmers ansetzen, können nicht in demselben Maße auf Waren und Warengruppen übertragen werden. Dabei wird nicht übersehen, dass hinter jeder Ware, die durch Europa transportiert wird, ein Händler steht, der durch diese Verkäufe seine allgemeine wirtschaftliche Handlungsfreiheit ausübt und seinen Lebensunterhalt verdient. Ein Eingriff in die Warenströme betrifft aber die Person des Händlers nicht in demselben Maße, wie es für eine Regelung gilt, die auf seinen Aufenthalt oder seine Berufszulassung unmittelbar Einfluss nimmt. Gerade in den Passagen, in denen etwa Generalanwalt Jacobs den Ausdruck vom „Civis europaeus“ verwendet, macht er deutlich, dass die „menschliche Arbeitskraft nicht ein Produktionsfaktor wie jeder andere“ sein könne.109 Hinzu kommen die Überlegungen, die zum Stichwort „Konvergenz der Grundfreiheiten“ angestellt worden sind: Statistische Gesetzmäßigkeiten lassen sich wegen der großen Zahl der gehandelten Waren und der beliebigen Teilbarkeit der Warenströme für die Warenverkehrsfreiheit fruchtbar machen, während der Wechsel ins Ausland für einen Arbeitnehmer oder Unternehmer eine „Entweder-Oder-Situation“ darstellt. Die Entscheidung für einen solchen Wechsel des Arbeitsplatzes und damit auch des Lebensmittelpunktes wird viel stärker durch non-monetäre, irrationale Faktoren bestimmt als die Entscheidung, eine Ware über die Grenze zu verkaufen.110 Daher tritt das Unvermögen der Grundfreiheiten, non-monetäre Erwägungen nicht oder nur auf Umwegen erfassen können, für die Fälle der Personenverkehrsfreiheiten noch schärfer hervor als bei den Produktverkehrsfreiheiten.
109 Schlussanträge Jacobs zu EuGH v. 30.3.1993, Rs. C-168/91, „Konstantinidis“, Slg. 93, S. 1191, 1211 f., Rz. 46; Schlussanträge Jacobs zu EuGH v. 31.5.89, Rs. 344/87, „Bettray“, Slg. 89, S. 1621, 1637, Rz. 29. 110 Vgl. etwa Mülbert, ZHR 1995, S. 2 ff. nach dessen Ansicht ein Beschränkungskriterium, das nur auf kostenerhöhenden Wirkung von Normen der Aufnahmestaaten abstellt, zu kurz greife, weil es die non-monetären Faktoren nicht mit berücksichtige; Schönherr, Vereinigungsbedingte Dimensionen regionaler Arbeitsmobilität, S. 21 f., 141 f., 147; Simm, Der Gerichtshof im föderalen Kompetenzkonflikt, S. 64 f.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
b) Subjektives Element gegen objektives Element Die begriffliche Gegenüberstellung der subjektiven und objektiven Elemente innerhalb der Grundfreiheiten und der Gemeinschaftsgrundrechte kann auf verschiedene Weise geschehen. Die Mehrzahl der Autoren, die auf den subjektiv-rechtlichen Charakter einer Grundfreiheit hinweisen, tut dies lediglich, um damit die Zuordnung der Grundfreiheiten zu den subjektivöffentlichen Rechten des Gemeinschaftsrechts vorzunehmen.111 Die Ansichten, die diesem subjektiven Element darüber hinaus eine besondere Gewichtung zukommen lassen wollen, unterstreichen diese Tendenz mit Formulierungen wie „Freizügigkeitsrecht (. . .) als Individualgrundrecht“112 oder „subjektives Individualrecht des Marktbürgers“113 oder binden das Freizügigkeitsrecht an Kategorien wie „Entwicklung der persönlichen Freiheit und Würde“.114 Diese Aufwertung des subjektiven Elements kann als solche noch keinen sicheren Hinweis auf die Grundrechtsqualität der jeweiligen Grundfreiheit geben. Sie ist aber Mindestvoraussetzung und ein recht deutliches Indiz, um überhaupt die Grundfreiheiten in die Nähe einer Grundrechtsqualität rücken zu können. Die Titulierung als „Individualgrundrechte“ erscheint – für sich genommen – bereits als klares Bekenntnis zu einem echten Grundrecht, bei dem der individualschützende Aspekt die Norm prägt.115 In der Sache wird damit die Intensität der subjektiven Prägung zum entscheidenden Bestimmungsmerkmal für den Übergang vom „einfachgesetzlichen“ zum „grundrechtlichen“ subjektiven Recht. Als Begründung für die Annahme eines solchen starken subjektiven Elements wird in der Literatur auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs verwiesen, der die Grundfreiheiten punktuell den Grundrechten gleichgesetzt oder sie zumindest in deren Nähe gerückt habe.116 Oft geht bei diesen Begründungsansätzen die scharfe Trennung von subjektivem und objektivem Element wieder verloren. Das ist der Fall, wenn pauschal auf die Stellung der Grundfreiheiten als „fundamentale Grundsätze“ des Gemeinschaftsrechts verwiesen117 oder wenn etwa zum Nachweis des Status als subjekti111
Siehe oben A. II. 2. zu Beginn des ersten Teils. Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 139. 113 Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 175. 114 Bleckmann, Europarecht, S. 278; Bleckmann, GS Sasse, S. 665, 667. 115 Eine Verankerung findet dieser Begriff zum Teil im sekundären Gemeinschaftsrecht, etwa in den Begründungserwägungen (Ziff. 3 und 5) zur Verordnung Nr. 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. 1968 L 257, S. 1 f.). 116 Notthoff, Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, RIW 1995, S. 541, 544 f. 117 Das gelingt etwa Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 86, 125, indem er – in Umkehrung der gewohnten Lesart – von einer „grundrechtlichen Herkunft“ der Arbeit112
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
283
ves Individualgrundrecht auf die Entscheidungsgründe in der Sache Cassis zurückgegriffen wird.118 Denn im Cassis-Urteil wurde rein objektiv-rechtlich argumentiert. Die „Wichtigkeit“ des Cassis-Urteils ergibt sich nicht unter einem individualschützenden Blickwinkel, sondern vor allem als Baustein im Gesamtgefüge des Binnenmarktes (Bekenntnis zum Ursprungslandprinzip). Interessant ist daher in diesem Zusammenhang vor allem die bereits angesprochene Beobachtung, dass eine Stärkung des subjektiven Elements innerhalb einer Grundfreiheit in der Regel nicht zwangsläufig auch zu einer Schwächung des objektiven Gehalts der Grundfreiheit führt. Vielmehr wird oft die objektive Funktion aus denselben Erwägungen heraus parallel zu dem subjektiven Element weiterentwickelt.119 Das objektive Element scheint also mitzuwachsen, wenn man den Anwendungsbereich der Grundfreiheit erweitert oder vertieft. Ein grundrechtlicher Charakter würde sich aber – nach der hier entwickelten Arbeitshypothese – vor allem dann nachweisen lassen, wenn das subjektive Element zum bestimmenden Faktor einer Rechtsnorm wird, wie das bei einem Abwehrrecht der Fall ist, und sonstige objektiv-rechtliche Funktionen diesem Rechtsschutzgedanken nachgeordnet sind. In Zweifelsfällen müsste der subjektive Charakter einer grundrechtlichen Norm sich gegenüber einem objektiv-rechtlichen Element durchsetzen können. Gerade dieses interne Kräfteverhältnis scheint für die Grundfreiheiten fraglich. Im Schrifttum wagt Bleckmann sich – zumindest der Rhetorik nach – in dieser Frage am weitesten vor. Die grundrechtliche Komponente, die er den Grundfreiheiten zugesteht, führe dazu, dass auch die Grundfreiheiten „im Lichte der Bedürfnisse der Menschen“ und unter Berücksichtigung des Satzes „in dubio pro libertate“ auszulegen seien. Wenn das subjektive Element das objektive überwiege, wäre ein so hinreichender Grundrechtsgehalt in den Grundfreiheiten nachgewiesen, dass es auf die weitergehende Abgrenzung, ob sie „Grundrechte“ oder nur „grundrechtsähnliche Rechte“ nehmerfreizügigkeit ausgeht. Auf S. 61 f. nähert sich Pernice dagegen den Gemeinschaftsgrundrechten von der objektiven Seite her kommend an; vgl. dazu die Kritik bei Pfeil, Historische Vorbilder, S. 259 f. 118 Zutreffend daher Pfeil, Historische Vorbilder, S. 260. 119 Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 139, 140 f. Das Übermaßverbot sei ein typisches Instrument des Grundrechtsschutzes. Daraus wird dann allerdings eine Festigung sowohl des objektiven als auch des subjektiv-freiheitsrechtlichen Charakters der Grundfreiheit gefolgert; Bleckmann, GS Sasse, S. 665, 675 f. der hier jeweils die Ausweitung der Rechtsschutzwirkung der Grundfreiheiten (Schritt vom Diskriminierungsverbot zum Beschränkungsverbot; Drittwirkung) mit der Verbesserung der Verkehrsströme im Markt begründet. Das erklärt sich vor dem institutionellobjektiven Verfassungsverständnis, zu dem Bleckmann sich auf S. 683 f. bekennt; Notthoff, RIW 1995, S. 541, 544 f.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
seien, gar nicht mehr ankäme.120 Liest man diese Aussage zusammen mit dem Bekenntnis des „in dubio pro libertate“, so könnte man daraus auf eine vollständige Gleichsetzung der Grundfreiheiten mit echten, abwehrrechtlich ausgestalteten Grundrechten schließen. Der Stichentscheid ginge dann in der Tat zugunsten des subjektiven Elements aus. c) Individualbezogenheit als „Wunschvorstellung“ Die Ansätze, die eine starke subjektiv-rechtliche Verankerung der Grundrechte in Kategorien wie „Würde des Menschen“ oder „Freie Entfaltung des Einzelnen“ beschreiben, sind häufig so zurückhaltend formuliert, dass sie eher an Vorschläge zum Neuverständnis der Grundfreiheiten erinnern als an eine Bestandsaufnahme des geltenden Gemeinschaftsrechts. So soll etwa das Verständnis der Freiheiten des Gemeinsamen Marktes als Grundrechte erst dazu führen, dass die entsprechenden Normen nicht nur als Mittel für die Erreichung der wirtschaftlichen europäischen Allgemeininteressen verstanden, sondern auch als Mittel für die Entwicklung der persönlichen Freiheit und Würde begriffen werden.121 In ähnlichem Zusammenhang – und bezeichnenderweise ebenfalls als Appell im Schlussabsatz des entsprechenden Beitrags – wird die Befürchtung ausgesprochen, dem Gerichtshof könne es bei seiner Interpretation der Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte mehr um die Stärkung der Gemeinschaftsrechtsordnung gehen als um den Einzelnen selbst.122 Die Zahl der Autoren, die eine stark subjektive oder sogar vorrangig subjektive Lesart der Grundfreiheiten propagieren, ist daher gering. Das subjektive Element wird von den meisten Autoren zwar akzeptiert, der objektiv-instrumentale Charakter der Grundfreiheiten wird aber immer noch als das bestimmende Element der Grundfreiheiten angesehen und schließt eine Überbetonung des subjektiven und damit auch eine zu starke Annäherung an einen grundrechtlichen Status aus.123 120
Bleckmann, GS Sasse, S. 665, 667. Bleckmann, Europarecht, S. 278. Hier taucht ein weiteres Mal das Problem des möglichen Zirkelschlusses auf. Bleckmann möchte die subjektive Ausrichtung der Grundfreiheiten aus deren grundrechtlichem Charakter folgern. Umgekehrt wird deren subjektive Ausrichtung regelmäßig als Beweis für die Grundrechtsähnlichkeit angeführt. Siehe oben B. II. 2. c) am Ende. 122 Kingreen/Störmer, EuR 1999, 263, 290, die allerdings diese Befürchtung weniger aus Sorge um die Stärkung des subjektiven Elements äußern, sondern vermeiden wollen, dass der Gerichtshof die Grundrechte zu einer Kompetenzverschiebung zu Lasten der Mitgliedstaaten nutzen kann; vor allem bei Autoren, die im weitesten Sinne der „Florentiner Schule“ (EUI-Schriftenreihen/European Law Journal) zugerechnet werden können, gehört dieser Vorbehalt zum guten Ton. Das soll die Richtigkeit dieser Ansicht keinesfalls in Zweifel ziehen. 121
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
285
d) Zwischenergebnis: Subjektivierung der Grundfreiheiten als Hinweis auf deren grundrechtlichen Charakter Als Zwischenergebnis kann für diese Gegenüberstellung des subjektiven und des objektiven Elements innerhalb der Grundfreiheiten festgehalten werden, dass – so der Stand in der Literatur – die Grundfreiheiten sowohl eine starke objektive als auch eine mehr oder weniger starke subjektive Komponente in sich tragen. Die eindeutige Antwort auf die Frage „Grundrecht oder nicht?“ kann auch von diesem Kriterium nicht erwartet werden. Es geht nur darum, die Wertungen und Gewichtungen um Nuancen in die eine oder andere Richtung zu verlagern. Eine Tendenz zeichnet sich allerdings ab: Die Literatur ist zurückhaltend mit Erklärungsansätzen, die dem subjektiven Element innerhalb einer grundfreiheitlichen Norm einen entscheidenden Vorrang vor der objektiven Ausrichtung zuerkennen. Eine Stärkung des subjektiven Elements bedeutet in der Regel nicht zugleich eine Verschiebung des Verhältnisses von subjektivem und objektivem Anteil zu Lasten des objektiven Elements. 5. Zusammenfassung: Indizien für die Ähnlichkeit oder Gleichsetzung der Grundfreiheiten mit den Gemeinschaftsgrundrechten
Auch bei den Stimmen, die eine Gleichsetzung der Grundfreiheiten mit den Gemeinschaftsgrundrechten dogmatisch zu begründen versuchen, findet sich kein zwingendes Argument für diese Gleichstellung. Die Annäherung der Grundfreiheiten an eine freiheitsrechtliche Struktur durch die Weiterentwicklung von Diskriminierungsverboten zu allgemeinen Beschränkungsverboten ist ein wichtiger Hinweis auf eine Annäherung der Grundfreiheiten an grundrechtliche Kategorien. Allerdings ist nicht mehr unumstritten, dass mit der Erweiterung von Diskriminierungsverboten zu allgemeinen Beschränkungsverboten tatsächlich eine qualitative Strukturveränderung und nicht lediglich eine begriffliche Neufassung beschrieben ist. Zudem wäre eine freiheitsrechtliche Struktur der Grundfreiheiten zunächst nur ein formales Argument. Für eine Gleichsetzung mit den Grundrechten müsste eine materiell-rechtliche Aufwertung der Grundfreiheiten hinzukommen. Auch die weiteren Begründungsversuche in Richtung „Grundrechtscharakter der Grundfreiheiten“ beschreiben eher Tendenzen, Entwicklungen 123 Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 14, der diesen Standpunkt als den herrschenden Standpunkt bezeichnet; Everling, EuR 1989, S. 338, 334; Birk, in: Lenz, Handbuch, S. 365 f. In der angeführten Passage stellt Birk allerdings weniger die individualschützende Funktion des Art. 39 EGV, als vielmehr die individualschützende Funktion der Harmonisierungsvorschriften in Frage.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
oder Ansätze in Richtung einer verstärkt individualschützenden Ausrichtung der Grundfreiheiten. Dabei ist immer wieder die argumentative Rückanbindung an die ursprüngliche objektiv-rechtliche Funktion zu beobachten. Diese Rückanbindung verhindert, dass das subjektive Element den Grundfreiheiten entscheidend „seinen Stempel aufdrücken kann“. Die hier zusammengetragenen Erklärungsversuche der Literatur weisen – zutreffend – häufig über die rein juristisch-systematischen Argumente hinaus in den Bereich des „wirtschaftlich-politischen“ Kontextes der Gemeinschaften. Sie nehmen teilweise Züge spekulativer, rechtspolitischer Überlegungen an. In dem Zusammenhang wird häufig gerade von den Autoren, die mit diesen „weicheren“ Argumenten die Hinwendung der Grundfreiheiten zu den Grundrechten begründen, die Sonderstellung der Personenverkehrsfreiheiten gegenüber den Produktverkehrsfreiheiten herausgearbeitet. III. Argumente gegen eine Gleichsetzung der Grundfreiheiten mit den Gemeinschaftsgrundrechten Eine Gleichsetzung der Grundfreiheiten mit den Gemeinschaftsgrundrechten wird von der überwiegenden Zahl der Autoren abgelehnt. Wieweit im Einzelnen eine Annäherung der beiden Rechtsinstitute zugelassen wird, soll in diesem Zusammenhang nicht in erster Linie interessieren. Unter Rückgriff auf die oben aufgezeigten Argumente nehmen viele Autoren eine solche Grundrechtsähnlichkeit der Grundfreiheiten ohne weiteres an. Im Folgenden geht es insbesondere um die Unmöglichkeit einer vollständigen Gleichsetzung und die Darstellung der Hindernisse, die im Schrifttum für die Überbrückung der letzten Distanz zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten gesehen werden. Trotz aller Ähnlichkeiten scheinen gewisse Merkmale der Grundfreiheiten einer Qualifizierung als Grundrechte im Wege zu stehen. Die Erklärungsversuche der Literatur sollen wie zuvor nach der Hauptrichtung der jeweiligen Argumente zusammengefasst werden. Diese Hindernisse werden vor allem im Zusammenhang mit folgenden gemeinschaftsrechtlichen Phänomenen erörtert: (1.) Der unterschiedliche Adressatenkreis von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten (2.) Das unverzichtbare Tatbestandsmerkmal des „grenzüberschreitenden Elements“ für die Grundfreiheiten (3.) Die Rückführung der Grundfreiheiten auf ihre Funktion als Gleichheitsrechte (4.) Die ausschließlich instrumentale Rolle der Grundfreiheiten. Zwischen diesen Kriterien – vor allem zwischen den Punkten (2.) bis (4.) – lassen sich Überschneidungen nicht vermeiden. Die Trennung in der Darstellung trifft daher keine Aussage über eine Trennung dieser Bereiche der Sache nach und soll in der Zusammenfassung (5.) entsprechend wieder aufgehoben werden.
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
287
1. Der unterschiedliche Adressatenkreis von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten
Die Grundfreiheiten richten sich ursprünglich und in erster Linie an die Mitgliedstaaten. Die Gemeinschaftsgrundrechte dagegen sollen den Einzelnen vorrangig vor Eingriffen seitens der Gemeinschaftsorgane in Schutz nehmen. Diese auf den ersten Blick klare Unterscheidung von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten wird in der Literatur als Zeichen dafür gewertet, dass eine Unterscheidung dieser beiden Kategorien notwendig ist und bleibt. Eine Gleichsetzung soll daher nicht in Betracht kommen.124 Die Zielrichtung der Grundfreiheiten, die die Gemeinschaft als mögliche Adressatin selbst zunächst gar nicht in den Blick genommen hatte, ist entsprechend bei neueren Systematisierungsansätzen Anlass, sie bereits nicht unter den Begriff „bürgerschützende“ Regelungen zu fassen.125 Voraussetzung für eine solche Qualifizierung als „bürgerschützende“ Regelung sei es, dass die Rechtsnorm jeder öffentlichen Gewalt innerhalb der Rechtsordnung entgegengehalten werden könne, in der die Rechtsnorm Geltung beanspruche. Öffentliche Gewalt sei im Rahmen der Gemeinschaftsrechtsordnung als „gemischter Rechtsordnung“ neben den Mitgliedstaaten zwar auch die Gemeinschaft selber. Die Organe der Gemeinschaft träten mehr und mehr als Träger einer solchen gemeinschaftsrechtlichen öffentlichen Gewalt auf. Echte Adressaten der Grundfreiheiten seien sie aber dennoch nicht. Der Gemeinschaft stände es frei, so die These der Literatur an dieser Stelle, die Grundfreiheiten aus wirtschaftspolitischen Erwägungen einzuschränken. Die Bindung an die Grundfreiheiten sei in das Ermessen der Gemeinschaftsorgane gestellt. Nur die Mitgliedstaaten seien an die Beachtung der Grundfreiheiten tatsächlich gebunden, damit der zu erwartende Widerstand der einzelnen Staaten bei der Umsetzung der Schritte auf dem Weg zum Gemeinsamen Markt diszipliniert werden könne. Wenn aber die Bindung gegenüber den Organen der Rechtsordnung, der die Grundfreiheiten entstammen, nicht festgeschrieben sei, könne von einem bürgerschützenden Gehalt der Grundfreiheiten nicht gesprochen werden.126 Mit der Aberkennung des Prädikates „bürgerschützend“ wäre dann auch eine klare Absage an einen grundrechtlichen Status verbunden. Die Prämisse dieser Ansicht, die Gemeinschaft selber sei nicht an die Grundfreiheiten gebunden, ist allerdings nicht (mehr) haltbar.127 Entspre124 Siehe etwa Jones, Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte, S. 167 f., m. w. N.; Beutler, in: GTE, Rn. 91, 108 zu Art. F EUV; Schilling, EuGRZ 2000, S. 3, 4; Jaensch, Unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 137; Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz, S. 75; Crones, Grundrechtlicher Schutz, S. 23 f. 125 Schilling, EuGRZ 2000, S. 3, 5. 126 Schilling, EuGRZ 2000, S. 3, 5.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
chend vorsichtig wird von den Verfechtern der Ansicht in der Zeitform der Vergangenheit formuliert: Eine vollständige Bindung der Gemeinschaft an die Grundfreiheiten sei ursprünglich nicht der Fall gewesen. In anderem Zusammenhang wird dann klargestellt, dass der Gerichtshof mittlerweile auch die Gemeinschaftsorgane an die Grundfreiheiten gebunden sehe.128 Das Argument der fehlenden Einbindung der gemeinschaftsrechtlich relevanten öffentlichen Gewalt läuft damit leer. Der Begründungsansatz lässt sich aber – in Grundzügen – weiterverwenden, wenn die zwischenzeitlich abgelaufene Entwicklung offengelegt und benannt wird. Dann kann mit der „ursprünglichen Zielsetzung“ der Grundfreiheiten als flankierendem Argument gearbeitet werden. Denn mit dem primären Adressatenkreis verbunden ist immer die Herkunft einer bestimmten Rechtsvorschrift und damit ihre Ratio und Hauptzielsetzung. Für die Grundfreiheiten kann über das Adressatenargument daher eine Rückanbindung an ihre ursprüngliche Bedeutung als „objektiv rechtliche Konstitutionsprinzipien“ des Gemeinschaftsrechts erreicht werden, während bei den Gemeinschaftsgrundrechten die Kompensation für den fehlenden Individualrechtsschutz auf Ebene des Gemeinschaftsrechts unterstrichen wird.129 a) Weitgehende Überschneidung der Adressatenkreise bei verbleibender Asymmetrie Für viele Stimmen in der Literatur ist die Unterscheidung nach den Adressatenkreisen mittlerweile nicht mehr eindeutig zu treffen. Beide Rechtsinstitute habe ihren Adressatenkreis erweitert und sich auf das angestammte Terrain des anderen Rechtsinstitutes ausgedehnt, wobei die Grundfreiheiten stärker „herübergewachsen“ sind als die Grundrechte. Die Grundfreiheiten sind – mittlerweile wohl unbestritten – auch für die Gemeinschaftsorgane bindend. Die Förderung des Binnenmarktes ist Daseinsberechtigung der Gemeinschaftsorgane. Diese Ausrichtung teilen sie mit den Grundfreiheiten. Dass sie diese beliebig suspendieren könnten, ließe sich mit den Zielen des EG-Vertrags nicht vereinbaren. Selbstverständlich muss es auch den Gemeinschaftsorganen möglich sein, sich in ihrer Politik punktuell – mit guten Gründen – gegen die Grundfreiheiten zu stellen. Diese begründeten Ausnahmen von der Bindung beweisen gerade deren grundsätzliche Geltung.130 Zusammen mit der – ohnehin vorliegenden – 127
Siehe oben B. II. 4. im ersten Teil. Schilling, EuGRZ 2000, S. 3, 8, 10. 129 Jones, Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte, S. 168. 130 Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 277 „Die Grundfreiheiten können ihre volle Wirkung nur entfalten, wenn alles hoheitliche Handeln in der EG an ihnen gemessen werden kann“; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 27; Füller, 128
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
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Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundfreiheiten decken diese mit ihrer Verpflichtungswirkung alles hoheitliche Handeln im Bereich des Gemeinschaftsrechts ab. Die Gemeinschaftsgrundrechte dagegen werden von der Literatur nur unter bestimmten Umständen auch für Maßnahmen der Mitgliedstaaten als bindender Prüfungsmaßstab akzeptiert.131 Diese „bestimmten Umstände“ versucht die Literatur in der Diskussion über den Anwendungsbereich der Gemeinschaftsgrundrechte näher einzugrenzen.132 Wieweit inzwischen die Gemeinschaftsgrundrechte auf das Territorium der Mitgliedstaaten vorgedrungen sind, ist nicht eindeutig zu beantworten. Eine vollständige Abdeckung dieses Adressatenfeldes ist aber mit Sicherheit noch nicht erreicht. Die vollständige Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte – ohne die Einschränkung der Fallgruppenbildung – führte zu einer uneingeschränkten Kontrolle aller mitgliedstaatlichen Akte. Dieser „revolutionäre und unrealistische“ Schritt wird als zu weitgehender „Qualitätssprung“ von der ganz herrschenden Ansicht abgelehnt.133 Die englischsprachigen Literatur bringt die Überlegungen, die hinter diesen Argumenten stehen, sehr schön auf den Punkt, indem sie auch an dieser Stelle das Bild der „Schleusentore“ wählt (Floodgate-Argument).134 Wenn diese Tore geöffnet werden, gibt es in der Tat dahinter keinen zweiten Deich mehr, der die vollständige Überflutung der nationalen Rechtsordnungen durch die Gemeinschaftsrechtsordnung aufhalten könnte. Über diese Bindung würde eine „verdeckte Unitarisierung“ in einem Bereich – dem grundrechtlichen Bereich – eingeleitet, der bisher bewusst von vereinheitlichenden Tendenzen freigehalten worden sei.135 Warenverkehrsfreiheiten, S. 31; Schilling, EuGRZ 2000, S. 3, 8, 10; Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, S. 208, mit guten Argumenten und weiteren Nachweisen, etwa auf: Roth, EuR 1987, S. 7, 9. 131 Siehe oben C. II. 3. a) im ersten Teil. 132 Für eine möglichst weitgehende Einbeziehung auch mitgliedstaatlichen Handelns Jones, Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte, S. 55 f., 60 ff., 69 f.; Jürgensen/Schlünder, AöR 121 (1996) S. 200, 226; Weiler, FS Pescatore, S. 821, 827, 830 ff.; Clapham, Critical Overview, S. 31, 40 ff.; dagegen Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 168; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Rn. 56 ff., 60, 81 zu Art. 6 EUV; Kingreen/Sörmer, EuR 1998, S. 263, 283, 286; Schilling, EuGRZ 2000, S. 3, 37. 133 Pernice, NJW 1990, S. 2409, 2417, m. w. N. in Fn. 128; Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 28; Schneider, Öffentliche Ordnung als Schranke, S. 194; Beutler, in: GTE, Rn. 27, 91 zu Art. F EUV; u. v. m. 134 Weiler, The European Court at a Crossroads, FS Pescatore, S. 821, 839. Dieselbe Ausdruckweise wird auch im Zusammenhang mit der Ausweitung der Grundfreiheiten von Diskriminierungsverboten zu allgemeinen Beschränkungsverboten verwendet, vgl. oben B. II. 3. im ersten Teil. Die juristisch-politischen Prozesse, die mit dieser Metapher jeweils umschrieben werden sollen, weisen eine ähnliche Struktur auf.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
Damit bleibt das Verhältnis der Adressatenkreise auch bei mittlerweile weitgehender Deckung ein asymmetrisches. Während die Grundfreiheiten das ursprüngliche Anwendungsfeld der Gemeinschaftsgrundrechte vollständig übernommen haben, können die Gemeinschaftsgrundrechte das Anwendungsfeld der Grundfreiheiten nur teilweise abdecken. Es verbleibt ein Rest an Bindungswirkung, die nur die Grundfreiheiten, nicht aber die Gemeinschaftsgrundrechte erreichen können. In der wissenschaftlichen Debatte, die über diese Ausweitung der Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte geführt wird, ist die Gleichsetzung der Grundfreiheiten und der Gemeinschaftsgrundrechte nicht unmittelbar Gegenstand der Diskussion. Zum einen findet die Beschäftigung mit der Adressatenfrage vorrangig aus der Perspektive einer rein grundrechtlichen Dogmatik statt.136 Ein Bedürfnis für eine Annäherung aus dieser Richtung fehlt. Es gibt keine Bestrebung, die Gemeinschaftsgrundrechte zu Grundfreiheiten zu erklären. Der Kern des Widerstandes gegen die volle Einbindung der Mitgliedstaaten in das Wertesystem der Gemeinschaftsgrundrechte ist ein kompetenzieller und wird auch als solcher diskutiert. Für einige Bereiche, die potenziell von Grundrechten erfasst werden, fehlt der Gemeinschaft und damit auch dem Gemeinschaftsrecht in weiten Teilen (noch) die Zuständigkeit.137 135
Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 283. Die Beiträge etwa von Weiler/Lockhart, C.M.L.R. 32 (1995), S. 51 ff., 579 ff.; Weiler, FS Pescatore, S. 821 ff.; Clapham, Human Rights in the Private Sphere; Clapham, Critical Overview; Jones, Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte; Mehler, Grundrechtsbindung, befassen sich vorrangig mit dem Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene; in den Kommentaren finden sich die Ausführungen zur Überschneidung der Adressatenkreise vor allem zu Art. 6 EUV bzw. Art. 220 EGV, nicht bei den Grundfreiheiten; Weiler, FS Pescatore, S. 821, 839 f. argumentiert allerdings an der hier relevanten Passage interessanterweise nicht in einem rein grundrechtlichen Kontext, sondern im Zusammenhang mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit. 137 Nettesheim, EuZW 1995, S. 106, 108, u. v. m.; in diesem Zusammenhang spielt das Gutachten 2/94 des Gerichtshofs (Beitritt der Gemeinschaft zur EMRK) eine Rolle. Die vollständige Unterwerfung der mitgliedstaatlichen Akte unter ein einheitliches Regime von Grundrechten auf europäischer Ebene sieht der Gerichtshof als einen so weitreichenden und einschneidenden Schritt an, dass er ihn ausdrücklich an eine Vertragsänderung geknüpft sehen möchte. Der Gerichtshof verzichtet folgerichtig darauf, diesen Schritt per Richterrecht selber – an den Mitgliedstaaten vorbei – zu vollziehen. An diesem Punkt ist zudem auf die Grundrechtscharta der Europäischen Union zu verweisen. Die Vertreter der Mitgliedstaaten im Konvent haben Wert auf die klare Eingrenzung des Adressatenkreises der in die Charta aufgenommenen Grundrechte gelegt. Die Charta soll ausschließlich die Gemeinschaft in die Pflicht nehmen. Die Mitgliedstaaten sind nur bei der „Durchführung des Rechts der Union“ gebunden sein, vgl. Art. 51 Abs. 1 der Charta. Die Angst vor kompetenziellen Übergriffen kommt etwa in Abs. 2 des Art. 51 der Charta zum Ausdruck. 136
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
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Aussagen zur Möglichkeit einer Gleichsetzung der beiden Kategorien lassen sich daher nur auf Umwegen über den Streit um die Kompetenzen gewinnen. Ein denkbares Argument gegen eine vollständige Gleichsetzung der Kategorien könnte die Befürchtung sein, mit der begrifflichen Gleichsetzung würde einer – aus Kompetenzgründen unerwünschten – Gleichsetzung der Adressatenkreise der Boden bereitet. Über eine als Grundrecht verstandene Grundfreiheit könnte die volle Bindungswirkung der Grundfreiheiten in den Bereich der Grundrechte eingeschleust werden. Da die Mitgliedstaaten an die Art. 28 EGV, Art. 39 EGV, Art. 34 EGV und Art. 49 EGV unzweifelhaft voll gebunden sind, wären sie – so man die Grundfreiheiten als Grundrechte versteht – jedenfalls bezüglich dieser Grundfreiheiten-Grundrechte ohne Einschränkung in den Adressatenkreis einbezogen.138 Dieses Problem wird allerdings rasch entschärft, wenn man sich vor Augen hält, dass diese Grundfreiheiten-Grundrechte stets in die vom Gerichtshof bereits anerkannte Fallgruppe der Rutili-Konstellationen fallen. Sie binden bereits nach heute gültiger Lesart die Mitgliedstaaten. Wenn nämlich ein EU-Bürger sich gegen eine nationale Maßnahme auf Grundfreiheiten im Sinne von Grundrechten beruft, so tut er dies gerade, weil er sich in seinem grundfreiheitlich geschützten Tun beschränkt sieht. Der Mitgliedstaat muss seine beschränkende Maßnahme über Art. 30 EGV, Art. 39 Abs. 3 EGV, Art. 46 Abs. 1 EGV oder über die berechtigten Allgemeininteressen verteidigen und dabei – so die Vorgabe des Gerichtshofs für die Rutili-Konstellationen – die Gemeinschaftsgrundrechte beachten. In jeder Grundfreiheitskonstellation, in der ein Einzelner die Grundfreiheiten als subjektive Rechte gegenüber einem Mitgliedstaat geltend macht, ist daher automatisch die Bindung dieses Staates an die Gemeinschaftsgrundrechte eröffnet. Diese Bindung muss dann notwendigerweise auch den Art. 39 EGV oder eine der anderen Grundfreiheiten umfassen, wenn diese als „Grundrechte“ auftreten sollten. Eine Erweiterung der Bindung lässt sich nicht nachweisen. Eine Grundrechtsbindung wäre weiterhin nur innerhalb der Kernzuständigkeiten des Gemeinschaftsrechts gegeben. Eine Ausdehnung in neue Bereiche ist nicht zu befürchten. Damit entfällt ein mögliches Argument gegen die – zunächst begriffliche – Gleichsetzung der beiden Normkategorien. Ebenfalls im Zusammenhang mit der Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts stehen die Stimmen in der Literatur, die hinter der Grundrechtsrechtsprechung eine planvolle Strategie des Gerichtshofs zur Ausdehnung der Kompetenzen des Gemeinschaftsrechts in die mitgliedstaatliche Ebene vermuten. Die Grundrechte würden als „Vehikel“ missbraucht, um die Grundfreiheiten – hinter denen der ganze Impetus des 138 So etwa Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 27 f., 29; Beutler, GTE, Rn. 27 zu Art. F EUV; ähnlich Griller, 12. ÖJT (1994) Bd. I/2, S. 7, 35; Jones, Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte, S. 168 f., 174.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
Binnenmarktprojekts steht – immer weiter in Bereiche hinein auszudehnen, die bislang allein den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen unterstanden hätten.139 Hinter dieser scharfen Kritik steht der Wunsch, eine klare Trennung zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten aufrechtzuerhalten und eine „Vermischung“ dieser Kategorien weder auf begrifflicher noch auf sachlicher Ebene zuzulassen. Keinesfalls dürften die Grundrechte zu bloßen Auslegungsprinzipien der Grundfreiheiten herabgestuft werden.140 Hier weist die Auseinandersetzung bereits in Richtung des Verhältnisses von Grundfreiheiten zu Gemeinschaftsgrundrechten im Sinne eines Konkurrenzverhältnisses. Darauf wird im folgenden Kapitel eingegangen.141 Im Ergebnis ist die Unterscheidungskraft des Kriteriums „Normadressaten“ nicht so hoch, wie es auf den ersten Blick scheint und in der Literatur zum Teil gehandelt wird. Es zeigt sich, dass hinter dem Argument der unterschiedlichen Adressaten oft nur der Hinweis auf die unterschiedliche Abstammung und Zielsetzung von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten zu sehen ist. Diese Rückanbindung an die ursprüngliche Ratio hat als „abgeleitetes“ eigenständiges Unterscheidungskriterium einen gewissen Wert. Eine Aussage darüber, ob auch nach dem Herüberwachsen der Anwendungsbereiche die Unterschiede in der Struktur fortbestehen, trifft das so verstandene Argument aber gerade nicht. Festzuhalten bleibt die Asymmetrie zu Lasten der Grundrechte. Sie binden die Mitgliedstaaten nur ausnahmsweise, während die Grundfreiheiten sowohl Mitgliedstaaten als auch die Gemeinschaftsorgane durchgängig verpflichten. Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte werden unter dem Gesichtspunkt der Bindungswirkung im Ergebnis daher weitgehend gleich behandelt.142 Beide unterscheiden sich von vergleichbaren nationalen Grundrechten dadurch, dass der effektive Schutz, den sie leisten können, innerhalb eines bestimmten räumlichen Bereiches lückenhaft ist, weil sie an den – jeweils aktuellen – Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts gebunden sind. Das folgt aus der begrenzten Zuständigkeit der Gemeinschaften und wird von der Literatur als selbstverständlich hingenommen.143 Am Grund139 Coppel/O’Neill, C.M.L.R. 29 (1992) S. 669, 674, 692 „However, the high rhetoric of human rights protection can be seen as no more than a vehicle for the Court to extend the scope and impact of European law.“ 140 Coppel/O’Neill, C.M.L.R. 29 (1992) S. 669, 684; a. A. Weiler/Lockhart, C.M.L.R. 32 (1995) S. 579, 589. 141 Siehe unten B. IV. 1. a) und b). 142 Vgl. Jones, Die Bindung der Mitgliedstaaten, S. 168, nach dessen Ansicht man ein starkes Argument für die Gleichstellung der Grundfreiheiten mit den Gemeinschaftsgrundrechten hätte, falls man die Anwendungsbereiche gleichziehen könne. Siehe oben B. II. 3. bei den Indizien für die Gleichsetzung. 143 Vgl. etwa Wölker, in: GTE, Rn. 63 zu Art. 52 EGV; Jarass, in: FS Everling, S. 593, 603, „Die Grundfreiheiten enthalten daher durchweg nur ein einseitig wir-
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rechtscharakter der Gemeinschaftsgrundrechte wird trotz dieser Lückenhaftigkeit in der effektiven Schutzgewähr nicht gezweifelt. Ebenso wenig gibt diese Lückenhaftigkeit der Literatur offensichtlich Anlass, den Grundrechtscharakter auch der Grundfreiheiten in Frage zu ziehen.144 Der Schutz beider Rechtskategorien sei insofern nicht lückenhaft, als er gegenüber den Gefahren einsetzt, die dem Einzelnen gerade im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts drohen. Eine begrenzte Rechtsordnung könne stets zum Schutze ihrer Rechtssubjekte nur Vorschriften bereitstellen, die einen immanenten Schutz bewirken.145 b) Die Drittwirkung als Kriterium der Unterscheidung? Neben den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen gibt es eine dritte Gruppe von Adressaten, die mit in den Blick genommen werden muss. Sowohl für die Grundfreiheiten als auch für die Gemeinschaftsgrundrechte ist eine unmittelbare oder mittelbare Verpflichtung von Privatpersonen zumindest vorstellbar. Gerade diese Einbindung der Einzelnen in das System von Bindung und Schutz im Zusammenhang mit den subjektiven Rechten des Gemeinschaftsrechts kann über die Qualität dieser Rechte wichtige Aussagen liefern.146 Die Debatte über die Drittwirkung ist auch in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten untrennbar mit den theoretischen Ansätzen der Grundrechtslehre verbunden. Im deutschen Verfassungsrecht findet die Polarisierung in subjektive und objektive Elemente innerhalb einer Rechtsnorm hier ihre eigentliche praktische Relevanz: Die zunächst subjektiven Grundrechte werden über ihren objektiven Gehalt in eine Wertordnung eingebunden. Über diese Brücke können sie auch den Einzelnen in die Pflicht nehmen. Zudem zeigen die Konstruktionen, die nötig werden, um eine Privatperson – sei es direkt oder indirekt – an eine solche Rechtsnorm auf Verfassungsebene zu binden, dass eine solche Bindung mit starken Widerständen zu kämpfen hat kendes Differenzierungsverbot zugunsten grenzüberschreitender Vorgänge“; König, AöR 118 (1993) S. 591, 598; Reitmaier, Inländerdiskriminierung, S. 3; Weis, NJW 1983, S. 2721, 2723; siehe oben die Passagen zur Inländerdiskriminierung unter B. II. 1. a) bb) im ersten Teil. 144 Szczekalla, DVBl. 1998, S. 219, 222. 145 Jones, Die Bindung der Mitgliedstaaten, S. 158 f.; u. a. 146 Vgl. Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 139, der unter der Überschrift „Geltungsweise der Freizügigkeit als Gemeinschaftsgrundrecht“ schreibt: „Der Gerichtshof schützt das Freizügigkeitsrecht als objektiven Wertfaktor und Individualgrundrecht (. . .) nicht nur gegen Beschränkungen durch (fremde) Mitgliedsstaaten, sondern auch mit binnenstaatlicher Wirkung und Drittwirkung; (. . .) seine „Gemeinschaftswirkung“ ist indessen noch nicht positiv anerkannt“; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 23; Kluth, AöR 122 (1997) S. 557, 578 f.
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und daher ein hoher Argumentationsaufwand benötigt wird. Um diese Widerstände zu überwinden, muss die Rechtsnorm erhöhte Anforderungen erfüllen, und zwar sowohl formaler als auch inhaltlicher Art, wie sich aus den Passagen herauslesen lässt, die nicht ohne einen gewissen Pathos die Wichtigkeit eines Grundrechts wie etwa der Meinungsfreiheit in den einschlägigen Urteilen des BVerfG zur Drittwirkung (Lüth, Blinkfuer etc.) unterstreichen.147 Weder für die Gemeinschaftsgrundrechte noch für die Grundfreiheiten hat die wissenschaftliche Literatur eine abschließende Lösung des Drittwirkungsproblems gefunden. Im Bereich der Gemeinschaftsgrundrechte ist, soweit ersichtlich, noch keine Entscheidung ergangen, die dem Gerichtshof Gelegenheit gegeben hätte, eine Richtung anzudeuten.148 Bei den Grundfreiheiten ist die Situation etwas anders. Der Gerichtshof hat hier in einer ganzen Reihe von Fällen das Verhalten nichtstaatlicher Wirtschaftsteilnehmer an den Grundfreiheiten gemessen, so dass der Eindruck entstehen konnte, mit diesen Urteilen habe der Gerichtshof ein Bekenntnis zu einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten abgeben wollen. Das ist in der Literatur, wie oben bereits geschildert, zum Teil in dieser vereinfachten Form übernommen worden.149 Die Stimmen, die sich dem Problem der grundfreiheitlichen Drittwirkung intensiver gewidmet haben, kommen dagegen in der Mehrzahl zum Ergebnis, eine solche direkte Bindung der Einzelnen an die Grundfreiheiten abzulehnen oder zumindest offen zu lassen.150 Interessant in diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung der beiden Funktionen der jeweiligen Grundfreiheit in Diskriminierungsverbot und Beschränkungsverbot. Diese Unterscheidung wird von der Literatur teilweise übergangen, wenn unter Berufung auf Walrave eine unmittelbare Bindung der Privaten angenommen wird. Auch nach Bosman – nachdem die Erweiterung des Art. 39 EGV auf ein allgemeines Beschränkungsverbot unstrittig 147 „Schlechthin konstituierend“, vgl. etwa BVerfGE 7, S. 198 f., 208, „Lüth“; BVerfGE 25, S. 256 ff., „Blinkfuer“. 148 Für die Gemeinschaftsgrundrechte siehe oben C. II. 3. b) im ersten Teil; vgl. dazu auch Duvigneau, Legal Issues 1998, S. 61, 72, der Ansätze einer Drittwirkungstheorie in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nachweist; ebenso: Eissen, in: Mosler/Bernhardt/Hilf, Grundrechtsschutz in Europa, S. 41 f. 149 Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 245, Rn. 804 „ansatzweise Drittwirkung“; Plath, Individualrechtsbeschränkungen im Berufsfußball, S. 83 f.; Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, S. 128, 298; Müller-Graff, Gemeinschaftsprivatrecht, S. 20; Wetter, Grundrechtscharta, S. 100 f. 150 So ausdrücklich Hirsch, Gemeinschaftsgrundrechte als Gestaltungsaufgabe, S. 19; vgl. auch: Kluth, AöR (122) 1997, S. 557, 563, 569, 577; Jaensch, Unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 108 ff, 112; als Randnotiz zum BosmanUrteil vermerkt bei Burgi EWS 1999, S. 327, 328 und Schroeder, JZ 1996, S. 254, 256; Steindorff, FS Lerche, S. 575, 585; Körber, EuR 2000, S. 932, 464.
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feststand – wurden die Begründungsansätze für eine Drittwirkung von vielen Autoren nicht neu gefasst und an diesen Aspekt des Art. 39 EGV angepasst, sondern es wurde – wie vom Gerichtshof selber im Übrigen auch – die Begründung aus der Zeit des Walrave-Urteils beibehalten, also eine Begründung aus einer Zeit, in der für Art. 39 EGV eine Lesart als allgemeines Beschränkungsverbot noch nicht anerkannt war. Die dogmatischen Konstruktion wurden – überspitzt formuliert – blind übernommen.151 Wo die Literatur dagegen eine solche Aufspaltung vornimmt, zeigt sich die Tendenz, die Drittwirkung für das „Diskriminierungsverbot in den Grundfreiheiten“ leichter anzunehmen, als für das „allgemeine Beschränkungsverbot“ oder die Grundfreiheiten als solche. Dem grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbot, das als Ausprägung des Art. 12 EGV angesehen wird, erkennt die Literatur häufig ohne weitere Begründung einen grundrechtlichen Status zu.152 Eine Aussage über die „weitverstandenen“ Grundfreiheiten treffen aber auch diese Autoren gerade nicht. Indirekte Hinweise der Literatur zum Verhältnis der Grundfreiheiten zu den Gemeinschaftsgrundrechten gibt es darüber hinaus im Zusammenhang mit der Entscheidung Französische Bauernproteste, die das Drittwirkungsproblem über den Grundsatz der Gemeinschaftstreue des Art. 10 EGV und über grundfreiheitliche Schutzpflichten lösen will.153 Jeder Mitgliedstaat ist demnach verpflichtet, grundfreiheitswidriges Verhalten zu unterbinden, auch wenn die Quelle dieser Störung ein privater Akteur ist. Das ist für die Fragestellung nach der Grundrechtsqualität der Grundfreiheiten von großer Bedeutung, da ein solcher Rückgriff auf Art. 10 EGV und eine Konstruktion über eine Garantenpflicht der Mitgliedstaaten den Einzelnen als Inhaber der Rechte aus Art. 28 ff. EGV aus dem Blick verliert und die Grundfreiheiten damit wieder deutlich als politische Steuerungsmittel in den Händen und eben auch in der letztendlich alleinigen Verantwortung der Staaten sieht. Die Rezeption dieser Schutzpflichtentheorie spielt allerdings vor allem im Zusammenhang mit den Kollisionen zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten eine Rolle und soll im folgenden Kapitel aufgegriffen werden. Zur Frage einer direkten Gleichsetzung von Grundfreiheiten und Gemeinschafts151
Vgl. die Kritik von Kluth, AöR (122) 1997, S. 557, 563, 569. Roth, FS Everling, S. 1231, 1241 mit Verweis auf: Grabitz, in: Grabitz/Hilf, Rn. 22 zu Art. 7 EGV; Everling, in: FS Pescatore, S. 227, 236, 244, m. w. N.; Jacobs, in: Guild (Hrsg.), Legal Framework, S. 3, 5; nicht ganz eindeutig bei Beutler, in: GTE, Rn. 34 zu Art. F EUV; a. A. Wolf, JZ 1994, S. 1151, 1155. Siehe unten das Kapitel zur Struktur des Art. 12 EGV unter D. II. 2. und 3. im ersten Teil der Arbeit. 153 EuGH v. 9. 12. 1997, Rs C-265/95, „Kommission/Frankreich“, Slg. 97, S. 6959 ff.; dazu: Burgi, EWS 1999, S. 327, 327, 330; Meier, EuZW 1998, S. 87 ff.; Szczekalla, DVBl. 1998, 219 ff.; Schorkopf, EWS, S. 156 ff.; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 197 ff.; siehe oben unter B. II. 4. c) aa) im ersten Teil. 152
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grundrechten in der Struktur treffen diese Kommentierungen der Entscheidung Französische Bauernproteste keine Aussagen. Auch für die Gemeinschaftsgrundrechte wird die Schutzpflichtentheorie als Lösung für die Einbindung Privater in die grundrechtliche Bindung empfohlen. Im Ergebnis wertet die Literatur die ähnlich konstruierten Antworten auf die Drittwirkungsproblematik überwiegend als eine Gemeinsamkeit zwischen den Grundfreiheiten und den Grundrechten.154 Als Argument gegen eine Gleichsetzung ist der Vergleich der Adressatenkreise von Grundfreiheiten und Grundrechten daher nur sehr eingeschränkt von Bedeutung. 2. Das Tatbestandsmerkmal des „grenzüberschreitenden Elements“ und die Inländerdiskriminierung als Argumente gegen eine Gleichsetzung von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten
a) Das „grenzüberschreitende Element“ als genuin grundfreiheitliches Tatbestandsmerkmal In den systematischen Darstellungen der Dogmatik der Grundfreiheiten taucht regelmäßig der Hinweis auf, die Grundfreiheiten seien in ihrer Anwendung auf eine Anzahl von Sonderfällen beschränkt. Sie seien nur anwendbar auf Fallkonstellationen, in denen der zugrundeliegende Sachverhalt einen „grenzüberschreitenden Bezug“ aufweise. Diese Beschränkung auf grenzüberschreitende Sachverhalte wird als bestimmendes Merkmal der Grundfreiheiten gewertet. Das Charakeristikum sei so prägend, dass es eine Gleichsetzung mit grundrechtlichen Strukturen nicht sinnvoll erscheinen ließe. Die Grundfreiheiten seien „weder europäische Grundrechte noch Zuoder Ersatz für nationale Grundrechte, sondern lediglich eine Ergänzung im Hinblick auf spezifische Schutzdefizite des transnationalen Wirtschaftsverkehrs im Binnenmarkt“.155 Dahinter steht die Überlegung, dass die Be154 Für die Schutzpflichtentheorie im Bereich der Gemeinschaftsgrundrechte vgl. etwa: Gersdorf, AöR 119 (1994) S. 400, 414 f.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Rn. 46 f., 47a zu Art. 6 EUV; den Gleichlauf von Grundfreiheiten und Grundrechten betont vor allem Bleckmann, GS Sasse, S. 655, 655, der feststellt, dass dieses Drittwirkungsproblem bei Grundfreiheiten und Grundrechten gleichermaßen auftauche und wegen dieser Parallelität eine Gleichbehandlung fordert; a. A. Schindler, Kollisionsmodell, S. 176 f., 179, 186 f., der es unternimmt, am Beispiel der Schutzpflichtenfälle Wesensunterschiede zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten nachzuweisen. 155 So ausdrücklich Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 16 f. „Die innere Gliederung eines subjektiv-öffentlichen Rechts wird herkömmlich allein ausgerichtet an der Bestimmung des geschützten Lebensbereiches und den entgegenstehenden materiellen Individual- oder Allgemeininteressen, die bei der Ausübung des geschützten Rechts berührt werden. Da aber die Grundfreiheiten nicht vor allen Eingriffen in die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung schützen, kann die etwa aus
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schränkung auf transnationale Sachverhalte zu einer verzerrten, „punktuell auf die Grenzsituation zugespitzten“ tatbestandlichen Struktur der Grundfreiheiten führt, die sich von der „flächig“ gedachten Ausgestaltung von Freiheitsrechten mit sachlich-gegenständlichen Schutzbereichen wieder entfernt. Das in den Tatbestand eingebaute grenzüberschreitende Element führe dazu, dass es stets zu einem „Systemvergleich“ zweier Rechtsordnungen komme.156 Konsequenterweise führt diese Ansicht in der extremen Position dazu, die Ausweitung der Grundfreiheiten von Diskriminierungsverboten zu Beschränkungsverboten insgesamt in Frage zu stellen und eine Rückkehr zu einem Verständnis der Grundfreiheiten als reine Diskriminierungsverbote zu fordern.157 Bei den Gemeinschaftsgrundrechten dagegen gehört das „grenzüberschreitende Element“ nach der hier vertretenen Lesart nicht zum Tatbestand im eigentlichen Sinne.158 In der Literatur sind klare Aussagen zur Funktion des „grenzüberschreitenden Elements“ rar. Ob das „grenzüberschreitende Element“ konstituierend für den Tatbestand eines Gemeinschaftsgrundrechts der deutschen Grundrechtsdogmatik bekannte Struktur eines subjektiv-öffentlichen Rechts nur mit der Modifikation übernommen werden, dass ein spezifisch transnationales Element in den Tatbestand eingebaut wird“; ähnlich bei Caspar, EuZW 2000, 237, 241 „Grundfreiheiten sollen weniger den individualrechtlichen Bereich persönlicher (Markt-)Freiheiten als vielmehr die im Allgemeininteresse bestehenden Rechtsgleichheit zwischen den Marktakteuren gewähren“; Pfeil, Historische Vorbilder, S. 277. Nur sehr vereinzelt sehen Autoren in der Beschränkung der Grundfreiheiten auf Fälle mit „grenzüberschreitendem Bezug“ ausdrücklich keinen Grund, deren grundrechtliche Qualität in Frage zu stellen, vgl. etwa Szczekalla, DVBl. 1998, S. 219, 222. 156 Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 16 „Transnationales Element als Lebensraum der Grundfreiheiten“ und auf S. 119 f. die Analyse der Entscheidung des EuGH v. 25.7.1991, Rs. C-76/90, „Säger“, Slg. 91, S. 4221 ff. als Beispiel für diesen Systemvergleich; Classen, EWS 1995, S. 97, 99 f., 105; Möstl, EuR 2002, S. 318, 329; Pfeil, Historische Vorbilder, S. 260; Simm, Der Gerichtshof im föderalen Kompetenzkonflikt, S. 201 f.; Hoffmann, Grundfreiheiten als Abwehrrechte, S. 72, 73 f. sträubt sich gegen diese Abhängigkeit der grundfreiheitlichen Struktur von der Vergleichssituation, muss aber im Ergebnis die Funktion der Grundfreiheiten als „systemvergleichende Normen“ anerkennen, vgl. S. 44, 54 ff., 95 ff., 101 f. zur Bildung von Vergleichsgruppen und zur Begrenzung der Grundfreiheiten auf „grenzübertrittsspezifische“ Behinderungen. Zum Ganzen siehe oben B. II. 3. b) und c) im ersten Teil. 157 Jarass, FS Everling, S. 593, 599 ff., 606 f.; Jarass, EuR 1995, S. 202, 216 ff., 218; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 16 f., 85, 118 ff., 127, 133, 190 ff.; Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 268 f., 288; Simm, Der Gerichtshof im föderalen Kompetenzkonflikt, S. 58, 67 f., 157 ff., 201, 209 f., 257 ff.; Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 62 f., 65; Marenco, CDE 20 (1984) 291 ff.; u. v. m. 158 Siehe oben B. II. 1. a) aa) im ersten Teil; vgl. Streinz, Europarecht, 4. Aufl. S. 250 Rn. 684 und S. 243 Rn. 666; Nettesheim, NVwZ 1996, S. 342, 344, 345; unklar bei Füßer, DÖV 1999, S. 96, 99.
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ist oder ob darin nur eine prozessuale Voraussetzung für den Gerichtshof zu sehen ist, der andernfalls die Sache nicht zur Entscheidung annehmen dürfte, muss aus dem Umgang mit den Normen herausgelesen werden.159 Nur wenn sich hier für das „grenzüberschreitende Element“ tatsächlich ein Unterschied in der Funktion zeigt, müssten Grundfreiheiten und Grundrechte von der Struktur her als „unvereinbar“ angesehen werden. Wenn man nur auf die Wirkung sieht, die dieses „grenzüberschreitende Element“ aus der Perspektive des Rechtsschutzsuchenden hat, so ergibt sich erneut ein Gleichlauf von Grundfreiheiten und Grundrechten. Denn das „grenzüberschreitende Element“ dient – vom effektiven Rechtsschutz her betrachtet – in erster Linie dazu, den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten festlegen zu können.160 Insoweit läuft es hier weitgehend parallel mit den Gemeinschaftsgrundrechten, die ja ebenfalls nur „im Rahmen des Geltungsbereichs des Gemeinschaftsrechts“ Anwendung finden. Oberflächlich findet demnach eine Gleichsetzung statt, weil beide Normen – Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte – auf grenzüberschreitende Sachverhalte begrenzt werden. Bei näherem Hinsehen rücken die beiden Kategorien allerdings wieder voneinander ab, weil eine Rückbesinnung auf die Grundfreiheiten als Gleichbehandlungsregeln propagiert wird.161 Damit ist – auch wenn das nicht stets ausdrücklich so gesagt wird – die Unverzichtbarkeit und konstituierende Rolle des Tatbestandsmerkmals des „grenzüberschreitenden Bezugs“ für die Grundfreiheiten festgeschrieben. Im Gegensatz dazu wird für die Gemeinschaftsgrundrechte der Anwendungsbereich auf solche Sachverhalte ausgedehnt, die zwar vom Gemein159 Vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Rn. 81 zu Art. 6 EUV, dort Fn. 222, zur „Gesetzeskonkurrenz“ zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten. 160 Hoffmann, Grundfreiheiten als Abwehrrechte, S. 102, insb. auch Seite 24 f., nach dessen Auffassung der Binnenmarktzweck den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten begrenze. Ein grundfreiheitliches Abwehrrecht dürfe insgesamt keinen Zugriff nehmen auf Bereiche, die über diesen den Grundfreiheiten zugedachten Zweck hinausweisen. Die Grundfreiheiten könnten keinen derartigen Schutz versprechen, andernfalls läge das Schutzversprechen außerhalb des rechtlichen Anwendungsbereiches des Vertrags, dem die Grundfreiheiten entstammten. 161 Jarass, Die Grundfreiheiten als Grundgleichheiten, in: FS Everling, S. 593, 599 ff., 606 f.; Jarass, EuR 1995, S. 202, 216 ff., 218 „Die Erstreckung der Grundfreiheiten über Diskriminierungen hinaus auf andere Beschränkungen macht aus dem Diskriminierungsverbot kein Freiheitsrecht. Es ist daher irreführend, wenn gesagt wird, dass sich etwa die Niederlassungsfreiheit nicht in einem Gleichbehandlungsgebot erschöpfe“; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 16 f., 85, 118 ff., 127, 133, 190 ff.; Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 268 f., 288; Simm, Der Gerichtshof im föderalen Kompetenzkonflikt, S. 58, 67 ff., 157 ff., 201, 209 f., 257 ff.; Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 62 f., 65; im Ergebnis wohl auch Hoffmann, Grundfreiheiten als Abwehrrechte, S. 31 ff., 44, 54 ff., 101 f., 206, unklar allerdings S. 204 f., 210 f. und vor allem S. 72, 73 ff., seine Versuche, sich gegen die Ansicht von Jarass abzusetzen.
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schaftsrecht überformt, aber nicht notwendig grenzüberschreitend sind.162 Damit ist der Rückschluss auf die unterschiedliche Normstruktur von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten möglich. Erneut wird das in der Regel nicht ausdrücklich so gesagt. Die Beobachtungen bleiben dem Anspruch und der Terminologie nach häufig im Rahmen der Dogmatik der Grundfreiheiten oder der Dogmatik der Grundrechte. Ein Bezug zu der jeweils anderen Normkategorie wird nur ausnahmsweise ausdrücklich hergestellt. Für eine dritte Vergleichsgruppe – den Art. 18 Abs. 1 EGV (Unionsbürgerfreizügigkeit) – hat Hatje ausdrücklich auf die abweichende Rolle des „grenzüberschreitenden Elements“ für die Struktur der Norm hingewiesen. Bei Art. 18 Abs. 1 EGV sei dieses Merkmal kein notwendiger Bestandteil des Tatbestandes. Das unterscheide die Unionsbürgerfreizügigkeit von den Grundfreiheiten.163 b) Inländerdiskriminierung und grundrechtlicher Charakter der Grundfreiheiten Das „grenzüberschreitende Element“ findet aber auf Umwegen auch in der Literatur doch eine gewisse Berücksichtigung als Abgrenzungskriterium zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten. Einige Autoren stellen den Bezug über den gedanklichen Zwischenschritt der Inländerdiskriminierung her.164 Das Festhalten am grenzüberschreitenden Element hat für den Einzelnen zur Folge, dass er sich seinem eigenen Staat gegenüber nicht auf grundfreiheitliche Vorteile berufen darf, solange sein wirtschaftliches Handeln in den Staatsgrenzen bleibt. Ein ausländischer EU-Bürger dagegen kann im selben Staate die Grundfreiheiten geltend machen, weil er einen „Grenzübertritt“ nachweisen kann. Der Inländer fühlt sich in seinem eigenen Staat diskriminiert. Die Schlechterstellung des Inländers in seiner eigenen Rechtsordnung wird von der Literatur, ebenso wie vom Gerichtshof, als unvermeidbare Nebenwirkung der Zersplitterung der Rechtsordnungen hingenommen. Abhilfe könne nur von den nationalen Rechtsordnungen erwartet werden. Hier setzt die grundrechtsrelevante Kritik an. Wenn es sich bei den Grundfreiheiten um „fundamentale Freiheitsrechte des europäischen 162
Jürgensen/Schlünder, AöR 121 (1996) S. 200, 226; Jones, Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte, S. 56, 60, 79, m. w. N.; vgl. zuletzt die Entscheidungen EuGH v. 11.1.2000, Rs. C-285/98, „Kreil“, Slg. 00, S. 69, 101 f., Rz. 10 ff.; EuGH v. 26.10.1999, Rs. C-271/97, „Sirdar“, Slg. 99, S. 7403, 7438 ff., Rz. 11 ff. Siehe oben C. II. 2. b) und D. III. 2. b) im ersten Teil. 163 Hatje, in: Schwarze, Rn. 6 zu Art. 18 EGV „Anders als die wirtschaftlichen Freizügigkeitsrechte erfordert der Art. 18 EGV vom Tatbestand her keinen Grenzübertritt“. 164 Pfeil, Historische Vorbilder, S. 265; Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 26; Streinz, Europarecht, 4. Aufl. S. 250 Rn. 684.
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Marktbürgers“ handele, dürfe der Gerichtshof eine Entscheidung darüber, wie die Inländerdiskriminierung rechtlich zu beurteilen sei, nicht den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen, sondern müsse selber entscheiden. Auch der Inländer sei Marktbürger und könne diskriminiert werden.165 Nähme man eine Grundrechtsqualität der Grundfreiheiten an, so käme eine Anwendung der Grundfreiheiten zugunsten auch der Inländer eher in Betracht.166 An den Status eines Grundrechts knüpft sich hier die Hoffnung, das Dilemma der Inländerdiskriminierung überwinden zu können und den Inländer wie jeden EU-Bürger gleichberechtigt neben denjenigen zu stellen, der sich auf Gemeinschaftsgrundrechte berufen kann, weil für ihn als Ausländer der Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts eröffnet ist. Interessanterweise wird in der Literatur die Verbindung des Phänomens der Inländerdiskriminierung und der Grundrechte nur sehr vereinzelt und sehr indirekt angesprochen.167 Von der Struktur her ist die Inländerdiskriminierung für die Grundrechte ebenso gut vorstellbar wie für die Grundfreiheiten. Ein Deutscher kann sich in einem rein deutschen Sachverhalt nicht auf Gemeinschaftsgrundrechte berufen, während ein in Deutschland arbeitender EU-Ausländer eine beschränkende Maßnahme nicht nur am Maßstab der Grundfreiheiten, sondern zusätzlich am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte messen lassen könnte. In der Sache Kremzow deutete sich eine vergleichbare Konstellation an, ohne dass allerdings der Gerichtshof seine Entscheidung auf diesen Aspekt hätte stützen müssen.168 Bei schärferem Hinsehen wird deutlich, dass es gerade die freiheitsrechtliche Struktur ist, die eine Inländerdiskriminierung erst entstehen lässt. Denn solange Grundfreiheiten Gleichheitsrechte sind, kann der Ausländer niemals eine bessere Position erlangen als der Inländer. Sobald der Ausländer unter Berufung auf eine Grundfreiheit alle Nachteile aus dem Weg geräumt hat, endet die Wirkung der Grundfreiheit. Einen Vorteil gegenüber dem einheimischen Wirtschaftsteilnehmer erlangt er nicht. Erst wenn die Grundfreiheiten – unabhängig vom Vergleichsmoment – dem Einzelnen eine Waffe gegen jegliche wirtschaftliche Beschränkung an die Hand geben, kann es überhaupt zu einer Benachteiligung des Inländers kommen. Denn der Ausländer erfüllt 165 So ausdrücklich Pfeil, Historische Vorbilder, S. 265; Schubert, Gemeinsamer Markt als Rechtsbegriff, S. 213, mit Verweis auf: Everling, DB 1990, S. 1853, 1857; vgl. auch Heydt, EuZW 1993, S. 105. 166 Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 26; Reich, Bürgerrechte, S. 162 „Als subjektives Unionsbürgerrecht sollte die Freizügigkeit auch umfassend und nicht nur grenzüberschreitend geschützt werden“. 167 Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 75; Krogmann, Grundrechte im Sport, S. 220; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 148 f.; Weyer, EuR 1998, S. 435, 448, 459 f. 168 EuGH v. 29.5.1997, Rs. C-299/95, „Kremzow“, Slg. 97, S. 2629, 2645, Rz. 15 f.
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die formalen Voraussetzungen, um in den Vorteil dieses Rechts zu kommen, weil er – aufgrund seines Fremdseins – seinem wirtschaftlichen Handeln einen grenzüberschreitenden Bezug verleiht. Dem Inländer ist diese Möglichkeit verwehrt. Auf diese Zusammenhänge gehen soweit ersichtlich nur Epiney und Kingreen näher ein. Der freiheitsrechtliche Charakter des Art. 39 EGV im Bosman-Urteil schaffe erst die ungerechte Situation der Inländerbenachteiligung.169 Damit wären Freiheitsrechte und freiheitliche Grundrechte prädestiniert für die Konstellationen, die zur Inländerdiskriminierung führen. 3. Abgrenzung der Grundfreiheiten von den Gemeinschaftsgrundrechten aufgrund des unterschiedlichen Kreises der Berechtigten
Die Grundfreiheiten gelten als „Freiheiten der Binnenmarktbürger“ nur für Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten. Drittstaatler, auch wenn sie im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts leben und arbeiten, können – abgesehen von den Sonderfällen der Assoziationsabkommen – die Art. 28 ff. EGV nicht für sich geltend machen. Hinter dieser gezielten Bevorzugung der EU-Bürger durch die Grundfreiheiten scheint ein weiteres Mal deren ursprünglicher Auftrag als An- und Ausgleichsprogramm durch. Denn wenn die Grundfreiheiten das Mittel seien, um über den Systemvergleich das Gefälle zwischen den einzelnen Teilmärkten abzutragen, dann müsse man sie folgerichtig strikt auf die EU-Bürger begrenzen. Nach Sinn und Zweck eines weitverstandenen Diskriminierungsverbotes, das an die Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit anknüpft, könne diese Staatsangehörigkeit daher nur die eines EU-Mitgliedstaates sein. Darüber hinaus sollen die Grundfreiheiten ausdrücklich die Marktbürger gerade auch im Vergleich zu den Drittstaatlern besser stellen. Dieser Grundsatz der Gemeinschaftspräferenz würde leer laufen, wenn etwa der Art. 39 EGV auch für Drittstaatler uneingeschränkt einschlägig wäre.170 Das klingt zunächst 169 So ausdrücklich Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 149. Zu diesen Zusammenhängen siehe auch die Ausführungen unter B. II. 3. c) zu den „echten Beschränkungsverbotsfällen“ im ersten Teil der Arbeit. 170 Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 274, 276. Diese Überlegungen zur Verbindung zwischen Ratio der Grundfreiheiten und EU-Staatsangehörigkeit können nicht vollständig überzeugen. Wenn die in der EU lebenden Drittstaatler mit Blick auf die Grundfreiheiten wie Staatsangehörige ihres Gaststaates angesehen würden, hätte das für die Ziele der Durchmischung und Angleichung der Teilmärkte im Gegenteil eine vorteilhafte Wirkung, weil die Anzahl der potenziellen Bewegungen von einem Teilmarkt in den anderen erhöht wird. Zudem wäre dann einer Gruppe von Personen ein Anreiz zur Mobilität innerhalb des Binnenmarktes gegeben, die bereits eine gewisse Bereitschaft zur Migration unter Beweis gestellt hat. Ob die Homogenität der wirtschaftlichen Bedingungen im Binnenmarkt von EU-Bürgern oder von Dritten herbeigeführt wird, ist aus Sicht des Normprogramms der Grund-
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
befremdlich. Damit ist Art. 39 EGV aber nicht besser und nicht schlechter als die in allen Rechtsordnungen bekannten nationalen Grundrechte, die nur den eigenen Staatsbürgern zum Vorteil gereichen („Deutschengrundrechte“). Dass diese Bevorzugung der eigenen Staatsbürger an dem grundrechtlichen Charakter der Vorschriften innerhalb des jeweiligen nationalen Verfassungskontextes nichts ändert, steht außer Frage. Entsprechend schließt die Begrenzung der Rechtsträgerschaft auf EU-Bürger einen Grundrechtscharakter nicht von vornherein aus.171 Das wird vor allem deutlich, wenn die Gemeinschaftsgrundrechte selber in den Blick genommen werden. Ob die Gemeinschaftsgrundrechte für Drittstaatler gelten, ist umstritten. Der Gerichtshof hat sich bisher noch nicht ausdrücklich festgelegt. Die Literatur schlägt vor, den Drittstaatlern wie EU-Bürgern Grundrechtsschutz zu gewähren, wenn sie wie EU-Bürger in ihren Grundrechten bedroht seien.172 Vor allem gelte das für die klassischen Menschenrechte, die sich teilweise in den Gemeinschaftsgrundrechten fänden.173 Damit ist für die Abgrenzung der Grundfreiheiten gegen die Gemeinschaftsgrundrechte erneut nicht viel gewonnen. Die Distanz zwischen „reinen Marktfreiheiten“ und „echten Menschenrechten“ ist zu groß, freiheiten unerheblich. Die Widerstände gegen diese Lesart müssen auf einer anderen Ebene gesucht werden. 171 Benjes, Personenverkehrsfreiheiten, S. 31 ff. am Beispiel des deutschen Grundgesetzes. Dort erfolgt innerhalb der Grundrechte die Abstufung in Deutschenrechte und Menschenrechte (Jedermannrechte); Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Rn. 51 f. zu Art. 6 EUV; Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 277. Auch die Grundrechte-Charta sieht das in den Art. 39 f., 42 ff. so vor; a. A. wohl: Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 201; Weber, NJW 2000, S. 537, 542 „Grundrechte haben eine marktfreiheits- (grundfreiheits-)verstärkende Wirkung, ohne mit den Grundfreiheiten identisch zu sein. Es ist daher legitim, die den Marktfreiheiten vergleichbaren Grundrechte, die gewissermaßen die Kehrseite der primär als objektive Prinzipien verankerten Grundfreiheiten bilden, den Gemeinschaftsbürgern vorzubehalten“; vgl. aber die Überlegungen zur Herleitung eines universellen Freizügigkeitsrechts aus der „Totus-Orbis-Lehre“ bei Prieto Gil, Aus- und Einwanderungsfreiheit, S. 44 f., 156 ff., 163. 172 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Rn. 51 zu Art. 6 EUV, m. w. N.; Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 276; Weiler, EJIL 3 (1992) S. 65, 90; a. A.: Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 14, mit Verweis auf Everling, EuR 1989, S. 338, 345; Reich, Bürgerrechte, S. 61, nach dessen Einschätzung das Gemeinschaftsrecht echte Menschenrechte (noch) nicht kenne. Diese seien erst im Werden begriffen. Es sei aber wünschenswert, dass die Staatsangehörigkeit als Kriterium immer mehr in den Hintergrund trete. 173 Einige der Gemeinschaftsgrundrechte werden offensichtlich als Menschenrechte akzeptiert, so etwa der Art. 141 Abs. 1 EGV als Ausprägung des „Gleichbehandlungsgrundsatzes“, vgl.: Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 275, Everling, EuR 1989, S. 338, 345; Everling, FS Pescatore, S. 227, 236, 244; u. a.; ebenso sind wohl einzelne weitere Gemeinschaftsgrundrechte, die auf den Schutz der höchstpersönlichen Rechtsgüter gerichtet sind, zu den Menschenrechten zu zählen.
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
303
als dass daraus Rückschlüsse auf den auf halbem Wege angesiedelten Übergang von „reinen Marktfreiheiten“ zu „Grundrechten“ gezogen werden könnten. Ein strukturelles Hindernis gegen eine Gleichsetzung ist dieser unterschiedliche Kreis an Berechtigten jedenfalls nicht. Das „Menschenrechtsargument“ ist im Gegenteil ein Hinweis für eine Tendenz in Richtung Grundrecht.174 Dass über eine Ausweitung der Grundfreiheiten in Richtung der Berechtigung auch von Drittstaatlern nachgedacht wird, ist ein Zeichen dafür, dass der Grundrechtscharakter der Grundfreiheiten möglicherweise nur eine Frage des „Grades“ und damit letztlich eine Frage der Zeit ist. Das Loslösen von dem Erfordernis der Unionsbürgerschaft ließe die Verbindung des geltend gemachten Rechtes mit dem funktionalen Element (Systemvergleich/Marktangleichung) weiter zurücktreten. Der Einzelne in seiner Person – unabhängig von der nationalen Herkunft – träte noch stärker in den Mittelpunkt und wäre Ausgangspunkt des grundfreiheitlichen oder dann grundrechtlichen Schutzes. Zugleich bewirkt eine solche Einordnung eines subjektiven Rechts als „Menschenrecht“ auch eine inhaltliche Aufwertung. Mit diesem Titel würde anerkannt, dass dem Recht nach der Überzeugung einer bestimmten gesellschaftlichen Einheit (Nation/EU/Völkergemeinschaft) eine so grundlegende Bedeutung für das Leben der Menschen zukommt, dass es unabhängig von Erwägungen wie der Staatsangehörigkeit zugesprochen werden soll.175 Damit ist eine Aussage getroffen über einen geschützten Kernbereich im Sinne eines unantastbaren Wesensgehaltes und zugleich über die erhöhten Anforderungen an eine Beschränkung eines solchen Rechts. Die Hürde, um einen Eingriff in ein Menschenrecht zu rechtfertigen, ist höher und folgt einer verschärften Prüfung als ein Eingriff in ein Recht, das – aus welchen Gründen auch immer – dieses Attribut „Menschenrecht“ nicht trägt. Diesen bislang genannten drei Kategorien der Grundfreiheiten, der einfachen Gemeinschaftsgrundrechte und der Gemeinschaftsgrundrechte mit Menschenrechtscharakter eine vierte Kategorie der „Unionsbürgerrechte“ hinzufügen zu wollen, ist wenig hilfreich. Damit werden in der Regel die Gemeinschaftsgrundrechte bezeichnet sein, die nur die EU-Staatsangehörigen berechtigen, Drittstaatler dagegen keinen Schutz gewähren. In dieser 174 Zampini, RTDE 1999, S. 659, 672 hält eine Geltung auch für nicht EU-Staatsbürger für umso wahrscheinlicher, je fundamentaler ein Recht sei; vgl. dazu Clapham, Human Rights in the Private Sphere, S. 248, der die Marktfreiheiten nicht zu den „universal human rights“ zählen möchte, weil sie nicht „ohne Ansehen der Nationalität“ gewährleistet seien und die Drittstaatler aufgrund deren Nationalität ausschlössen. 175 Wie das für den Grundsatz der Gleichbehandlung von Mann und Frau in den europäischen Gesellschaften mittlerweile der Fall ist, vgl. die Darstellung des Art. 141 EGV unter D. III. 2. im ersten Teil.
304
2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
Verwendung zeichnet der Begriff nur die formale Berechtigtenstellung nach. Eine Aussage zur Verknüpfung von Grundrechtscharakter und beschränktem Kreis an Berechtigten ergibt sich nicht. Hinzu kommt, dass der Begriff „Unionsbürger“ nicht stets gleich und mit derselben Zielrichtung eingesetzt wird. Er markiert zum einen die Grenze zum bloßen Marktbürger, wenn etwa der Unionsbürger als „Civis europaeus“ dem Marktbürger als „Wirtschaftsfaktor“ gegenübergestellt wird. Zugleich grenzt der Begriff „Unionsbürger“ die EU-Staatsangehörigen gegen Drittstaatler ab. Dennoch wird der Begriff in der Literatur als mögliche Antwort auf die Bestimmung des grundrechtlichen Gehalts der gemeinschaftsrechtlichen Normen diskutiert.176 Im Ergebnis lassen sich nach Ansicht der Literatur die Grundfreiheiten wegen ihrer ausschließlichen Geltung für EU-Staatsangehörige zwar deutlich gegen die echten Menschenrechte absetzen, die ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit des einzelnen Individuums ausschließlich an dessen „menschliche Existenz“ anknüpfen. Da aber auch die Gemeinschaftsgrundrechte nicht zwingend diese menschenrechtliche Komponente aufweisen, kann der begrenzte Kreis an Grundfreiheitsberechtigten kein Argument gegen einen grundrechtlichen Status der Grundfreiheiten sein. 4. Der vorrangig instrumentale Ansatz der Grundfreiheiten als Hindernis für eine Gleichsetzung mit den Gemeinschaftsgrundrechten
Es ist vor allem die Ausrichtung der Grundfreiheiten als ein Mittel (Instrument) zur Schaffung des Binnenmarktes, die in der Literatur zum Anlass genommen wird, den Grundfreiheiten eine Grundrechtsqualität abzusprechen. Zum Teil wird der Begriff „instrumental“ in der Literatur dabei ausdrücklich bereits in diesem Sinne verwendet.177 Der Begriff soll in der vorliegenden Untersuchung stellvertretend für eine Reihe von Besonderhei176 Pfeil, Historische Vorbilder, S. 266; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Rn. 51 zu Art. 6 EUV, m. w. N.; Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 274, 276; Everling, EuR 1989, S. 338, 345. 177 Benjes, Personenverkehrsfreiheiten, S. 150, nach deren Ansicht die Freizügigkeitsrechte ursprünglich kein Selbstzweck, sondern Instrumente gewesen sind; Forsthoff, EWS 2000, S. 389, 392 „Es kann grundsätzlich nicht angehen, die Marktfreiheiten als Instrumente zu nutzen, die Marktakteure (. . .) zu optimalen Marktteilnehmern erziehen zu wollen“; Gersdorf, AöR 119 (1994) S. 400, 405 „Es bleibt bei dem objektiv-instrumentalen Verständnis der Grundfreiheiten“; Clapham, A Critical Overview, S. 10: „The dual role of rights, as tools for integration and weapons in the hands of citizens“; Weiler, EJIL 3 (1992) S. 65, 90; Schubert, Gemeinsamer Markt als Rechtsbegriff, S. 408 f. „Ohne dass jedoch die allgemeine Wirtschaftsfreiheit ausschließlich Instrument zur Verwirklichung der Marktintegration wäre“; Poiares Maduro, E.L.J. 1997, S. 55, 72.
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
305
ten hinsichtlich der Wirkungsart der Grundfreiheiten und ihrer Rolle bei der Steuerung der wirtschaftlichen Abläufe im Binnenmarkt stehen. Der Versuch, mit dem Hinweis auf den instrumentalen Charakter der Grundfreiheiten diese gegen die Grundrechte abzugrenzen, ergibt demnach kein einheitliches, scharf konturiertes Argument. Er bringt vielmehr eine Tendenz zum Ausdruck, die eine Gegenbewegung zur oben aufgeführten Tendenz einer „verstärkten Individualisierung/Subjektivierung“ der Grundfreiheiten bildet. Die „Individualisierung“ der Grundfreiheiten, so der Tenor der Gegenbewegung, reiche gerade nicht so weit, dass diese zu Grundrechten erklärt werden könnten. Die Struktur der Grundfreiheiten führe stets zu einer Vorrangstellung der objektiv-instrumentalen Funktion zu Lasten des individualschützenden Aspekts. Die ursprüngliche Funktion der Grundfreiheiten als politisch-volkswirtschaftliches Steuerungsmittel, um die gegenseitige Durchdringung der nationalen Märkte zu ermöglichen und anzukurbeln, wurde bereits mehrfach erwähnt. Die Gründerstaaten bedienten sich der Art. 28 ff. EWGV als Werkzeuge, um die nationalen Märkte schrittweise zu öffnen und einen verstärkten Güteraustausch über die Staatengrenzen hinweg zu ermöglichen und in Gang zu bringen. Dieser instrumentale Ansatz ist nach Ansicht einiger Stimmen in der Literatur nach wie vor so prägend, dass daneben eine individualschützende Funktion der Grundfreiheiten als untergeordnete Funktion erscheinen müsse. Den Personenverkehrsfreiheiten beispielsweise wird ihr hoher Stellenwert innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung teilweise ausdrücklich nur als „Mittel zur Integration“ zuerkannt. In dieser Funktion als „Mittel zur Integration“ sei der Regelungsgehalt der Personenverkehrsfreiheiten bereits erschöpft.178 Die Verbesserung der Rechtsposition des einzelnen Marktbürgers durch die Möglichkeit, die Grundfreiheiten vor Gericht einzuklagen, wird bewusst lediglich als „erfreuliches Nebenergebnis“ zur Kenntnis genommen.179
178 Rothfuchs, Personenverkehrsfreiheiten, S. 14, 245. Rothfuchs macht sich hier die seiner Ansicht nach herrschende Literaturmeinung zu eigen. Allerdings führt der Verweis auf Birk, in: Lenz, Handbuch, S. 365 f. in die Irre. Birk stellt die Bedeutung des Freizügigkeitsrechts als solches für die persönliche Freiheitsverwirklichung nicht in Frage, sondern bezieht seine einschränkende Aussage lediglich auf die Harmonisierungsvorschriften im Rahmen des Art. 39 EGV; Puth, EuR 2002, S. 860, 869, 875; Benjes, Personenverkehrsfreiheiten, S. 150; Cruz, E.L.Rev. 24 (1999) S. 603, 612, „The borderline [zwischen instrumentaler und freiheitsschützender Funktion] is thin, but quite important“. Die Grundfreiheiten seien zwar auch Rechte, „but no fundamental rights in a strict sense“; a. A. Poiares Maduro, in: Alston, EU and Human Rights, S. 449, 451. 179 Ausdrücklich: Pfeil, Historische Vorbilder, S. 267; vgl. auch: Clapham, Critical Overview, S. 69, „by-products“.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
Diese Verbindung eines (subjektiven) Rechtsschutzelements mit einem objektiven, dem Allgemeininteresse verpflichteten Regelungsziel – wie etwa dem Binnenmarktprojekt – ist in allen Rechtsordnungen bekannt. In der Regel wird die Durchsetzung eines individuellen Anspruchs zugleich auch eine positive Auswirkung auf die „Gesamtbilanz“ einer Rechtsordnung und eines Gemeinwesens haben.180 Wenn es um klassische Grundund Menschenrechte geht, läuft die Durchsetzung des Einzelgrundrechts dem Allgemeininteresse aber zumindest dann zuwider, wenn die Grundrechte den Schutz von Minderheiten absichern sollen.181 Für die Frage, ob den Grundfreiheiten ein Grundrechtsstatus zukommt, ist daher von entscheidender Bedeutung, ob diese Verknüpfung des Rechtsschutzaspektes mit einem objektiven Regelungsziel zu Lasten der Qualität des Rechtsschutzaspektes geht. Das würde stark gegen die Annahme eines Grundrechtscharakters sprechen, weil – was hier im Vorgriff auf den dritten Teil der Arbeit bereits unterstellt werden soll – das prägende Kennzeichen des Grundrechtscharakters die primäre Ausrichtung auf den zweckfreien Rechtsschutzgedanken ist und die vorrangige Bedeutung einer grundrechtlichen Norm daher in der Garantiefunktion für Individualrechte gesehen wird.182 Dass ein starkes subjektives Element innerhalb der Grundfreiheiten herangereift ist und eine wichtige Funktion übernommen hat, können auch die Stimmen nicht übergehen, die in dieser Rechtsschutzaufgabe der Grundfreiheiten einen bloßen Reflex der objektiven Steuerungsfunktion der jeweiligen Grundfreiheit sehen.183 Eine eindeutige Über- oder Unterordnung der beiden Funktionen ergibt die Auswertung der Literaturansichten nicht. Der instrumentale Charakter bewirkt vielmehr eine Reihe von nuancierten Festlegungen, die im Ergebnis das subjektive Element der Grundfreiheiten schwächen können und daher – so die entsprechenden Ansichten in der 180 Sehr scharf etwa: Masing, Mobilisierung der Bürger für die Durchsetzung des Rechts, S. 178, 181, für den subjektiver Rechtsschutz immer auch Durchsetzung objektiven Rechtsschutzes bedeutet. Die Unterscheidung von Normen im öffentlichen Interesse und solchen im privaten Interesse sei nicht nur überflüssig, sondern unsinnig. 181 Grundrechte sind Minderheitenrechte und schützen gerade auch marginale, störende, unbequeme Mitglieder einer Gesellschaft, vgl.: Weiler/Lockhart, C.M.L.R. 32 (1995) S. 579, 625. 182 Kluth, AöR 122 (1997) S. 557, 574; Caspar, EuZW 2000, S. 237, 241 „Der Schutz individueller Freiheit bleibt daher weniger den Grundfreiheiten als vielmehr den europäischen Grundrechten vorbehalten“. 183 Pfeil, Historische Vorbilder, S. 267, 277, der hier Pernice widerlegt. Vgl. Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 125 f., 139 f., nach dessen Ansicht von Anfang an ein stark individualschützendes Element in den Grundfreiheiten enthalten ist. Für den Art. 39 EGV etwa ergebe sich der Grundrechtscharakter bereits aus den Begründungserwägungen zur VO 1612/68.
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
307
Literatur – eine Gleichsetzung mit Grundrechten verbieten. Im Einzelnen zu diesen Aspekten des „instrumentalen“ Verständnisses der Grundfreiheiten: a) „Instrumental heißt objektiv“ – Schwächung des subjektiv-individualschützenden Elements In der Literatur wird zum Teil versucht, die objektiven und die subjektiven Elemente innerhalb der Grundfreiheiten so auszutarieren, dass sie sich gegenseitig in ihrer Entfaltung nicht beeinträchtigen. Grundsätzlich sei nicht ausgeschlossen, dass eine institutionelle Gewährleistung und eine individuelle Gewährleistung durch ein und dieselbe Vorschrift bzw. Rechtsnorm ausgedrückt werden könnten.184 Für die Grundfreiheiten sei eine solche Trennlinie zwischen „integrationsfördernder“ und „individualschützender“ Funktion im Übrigen kaum nachweisbar.185 Es sind entsprechend vor allem auch die Stimmen, die in den Grundfreiheiten echte Grundrechte sehen, die auf dieses problemlose „Nebeneinander“ des objektiven und des subjektiven Elements innerhalb einer Grundfreiheit hinweisen. Das persönliche Freiheitsinteresse könne in den Dienst des gemeinsamen Interesses an der Verwirklichung der Vertragsziele genommen werden, ohne dass sein Eigenwert als Grundrecht vernachlässigt werde.186 Aus Sicht des schutzsuchenden Einzelnen ist entgegen dieser Ansichten eine gewisse Einbuße an subjektiv-individualschützender Wirkung nicht ganz von der Hand zu weisen, sei es auch nur als kaum spürbare nuancierte 184 Masing, Mobilisierung der Bürger, S. 178, 181 „Die Grenze zwischen subjektivem Recht und objektiven Zielen ist durchlässig“; Borrmann, Berufsfreiheit, S. 252. 185 Poiares Maduro, in: Alston, EU and Human Rights, S. 449, 451 „The borderline between securing access to the market for further market integration and securing access to the market to enhance economic freedom is thin and often nonexistent“; a. A.: Cruz, E.L.Rev. 24 (1999) S. 603, 612, „The borderline is thin, but quite important“. 186 Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 134 „Wie schon im Bereich der Handels- und Wettbewerbsfreiheit wird auch hier das persönliche Freiheitsinteresse in den Dienst des gemeinsamen Interesses an der Verwirklichung der Vertragsziele genommen, ohne dass sein Eigenwert als Grundrecht der Marktbürger vernachlässigt würde“ (. . .) „Dieses räumliche Element (der Berufsfreiheit) ist im Rahmen der Freiheit des Personenverkehrs, aber auch durch den Grundsatz der Inländerbehandlung (. . .) als subjektives Individualrecht des Marktbürgers ausgestaltet“ (S. 140 f., 175) „(. . .) Nicht nur einen gangbaren Weg zur Durchsetzung individueller Grundrechtsinteressen gebahnt, sondern diese gleichzeitig der Verwirklichung des objektiven Gemeinschaftsinteresses dienstbar gemacht (. . .) tritt auch hier der notwendige Doppelcharakter der gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsgewährleistungen, die Komplementarität ihres objektiven und subjektiven Sinngehalts deutlich zutage“ (S. 235); a. A. offensichtlich Hilson/Downes, E.L.Rev. 24 (1999) S. 121, 133.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
Verlagerung des Gleichgewichts weg von dieser Rechtsschutzfunktion. Im Streitfall, wenn vor Gericht die letztendliche Realisierung einer grundfreiheitlichen Position auf eine Abwägung mit entgegenstehenden Rechtspositionen hinausläuft, kann eine solche leichte Verschiebung der Koordinaten zu Lasten der subjektiven Anteile der Grundfreiheit ein Kriterium sein, das auf den Status der Norm zurückwirkt. Die Einordnung eines Rechts als „zunächst individualschützend“ oder als „zunächst institutionell ausgestaltet“ kommt in diesem Zusammenhang einer Art „Vermutungsregel“ gleich, die eine imaginäre Darlegungslast verteilt. Ganz ausdrücklich stellt daher etwa Kluth über diesen Gedanken den Zusammenhang zur Frage der Grundrechtsqualität her. Der Vorrang der institutionellen vor der individuellen Gewährleistung markiere den entscheidenden rechtsdogmatischen Unterschied zwischen den Grundfreiheiten und den Gemeinschaftsgrundrechten. Bei den Gemeinschaftsgrundrechten stünde – anders als bei den Grundfreiheiten – die Garantie individueller Verhaltensfreiheit im Vordergrund.187 b) Begrenzung der Reichweite der Grundfreiheiten durch die Kopplung des Rechtsschutzes an die „Binnenmarktnützlichkeit“ als externen Zweck Daneben folgt aus dem instrumentalen Charakter zwangsläufig eine Begrenzung der Reichweite dieses Rechts. Das klingt an in den Ansichten, die den Grenzübertritt als Tatbestandsmerkmal der Grundfreiheiten festschreiben wollen. Das Schutzgut einer Grundfreiheit sei in seiner maximalen Weite durch den Binnenmarktzweck begrenzt.188 Die Grundfreiheiten enthielten nicht zugleich auch das Normprogramm der Grundrechte.189 Die Literatur sieht den Schutzbereich der Grundfreiheiten auf eine bestimmte Funktion und auf ganz spezifische Sachverhaltskonstellationen verkürzt. Geschützt wird die Handlung, die über eine Grenze hinweg gerichtet ist, nicht aber die Vornahme einer identischen Handlung, die sich von der geschützten Handlung allein dadurch unterscheidet, dass sie diesen Grenz187
Kluth, AöR 122 (1997) S. 557, 574; Bleckmann, GS Sasse, S. 665, 666 f.; Schindler, Kollisionsmodell, S. 177 f., 179; Müller-Graff, Grundfreiheiten, S. 1281, 1285, 1290. 188 So ausdrücklich Hoffmann, Grundfreiheiten als Abwehrrechte, S. 25; vgl. auch Schlussanträge Alber zu EuGH v. 13.4.00, Rs. C-176/96, „Lehtonen“, Slg. 00, S. 2681, 2969 f., Rz. 49; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 16; Benjes, Personenverkehrsfreiheiten, S. 150. 189 Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 273; vgl. dazu nunmehr Kingreen, in: Bogdandy, Verfassungsrecht, S. 631, 653 f., der kritisiert, dass die deutliche Unterscheidung zwischen den Grundfreiheiten als Integrationsnormen und den Gemeinschaftsgrundrechten als Legitimationsnormen in der Literatur nicht hinreichend berücksichtigt wird.
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
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übertritt nicht vorsieht, und daher nicht „binnenmarktnützlich“ ist.190 Ein Schutz wird auch nur soweit gewährt, als der Grenzübertritt für den Handelnden einen Nachteil bedeuten würde. Ohne die besondere Situation des Gefälles zwischen zwei Teilmarktordnungen sind die Grundfreiheiten nicht „lebensfähig“, wie Kingreen es mit dem Begriff vom transnationalen Sachverhalt als dem Lebensraum der Grundfreiheiten einprägsam beschreibt.191 Ohne die Vergleichssituation bewegen sich Grundfreiheiten außerhalb ihrer vorgesehenen Normstruktur. Diese Beobachtungen der Literatur decken sich weitgehend mit den Ausführungen zum Tatbestandsmerkmal des „grenzüberschreitenden Elements“ bei der Darstellung der Dogmatik der Grundfreiheiten. Die Schwächung des individualschützenden Moments der Grundfreiheiten aufgrund ihrer strukturellen Ausrichtung an der Binnenmarktnützlichkeit wird im Schlussteil der Arbeit das entscheidende Argument sein, um den Grundrechtscharakter der Grundfreiheiten abzulehnen.192 c) Wirtschaftsbezogener Charakter der Grundfreiheiten als Hindernis der Gleichsetzung Nicht alle Kritiker machen ihre Bedenken gegen einen grundrechtlichen Status der Grundfreiheiten unmittelbar an dem instrumentalen Charakter der Grundfreiheiten und damit auf Ebene der Normstruktur fest. Zum Teil wird bereits die Beschränkung der Grundfreiheiten auf wirtschaftsbezogene Sachverhalte als ausreichendes Unterscheidungsmerkmal gegenüber den Gemeinschaftsgrundrechten angeführt. Der EG-Vertrag sei auf die Errichtung einer Wirtschaftsgemeinschaft gerichtet. Die in ihm enthaltenen Rechte könnten daher keine Grundrechte sein.193 Mit der Festlegung auf das Wirtschaftsleben sei den Grundfreiheiten von Beginn an ein engerer Regelungsbereich als den Grundrechten zugeteilt worden, so dass eine Gleichsetzung bereits aus diesem Grunde zumindest problematisch erscheine.194 Diese 190 Benjes, Personenverkehrsfreiheiten, S. 150, die EG sei als Wirtschaftsgemeinschaft angelegt. Freizügigkeitsrechte seien daher nicht Selbstzweck; Weiler, EJIL 3 (1992) S. 65, 88 f., 90. 191 Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 16; vgl. auch Kingreen, in: Bogdandy, Verfassungsrecht, S. 655. 192 Vgl. die Abschnitte A. II. 2. sowie B. I. 2. a) und B. II. im dritten Teil. 193 Benjes, Personenverkehrsfreiheiten, S. 109 f.; Hoffmann-Riem, EuGRZ 2002, S. 473, 480 f.; einen etwas anderen Schluss zieht an dieser Stelle Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 128 f., der zwar zunächst auch der Ansicht ist, die Funktionalität des EWG-Vertrags bestimme die Grenzen seiner Auslegung (S. 129). Das hindert Pernice dann aber nicht, dem Art. 39 EGV trotz dieser Begrenztheit Grundrechtscharakter zuzusprechen 194 Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 24 f., dort in Fn. 26 m. w. N.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
Stimmen gehen von einer klaren Trennung zweier Lebensbereiche aus. Zum einen gebe es den rein wirtschaftlichen Bereich, in dem die Grundfreiheiten gelten und in dem es vorrangig um wirtschaftliche (Geschäfts-) Interessen gehe. Daneben gebe es einen nicht-wirtschaftlichen Bereich, der die persönlicheren, dem Individuum näherstehenden typisch grundrechtlichen Güter beträfe und für den ein klassischer Grundrechtsschutz bereitgestellt werden müsse. Die Vorschriften, die – wie die Grundfreiheiten – zum Regelungskomplex des Binnenmarktes und der Wirtschaftsgemeinschaften zählen, kämen mit den klassischen Grundrechtsproblemen, so wie sie sich innerhalb der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit eines Staates stellten, gar nicht in Berührung. Wirtschaftsbezogene Sachverhalte könnten allenfalls „periphere Gebiete des Grundrechtsschutzes“ betreffen.195 Ob eine Trennung entlang der beschriebenen Linien eine lebensnahe Annahme ist, kann hier nicht beantwortet werden. Dagegen lassen sich aber auf jeden Fall die Wirtschaftsgrundrechte anführen. Auch die sind – ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zur wirtschaftlichen Sphäre – als Grundrechte nicht ernsthaft in Frage gestellt. Von dieser Trennung strikt zu unterscheiden ist die Frage, ob bestimmte (überwiegend) nicht-wirtschaftliche Lebensbereiche dem Gemeinschaftsrecht übertragen oder auf Ebene der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen verbleiben sollten. In die Nähe dieser Abgrenzung der Grundfreiheiten gegen die Grundrechte nach der Zugehörigkeit zum wirtschaftlichen bzw. nicht-wirtschaftlichen Sektor geht eine Unterscheidung, die Füller vorschlägt. Eine Gleichsetzung der Grundfreiheiten mit den Gemeinschaftsgrundrechten scheitere daran, dass die beiden Normengruppen jeweils auf eine andere Auslegungsbasis gegründet seien. Bei den Grundfreiheiten seien das die typisch gemeinschaftsrechtlichen Inhalte. Die Gemeinschaftsgrundrechte bezögen ihre Auslegungstopoi dagegen nach wie vor aus den nationalen Verfassungen. Dort bleibe der rechtsvergleichende Ansatz spürbar.196 Damit lenkt Füller zu Recht die Aufmerksamkeit auf eine Reihe kontextgebundener Abweichungen. Bei der juristischen Arbeit variiert etwa die „Rhetorik“, der Stil und der Umgang mit juristischen Argumenten je nachdem, ob von Grundfreiheiten oder von Grundrechten die Rede ist. Diese Abweichungen sind im Einzelfall nicht so stark, dass sie als eigenständiges Abgrenzungskriterium eine Grenze zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten markieren.
195 Pescatore, in Mosler/Bernhard/Hilf, Grundrechtsschutz in Europa, S. 74, der hier „Berufsfreiheit und Privateigentum“ als „periphere Gebiete des Grundrechtsschutzes“ einordnet, in Gegenüberstellung zu Grundrechten wie „persönliche Freiheit, Recht auf Leben, Meinungs- und Pressefreiheit etc“; ähnlich: Nettesheim, NVwZ 1996, S. 106, 108. 196 Füller, Warenverkehrsfreiheiten, S. 28 f.
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
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Sie können aber in der Summe zu einer wahrnehmbaren Änderung des Milieus führen, in dem die Normen zur Anwendung kommen. 5. Zusammenfassung: Argumente gegen eine Gleichsetzung
Die Argumente gegen eine Gleichsetzung der beiden Normkategorien werden von der Literatur zunächst aus den ersichtlichen Unterschieden zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten entwickelt. Der Bindung der Mitgliedstaaten durch die Grundfreiheiten stehe die Bindung der Gemeinschaftsorgane durch die Grundrechte gegenüber. Anders als für die Gemeinschaftsgrundrechte sei für die Grundfreiheiten ausgeschlossen, dass Nicht-EU-Bürger sich auf diese Vorschriften berufen könnten. Daneben wird mit der „instrumentalen Ausrichtung“ der Grundfreiheiten ein Abgrenzungskriterium herausgearbeitet, dass sich nicht auf den ersten Blick erschließt. Während die Grundrechte in erster Linie den Einzelnen schützen sollen, seien die Grundfreiheiten – auch von ihrer Normstruktur her – so eng mit ihrem ursprünglichen Auftrag der Schaffung des Binnenmarktes verknüpft, dass der Schutzcharakter zum sekundären Merkmal herabgestuft werden müsse. Der instrumentale Charakter erweist sich zugleich als Querschnittsargument, das sich als tieferliegendes Muster in den meisten anderen – sichtbaren – Argumenten nachweisen lässt. So ist etwa das Festhalten am „grenzüberschreitendes Element“ als unverzichtbarem Tatbestandsmerkmal der Grundfreiheiten Ausdruck von deren Rückanbindung an die ursprüngliche Aufgabe als „Instrumente“, um die Barrieren zwischen den Einzelmärkten zu überwinden und das Gefälle zwischen den Einzelmärkten zum Ausgleich zu bringen. Ebenso hat sich gezeigt, dass hinter den Adressatenkreisen, die sich zwar annähern, aber (noch) nicht voll zur Deckung gebracht werden können, die unterschiedliche Herkunft, und damit erneut die instrumentale Ratio der Grundfreiheiten gesehen werden kann. Selbst die Beschränkung der Rechtsträgerschaft auf EU-Bürger lässt sich nach Ansicht einiger Autoren durch die Idee des „Systemvergleichs“ und des „Gleichbehandlungsauftrags“ der Grundfreiheiten erklären. Die Anbindung an die „Binnenmarktnützlichkeit“ findet sich also durchgängig in allen Strukturmerkmalen der Grundfreiheiten und ist auch von einem stärker werdenden individualschützenden Moment nicht verdrängt worden. Ein zwingendes Votum für die Frage der Unvereinbarkeit von Grundfreiheiten und Grundrechten ergibt sich aus der Literatur nicht. Als entscheidende Fragestellung zeichnet sich allerdings ab, ob die Unterordnung des Rechtsschutzgedankens unter das Allgemeinwohlziel „Binnenmarkt“ bei den Grundfreiheiten als so einschneidend gewertet wird, dass ein Grundrechtscharakter sicher ausgeschlossen werden kann.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
IV. Lösungsvorschläge der Literatur für das Konkurrenzverhältnis und für Kollisionen zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten Nur wenige der genannten Autoren haben die Gleichsetzung von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten ausdrücklich befürwortet und diesen Schritt auch mit der Dogmatik der beiden Rechtskategorien abzustimmen versucht. Eine Festlegung auf die Frage, ob Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte aufgrund der Übereinstimmung von wesentlichen Eigenschaften begrifflich und inhaltlich gleichgesetzt werden müssen, konnte von den meisten Literaturansichten vermieden werden. Auch wenn die Festlegung auf eine systematische Einordnung umgangen wird, bleibt doch in einer ganzen Reihe von Sachverhalten die Konstellation bestehen, dass zwei oder mehr subjektive Rechte des Gemeinschaftsrechts in Konflikt geraten. Die gemeinschaftsrechtliche Literatur hat – entlang der vom Gerichtshof entschiedenen Sachverhalte – Lösungen für dieses Zusammentreffen verschiedener subjektiver Rechte vorgeschlagen, die an dieser Stelle vorgestellt werden sollen. Der Konflikt – oder zunächst neutraler ausgedrückt: die Berührung – einzelner subjektiver Rechte im Gemeinschaftsrecht kann in zwei Richtungen stattfinden: Zum einen kann auch im Gemeinschaftsrecht ein bestimmter Sachverhalt die Rechtsfolgen mehrerer subjektiver Rechte auslösen, so dass denkbar beide Rechte zugunsten eines Berechtigten Anwendung finden können. Dann muss – sofern man nicht ein Nebeneinander in der Anwendung hinzunehmen bereit ist – der Anwendungsvorrang über eine Konkurrenzregel geklärt werden. Aus Sicht des Rechtsinhabers, der sich auf die beiden subjektiven Rechte stützen kann, laufen die konkurrierenden Rechte parallel. Er ist sachverhaltsbezogen an einer maximal effektiven Schutzwirkung interessiert. Der Anwendungsvorrang wird für ihn eine untergeordnete Rolle spielen, solange nicht durch die Konkurrenzregel die für ihn günstigere Rechtsfolge gesperrt wird. Dieses typische „Konkurrenzproblem“ wird unter 1. dargestellt. Daneben können sich die subjektiven Rechte auf verschiedene Rechtsträger verteilen und in einer Konfliktsituation auf entgegengesetzten Seiten der Abwägung erscheinen. Die Interessen, die hinter diesen subjektiven Rechten stehen, sind in der Regel diametral entgegengerichtet. Es kann daher von einer Kollision subjektiver Rechte gesprochen werden. Diese Kollisionen sind untrennbar mit den Drittwirkungsfällen verbunden, da sich dort auf beiden Seiten des Streits Private unter Berufung auf gemeinschaftliches Primärrecht gegenübertreten. In den Kollisionsfällen konkurrieren die subjektiven Rechte nicht um den Vorrang in der Anwendung, sondern um die Durchsetzung in der Abwägung. Die Kollisionsfälle werden unter 2. behandelt.
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
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1. Die Konkurrenz zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten – Welches subjektive Recht kommt zur Anwendung?
Eine staatliche Maßnahme, die einen Arbeitnehmer daran hindert, eine Arbeitsstelle im EU-Ausland anzutreten, fällt in den Schutzbereich der Grundfreiheit des Art. 39 EGV. Zugleich kann in dieser Behinderung aber auch ein Eingriff in das Gemeinschaftsgrundrecht der Berufsfreiheit und in ein – bislang nicht so beschriebenes – Gemeinschaftsgrundrecht auf Freizügigkeit liegen.197 Der Gerichtshof wendet in diesen Situationen allein den Art. 39 EGV an. Damit ist eine auf den ersten Blick recht einfache Konkurrenzregel vorgegeben. Auf Sachverhalte, die tatbestandlich sowohl die Rechtsfolge einer Grundfreiheit als auch eines Gemeinschaftsgrundrechtes auslösen können, finden vorrangig die Grundfreiheiten Anwendung. Das ist für die Literatur offenbar so selbstverständlich, dass auf das dahinterliegende Konkurrenzproblem in der Regel nicht näher eingegangen wird. a) Vorrang der Grundfreiheiten gegenüber Grundrechten mit gleichem Regelungsinhalt Bei Anwendung dieser einfachen Vorrangregel werden einige Voraussetzungen unterstellt, ohne die ein solches echtes Konkurrenzverhältnis zwischen den beiden Normen nicht denkbar ist. Grundlegende Bedingung ist: Beide Normen (Grundfreiheit und Grundrecht) müssen der Sache nach auf den zugrundeliegenden Sachverhalt anwendbar sein. Es wird also, wenn die Literatur vom Vorrang der Grundfreiheiten vor den Grundrechten spricht, implizit davon ausgegangen, dass die Grundfreiheiten auch vor Beschränkungen schützen. Teilt man diese Ansicht nicht, ist ein Anwendungskonflikt zwischen beiden Normen nicht möglich. Ein Grundrecht als Freiheitsrecht und eine Grundfreiheit als Gleichheitsrecht greifen aneinander vorbei. Es bleibt dann höchstens ein Nebeneinander der beiden Normen in bestimmten, weitgefassten Sachverhalten denkbar.198 197
Zur Berufsfreiheit: Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 174 ff.; Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 188 f.; Kingreen, in Calliess/Ruffert, Rn. 129 ff. zu Art. 6 EUV; weitere Nachweise bei: Hummer/Schweitzer, Europarecht, S. 246; Beutler, GTE, Rn. 57 und 61 zu Art. F EUV; Borchardt, in: Lenz, Kommentar, Rn. 46 zu Art. 220 EGV; zum Gemeinschaftsgrundrecht auf Freizügigkeit, vgl. Kingreen, in: Caliess/ Ruffert, Rn. 163 zu Art. 6 EUV, der von der Existenz eines solchen Grundrechtes auf Gemeinschaftsebene auszugehen scheint (Fn. 384) und dieses grundrechtliche Freizügigkeitsrecht klar gegen die Freizügigkeit des Art. 39 EGV abgesetzt sehen möchte. Ob ein solches grundrechtliches Freizügigkeitsrecht auf Gemeinschaftsebene zum jetzigen Zeitpunkt als gesicherter Bestandteil der Rechtsprechung des Gerichtshofs gelten kann, bleibt offen.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
Daneben wird – wenn vom Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten gesprochen wird – davon ausgegangen, dass die Maßnahme, um deren beschränkende Wirkung es geht, sowohl an den Grundfreiheiten als auch an den Gemeinschaftsgrundrechten gemessen werden kann. Für die Maßnahmen, die von den Organen der Gemeinschaft ausgehen, ist das anerkannt. Die Organe der Gemeinschaft sind an die Grundfreiheiten ebenso wie an die Beachtung der Gemeinschaftsgrundrechte gebunden. Für mitgliedstaatliche Maßnahmen könnte diese Anwendungsvoraussetzung auf den ersten Blick zweifelhaft erscheinen, da die Gemeinschaftsgrundrechte nur in Ausnahmefällen das mitgliedstaatliche Handeln kontrollieren. Das erweist sich als Scheinproblem. Denn jede Konkurrenzsituation setzt immer auch die Anwendbarkeit einer Grundfreiheit voraus. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Mitgliedstaaten aber gerade in diesen „Grundfreiheitssituationen“ an die Grundrechte gebunden. Eine staatliche Maßnahme, die in eine Grundfreiheit eingreift, muss sich stets auch an den Gemeinschaftsgrundrechten messen lassen (Rutili-Fallgruppe). In den meisten Fällen, in denen ein Einzelner sich gegenüber einem Mitgliedstaat auf eine Grundfreiheit beruft, kann er sich daher zugleich auf die Gemeinschaftsgrundrechte berufen. Damit kommen in der Tat Grundfreiheiten und Grundrechte auf denselben Sachverhalt zur Anwendung. Die Grundrechte, die auf diese Weise Anwendung finden, können dabei andere Schutzbereiche abdecken als die kollidierende Grundfreiheit, solange alle Rechte an denselben Lebenssachverhalt anknüpfen. Auch wenn in der Ausgangskonstellation etwa die Dienstleistungsfreiheit als Grundfreiheit einschlägig ist, können aufgrund desselben Sachverhaltes auch Grundrechte wie die „Meinungsfreiheit“ zur Anwendung kommen. Dieselbe tatsächliche Ausgangssituation – etwa eine Zensurmaßnahme – kann verschiedene grundrechtlich geschützte Güter treffen (Berufsfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, allgemeine Handlungsfreiheit). Das Verhältnis dieser Grundrechte untereinander soll an dieser Stelle nicht vorrangig interessieren, sondern es soll nur auf das Verhältnis der Grundfreiheit zu diesen Grundrechten eingegangen werden. Dabei fällt auf, dass das Grundrecht, das inhaltlich das Schutzgut der Grundfreiheit abdecken würde, also etwa ein „Grundrecht auf Dienstleistungsfreiheit“ oder ein „Grundrecht auf Berufsfreiheit“ oder ein „Grundrecht auf Freizügigkeit“ regelmäßig nicht in die Entscheidungsgründe Eingang findet. Hier scheint dem Gerichtshof der Schutz der einschlägigen Grundfreiheit ausreichend. Falls es solche Grund198
Hier taucht wieder das begrifflich-logische Problem auf, dass bestimmte Beschränkungen als Diskriminierungen und umgekehrt bestimmte Diskriminierungen als Beschränkungen definiert werden können. Dann wäre eine Anwendungskonkurrenz eines Gleichheitsrechts mit einem Freiheitsrecht für den Grenzbereich vorstellbar; siehe oben B. II. 3. a) und c) im ersten Teil.
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
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rechte gibt (Berufsfreiheit, wirtschaftliche Handlungsfreiheit), dann werden sie durch die Anwendung der gleichgerichteten Grundfreiheit verdrängt, ohne dass dieser Verdrängungsprozess vom Gerichtshof weiter erläutert oder auch nur sichtbar gemacht würde. Falls es sie (noch) nicht gibt, hindert möglicherweise die Existenz der entsprechenden Grundfreiheit die Entstehung eines solchen Gemeinschaftsgrundrechts (Freizügigkeit). Als Erklärung für dieses „Zurücktreten der Grundrechte“ hinter die Grundfreiheiten in Situationen, in denen denkbar beide Rechte Anwendung beanspruchen könnten, findet sich in der Literatur der Hinweis auf den „Vorrang des geschriebenen Rechts“, von dem der Gerichtshof stillschweigend ausgehe.199 In eine etwas andere Richtung deutet die Lesart der Grundfreiheiten als „leges speciales“ im Verhältnis zu den Gemeinschaftsgrundrechten. Die Grundfreiheiten wiesen alle Merkmale der Grundrechte auf, zuzüglich des speziellen Merkmals der Wirtschaftsbezogenheit.200 Ob hinter diesen beiden Erklärungsansätzen letztlich derselbe Gedanke steht, kann nicht beantwortet werden. Es ist dagegen nicht von der Hand zu weisen, dass der Gerichtshof bei der Auswahl der einschlägigen Rechtsvorschriften in der Tat eine Art „Vorrang des geschriebenen Rechts“ zugrundelegt. Damit muss allerdings nicht zwangsläufig eine systematischdogmatische Aussage über das Verhältnis der Grundfreiheiten zu den Gemeinschaftsgrundrechten verbunden sein. Es können ganz praktische, entscheidungstechnische Erwägungen den Gerichtshof zu dieser Vorgehensweise bewegen. Die Grundfreiheiten bedürfen – anders als die Gemeinschaftsgrundrechte – nicht der Herleitung aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, bevor sie zur Anwendung kommen können. Sie lassen sich bis hinunter zu einzelnen Absätzen und Halbsätzen präzise zitieren. Zugleich kann der Gerichtshof beispielsweise bei Art. 39 EGV auf eine große Zahl an Präzedenzfällen zurückgreifen, um die Anwendung des Freizügigkeitsrechts feinzusteuern, während das bei dem Berufsfreiheits- oder einem vorstellbaren Freizügigkeitsgrundrecht (noch) nicht der Fall ist. b) Sonderproblem: Kein echtes Konkurrenzverhältnis unter bestimmten Annahmen Teile der Literatur müssen aufgrund bestimmter dogmatischer Prämissen, auf die sie ihr Verständnis der Grundfreiheiten gründen, von diesem Schema abweichen. 199 Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 286; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Rn. 81 zu Art. 6 EUV; Beutler, in: GTE, Rn. 75 zu Art. 6 EUV; kritisch dazu Hoffmann-Riem, EuGRZ 2002, 473, 480. 200 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Rn. 122 zu Art. 6 EUV; Schilling, EuGRZ 2000, S. 3, 37; Ehlers, in: Ehlers, Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 152.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
Vor allem für die Autoren, die der Ausweitung des Anwendungsbereichs der Gemeinschaftsgrundrechte auf mitgliedstaatliche Maßnahmen ablehnend gegenüberstehen, spielt die Unterscheidung der belastenden Maßnahmen nach „Akten der Gemeinschaft“ oder „Akten der Mitgliedstaaten“ eine Schlüsselrolle. Die verschiedenen Konzeptionen wurden bei der Darstellung der Dogmatik der Gemeinschaftsgrundrechte im ersten Teil der Arbeit vorgestellt. Wenn die Rutili-Fallgruppe dahin verstanden wird, dass Gemeinschaftsgrundrechte lediglich „Interpretationshilfen“ für die Auslegung der Grundfreiheitsschranken seien, kann für mitgliedstaatliche Maßnahmen der Anwendungsbereich der Gemeinschaftsgrundrechte nicht eröffnet sein. Die Gemeinschaftsgrundrechte kommen als Rechtsnormen nicht zu einer eigenständigen Anwendung. Für das Verhältnis zu den Grundfreiheiten muss daraus notwendig folgen, dass es in diesen Fällen keine echte Konkurrenzsituation i. S. einer Verdrängung geben kann.201 Dieselben Autoren wenden sich zugleich auch gegen eine – behauptete – freiheitsrechtliche Struktur der Grundfreiheiten.202 Eine solche freiheitsrechtliche Struktur ist aber, wie soeben gezeigt, Vorbedingung, um überhaupt eine echte Anwendungskonkurrenz für Grundfreiheiten und Grundrechte annehmen zu können. Aus der Verneinung dieser freiheitsrechtlichen Struktur folgt dann zwangsläufig, dass es auch aus diesem Grund zu keiner echten Verdrängung einer der beiden Normen kommen kann. Die klare Funktionszuordnung – Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote, Grundrechte als Freiheitsrechte – lässt einen Konflikt um die Anwendung ins Leere laufen. In den Sachverhaltskonstellationen, in denen eine Maßnahme den Arbeitnehmer zugleich diskriminiert und beschränkt, kommt es nach der Auffassung dieser Stimmen zu einem unproblematischen Nebeneinander von Grundfreiheiten und Grundrechten. Eine solche „Idealkonkurrenz“ wird durch diese moderne Lesart der Grundfreiheiten als Gleichbehandlungsgebote erst vorstellbar: Da die Grundfreiheiten den „Raum“ des Beschränkungsverbotes nach dem Rückschnitt nicht mehr für sich beanspruchen, ist der Weg frei für die grundrechtlichen Beschränkungsverbote.
201 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Rn. 81 zu Art. 6 EUV, dort Fn. 222; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 162, 166 f.; Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 286; Schilling, EuGRZ 2000, S. 3, 37 dort Fn. 512. 202 Jarass, Die Grundfreiheiten als Grundgleichheiten, in: FS Everling, S. 593, 599 ff., 606 f.; Jarass, EuR 1995, S. 202, 216 ff., 218; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 16 f., 85, 118 ff., 127, 133, 190 ff.; Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 268 f., 288; Simm, Der Gerichtshof im föderalen Kompetenzkonflikt, S. 58, 67 ff., 157 ff., 201, 209 f., 257 ff.; Hoffmann, Grundfreiheiten als Abwehrrechte, S. 31 f., 37 f., 51, 206, unklar auf S. 72, 73 f., 95 ff., 204 f., 210 f.; Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 62 f., 65; Marenco, CDE 20 (1984) 291 ff.
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
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Diese Lösung zeigt sehr deutlich das Dilemma der Lücke, die durch die Rückführung der Grundfreiheiten auf ihre Funktion als Gleichheitssätze entsteht. In diese Lücke sollen nach dem Willen der Autoren die Gemeinschaftsgrundrechte einrücken. Für den Aspekt „Zugang zur Beschäftigung“ ist das ohne weiteres möglich, da hier das Gemeinschaftsgrundrecht der Berufsfreiheit bereitsteht, um den Sachverhalt insoweit abzudecken. Unklar ist dagegen, wie der Aspekt der Freizügigkeit abgedeckt werden kann, der durch den Rückzug der Grundfreiheit auf eine rein gleichheitsrechliche Rolle frei wird. Ein – von Art. 39 EGV unabhängiges – Freizügigkeitsgrundrecht gibt es aber auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene bisher nicht.203 Zum anderen kann diese Konstruktion nicht überdecken, dass der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung offensichtlich weiterhin die Grundfreiheiten auch auf diesen „brachliegenden“ Bereich anwendet. Erneut ein kurzer Vorgriff auf den Schlussteil der Arbeit: Das beschriebene Dilemma ließe sich abmildern, wenn der Gerichtshof zugeben würde, dass er hier zwar weiterhin von Grundfreiheiten spricht, in Wahrheit aber ein gemeinschaftliches Freizügigkeitsgrundrecht auf diesen freiwerdenden Bereich anwendet.204 2. Die Kollisionsfälle – Welches subjektive Recht setzt sich durch?
a) Kollisionen zwischen subjektiven Rechten nur in Drittwirkungsfällen Die „frontale“ Kollision zwischen subjektiven Rechten des Gemeinschaftsrechts ist nur in den Drittwirkungsfällen zu erwarten. Die Ausübung der Grundfreiheit durch einen Privaten kann einen anderen Privaten in dessen rechtlicher Position beeinträchtigen. Als Gegenrechte kommen bei erster, kursorischer Betrachtung drei Arten von subjektiven Rechten in Betracht: Eine gegengerichtete Grundfreiheit des Dritten, ein nationales 203 A. A. offensichtlich Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Vorauflage), Rn. 163 zu Art. 6 EUV. Unklar ist jetzt, ob nach Verabschiedung der Grundrechtecharta wegen deren Art. 45 von einem Freizügigkeitsgrundrechts auf Ebene des Gemeinschaftsrechts ausgegangen werden müsste, vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Rz. 189 zu Art. 6 EUV. 204 Für die Fälle aus dem Geltungsbereich der Agrarvorschriften des EG-Vertrages ist die hier skizzierte Aufgabenverteilung zwischen Diskriminierungsverbot und Berufsfreiheit bereits Realität. Dort ist das Diskriminierungsverbot des Art. 34 Abs. 2 Satz 2 EGV unstreitig Diskriminierungsverbot geblieben. Den Schritt zum Beschränkungsverbot, den die Grundfreiheiten nach Ansicht vieler Autoren gemacht haben, ist der Art. 34 Abs. 2 Satz 2 EGV nicht gegangen. Der „freiheitsrechtliche“ Bereich steht dem Grundrecht der Berufsfreiheit im sachlichen Geltungsbereich des Art. 34 Abs. 2 Satz 2 EGV daher offen. Dieses Verhältnis, so die Literatur, könne auf die Grundfreiheiten – wieder streng als Diskriminierungsverbote verstanden – und die Berufsfreiheit übertragen werden, vgl. Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 286.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
Grundrecht oder ein Gemeinschaftsgrundrecht, auf das der Dritte sich beruft. Nur diese letzte Kategorie ist für die Untersuchung im Folgenden von Bedeutung. Nationale Grundrechte unterfallen – wie zu zeigen ist – nicht der Jurisdiktion des Gerichtshofs. Sie sind als solche nicht Teil des Gemeinschaftsrechts. Eine Grundfreiheit scheidet ebenfalls als Gegenrecht aus. Ein praktisches Beispiel zweier gegengerichteter Grundfreiheiten lässt sich nicht bilden. Das ist bezeichnend für die Schutzrichtung der Grundfreiheiten, die ausschließlich beschleunigende, freisetzende Kräfte verstärken können. Aus diesem Grund kann eine Grundfreiheit keine einschränkende und protegierende Wirkung haben und ihrerseits den Schutzreflex einer zweiten Grundfreiheit auslösen.205 Es bleiben als mögliche Gegenpole der Grundfreiheiten in der Kollision daher allein die Gemeinschaftsgrundrechte. Das Gemeinschaftsrecht ist dann aufgerufen, eine eigene Lösung für diesen Konflikt zweier gültiger gemeinschaftsrechtlicher Normen zu finden, der – idealer Weise – keinen der beteiligten Rechtsinhaber um seine Rechtsposition bringt. Dabei ist daran zu denken, dass Drittwirkungsfälle nicht immer auf Anhieb als solche zu erkennen sind. Sie können sich hinter Schutzpflichtenoder Gemeinschaftstreuefälle verbergen. Eine ganze Reihe der Beiträge, die sich zum Problem der Abwägung zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten äußern, sind in erster Linie als Kommentierungen der „Theorie der grundfreiheitlichen Schutzpflichten“ im Anschluss an die Entscheidung Französische Bauernproteste verfasst worden.206 In den Entscheidungsgründen des Urteils findet sich eine ausdrückliche Stellungnahme des Gerichtshofs zu einer Kollision von gegenläufigen Grundrechten nicht. Er isoliert und benennt diese einzelnen Positionen nicht. Über die „Schutzpflichtenschwelle“ wird der potenziell unbegrenzten Pflicht der Beachtung der Grundfreiheiten eine Grenze gesetzt.207 Nur schwere Störungen der Grund205 Das Dilemma wäre möglicherweise etwas weniger scharf, wenn man bestimmte verlangsamende, marktsegmentierende Interessen als „negative Grundfreiheiten“ abbilden würde, ähnlich wie etwa nationale Grundrechte in positive und negative Freiheiten – innerhalb einer grundrechtlichen Vorschrift – eingeteilt werden können. Das gelingt für die Grundfreiheiten kaum, da ihre ganze Struktur von der freisetzenden, zentrifugalen Bewegung geprägt ist und eine bündelnde, versammelnde Zielrichtung nicht kennt. Damit ist viel über die Grundfreiheiten gesagt. 206 EuGH v. 9.12.1997, Rs. C-265/95, „Kommission/Frankreich“, Slg. 97, S. 6959 ff., sowie die Kommentatoren dieser Entscheidung: Szczemkalla, DVBl. 1998, S. 219 ff.; Kainer, JuS 2000, S. 431 ff.; Schorkopf, EWS 2000, S. 156 ff.; Burgi, EWS 1999, S. 327 ff.; Schärf, EuWZ 1998, S. 617 ff.; Meier, EuZW 1998, S. 87 f.; Frenz, EuR 2002, S. 603, 605. Ob die Entscheidung des EuGH v. 12.06.2003, Rs. C-112/00, „Schmidberger“, die an „Kommission/Frankreich“ anknüpft, ein vergleichbares Echo in der Literatur finden wird, bleibt abzuwarten. Der Gerichtshof scheint in der Sache „Schmidberger“ die von der Literatur geforderte „offene Abwägung“ in der Praxis umzusetzten (Rz. 81 ff.).
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
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freiheiten erlauben ein Eingreifen des Staates zugunsten der Grundfreiheiten. Unbedeutendere Störungen müssen hingenommen werden, da – in der Entscheidung des Gerichtshofs bisher unsichtbar – auf der Gegenseite eine Reihe von Grundrechten (Streikrecht, Versammlungsrecht, Meinungsfreiheit, allgemeine Handlungsfreiheit) ebenfalls Beachtung für sich in Anspruch nehmen können. Die Schutzpflichtenkonstellation ist daher eine der Konstellationen, in denen die Abwägung zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten, wenn auch nicht sichtbar oder offen ausgesprochen, so doch der Sache nach stattfindet.208 b) Der weit verstandene Abwägungsbegriff als Ausgangspunkt Die Kollision zwischen subjektiven Rechten im Gemeinschaftsrecht ist dabei nicht auf eine Polarisierung von nur zwei Rechten beschränkt. Es können vielmehr auf jeder Seite eine ganze Reihe dieser subjektiven Rechte (Grundfreiheiten und Grundrechte) in die Abwägung mit eingestellt werden. In allen Kollisionsfällen werden darüber hinaus regelmäßig neben den subjektiv-individualschützenden Rechten (bzw. den einzelnen Aspekten dieser subjektiven Rechte) die objektiven Allgemeininteressen eine Rolle spielen. In jedem Gemeinwesen können individuelle Rechtsposition eingeschränkt werden, weil ein übergeordnetes öffentliches – nationales oder gemeinschaftliches – Allgemeininteresse diese Einschränkung erfordert. Dieser Normalfall sollte im Hinterkopf behalten werden, auch wenn für die weitere Untersuchung gerade das Verhältnis der subjektiven Rechte zueinander im Mittelpunkt der Überlegungen stehen wird.209 Damit zeichnet sich ein sehr weiter und sehr offener Abwägungsbegriff als gemeinsamer Nenner der dogmatischen Lösungsansätze in diesem Bereich ab. Das verlangt für die Abwägungssituation, alle Positionen offenzulegen, sowohl die Positionen als auch deren „Inhaber“ genau zu bezeichnen und dann in der Gesamtschau dieser teils konvergierenden, teils diver207 Zur potenziell unbegrenzten Verpflichtungswirkung einer Schutzpflichtenkonstruktion vgl. Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 174; Schilling, EuGRZ 2000, S. 3, 40. 208 Vgl. Schindler, Kollision von Grundfreiheiten und Grundrechten, S. 162 f., 171 ff.; Szczekalla, Schutzpflichten, S. 474 ff. m. w. N. 209 Schilling, EuGRZ 2000, S. 3, 37, der am Beispiel des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zeigen möchte, wie der Gerichtshof Grundrechte kumulativ mit anderen Grundrechten oder kumulativ mit Grundfreiheiten prüft. Dass die Verhältnismäßigkeit dabei der Form nach als Schranken-Schranke auftaucht, sei irrelevant. Erst wenn beide Rechte in der Abwägung berücksichtigt worden seien, und das Gegeninteresse immer noch überwiege, sei der Weg für dieses Gegeninteresse frei; ähnlich auch der Gerichtshof in EuGH v. 26.6.1997, Rs. C-368/95, „Familiapress“, Slg. 97, S. 3689, 3717, Rz. 27; vgl. auch Kingreen, Strukturen der Grundfreiheiten, S. 166 f.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
gierenden Interessen eine angemessene Lösung zu finden. Die Gefahr dieses Abwägungsbegriffes ist gerade dessen Offenheit. Ein weiter Abwägungsbegriff verliert rasch an Kontur. Denn dass in einem Gemeinwesen kein Recht, sei es einfaches Gesetz oder Grundrecht, ohne Einschränkungen gewährt wird, kann als in allen Rechtsordnungen gültige Erkenntnis vorausgesetzt werden.210 Die Idee der Abwägung verschiedener rechtlicher Interessen und Positionen kommt, wenn man sie von juristisch vorgeprägten Begrifflichkeiten befreit, einer schlichten Vernunftserwägung bereits sehr nahe. Entsprechend allgemein gehalten sind daher auch die Vorschläge, die aus den Reihen der Europarechtler zur Lösung dieser Kollisionsfrage gemacht werden. Als eine flexible und pragmatische – und daher letztlich auch überzeugende – Lösung bietet es sich in der Tat an, die weite und offene Abwägungssituation grundsätzlich zuzulassen, um dann im Einzelfall (cas par cas) die beteiligten Interessen zu einem gerechten Ausgleich zu bringen. Alle Versuche, über diese generalklauselartige Abwägung hinaus eine Struktur in die Stellungnahmen der Literatur hineinzulesen, führen an den Rand des Spekulativen. Unter diesem Vorbehalt soll dennoch eine Auswertung der einzelnen Literaturbeiträge erfolgen. c) Vorfragen: Welche Rechte kommen zur Anwendung? aa) Eine erste Vorüberlegung: Keine nationalen Grundrechte in der Abwägung Die erste entscheidende Weichenstellung ist die Vorfrage, welche Rechte in diese Abwägung eingestellt werden dürfen. Auch wenn von einem maximal offenen Abwägungsbegriff ausgegangen werden soll, umfasst das nicht die Grundrechte aus den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Nationale Grundrechte können den Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten nicht in einer gemeinschaftsrechtlich gelenkten Abwägung gegenübertreten. Das wird von der Literatur einhellig so gesehen. Ansonsten könne die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts an diesem wesentlichen Punkt nicht aufrechterhalten werden.211 Hinter dieser Feststellung verbirgt sich die grundsätzliche Kompetenzabgrenzung zwischen Gemeinschaftsrecht (und damit der Jurisdiktion des Gerichtshofs) und den mitgliedstaatlichen Rechts210
Art. 1 Abs. 1 GG soll an dieser Stelle ausgeklammert werden. Schorkopf, EWS 2000, S. 156, 161; Kainer, JuS 2000, S. 431, 435; Sczcekalla, DVBl. 1998, S. 219, 223 f. Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, S. 261 ff., 266; Gramlich, DÖV 1996, S. 801, 810 f.; Kluth, AöR 122 (1997) S. 563, 580; Kadelbach/Petersen, EuGRZ 2002, S. 213, 215; a. A. soweit ersichtlich nur Burgi, EWS 1999, S. 327, 330. 211
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
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ordnungen. Der Gerichtshof kann weder gemeinschaftliche noch mitgliedstaatliche oder private Maßnahmen am Maßstab nationaler Vorschriften messen. Soweit reicht seine Zuständigkeit nicht. Aus Sicht der Mitgliedstaaten erscheint das als ein willkommener Freiraum von der vereinheitlichenden Tendenz des Gemeinschaftsrechts. Wegen der Möglichkeit der Berufung auf das nationale Streikrecht oder nationale Besonderheiten im Versammlungsrecht stünden den Mitgliedstaaten neue Rechtfertigungsgründe für grundfreiheitsbeschränkendes Tun oder Unterlassen zur Verfügung.212 Aus Sicht des Gemeinschaftsrechts steht dagegen die Einheitlichkeit seiner Geltung auf dem Spiel. Für einen Kernbereich des Gemeinschaftsrechts – die Anwendung der Grundfreiheiten – wäre das Zugeständnis eines solchen Freiraumes ein Rückschritt hinter den bisherigen Entwicklungsstand des Gemeinschaftsrechts. Die Lücke hat der Gerichtshof in einzelnen Fällen schließen können, indem er die entsprechenden Grundrechte als Gemeinschaftsgrundrechte auf „gemeinschaftlicher“ Ebene nachbildet. Sofern es diese Grundrechte auf Gemeinschaftsebene (noch) nicht gebe, darf der Gerichtshof nach Ansicht von Teilen der Literatur nicht ohne dieses Grundrecht zur Abwägung übergehen und an dieser Stelle eine Lücke lassen.213 Nach anderer Auffassung soll diese Lücke den Gerichtshof nicht an der Abwägung hindern. Zwar seien noch nicht alle denkbaren Grundrechte auf der gemeinschaftsrechtlichen Ebene zur Geltung gekommen, es seien aber potenziell alle Grundrechte auf dieser Ebene bereits angelegt. Der Vorwurf, das Grundrechtssystem auf Gemeinschaftsebene sei kein abgeschlossenes System, weil entscheidende rechtliche Positionen nicht erfasst würden und ein sachgerechter Ausgleich der widerstreitenden Interessen daher nicht möglich sei, sei nicht haltbar.214 Der Gerichtshof müsse dann allerdings in der Abwägung selber dieses Grundrecht auf 212
Schorkopf, EWS 2000, S. 156, 16. Aus diesem Grund begrüßen die Mitgliedstaaten den Art. 2 der VO (EG) 2679/98 (Verordnung über das Funktionieren des Binnenmarktes im Zusammenhang mit dem freien Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten, sog. „Neuer Mechanismus“, ABl. Nr. L 337 v. 12.12.1998 S. 8), der ausdrücklich die mitgliedstaatlichen Grundrechte als Schranke für die Schutzpflichten auflistet. 213 Szczekalla, DVBl. 1998, S. 219, 223 f.; Gramlich, DÖV 1996, S. 801, 806 ff.; Streinz, in: Tettinger, Sport im Schnittfeld, S. 46; Schärf, EuZW 1998, S. 617, 618; Röthel, EuR 2001, S. 908, 914; Kainer, JuS 2000, S. 431, 435, der den Gerichtshof in Schutz nimmt und davon ausgeht, dass die Richter in der Entscheidung „Französische Bauernproteste“ nur deswegen von einer Abwägung der Warenverkehrsfreiheit mit den Grundrechten der protestierenden Bauern abgesehen hätten, weil die Blockaden gewalttätig durchgeführt wurden und daher eine Rechtfertigung von vornherein nicht in Betracht gekommen sei. 214 Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 200; Gersdorf, AöR 119 (1994) S. 400, 419. Dieses Argument taucht vor allem in der Diskussion über die Grundrechte der EMRK und im Zusammenhang mit dem deutschen Konzept einer „objektiven Wertordnung“ auf.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
Ebene des Gemeinschaftsrechts finden, beschreiben und auch einen „Wesenskern“ an Schutzintensität garantieren, damit der Schutz nicht hinter den vergleichbaren nationalen Schutz zurückfalle.215 Im Moment der Abwägung treffen die nur scheinbar gegensätzlichen Ansichten daher wieder aufeinander. Sehr weit ausgeführt ist dieser Ansatz etwa in Schindlers Kollisionsmodell oder bei Gramlich.216 Während Schindler sein Modell vor allem an der Entscheidung Französische Bauernproteste orientiert, entwickelt Gramlich seine Vorstellungen von einer Abwägung subjektiver Rechte – ähnlich dem hier gewählten Ausgangspunkt – am Beispiel der Entscheidung Bosman. Der Gerichtshof sei auf das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit auf Seiten der Fußballverbände nicht eingegangen. In der Folge entwirft Gramlich dann selber eine gemeinschaftsrechtliche Vereinigungsfreiheit, die gegen das Freizügigkeitsrecht des Herrn Bosman hätte abgewogen werden können.217 Diese Notwendigkeit, Grundrechte auf Ebene des Gemeinschaftsrechts „nachzubilden“ streitet dagegen Burgi ab, wenn er ausdrücklich darauf hinweist, dass er die nationalen Grundrechte in die Abwägung gegen die zu schützenden Grundfreiheiten einstellen wolle bei der Entscheidung, welche Maßnahmen ein Staat ergreifen darf, um den Störer, d.h. den französischen Bauern, „zur europarechtlichen Räson“ zu bringen.218 Andere Autoren lassen diese entscheidende Vorfrage offen. So wird vorgeschlagen, den protestierenden Bauern ein nationales Versammlungsgrundrecht an die Seite zu stellen, wenn sie nur geringfügig und nicht zielgerich215 Schärf, EuZW 1998, S. 617, 618; Gramlich, DÖV 1996, S. 801, 811; Schorkopf, EWS 2000, S. 156, 161 m. w. N. 216 Schindler, Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 77 ff., 159 ff., 171 ff.; Gramlich, DÖV 1996, S. 801 ff.; siehe auch Jaeckel, Schutzpflichten, S. 222 ff., 241 f. 217 Gramlich, DÖV 1996, S, 801, 804, 806 f., 810. Eine andere Frage ist allerdings, ob das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit überhaupt betroffen ist. Geht es doch, zumindest, was die Transferzahlungen betrifft, hauptsächlich um Geld. So sieht das etwa der BGH in seinem „deutschen Bosman-Urteil“ vom 29.9.1999, in: NJW 1999, S. 3552 f. „Eine solche Aufwandsentschädigung fällt nicht unter die grundrechtlich geschützte Vereinigungsfreiheit; sie hat zwar für den Verein eine wirtschaftliche Bedeutung, ist jedoch mit dem Vereinszweck nicht notwendigerweise verbunden“; kritisch dazu: Stopper, SpuRt 2000, S. 1, 4; Gramlich, SpuRt 2000, S. 89, 95. 218 Burgi, EWS 1999, S. 327, 330, dort insb. Fn. 44. Burgis Verweis auf Schärf, EuZW 1998, S. 617, 618 der angeblich diese Auffassung teile, geht fehl. Schärf wendet das Grundrecht der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit erst auf den Sachverhalt an, nachdem er es als EMRK-Grundrecht und Ausdruck der Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten zum Bestandteil des Gemeinschaftsrechts gemacht hat. Über dieses gemeinschaftsrechtliche Grundrecht wird dann die Anwendung der einfachgesetzlichen nationalen Versammlungsregelungen gesteuert. Nationale Grundrechte spielen keine Rolle.
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
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tet den Warenverkehr behindern, während sie sich für den Fall, dass sie gezielt und schwerwiegend in den Warenverkehr eingriffen, auf ein gemeinschaftsrechtliches Versammlungsgrundrecht berufen dürften.219 Umgekehrt soll nach anderer Auffassung die Berufung auf Gemeinschaftsgrundrechte den französischen Blockierern gerade in den Fällen eines gezielten und schweren Eingreifens verwehrt sein. Vergleichbare „Aggressionen“ gegen Warentransporte könnten als „nationale Entgleisungen“ nicht mehr von gemeinschaftlichen Rechten gedeckt sein.220 bb) Eine zweite Vorüberlegung: Wie stark sollen die einzelnen Vorschriften in ihre Teilfunktionen aufgesplittet werden, bevor sie in die Abwägung eingestellt werden? Neben dieser Unterscheidung von gemeinschaftlichen und nationalen Grundrechten ist eine weitere entscheidende Vorfrage die Überlegung, wie weit einzelne selbständige Rechtspositionen innerhalb einer Rechtsnorm aufgeschlüsselt und ausdifferenziert werden müssen, bevor sie in eine Abwägung eingestellt werden. Die Gemeinschaftsgrundrechte erscheinen dabei als unveränderliche Rechte „aus einem Guss“, deren Zielrichtung mit ihrem Rechtsschutzauftrag klar festgelegt ist.221 Auf der anderen Seite können die Grundfreiheiten – wie sich gezeigt hat – bei näherer Betrachtung in eine Reihe unterschiedlicher Funktionen und Rechtspositionen zerfallen. Die Aufspaltung in Diskriminierungsverbot und Beschränkungsverbot etwa sollte sich auch in der Abwägung wiederfinden.222 Für das Gesamtgefüge einer Abwägung widerstreitender Interessen kann es von Bedeutung sein, welche grundfreiheitli219 Schorkopf, EWS 2000, S. 156, 161. Wie diese Weichenstellung in der Praxis umzusetzen wäre, bleibt unklar. Entweder möchte Schorkopf mit der Aufspaltung lediglich den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts nachzeichnen. Der ist indes wegen des Fehlens einer Spürbarkeitsschwelle auch bei geringfügigen Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit unzweifelhaft eröffnet. Oder aber Schorkopf möchte die Bauern für ihr gezieltes grundfreiheitswidriges Verhalten strafen, indem er sie für diesen Fall auf den gemeinschaftlichen Grundrechtsschutz verweist. Das hieße aber von einem minderwertigen gemeinschaftsrechtlichen Schutzniveau auszugehen. 220 Frenz, EuR 2002, S. 603, 605. 221 Die denkbaren objektiv-rechtlichen Aspekte – unterstellt, dass sie auf Gemeinschaftsebene hinreichend ausgereift sind, um als eigenständige rechtliche Positionen in Erscheinung zu treten – werden an dieser Stelle ausgeklammert. Vgl. die Arbeitshypothese unter A. II. 4. zu Beginn des ersten Teils. Eine Ausnahme ist der Sonderfall der Meinungs- und Pressefreiheit, die sowohl in ihrer individuellen als auch in ihrer kollektiven Ausprägung berücksichtigt wird, so etwa in der Sache EuGH v. 26.6.1997, Rs. C-368/95, „Familiapress“, Slg. 97, S. 3689 ff. 222 Gramlich, DÖV 1996, S. 801, 805.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
che Funktion in eine Kollision mit einem gegenläufigen Grundrecht eintritt. Denn für das Diskriminierungsverbot als Kern-Bestandteil einer Grundfreiheit wurde etwa die Nähe zum Grundrecht nachgewiesen, während das für die weitergehenden Funktionen der Grundfreiheiten nicht in demselben Maße gilt.223 Ganz grundsätzlich streben innerhalb der einzelnen Grundfreiheiten das subjektiv-individualschützende Element und das objektiv-grundfreiheitliche Element teilweise so stark auseinander, dass es sinnvoll erscheint, vor Eintritt in eine Abwägung zwischen „subjektiv-grundfreiheitlicher“ Position und „objektiv-grundfreiheitlicher“ Position zu unterscheiden oder zumindest kenntlich zu machen, welches Element als vorherrschend innerhalb der Grundfreiheit angesehen wird.224 Der Vorteil läge in einer erhöhten Transparenz, wie im dritten Teil der Arbeit nachgewiesen werden soll. Dadurch ließen sich Missverständnisse in der Abwägung möglicherweise bereits im Vorfeld vermeiden. d) Die Form der Abwägung Für den eigentlichen Abwägungsvorgang scheint sich ein festes Schema oder eine besonders geeignete Form in den Stellungnahmen der Literatur nicht abzuzeichnen. Für den letzten Abwägungsschritt, in dem sich alle Interessen gegenüberstehen, muss auf ein vorgegebenes Prüfungsschema verzichtet werden. Die Abwägung folgt auf dieser letzten Stufe weniger einem juristischen Muster als vielmehr allgemeinen Vernunftserwägungen. Es kann allerdings bei der Durchführung des Abwägungsvorgangs durch die Wortwahl zumindest der Versuch unternommen werden, zusammen mit einem gewissen Maß an Pathos und Würde auch einen minimalen Strukturanteil in die jeweilige Passage der Entscheidungsgründe oder Textstellen hineinzutragen. Vor allem kann es auf diese Weise möglicherweise gelingen, einen materiellen Gerechtigkeitsbegriff im Abwägungsvorgang selbst zu verankern. Das geschieht, wenn etwa von der Abwägung als von einer „praktischen Konkordanz“ oder von „immanenten Grenzen“ gesprochen wird.225 Mit diesen Begriffen zeichnen die Autoren eine Art „Programm“ 223 Siehe oben die Überlegungen zu Art. 12 EGV als Grundrecht unter D. II. 2. und das Verhältnis des Art. 12 EGV zu den Grundfreiheiten unter D. II. 3. im ersten Teil. 224 Vgl. etwa Schroeder, JZ 1996, S. 254, 256, der für den Fall „Bosman“ die Ähnlichkeit der dortigen Interessenlage mit einer Grundrechtskollision vermerkt; Griller, 12. ÖJT (1994) Bd. I/2, S. 3, 7, 35 f.; Schubert, Gemeinsamer Markt als Rechtsbegriff, S. 204, 372 f., 396. 225 Schilling, EuGRZ 2000, S. 3, 37. Die Bezugnahme auf die deutsche Verfassungslehre ist unübersehbar.
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
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vor. Sowohl der Begriff der „praktischen Konkordanz“ als auch das Konzept der „immanenten Grenzen“ implizieren, dass die auf dem Spiel stehenden unterschiedlichen Interessen nicht nach einem festen Muster einander ausstechen, sondern dass alle Interessen soweit wie möglich Berücksichtigung finden. In der Mehrzahl der Fälle soll auf diese Weise auch inhaltlich eine Kompromisslösung angestrebt werden.226 Ziel der Abwägung müsse die optimale Realisierung aller beteiligten allgemeinen Rechtsgrundsätze sein. Das könne nur bedeuten, dass Individualrechtsgüter weitestgehend zu schonen sei.227 Das Konzept der praktischen Konkordanz als Lösung für diese Kollisionsfälle stößt teilweise auch auf Ablehnung. Eine solche „ungegliederte Güter- und Interessenabwägung“ zwischen Gemeinschaftsgrundrechten und grundfreiheitlichen Positionen sei wenig überzeugend. Eine Lösung der Kollisionssituation habe vom Gebot der Beachtung der Grundfreiheiten auszugehen. Die grundrechtlichen Positionen seien dann als Ausnahmen von diesem Grundsatz zulässig. Im Zweifel sei der Verwirklichung der binnenmarktlichen Grundfreiheiten der Vorrang zu geben.228
226 Schilling, EuGRZ 2000, S. 3, 37, der die Kollision zunächst nach dem Rang der Normen, falls das wegen Gleichrangigkeit nicht weiterführe, unter dem Gesichtspunkt des „schonendsten Ausgleichs“ lösen will; Gramlich, DÖV 1996, S. 801, 810 „Praktische Konkordanz“; ebenso Schubert, Gemeinsamer Markt als Rechtsbegriff, S. 374, 396; ähnlich Kluth, AöR 122 (1997) S. 563, 580; Schindler, Kollisionsmodell, S. 166 f.; Roloff, Beschränkungsverbot des Art. 39 EG, S. 184; Dinkelmeier, Profifußball in Europa, S. 103 f., 143; Hintersteininger, Diskriminierungsverbot und Binnenmarkt, S. 277; Schwarze, NJ 1994, S. 53, 59 spricht ebenfalls von der „Praktischen Konkordanz“ und bezieht sich dabei ausdrücklich auf Hesse. Allerdings gebraucht Schwarze den Ausdruck in einem etwas anderen Kontext. Er zielt auf den Konflikt zwischen nationalen Verfassungspositionen und Gemeinschaftsrecht. Über diesen Konflikt gelangt man allerdings wieder zu der Frage, inwieweit nationale Grundrechte gemeinschaftlichen Rechten in der Abwägung entgegengehalten werden dürfen. 227 Schilling, EuGRZ 200, S. 3, 40. Aus der Dogmatik der Grundfreiheiten stammt der Ansatz, die Abwägung zwischen Grundfreiheiten und Gegenrechten über das Kriterium der „Schwere der Diskriminierung“ zu steuern, wie Jarass, EuR 2000, S. 705, 723, vorschlägt. Er geht von einer sliding scale aus. Je diskriminierender eine Maßnahme, desto schwerer sei sie zu rechtfertigen. Auch hinter diesem Erklärungsmodell können die grundrechtlichen Kerne in den Grundfreiheiten gesehen werden. Denn eine „stark diskriminierende“ Maßnahme verletzt in der Regel auch den grundrechtlichen Kern in der Grundfreiheit. In der Abwägung ist diese Kern-Position besser geschützt, weil ein Eingriff eine höhere Rechtfertigungsschwelle überwinden muss. 228 Müller-Graff, Grundfreiheiten, S. 2181, 1300 f.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
e) Die Gewichtung der einzelnen Positionen in der Abwägung Für den Ausgang eines Rechtsstreits und damit für den effektiven Schutz, den die Grundfreiheiten und Grundrechte aus der Perspektive des einzelnen Unionsbürgers leisten, ist letztendlich die Durchsetzungskraft entscheidend, die eine Rechtsposition in der eigentlichen Abwägung gegenüber den gegengerichteten Interessen entfaltet. Die Interessen des Einzelnen, der das bedeutendere Recht in die Waagschale werfen kann, drängen die Interessen seines Gegenübers ganz oder teilweise zurück. Ausdrückliche Vorrangregeln hat der Gerichtshof nicht aufgestellt. Auch die kommentierende Literatur neigt nicht dazu, solche Regeln auf der Grundlage des Rechtsprechungsmaterials nachzeichnen oder als rechtspolitisch wünschenswert aufstellen zu wollen. Eine Strukturierung etwa des Inhalts, dass eine Beweislast- oder Vermutungsregel zugunsten der Grundfreiheiten oder der Gemeinschaftsgrundrechte eingreifen würde, wird in der Regel nicht vorgenommen.229 Die besondere prozessuale Situation der Verfahren, in denen sich die Frage nach der Vereinbarkeit einer Maßnahme mit Grundfreiheiten oder Gemeinschaftsgrundrechten in der Regel stellt, lässt an eine Verteilung des Durchsetzungsrisikos nach Art einer Beweisoder Darlegungslast im eigentlichen Sinne nicht denken. Wenn dem Gerichtshof im Wege der Vorlagefrage (Art. 234 EGV) ein Sachverhalt zur Beantwortung unterbreitet wird, ist die Frage der Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht – jedenfalls vom Prinzip her – eine reine Rechtsfrage. Dennoch ist auch für solche Rechtsfragen zumindest ein „argumentativer Vorsprung“ vorstellbar, der einer der beiden widerstreitenden Normen gewährt wird. Ein Ansatz in dieser Richtung findet sich – aus einem etwas anderen Zusammenhang kommend – in der Sache Graf.230 In der Literatur wird das nicht aufgegriffen. Die Abwägung, wie die Autoren sie skizzieren, sollte vielmehr am jeweils zu entscheidenden Einzelfall orientiert sein. Sie sollte gleiche Startbedingungen für alle in die Abwägung eingestellten Positionen bieten. Eine vorweggenommene Verlagerung der Gewichtung, wie es bei einer Vermutungsregel der Fall wäre, käme nicht in Betracht.231 229 Vgl. aber zuletzt Müller-Graff, Grundfreiheiten, S. 1281, 1300 f.; Borrmann, Berufsfreiheit, S. 227, 256 f. 230 Schlussanträge Fennelly zu EuGH v. 27.1.00, Rs. C-190/98, „Volker Graf“, Slg. 00, S. 493, 510, Rz. 32, in denen Fennelly vorschlägt, eine Verletzung einer Grundfreiheit nur dann anzunehmen, wenn der Einzelne darlegen könne, dass die Beeinträchtigung so schwer sei, dass sie einem Ausschluss vom Markt gleichkomme. Damit ist im Ergebnis eine Spürbarkeitsschwelle für die Grundfreiheiten eingeführt, siehe unten B. I. 2. b) und C. II. 1. b) im dritten Teil; vgl. Steiner, C.M.L.R. 29 (1992) S. 749, 772 f.; Barnard, E.L.Rev. 26 (2001) S. 35, 50 f.; u. a. 231 Gramlich, DÖV 1996, S. 801, 808, „im Einzelfall abwägen“. Die Praxis des Gerichtshofs hält Gramlich für verfehlt, weil den Grundfreiheiten regelmäßig der
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
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Die praktische Umsetzung dieser Vorgaben durch den Gerichtshof ist Ansatzpunkt für eine lebhafte, wenn auch zum Teil etwas diffuse Kritik. Eine offene Bevorzugung der Grundrechte gegenüber den Grundfreiheiten wird soweit ersichtlich nicht eingefordert.232 Die Kritik setzt umgekehrt in der Regel bei der Besserstellung der Grundfreiheiten an. Der Gerichtshof bevorzuge systematisch die Grundfreiheiten. Die Gemeinschaftsgrundrechte hätten in der Abwägung regelmäßig das Nachsehen.233 Zum Teil wird – in Zuspitzung dieses Arguments – eine unzulässige Herabsetzung der Gemeinschaftsgrundrechte bereits darin gesehen, dass die Grundrechte den Grundfreiheiten in der Abwägung gleichberechtigt gegenübertreten müssten.234 In der Regel gehen die Kommentatoren aber davon aus, dass in der eigentlichen Abwägung zwischen den beteiligten Normengruppen eine wirkliche Gleichberechtigung und Gleichrangigkeit herrscht. Das Problem wird weniger in der „Parteinahme“ des Gerichtshofs gesehen, als vielmehr – wie oben bereits dargestellt – in der Tatsache, dass er einzelne Rechte gar nicht mit in die Abwägung einstellt.235 aa) Kritik der Literatur am Gerichtshof: Automatischer Vorrang der Grundfreiheiten? Der gegen den Gerichtshof gerichtete Vorwurf, die Grundfreiheiten würden in der direkten Kollision mit den Gemeinschaftsgrundrechten eine systematische Bevorzugung erfahren, findet sich offen oder versteckt in einzelnen Äußerungen der kommentierenden Literatur.236 Die meisten Wellen haben Vorrang eingeräumt würde (S. 801); dazu auch Schindler, Kollisionsmodell, S. 158, 162 ff., 165 f. 232 Vgl. aber Röthel, EuR 2001, S. 908, 919, nach deren Ansicht die „wirtschaflich und monetär ausgerichtete Interessen des Binnenmarktes hinter ideell begründeten Verbandsregelungen zurücktreten“ müssen; umgekehrt möchte dagegen etwa Borrmann, Berufsfreiheit, S. 227, 256 f., einen grundsätzlichen Vorrang der Grundfreiheiten in der Abwägung daraus herleiten, dass die Grundfreiheiten als geschriebenes Recht im EG-Vertrag verankert sind. 233 Gramlich, DÖV 1996, S. 801, 801; Coppel/O’Neill, C.M.L.R. 29 (1992) S. 669, 690, 692; Poiares Maduro, in: Alston, EU and Human Rights, S. 449, 463; ähnlich Mehler, Grundrechtsbindung, S. 157; nicht ganz klar bei Beutler, in: GTE, Rz. 75 zu Art. F EUV. 234 Coppel/O’Neill, C.M.L.R. 29 (1992) S. 669, 690. 235 Kluth, AöR 122 (1997) S. 563, 582; Schärf, EuZW 1998, S. 617, 618; Gramlich, DÖV 1996, S. 801, 811; Schorkopf, EWS 2000, S. 156, 161 m. w. N. 236 Gramlich, DÖV 1996, S. 801, 801 „Treffen Grundfreiheiten und Grundrechte des EG-Rechts aufeinander, so räumt der Europäische Gerichtshof ersteren durchweg Vorrang ein“; Tettinger, in: Tettinger, Sport im Schnittfeld, S. 21; Coppel/O’Neill, C.M.L.R. 29 (1992) S. 669, 690, 692 stellen die noch weitergehende These auf, der Gerichtshof ordne die „echten“ Grundrechte bewusst und planmässig dem Ziel der Verschmelzung der einzelnen Märkte zu einem echten Binnenmarkt unter;
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
ohne Zweifel Coppel/O’Neill mit ihrer überspitzten Kritik an der Grundrechtsrechtsprechung des Gerichtshofs geschlagen. Ihre Kritik betrifft dabei sowohl die begriffliche und inhaltliche Gleichsetzung von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten als auch das Konkurrenz- bzw. Kollisionsverhältnis. Die Rechtssache Heylens, in der der Gerichtshof erstmals den Art. 39 EGV als Grundrecht bezeichnet hat, und in der er ihn damit – möglicherweise – auch inhaltlich den Grundrechten gleichsetzen wollte, nehmen Coppel/O’Neill zum Anlass, die provokative These aufzustellen, der Gerichtshof setze die terminologische Verwirrung bewusst ein, um die klare Unterscheidung zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten zu verwischen. Dahinter stecke die Absicht des Gerichtshofs, auch das Gewicht der Rechte in der Waagschale zugunsten der Grundfreiheiten zu manipulieren. Die terminologische Gleichsetzung aus dem Heylens-Urteil schlage so auf die materiell-rechtliche Ebene und auf die Wertungsebene durch. Die Beispiele, anhand derer Coppel/O’Neill ihre These von der Bevorzugung der Grundfreiheiten belegen wollen, machen deutlich, dass es in der Rechtsprechung bislang nicht um eine Bevorzugung der Grundfreiheiten, sondern vielmehr um eine – aus ihrer Sicht unberechtigte – Gleichsetzung dieser Grundfreiheiten mit den Grundrechten geht. Indem die Grundfreiheiten (und damit das Binnenmarktprojekt mit seinem starken Impetus) durch die bewusst unpräzise Terminologie auf dieselbe Stufe wie die Grundrechte gehoben würden, verliere die grundrechtliche Norm den Vorsprung, der ihr nach dem normenhierarchischen Verständnis der beiden Autoren zukommt.237 Mit anderen Worten ist eine Abwertung der Normengruppe „Gemeinschaftsgrundrechte“ bereits darin zu sehen, dass ein Grundrecht sich auf gleicher Stufe mit einer gewöhnlichen wirtschaftsregelnden Grundfreiheit messen lassen muss. Auf den ersten Blick scheint die folgende Überlegung diese These zu stützen: Grundrechte, die den Einzelnen vor den Auswüchsen hoheitlichen Handelns schützen sollen, müssen – so das Argument – zwangsläufig in ihrer Schutzkraft geschwächt werden, sobald hoheitliches Handeln selber, weil es auf die Verwirklichung des Binnenmarktzieles gerichtet ist, als Grundfreiheit und dann in Fortführung der „terminologischen Verwirrung“ auch als Grundrecht gewichtet wird. Die geschützte Position und die Position, vor der geschützt werden soll, stünden sich aufgrund dieses Schachzuges beide mit grundrechtlicher Rückendeckung gegenüber. Für den Gerichtshof sei es auf diese Weise einfacher, ein echtes Grundrecht den Wirtschaftszielen unterzuordnen.238 Poiares Maduro, in: Alston, EU and Human Rights, S. 449, 463 „The gap between negative and positive integration has generated spill-over-effects favouring economic freedoms against social rights at the national level“; Hilson/Downes, E.L.Rev. 24 (1999) S. 121, 121; ähnlich Mehler, Grundrechtsbindung, S. 157 m. w. N. 237 Coppel/O’Neill, C.M.L.R. 29 (1992) S. 669, 690.
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
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Dem ist zunächst entgegenzuhalten, dass die von Coppel/O’Neill als Beispiel angeführte Entscheidung Heylens keine unmittelbaren Aussagen zur Gewichtung der jeweiligen Rechte in der Abwägung liefern kann, da dort keine wirkliche Kollision zwischen Grundfreiheit und Grundrecht stattfindet, sondern die beiden Rechte parallel laufen und das Binnenmarktziel nicht gegen den Individualgrundrechtsschutz ausgespielt werden kann.239 Hier deutet sich bereits der Vorteil einer transparenten, offenen Abwägung an, die zwischen den einzelnen Funktionen der jeweiligen Rechtsnorm unterscheidet und klarstellt, ob unter dem Etikett der Grundfreiheit ein objektives Interesse, eine primär subjektiv-rechtliche Position oder auch ein Grundrecht ins Spiel gebracht werden soll. Darüber hinaus entzündet sich der Streit, den Coppel/O’Neill vom Zaun gebrochen haben, vor allem an dem Vorwurf, der Gerichtshof mache die Grundfreiheiten bewusst zu Grundrechten, um unter dem Mantel der Grundrechtsrechtsprechung die Kompetenzen des Gemeinschaftsrechts zu Lasten der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ausdehnen zu können. Gegen diese Anschuldigung nehmen Weiler/Lockhart in ihrer Replik den Gerichtshof in Schutz. Diese Annahme – der „Missbrauch“ der Grundrechte – sei eine unbewiesene Unterstellung.240 In der Tat ist es vor allem die Beweisfälligkeit in diesem Punkt, die gegen Coppel/O’Neill spricht. Gegen die These von der „Begegnung der Grundfreiheiten und der Gemeinschaftsgrundrechte auf derselben normenhierarchischen Ebene“ dagegen kann auch die Replik keine stichhaltigen Einwände vorbringen. Weiler/Lockhart versuchen, schärfer zwischen terminologischer und materiell-rechtlicher Ebene zu trennen. Aus der begrifflichen Gleichsetzung könne auf keinen Fall ohne weiteres auf die inhaltliche „normative“ Gleichsetzung rückgeschlossen werden. Selbst wenn die Grundfreiheiten Grundrechte wären, hieße das nicht zwangsläufig, dass sie in einer Abwägungssituation den „echten“ Grundrechten ebenbürtig gegenüberstünden. Eine Rechtsordnung könne durchaus mehrere verschiedene Rechtssätze mit dem Attribut „grund-/grundsätzlich“ versehen.241 Diese Stellungnahme von Weiler/Lockhart löst den Konflikt letztlich dahin auf, das Feld der Begrifflichkeit kampflos preiszugeben. Ob die Grundfreiheiten als „Grundrechte“ betitelt werden oder nicht, wäre demnach ohne Bedeutung. Es sei allein die normative Stellung, die ein Recht charakterisiere, und die in der Abwägung Bedeutung erlangen könne.242 Erst in der konkreten Abwägung zeige ein Recht seine normhierarchische 238
Coppel/O’Neill, C.M.L.R. 29 (1992) S. 669, 690. So auch: Weiler/Lockhart, C.M.L.R. 32 (1995) S. 579, 581, 596. 240 Weiler/Lockhart, C.M.L.R. 32 (1995) S. 579, 582. 241 Weiler/Lockhart, C.M.L.R. 32 (1995) S. 579, 594. 242 Weiler/Lockhart, C.M.L.R. 32 (1995) S. 51, 89; Weiler/Lockhart, C.M.L.R. 32 (1995) S. 579, 594, 602 f. 239
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
Stellung und Wertigkeit. Damit verlagern sie die fehlende Festlegung auf die materiell-rechtliche Ebene. Auch nach dieser Lösung stehen Grundfreiheiten und Grundrechte sich jedenfalls „zu Beginn“ der Abwägung gleichrangig gegenüber. Weiler/Lockhart schaffen es auf diese Weise allerdings, den Gerichtshof vom Vorwurf der manipulativen Verwendung der Begriffe freizusprechen.243 Zieht man einiges an Schärfe ab, die Coppel/O’Neill durch den Vorwurf der böswilligen Vorgehensweise des Gerichtshofs in die Debatte hineingetragen haben, so bleibt das Verdienst, sehr gezielt den Finger in die Wunde gelegt und am Beispiel der Fälle SPUC/Grogan und Heylens ein Dilemma der Rechtsprechung aufgedeckt zu haben. Die Terminologie des Gerichtshofs in den Fällen der Kollision grundfreiheitlicher und grundrechtlicher Positionen und die Prüfung, die der Gerichtshof der Sache nach vornimmt, stimmen in einigen Fällen nicht überein. Das könnte tatsächlich den Eindruck eines willkürlichen oder manipulativen Vorgehens erwecken. Insoweit ist Coppel/O’Neill Recht zu geben. Auch auf der sprachlichen Ebene darf nicht, wie Weiler/Lockhart es suggerieren, die Trennung der beiden Kategorien vollständig preisgegeben werden. Selbst wenn es nur Nuancen und vielleicht stilistische Details sind, in denen eine sauber differenzierende Terminologie sich niederschlagen würde, ist die Rolle der Begriffe als solcher, und der Konnotationen, die mit den Begriffen transportiert werden, nicht zu unterschätzen.244 Es ist möglicherweise bereits die Vorstellung der Abwägung eines – überspitzt ausgedrückt – „schützenden, bergenden“ Grundrechts gegen eine „nackte, kalte“ Grundfreiheit, die Coppel/O’Neill missfällt. Dieses Unbehagen, das die Autoren in juristische Kritik umzugießen versuchen, resultiert sicher direkt aus der Schieflage, die sich für sie aus dem unmittelbaren Nebeneinander der Begriffe „Dienstleistungsfreiheit“ und „Schutz des ungeborenen Lebens“ ergibt. Die Gefahr dieser Schieflage können allerdings Weiler/Lockhart nicht wegretuschieren, auch wenn sie selber dieses Unbehagen nicht empfinden. Falls der Gerichtshof versuchen sollte, eine solche (zumindest für Teile der Betroffenen problematische) Abwägung zu maskieren oder zu verharmlosen, indem er die Grundfreiheit zuvor als „Grundrecht“ tarnt, läge in der Tat der Gedanke an einen manipulativen Einsatz der Rechtsprechung nicht fern. So geht der Gerichtshof im Falle SPUC/Grogan aber gerade nicht vor.245 Der Gedanke kann noch weiter geführt werden. Der Gerichtshof wäre nämlich entgegen Coppel/O’Neill von diesem Vorwurf der Manipulation 243
Weiler/Lockhart, C.M.L.R. 32 (1995) S. 51, 57 f., S. 579, 618. Vgl. etwa Griller, 12. ÖJT (1994) Bd. I/2, S. 7, 35 f.; ähnlich Zampini, RTDE 1999, S. 659, 677 f. 245 EuGH v. 4.10.1991, Rs. C-159/90, „SPUC/Grogan“, Slg. 91, S. 4685, 4740, Rz. 24 f. 244
B. Grundfreiheiten und Grundrechte in der Literatur
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jedenfalls dann freizusprechen, wenn die Grundfreiheiten, die er hier den Grundrechten gegenüberstellt, nicht nur dem Etikett nach, sondern auch materiell-rechtlich echte Grundrechte sind. Das wäre dann der Fall, wenn es sich in den genannten Konstellationen der Sachen nach gar nicht um Grundfreiheiten gehandelt hätte, sondern um Grundrechte (Berufsfreiheit für Heylens – Meinungs- bzw. Informationsfreiheit für die irischen Studenten), und diese Grundrechte auf die Grundfreiheiten ausschließlich angewiesen wären, um in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts vordringen zu können.246 In der Sache SPUC/Grogan beispielsweise setzten die irischen Studenten den freien Dienstleistungsverkehr des Art. 49 EGV offensichtlich als „Vehikel“ ein, um ihr Grundrecht aus Art. 10 EMRK (Meinungsfreiheit) ins Spiel bringen zu können. In diesen Fällen ließe sich die wahre Interessenlage häufig besser abbilden durch einen direkten Vergleich der offengelegten grundrechtlichen Positionen, die auf einer tieferliegenden Ebene sichtbar werden, nachdem die „Vehikel-Funktion“ der grundfreiheitlichen Positionen aufgedeckt ist. Die Bedeutung, die die Grundfreiheiten für das Allgemeininteresse „Binnenmarkt“ haben, wird auch weiterhin als ein zentrales Interesse in der Abwägung zum Tragen kommen. Das Interesse an der Beschleunigung des Binnenmarktprojektes sollte dann aber auch als solches benannt und eingestuft werden, bevor es in eine Abwägung etwa mit dem Grundrecht auf Leben in Kollision tritt. Auch ohne dass dadurch eine Aussage über den Ausgang dieser Abwägung impliziert ist, wird der Abwägende doch auf diese Weise dazu gebracht, sich mit der Unterschiedlichkeit der beiden Rechtspositionen auseinander zu setzen und sie sprachlich und in der Argumentation zu berücksichtigen.247 Auf die Vorteile dieser „transparenten Abwägung“ kommt die Arbeit im Schlussteil zurück. bb) Die Lösung der Literatur: Einzelfallorientierte, gleichberechtigte und ergebnisoffene Abwägung Der Vorwurf gegen den Gerichtshof, dieser bevorzuge in der Abwägung systematisch die Grundfreiheiten, bleibt demnach in der Literatur vereinzelt. Im Übrigen lässt sich dieser Vorwurf – wie am Beispiel der von Coppel/O’Neill geäußerten Kritik gezeigt wurde – nur insoweit belegen, als 246 Zu weiteren Beispielen, in denen möglicherweise gezielt die Binnenmarktvorschriften eingesetzt wurden, um bestimmte Sachverhalte in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts – und damit außerhalb der nationalen Grundrechte – zu bringen, vgl. Frahm/Gebauer, EuR 2002, S. 78, 94 f. m. w. N. 247 Griller, 12. ÖJT (1994) Bd. I/2, S. 7, 35 f., nach dessen Ansicht es für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne „doch einen Unterschied mache“, ob das Lebensrecht des Fötus gegen die Dienstleistungsfreiheit oder gegen das Selbstbestimmungsrecht der Frau abgewogen werde.
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2. Teil: Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten
eine Gleichsetzung der beiden Normkategorien bereits als Bevorzugung der Grundfreiheiten gewertet wird. Zum Teil wird der Gerichtshof gegen diese Kritik ausdrücklich in Schutz genommen. Von einer systematischen Verzerrung der Interessenabwägung könne keine Rede sein. Der Eindruck einer solchen Verzerrung entstünde nur, wenn man unzulässiger Weise den Begründungsstil des Gerichtshofs mit dem eigentlichen Entscheidungsvorgang gleichsetze.248 Die Mehrzahl der Kommentatoren zieht indes gar nicht in Zweifel, dass Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte sich grundsätzlich gleichberechtigt als „Grundnormen“ des Gemeinschaftsrechts in der Abwägung gegenübertreten können. Dass es hier an einem automatischen Vorrang fehlt, wird nur vereinzelt ausdrücklich vermerkt, weitgehend wohl aber als selbstverständlich angesehen.249 Diese prinzipielle Gleichrangigkeit folgt im Übrigen mangels anderweitiger hierarchischer Abschichtung aus der formellen Gleichrangigkeit der beiden Normengruppen als Teil des primären Gemeinschaftsrechts.250 In der Beschreibung des eigentlichen Abwägungsvorgangs liegen diese Stimmen dann nicht weit auseinander. Auf die – sehr rudimentären – Strukturelemente der angestrebten gleichberechtigten, ergebnisoffenen und einzelfallorientierten Abwägung mit dem Ziel des „schonendsten Ausgleichs aller Interessen“ ist oben bereits eingegangen worden.251 Auch ein offener Abwägungsbegriff, der von einer prinzipiellen Gleichrangigkeit der beiden Normengruppen ausgeht, schließt allerdings nicht aus, dass die Verschiedenartigkeit von Grundrechten und Grundfreiheiten sich nicht doch in der Abwägung in irgendeiner Weise auswirkt.252
248
Müller-Graff, Integration 1/2000, S. 34, 42. Schindler, Kollisionsmodell, S. 158; Schroeder, JZ 1996, S. 254, 256; Szczekalla, Schutzpflichten, S. 474, Jarass, EuR 1995, S. 202, 226, der allerdings hauptsächlich kollidierende Vertragsvorschriften im Blick hat und die außervertraglichen Gemeinschaftsgrundrechte nicht unmittelbar erwähnt; Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, S. 274 f., 277 f. für den besonderen Fall der Kollision des Grundrechts „Diskriminierungsverbot“ mit anderen Grundrechten oder Grundfreiheiten; Schilling, EuGRZ 2000, S. 3, 37. 250 Beutler, in: GTE, Rn. 73 zu Art. F EUV; Borchardt, in: Lenz, Kommentar, Rn. 38 zu Art. 220 EGV; Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 135; Schneider, Öffentliche Ordnung als Schranke, S. 186; Hofmann, Normenhierarchie, S. 27, dort Fn. 33 m. w. N. sowie S. 244 f. 251 Siehe oben B. IV. 2. c) und d). 252 Griller, 12. ÖJT (1994) Bd. I/2, S. 7, 35 f. 249
Dritter Teil
Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten Die Darstellung der Rechtsprechung und der wissenschaftlichen Stellungnahmen zur Frage der Grundrechtsqualität der Grundfreiheiten hat eine Reihe von Argumenten gezeigt, mit denen sich eine Einordnung der Grundfreiheiten als Gemeinschaftsgrundrechte begründen ließe. Daneben findet man aber auch zahlreiche Argumente, die gegen diese Einordnung sprechen. Ein klares Votum ergibt sich nicht. Die wenigen Stimmen in der Literatur, die eine Gleichsetzung ausdrücklich vornehmen, tun das zum Teil unter schwer haltbaren Prämissen oder um den Preis eines recht weiten und damit wenig konturierten Grundrechtsbegriffs, wenn etwa auch rein formale oder ausgesprochen objektiv-rechtliche Elemente zur Begründung des Grundrechtsstatus ausreichen sollen. Diese ausdrückliche Gleichsetzung scheint eher einen rechtspolitisch wünschenswerten Zustand zu beschreiben als einen Abriss der geltenden grundfreiheitlichen Dogmatik.1 Die Vorsicht, mit der die Mehrzahl der Autoren eine solche begriffliche Gleichsetzung zu umgehen versucht, zeigt vielmehr die Bestrebung, die Grundfreiheiten auch weiterhin als eigenständige Kategorie von Rechtsnormen weiterzuführen und nicht im Begriff „Grundrechte“ aufgehen zu lassen.2 Die meisten Autoren können im Zusammenhang ihrer jeweiligen Beiträge eine Festlegung in der Frage der Grundrechtsqualität der Grundfreiheiten mit guten Gründen vermeiden. Im folgenden dritten Teil der Arbeit soll einer solchen Festlegung bewusst nicht ausgewichen werden. Um die Frage der Gleichsetzung von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten beantworten zu können, müssen zunächst als Messpunkte die Eigenschaften festgelegt werden, die für die Normstruktur eines Gemeinschaftsgrundrechts unverzichtbar – im Sinne von konstituierend – sind. Nach der hier vertretenen Auffassung sind das vor allem die Zweckfreiheit des gewährten Rechtsschutzes und die grundlegende Ausrichtung der Grundrechte auf die Person des Berechtigten hin (dazu Abschnitt A.). Die Grundfreiheiten erfüllen diese Voraussetzungen nicht. Diese Einschätzung ist im Rahmen der Untersuchung der Dogmatik der Grundfreihei1
Siehe oben B. II. 4. c) und d) sowie B. II. 1. a) und b) des zweiten Teils. Vgl. die Übersicht unter B. I. und insbesondere die Abschnitte B. III. 4. und 5. des zweiten Teils. 2
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
ten in den ersten beiden Teilen der Arbeit bereits mehrfach angedeutet und kurz vermerkt worden. Die einzelnen Beobachtungen sollen hier zusammengetragen und zusammengeführt werden, um diese Feststellung zu belegen. Auch wenn die Grundfreiheiten dem Einzelnen subjektive Rechte verleihen können, bleibt ihr bestimmendes Merkmal die Ausrichtung an ihrem ursprünglichen Zweck, dem Abbau der Disparitäten im Binnenmarkt. Einen zweckfreien Schutz gewähren die Grundfreiheiten nicht. Zudem sind sie von ihrer Anlage her stärker als Verhaltensregeln (Pflichten) und weniger als echte subjektive Rechte ausgeformt (dazu Abschnitt B.). Die Kategorien von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten lassen sich demnach nicht zur Deckung bringen. Sie streben erkennbar auseinander. Dennoch hat der Gerichtshof in Einzelfällen Grundfreiheiten wie Grundrechte eingesetzt. Die Spannung, die sich deshalb innerhalb der grundfreiheitlichen Normen aufbaut, kann aufgelöst werden, wenn man bereit ist, innerhalb einer Grundfreiheit neben der genuin grundfreiheitlichen Funktion in bestimmten Fällen einen grundrechtlichen Kern anzuerkennen. Diese grundrechtlichen Kerne können dann aus der grundfreiheitlichen Struktur herausgelöst und nach den Regeln über die Gemeinschaftsgrundrechte behandelt werden. Es findet sich ein „Grundrecht in der Grundfreiheit“. Am Beispiel des Art. 39 EGV (Arbeitnehmerfreizügigkeit) soll diese Funktionsverdopplung im Modell dargestellt werden (dazu Abschnitte C. und D.).
A. Kriterien für eine – denkbare – Grundrechtsqualität der Grundfreiheiten Die Frage, ob die Grundfreiheiten des EG-Vertrags Gemeinschaftsgrundrechte sind, kann nur über den Vergleich der Grundfreiheiten mit einer Zielgröße erfolgen. Eine solche Größe müsste die Punkte festlegen, die ein Gemeinschaftsgrundrecht ausmachen. Sie müsste die Eigenschaften vorgeben, die eine Norm abstrakt aufweist, die als Gemeinschaftsgrundrecht bezeichnet werden kann. Diese Bestimmung der Zielgröße wird erschwert dadurch, dass der Begriff „Gemeinschaftsgrundrecht“ nicht abschließend definiert ist und auch der Begriff „Grundrecht“ sich einer Festlegung auf eine eng umrissene und verbindliche Definition entzieht. I. Keine abschließende Definition des Begriffs „Grundrechte“ 1. Definition des Begriffs „Gemeinschaftsgrundrechte“?
Eine abschließende Definition des Begriffes „Gemeinschaftsgrundrechte“ gibt es in der gemeinschaftsrechtlichen Literatur nicht. Ein bestimmtes
A. Kriterien für eine Grundrechtsqualität der Grundfreiheiten
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Merkmal, das diese „Gemeinschaftsgrundrechte“ von anderen Grundrechten aus den staatlichen Verfassungen oder internationalen Konventionen unterscheiden könnte, bildet sich nicht so sichtbar heraus, dass es zwingend eine eigenständige Definition des Begriffes „Gemeinschaftsgrundrechte“ nahe legte. Die Gemeinschaftsgrundrechte sind Grundrechte im Gemeinschaftsrecht. In der Kommentarliteratur ist entsprechend in der Regel nur von „Grundrechten“ die Rede.3 Teilweise wird mittlerweile auch – scheinbar präziser – von „Gemeinschaftsgrundrechten“ gesprochen. Diese Klassizifierung erfolgt aber durchgängig nicht in Gegenüberstellung zu dem Begriff „Grundrechte“, sondern die beiden Bezeichnungen werden synonym verwendet.4 Auch der Gerichtshof spricht nur von Grundrechten. Für ihn steht offensichtlich außer Frage, dass die Grundrechte, die er zur Anwendung bringt, nur Gemeinschaftsgrundrechte sein können.5 Daraus folgt zunächst, dass die Gemeinschaftsgrundrechte zu derselben Kategorie „Grundrechte“ gehören, der auch die anderen Grundrechte – nationale Grundrechte oder Grundrechte aus internationalen Konventionen – zuzurechnen sind. Die Besonderheiten, die möglicherweise aus der Sonderstellung der Gemeinschaftsrechtsordnung resultieren, können dann im Rahmen der Dogmatik berücksichtigt werden, indem eine „gemeinschaftsrechtsspezifische Grundrechtsdogmatik“ gegen die herkömmlichen, von den nationalen Verfassungslehren geprägten Grundrechtsdogmatiken abgesetzt wird.6 An der Zuordnung zur Kategorie und damit an der Kernaussage über den Begriff „Grundrecht“ ändert sich dadurch nichts. Das liegt nahe, weil nach der hier vertretenen Ansicht bei allen Grundrechtstheorien der Blickwinkel des zu schützenden Individuums im Mittelpunkt steht. Aus der Sicht des Individuums ist der Freiheitsbereich derselbe, unabhängig von der Rechtsordnung, durch die der Freiheitsbereich bedroht und gewährt wird.7 3
Beutler, in: GTE, Rn. 22 ff. zu Art. F EUV; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Rn. 16 ff. zu Art. 6 EUV, vgl aber die dortigen Überschriften; Geiger, Rn. 32 ff. zu Art. 220 EGV; Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 241 f.; Borchard, in: Lenz, Kommentar, Rn. 30 ff. zu Art. 220 EGV, vgl. aber Rn. 34 f., 37; u. v. m. 4 Beutler, in: GTE, Rn. 73, 87 ff. zu Art. F EUV; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Rn. 16, 19, 22, 27, 32 f. zu Art. 6 EUV; Borchard, in: Lenz, Kommentar, Rn. 34 f., 37 zu Art. 220 EGV; Stumpf, in: Schwarze, Rn. 17 „Grundrechte“ und Rn. 18 „Gemeinschaftsgrundrechte“ zu Art. 6 EUV. 5 Vgl. etwa EuGH v. 18.6.1991, Rs. C-260/89, „ERT“, Slg. 91, S. 2925, 2963, Rz. 41 f.; EuGH v. 26.6.1997, Rs. C-368/95, „Familiapress“, Slg. 97, S. 3689, 3715, 3717, Rz. 18, 24; EuGH v. 29.5.1997, Rs. C-299/95, „Kremzow“, Slg. 97, S. 2629, 2640 f., Rz. 6; EuGH v. 4.10.1991, Rs. C-159/90, „SPUC/Grogan“, Slg. 91, S. 4685, 4741, Rz. 30 f.; u. v. m. 6 Beutler, in: GTE, Rn. 73 zu Art. F EUV. 7 Schubert, Gemeinsamer Markt als Rechtsbegriff, S. 213 definiert in dem hier interessierenden Zusammenhang den Begriff Grundrechte wie folgt: „Das Wesensmerkmal von Grundrechten besteht darin, dass sie dem Bürger rechtlich geschützte
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten 2. Definition des Begriffs „Grundrechte“?
Da eine eigenständige Definition der „Gemeinschaftsgrundrechte“ keine zusätzliche Abgrenzungsleistung erbringt, kann und muss auf den allgemeineren Begriff „Grundrechte“ zurückgegriffen werden. Nach dem eben Gesagten ist dieser Rückgriff ohne weiteres möglich, da die Gemeinschaftsgrundrechte materiell mit den aus den nationalen Rechtsordnungen bekannten Grundrechten identisch sind. Sie stammen zudem auch in der Genese unmittelbar von diesen Grundrechten ab, wie die Herleitung der Gemeinschaftsgrundrechte aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zeigt.8 Der Unterschied zu den nationalen Grundrechten wirkt sich – nach dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs – nur im begrenzten besonderen Anwendungsbereich (gemeinschaftsrechtliche Sachverhalte) aus. Auch der Begriff „Grundrechte“ als solcher entzieht sich weitgehend einer einheitlichen, verbindlichen Definition.9 In der verfassungsrechtlichen wissenschaftlichen Literatur fehlt eine abstrakte Umschreibung des Begriffs ebenso wie in den einleitenden Passagen zu den Kommentierungen der entsprechenden Artikel des Grundgesetzes. In der Regel wird der Begriff vorausgesetzt und unmittelbar die Herleitung oder die Unterscheidung in die einzelnen Arten von Grundrechten (Abwehrrechte, Leistungs- und Teilhaberechte) angesprochen. Erst bei der Darstellung dieser einzelnen Grundrechtsfunktionen werden konstituierende, unverzichtbare Tatbestandsmerkmale genannt. Wegen der großen Bandbreite der grundrechtlichen Funktionen scheint für den Oberbegriff die Festlegung solcher Tatbestandsmerkmale offenbar nicht sinnvoll.10 Am nächsten kommt einer echten Definition in dem Zusammenhang die Schilderung dessen, was Starck unter Freiräume garantieren bzw. Rechtspositionen einräumen, in die die hoheitliche Gewalt nicht ohne weiteres eingreifen darf. Im Idealfall müssten Gemeinschaftsgrundrechte einheitlich im Gemeinschaftsgebiet gelten und jede Form hoheitlicher Gewalt, also Mitgliedstaaten wie Gemeinschaften binden“, vgl. dazu Schubert, S. 214, wo er den fragmentarischen/abgeleiteten Charakter der Gemeinschaftsrechtsordnung zum Anlass nimmt, die Marktfreiheiten als „echte“ Gemeinschaftsgrundrechte im strengen Sinne auszuschließen. 8 Siehe oben unter C. I. im ersten Teil. 9 Das stellt etwa Zampini, R.T.D.E. 1999, S. 659, 668 im Rahmen ihrer Untersuchung zur Grundrechte-Rechtsprechung des Gerichtshofs in einem Halbsatz fest: „l’expression „droits fondamentaux“ (. . .) ici, comme souvent d’ailleurs, reste relativement plastique et floue“, mit einem Verweis auf Picard, AJDA 1998, 651, der noch lakonischer konstatiert: „on n’a jamais vraiment défini de facon essentielle ce qu’est réellement un droit fondamental“; ähnlich Regeling, Grundrechtsschutz, S. 171 f. 10 Vgl. etwa: v. Münch, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz, Rn. 1, 3, 16 zu Vorb. zu Art. 1–19 GG; Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Rn. 1 zu Art. 1 GG.
A. Kriterien für eine Grundrechtsqualität der Grundfreiheiten
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„verfassungsrechtlichem Grundrechtsschutz“ versteht. Die Verfassung gewährleiste demnach bestimmte Erscheinungsformen menschlichen Daseins und Verhaltens als körperliche, seelische, räumliche Integrität, als Handlungs- und Unterlassungsfreiheiten (. . .) und formuliere zu diesem Zweck Grundrechte, in denen der jeweilige Schutzbereich definiert sei.11 Interessant sind im vorliegenden Fall der Gemeinschaftsgrundrechte, die sich per definitionem nicht ausschließlich aus einer rechtsordnungsimmanenten Argumentation heraus begründen lassen, insbesondere die Erklärungsversuche, die über den juristischen Rahmen hinausgehen und den politischen und historischen Rahmen mit einbeziehen. Danach sind Grundrechte beispielsweise „die der Einzelperson zustehenden Rechte, die für sie meist durch die Verfassung als Elementarrechte verbürgt sind.“12 Die Grundrechte seien weitgehend identisch mit den Menschenrechten. Sie seien im Grundgesetz mehr als bloße Programmsätze, nämlich unmittelbar geltendes Recht.13 Weiter sind Grundrechte beschrieben als „der Einzelperson zustehende Freiheitsrechte, die in modernen Verfassungen meist verbürgt sind.“ Sie seien teilweise Menschenrechte, teilweise Elementarrechte, deren Anerkennung und Ausgestaltung vom Willen des Gesetzgebers abhängen. Ihrem Wesen nach seien Grundrechte Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat.14 Dass die Definitionen, die sich eine abschließende Umschreibung des Begriffs „Grundrechte“ zutrauen, aus dem „untechnischen“ lexikalischen Bereich stammen, kann als Hinweis auf deren vorrechtliche Herkunft verstanden werden, sollte aber nicht überbewertet werden. Auch diese Definitionen greifen alsbald auf die Funktionen der Grundrechte (Freiheitsrechte, Abwehrrechte) zurück, um die abstrakte Ebene verlassen zu können. Das Bemühen, nicht unnötig abstrakte Abgrenzungsleistung erbringen zu müssen, zeigt sich auch darin, dass die genannten Beispiele von den Grundrechten „des Grundgesetzes“ ausgehen und damit bereits eine Eingrenzung vornehmen. Sowohl in den verfassungsrechtlichen als auch in den nicht-juristischen Definitionen wird zunächst deutlich, dass – in sehr offener Weise – ein hoher normativer Rang und ganz allgemein eine hohe Bedeutung („Elementarrechte“) als Merkmale von Grundrechten angesehen werden. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Ein taugliches Abgrenzungskriterium – vor allem in 11
Starck, in: v. Mangoldt/Klein, Grundgesetz, Rn. 228 zu Art. 1. Creifelds, Rechtswörterbuch, S. 537 f. 13 Creifelds, Rechtswörterbuch, S. 537 f. 14 Meyers, S. 67 (Bd. 9); Ritter, Historisches Wörterbuch (1974) S. 921; Weiler, Constitution, S. 103, bietet mehrere Wege an, sich dem Wesen eines Grundrechts zu nähern: Zum einen die Gottesebenbildlichkeit (Gen 1, 27), zum andern aber auch die Funktion der Grundrechte als Mittel, um Macht steuern und eingrenzen zu können. 12
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
Richtung der Grundfreiheiten – folgt daraus nicht. Ein hoher normativer Rang und eine „Wichtigkeit“ lassen sich, auch ohne weiteren Untersuchungsergebnissen vorgreifen zu müssen, auch für die Grundfreiheiten unproblematisch annehmen. Als weitere Gemeinsamkeit der genannten Definitionen kommt aber die Bezugnahme auf den „Einzelnen“ oder die „Einzelperson“ hinzu. Dieser Ansatz, die Grundrechte vom Einzelnen, vom Individuum her zu erklären, liefert den entscheidenden inhaltlichen Ausgangspunkt für jede Beschäftigung mit der Rechtsnormkategorie „Grundrechte“. Der Rechtsschutzgedanke und die zentrale Rolle des Individuums sind prägende Merkmale des ansonsten wenig scharf konturierten „abstrakten“ Grundrechtsbegriffs. Sie verbinden nationale, internationale Grundrechte und Gemeinschaftsgrundrechte. Diese enge Verbindung der Idee eines Grundrechts mit dem einzelnen Rechtsinhabers und daher mit dem Begriff des „subjektiven Rechts“, das dem Einzelnen eine starke materielle Rechtsposition zusichert, ist zu Beginn der Untersuchung kurz dargestellt worden.15 Dort wurde auch die Einschränkung erwähnt, unter der diese weitgehende Gleichsetzung der Begriffe „Grundrecht“ und „subjektives Recht“ wegen der Weiterentwicklung der Grundrechte von Abwehrrechten zu stärker objektiv-rechtlich geprägten Garantien gesehen werden muss. Vor allem die verfassungsrechtlichen Definitionen zeigen, dass die Grundrechte in den staatlichen Verfassungsordnungen mittlerweile Funktionen haben, die über die eines reinen Abwehrrechts hinausgehen (Wertordnung, Programmsätze, Institutionengarantien). Falls ein Grundrecht wahlweise als Teil einer objektiven Wertordnung oder als subjektives Rechts eines einzelnen Bürgers ausgedrückt werden könnte, würde das ersichtlich die Abgrenzungsleistung schwächen, die das Merkmal der „Subjektivität“ der Grundrechte – in Gegenüberstellung zu den Grundfreiheiten als objektiven Binnenmarktregeln – erbringen kann. Diesen Einwänden ist im Zusammenhang mit der Arbeitshypothese eingangs des ersten Teils der Untersuchung begegnet worden. Das subjektive Element ist als ursprünglich bestimmende Merkmal der Grundrechte auch nach deren Öffnung für objektive Elemente das prägende Merkmal. Hinzu kommt, dass die Gefahr von Widersprüchen zur hochentwickelten Grundrechtsdogmatik dadurch entschärft werden kann, dass ein bewusst reduziertes Grundrechtsmodell (Grundrecht als klassisches Abwehrrecht) gewählt und auf eine abschließende Definition der Grundrechte auf Ebene des Gemeinschaftsrecht gerade verzichtet wird. Es soll im Folgenden nur ein grundrechtlicher Kern festgelegt und die Nähe der Grundfreiheiten zu diesem – eindeutig grundrechtlichen – Kern abgemessen werden. Dieser Kern kann für den Vergleich mit den Grundfreiheiten genutzt werden, ohne dass – etwa aufgrund einer „zu eng gewählten Definition“ – andere (objektive) Funktionen der 15
Siehe oben A. II. 4. zu Beginn des ersten Teils.
A. Kriterien für eine Grundrechtsqualität der Grundfreiheiten
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Gemeinschaftsgrundrechte präkludiert würden. Eine Aussage darüber, ob die Grundfreiheiten möglicherweise mit einzelnen objektiv-rechtlichen Funktionen (zukünftiger) Gemeinschaftsgrundrechte zur Deckung zu bringen sind, wird auf diese Weise vermieden. Die Fragestellung bleibt bewusst auf den Vergleich der subjektiv geprägten Teilaspekte der Grundrechte mit den Grundfreiheiten beschränkt. Der Vorwurf liegt nahe, einen Vergleich durchführen zu wollen, dessen Objekte zuvor bereits so zugeschnitten wurden, dass das Ergebnis durch die Definitionen vorgegeben ist. Aus dieser ernst zu nehmenden Gefahr eines Zirkelschlusses kann zum einen der Hinweis auf das zeitliche Moment befreien. Die subjektiven und die objektiven Aspekte der Grundrechte lassen sich klar auf verschiedene Entwicklungsstufen einer Verfassungsordnung aufteilen. Für die Gemeinschaftsrechtsordnung kann von einer Phase ausgegangen werden, in der die Grundrechte (noch) in einem vorrangig subjektiven Stadium ausgebildet sind. Der zweite Grund, warum ein Zirkelschluss nicht zu befürchten ist, liegt in der Argumentationsweise des Gerichtshofs selber. Das juristische Arbeiten mit „Grenzpunkten“, „Mindestanforderungen“ und dem Verzicht auf überflüssige Festlegungen ist dem Gemeinschaftsrecht und vor allem dem Gerichtshof nicht fremd.16 Sobald Grundrechte nachweislich „überwiegend“ subjektive Elemente aufweisen und Grundfreiheiten „überwiegend“ objektiv sind, kann mit diesen vereinfachenden Aussagen gearbeitet werden, ohne die Grau- und Mischzone zu ignorieren, die sich daraus ergibt, dass in vielen Fällen beide Rechtsnormkategorien auch Elemente der jeweils anderen Gruppe aufweisen. Für die Abgrenzung der beiden Kategorien gegeneinander muss es zulässig sein, auf das Mittel der Polarisierung zurückzugreifen. Die vorliegende Arbeit will – nach Art einer Zentrifuge – die subjektiv-rechtlichen und die objektiv-rechtlichen Elemente innerhalb der jeweils zu untersuchenden Vorschriften sauber trennen. II. Zweckfreiheit des Schutzes und Subjektivität als kennzeichnende Merkmale der Gemeinschaftsgrundrechte Die Frage nach der Grundrechtsqualität der Grundfreiheiten kann daher für die weitere Untersuchung von einer abschließenden Definition des Begriffes „Grundrecht“ gelöst werden. Als Messlatte, an der die Grundfreiheiten gemessen werden sollen, reicht die Festlegung eines grundrechtlichen Mindeststandards aus. Das vereinfachte Modell eines Abwehrrechts, das einen grundrechtlich geschützten Freiraum umspannt, kann die nötige Ab16 Siehe oben A. II. 4. die Arbeitshypothese und unter A. III. die Zusammenfassung der methodologischen Vorüberlegungen.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
grenzungsleistung erbringen, um im hier interessierenden Zusammenhang auf Abstand zu den Grundfreiheiten zu gehen, ohne damit spätere zusätzliche Funktionen/Aspekte der Grundrechte ausschließen zu müssen. Die Frage, die über die grundrechtliche Qualität der Grundfreiheiten Auskunft geben soll, liest sich demnach wie folgt: „Gewähren die einzelnen Grundfreiheiten einen fest umrissenen Bereich, in dem zugunsten eines Einzelnen dessen Wille und dessen Interessen unter Schutz gestellt sind, und zwar (a) unabhängig von den Interessen, die als Binnenmarktziele durch die Grundfreiheiten verfolgt werden, und (b) grundsätzlich zunächst unabhängig davon, aus welcher Richtung die Position des Einzelnen bedroht wird?“
Mit dieser durch die beiden Einschränkungen verschärften Fragestellung sind die Hauptargumentationslinien vorgegeben: sachlich-gegenständlich umrissener Schutzbereich, Zweckfreiheit und Orientierung des Schutzes auf den geschützten Einzelnen hin, unabhängig von der Person des Eingreifenden. Die Wahl dieser Kriterien, um den grundrechtlichen Kern zu beschreiben, soll im Folgenden kurz begründet werden. 1. Der klar bestimmbare Schutzbereich als erste Mindestvoraussetzung eines Grundrechts
Als erste Voraussetzung wird nach einem klaren, unbedingten Anwendungs- bzw. Schutzbereich des Rechts gefragt, das als Grundrecht eingestuft werden soll. Bestimmte Ausschnitte aus der Lebenswelt (Handlungen, Situationen, Absichten, Zustände) werden a priori unter den Schutz eines Grundrechts gestellt. Die Situationen, die auf diese Weise im „Schutzbereich“ des Grundrechts zusammengefasst werden können, weisen gemeinsame Elemente und Interessenlagen auf der tatsächlichen Ebene auf, die sie zugleich von anderen Sachverhalten unterscheiden. Sofern eine Handlung oder ein Zustand die Merkmale erfüllt, um unter diese geschützten Sachverhalte gezählt zu werden, greift der Schutz des Grundrechts zunächst ein. Ob und wieweit ein Eingriff dennoch möglich bleibt, wird in einem zweiten gedanklichen Schritt geprüft. Typische Schutzbereiche sind etwa einzelne Tätigkeiten (Berufstätigkeit, Meinungsäußerungen, Sich-Versammeln). Die Grundrechte und die Grundfreiheiten laufen in diesem Punkt auf den ersten Blick parallel, denn auch die Grundfreiheiten beschreiben in ihrem Tatbestand eine bestimmte Handlung, für die sie Schutz gewähren. Den Schutz des Art. 39 EGV können etwa nur Arbeitnehmer für sich geltend machen, während der Art. 43 EGV aus der Vielzahl der unternehmerischen Entscheidungen, die täglich in der Gemeinschaft getroffen werden, diejenigen herausfiltert, die die Gründung einer Niederlassung im Nachbarstaat zum Ziel haben. Einige dieser grundfreiheitlichen Schutzbereiche sind näher an den klassischen Grundrechten, wie sie aus den nationalen Verfassun-
A. Kriterien für eine Grundrechtsqualität der Grundfreiheiten
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gen bekannt sind. Das gilt etwa für die Freizügigkeit, die zugleich auch von ihrem Regelungsinhalt näher an der Person des Einzelnen ist. Andere Grundfreiheiten sind stärker gesamtwirtschaftlich orientiert, wie etwa die Warenverkehrsfreiheit oder die Dienstleistungsfreiheit. Grundrechte wie „Allgemeine Handlungsfreiheit“ oder „Freiheit des wirtschaftlichen Handelns“ zeigen aber, dass ein wirtschaftlicher Bezug ebenso wenig wie die „Weite“ der geschützten Handlungen die prinzipielle Einordnung als Grundrechte gefährden kann. 2. Die Zweckfreiheit des Schutzes als zweite Mindestvoraussetzung eines Grundrechts
Die erste Einschränkung dieser Definition eines Kern-Grundrechts, der Halbsatz „(. . .) unter Schutz gestellt wird, und zwar unabhängig von den Interessen, die als Binnenmarktziele durch die Grundfreiheiten verfolgt werden“
steht für das Merkmal der Zweckfreiheit, die nach der hier vertretenen Ansicht das prägende Kennzeichen eines echten Grundrechts ist. Für die Grundrechte ist der Schutz der Freiheit „um ihrer selbst willen“ das bestimmende Wesensmerkmal. Die durch die einzelnen Grundrechte gewährleistete Freiheit wird etwa in der deutschen Verfassungslehre als „Freiheit schlechthin, nicht Freiheit zu bestimmten Zielen oder Zwecken“ angesehen.17 Diese Einschränkung ist eng verknüpft mit der vorgehenden Frage nach dem klar konturierten Schutzbereich, innerhalb dessen eine Handlung grundsätzlich jedenfalls zunächst „unbedingt“ geschützt wird. Denn die Zweckfreiheit oder – im Gegenbeispiel – die Koppelung an einen Primäroder Sekundärzweck spiegelt sich notwendig in der Definition des Anwendungsbereiches und in der Ausgestaltung des Tatbestandes wider. Ein Grundrecht bestimmt die Reichweite seines Schutzes „flächig“, d.h. aufgrund eines offenen Programms, das mit einer Größe auskommt, um die Zahl und Art der Fälle zu bestimmen, die unter den Schutz des Grundrechts fallen. Diese Größe ist in der Regel dem gesellschaftlichen Umfeld des Menschen entnommen und legt einen sachlich-gegenständlichen Ausschnitt 17
Vgl.: Böckenförde, NJW 1974, S. 1529, 1530 f. „Ob, aus welchen Motiven und zu welchen Zwecken die Grundrechtsträger von ihrer grundrechtlichen Freiheit Gebrauch machen, ist – im Rahmen der allgemein festgelegten Verträglichkeitsgrenzen der Freiheit – ihre Sache und Entscheidung; es kann daher nicht Gegenstand rechtlicher Bewertung durch den Staat und ebenso wenig Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Differenzierung des Freiheitsumfangs sein“; auf S. 1538 ausdrücklich Böckenförde: „Freiheit um ihrer selbst willen“; vgl. Masing, Die Mobilisierung der Bürger für die Durchsetzung des Rechts, S. 158, dort Fn. 433; Weiler, EJIL 3 (1992) S. 65, 90 f.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
aus der Lebenswelt als geschützten Bereich fest.18 Ob der Schutz des Grundrechts „theoretisch und logisch“ eingreift oder nicht, hängt allein von der Situation – d.h. der Tätigkeit oder des Status – ab, in der der Schutzsuchende sich befindet. Die Art und Weise, in der die Schutznorm dem Einzelnen den Schutz zukommen lassen möchte, oder andere, zusätzliche Faktoren spielen an diesem Punkt der logischen Prüfung noch keine Rolle. Die Grundfreiheiten dagegen gewähren ihren Schutz – wie noch zu zeigen ist – nur selektiv nach einem Raster, das an einer Fremdnützigkeit orientiert ist.19 Nur punktuell wird die Tätigkeit bzw. Situation geschützt, wenn sie nämlich in einen Vergleich (grenzüberschreitend/nicht grenzüberschreitend) eintritt. In einem eindimensionalen Programm nach Art der Grundrechte ließe sich eine solche zusätzliche Rasterung der Schutzwirkung nicht erzielen. Dass dieselbe Tätigkeit anders zu schützen ist, wenn sie grenzüberschreitend stattfindet, kann nur über eine zusätzliche Steuerungsgröße (Abbau der Disparitäten) erklärt werden. Der Vergleich mit den Grundfreiheiten an dieser Stelle zeigt bereits, dass dieses Kriterium die Hauptlast der Abgrenzung der Grundrechte gegenüber den Grundfreiheiten tragen wird. Der hier gewählte Ansatz, das Wesen eines Kern-Grundrechts an das Kriterium der Zweckfreiheit zu binden, muss sich daher die Frage gefallen lassen, ob nicht auch Grundrechte mit einem Zweck gekoppelt werden können, ohne dass das ihre Qualität als Grundrechte beeinträchtigen könnte. Auch Grundrechte können von demjenigen, der sie gewährt, mit Hintergedanken zugestanden werden, und – möglicherweise ohne dass der Grundrechtsträger sich dessen bewusst wäre – auf diese Weise nicht allein dem Schutze des Individuums, sondern zugleich einem für den „Potentaten“ oder die Allgemeinheit nützlichen Zwecke dienen. Falls diese These zuträfe, wäre die Eignung der Zweckfreiheit als Abgrenzungskriterium zu den Grundfreiheiten in Frage gestellt. Denn wenn selbst die Grundrechte zur Lenkung eingesetzt und mit sekundären Regelungszwecken befrachtet werden dürften, könnte für die Grundfreiheiten keine Minderung der Rechtsschutzfunktion gesehen werden, selbst wenn 18 Nur scheinbare Ausnahmen sind die Grundrechte, die nicht tatsächliche Positionen schützen, sondern die Institutionen schützen, wie etwa das Eigentumsrecht. Auch hier wird der Schutzbereich in der Regel letztlich durch sachlich-gegenständliche Parameter begrenzt (Besitz, der durch die rechtliche Garantie zu Eigentum veredelt ist). Das greift allerdings möglicherweise nicht mehr ab dem Moment, in dem es um geistiges Eigentum geht. 19 Auch die Gemeinschaftsgrundrechte können nur dort schützen, wo es um gemeinschaftliche Sachverhalte geht. Diese Filterfunktion der fehlenden Zuständigkeit des Gerichtshofs für rein nationale Sachverhalte setzt aber auf einer vorgelagerten Ebene an und betrifft nach der hier vertretenen Ansicht nicht die Normstruktur der Grundrechte als solche, vgl. die Unterscheidung der Funktion des „grenzüberschreitenden Elements“, das für die Grundfreiheiten Tatbestandsmerkmal und für die Gemeinschaftsgrundrechte „Sachurteilsvoraussetzung“ ist.
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von einem äußerst kritischen Szenario – Rechte aus den Grundfreiheiten als bloßer „erfreulicher Nebeneffekt“20 einer wirtschaftslenkenden Norm – ausgegangen wird. In der Tat lassen sich Beispiele finden, in denen Grundrechte als politisch-gesellschaftliche Steuerungsmittel („funktionale Strukturelemente“)21 eingesetzt werden könnten. Durch die Gewährung bestimmter Grundrechte lassen sich beispielsweise einzelne Gruppen und bestimmte Verhaltensweisen innerhalb eines Gemeinwesens fördern. Die Ausgestaltung der wirtschaftsbezogenen Grundrechte kann nicht ohne Auswirkung auf die Struktur und Färbung einer Volkswirtschaft bleiben. Bereits die Frage, ob bestimmte Grundrechte gewährt werden oder nicht, ist ein originäres Lenkungsmittel des Verfassungsgebers.22 Diese Verbindung mehrerer Regelungsziele in einer Norm wird in der Literatur vereinzelt zum Regelfall erhoben. Jedes subjektive Recht habe stets zugleich die Funktion, die objektive Rechtsordnung zu bestärken und sei daher immer zweckgebunden.23 Das spräche ganz ersichtlich dagegen, die Zweckfreiheit als taugliches Abgrenzungskriterium zwischen verschiedenen Gruppen subjektiver Rechte zu wählen. Jede denkbare subjektive Ausrichtung einer Norm würde durch eine solche regelmäßige zusätzliche objektive Zweckbindung ausgeglichen. Der Begriff des „subjektiven Rechts“ liefe leer.24 Mit dieser Argumentation der Zweckgebundenheit aller Rechtsnormen entfernt sich diese Ansicht vom Ausgangspunkt der subjektiv-rechtlichen Lehre. Während bislang nur der Schutz spezifisch-individueller Belange die Anerkennung subjektiver Rechte legitimieren konnte, werde nun gerade die „die subjektiven Belange übersteigende Bedeutung“ das entscheidende Kriterium für den Umfang des individuellen Rechts. Nicht zur Stärkung des Privatschutzes, sondern um der öffentlichen Bedeutung willen werde die Rechtsstellung des Einzelnen ausgebaut.25 20 Pfeil, Historische Vorbilder, S. 267; Clapham, Critical Overview, S. 69; Weiler, EJIL 3 (1992) S. 65, 90. 21 Masing, Mobilisierung der Bürger, S. 155. 22 Vgl. zur demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie zusammenfassend Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1535. 23 Masing, Mobilisierung der Bürger, S. 150, 152 f. 24 Auch wenn das abgestritten wird, vgl. Masing, Mobilisierung der Bürger, S. 158, dort Fn. 433. Dass er die Grundrechte als subjektiv-öffentliche Rechte im klassischen Sinne ansieht, stellt Masing außer Zweifel. 25 Masing, Mobilisierung der Bürger, S. 157, 178, 181. Der Einzelne findet – mehr als in reflexhaft faktischer Nebenfolge privatnütziger Befugnisse – durch Erweiterung seiner individuellen Befugnisse rechtliche Anerkennung als Träger öffentlicher Funktionen. In den Formulierung, die Masing hier wählt, klingt die Idee der „funktionalen Subjektivierung“ der gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften durch die
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
Diese Ansicht hebt – wenn man ihre Prämissen zu Ende denkt – die Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Elementen innerhalb einer Rechtsnorm auf. Ob die so geschilderte Rolle des einzelnen Rechtsinhabers als Träger einer öffentlichen Funktion für bestimmte Normentypen Gültigkeit hat, kann dahinstehen. Jedenfalls für die Grundrechte ist die Relevanz dieser Ansicht im Ergebnis gering. Denn die Grundrechte werden dem Einzelnen nicht als Träger einer öffentlichen Funktion verliehen. Das zeigt sich bereits daran, dass das oben skizzierte Konzept den vorrechtlichen Charakter vieler Grundrechte nicht hinreichend zum Ausdruck bringen kann. In ihrer ursprünglichsten Form als „Freiheit vom Staat“ sind diese Grundrechte der staatlichen Steuerung durch „Gewährung“ oder „Nicht-Gewährung“ weitgehend entzogen. Das gilt in besonderem Maße für die Abwehrrechte, die dem für die vorliegende Untersuchung gewählten Modell eines Kern-Grundrechts am nächsten kommen. Diese Abwehrrechte können schwerlich zur Durchsetzung einzelner politischer Ziele instrumentalisiert werden. Dass bestimmte Freiheitsrechte – Meinungsfreiheit, Koalitions- und Versammlungsfreiheit – für den demokratischen Prozess nicht nur nützlich, sondern unverzichtbar sind, steht dazu nur scheinbar im Widerspruch.26 Diese Verknüpfung der Grundrechtsgewährung mit dem positiven Effekt für die Staatsform der Demokratie ist nicht gleichzusetzen mit der Verknüpfung einer Rechtsgewährung mit der Nützlichkeit für ein politisches Ziel (Binnenmarkt), das selber erst aufgrund des demokratischen Prozesses festgelegt werden konnte. Sowohl Smend als auch ihm folgend Masing sprechen zwar von der öffentlichen Funktion der Grundrechte im Gegensatz zur individualistisch-privaten Rolle der Grundrechte. Sie meinen damit aber nicht eine lenkende öffentliche Funktion, die von einer herrschenden Gruppe gefördert wird, sondern eine „integrative“ öffentliche Funktion, die gerade eine Steuerung „von unten“ ermöglichen soll, als Stärkung der Freiheit des Einzelnen und zusätzliches demokratisches Gegengewicht gegen obrigkeitliche Einflussnahme.27 Das zeigt, dass Ursache und Wirkung – und damit auch Instrument und Zweck – nicht aus ihrem zeitlich-logischen Verhältnis gerissen werden dürfen. Der individuelle Gebrauch der genannten demokratischen Grundrechte des Grundgesetzes nützt der Verwirklichung und Festigung der gewählten Staatsform. Es kann daraus nicht im Umkehrschluss gefolgert werden, dass dieselben Grundrechte gezielt zur Förderung des demokratiunmittelbare Wirkung an, vgl. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Rn. 21 zu Art. 249 EGV. Siehe oben A. I. 2. im ersten Teil. 26 Masing, Mobilisierung der Bürger, S. 150; Böckenförde, NJW 1974, S. 1529, 1535. 27 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119, 260 ff.; Smend, Recht der freien Meinungsäußerung, S. 89, 96 ff. und 106 ff.; Masing, Mobilisierung der Bürger, S. 156.
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schen Prozesses, der Werteverwirklichung und der Integration des politischen Gemeinwesens eingespannt werden oder ihren Grund in dieser Wirkung tragen. Im Übrigen müssen auch die Verfechter der objektiv-steuernden Grundrechtskonzeption zugeben, dass eine „demokratisch-funktionale Auslegung“ den Grundrechten ihren subjektiv-individualschützenden Kern nicht nehmen kann. Auch in der funktionalen Lesart blieben die Freiheitsrechte subjektiv-öffentliche Rechte im Sinne der hergebrachten Lehre. Das funktionale Verständnis könne nicht in Frage stellen, dass die Grundrechte auch und gerade der privaten, inhaltlich nicht vorstrukturierten Freiheit des Einzelnen dienten.28 3. Die Zuordnung auf den Inhaber des Rechts (Subjektivität) als dritte Mindestvoraussetzung eines Grundrechts
Mit dem klar abgegrenzten sachlich-gegenständlichen Schutzbereich und der Zweckfreiheit sind zwei Eckpunkte eines Gemeinschaftsgrundrechts vorgegeben. Eine dritte Anforderung findet sich in dem präzisierenden Halbsatz der oben entwickelten Fragestellung, die von einem Grundrecht verlangt, dass es die Interessen des Einzelnen in alle Richtungen verteidigt, und zwar „(. . .) grundsätzlich zunächst unabhängig davon, aus welcher Richtung diese Positionen des Einzelnen bedroht werden.“
Dieses zusätzliche Erfordernis berührt die Frage nach dem Adressaten der Grundfreiheiten und damit der Drittwirkung von Vorschriften des Gemeinschaftsrechts. Eine Position, die unabhängig von der Angriffsrichtung geschützt wird, ist deutlich als ein Recht wahrnehmbar, das der Person des Berechtigten unmittelbar zugeordnet wird. Wenn die Person des Angreifers und damit desjenigen, der aufgrund einer Rechtsnorm ein bestimmtes Interesse nicht verletzen darf, in den Hintergrund tritt, so rückt damit der Geschützte in den Mittelpunkt der systematischen Überlegungen (Subjektivität). Auf diese Weise lässt sich die – sehr schwierige und nicht mit letzter Exaktheit mögliche – Abgrenzung zwischen solchen Normen treffen, die in erster Linie Verpflichtungen aussprechen, und solchen, die in erster Linie einem Rechtsgutträger ein Recht zuweisen. Dass hier gefordert wird, die individuelle Rechtsposition nicht nur im Verhältnis des Einzelnen gegenüber der staatlichen Gewalt, sondern a priori auch gegenüber anderen Gewalten zu schützen, geht bewusst über die Mindestanforderungen hinaus, die an ein – nationales – Abwehrgrundrecht ge28 Masing, Mobilisierung der Bürger, S. 158 f., dort Fn. 433, sowie S. 150 „Als Abwehrrechte stehen die Grundrechte im je individuellen Interesse des Grundrechtsträgers und sichern dessen bürgerliche Sphäre“; Gellermann, Grundrechte, S. 3 f., 46.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
stellt werden. In seiner ursprünglichen Form ist ein Grundrecht ein Abwehrrecht des Einzelnen gegen den Staat. Eine Drittwirkung ist für die Grundrechte auf nationaler Ebene keineswegs selbstverständlich und unumstritten. Die Festlegung auf dieses zusätzliche Kriterium bildet daher eine offene Flanke für Kritik. Dennoch soll an diesem Merkmal als einem typisch grundrechtlichen Merkmal festgehalten werden. Erst die Frage nach der Geltung einer Norm auf verschiedenen Ebenen (staatliche Gewalt, Verhältnis einzelner Privater untereinander) zwingt zur Beschäftigung mit der Struktur einer Norm als subjektives Recht oder objektive Regel. Die Drittwirkung ist der Testfall für die Art und Weise, wie eine Rechtsnorm ihren Regelungsauftrag umsetzt. Das gilt verstärkt für ein System wie die Gemeinschaftsrechtsordnung, in der die starren Kategorien von Staatsgewalt auf der einen und Bürgern auf der anderen Seite von einem mehrschichtigen, komplexeren Beziehungsgeflecht abgelöst werden. Die Ausweitung des Kreises der Personen, denen gegenüber Grundrechte geltend gemacht werden können, ist daher – wie bereits zu Beginn der Untersuchung gezeigt – auch eine Anpassung des Begriffs des „subjektiven öffentlichen Rechts“ an die besonderen Gegebenheiten des Gemeinschaftsrechts.
B. Die Grundfreiheiten sind keine Grundrechte Ein klar umrissener Schutzbereich, die Zweckfreiheit und die Ausrichtung auf den Rechtsinhaber (Subjektivität) sind als Mindestvoraussetzungen eines Gemeinschaftsgrundrechts festgelegt und als Kriterien begründet worden. Mit der Zweckfreiheit, und im Gegenschluss mit der Zweckgebundenheit, ist zugleich das Abgrenzungskriterium gefunden, das die klare Trennung von Grundfreiheiten und Grundrechten ermöglicht. Anders als die Grundrechte sind die Grundfreiheiten des EG-Vertrags über ihre Normstruktur untrennbar an die Binnenmarktnützlichkeit gekoppelt. Dass sie mittlerweile unstrittig auch individualschützenden Charakter haben, kann die vorrangige Ausrichtung der Grundfreiheiten an den Binnenmarktzielen nicht aufwiegen. Die Funktion als Steuerungsprogramm für den Binnenmarkt holt die individualschützende Funktion der Grundfreiheiten – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – immer wieder ein und relativiert diese schützende Komponente so stark, dass von einem grundrechtlichen Schutz nicht mehr gesprochen werden kann. I. Der „instrumentale“ Charakter als bestimmendes Merkmal der Grundfreiheiten Die Zweckgebundenheit der individuellen Rechtsgewährung durch die Grundfreiheiten wird in der vorliegenden Untersuchung in dem Kürzel
B. Die Grundfreiheiten sind keine Grundrechte
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„Grundfreiheiten sind instrumental“ oder in der Aussage „Die Grundfreiheiten sind instrumentale Rechtsnormen“ zusammengefasst. Dieses Zwischenergebnis – „Grundfreiheiten sind instrumental“ – leitet sich aus der Zusammenschau einer Reihe von Beobachtungen her, die bei der Analyse der Grundfreiheiten im ersten Teil der Arbeit gemacht werden konnten. Auf die Ergebnisse der entsprechenden Passagen soll hier zurückgegriffen werden. Dazu gehört als wichtigster Befund die Funktion der Grundfreiheiten als Aus- und Angleichungsprogramm, die sich am ursprünglichen Wortlaut der Grundfreiheiten im Vertrag, sowie an der Normstruktur nachweisen lässt. Die Entstehungssituation und der Text der Römischen Verträge von 1957 lassen an der Rolle der Grundfreiheiten als juristisch-politische Werkzeuge zum Abbau der Segmentierung des gemeinsamen Marktraumes keine Zweifel. Diese Ratio der Grundfreiheiten ist – wie die Untersuchung der Dogmatik der Grundfreiheiten zeigt – so stark in deren Tatbestand und Normstruktur verankert, dass auch die durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs erfolgte Anreicherung mit individualschützenden „grundrechtlichen“ Funktionselementen nicht dazu führen kann, dass die Grundfreiheiten ihrem Wesen nach zu Grundrechten verändern. Auch zum heutigen Zeitpunkt weisen die Grundfreiheiten dieselben Strukturelemente auf, die ihre ursprüngliche Zweckrichtung und die enge Anbindung an die politisch-volkswirtschaftlichen Ziele des Art. 3 Abs. 1 lit. c EGV – wenn auch durch eine teilweise grundrechtliche Einfärbung hindurch – verraten. Das wichtigste Strukturelement ist der Zuschnitt des Tatbestandes der Grundfreiheiten auf einen – tatsächlichen oder gedanklichen – Grenzübertritt oder eine Auslandsberührung. Daneben sind es das Fehlen einer Spürbarkeitsschwelle und – eng damit verbunden – die prinzipiell fehlende Bindungswirkung auf der Ebene der privaten Rechtsbeziehungen, die im Folgenden zum Beweis des fortbestehenden instrumentalen Charakters angeführt werden. 1. Der Begriff „instrumental“: Die Grundfreiheiten als Werkzeuge und Programm
Die Umschreibung „instrumental“ wird vereinzelt in der Literatur in dem hier interessierenden Zusammenhang verwandt. Auf eine verbindliche Definition des Begriffs „instrumental“ legt sich keiner der Autoren fest.29 Die 29 Ausdrücklich bei Gersdorf, AöR, S. 405 „Objektiv-instrumentales Verständnis der Grundfreiheiten“; Weiler, EJIL 3 (1992) S. 65, 90 f.; ähnlich: Benjes, Personenverkehrsfreiheiten, S. 150, Forsthoff, EWS 2000, S. 389, 392; Schubert, Gemeinsamer Markt als Rechtsbegriff, S. 408 f.; Clapham, Critical Overview, S. 10; Kühling, in: Bogdandy, Verfassungsrecht, S. 583, 628 spricht von „funktionalistischen“ Wurzeln der Grundfreiheiten.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
Art und Weise, in der Clapham sich dieses Ausdrucks bedient, kommt der Vorstellung, die in der vorliegenden Arbeit zugrundegelegt wird, bereits recht nahe. Clapham spricht von den Grundfreiheiten als „tools and weapons“.30 Das Bild kann – über den Kontext, in den Clapham es gestellt hat, hinaus – als programmatische Kurzform der Unterscheidung der Grundfreiheiten und der Grundrechte ausgebaut werden. Die Grundrechte sind dann Waffen in den Händen der Bürger, die sich gegen Einschränkungen wehren, während die Grundfreiheiten Werkzeuge in den Händen der Vertragsstaaten sind, mit denen die Einzelmärkte aneinandergekoppelt werden können („tools for integration“).31 Die Grundfreiheiten waren in der Tat von Beginn ihrer Geltung an Werkzeuge zur Erreichung eines bestimmten Politikziels. Ihr Normprogramm zielt auf den Abbau der Grenzen zwischen den Teilmärkten, um so den Binnenmarkt als einen gemeinschaftsweiten Marktraum ohne Segmentierungen zu schaffen. Am Ende dieses Prozesses soll nicht nur ein Raum ohne Binnengrenzen stehen. Nach dem Willen der Gemeinschaft sollen in diesem Marktraum darüber hinaus auch weitgehend homogene wirtschaftliche Bedingungen herrschen. Einige wichtige wirtschaftliche Rahmenbedingungen werden auf Ebene des Gemeinschaftsrechts einheitlich für den gesamten Marktraum bestimmt („positive Integration“/Sekundärrecht oder Harmonisierung durch Rechtsangleichung). Den wichtigsten Schritt zur Angleichung der Markt- und Lebensbedingungen leisten aber nach wie vor die Grundfreiheiten, indem sie die Unterschiede zwischen den einzelnen Teilmärkten kompensieren und damit die Trennwände aufheben, die diese einzelnen Teilmärkte voneinander trennen. Denn erst in dem Moment, in dem der Warenfluss über die Grenze gegenüber dem Warenfluss, der im eigenen Land bleibt, nicht mehr benachteiligt ist, spielen die Staatsgrenzen keine Rolle i. S. einer Trennwand mehr sondern verhalten sich wirtschaftlich neutral und hören damit in kaufmännischer Hinsicht auf zu existieren. Diese An- und Ausgleichungsfunktion der Grundfreiheiten war im ersten Teil der Untersuchung Gegenstand einer ausführlicheren Darstellung. Dort wurde der ausgleichende Fluss der Waren, Personen und Dienstleistungen im Binnenmarkt mit dem physikalischen Diffusionsmodell verglichen.32 Konzentrationsunterschiede innerhalb einer Flüssigkeit oder eines Raumes gleichen 30 Clapham, Critical Overview, S. 10 „The dual role of rights, as tools for integration and weapons in the hands of the citizens.“ 31 Die Abweichung von Claphams Originalzitat liegt in der Gegenüberstellung der Grundfreiheiten mit den Grundrechten. Clapham schreibt die beiden genannten Funktionen den Grundfreiheiten zu. Eine Aufteilung der Funktion als „Waffe“ und der Funktion als „Werkzeug“ auf die beiden verschiedenen Normkategorien von Grundrechten und Grundfreiheiten nimmt er nicht vor. Das soll aber im Modell der Doppelfunktionalität geschehen, siehe unten C. I. 32 Siehe oben B. I. 1. im ersten Teil.
B. Die Grundfreiheiten sind keine Grundrechte
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sich durch die Eigenbewegung der Teilchen über die Zeit aus. Nur Membrane zwischen einzelnen Teilräumen stehen einer vollständigen Nivellierung der physikalischen Parameter im Gesamtraum entgegen. Dieser Vergleich ist auch hier wieder von Bedeutung. Die Grundfreiheiten tragen zu der angestrebten gleichmäßigen Ausbreitung der einzelnen Wirtschaftsfaktoren im Gesamtraum bei, indem sie die Durchlässigkeit der Membrane erhöhen. Als trennende Membrane stehen auch im geöffneten Binnenmarkt wegen ihrer abschreckenden Wirkung die Mehrkosten an der Grenze im Raum. Der Fluss über diese Hürden wird, wenn auch nicht aufgehalten, so doch verlangsamt. Auf diese Weise bleibt der Gesamtraum in Teilsegmente zerteilt. Indem die Grundfreiheiten diese Mehrkosten neutralisieren, befördern sie den Waren-(Faktor-)Austausch durch diese Membrane hindurch. 2. Die Persistenz der instrumentalen Strukturelemente trotz der Ausweitung der Grundfreiheiten zu weitergehenden Rechtspositionen in der Rechtsprechung des Gerichtshofs
Mittlerweile haben sich die Grundfreiheiten von rein objektiv-rechtlichen Regeln zu subjektiven Rechten der einzelnen Marktbürger weiterentwickelt. Ihre auch individualschützende Wirkung steht außer Frage. Wenn der Einzelne die Chancen des Binnenmarktes nutzen möchte und sich dabei Hindernisse vor ihm auftun, die nicht mit den Grundfreiheiten vereinbar sind, kann er diese Barrieren unter Berufung auf die Grundfreiheiten aus dem Weg räumen. Das ist für einzelne Autoren Anlass, von einer Weiterentwicklung der Grundfreiheiten zu echten Grundrechten zu sprechen.33 Diese angebliche „Entwicklung“ von einem Ausgangszustand in einen Zielzustand soll im Folgenden in Zweifel gezogen werden. Ändern die Grundfreiheiten tatsächlich ihre Normstruktur, weil der Einzelne sie in einem Gerichtsverfahren zu seinen Gunsten geltend machen kann? Wirken sich die minimalen sprachlichen Änderungen im Wortlaut nach Amsterdam auf die Struktur der Grundfreiheiten aus, so dass im Jahre 2002 unter „Grundfreiheiten“ nicht mehr dasselbe zu verstehen ist wie im Jahre 1957 bei Abschluss der Pariser Verträge? Am Beispiel der oben bereits angesprochenen einzelnen Strukturmerkmale der Grundfreiheiten kann gezeigt werden, dass diese sich auch unter dem Einfluss der verstärkt subjektiv-rechtlichen Auslegung durch den Gerichtshof nicht wesentlich gewandelt haben. 33
Siehe oben B. II. 2. und 4. des zweiten Teils; Notthoff, RIW 1995, S. 541, 544 f.; Bleckmann, Europarecht, S. 269; Bleckmann, GS Sasse, S. 665, 666 f., 675 f.; Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 139, 141, 175; Pernice, NJW 1990, S. 2409, 2413. vgl. aber S. 2417; Hirsch, Gemeinschaftsgrundrechte als Gestaltungsaufgabe, S. 15, 23; Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, S. 485.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
a) Das Tatbestandsmerkmal des „grenzüberschreitenden Bezugs“ als unveränderliches Normprogramm der Grundfreiheiten Als eines der Hauptargumente für eine tiefgreifende Strukturveränderung der Grundfreiheiten in Richtung einer Grundrechtsähnlichkeit ist im Schrifttum der Schritt vom Diskriminierungsverbot zum allgemeinen Beschränkungsverbot genannt worden. Dieser Punkt erlaubt wichtige Aussagen über die Struktur der beiden Normkategorien. Wenn die Grundfreiheiten sich tatsächlich von ihrem gleichheitsrechtlichen Ansatz gelöst haben sollten und die Bewegungsfreiheit von Gütern und Personen als solche schützen, wäre der enge Bezug zur Zweckbestimmung der Grundfreiheiten – die An- und Ausgleichsfunktion – aufgehoben. Das ist aber in der großen Mehrzahl der Entscheidungen nicht der Fall. Es hat sich gezeigt, dass die Fälle, die als Beispiele für die Ausweitung der Grundfreiheiten zu allgemeinen Beschränkungsverboten genannt werden, in der Regel Fälle von weitverstandenen Diskriminierungsverboten sind. Das haben Kingreen, Jarass, Simm und andere Autoren in ihren Untersuchungen nachweisen können. Der behauptete Schritt vom Diskriminierungsverbot zum Beschränkungsverbot hat nicht stattgefunden, zumindest nicht an der Stelle, die häufig als Trennlinie zwischen Diskriminierungsverbot und Beschränkungsverbot verzeichnet worden war.34 Die Grundfreiheiten sind und bleiben Gleichheitsrechte. Die vereinzelten Ausnahmen, wie vor allem die Entscheidung Bosman und einige verwandte Entscheidungen, in denen nach der hier vertretenen Auffassung die Grenze zum Beschränkungsverbot tatsächlich überschritten wurde, lassen sich aufgrund der besonderen Sachverhaltskonstellationen klar als eigene Fallgruppe isolieren und bestätigen damit die Regel. Die Grundfreiheiten bleiben somit über das Tatbestandsmerkmal des „grenzüberschreitenden Bezugs“ in ihrem ursprünglichen Normprogramm verhaftet. Die Grundfreiheiten sollen einen Ausgleich herbeiführen. Ein Ausgleich setzt einen Unterschied voraus. Ein Unterschied kann nur dort bestehen, wo zwei Objekte vorhanden sind und miteinander verglichen werden. Der Weg ins Ausland muss steiniger sein als der Weg im Inland. Die Grundfreiheiten greifen in dem Moment ins Leere, in dem in allen Punkten des Gesamtmarktraums dieselben Rahmenbedingungen herrschen. Wenn es dann nur noch darum geht, ob diese Rahmenbedingungen insgesamt in die 34 Jarass, FS Everling, S. 593, 599 ff., 606 f.; Jarass, EuR 1995, S. 202, 216 ff., 218; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 16 f., 85, 118 ff., 190 ff.; Kingreen/ Störmer, EuR 1998, S. 263, 268 f., 288; Simm, Der Gerichtshof im föderalen Kompetenzkonflikt, S. 67 ff., 157 ff., 209 f., 257 ff.; im Ergebnis auch Hoffmann, Grundfreiheiten als Abwehrrechte, S. 31 f., 37 f., 51 ff., 101 f., 206, trotz seiner Versuche, sich von dieser Position zu distanzieren. Vgl. S. 72, 73 f.; Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 62 f., 65; Marenco, C.D.E. 20 (1984) 291 ff.; siehe oben B. II. 3. im ersten Teil.
B. Die Grundfreiheiten sind keine Grundrechte
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eine oder andere Richtung angehoben, abgesenkt, verschoben werden, schweigen die Grundfreiheiten. Eine solche weitergehende regelnde Wirkung haben sie nicht. Die notwendige Voraussetzung des grenzüberschreitenden Bezugs, die – anders als bei den Grundrechten – zum Tatbestand der Norm gehört, erweist sich also als sichtbare Ausprägung des zweckgebundenen, instrumentalen Ansatzes der Grundfreiheiten. Ohne dieses Tatbestandsmerkmal können die Grundfreiheiten nicht „gedacht“ werden. Sie existieren auch als „Idee“ oder „Konzept“ nur, wenn das Merkmal gegeben ist. Die Grundrechte dagegen können zwar möglicherweise ebenfalls im konreten Fall nicht zur Anwendung gebracht werden, wenn ein „grenzüberschreitender Bezug“ fehlt. Auch ohne das Merkmal ist ein „Freizügigkeitsgrundrecht“ oder ein „Meinungsfreiheitsgrundrecht“ aber als „Idee“ oder „Konzept“ ohne Einschränkung vorstellbar. Auch die verstärkte Ausrichtung der Grundfreiheiten auf den Einzelnen als Grundfreiheitsberechtigten (Subjektivierung), die in der Literatur als Beweis für die Überwindung der Gegensätze zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten angesehen wird, reicht nicht aus, um von einer Veränderung der Normstruktur der Grundfreiheiten in Richtung eines grundrechtlichen Schutzes zu sprechen. Der Rechtsschutz, den die Grundfreiheiten gewährleisten, wenn sie zur Anwendung gelangen, ist sicher mehr als nur eine formale Rechtsstellung. Der Schutz der Grundfreiheiten ist mit materiellen Inhalten ausgefüllt worden. Die Zweckgebundenheit der Grundfreiheiten führt aber dazu, dass die Grundfreiheiten diesen Schutz nur punktuell in Fällen gewähren, in denen das Schutzinteresse des Einzelnen – mehr oder weniger zufällig – mit dem Binnenmarktinteresse identisch ist. Diese logisch-systematische Nachordnung der Schutzgewährung überlagert und schwächt die Rechtsschutzfunktion der Grundfreiheiten so stark, dass von einer echten, materiell-rechtlich bedeutsamen „Subjektivierung“ nicht gesprochen werden kann. Einen Kernbereich, innerhalb dessen die Freiheit des Einzelnen „um ihrer selbst willen“ geschützt ist, gibt es bei den Grundfreiheiten gerade nicht. Der freie Zug oder der freie Handel werden nur in dem Moment geschützt, in dem die geplante Bewegung zugleich die Durchmischung des Binnenmarktes und den Gefälleausgleich zwischen den Teilmärkten fördert.35 Das wird sehr deutlich, wenn man ganz bewusst die Perspektive des privaten Marktteilnehmers einnimmt. Dem einzelnen Bürger kommt es nicht darauf an, bestehende Unebenheiten innerhalb des Binnenmarktes abzubauen. Er handelt nicht, um Disparitäten im Binnenmarkt durch seinen Beitrag zum Warenfluss auszugleichen. Er möchte vorteilhaft ein- und verkaufen und einen guten Preis für seine Dienstleistung oder Arbeitskraft erzie35
Vgl. Hilson/Downes, E.L.Rev. 24 (1999) S. 121, 121, 133.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
len. Wenn er ins Ausland geht oder ins Ausland exportiert, dann geschieht das im Einzelfall möglicherweise, weil er damit einem – wirtschaftlich betrachtet – irrationalen Wunsch nachgibt.36 In der Regel erhofft sich der Einzelne aber von diesem Schritt eine Rendite. Vor einem solchen Schritt wird der Einzelne eine vergleichende Rechnung aufmachen: Welche Rendite ergibt sich aus einem Inlandsgeschäft, welche aus dem Auslandsgeschäft. Gibt es eine bessere Rendite im eigenen Land, so ist sein Wille (nach den Annahmen der wirtschaftswissenschaftlichen Erklärungsmodelle) stärker auf einen Verkauf im Inland als auf die Warenbewegung über die Grenze gerichtet. Die spezifischen Probleme der Teilmärkte innerhalb des Binnenmarktes treten dem einzelnen Handeltreibenden als ein Hindernis und Ärgernis unter vielen denkbaren anderen Hindernissen entgegen. Sein Schutzinteresse ist darauf gerichtet, nicht ungerechterweise mit Mehrkosten belastet zu werden, ohne dass ihn der Grund dieser Mehrkosten – der historisch zersplitterte Marktraum – interessierte. Es sind allein die Staaten, die an dieser selbstgestellten Aufgabe der Schaffung eines einheitlichen Marktraums festgehalten werden können. Die Gemeinschaft hat ein Interesse an der Erreichung dieses Ziels. Die Staaten haben sich dazu verpflichtet, auf dieses Ziel hin zu arbeiten. Die einzelnen Bürger dagegen haben sich nicht dazu verpflichtet, einen Markt ohne Binnengrenzen zu schaffen. Der Einzelne, der sich auf eine Grundfreiheit beruft, arbeitet – ob er will oder nicht – an dieser Aufgabe der Mitgliedstaaten mit. Der Nutzen, den der Einzelne aus der Berufung auf die Grundfreiheiten erlangt, kann im Einzelfall beachtlich sein. Zugleich wird der Einzelne sich nur dann an der Mitwirkung am Binnenmarkt beteiligen, wenn er sich davon einen Vorteil verspricht. Diese Mitwirkung des Einzelnen ist nicht gleichbedeutend mit einer Degradierung des EU-Bürgers durch die Grundfreiheiten, die ihn etwa zum „nützlichen Idioten“ der Europäischen Einigung machen. Die Grundfreiheiten als „instrumental“ zu bezeichnen, heißt nicht zwangsläufig auch davon auszugehen, dass die Grundfreiheiten den Einzelnen für den Binnenmarkt instrumentalisieren. Zwischen einer Norm, die den Einzelnen instrumentalisiert und einer Norm, die – wie für die Grundrechte unterstellt – dem Einzelnen zweckfreien Schutz gewährt, liegt der weite Raum von Normen, die mehrere Regelungsziele verfolgen. Es reicht aus zu sagen, dass das eine Regelungsziel (Binnenmarkt) auf das zweite Regelungsziel (Rechtsschutz) zurückwirkt, um den Grundfreiheiten den Status eines Grundrechts wegen der Interferenz der beiden Schutzwirkungen abzusprechen. Diese Bindung des grundfreiheitlichen Schutzes an die Binnenmarktnützlichkeit wird greifbar, wenn die Perspektive aus Sicht des Einzelnen beibe36 Und etwa aus „aus Liebe“ eine Grenze überquert, wie Frau Ingetraut Scholz, vgl. EuGH v. 23.2.1994, Rs. C-419/92,“Ingetraut Scholz“, Slg. 94, S. 505 ff.
B. Die Grundfreiheiten sind keine Grundrechte
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halten und auf die Spitze getrieben wird. Es wurde nachgewiesen, dass der Schutz durch die Grundfreiheiten gegen Null tendiert, wenn die Waren-Bewegung, die vom Einzelnen angestrebt wird, zum Abbau der Disparitäten im Marktraum nichts beitragen kann, weil sie im eigenen Land bleibt (Moser/Iorio/Jägerskiöld) oder weil keine Disparitäten zwischen den Teilmärkten mehr da sind (Bosman/Torfaen), die Bewegung sich also neutral gegenüber dem Binnenmarkt verhält.37 Die Linie kann gedanklich darüber hinaus verlängert werden. Dann wäre nach dem Schutz der Grundfreiheiten zu fragen, den diese für den Willen des Einzelnen bereitstellen, der den Binnenmarktzielen nicht nur neutral gegenübersteht, sondern ihnen entgegengerichtet ist. Will man den Willen des Einzelnen zweckfrei schützen, so müsste ein Einzelner sich im Zweifel auf Art. 39 EGV berufen können, um seine persönliche Freiheit durchsetzen zu können, auch wenn der Gebrauch dieser Freiheit eine negative Auswirkung für die Integrationsbilanz des Binnenmarktes mit sich brächte. Eine solche „negative Freizügigkeit“ ist für die Grundfreiheiten unvorstellbar. Die Unmöglichkeit, ein Beispiel zu bilden, das einen solchen „passiven, verlangsamenden Willen“ mit dem Ziel einer Grundfreiheit vereinen könnte, deutet auf die Ungeeignetheit des Mechanismus der Grundfreiheiten hin, den Willen des Individuums als solchen zu schützen. Für grundrechtliche Normen dagegen ist diese Zielrichtung die gewohnte Abwehrrichtung. Grundrechte können und müssen gerade in der Belastungsprobe auch einem entgegengerichteten Mehrheitswillen standhalten.38 Für den Binnenmarkt heißt das: Solange die Grundfreiheiten nicht auch eine Schutzwirkung entfalten können, die im Einzelfall zu einer Verlangsamung der Marktintegration oder zu einer Verfestigung von Teilmarktsituationen führen kann, sind sie keine Grundrechte. b) Das Fehlen einer Spürbarkeitsschwelle als Zeichen des fortbestehenden instrumentalen Charakters der Grundfreiheiten Ganz entscheidend für den Nachweis dessen, was hier als „instrumentaler Charakter“ der Grundfreiheiten nachgezeichnet werden soll, ist die Tatsache, dass der Gerichtshofs keine Spürbarkeitsschwelle für die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten kennt. Das hat zur Folge, dass eine Maßnahme, die 37 EuGH v. 23.1.1986, Rs. 298/84, „Iorio“, Slg. 86, S. 247, 255, Rz. 14 f.; EuGH v. 28.6.1984, Rs. 180/83, „Moser“, Slg. 84, S. 2539, 2547 f., Rz. 15 ff.; EuGH v. 21.10.1999, Rs. C-97/98, „Jägerskiöld“, Slg. 99, S. 7319, 7345 f., Rz. 42 bis 45; EuGH v. 15.12.1995, Rs. C-415/93, „Bosman“, Slg. 95, S. 4921 ff.; EuGH v. 23.11. ff.; EuGH v. 16.12.1992, Rs. 169/91, „B&Q“, Slg. 92, S. 6635 ff.; EuGH v. 23.11.1989, Rs. C-145/88, „Torfaen“, Slg. 89, S. 3851 ff. 38 Vgl. dazu Schubert, Gemeinsamer Markt als Rechtsbegriff, S. 408 f.; Bleckmann, GS Sasse, S. 665, 667 „In dubio pro libertate“; Weiler/Lockhart, C.M.L.R. 32 (1995) S. 579, 625.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
unberechtigt in eine der Marktfreiheiten eingreift, wegen Verstoßes gegen Art. 28 f. EGV, Art. 39 EGV, Art. 43 EGV oder Art. 49 EGV gemeinschaftsrechtswidrig und damit unanwendbar ist, auch wenn dieser Eingriff in seiner tatsächlichen Auswirkung nur minimal ist. Jede noch so geringfügige Herabsetzung eines Sachverhalts mit grenzüberschreitendem Bezug gegenüber den rein innerstaatlichen Sachverhalten ist ein binnenmarktfeindlicher Zustand und löst den Verbotsreflex der Grundfreiheiten aus. Das ist unter Effizienzgesichtpunkten folgerichtig: Eine Norm, deren Programm die Angleichung der Marktverhältnisse ist, kennt keine logische oder vernünftige Grenze der Ungleichheit, an der ihre ausgleichende Funktion Halt machen müsste. Aus Sicht der Staaten ist eine solche enge Führung entlang der Ziele der Gemeinschaft berechtigt. Sie haben sich zum Ausbau eines solchen – perfekten – Marktes verpflichtet und sind von dieser Pflicht nur in Ausnahmefällen befreit. Eine Grauzone, in der sie beliebig gegen die Grundfreiheiten agieren dürfen, weil der Verstoß im Einzelfall gering wiegt, soll es nicht geben. Gerade bei staatlichem Handeln wirkt sich über das Gesetz der großen Zahl auch eine kleine Beeinträchtigung der Marktfreiheiten in der Gesamtbilanz negativ aus, abgesehen von der negativen Vorbildfunktion eines solchen gemeinschaftsrechtswidrigen staatlichen Handelns in der Grauzone. Das Instrument der Grundfreiheiten soll nach dem Willen der Verträge und des Gerichtshofs daher seine Schärfe auch im „Feinbereich“ behalten und bis ins Detail und in die Ebene der – bei isolierter Betrachtung – kaum spürbaren Effekte hinein voll funktionsfähig bleiben. Das Interesse des Staates, grundfreiheitswidrig zu handeln, ist – außerhalb der Rechtfertigungsgründe des Art. 30 EGV und der ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe – nicht schützenswert, so dass es keinen Grund für eine DeMinimis-Regel gibt.39 Diese Besonderheit bei der Anwendung der Grundfreiheiten gilt auch für die Rolle der Grundfreiheiten als subjektive Rechte der EU-Bürger. Eine Spürbarkeitsschwelle, unterhalb derer eine grundfreiheitswidrige Maßnahme nicht vor Gericht gebracht werden darf, gibt es nicht. Der Einzelne kann eine grundfreiheitswidrige Maßnahme, die ihn in seinem geplanten grenzüberschreitenden Markthandeln stört, auch dann erfolgreich unter Berufung auf die Grundfreiheiten zu Fall bringen, wenn die Maßnahme für ihn einen kaum spürbaren Effekt hat. Es reicht die hypothetische Möglichkeit einer grenzüberschreitenden Transaktion, die er – wie er selber nur behaupten
39
Daher weist etwa Wolf, JZ 1994, S. 1151, 1157 zu Recht auf die Spürbarkeitsschwelle als Hauptunterschied zwischen den Grundfreiheiten und den „faktischen Grundrechtsbeeinträchtigungen“ hin. Dort ginge es gerade darum, die Spürbarkeitsgrenze nachvollziehbar offen zu legen; Cruz, E.L.Rev. 24 (1999) S. 603, 619; nicht ganz klar bei Schindler, Kollisionsmodell, S. 184 f.
B. Die Grundfreiheiten sind keine Grundrechte
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muss – nicht ausführt, weil sie ihm im Verhältnis zu einer innerstaatlichen Transaktion nicht erfolgsversprechend scheint. Die Kräfteverhältnisse, die in diesem Mechanismus wirken, um das Verbot einer Grundfreiheit auszulösen, geben erneut den Blick auf den „instrumentalen Charakter“ der Grundfreiheiten frei. Die Intensität der Beschwer, die der Einzelne erleidet, findet im Normprogramm der Grundfreiheiten keine Berücksichtigung. Eine kaum spürbare Zurücksetzung löst ebenso das Verbot aus wie eine tiefgreifende Benachteiligung, eine offene Herabsetzung oder ein Einfuhrverbot. Sobald eine Diskrepanz – welcher Art auch immer – zwischen zwei Teilmärkten vorgetragen wird, ist der Automatismus in Gang gesetzt und die Maßnahme wird verboten. Eine Abstufung nach der Intensität der Benachteiligung ist im weiteren Ablauf des Normprogramms nicht mehr vorgesehen.40 Über diese Wirkweise der Grundfreiheiten kann daher unter Umständen eine extreme Hebelwirkung ausgeübt werden. Auch diese potenziell disproportionale Verteilung von Auslöser und Wirkung ist starkes Indiz dafür, dass der Schutz, den der Einzelne genießt, ein Reflex der objektiven Verpflichtung ist, die sich die Mitgliedstaaten mit den Grundfreiheiten selber auferlegen. Der geschilderte Mechanismus versagt in dem Moment, in dem nicht ein Mitgliedstaat gegen eine Grundfreiheit verstößt, sondern ein Privater. Während es – aus den genannten Gründen – vertretbar scheint, die Mitgliedstaaten auch für minimal-relevante Verstöße gegen die Art. 28 ff. EGV verantwortlich zu machen, zögern die meisten Autoren zu Recht, auch von privaten Wirtschaftsteilnehmern eine solche hundertprozentige Beachtung der Grundfreiheiten einzufordern.41 Der Einzelne darf sich demnach grundfreiheitswidrig verhalten und muss sein Verhalten auch nicht über einen der Ausnahmetatbestände rechtfertigen, solange sein Verstoß nicht eine gewisse Intensitätsschwelle überschreitet und einen anderen Privaten in dessen Rechten spürbar trifft. Nach der hier vertretenen Lösung erklärt sich auch diese unterschiedliche Rolle des Spürbarkeitskriteriums bei Staaten und Privaten dadurch, dass in den Fällen der Drittwirkung der Grundfreiheiten in den Rechtsbeziehungen zwischen den Privaten der Sache nach keine Grundfreiheiten, sondern Grundrechte zur Anwendung kommen. Die Entschei40 Eine gewisse Steuerung erfolgt stets über die Ausnahmemöglichkeiten. Während krasse Verstöße in der Regel nur über die schriftlichen Rechtfertigungsgründe des Art. 30 EGV gerechtfertigt werden können, sind die unterschiedslosen Maßnahmen über die ungeschriebenen Rechtsfertigungsgründe leichter zu rechtfertigen, vgl. Jarass, EuR 2000, S. 705, 723, der eine „stufenlose“ Regelung über den Grad der Diskriminierung vorschlägt. Das soll aber nicht von der Rolle des Spürbarkeitskriteriums ablenken. Denn eine solche De-Minimis-Regel wirkt sich vor allem dann aus, wenn eine Maßnahme nicht über Rechtfertigungsgründe von ihrer Rechtswidrigkeit befreit werden kann. 41 Siehe oben B. II. 4. im ersten Teil.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
dung Keck macht allerdings möglicherweise eine Neubestimmung dieser Positionen notwendig, wenn man in dem Urteil die versteckte Einführung eines Spürbarkeitserfordernisses sieht.42 II. Die Antwort auf die Ausgangsfrage: Die Grundfreiheiten sind keine Grundrechte Die beiden untersuchten tragenden Strukturelemente der Grundfreiheiten, die für deren instrumentalen Charakter prägend sind (grenzüberschreitendes Element, Fehlen einer Spürbarkeitsschwelle), haben im Wortlaut und in der Rechtsprechung des Gerichtshofs keine Veränderung erfahren, auch wenn die Vorschriften der Art. 28 EGV, Art. 39 EGV, Art. 43 EGV und Art. 49 EGV seit ihrem Inkrafttreten eine Vielzahl an Erweiterungen des Anwendungsbereichs, Anpassungen an neue Funktionen oder neue Verpflichtete durchlaufen haben. Die beiden „instrumentalen“ Strukturmerkmale bewirken auch in der gegenwärtigen Ausgestaltung der Grundfreiheiten, dass im Zweifel deren Schutz endet, sobald der Nutzen für den Abbau von Disparitäten im Binnenmarkt gegen Null tendiert. Eine an sich schutzwürdige Position, die dem Beschleunigungs- und Durchmischungsziel der Binnenmarktvorschriften zuwiderläuft, fällt von vornherein aus dem Regelungsbereich der Grundfreiheiten heraus. Das reicht aus, um den Individualrechtsschutz so stark zu schwächen, dass von einem grundrechtlichen Schutz nicht mehr die Rede sein kann. Damit ist die angestrebte Trennung der subjektiven und der objektiven Funktionen einer Rechtsnorm in der Zentrifuge möglich. Für Grundrechte gilt, dass sie den Rechtsschutz als ihr primäres Regelungsziel von der Einflussnahme weiterer sekundärer Regelungsziele freihalten. Für die Grundfreiheiten lässt sich diese Aussage nicht treffen. Bei ihnen ist der Rechtsschutz im Gegenteil durch die weiteren Regelungsziele bedingt. Eine Gleichsetzung der beiden Kategorien scheidet bereits aus diesem Grund aus. Die Grundfreiheiten sind keine Grundrechte. Das hat für die Dogmatik der Grundfreiheiten die weitere Folge, dass die Kontur der grundfreiheitlichen Funktion geschärft werden kann. Die Grundfreiheiten können auf ihre ursprüngliche Aufgabe und Funktion zurückgeführt werden. An Stelle einer Vielzahl von Funktionen kann eine einheitliche Funktion der Grundfreiheiten als Aus- und Angleichungsprogramm für den Binnenmarkt gesetzt werden. Ein solcher Ansatz setzt sich – wie gezeigt – auch in der wissenschaftlichen Literatur zur Dogmatik der Grundfreiheiten verstärkt durch. Damit wird zugleich den Bestrebungen entgegengetreten, die Grundfreiheiten über die gleichheitsrechtliche Funktion hinaus 42 Steiner, C.M.L.R. 29 (1992) S. 749, 767 f., 772; Schubert, Gemeinsamer Markt als Rechtsbegriff, S. 187; Barnard, E.L.Rev. 26 (2001) 35, 58.
C. Die Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
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auch verstärkt zum Schutze individualrechtlicher Positionen heranzuziehen. Der Vorteil dieser Rückbesinnung auf die Ratio der Grundfreiheiten als Gleichheitsrechte ist eine einheitlichere und überzeugendere Erklärung ihrer Wirkweise.43 Ein Nachteil scheint auf den ersten Blick die Einbuße an Rechtsschutzmöglichkeiten für den Einzelnen zu sein. Ein zweiter Nachteil mag im „Nachlassen“ des Integrationsdrucks für den Binnenmarkt gesehen werden. Dass diese Gefahren nicht bestehen, sondern dass die scheinbaren Verluste an individuellem Rechtsschutz und an Binnenmarktkonformität auf anderer Ebene aufgefangen und kompensiert werden, soll in den beiden folgenden Kapiteln dargelegt werden.
C. Die Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten (Modell) Die Grundfreiheiten sind keine Grundrechte. Dieses Ergebnis kann als Antwort auf die Ausgangsfrage an dieser Stelle der Untersuchung festgehalten werden. Die Unterschiede in Herkunft, Zielrichtung und Struktur der beiden Normkategorien reichen aus, um die Wesensgleichheit und damit eine Gleichsetzung auszuschließen. Beide Normen sind subjektive Rechte. Trotz zahlreicher Überschneidungen führen die jeweiligen Eigenheiten der Grundfreiheiten und der Grundrechte dazu, dass innerhalb des Oberbegriffes „subjektive Rechte“ eine so starke Polarisierung eintritt, dass mit den Grundfreiheiten und den Grundrechten zwei separate Normkategorien mit klar unterscheidbarer Normstruktur isoliert werden können. Die Grundfreiheiten streben dabei erkennbar dem objektiv-rechtlichen Pol zu, während die Grundrechte dem subjektiv-individualschützenden Pol angenähert sind. Die Grundfreiheiten bleiben damit Grundgleichheiten. Sie bleiben objektive Verbote von Versuchen, den Binnenmarkt zu segmentieren oder aus dessen fortdauernder Segmentierung Profit zu schlagen. Über diese Verbote soll auf lange Sicht der vollständige Abbau aller Disparitäten erreicht werden. Die Grundfreiheiten geben als An- und Ausgleichsnorm das Programm vor, über das der Binnenmarkt sich durch freien Fluss der Produktionsfaktoren selber schaffen soll. Der Vorteil eines präzise und eng gefassten Konzepts der Grundfreiheiten liegt in der Möglichkeit einer eindeutigen und abgeschlossenen Dogmatik, die – frei von Rücksichtnahmen auf grundrechtliche Einsprengsel – die Marktfreiheiten als Marktgleichheiten abbildet. Deren Funktionsweise kann sauber und ohne Interferenzen dargestellt und erklärt werden. Der Preis für 43 Vgl. etwa Ziekow, Freizügigkeit und Aufenthalt, S. 17, der vor Auflösungserscheinungen der Grundrechtsdogmatik warnt, weil die Grundfreiheiten in übertriebener Eile zu „staatsrechtlich zu verstehenden Grundrechten“ mutiert seien.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
diesen Zuwachs an Kontur ist eine Verkleinerung des Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten an den Extremen. Die Randunschärfen des Anwendungsbereichs werden beschnitten, indem die Grundfreiheiten auf den Anspruch verzichten, auch diese Grenzfälle regeln zu wollen. Wenn so die Grundfreiheiten auf die Fälle begrenzt werden, in denen es um Marktungleichheiten geht, bleibt ein Bereich an binnenmarktfeindlichen Beschränkungen zurück, auf den die Grundfreiheiten nicht mehr angewendet werden können. Die Grundfreiheiten können dann nicht mehr – wie in den Fällen Bosman, Torfaen, Lehtonen, Deliège, Graf und Alpine Investments – zur Förderung der Mobilität als solcher und damit zur Beschleunigung des Integrationsprozesses eingesetzt werden. Hinzu kommt, dass nach der hier vorgeschlagenen Lesart der Grundfreiheiten eine Bindung privater Wirtschaftsteilnehmer an diese Vorschriften ausgeschlossen ist. In diesem Verzicht der Grundfreiheiten auf Regelungsansprüche über das gleichheitsrechtliche Programm hinaus kann zu Recht – zunächst – eine Schwächung des Individualrechtsschutzes in der EU gesehen werden. Die Erweiterung der Grundfreiheiten von Diskriminierungsverboten zu allgemeinen Beschränkungsverboten und die stärkere Ausrichtung der Grundfreiheiten auf den einzelnen Marktbürger sind als begrüßenswerter Schritt in Richtung eines verstärkten Rechtsschutzes für den Einzelnen im Binnenmarkt gewertet worden. Der Schritt sei Ausdruck einer gewachsenen Bedeutung der individuellen Handlungen und Interessen der EU-Bürger („dritte Ebene“). Unter dieser Prämisse wirkt es in der Tat wie ein Rückschritt, wenn davon gesprochen wird, den Schritt vom Diskriminierungsverbot zum allgemeinen Beschränkungsverbot nicht mit zu gehen, sondern ihn wieder umkehren und die Grundfreiheiten auf ihre ursprüngliche Funktion zurückführen zu wollen. Diese Sorge ist unbegründet. Zum einen bleiben auch nach der Rückführung auf eine gleichheitsrechtliche Dogmatik die Grundfreiheiten subjektive Rechte und können von einzelnen EU-Bürgern vor den Gerichten eingeklagt werden. Eine staatliche Maßnahme, die den Binnenmarkt segmentiert oder die Segmentierung aufrechterhält, kann weiterhin – unabhängig von der Intensität der Beschwer für den Einzelnen – unter Berufung auf die Grundfreiheiten zu Fall gebracht werden. Dass die Grundfreiheiten im Verhältnis zwischen den Privaten keine bindende Wirkung entfalten können, stellt diese nicht schutzlos. Über die grundrechtlichen Kerne in den Grundfreiheiten wird im Ergebnis doch eine Bindungswirkung erreicht, wenn auch mit einer leichten Verschiebung der Schutzrichtung. In den Fällen, in denen ein Privater einen anderen Privaten offen diskriminiert und in dessen persönlichem Achtungs- und Gleichbehandlungsanspruch verletzt, kann der Angegriffene über eine Drittwirkung seines Grundrecht auf Nichtdiskriminierung gemeinschaftsrechtlich geschützt sein. Das Gemeinschaftsgrund-
C. Die Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
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recht „in der Grundfreiheit“ muss auch auf der Ebene der privaten Wirtschaftsbeziehungen beachtet werden. Aus der Bindung an die Grundfreiheiten in ihrer binnenmarktfördernden, marktangleichenden Funktion sind die Privaten dagegen entlassen. Das schafft Freiheiten, die in die Bilanz eingestellt werden können, wenn es darum geht, die Auswirkungen eines neugefassten Grundfreiheitsbegriffs abzuschätzen. Was für die fehlende Drittwirkung der Grundfreiheiten gesagt wurde, gilt gleichermaßen für den Rückzug der Grundfreiheiten aus dem Bereich der „Beschränkungsverbote“. Der Verzicht betrifft nur sehr wenige Konstellationen. In den meisten Fällen hat die Unterscheidung zwischen Grundfreiheiten als allgemeinen Beschränkungsverboten und Grundfreiheiten als weitverstandenen Gleichheitsgeboten sich als lediglich terminologisches Problem erwiesen. Eine Ungleichbehandlung, die eine beschränkende Wirkung entfaltet, darf im Binnenmarkt nicht aufrechterhalten oder geschaffen werden. Nur in den Fällen, in denen sich eine solche Ungleichbehandlung unter keinem denkbaren Gesichtspunkt im Sachverhalt nachweisen lässt, greifen die Grundfreiheiten nach Schärfung ihrer Kontur als Gleichheitsprogramm ins Leere. Hier kompensieren erneut die grundrechtlichen Kerne den Verlust an Individualrechtsschutz. Auch wenn eine Ungleichbehandlung nicht nachweisbar ist, muss ein Arbeitnehmer im Binnenmarkt eine unberechtigte Aufhebung oder Beschränkung seiner Freizügigkeit durch seinen Arbeitgeber nicht schutzlos hinnehmen. Der Gerichtshof gewährt hier der Sache nach Grundrechtsschutz über ein Gemeinschaftsgrundrecht auf Freizügigkeit, auch wenn er – in den Fällen Bosman, Lehtonen, Graf – der Form nach weiterhin die Grundfreiheit des Art. 39 EGV zur Anwendung bringt. Damit sind die Grundfreiheiten offensichtlich auf eine einzige – gleichheitsrechtliche – Funktion reduziert. Zugleich werden auch nach dieser Rückführung auf eine einheitliche Dogmatik eine ganze Reihe verschiedener Funktionen im Zusammenhang mit dem Art. 39 EGV beobachtet, die sich nicht über eine gleichheitsrechtliche Wirkung erklären lassen. Dieser scheinbare Widerspruch soll am Beispiel eines Modells aufgelöst werden.
I. Das Modell der Doppelfunktionalität: Die Grundfreiheiten verdecken grundrechtliche (Kern-)Funktionen Die Beschreibung des Verhältnisses der einzelnen Funktionen einer grundfreiheitlichen Vorschrift zueinander hat prinzipiell auch für die Art. 28 EGV, Art. 43 EGV und Art. 49 EGV Gültigkeit. Bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit sind die einzelnen Funktionen aber am weitesten entwickelt und am deutlichsten ausgeprägt, so dass sich Art. 39 EGV am besten als Vorlage für ein Modell eignet.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
Ausgangspunkt für das Modell ist die Überlegung, dass in den Grundfreiheiten grundrechtliche Kerne enthalten sein können. Diese Kerne nehmen eine grundrechtliche Funktion wahr. Diese Funktion tritt neben die klassisch-grundfreiheitliche Funktion, die die Grundfreiheiten weiterhin in erster Linie ausüben. Es kommt zu einer Verdopplung der Funktion innerhalb einer grundfreiheitlichen Norm.44 In vielen Fällen überdeckt die grundfreiheitliche Wirkung einer Vorschrift die grundrechtliche Wirkung, so dass – wie etwa im Falle des Diskriminierungsverbots, das in jeder Grundfreiheit enthalten ist – die Verdopplung der Funktion nach außen hin nicht ohne Weiteres sichtbar ist. In einigen seltenen Fällen kommt der grundrechtlichen Funktion der Vorschrift ein eigenständiger „überschießender“ Regelungsbereich zu, da die klassisch-grundfreiheitliche Funktion an ihre Grenzen stößt und die fraglichen Konstellationen über ihr gleichheitsrechtliches Normprogramm nicht mehr lösen kann. Das gilt vor allem für die Fallgruppe der „echten Beschränkungsverbote“. Die untenstehende Grafik zeigt am Beispiel der Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 39 EGV die verschiedenen Rechtspositionen, die unter dem Dach einer Grundfreiheit angeordnet sein können.
Art. 39 EGV
Diskriminierungsverbot (DV) Formelles DV
materielles DV / allgemeines BV
Beschränkungsverbot (BV) echtes BV
44 Ganz präzise müsste man von einer „Vervielfältigung“ der Funktionen sprechen, da je nach Grundfreiheit zwei oder mehr Funktionen unterschieden werden können.
C. Die Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
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Die Elemente der Grafik im Einzelnen: 1. Die grundfreiheitliche Funktion des Art. 39 EGV
Das hellgraue Oval steht für die erste und vorrangige Funktion innerhalb des Art. 39 EGV und beschreibt die Reichweite der Grundfreiheiten als „An- und Ausgleichungsnormen“ für den Binnenmarkt. Sie deckt den gesamten Bereich der Diskriminierung ab, wobei bewusst nicht nach der Intensität der Diskriminierung abgeschichtet wird. Ein Spürbarkeitskriterium gibt es nicht. Als Gleichheitssatz ist diese Funktion sehr weit zu verstehen. Das grundfreiheitliche Normprogramm verbietet den Mitgliedstaaten die direkte (formale) Diskriminierung ebenso wie die lediglich mittelbare (materielle) Diskriminierung, die in minimalen Mehrbelastungen für den grenzüberschreitenden Handel bestehen. Im Binnenmarkt soll eine Staatsgrenze sich im Idealfall nicht mehr wirtschaftlich auswirken können. Die Bedingungen, auf die ein Arbeitnehmer an einem beliebigen Punkt des Binnenmarktes trifft, müssen mit denen vergleichbar sein, die er zuhause oder an jedem anderen Punkt des Binnenmarktes erwarten kann. Die Grundfreiheiten werden in dieser Funktion ausschließlich von der Pflichtenseite her gedacht. Sie geben den Mitgliedstaaten und Gemeinschaftsorganen Verhaltensregeln für die Regulierung der Produkt- und Personenbewegungen im Markt vor. Für private Wirtschaftsteilnehmer sind sie nicht bindend. Sie sind objektive Rechtssätze. Dennoch kann ein Einzelner weiterhin die Einhaltung der Grundfreiheiten fordern, wenn er sich durch Disparitäten im Binnenmarkt („Mehrkosten“) beeinträchtigt fühlt. Diese Einklagbarkeit ist allerdings lediglich „Reflex“ der objektiven Rechtsregel. Ein eigenes „materielles“ Recht verleihen die Grundfreiheiten in dieser Funktion nicht. Der subjektive Anteil beschränkt sich auf die formale Möglichkeit, die Vorschrift vor Gericht zur Anwendung zu bringen. Hier fällt der minimale subjektive Anteil der grundfreiheitlichen Funktion mit der „Direktwirkung“ im Sinne der Rechtsprechung in der Folge von Van Gend & Loos zusammen. 2. Die grundrechtlichen Funktionen innerhalb des Art. 39 EGV
Die beiden Kreise stehen für die grundrechtlichen Funktionen, die dem Art. 39 EGV zugeordnet werden können.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
a) Das Gleichheitsgrundrecht in Art. 39 EGV
Der dunkelgraue Kreis innerhalb des hellgrauen Ovals steht für das grundrechtliche Diskriminierungsverbot. Diese Funktion der Grundfreiheit ist der grundrechtsrelevante Kern des in Art. 39 EGV enthaltenen Gleichbehandlungsprogramms. Dieser Kern ist – inhaltlich – gleichzusetzen mit dem „allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz“ des Gemeinschaftsrechts, der als Gemeinschaftsgrundrecht anerkannt ist und deckt sich weitgehend mit dem Regelungsgehalt des Art. 12 EGV. Im Gegensatz zur eben geschilderten grundfreiheitlichen Funktion steht bei der Bestimmung dieses Kerns nicht der objektive Programmsatz „Gleiche wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Binnenmarkt“ im Mittelpunkt. Es geht vielmehr um die subjektive Stellung jedes einzelnen EU-Bürgers im Sinne einer „Gleichen Achtung für jeden Bürger im Binnenmarkt“. Der grundrechtliche Kern markiert das Recht jedes Einzelnen darauf, nicht aufgrund seiner Staatsangehörigkeit diskriminiert zu werden und keine sonstige willkürliche Herabsetzung aus Gründen erdulden zu müssen, die nach der gemeinsamen Wertvorstellung der Gemeinschaft keine zulässigen Differenzierungskriterien sind. Damit schützt das Gleichheitsgrundrecht vor den Diskriminierungen, die nicht allein wirtschaftliche Mehrkosten sind, sondern ihn als Person in seinem grundrechtlichen Anspruch auf gleiche Achtung und Behandlung treffen. Diese Abgrenzung gelingt nicht immer ganz trennscharf. Kriterien der Unterscheidung sind etwa die Nähe der erfolgten Zurücksetzung zur Persönlichkeit des Einzelnen (Sprache, Heimat, Abstammung), daneben aber auch die Verletzungsintensität und die Spürbarkeit der Zurücksetzung. Die Darstellung einer solchen fließenden Grenze zwischen einer bloßen Binnenmarktdiskrepanz und einer grundrechtlich relevanten Diskriminierung im Modell ist nur stark vereinfacht möglich. Nur aus Gründen der Darstellbarkeit soll für das Modell angenommen werden, dass die grundrechtliche Funktion des Diskriminierungsverbots (dunkelgrauer Kreis) eine klar abgrenzbare Teilmenge der grundfreiheitlicher Dimension desselben Diskriminierungsverbots (hellgraues Oval) ist. Dieses Grundrecht auf Nichtdiskriminierung hat der Einzelne auf jeden Fall gegenüber der Gemeinschaft und gegenüber den Mitgliedstaaten. Mit gewissen Einschränkungen kann der Einzelne dieses Recht auf Gleichbehandlung auch gegenüber anderen Privaten einfordern. Dem Willkürverbot kommt demnach eine mittelbare Drittwirkung zu. Da das Gleichbehandlungsgrundrecht – denkbar – in jeder Grundfreiheit zur Anwendung kommt, kann nach außen hin der Eindruck entstehen, die gesamte Grundfreiheit sei
C. Die Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
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für den anderen Privaten bindend, während nach diesem Modell allein die grundrechtliche Funktion diese Bindung herbeiführen kann. b) Das Freiheitsgrundrecht in Art. 39 EGV
Der schwarz-weiß gestreifte Kreis liegt in der grafischen Gestaltung des Modells erkennbar außerhalb des (hellgrauen) Bereiches, der dem weitverstandenen grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbot als An- und Ausgleichungsprogramm zugerechnet werden kann. Eine Besser- oder Schlechterstellung einzelner Teilmarktsituationen findet sich in dem Bereicht nicht. Es sind dies die seltenen Fälle der „echten Beschränkungsverbote“, wie sie im Kapitel zur Dogmatik der Grundfreiheiten im ersten Teil der Arbeit bestimmt und eingegrenzt worden sind.45 Diese grundrechtliche Funktion weist eine echte freiheitsrechtliche Struktur auf. Das Freiheitsrecht ist jedem einzelnen EU-Bürger als individuelle Rechtsposition zugeordnet und schützt ihn vor grundrechtswidriger Beschränkung seiner Freizügigkeit im Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts. Dieses Freiheitsrecht ist ein Gemeinschaftsgrundrecht, das lediglich – aus Gründen, über die spekuliert werden kann – in der Entscheidungspraxis des Gerichtshofs unter dem Dach der Grundfreiheit des Art. 39 EGV angesiedelt ist. Die dogmatische Einordnung dieses Rechts folgt den Regeln für die Gemeinschaftsgrundrechte und nicht den Regeln für die Grundfreiheiten im neugefassten, engverstandenen Sinne. Die Schwierigkeit bei der Beschreibung dieser Freiheitsrechte unter dem Dach der Grundfreiheiten wird es sein, den Kernbereich zu bestimmen, für den der grundrechtliche Schutz greift. Nicht jedes Ärgernis oder Hindernis auf dem „freien Zug“ des europäischen Marktbürgers tangiert ihn zugleich in seinem Grundrecht auf Freizügigkeit. Das unterscheidet dieses grundrechtliche Element innerhalb des Art. 39 EGV von dem grundfreiheitlichen Element, das auch geringste Hindernisse – in der Gestalt von Mehrkosten – auszuräumen versucht. Beim Gemeinschaftsgrundrecht auf Freizügigkeit ist der Schutz auf den Kernbereich beschränkt, in dem sich die Interessen des Geschützten zu einer (grund-)rechtlichen Position verdichtet haben. Nur dort, wo der freie Zug als der freie Willensentschluss, den Ort zu wechseln, negiert oder stark beeinträchtigt wird, löst der Eingriff den Schutz des Freizügigkeitsgrundrechts aus.46 45
Siehe oben B. I. 3. c) im ersten Teil. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen der Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 39 EGV und den anderen Grundfreiheiten. Für Art. 39 EGV fällt es leicht, die 46
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten 3. Die Einordnung des Art. 39 EGV als übergeordnete Kategorie (Dach-Vorschrift)
Die beschriebenen drei Rechte – eine Grundfreiheit und zwei Grundrechte – sind unter dem Dach des Art. 39 EGV zusammengefasst. Der Gerichtshof spaltet bei der Anwendung der Vorschrift in einer konkreten Entscheidung nicht äußerlich erkennbar in diese unterschiedlichen Funktionen auf. Ob der Art. 39 EGV als übergeordnete Einheit dieser Funktionen im Rahmen des Modells weiterhin als „Grundfreiheit“ bezeichnet werden sollte, ist bei strenger Beachtung der hier entwickelten begrifflichen Unterscheidungen zweifelhaft. Denn als „Grundfreiheit“ wird auch und gerade die „instrumentale“ Funktion innerhalb des Art. 39 EGV bezeichnet. Wenn man die Dachvorschrift mit einem neutralen Begriff belegen würde, könnte der Begriff „Grundfreiheit“ für die isolierte grundfreiheitliche Funktion innerhalb des Art. 39 EGV reserviert werden. Es böte sich an, neutral von „Art. 39 EGV“ oder von der „Arbeitnehmerfreizügigkeit“ zu sprechen. So geht der Gerichtshof in seinen Tenorierungen vor, um die Bezugnahme auf die Gesamtvorschrift kenntlich zu machen. Dem verbreiteten Sprachgebrauch in der Literatur folgend soll aber im Rahmen dieser Untersuchung eine gewisse begriffliche Unsauberkeit in Kauf genommen werden und sowohl der Art. 39 EGV als Gesamtvorschrift (hier im Modell der Art. 39 EGV als Dach) als auch dessen grundfreiheitliche Komponente (das hellgraue Oval des Modells) als „Grundfreiheit“ bezeichnet werden. Nur unter dieser Annahme ist es im Übrigen möglich und sinnvoll, von einer „Doppel-Funktionalität der Grundfreiheiten“ und – wie etwa im Titel der Arbeit – von den „Grundfreiheiten als Gemeinschaftsgrundrechten“ zu sprechen.
Existenz eines Freizügigkeitsgrundrechts anzunehmen, das – unter der falschen Etikettierung „Grundfreiheit“ – die Lücke ausfüllt, die aufgrund der Begrifflichkeiten des Modells entstanden ist. Schutzgut und Schutzbereich der Freizügigkeit sind klar umrissen. Mit Art. 18 Abs. 1 EGV und dem sekundärrechtlichen Unterbau im Bereich der Personenverkehrsfreiheiten fand der Gerichtshof ein rechtlich-rechtspolitisches Umfeld vor, das es ihm leicht machte, dieses Grundrecht in der Grundfreiheit zu unterstellen und zur Anwendung zu bringen. Für die anderen Grundfreiheiten fällt das deutlich schwerer. Der Schutzbereich eines Grundrechts auf Warenverkehrsfreiheit ist notwendiger Weise weiter und unbestimmter. Ähnliches gilt für die Dienstleistungsfreiheit. Beide sind nur als „allgemeine wirtschaftliche Handlungsfreiheit“ grundrechtlich fassbar. Zudem fehlt die flankierende Wirkung des Art. 18 Abs. 1 EGV als Zeichen der Reife des entsprechenden Schutzguts auf gemeinschaftlicher Ebene, siehe oben E. III. 2. im ersten Teil.
C. Die Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
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II. Hinweise auf eine Doppelfunktionalität in Rechtsprechung und Literatur Einen zwingenden logisch-systematischen Beweis für die Richtigkeit oder Schlüssigkeit der behaupteten Aufspaltung der Grundfreiheiten in eine grundfreiheitliche und eine grundrechtliche Funktion liefert weder die Literatur noch die Rechtsprechung des Gerichtshofs. Das Erklärungsmodell der Doppelfunktionalität findet aber eine Stütze in einer Reihe von Einzelhinweisen in der Systematik des Gerichtshofs. Ein solcher Hinweis liegt etwa in der – im Ergebnis nur scheinbaren – Widersprüchlichkeit einiger Beobachtungen in der Dogmatik der Grundfreiheiten. Solche Widersprüche ergeben sich etwa daraus, dass die Grundfreiheiten sich in bestimmten Fällen wie Grundrechte verhalten, während in anderen Fällen ihre Funktionsweise nur erklärbar ist, wenn man den objektiv-rechtlichen „instrumentalen“ Ansatz der Grundfreiheiten zugrunde legt. Dieses Auseinanderstreben der individualschützenden und der marktsteuernden Funktion der Grundfreiheiten führt vor allem dann zu einer Spannung innerhalb der Dogmatik der Grundfreiheiten, wenn versucht wird, allgemein gültige Aussagen zum Verhalten der Grundfreiheiten in konkreten – gegenwärtigen oder zukünftigen – Situationen zu formulieren, die beiden Teilaspekten gleichermaßen gerecht werden sollen. Im Grunde steht hinter dem Modell der Doppelfunktionalität nichts anderes als der Versuch, diese innere Spannung dadurch aufzulösen, dass die beiden Funktionsweisen innerhalb der Grundfreiheiten strikt begrifflich getrennt und in der Folge isoliert voneinander systematisch erfasst und dargestellt werden.47 Dieses Auseinanderklaffen der grundfreiheitlichen und der grundrechtlichen Elemente wurde an mehreren Stellen beobachtet, die im ersten Teil der Arbeit herausgearbeitet wurden und daher hier nur kurz aufgelistet werden sollen. Erstes Beispiel war die Existenz der „echten Beschränkungsverbote“ in der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Obwohl in Literatur und Rechtsprechung übereinstimmend die Entwicklung dahin ging, der ausufernden Anwendung der Grundfreiheiten Einhalt zu gebieten und sie auf 47
Das könnte auch als Kapitulation vor der Herausforderung gewertet werden, eine einheitliche Dogmatik der Grundfreiheiten-Grundrechte zu formulieren. Die Vorteile einer klaren Zuordnung der beiden Normtypen zu einem jeweils unterschiedlichen dogmatischen Hintergrund überwiegen aber, zumindest in einem ersten Schritt. Eine Dogmatik der Grundfreiheiten muss von einer Dogmatik der Grundrechte unterscheidbar bleiben, um – wie im Schlusskapitel gezeigt wird – ein missbräuchliches Vermischen der unterschiedlichen Diskurse und Reifestadien zu erschweren. Die klare Zuordnung verhindert ein Aufweichen der beiden Konzepte an den Rändern. Ob dann ausgehend von zwei sicher bestimmbaren Konzepten eine gemeinsame „Dogmatik des gemeinschaftlichen Individualrechtsschutzes“ entwickelt werden sollte, ist eine andere Frage.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
ihre ursprüngliche gleichheitsrechtliche Funktion zu konzentrieren (Keck als Reaktion auf Torfaen), wandte der Gerichtshof zumindest eine der vier Grundfreiheiten (Art. 39 EGV) ausnahmsweise auch auf Sachverhalte an, die außerhalb dessen liegen, was eine Grundfreiheit als Gleichheitsrecht regeln kann (Bosman et al.).48 Ein weiteres wichtiges Beispiel für eine Unstimmigkeit in der grundfreiheitlichen Dogmatik ist die prinzipielle Zurückhaltung sowohl des Gerichtshofs als auch der Literatur, den Grundfreiheiten als solchen eine Drittwirkung zuzusprechen. Während eine solche Drittwirkung für die Grundfreiheiten „als spezifische Anwendung des in Art. 12 EGV ausgesprochenen allgemeinen Diskriminierungsverbots“ (Walrave/Angonese) vom Gerichtshof und von der Literatur akzeptiert wird, kann von einer durchgehenden Drittwirkung der Grundfreiheiten auch in ihren über die Teilidentität mit Art. 12 EGV hinausweisenden Funktionen nicht ausgegangen werden.49 Das dritte Beispiel für ein Auseinanderklaffen der grundfreiheitlichen Rhetorik und einer nicht-grundfreiheitlichen Dogmatik ist die Einführung einer „Spürbarkeitsschwelle“ in einzelnen Grundfreiheits-Fällen (Graf). Ein solcher Verzicht auf das Eingreifen der Grundfreiheiten, weil die grundfreiheitswidrige Maßnahme nicht hinreichend schwerwiegend ist, wäre ein Fremdkörper in der Systematik der Grundfreiheiten. Für alle diese Abweichungen gibt es zwei mögliche Erklärungen. Entweder hat die Dogmatik der Grundfreiheiten sich geändert und an neue, weitreichendere Funktionen der Grundfreiheiten angepasst. Dann könnte die Regel vom Verbot der Spürbarkeitsschwelle für die Geltung der Grundfreiheiten nicht mehr gehalten werden. Den Grundfreiheiten käme in Einzelfällen eine Drittwirkung zu. Neben der gleichheitsrechtlichen Funktion müsste die Dogmatik der Grundfreiheiten auch die Funktion der Grundfreiheiten als Mittel zur Beschleunigung der Wirtschaftsfaktoren in ihrer Systematik berücksichtigen, wie das etwa über das Konzept der Grundfreiheiten als Marktzutrittsrechten bereits geschieht.50 Oder aber diese Abweichungen werden durch die folgende Annahme erklärt: Es liegen in diesen beschriebenen Entscheidungen keine Fälle von Grundfreiheiten vor. Die zugrundeliegenden Konstellationen sind Grundrechtsfälle. Es wurden Grundrechte gedacht, während von Grundfreiheiten die Rede war. Die Situationen und die Rechte, um die es in diesen Einzelfällen ging, weisen – das soll im Folgenden nachgewiesen werden – grund48
Siehe oben B. II. 3. c) und d) im ersten Teil. EuGH v. 12.12.1974, Rs. 36/74, „Walrave“, Slg. 74, S. 1405, 1419 f., Rz. 16/ 19; EuGH v. 6.6.2000, Rs. C-281/98, „Angonese“, Slg. 00, S. 4139, 4172, Rz. 32, 34 f.; siehe oben D. II. 2. sowie D. III. 2. und 3. im ersten Teil. 50 Siehe unten C. II. 2. e). 49
C. Die Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
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rechtliche Züge auf. Diese grundrechtlichen Züge sind bei diesen Rechten schärfer ausgeprägt und besser zu beobachten als bei den Grundfreiheiten als Dach-Normen, denn durch die Aufspaltung sind die individualschützenden Elemente von der Bindung an die Binnenmarktnützlichkeit, die eine Gleichsetzung mit den Grundrechten verhindert hatte, befreit. Es fällt leichter, in diesen Einzelfällen die Grundrechte auch unter dem „Etikett“ einer Grundfreiheit zu erkennen. Das wird an vier Rechtsprechungsbeispielen deutlich. 1. Die Beispiele aus der Rechtsprechung: Außen Grundfreiheit, innen Grundrecht
Dass in diesen Fällen der Sache nach Grundrechte zur Anwendung kamen, auch wenn nach außen hin der Gerichtshof Art. 39 EGV – also der Form nach eine Grundfreiheit – als Rechtsnorm herangezogen hat, soll im Folgenden kurz am Beispiel einzelner Entscheidungen illustriert werden. Den vier Fällen ist die Bosman-Situation gemeinsam. Ein Einzelner möchte die Arbeitsstelle/den Ort wechseln. Dieser Wechsel wird ihm aus unterschiedlichen Gründen erschwert oder unmöglich gemacht. In allen vier Fällen ging es um die Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 39 EGV. Das ist kein Zufall. Am Beispiel des Art. 39 EGV ist das Herauswachsen eines eigenständigen Grundrechts aus der Grundfreiheit am deutlichsten sichtbar. Von den vier Grundfreiheiten berührt Art. 39 EGV am unmittelbarsten die Persönlichkeit des Einzelnen. Zudem ist das Umfeld des Rechtsguts Freizügigkeit durch flankierende Normgebung (Art. 18 Abs. 1 EGV) innerhalb der Binnenmarktrechtsordnung aufgewertet. Inwieweit sich diese Überlegungen zu Art. 39 EGV auf die anderen Grundfreiheiten – vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt – übertragen lassen, muss an dieser Stelle offen bleiben. a) Die Entscheidung Lehtonen Bereits von der sprachlichen Fassung her zeigt sich die Anlage der Doppelfunktionalität am deutlichsten wohl in den Schlussanträgen des Generalanwalts Alber zu der Entscheidung Lehtonen.51 Ähnlich dem Fußballer Jean-Marc Bosman hatte der finnische Basketballprofi Jyri Lehtonen sich gegenüber dem einschränkenden Regelwerk des belgischen Basketballverbandes auf seine Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 39 EGV berufen.52 51 EuGH v. 13.4.00, Rs. C-176/96, „Lehtonen“, Slg. 00, S. 2681 ff.; siehe oben B. II. 3. c) im ersten Teil sowie A. I. 1. b) im zweiten Teil. 52 Die Maßnahmen des belgischen Basketballverbandes sind nichtdiskriminierend, auch wenn das zunächst anders aussieht. Die Statuten (Art. 244 und 245
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
Generalanwalt Alber gab ihm Recht und sprach ausdrücklich davon, dass der Arbeitnehmerfreizügigkeit ein hohes Gewicht sowohl als Grundfreiheit als auch als Grundrecht zukäme.53 Damit bekennt sich der Generalanwalt auch nach außen zu einer grundrechtlichen Funktion oder zumindest zu einem grundrechtlichen Potential des Art. 39 EGV. Allerdings wird nicht deutlich, ob hinter der Aussage „hohes Gewicht sowohl als Grundfreiheit als auch als Grundrecht“ die Aufspaltung in zwei verschiedene – getrennte – Funktionen innerhalb der Freizügigkeit zu sehen ist, von denen im Falle des Herrn Lehtonen allein die grundrechtliche Funktion aufgerufen ist. Die Ansicht des Generalanwalts könnte auch als Bestärkung eines „einheitlichen“ Verständnisses einer zum Grundrecht veränderten oder erweiterten Grundfreiheit verstanden werden. b) Die Entscheidung Graf Die Entscheidung Graf ist ein weiteres Beispiel dafür, dass es in Einzelfällen der Sache nach um Grundrechte, und nur dem Begriff nach um Grundfreiheiten ging.54 Der Gerichtshof ist in der Fallkonstellation der Sache Graf ersichtlich an die Grenzen dessen gelangt, was mit der Dogmatik der Grundfreiheiten erfasst und gelöst werden kann. Die Situation von Herrn Graf ist von der Struktur her der Situation von Lehtonen und Bosman vergleichbar. Herr Graf arbeitete als Angestellter eines Unternehmens in Österreich. Nach österreichischem Recht ist die Abfindung eines Arbeitnehmers, der bereits nach wenigen Jahren das Unternehmen wieder verlässt, geringer als die Abfindung nach langjähriger Betriebszugehörigkeit. Feststellungen zu vergleichbaren Regelungen in anderen EU-Ländern trifft das Urteil nicht. Herr Graf berief sich ausdrücklich auf die Mobilität als solche, die er durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit geschützt sehen wollte, unabhängig von jedem Vergleich mit anderen Mitgliedstaaten.55 Damit zählt dieser Fall zu den echten Beschränkungsverboten. Einziger Bezugspunkt und Ziff. 4 der FRBSB-Statuten, vgl. Rz. 10 des Urteils) listen zwar Ausländer und Einheimische getrennt auf, in der Sache sind die ausländischen Spieler nicht benachteiligt, vgl. die ausdrückliche Feststellung in Rz. 34 der Schlussanträge. Wenn überhaupt, so ergibt sich ein leichter Nachteil für die belgischen Spieler in Belgien, vgl. Rz. 34 der Schlussanträge sowie Rz. 48 und 49 des Urteils. 53 Schlussanträge Alber zu EuGH v. 13.4.00, Rs. C-176/96, „Lehtonen“, Slg. 00, S. 2681, 2703, Rz. 76. 54 EuGH v. 27.1.00, Rs. C-190/98, „Volker Graf“, Slg. 00, S. 493 ff. 55 Schlussanträge Fennelly zu EuGH v. 27.1.2000, Rs. 190/98, „Volker Graf“, Slg. 00, S. 493, 499, Rz. 14 (Beklagtenvortrag), S. 505, Rz. 24. Zwar hat Herr Graf Nachteile, die sind aber nicht so schwerwiegend, dass die Freiheit seines Willens aufgehoben wäre. Die Abfindung tritt als ein willensbildender Faktor unter vielen in den Hintergrund.
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Ansatzpunkt für die Prüfung der Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsrecht ist die österreichische Regelung, die sich in ihrer einschränkenden Wirkung auf einen Wechsel des Arbeitsplatzes über die Grenze hinweg völlig neutral verhält. Nur weil Herr Graf zu einem Unternehmen nach Deutschland wechseln wollte, konnte der Gerichtshof anlässlich des Grenzübertritts die Beschränkung an einem gemeinschaftsrechtlichen Maßstab messen. Dieser Maßstab ist ein grundrechtlicher und kein grundfreiheitlicher Maßstab. Denn das Argument, mit dem der Gerichtshof – vereinfacht gesagt – den Schutz aus dem Freizügigkeitsgrundrecht versagte, ist der Bagatellcharakter der Beeinträchtigung.56 Herr Graf sah sich in seiner Freizügigkeit beeinträchtigt, weil ihm umgerechnet einige hundert Mark zu entgehen drohten, deren Zuteilung zudem alles andere als gewiss war. Prüft man diesen Fall unter dem Gesichtspunkt einer Grundrechtsprüfung, wie sie etwa ein nationales Verfassungsgericht vornehmen würde, so erklärt sich die Zurückhaltung des Gerichtshofs, hier die österreichische Regelung zu verwerfen. Der freie Zug des Herrn Graf und seine freie Willensentscheidung sind nicht ernstlich durch den möglichen Verlust von einigen hundert Mark bedroht. In der „instrumentalen“ Logik der Grundfreiheiten dagegen hätte der Fall Graf sich nicht auf diese Weise lösen lassen. Der Bagatellcharakter einer Beeinträchtigung ist, wie die Überlegungen zum Fehlen einer Spürbarkeitsschwelle gezeigt haben, für den Gerichtshof kein Grund, die Verbotswirkung der Grundfreiheiten auszusetzen. Die Grundfreiheiten sollen auch kleinste Ungleichheiten ausgleichen, um in der Gesamtbilanz eine möglichst weitgehende Homogenität der Verhältnisse im Binnenmarkt zu schaffen. Wenn dieser Ansatz auf die „echten Beschränkungsfälle“ erstreckt würde, müsste konsequenter Weise auch eine minimale Beschränkung der Freizügigkeit – der Verlust einiger weniger Schilling, der mit der Entscheidung für die Mobilität verbunden wäre – das Verbot und damit den Schutz der Grundfreiheiten auslösen. Aus diesem Verbot hätte sich das österreichische Arbeitsrecht nur über Rechtfertigungsgründe befreien können, die hier nicht vorlagen. Diesen – grundfreiheitlich korrekten – Weg hat der Gerichtshof in der Entscheidung Graf gar nicht erst beschritten.57 56
EuGH v. 27.1.2000, Rs. C-190/98, „Volker Graf“, Slg. 00, S. 493, 523, Rz. 24. Demnach sei eine Regelung wie diese eindeutig nicht geeignet, den Arbeitnehmer daran zu hindern, von seiner Freizügigkeit Gebrauch zu machen. Dann verliert sich der Gerichtshof in Andeutungen. Möglicherweise war es daher die „Unsicherheit, ob Graf jemals diese Prämie erhalten hätte, und nicht die geringe Summe, die den Gerichtshof dazu gebracht hat, hier den Schutz des Art. 39 EGV zu verweigern. Auch über diese „Eignung“ zur Abschreckung wird aber im Ergebnis eine Spürbarkeitsschwelle eingeführt, wie sie für die Grundfreiheiten nicht gelten dürfte, vgl. etwa Kingreen, in: Bogdandy, Verfassungsrecht, S. 631, 661 f.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
Darüber hinaus weist auch die Sprache in den Entscheidungsgründen der Sache Graf auf das unter der Oberfläche liegende Muster einer Grundrechtsprüfung hin, von der sich der Gerichtshof bei seiner Entscheidung hat leiten lassen. So spricht er beispielsweise von Art. 39 EGV als einem „unmittelbar aus dem Vertrag abgeleitete(n) Recht“ der EU-Bürger, „ihr Herkunftsland zu verlassen“. Für die Konstellation eines Exportfalls in Verbindung mit einer Personenverkehrsfreiheit ist der Gerichtshof offensichtlich auch sprachlich bereit, das „Recht auf Ausreise“ als eingeständiges Recht aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit herauszulösen.58 Wirtschaftliche Rahmenbedingungen oder Binnenmarktziele spielen hier von der Wortwahl her keine Rolle mehr. Die technische Ausdrucksweise der Grundfreiheiten wird von einer Wortwahl abgelöst, die an die nationalen Grundrechtskataloge erinnert. Das Zielland, das in der Logik der Grundfreiheiten unverzichtbar ist, um die Diskrepanz zwischen den Teilmärkten ablesen zu können, kommt in dieser Umschreibung des Freizügigkeitsrechts nicht mehr vor. Der freie Zug ist eine Angelegenheit des Einzelnen und seines Heimatstaats geworden.59 Diese Veränderungen haben den Gerichtshof indes nicht daran gehindert, auch die Sache Graf weiterhin als Teil der Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten auszuweisen. Der Gerichtshof und Generalanwalt Fennelly wählen die Figur des „Marktzugangsrechts“ aus der Keck-Entscheidung, um sprachlich und systematisch in der Rhetorik der Grundfreiheiten bleiben zu können.60 Denn seit dem Keck-Urteil ist auch für die Grundfreiheiten die Frage „Wie gravierend ist die Beeinträchtigung?“ nicht mehr grundsätzlich tabu. Nur eine Beschränkung, die so schwer wiegt, dass sie den Zugang der Ware zum Nachbarmarkt versperrt, fällt unter das Verbot des Art. 28 EGV.61 Zugleich bleibt der Begriff des „Marktzugangsrechts“ aber klar auf die Grundfreiheiten und deren Binnenmarktprogramm ausgerichtet.
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Vgl. Barnard, E.L.Rev. 26 (2001) S. 35, 50 f., 58; Wolf, JZ 1994, S. 1151, 1157 zur Spürbarkeitsschwelle als Abgrenzungskriterium zwischen Grundfreiheiten und „faktischen Grundrechtsbeschränkungen“; Connor, E.L.Rev. 24 (1999) S. 525, 529 zu einer Entscheidung des britischen Court of Appeal vom 10.3.1999. Auch dort kam in einer ähnlichen Konstellation Art. 39 EGV nicht zur Anwendung, weil nach Ansicht des Gerichts die finanzielle Einbusse nicht bedeutend genug war. 58 EuGH v. 27.1.00, Rs. C-190/98, „Volker Graf“, Slg. 00, S. 493, 523, Rz. 22 f. 59 Siehe oben B. I. 3. c) cc) im ersten Teil. 60 Das ist der Versuch, über den Begriff des „Marktzugangs“ doch noch eine Anknüpfung an die ursprüngliche grundfreiheitliche Funktion zu erreichen, auch wenn – mangels eines Vergleichsmoments – der Bereich der Grundfreiheiten an sich bereits verlassen ist. Siehe unten C. II. 2. e). 61 EuGH v. 24.11.1993, verb. Rs. C-267/91 und 268/91, „Keck und Mithouard“, Slg. 93, S. 6079, 6131, Rz. 16 f., vgl. die Schlussanträge Fennelly zu Rs. C-190/98, „Volker Graf“, Slg. 00, S. 493, 501 ff, Rz. 18 ff., S. 506 ff., Rz. 26 bis 33.
C. Die Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
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c) Die Entscheidungen Bosman und Kremzow Als ein letztes Beispiel dafür, dass die Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten in der Rechtsprechung des Gerichtshofs bereits angelegt ist, soll der auffallende Gleichlauf der Sachverhaltskonstellationen in den Entscheidungen Bosman und Kremzow angeführt werden.62 In beiden Fällen ging es, wenn man die Interessen der beteiligten Parteien offenlegt, um Grundrechtsschutz. Beide Kläger „saßen fest“. Der Fußballprofi Bosman war durch die Ablösesumme, die niemand für ihn bezahlen wollte, an einem Ortswechsel gehindert.63 Der pensionierte Richter Dr. Kremzow saß nach einer Verurteilung wegen Mordes in Haft. Beide hofften auf das Gemeinschaftsrecht, um die Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die – buchstäblich – ihre Freiheit beschränkten. Bosman versuchte über die Arbeitnehmerfreizügigkeit die Transferregeln und damit die Ablösesumme zu Fall zu bringen. Kremzow wollte eine erneute Prüfung seiner Verurteilung am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte erreichen und berief sich u. a. auf die Verletzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Beide wollten dasselbe, nämlich Grundrechtsschutz. Bosman hat diesen Schutz – wenn auch unter der Bezeichnung Grundfreiheit – erlangen können, weil der Lebensbereich, aus dem sein Rechtsstreit stammte, dem Gemeinschaftsrecht nahe steht (Berufssport, Wirtschaft, Geld) und weil er im Verfahren das Angebot aus Dünkirchen nachweisen konnte. Im Fall Kremzow war dagegen mit dem Strafverfahren und Strafvollzug ein Lebensbereich betroffen, der zu den Kernbereichen mitgliedstaatlicher Kompetenz gehört und bisher als unantastbar und vor gemeinschaftlicher Einmischung sicher gilt. Zudem war es Kremzow nicht gelungen, den Auslandsbezug überzeugend darzulegen.64 Was wäre geschehen, wenn der Österreicher Kremzow die Einladung einer deutschen Talkshow vorgelegt hätte, in der er – gegen Entgelt – seine Lebensgeschichte erzählen soll? Hätte diese geplante Tätigkeit im Ausland ihn in den Geltungsbereich der Dienstleistungsfreiheit des Art. 49 EGV gebracht? Dann wäre in der Tat der Anwen62
EuGH v. 15.12.1995, Rs. C-415/93, „Bosman“, Slg. 95, S. 4921 ff.; EuGH v. 29.5.1997, Rs. C-299/95, „Kremzow“, Slg. 97, S. 2629 ff. 63 Für den Fußballspieler Bosman, den sein Verein ohne hohe Ablösesummen nicht freigeben wollte und der sich nicht aus eigener Kraft freikaufen konnte, ergibt sich die Freiheitsbeschränkung, wenn man – lebensnah – unterstellt, dass ein Profifußballer ohne Anstellung nicht an seinem Wohnort bleiben wird, sondern sich fortbewegt zu seiner nächsten Anstellung. Bosman hatte demnach nicht allein einen finanziellen Verlust zu beklagen (sein Verein war bereit, ihn zum gesetzlichen Mindestlohn weiterzubeschäftigen), sondern er war tatsächlich und rechtlich daran gehindert, bei einem anderen Verein unter Vertrag genommen zu werden, solange Lüttich weiterhin die Freigabe an die Zahlung einer Transfersumme knüpfen durfte. 64 EuGH v. 29.5.1997, Rs. C-299/95, „Kremzow“, Slg. 97, S. 2629 ff.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
dungsbereich des Gemeinschaftsrechts eröffnet. Der Gerichtshof hätte dann den Fall des Mörders Kremzow erneut aufrollen und an den Gemeinschaftsgrundrechten messen müssen. Die Ausgangssituationen und die Lösungen der Fälle unterscheiden sich also nur den Themen nach, nicht in der Struktur und den zugrundeliegenden Interessen. Bosman wurde der Grundrechtsschutz gewährt, der Kremzow versagt wurde. Mit grundfreiheitlicher Dogmatik hat der Schutz in beiden Fällen nichts zu tun. Dennoch hat der Gerichtshof Bosman ausdrücklich den Schutz aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 39 EGV gewährt. Es lag für den Gerichtshof aus praktischen Erwägungen nahe, diese Vorschrift als Grundlage für seine Entscheidung zu wählen. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit war von den Parteien als Grundfreiheit ins Spiel gebracht worden. Wegen der Auswirkungen auf den Binnenmarkt, die der Fall Bosman unstreitig neben der Grundrechtsfrage auch hat, musste die Vorschrift des Art. 39 EGV ohnehin zur Anwendung gebracht werden. Zudem bot es sich aus Sicht des Gerichtshofs an, den Fall in die lange Reihe der bereits entschiedenen Freizügigkeitsfälle einzufügen. Neben dieser Funktion des Art. 39 EGV als Grundrecht bleibt dessen grundfreiheitliche Funktion unberührt und unverändert. Das ist für die Doppelfunktionalität von großer Bedeutung. Wenn – hypothetisch – die belgische Verbandssatzung eine zusätzliche Bearbeitungsgebühr auf die Transfersumme für Wechsel ins Ausland vorsähe, wäre sofort die grundfreiheitlichgleichheitsrechtliche Funktion der Arbeitnehmerfreizügigkeit angesprochen.65 Diese Mehrkosten könnten den Spieler, der den Vereinswechsel mit dem Rechenstift in der Hand plant, dazu bewegen, einen internen Wechsel dem Wechsel ins Ausland vorzuziehen. Das wäre eine typische unerwünschte Abschottung der nationalen Märkte innerhalb des Binnenmarktes. Die Membran wäre nicht vollständig durchlässig, der Fluss würde gehemmt. Das ist grundfreiheitswidrig und könnte, falls sich die Kommission nicht dieser Sache annimmt, auch von Herrn Bosman unter Berufung auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit – als Grundfreiheit im engen Sinne – angegriffen werden. Dieses erdachte Beispiel kann beliebig zugespitzt werden: Die Mehrkosten könnten auch darin bestehen, dass die Zeiten, in denen Bosman im Ausland spielt, nicht (oder nicht vollständig) auf seine belgische Altersversorgung angerechnet werden.66 Die Nachteile können immer kleiner und kaum spürbar werden. Das zeigt erneut das „mikroskopisch prä65 Das Wort „zusätzlich“ ist hier das entscheidende Wort. Darin steckt die Schlechterstellung gegenüber dem innerbelgischen Transfer. Vgl. dazu aber die Zweifel, die Generalanwalt Lenz in den Schlussanträgen zu Rs. 415/93, „Bosman“, Slg. 95, 4921, 4988 ff., Rz. 159 ff., 164 zu den Sachverhaltsfeststellungen äußert. 66 Vgl. etwa aus der neueren Rechtsprechung EuGH v. 30.11.2000, Rs. C-195/ 98, „Österreichischer Gewerkschaftsbund“, Rz. 43 ff., 49 als ein Beispiel für das
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zise“ Vorgehen der Grundfreiheiten, die keine Spürbarkeitsschwelle kennen. Sie setzen an jeder noch so kleinen „Unebenheit“ an und ebnen sie über den ausgleichenden Warenfluss ein. Der grundrechtliche Schutz greift zugunsten von Herrn Bosman dagegen nur ein, weil zum einen die Verweigerung der Freigabe eine hinreichende inhaltliche Nähe zur Person des Benachteiligten aufweist und zum anderen seine Freizügigkeit nicht nur erschwert, sondern aufgehoben wird. Aufgrund der Monopolstellung des Verbandes und des stillschweigenden Abkommens der Vereine, diese Transferregeln zu respektieren, auch wenn Spieler dadurch „immobilisiert“ werden, ist die Frage des Transfers nicht eine Frage von störenden, rein monetären Mehrkosten. Für den Spieler ergibt sich vielmehr eine „Entweder-Oder“-Situation, die seinen Willen, frei zu ziehen, nicht nur als ein Faktor unter vielen beeinflusst, sondern diesen Willen ganz unmittelbar betrifft und negiert. Das ist der Unterschied zwischen dem instrumentalen Ansatz, der keine Spürbarkeitsgrenze kennt, und dem grundrechtlichen Ansatz, der erst zum Tragen kommt, wenn die rechtliche Position, um die es geht, zu einem subjektiven Recht mit einem grundrechtlichen Kern verdichtet und nicht nur peripher, sondern in diesem Kernbereich bedroht ist. 2. Überlegungen der Literatur zur Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
In der wissenschaftlichen Literatur findet sich die Idee, die Grundfreiheiten in einzelne Funktionen aufzuspalten, in einer Reihe von unterschiedlichen Ansätzen. Auch die Existenz typisch grundrechtlicher Elemente in den Grundfreiheiten wird angesprochen. Eine Aufspaltung der Grundfreiheiten in drei Funktionstypen, die den hier entwickelten Kategorien in Grundzügen entsprechen, liegt etwa der Fallgruppenbildung zugrunde, die Plötscher in seiner Untersuchung zum Diskriminierungsbegriff vorschlägt. Er leitet aus der Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten drei unterschiedliche Schutzfunktionen ab. Die Grundfreiheiten verbieten in einem Kernbereich die Diskriminierung aufgrund bestimmter unzulässiger Differenzierungskriterien (Diskriminierungsverbot). Die Grundfreiheiten sollen darüber hinaus alle Beeinträchtigungen ausgleichen, die als Doppelbelastungen aus der Unterschiedlichkeit der Rechtsordnungen resultieren (Anerkennungsgebot). Die Grundfreiheiten seien weiter ganz grundsätzlich Garantien für eine grenzüberschreitende Mobilität.67 Wirken der Grundfreiheiten als Gleichbehandlungs-Algorithmus auch im „mikroskopischen“ Bereich. 67 Plötscher, Diskriminierung, S. 301 f.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
Diese Beobachtung stimmt überein mit dem Versuch der vorliegenden Arbeit, die An- und Ausgleichungsfunktion der Grundfreiheiten von dem Diskriminierungsverbot im engeren Sinne und von einem Mobilitätsgrundrecht zu unterscheiden. In Abweichung zu Plötschers Aufteilung sollen im Modell der Doppelfunktionalität aber Warenherkunft und -bestimmung nicht dem Diskriminierungsverbot im engeren Sinne, sondern der An- und Ausgleichungsfunktion zugeordnet werden. Das Diskriminierungsverbot und die Mobilitätsgarantie sollen als „Gemeinschaftsgrundrechte in der Grundfreiheit“ aus der grundfreiheitlichen Dogmatik gerade herausgenommen werden. Der Blickwinkel der meisten Systematisierungsansätze in der Literatur bleibt ein grundfreiheitlicher. Es ist die Dogmatik der Grundfreiheiten, die an die veränderte Auslegung der Grundfreiheiten, etwa nach dem Erstarken des individualschützenden Moments oder der Ausweitung auf mittelbare Diskriminierungsfälle, angepasst wird. a) Abgrenzung der Doppelfunktionalität von der – behaupteten – Funktionserweiterung der Grundfreiheiten von Diskriminierungsverboten zu allgemeinen Beschränkungsverboten Einer möglichen Verwechselung soll bereits an dieser Stelle vorgebeugt werden. Der Begriff „doppelt“ oder „Funktionsverdopplung“ erscheint in der Literatur vereinzelt in einem Zusammenhang, der nicht – wie hier vorgeschlagen – die Aufspaltung in Grundfreiheiten und Grundrechte meint, sondern die vieldiskutierte Funktionserweiterung der Grundfreiheiten von Diskriminierungsverboten zu den sogenannten „allgemeinen Beschränkungsverboten“ bezeichnet. Durch diese Erweiterung wiesen die Grundfreiheiten nunmehr einen „doppelten Rechtsgehalt“ auf. Hoffmann fasst in seiner Untersuchung zur Struktur der Grundfreiheiten diese Autoren als eine Schule zusammen. Es gäbe eine „Lehre vom doppelten Rechtsgehalt des Art. 28 EGV“, für die kennzeichnend sei, dass ihre Vertreter „unter dem Dach des Art. 28 EGV“ zwei unterschiedliche Rechtsinhalte beheimatet sehen. Diese Dichotomie sieht Hoffmann am deutlichsten bei Classen angesprochen, der zwischen relativen (gleichheitsrechtlichen) und absoluten (freiheitsrechtlichen) Gehalten unterscheide.68 Die Verwendung des bildhaften Ausdrucks vom „Dach der Grundfreiheit“, unter dem die verschiedenen 68 Hoffmann, S. 130 mit Verweis auf Classen, EWS 1995, S. 97, 98, 100. Dieser Lehre stellt Hoffmann eine zweite Schule gegenüber, die er im Anschluss an einen Beitrag von Marenco, CDE 20 (1984) S. 291 ff., als „neue Diskriminierungslehre nach Marenco“ bezeichnet. Dieser Lehre, die von einem einheitlichen gleichheitsrechtlichen Gehalt der Grundfreiheiten ausgeht, sind auch Jarass, Kingreen, Simm, etc. zuzurechnen.
C. Die Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
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Funktionen angesiedelt seien, erinnert zunächst an die Terminologie, die in der vorliegenden Untersuchung für das Modell der Doppelfunktionalität entwickelt worden ist. Die Ähnlichkeit in der Terminologie täuscht. Die „Lehre vom doppelten Rechtsgehalt“ zeichnet eine andere Verdopplung nach, als es die hier vorgeschlagene Doppelfunktionalität leisten will. Die Anhänger der Lehre vom „doppelten Rechtsgehalt“ unterscheiden innerhalb der Grundfreiheiten die Rolle der Grundfreiheiten als „Diskriminierungsverbote“ und als „allgemeine Beschränkungsverbote“. Damit ist die Funktionserweiterung der Grundfreiheiten vom Verbot formeller Diskriminierung zum Verbot auch lediglich mittelbar diskriminierender Maßnahmen gemeint. Diese Funktionserweiterung ist aber in der vorliegenden Untersuchung als Trennlinie oder Verdopplung ausdrücklich nicht anerkannt worden. Die – angebliche – Verdopplung, die Hoffmann mit dem „doppelten Rechtsgehalt“ bezeichnet, wird in der Idee des Systemvergleichs wieder zu einem einheitlichen Konzept der Grundfreiheiten als Gleichheitsrechte zusammengefasst und damit aufgehoben. Die Verdopplung dagegen, von der die vorliegende Untersuchung ausgeht, setzt diese Rückführung der Grundfreiheiten auf ein einheitliches Konzept als Gleichheitsrechte notwendig als gedanklichen Zwischenschritt voraus. Erst nachdem die erweiterten Funktionen der Grundfreiheiten unter dem Begriff des Systemvergleichs als Ausprägung einer einheitlichen grundfreiheitlichen Normstruktur verstanden worden sind, lässt sich in Abgrenzung zu dieser grundfreiheitlichen Normstruktur von einer grundrechtlichen Funktion sprechen, die in den beschriebenen Einzelfällen den Grundfreiheiten zukommt. Die zeitliche Abfolge der Argumentationsschritte ist daher von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, Aussagen der Literatur, die zunächst ganz generell von einer „Funktionsverdopplung“ sprechen, in den systematischen Zusammenhang einzuordnen: Es gibt zum Einen Stimmen, die von einer doppelten Funktion sprechen im Bewusstsein der neuen Strömung, die Grundfreiheiten wieder auf ihre ausgleichende Funktion zu reduzieren. Auf der anderen Seite stehen Stimmen, die von einer doppelten Funktion der Grundfreiheiten sprechen, ohne diese neue Strömung mit in ihre Dogmatik einbezogen zu haben. b) Ansätze einer Doppelfunktionalität bei den Autoren, die eine Polarisierung der objektiv-rechtlichen und subjektiv-individualschützenden Elemente innerhalb der Grundfreiheiten verstärken wollen Der Ansatz, innerhalb einer Norm zwischen zwei Schwerpunkten – einem grundfreiheitlichen und einem grundrechtsähnlichen – zu unterschei-
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
den, ist in der Literatur, die sich mit der Dogmatik der Grundfreiheiten befasst, bereits seit längerem vertreten. Dabei wird das Nebeneinander von subjektiv-rechtlichen und objektiv-rechtlichen Elementen innerhalb einer Rechtsnorm begrifflich in die Nähe der Doppelfunktionalität gerückt. Der Gedanke eines grundrechtlichen Kerns in den Grundfreiheiten wird bereits 1976 von Bleckmann in seinen Überlegungen zum Grundrechtscharakter der Personenverkehrsfreiheiten zur Diskussion gestellt, wenn er davon spricht, dass die Art. 39 EGV, Art. 43 EGV und Art. 49 EGV in nuce eine dem Art. 12 GG entsprechende Beschränkung der Berufsausübung enthielten.69 Auch Pernice spricht bereits 1979 – auf der Suche nach den „Grundrechtsgehalten im Gemeinschaftsrecht“ – vom „Doppelcharakter der gemeinschaftsrechtlichen Gewährleistungen“ und meint damit die „Komplementarität ihres objektiven und subjektiven Sinngehalts“.70 Der Zusammenhang, in dem dieser Doppelcharakter ausdrücklich angesprochen wird, betrifft allerdings die Gemeinschaftsgrundrechte und nicht die Grundfreiheiten. Für die Freizügigkeit hat Pernice einen solchen Doppelcharakter der Sache nach bestätigt. Er sieht das Freizügigkeitsrecht als „objektiven Wertfaktor und als Individualgrundrecht“ geschützt.71 Clapham spricht bildhaft von den Marktfreiheiten als „tools and weapons“ in den Händen der EU-Bürger und bringt damit die Grenzlinie zum Ausdruck, die nach der hier vertretenen Lösung die Grundfreiheiten mit ihrem objektiv-instrumentalen Ansatz („tools“) von den in ihnen enthaltenen abwehrrechtlichen Kernen („weapons“) trennt.72 Der „Machtkampf“ der objektiv-marktlenkenden und subjektiv-individualschützenden Elemente innerhalb der Grundfreiheiten, nachdem diese in der Rechtsprechung des Gerichtshofs als subjektive Rechte etabliert sind, wird von einer ganzen Reihe weiterer Kommentatoren gesehen und beschrieben.73 Eine eindeutige Aussage für oder gegen eine vollständige Aufspaltung im Sinne der Doppelfunktionalität ist damit allerdings in der Regel 69
Bleckmann, DVBl. 1986, S. 69, 69. Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 235 f. „Mit der Anerkennung der unmittelbaren Wirkung tragender Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und ihrer Geltung auch im Privatrechtsverkehr hat der Gerichtshof nicht nur einen gangbaren Weg zur Durchsetzung individueller Grundrechtsinteressen gebahnt, sondern diese gleichzeitig der Verwirklichung des objektiven Gemeinschaftsinteresses dienstbar gemacht. (. . .) [Es] tritt auch hier der notwendige Doppelcharakter der gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsgewährleistungen, die Komplementarität ihres objektiven und subjektiven Sinngehalts deutlich zutage“. 71 Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 139 f. 72 Clapham, Critical Overview, S. 10. 73 Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, S. 442 „Das in Art. 43 EGV enthaltene Gleichheitsrecht“. Es wird allerdings nicht ganz klar, ob Lackhoff damit nicht lediglich auf die Teilidentität der Grundfreiheit mit Art. 12 EGV hinweisen will. 70
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gerade nicht verbunden. Einige der Autoren entscheiden sich dafür, die Synthese zu wagen und die stärker werdenden subjektiven Element in eine angepasste und „angereicherte“ Dogmatik der Grundfreiheiten einzubauen. Die Stimmen, die den subjektiven Anteil der Grundfreiheiten für so ausgeprägt halten, dass die Grundfreiheiten insgesamt als Grundrechte bezeichnet werden könnten (Bleckmann, Pernice), müssen allerdings ein ebenfalls stärker werdendes verbleibendes objektiv-instrumentales Element in diesen Grundfreiheiten-Grundrechten hinnehmen.74 Die meisten Autoren legen sich nicht fest, in wie weit sich die subjektiven Komponenten von den objektiven Vorschriften lösen und als eigene Rechtsnorm gelten dürfen. Auch die Frage, wie weit die grundrechtlichen Elemente in den ursprünglichen Vertragsvorschriften bereits angelegt waren oder erst später hinzutraten, bleibt offen. Das kommt zum Ausdruck in Formulierungen, die das Verhältnis der Grundfreiheiten zu ihren grundrechtlichen Elementen als „Verankerung des Gemeinschaftsgrundrechts in den Grundfreiheiten“ beschreiben.75 Auch wenn etwa Notthoff von den Grundfreiheiten als einer vierten, noch zu erschließenden „Quelle“ von Gemeinschaftsgrundrechten spricht, kann in dieser Aussage das Bekenntnis zu einer klaren Trennung von Grundfreiheiten und Grundrechten gesehen werden – „die Grundrechte entspringen aus den Grundfreiheiten, sind danach eigenständige Rechtsnormen“ – oder es kann diese Aussage dahin verstanden werden, dass nach Notthoffs Überzeugung die Grundfreiheiten selber zu Grundrechten werden.76 Nicht ganz klar zuzuordnen ist auch die Konzeption von Kluth, der von einem „grundrechtlichen Unterbau“ der Grundfreiheiten spricht. Damit bezeichnet er im Wesentlichen die Funktionen, die hier mit den „grundrechtlichen Kernen“ gemeint sind. Er schlägt vor, diesem grundrechtlichen Unterbau durch eine grundrechtskonforme Auslegung der Grundfreiheiten gerecht zu werden. Diese Auslegung hält er für besser als eine „UmInterpretation der Grundfreiheiten in Grundrechte“.77 Auf diese Weise will Kluth die Konturen der Grundfreiheiten erhalten, die ansonsten in einer unbestimmten „einheitlichen Gewährleistung“ zu verschmelzen drohten. Diese 74 Siehe oben B. II. 4. b) im zweiten Teil. Eine vorrangig objektiv verstandene Norm ist für diese Autoren kein Hindernis, der Vorschrift einen grundrechtlichen Charakter zuzusprechen. Das wird deutlich, wenn sich etwa Bleckmann, GS Sasse, S. 665, 684 ausdrücklich zu einer Grundrechtsdogmatik bekennt, die von einem institutionellen, objektiven Verfassungsdenken geprägt sei. 75 Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 146 und S. 135, dort insb. Fn. 376; a. A. Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263, 273, die der Ansicht sind, die individualschützenden Rechte seien nicht bereits im Normprogramm der Verträge, etwa in den Grundfreiheiten, enthalten. 76 Notthoff, RIW 1995, S. 541, 545. 77 Kluth, AöR 122 (1997) S. 557, 565, dort Fn. 16.
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Absicht spricht für eine Verdopplung und klare Trennung der grundfreiheitlichen Funktion und des grundrechtlichen Kerns. Ob diese Absicht durch die grundrechtskonforme Auslegung der Grundfreiheiten, wie Kluth sie befürwortet, erreicht wird, ist zweifelhaft. Denn in der grundrechtskonformen Auslegung der Grundfreiheiten kann – bei kritischer Betrachtung – die „Um-Interpretation der Grundfreiheiten in Grundrechte“ gesehen werden, die Kluth vermeiden wollte. c) Autoren, die den Konflikt zuspitzen, als Wegbereiter einer Doppelfunktionalität Eine wichtige argumentative Hilfestellung für die Doppelfunktionalität liefern – möglicherweise ohne das zu wollen – die Autoren, die sich dafür aussprechen, den Schritt vom Diskriminierungsverbot zum „allgemeinen Beschränkungsverbot“ nicht anzuerkennen oder diesen Schritt rückgängig zu machen. Denn nur die Zusammenfassung der verschiedenen grundfreiheitlichen Funktionen unter die einheitliche Konzeption der Grundfreiheiten als „Gleichbehandlungsgrundsatz“ macht die Zuspitzung möglich, die die Verschiebung der Trennlinie zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten in den Grundfreiheiten sichtbar hervortreten lässt und zu einer Spannung innerhalb der grundfreiheitlichen Dogmatik führt. Die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchungen von Kingreen, Jarass, Hoffmann, Simm und anderen sind als unverzichtbarer „Baustein“ an verschiedenen Schlüsselpassagen in der vorliegenden Arbeit eingesetzt worden und verdienen auch an dieser Stelle eine Erwähnung, ohne dass auf diese Zusammenhänge erneut eingegangen werden müsste.78 d) Literaturansichten, die sich nur schwer mit dem Modell vereinbaren lassen Gegen die Eignung der Doppelfunktionalität als Erklärungsansatz sprechen vor allem die Stimmen, die die grundrechtlichen Elemente innerhalb der Grundfreiheiten nicht als separates Grundrecht aus der Grundfreiheit auslagern wollen, sondern stattdessen von einem „Prozess“ oder einer „Veränderung“ der Grundfreiheit zu einem Grundrecht sprechen.79 Gut 78 Siehe oben B. II. 3. c) im ersten Teil. Wegen der Schwierigkeiten, die Entscheidung „Bosman“ und andere „echte Beschränkungsverbote“ unter die strikt gleichheitsrechtliche Konzeption zu fassen, geht mittlerweile aber auch Jarass, EuR 2000, S. 705, 711 von einer Art „Marktzugangsrecht“ für die Fälle aus, in denen die direkte Behinderung eines grenzüberschreitenden Vorgangs den Zutritt zum Nachbarmarkt verhindert. 79 Reich, E.L.J. 1997, S. 131, 132 f. „Economic freedoms transformed into fundamental rights“, S. 157 „Emancipated from their economic roots“; Rothfuchs, Die
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sichtbar ist dieser Gedanke eines Wachstumsprozesses bei Reich. In einigen seiner Formulierungen spürt man die Schwierigkeiten mit der Festlegung darauf, ob das „grundrechtliche Element“ in der Grundfreiheiten Teil des Art. 39 EGV bleibt oder ob es sich als eigenständige Funktion loslöst. An eine Loslösung lassen Begriffe wie „herausschälen“80 des Grundrechts oder „herausarbeiten“ des grundrechtlichen Elements denken.81 Auf eine Veränderung der Struktur der Grundfreiheit deuten Begriffe wie „verdichtet“ im Zusammenhang mit dem subjektiven Element der Grundfreiheit.82 Gegen die Doppelfunktionalität lassen sich darüber hinaus auch die Stimmen anführen, die ganz grundsätzlich einer isolierten Betrachtung der objektiven und subjektiven Funktion einer Rechtsnorm ablehnend gegenüberstehen. Die Kritik richtet sich gegen die drohende Aushöhlung der Grundfreiheiten. Diese Gefahr besteht in der Tat. Denn nach dem Modell der Doppelfunktionalität bleibt die eigentliche und ursprüngliche Grundfreiheit nach der Aufspaltung als objektive Rechtsregel mit einem nur minimalen subjektiven Anteil zurück. Die subjektiv-individualschützende Substanz wird in die Gemeinschaftsgrundrechte ausgelagert. Die Grundfreiheiten sind demnach zwar weiterhin einklagbar, als materielle Rechtsposition sind sie aber weitgehend entleert. Ihr Schutz ist kein eigenständiger Schutz mehr. Er ist bloßer Reflex der Binnenmarktregeln. Der Einzelne darf die Grundfreiheit aktivieren, wenn sein Interesse – zufällig – in dieselbe Richtung geht wie das Binnenmarktinteresse, das zu schützen die Grundfreiheit als objektive Verhaltenspflicht aufgerufen ist. Sie sind damit nur noch formal ein Recht des Einzelnen. Gegen solche „formalen inhaltsleeren Rechte als Hilfskonstruktionen“ – und insgesamt gegen jede Aufspaltung in subjektive und objektive Rechtspositionen – wendet sich etwa Masing mit seiner Kritik. Eine Unterscheidung in Rechtsnormen, deren Durchsetzung entweder dem öffentlichen Interesse oder aber dem privaten (Rechtsschutz-)Interesse diene, sei nicht nur überflüssig, sondern unsinnig.83 Die Grenze zwischen subjektivem Recht und objektiven Zielen sei durchlässig, subjektiver Rechtsschutz bedeute immer auch Durchsetzung objektiven Rechtsschutzes.84 traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 269; Behrends, EuR 1992, S. 145, 145, 162. 80 Reich, Bürgerrechte, S. 450; Poiares Maduro, in: Alston, EU and Human Rights, S. 449, 463 „Fundamental rights arising from the free movement rules“. 81 Reich, Bürgerrechte, S. 180. Die wiederholte Verwendung des Wortbestandteils „heraus-“ scheint damit in Richtung einer klaren Abspaltung im Sinne der Doppelfunktionalität zu deuten. 82 Reich, Bürgerrechte, S. 415. 83 Masing, Die Mobilisierung der Bürger, S. 178, 187. Dass eine solche Grenze in der Praxis nicht zu ziehen sei, klingt auch bei Cruz, E.L.Rev. 24 (1999) S. 603, 612 und Poiares Maduro, in: Alston, EU and Human Rights, S. 449, 451 an.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
Mit diesem Hinweis ist das erste Gegenargument bereits mitgeliefert. Die Aussage, dass „subjektiver Rechtsschutz immer auch dem objektiven Rechtsschutz“ diene, ist in dieser logischen Richtung sicher unbestritten: Jede durchgesetzte subjektiv-rechtliche Position trägt zugleich zur Verfestigung der objektiven Rechtslage bei und verbessert damit die „Rechtsbilanz“ eines Gemeinwesens. Das zwingt aber nicht zu dem Schluss in umgekehrter Richtung. Nicht jede Rechtsregel, die im öffentlichen Interesse durchgesetzt wird, stärkt zugleich ein subjektives Recht. Bereits aus diesem Grunde ist die Aufspaltung in subjektive und objektive Rechtspositionen zulässig und sinnvoll. Entscheidend für die Zulässigkeit einer Aufspaltung in objektive Grundfreiheiten und subjektive Grundrechte, wie sie hier vorgenommen wird, spricht aber die Überlegung, dass die verbleibende subjektive Seite der Grundfreiheit zwar – materiell-rechtlich gesehen – nahezu inhaltsleer ist, dass aber damit nicht zwangsläufig der von den Kritikern befürchtete Verlust an Rechtsschutz verbunden ist. Zwar wird nach der hier vertretenen Lösung die Grundfreiheit auf ihre ursprüngliche, instrumentale Funktion zurückgeschnitten und verliert damit – auf den ersten Blick – die subjektivindividualschützende Komponente, um die sie im Laufe der Jahre angereichert worden ist. Dieser vordergründige Verlust wird aber ausgeglichen durch das neue Grundrecht, das unter dem Dach des Art. 39 EGV entstanden ist. In einer bilanzierenden Betrachtung geht der Rechtsschutz für den einzelnen EU-Bürger demnach nicht verloren. Es erfolgt lediglich eine Neuzuordnung der einzelnen Funktionen und Normen. Die Gesamtstruktur verschiebt sich – kaum wahrnehmbar – in Richtung einer Stärkung der Rolle der Grundrechte an Stelle der Grundfreiheiten.85 Die Pflichten und Vorgaben werden an einer Stelle etwas gelockert. Gleichzeitig werden an anderer Stelle dem Einzelnen neue Rechte gegeben. Der Integrationsprozess im Binnenmarkt wird zwar möglicherweise vorübergehend etwas „ineffizienter“, weil die Verhaltenssteuerung über die Grundfreiheiten, die unmittelbar an die Binnenmarktziele angebunden sind, an zahlenmäßiger Bedeutung verliert. Dafür stehen dem Einzelnen verstärkt Grundrechte auf Gemeinschaftsebene zu. Wenn er von diesen Rechten in einer „binnenmarktfördernden“ Weise Gebrauch macht, ist die Folge für den Integrationsprozess dieselbe wie bei der Steuerung über die Grundfreiheiten. Der entscheidende Unterschied ist aber, dass die Grundrechte dem Einzelnen auch dann zustehen, wenn sein Interesse nicht mit einer positiven Wirkung für den Binnenmarkt verbunden ist. Wenn der Einzelne dennoch dieses Gemeinschaftsgrundrecht geltend macht, wenn er es also in einer nicht „binnenmarktfördernden“ Weise einsetzt, dann ist – kurzfristig – die Bilanz für 84 85
Masing, Die Mobilisierung der Bürger, S. 181. Siehe unten D. I. 1. und 3.
C. Die Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
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den Integrationsprozess negativ. Die Entscheidung ist damit in die Hände des Bürgers gegeben. Auf lange Sicht gleicht diese leichte strukturelle Verschiebung der Gewichtung den punktuellen Nachteil für die Integration des Binnenmarktes aus. Der Zusammenschluss wird freiwilliger. Auf diese Vorteile, die sich weniger auf juristischer als auf einer vorgelagerten wirtschaftlichen oder gesellschaftstheoretischen Ebene finden, wird im folgenden Kapitel (Kontextuelle Argumente für die Doppelfunktionalität) eingegangen. e) Die dogmatische Figur des „Marktzugangsrechts“ als Alternative zum Modell der Doppelfunktionalität Die Doppelfunktionalität muss zuletzt abgegrenzt werden gegen das Konzept der Grundfreiheiten als „Marktzugangsrechte“. Mit diesem Begriff versuchen Teile der Literatur das Verhalten der Grundfreiheiten in den Fällen zu erklären, in denen sie – über die Funktion als Diskriminierungsverbot hinaus – auch vor unterschiedslos anwendbaren Maßnahmen Schutz bieten, die den Zugang zu einem Nachbarmarkt versperren. Die Grundfreiheiten verschaffen nach diesem Verständnis einen Anspruch auf „freien und gleichen Zugang zu allen Punkten des gemeinsamen Marktes“.86 Die Idee eines „Marktzugangsrechts“, das den Zugang zum Nachbarmarkt auf zwei Wegen („gleich und frei“) ermöglichen will, und das Modell der Doppelfunktionalität, das eine klare Aufspaltung der Grundfreiheiten in eine grundfreiheitliche und eine grundrechtliche Funktion vorsieht, liegen in der Sache nicht weit voneinander entfernt. Das erklärt sich durch die gemeinsame Fragestellung. Beide Modelle konkurrieren um die Erklärung der „überschießenden“ Funktion der Grundfreiheiten, die sich nicht als Diskriminierungsverbot fassen lässt und die trotz des Bemühens in Rechtsprechung und Literatur, die Grundfreiheiten auf eben diese Funktion als Diskriminierungsverbot zurückzuführen, vom Gerichtshof anerkannt wird. Das Konzept der Grundfreiheiten als „Marktzugangsrechte“ hat den Vorteil, sehr eng an die Vorgaben der Rechtsprechung angelehnt zu sein und den Duktus der Entscheidungen zu den Warenverkehrsfreiheiten aufgreifen zu können. Das liegt vor allem daran, dass die Systematik dieses Erklärungsansatzes in der tragenden Passage des Keck-Urteils vorgezeichnet ist. 86
Schubert, Gemeinsamer Markt als Rechtsbegriff, S. 204, 408 f. „Recht auf freien und gleichen Marktzugang“; Nettesheim, EuZW 1995, S. 106, 108; Füller, Warenverkehrsfreiheiten, S. 127, 139, 142 f.; Hilson, E.L.Rev. 24 (1999) S. 445, 454 f.; Barnard, E.L.Rev. 26 (2001) S. 35, 48, 50, 52 ff.; Steiner, C.M.L.R. 29 (1992) S. 749, 772 f.; Jarass, EuR 2000, S. 705, 711 f.; Simm, Der Gerichtshof im föderalen Kompetenzkonflikt, S. 64 f., mit Verweis auf Bernard, ICLQ 1996, 82, 89, 98 ff.; Poiares Maduro, in: Roth/Andenas, Services and Free Movement, S. 58 f.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
Staatliche Regelungen, die den Absatz der inländischen und der importierten Erzeugnisse rechtlich und tatsächlich in der gleichen Weise berühren, fallen nach Ansicht des Gerichtshofs nicht unter das Verbot des Art. 28 EGV, weil sie „nicht geeignet [seien], den Marktzugang für diese Erzeugnisse zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tun.“87 Die Grundfreiheiten – so kann dieser Passus zu Recht verstanden werden – gewähren also neben dem Gleichheitsrecht ein Recht auf Marktzugang. Mit dem Begriff des „Marktzugangsrechts“ oder „Marktzutrittsrechts“88 versucht ein Teil der Literatur die Lücke zu schließen, die sich nach Keck in der Dogmatik der Grundfreiheiten aufgetan hat und die nach der hier vertretenen Lösung von einem Freiheitsgrundrecht in der Grundfreiheit ausgefüllt wird. Als ein Beispiel wäre Hilson zu nennen, der sehr sorgfältig über das Kriterium der „Mehrkosten“ die vermeintlichen Fälle von allgemeinen Beschränkungsverboten als „weitgefasste Diskriminierungsverbote“ entlarvt und dabei – vergleichbar Kingreen, Jarass, Simm – bemerken muss, dass es Fälle gibt, die auch mit dieser Systematisierung nicht in den Griff zu bekommen sind. Diese Fälle, die sich der Einordnung als „weitgefasste Diskriminierungsverbote“ widersetzen und mit den Beispielen für die echten Beschränkungsverbotsfälle überschneiden, nennt er in der Folge „Market Access Cases“ (Bosman, Graf).89 Es stellt sich die Anschlussfrage, wie sich dieses Zugangsrecht sinnvoll eingrenzen lässt. In dem Begriff „Zugang“ und in dem Verb „versperren“ hat der Gerichtshof die Richtung vorgegeben, in die er dieses Marktzugangsrecht verstanden wissen möchte. Verboten ist demnach, was diskriminiert, und darüber hinaus, was zwar nicht diskriminiert, aber – leger ausgedrückt – „so schlimm“ beschränkt, dass der Zugang nicht nur erschwert, sondern de facto versperrt ist. Die Intensität des Eingriffs in die Mobilität spielt also bei den Befürwortern des Konzepts der Grundfreiheiten als Marktzugangsrechte eine ähnliche Rolle wie bei der Bestimmung des abwehrrechtlichen Kerns im Modell der Doppelfunktionalität.90 Ähnlich sieht das auch Steiner, der bereits im Vorfeld der Keck-Entscheidung den Grad 87 EuGH v. 24.11.1993, verb. Rs. C-267/91 und 268/91, „Keck und Mithouard“, Slg. 93, S. 6079, 6131, Rz. 16 f. 88 Füller, Warenverkehrsfreiheiten, S. 127 f. 89 Hilson, E.L.Rev. 24 (1999) S. 445, 454 f. 90 Sehr deutlich wird das bei Jarass, EuR 2000, S. 705, 711, der die Grundfreiheiten ausnahmsweise auch unabhängig von jeder Schlechterstellung für einschlägig hält, wenn der Zutritt zum Nachbarmarkt verhindert sei, weil in den Kernbereich der Grundfreiheiten eingegriffen werde. Jarass selbst hebt den Begriff Kernbereich im Text hervor und stellt ihm den englischen Ausdruck „core restriction“ an die Seite.
C. Die Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
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der abschreckenden Wirkung der Regelung als das entscheidende Kriterium herausarbeitet. Eine staatliche Maßnahme, die nur minimale Auswirkungen auf die Warenströme habe, schrecke Importeure nicht von der Einfuhr ab. Nur wenn die Einfuhr „viel schwerer und drastisch teurer“ sei als der Bezug der Ware auf dem heimischen Markt, könne der Zugang zum Markt behindert sein. Steiner macht damit zugleich deutlich, dass es letztlich – allen entgegengesetzten Beteuerungen des Gerichtshofs zum Trotz – um eine „De-minimis-Regel“ für Art. 28 EGV geht.91 Mit dieser Schwierigkeit bei der näheren Beschreibung des Marktzugangsrechts setzt sich auch Barnard auseinander, die für ein Eingreifen dieser Funktion der Grundfreiheiten die folgende Bedingung vorschlägt: „The question would be in all cases: does the national measure prevent or impose a direct and substantial impediment of access to the market in another Member State“.92 Neben der Schwere der Behinderung führt sie damit das Erfordernis eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen der Maßnahme und dem Ausbleiben der Waren- oder Personenbewegung im Markt ein. Damit verweist Barnard auf einen Anknüpfungspunkt, über den der Wille des einzelnen Marktteilnehmers mit in die Überlegungen aufgenommen werden könnte. Je unmittelbarer die Verbindung zwischen dem negativen Anreiz zur Mobilität und dem Ausbleiben der Mobilität ist, desto weniger Raum bleibt für nicht-wirtschaftliche, irrationale Motive, die die Entscheidung für oder gegen die Mobilität mitbestimmen. Auch sie spürt allerdings, dass mit dem Kriterium „Access to the market“ in Konstellationen wie dem Bosman-Fall die Interessenkonflikte nicht optimal erfasst und gelöst werden können. Es müsse jedenfalls ein Unterschied zwischen Warenverkehrsfreiheiten und Personenverkehrsfreiheiten gemacht werden.93 Das ist eine mögliche Schwäche des Konzepts eines Marktzugangsrechtes. Denn die Formel „den Marktzugang zu versperren oder stärker zu behindern als für inländische Produkte“ aus dem Keck-Urteil ist auf die Warenverkehrsfreiheit zugeschnitten. Die Übertragbarkeit der Trennlinie „Verkaufsmodalitäten“ – „Produktvorschriften“, die es dem Gerichtshof im Fall Keck ermöglichte, 91
Steiner, C.M.L.R. 29 (1992) S. 749, 772 f.; Steiner lehnt sich hier an die Faustformel an, die der Generalanwalt Van Gerven in seinen Schlussanträgen zu „Torfaen“ entwickelt. Van Gerven unterscheidet schwere Nachteile, die zu einer Behinderung führen („hindrance to trade“) und solche Maßnahmen, die den Handel nur berühren („measures which (. . .) to a small extent affect trade“), vgl. Rs. C-145/88, „Torfaen“, Slg. 89, S. 3851, 3879, Rz. 25 f. 92 Barnard, E.L.Rev. 26 (2001) S. 35, 48, 50, 52 ff. 93 Barnard, E.L.Rev. 26 (2001) S. 35, 56, 58 f. „In placing such focus on „access to the market“ it diverts attention away from those measures which, firstly, prevent access to a particular occupation, and secondly, those which interfere with the exercise of a profession. The first is clearly caught by the Treaty, as the facts of Bosman make clear“.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
die missbräuchliche Verwendung der Grundfreiheiten zu verhindern, lässt sich nicht ohne weiteres auf die anderen Grundfreiheiten übertragen.94 Das Recht auf Marktzugang fasst die Hindernisse auf dem Weg in den Nachbarmarkt aus Sicht eines einzelnen Marktbürgers zusammen und unterscheidet dabei nicht mehr nach der diskriminierenden oder nicht-diskriminierenden Wirkung dieses Hindernissen, sondern allein nach der Intensität der Behinderung. Entscheidendes Kriterium ist letztlich die Gefahr, die ein bestimmtes Hindernis für das Binnenmarktprojekt darstellt. Nach Ansicht einiger Autoren sei mit dem Recht auf Marktzutritt dem Einzelnen ein so grundlegendes Recht in die Hand gegeben, dass es den Schutzgehalt einer einklagbaren Grundfreiheit überschreite. Das Markzugangsrecht sei ein Grundrecht auf Teilhabe am Nachbarmarkt.95 In den Bereich einer grundrechtlichen Qualität rückt auch Schubert das „Recht auf freien und gleichen Marktzugang“. Für ihn folgt diese Annäherung an einen grundrechtlichen Status aus der überragenden Stellung des „strukturellen Schutzguts der Marktintegration“, die auf Seiten der Grundfreiheiten streite. Das Recht auf freien und gleichen Marktzugang habe als subjektivierte Seite des Marktintegrationsziels dann ein besonderes Gewicht.96 Diesem Recht sei als Grundnorm des Gemeinschaftsrechts eine Stellung zugewiesen, die der Stellung der Grundrechte im deutschen Recht vergleichbar sei.97 Das grundfreiheitliche Recht, keine Hindernisse im grenzüberschreitenden Handel hinnehmen zu müssen, wird nach diesen Ansätzen dadurch „grundrechtlich“, dass die Grundfreiheiten – unabhängig von der Art der Beeinträchtigung – auf das Ergebnis der Sicherung des Marktzugangs hin zugespitzt werden und bewusst den Einzelnen als Ausgangspunkt des Binnenmarktes einsetzen. Indem das gesamte Gewicht der Binnenmarktziele und des Binnenmarktprogramms auf diesen einen Punkt gebündelt werden, erhält dieses Recht ein solches Gewicht innerhalb der Binnenmarktrechtsordnung, dass es in den Rang eines Grundrechts aufrücken müsse. 94 Vgl. etwa Füller, Warenverkehrsfreiheiten, S. 142 ff., der sich gegen dieses Marktzutrittskriterium als Konzept für alle Grundfreiheiten ausspricht. Soweit reiche die Konvergenz nicht. Jede Diskriminierung ausländischer Ware sei per se eine Marktzutrittsschranke (S. 127). Das, was „Keck“ regeln wolle, nämlich der Marktzutritt, werde bei Art. 39 und Art. 43 EGV vom Tatbestand der Grundfreiheiten selber übernommen. Verkaufsmodalitäten gebe es bei Art. 39 EGV nicht; vgl dazu auch die Schlussanträge Alber zu EuGH v. 13.4.2000, Rs. C-176/96, „Lehtonen“, Slg. 00, S. 2681, 2696 f., Rz. 49. 95 Nettesheim, EuZW 1995, S. 106, 108 „Die Kehrseite des gemeinschaftlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes bildet hier ein grundrechtlicher Teilhabeanspruch auf Marktzugang“. 96 Schubert, Gemeinsamer Markt als Rechtsbegriff, S. 204. 97 Schubert, Gemeinsamer Markt als Rechtsbegriff, S. 367, 408 sieht im Marktzutrittsrecht mehr als nur die subjektive Kehrseite des Binnenmarktprinzips.
C. Die Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
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Dieser Aufwertung des Marktzugangsrechts zum Grundrecht kann entgegengehalten werden, dass aus der Möglichkeit des Einzelnen, das gesamte Binnenmarktprogramm zu seinen Gunsten zum Ablauf zu bringen, eine Veränderung der Struktur des Rechts nicht folgen muss. Das Marktzugangsrecht bleibt in der Logik der Grundfreiheiten verhaftet. Es bedeutet nichts anderes als eine subjektiv-rechtliche Sicht auf Keck und beschreibt den Versuch, Keck aus der Perspektive des Bürgers zu lesen. Es wird eine Spürbarkeitsschwelle auch für die Grundfreiheiten festgeschrieben. Für den einzelnen Wirtschaftsteilnehmer bedeutet das, dass er die Grundfreiheiten in Bagatellfällen nicht mehr geltend machen kann. Ein Recht aus den Grundfreiheiten wächst ihm nur noch zu, wenn ein gewisser Grad an Benachteiligung erreicht ist und er plausibel machen kann, dass das Gefälle im Markt so stark ist, dass ein guter Kaufmann sich davon würde abschrecken lassen. Die Argumentation bleibt damit begrifflich vollständig auf dem Terrain der Grundfreiheiten.98 Zusammenfassend ist zum Verhältnis des Marktzugangsrechts zur Doppelfunktionalität zu sagen: Beide setzen an dem Widerspruch in der Rechtsprechung des Gerichtshofs an, der einerseits die Grundfreiheiten auf die Funktion als (weitverstandenes) Diskriminierungsverbot zurückführen möchte und andererseits in Einzelfällen auch weiterhin reine Beschränkungsverbotsfälle über die Grundfreiheiten zu lösen versucht. Im Anschluss an das Keck-Urteil sieht das Konzept eines „Marktzugangsrechts“ ein umfassendes Recht des einzelnen Marktbürgers vor, keine schwerwiegenden Hindernisse auf dem Weg in den Nachbarmarkt hinnehmen zu müssen, sei es eine Ungleichbehandlung oder eine sonstige Beschränkung. Theoretisch umfasst die grundfreiheitliche Funktion daher auch die Förderung der Mobilität als solcher. Eine Limitierung dieser potenziell endlos erweiterbaren Funktion erfolgt nur noch über die „Schwere“ der Beeinträchtigung. Weder die Diskriminierung noch die Beschränkung dürfen dazu führen, dass im Ergebnis eine Sperrwirkung erzeugt wird. Der Begriff des „Marktzugangsrechts“ hebt – anders als die Doppelfunktionalität – die Trennung in eine „gleichheitsrechtliche Funktion“ der Grundfreiheiten und die weitergehende Struktur als „echte“ Beschränkungsverbote auf und fasst die beiden Funktionen in dem Verbot „zu diskriminieren oder sonst den Zugang zu verwehren“ wieder zusammen. Der Ansatz des Modells der Doppelfunktionalität dagegen trennt diese Fälle von der ausschließlichen Ausrichtung auf die Dogmatik der Grundfreiheiten ab und lässt zu, dass sie punktuell nach den Regeln der Gemeinschaftsgrundrechte behandelt werden. Das hat Vorteile insbesondere in den 98 Daher muss auch Schubert im Ergebnis klarstellen, dass das subjektive Recht auf Marktzugang kein Grundrecht, jedenfalls kein Gemeinschaftsgrundrecht sein kann, vgl. Schubert, Gemeinsamer Markt als Rechtsbegriff, S. 214.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
Fällen, in denen spürbar wird, dass mit der Frage „Abschreckend hohe Kosten?“ allein der eigentliche Kern des Problems nicht immer getroffen wird. Die Argumentation kann auf grundrechtlicher Ebene leichter für die nicht-wirtschaftlichen Faktoren geöffnet werden, die sich schwer monetarisieren und in das Schema einer „Kosten-Nutzen-Analyse“ einpassen lassen. Über diese Öffnung lassen sich auch wirtschaftlich irrationale Faktoren mit berücksichtigen, die trotz ihrer ökonomischen Irrelevanz für den Einzelnen von großer Bedeutung sein können. Da ein Grundrecht anders als eine Grundfreiheit den Willen des Einzelnen „zweckfrei“ schützt, ergibt sich ein Freiraum für diese irrationalen Elemente. Diese Überlegungen zur Öffnung für nicht-wirtschaftliche Elemente in der Argumentation macht zugleich ein weiteres Mal den Unterschied zwischen den Personenverkehrsfreiheiten und den Produktverkehrsfreiheiten deutlich. Es zeichnet sich ein denkbarer Mittelweg ab: Der Gedanke des Marktzugangsrechts eignet sich sehr gut, um das Problem der „überschießenden“ freiheitsrechtlichen Funktion der Warenverkehrsfreiheit in den Griff zu bekommen. Für die Personenverkehrsfreiheiten und insbesondere für Art. 39 EGV scheint dagegen die Annahme von Grundrechten in den Grundfreiheiten die passendere Erklärung für das Verhalten der Grundfreiheiten in diesen Grenzsituationen zu sein.
D. Die Vorteile einer klaren Trennung von Grundfreiheiten und Grundrechten Das Modell der Doppelfunktionalität versucht drei Erweiterungen oder Veränderungen in der Funktionsweise der Grundfreiheiten sichtbar zu machen und in einen systematischen Zusammenhang einzuordnen: Zum einen das Auftreten von verstärkt individualschützenden „grundrechtlichen“ Elementen in der Dogmatik der Grundfreiheiten. Daneben die umstrittene Einbeziehung weiterer Adressaten (Gemeinschaft/private Wirtschaftsteilnehmer) in den Kreis der Grundfreiheitsverpflichteten. Zuletzt die ebenfalls umstrittene Erweiterung der Verbotswirkung der Grundfreiheiten für solche Handelshindernisse, die nicht mehr als Ungleichbehandlung, sondern nur noch als allgemeine Beschränkung darstellbar sind. Die Linie des Gerichtshofs, der die hier skizzierten Außengrenzen der klassisch grundfreiheitlichen Funktion in einigen Fällen bewusst überschritten hat, kann in verschiedenen Erklärungsmodellen auf schlüssige Art erfasst und dargestellt werden. Einige davon sind im vorgehenden Kapitel beschrieben worden.99 So entscheiden sich etwa die Ansätze in der Literatur, die von einer Evolution der Grundfreiheiten zu Grundrechten sprechen, für einen integrativen Weg. Sie gehen weiterhin von einem einheitlichen Normprogramm aus, das 99
Siehe oben C. II. 2.
D. Die Vorteile einer Trennung von Grundfreiheiten und Grundrechten
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seinen Schwerpunkt von einer binnenmarktfördernden zu einer stärker individualrechtlich geprägten Funktion verschoben hat.100 Ein ähnliches Erklärungsmodell liefert der Begriff des Marktzugangsrechts. Dem objektiven Regelungsziel der Grundfreiheiten, eine Aufsplitterung des Binnenmarktes zu verhindern, entspricht hier aus der Perspektive des einzelnen Marktbürgers ein (Grund-)Recht auf freien und gleichen Zugang zu allen Teilen des Marktraums.101 Die bewusste Aufspaltung der Grundfreiheiten in eine grundfreiheitliche Funktion und in Gemeinschaftsgrundrechte, wie sie in der vorliegenden Arbeit am Beispiel des Art. 39 EGV vorgenommen wurde (Doppelfunktionalität), tritt daneben als ein weiteres Modell, das die veränderte Wirkungsweise der Grundfreiheiten in der Rechtsprechung des Gerichtshofs systematisch einzuordnen versucht. Für alle drei Ansätze sprechen gute Gründe. Sowohl der evolutive Ansatz als auch die Idee der Grundfreiheiten als Marktzugangsrechte können bestimmte Aspekte der Rechtsprechung des Gerichtshof schlüssig und überzeugend erklären. Der Versuch, die Grundfreiheiten als wandelbare und anpassungsfähige Normen in einem fortdauernden und ergebnisoffenen Evolutionsprozess zu sehen, ist vor allem deshalb zutreffend, weil der Gerichtshof in der Tat weiterhin die Grundfreiheiten als Grundfreiheiten anwendet und sich die jeweiligen Veränderungen in kleinen Schritten vollzogen, die einen Sprung in eine andere Normqualität im Einzelfall unwahrscheinlich machen. Das „Wachsen“ und „Verändern“ als Reaktion auf wechselnde Vorgaben auf tatsächlicher Ebene ist im Übrigen typisch für Normen der Gemeinschaftsrechtsordnung und für die Rechtsordnung als Ganzes. Außerdem muss sich ein Modell, das auf ein „Grundrecht in der Grundfreiheit“ gestützt ist, die Feststellung entgegenhalten lassen, dass im Gemeinschaftsrecht bislang die Grundrechte nur aus den vier bekannten Quellen abgeleitet wurden.102 Der Gerichtshof hat mehrfach die Gelegenheit ausgelassen, aus den Grundfreiheiten neue Gemeinschaftsgrundrechte zu schöpfen. Ähnliche Argumente lassen sich auch zu Gunsten des Konzepts eines Marktzugangsrechts finden. Der erste Vorteil ist die im vorstehenden Kapi100 Bleckmann, Europarecht, S. 269,278; Bleckmann, Die Freiheiten des Gemeinsamen Marktes als Grundrechte, GS Sasse, S. 665, 675 f., 680 f.; Bleckmann, DVBl. 1986, S. 69, 74; Notthoff, RIW 1995, S. 541, 544 f.; Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten, S. 269; Reich, Bürgerrechte, S. 450; Reich, E.L.J. 1997 S. 131, 132 f.; u. a., siehe oben C. II. 2. d). 101 Schubert, Gemeinsamer Markt als Rechtsbegriff, S. 204, 408 f.; Hilson, E.L.Rev. 24 (1999) S. 445, 454 f.; Barnard, ELR 26 (2001) S. 35, 48, 50, 52 ff.; Steiner, C.M.L.R. 29 (1992) S. 749, 772 f.; Nettesheim, EuZW 1995, S. 106, 108; Füller, Warenverkehrsfreiheiten, S. 127, 139, 142 f.; siehe oben C. II. 2. e). 102 Siehe oben C. I. im ersten Teil; vgl. Notthoff, RIW 1995, S. 541, 544 f.; Pernice, NJW 1990, S. 2409, 2413, 2417.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
tel bereits beschriebene enge Anlehnung an die stark ausdifferenzierte Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Warenverkehrsfreiheiten und insbesondere an die Entscheidung Keck. Damit fügt sich das „subjektive Recht des Marktbürgers auf freien und gleichen Marktzugang“ unmittelbar in eine große Anzahl von Entscheidungen aus dem Bereich der Binnenmarktvorschriften ein. Der Duktus der Entscheidungsgründe bis hin zur floskelhaften Anrufung der Binnenmarkt- und Integrationsziele kann auf diese Weise mit dem Ausbau einer starken subjektiv-rechtlichen Position verbunden werden. Der Gerichtshof vermeidet es auf diese Weise, eine neue hybride Rechtsprechungslinie der „Grundfreiheiten-Grundrechte“ zu eröffnen. Er kann im vertrauten Bereich der Dogmatik der Grundfreiheiten bleiben, auch wenn im Einzelfall der Bruch mit Grundsätzen dieser Dogmatik hingenommen werden muss, wie etwa im Falle der über Umwege in die Dogmatik der Grundfreiheiten eingeführten Spürbarkeitsschwelle für die Verletzung der Art. 28 ff. EGV. Ein weiterer Vorteil ist, dass dieses Konzept die Dogmatik in wichtigen Punkten „offen hält“. Beide Konzepte – sowohl die Evolution der Grundfreiheiten zu Grundrechten als auch das Marktzugangsrecht als subjektive Kehrseite des Integrationsprogramms – eignen sich demnach grundsätzlich als Erklärungsmodelle für die erweiterten Funktionen der Grundfreiheiten in der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Die Überlegungen, die es in Abweichung von diesen Ansätzen sinnvoll erscheinen lassen, die überschießenden Funktionen der Grundfreiheiten weitgehend in ein separates, eigenständiges Grundrecht auszulagern, sind im Zusammenhang mit dem Modell der Doppelfunktionalität auf den vorstehenden Seiten erläutert worden. Die Vor- und Nachteile der einzelnen Konzepte halten sich die Waage. Aus systematischen oder dogmatischen Erwägungen drängt sich keiner der drei genannten Ansätze als ausschließliche oder zwingend vorzugswürdige Lösung auf. Wenn zum Abschluss dieser Untersuchung dennoch dem Modell der Doppelfunktionalität – d.h. der klaren Trennung von grundfreiheitlicher und grundrechtlicher Komponente – der Vorzug gegeben werden soll, so müssen die Argumente für diese Einschätzung außerhalb der den Grundfreiheiten immanenten Systematik und darüber hinaus auch außerhalb der rein juristischen Wertungen gesucht werden. Die Idee einer Aufspaltung der Grundfreiheiten in eine strikt gleichheitsrechtliche Funktion und in grundrechtliche Kerne, also in zwei unterschiedliche Normkategorien, die im Einzelfall unter den Vorschriften der Art. 28 f. EGV, Art. 39 EGV, Art. 43 EGV und Art. 49 EGV aufgerufen werden können, soll daher im Folgenden in einen weiteren Zusammenhang gestellt werden, der über den Bereich der Binnenmarktvorschriften hinausreicht. Daneben wird kurz auf den volkswirtschaftlichen und politischen Kontext eingegangen.
D. Die Vorteile einer Trennung von Grundfreiheiten und Grundrechten
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Es sind vor allem zwei Überlegungen, die dafür sprechen, den Weg über die Doppelfunktionalität zu wählen. Zum einen fügt sich dieser Erklärungsansatz besser in ein modernes Konzept der Europäischen Integration ein, das über einen rein wirtschaftlichen, linearen und „mechanistischen“ Ansatz hinausweist und Elemente eines komplexen, organischen Prozesses aufnehmen und abbilden kann. Zum anderen schafft diese klare Unterscheidung der grundfreiheitlichen und der grundrechtlichen Positionen eine höhere Transparenz der Abwägung zwischen kollidierenden Rechtspositionen im Gemeinschaftsrecht und über diese Transparenz im Ergebnis auch eine zusätzliche Legitimation der Entscheidungen, die auf diese Abwägungen zurückgehen. I. Ein erster Vorteil: Freiräume an Stelle von Verhaltenspflichten Der erste Vorteil lässt sich als These formulieren: „Ein Gemeinsamer Markt, der auf Grundrechten (als Rechten) und weniger auf Grundfreiheiten (als Pflichten) basiert, kann die Rolle des Einzelnen in diesem Markt besser abbilden und ermöglicht erst das Ausreifen des Binnenmarktprojekts zu einem Europa der Bürger.“
Dieselbe These lautet als – in Bezug auf die Grundfreiheiten – negative Aussage: „Es ist sowohl für den Einzelnen als auch für das europäische Integrationsprojekt günstiger, wenn die Grundfreiheiten nicht die beherrschende Größe im Binnenmarkt sind.“
Die Doppelfunktionalität erlaubt es, an mehreren Stellen das Gewicht der Grundfreiheiten zugunsten der Grundrechte zurückzudrängen, indem die geschilderten – in ihrer Reichweite umstrittenen – Erweiterungen der Grundfreiheiten aus dem Regelungsanspruch der Grundfreiheiten herausgenommen und anderen Normprogrammen überlassen werden. Am Beispiel des Art. 39 EGV bedeutet das: Die grundfreiheitliche Funktion der Arbeitnehmerfreizügigkeit wird als gleichheitsrechtliche Funktion auf einem verkleinerten Bereich neu definiert. Die Sachverhalte, die dann von dieser so definierten grundfreiheitlichen Funktion nicht mehr erfasst werden können, unterfallen – potenziell – der Regelung durch das Abwehrgrundrecht (Freizügigkeitsgrundrecht) im Art. 39 EGV. Zugleich kann nach der Aufspaltung des Art. 39 EGV in grundfreiheitliche und grundrechtliche Funktionen eine Drittwirkung der Grundfreiheiten als solcher ausgeschlossen werden. Eine Drittwirkung kommt allein den Grundrechten in den Grundfreiheiten zu. Damit werden die Grundfreiheiten
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
aus einer der drei Ebenen des Gemeinschaftsrechts – der „dritten Ebene“ der privaten wirtschaftlichen Entscheidungen – vollständig herausgehalten. Auf diese Weise erfolgt eine Verschiebung des gesamten Systems von einer instrumental-grundfreiheitlich geprägten Dogmatik hin zu einem Konzept des Binnenmarktes, das Rechte – vor allem grundrechtliche Freiräume – zur zentralen Bezugsgröße macht. Auch wenn diese Verschiebung des Schwerpunkts nur um einige wenige Grad erfolgt, ist sie doch nachweisbar und spürbar und nach der hier vertretenen Auffassung vor allem in der Summe der Auswirkungen – und über einen längeren Zeitraum hin gedacht – auch von entscheidender Bedeutung. Wenn der Arbeitgeber nicht mehr an die Beachtung der Arbeitnehmerfreizügigkeit als Binnenmarktziel gebunden, sondern dazu angehalten ist, das Grundrecht seines Arbeitnehmers auf Freizügigkeit zu respektieren, so kann diese Nuancierung in der Summe eine Rückwirkung auf die Färbung und das Klima des Binnenmarktes haben. Vor allem aber macht dieser Wechsel von der unmittelbaren zur mittelbaren Einbindung der privaten Wirtschaftsteilnehmer ganz grundsätzlich einen Wechsel in der gesamten Blickrichtung deutlich. Wenn Rechte statt Pflichten Ausgangspunkt der juristischen Regelungswirkung und damit auch der juristisch-politischen Diskussion und Auseinandersetzung sind, rückt das Individuum stärker in den Mittelpunkt. Die Perspektive, von der aus eine solche Diskussion geführt wird, muss notwendig auch auf die Inhalte dieser Diskussion Einfluss nehmen. Die zusätzliche Legitimation des Verhaltens, die aus dem Respekt für die Person des Gegenübers resultiert, hat eine stabilisierende Wirkung für das Gesamtgefüge. Daneben bleibt ein Arbeitgeber in solchen Entscheidungen, die nicht mit einem Grundrecht der Arbeitgeber kollidieren, frei in seiner Wahl, sich für eine binnenmarktfördernde oder eine binnenmarktskeptische Richtung seines wirtschaftlichen Handelns zu entscheiden. Die Freiwilligkeit eines Handelns, das auch außerhalb der durch die Grundrechte vorgegebenen Linien den Austausch über die Grenzen hinweg als vorteilhafte Option erkennt und ausübt, ist – wie zu zeigen ist – dem von grundfreiheitlichen Rechtspflichten geleiteten Handeln vorzuziehen. Damit ist wieder eine Annahme zur Grundlage der weiteren Argumentation gemacht worden, die einem juristischen Beweis nur schwer zugänglich ist. Der Vorteil, der sich für den Integrationsprozess ergeben soll, wenn dieser Prozess weitgehend in die freie Entscheidung der Einzelnen gelegt wird, ist nicht offensichtlich. Auf den ersten Blick spricht sogar einiges dafür, dass es für die „Integrationsbilanz“ von Vorteil wäre, wenn nicht allein das Handeln der Gemeinschaftsorgane und der Mitgliedstaaten an den Grundfreiheiten ausgerichtet ist, sondern alle Akteure, also auch die Privaten, bis hinunter zu Bagatellfällen, an die Beachtung der Grundfreiheiten (und damit der Binnenmarktziele) gebunden sind. Dadurch könnte eine maximale
D. Die Vorteile einer Trennung von Grundfreiheiten und Grundrechten
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Binnenmarktkonformität allen Handelns im Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts erreicht werden.103 In den folgenden Abschnitten der Untersuchung soll der Versuch unternommen werden, die Vorteile einer Rechte-basierten Konzeption gegenüber einer Pflichten-basierten Konzeption des Binnenmarktes an einer Reihe von Beispielen aufzuzeigen. Denn es finden sich gerade auch auf Ebene der nicht-juristischen Erwägungen verschiedene Anhaltspunkte dafür, dass es von Vorteil ist, den Markt ab einer bestimmten Stufe nicht mehr über Pflichten leiten zu wollen, sondern den Einzelakteuren freie Hand zu lassen, die Chancen, die der Markt bietet, zu nutzen und man ihnen lediglich „Rechte“ zuspricht, die sie gegen alle Seiten – Gemeinschaft, Mitgliedstaaten, andere Private – verteidigen. Die folgenden „weichen“ und „kontextuellen“ Argumente können, anders als die bislang zur Sprache gebrachten juristisch-systematischen Argumente, den Ausschlag für eines der genannten Erklärungsmodelle geben, wenn zunächst alle drei Ansatze in sich schlüssig herleitbar sind. Denn über diese „kontextuellen“ Argumente lassen sich den einzelnen Erklärungsmodellen bestimmte Nebenwirkungen zuordnen, die – je nach politischer und wirtschaftlicher Ausgangsposition – wünschenswert sind oder abgelehnt werden können. Diese zusätzliche Steuerungsmöglichkeit soll offengelegt werden. 1. Der rechtspolitische Kontext
Die Übertragung von Regelungsverantwortung weg von den Grundfreiheiten als Verhaltenspflichten hin zu den Grundrechten als geschützten Freiräumen, fällt zusammen mit dem Übergang des gesamten Binnenmarktprozesses in eine neue Phase. Ein Erklärungsmodell, dass als tragendes Konzept die Abspaltung einzelner „überschießender“ Funktionen der Grundfreiheiten beinhaltet und mit dieser Abspaltung eine deutliche Zäsur markiert, kann diesen Übergang in eine neue Phase der Integration leichter in dogmatisch-systematische Kategorien übersetzen als ein Erklärungsmodell, das von einem integrativen Ansatz her kommend versucht, die grenzwertigen Erweiterungen der Grundfreiheiten als Teile einer einheitlichen und durchgängigen Dogmatik der Grundfreiheiten zu verstehen. Der Eintritt in eine neue Phase der Integration ist im ersten Teil der Untersuchung als Schritt von der Konstruktionsphase des Binnenmarktes in die Phase des Normalbetriebes des Binnenmarktes umrissen worden. Nachdem die Staaten die Grenzen für Waren und Arbeitskräfte geöffnet haben und 103 Vgl. zuletzt Ganten, Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 223, der die Freiheit der Einzelnen am besten durch die „größtmögliche Ausdehnung des innergemeinschaftlichen Handels“ gewahrt sieht.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
die Durchlässigkeit dieser Grenzen auch in der Praxis weitgehend gesichert ist, muss in der einsetzenden Phase des Normalbetriebs des Binnenmarktes die Option, die sich durch diese offenen Grenzen bietet, von den einzelnen Wirtschaftsteilnehmern ausgeübt werden. Nur dann wird die angestrebte Durchmischung auf breiter Grundlage erreichbar sein. Auch nach Inbetriebnahme des Binnenmarktes verbleiben rechtliche und faktische Unebenheiten zwischen den einzelnen Teilmärkten und die Staaten müssen von den Versuchen abgehalten werden, im nationalen Interesse die Trennwände in Einzelfällen wieder aufleben zu lassen. Der beschriebene Übergang in die Betriebsphase ist selber ein Prozess und kein punktuelles Phänomen. Auf einen einzelnen historischen Moment lässt sich der Übergang nicht reduzieren. Es muss ein weiteres Mal zunächst auf eine These zurückgegriffen werden: Es kann unterstellt werden, dass in den letzten Jahren der Binnenmarkt (und mit ihm das gesamte Gemeinschaftsrecht) in diese neue Phase übergegangen ist. Die These lässt sich nicht beweisen. Sie lässt sich aus verschiedenen Einzelindizien herleiten. In erster Linie soll sie Diskussionsgrundlage sein. Die Richtigkeit dieser These ist interessanter Weise in hohem Maße abhängig von der Bereitschaft, sie für richtig oder für falsch zu halten. Sie ist zugleich Gegenstand einer objektiven wissenschaftlichen Beobachtung und self-fulfilling prophecy: Wenn der Schritt von der Konstruktions- in die Betriebsphase als politisch wünschenswerte Zäsur und Weiterung angesehen wird, ist der Schritt so gut wie gemacht, weil man zur Begründung dieses Schrittes auf binnenmarktexterne Argumente zurückgreifen kann. Falls diese Zäsur abgelehnt wird, kann man – da man im System des Binnenmarktes bleibt – mit guten Gründen verneinen, dass ein solcher Schritt stattgefunden hat. Die vorliegende Untersuchung geht davon aus, dass sich – unabhängig von der politischen Wünschbarkeit eines solchen Schritts – der Übergang in eine neue Phase des Integrationsprozesses an einer Reihe objektiver Ereignisse festmachen lässt. In der Literatur gibt es seit längerem Bestrebungen, begrifflich und inhaltlich die als „überholt“ geltende reine Binnenmarktlogik zu überwinden und den Boden für eine weitergefasste Gemeinschaftsrechtsordnung zu bereiten. Die Europäischen Gemeinschaften hätten für das Leben der Bürger, die auf ihrem Territorium leben, eine Bedeutung erreicht, die es nicht mehr angemessen erscheinen lasse, die Rechtsordnung, die dieses Territorium überspanne, vorrangig auf die rein wirtschaftlich ausgerichteten Maximen zu gründen. Sehr klar bringen das Formulierungen auf den Punkt, die etwa davon sprechen, der Binnenmarkt habe sich als Vision für eine weitergehende Integration erschöpft und das Binnenmarktprojekt könne keine Richtungsweisung für eine solche weitergehende Integration mehr leisten. Als ein Bereich, der diese Orientierung in Zukunft stiften könne, werden aus-
D. Die Vorteile einer Trennung von Grundfreiheiten und Grundrechten
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drücklich die Grund- und Menschenrechte genannt.104 Der Übergang von einer Phase, in der das Erreichen des objektiven Politikziels Binnenmarkt im Vordergrund stand, in eine zeitlich offene zweite Phase, die subjektive Rechte in den Vordergrund stellt und die mit politischen Mitteln kaum beeinflussbar ist, kommt auch bei Schubert zum Ausdruck. Er nimmt eine Funktionsveränderung des Binnenmarktes mit dessen zunehmenden Vollendung wahr. Das früher vorrangig verfolgte strukturelle Ziel des Grenzabbaus verliere gegenüber der zweiten Funktion des Binnenmarktes, der Verbürgung individueller Rechte, an Gewicht.105 Vor diesem Hintergrund bieten sich einige Einzelpunkte als sichtbare Grenzsteine an. An der Entscheidung Keck von November 1993 lässt sich die einschneidende Richtungsänderung am deutlichsten nachweisen. Die Entscheidung Keck ist nicht nur ein Beitrag zur Dogmatik der Grundfreiheiten sondern sie transportiert darüber hinaus auch die „rechtspolitische“ Botschaft, dass der Binnenmarkt in einer neuen „konsolidierten“ Phase angekommen sei. Mit Keck hat der Gerichtshof einer unkontrollierten Angleichung der einzelstaatlichen Wirtschaftsordnungen durch Instrumentalisierung der weitverstandenen Grundfreiheiten eine Absage erteilt. Das Ziel einer Beschleunigung aller Wirtschaftsabläufe unabhängig von einer Schlechterstellung ist demnach vom Regelungsauftrag der Grundfreiheiten nicht mehr gedeckt. Damit nimmt der Gerichtshof zugleich eine Neuord104
von Bogdandy, C.M.L.R. 37 (2000) S. 1307, 1337 „The Common Market is exhausted as a vision for further integration, neither does it provide an indication where European intregration should go from her. Human Rights, by contrast, provide a most intruiging prospect“. Der Bereich Human Rights ist nach Bogdandys Auffassung allerdings weiter in erster Linie den Mitgliedstaaten zuzuordnen; vgl. auch Hoffmann-Riem, EuGRZ 2002, 473, 474, 480; Müller-Graff, Grundfreiheiten, S. 1281, 1291 f., m. w. N. 105 Kühling, in: Bogdandy, Verfassungsrecht, S. 583, 585, 628; Schubert, Gemeinsamer Markt als Rechtsbegriff, S. 186 „Allgemein verändert sich die Funktion des Binnenmarkts mit seiner zunehmenden Vollendung. Das früher vorrangig verfolgte strukturelle Ziel des Grenzabbaus verliert jetzt gegenüber der zweiten Funktion des Binnenmarktes, der Verbürgung individueller Rechte, an Gewicht. Dieser Funktionswandel lässt sich speziell anhand der Typisierung der Keck-Entscheidung gut darstellen, die zwischen Verkaufsmodalitäten und produktbezogenen Regelungen differenziert“. Die pointierte Gegenansicht, d.h. die Auffassung, dass allein über die Forcierung des Handels die Integration erreicht und gesichert werden könnte, findet sich nur noch selten und mutet teilweise bereits anachronistisch an, vgl. etwa das flammende Plädoyer, das Ganten, Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 223 an den Schluss seiner Untersuchung stellt: „Auch politische Zielvorstellungen und Allgemeininteressen sind legitime Begrenzungsgründe der Privatautonomie. Eine dem Gemeinschaftsvertrag durch teleologische Auslegung entnommene politische Zielsetzung ist auch eines der tragenden Argumente für die hier vertretene unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten. Das Ziel lautet: Wahrung von Frieden und Freiheit durch Völkerverständigung; und Völkerverständigung durch größtmögliche Ausdehnung des innergemeinschaftlichen Handels“.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
nung der Macht- und Kompetenzverhältnisse zwischen den beteiligten Ebenen im Integrationsprozess vor. Die weitergehende Integration wird dem Diskriminierungsverbot, dem Wettbewerbsrecht und der Rechtsetzung über sekundäres Gemeinschaftsrecht – und damit den Mitgliedstaaten – anvertraut. Die Eigendynamik der Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten wird gestoppt. Diese Zusammenhänge sind in der wissenschaftlichen Literatur von zahlreichen Autoren untersucht und im Detail nachgewiesen worden.106 Die außergewöhnliche Rolle der Entscheidung Keck als Wendemarke im europäischen Integrationsprozess ist unbestritten. Die Grundhaltung, die der Gerichtshofs in der Sache Keck eingenommen hat, spiegelt sich auch in einer Entscheidung wie Faccini Dori wieder, in der die Horizontalwirkung von Richtlinien vom Gerichtshof abgelehnt wurde.107 Darin ist eine weitere Facette des „Abbremsens“ zu sehen. Über eine Horizontalwirkung von nicht-umgesetzten Richtlinien hätte sich dem Gemeinschaftsrecht ein sehr effizienter Kanal eröffnet, an den zögerlichen Mitgliedstaaten vorbei einheitlichen gemeinschaftlichen Regeln in weiten Teilen des Zivilrechts zur Geltung zu verhelfen. Unter Gesichtspunkten wie der höchstmöglichen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts („effet utile“) und einer forcierten, raschen Integration wäre die Anerkennung einer solchen unmittelbaren Drittwirkung der Richtlinien gut begründbar gewesen. Dennoch hat sich der Gerichtshof gegen eine – wie es ihm scheinen musste – ungezügelte negative Integration und für die Stärkung der positiven Integration ausgesprochen. Die Absage an die unmittelbare Drittwirkung stärkt die Handlungsform der Richtlinie als Instrument der positiven Integration, die die Mitgliedstaaten auch formal mit einbezieht. Auf diese Weise nimmt der Gerichtshof auch hier eine Neuzuordnung der Normsetzungskompetenzen innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung vor. Eine ganze Reihe vergleichbarer Einschnitte fallen zeitlich ungefähr mit der Entscheidung Keck zusammen. Bis zum 31. 12. 1992 sollte beispielsweise die Vollendung des Binnenmarktes nach den Vorgaben des EG-Vertrags (damaliger Art. 7a EGV) abgeschlossen sein. Ebenfalls Ende des Jahres 1993 trat der Vertrag in der geänderten Fassung als „Maastricht-Vertrag“ in Kraft. Durch die Aufnahme der beiden Säulen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik (ZBIJ) neben die Kern-Säule der Wirtschaftsgemeinschaft (EG) zeichnete sich bereits die Relativierung der Alleinstellung der 106 Vgl. etwa die Untersuchung von Simm, Der Gerichtshof im föderalen Kompetenzstreit, S. 157 ff., 202, 263 f.; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 127; Hilson, C.M.L.R. 24 (1999) S. 445, 457 „Hands-off approach after Keck“; Caspar, EuZW 2000, S. 237, 243; u. v. m. 107 EuGH v. 14.7.1994, Rs. C-91/92, „Faccini Dori“, Slg. 94 S. 3325, 3356, 3358, Rz. 23 ff., 30.
D. Die Vorteile einer Trennung von Grundfreiheiten und Grundrechten
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wirtschaftlichen Integration ab. Mit der EU war der weitere Rahmen ins Leben gerufen, in den hinein sich das Gemeinschaftsrecht entwickeln konnte. Die Aufnahme der damaligen Art. 8 ff. EGV (jetzt Art. 17 ff. EGV) über die Unionsbürgerschaft bereitete der Hinwendung auf den einzelnen EU-Bürger als Citoyen auch sprachlich und rechtstechnisch den Weg. Auch der Wechsel an der Spitze der Kommission von Jacques Delors zu Jacques Santer in den Jahren 1994/95 kann in diese Reihe der Wendepunkte aufgenommen werden. In den beiden Amtsperioden unter Delors stand die Vollendung des Binnenmarktes im Vordergrund (Weißbuch KOM 85/310, Delors-Pakete). Mit der Vertragsrevision von Maastricht hatte Delors die Weichen für die weiteren Schritte auf dem Weg zur Wirtschaftsund Währungsunion im Wesentlichen gestellt. Die Widerstände, die sich bei der Ratifikation des Maastrichter Vertrags in einigen Mitgliedstaaten geregt hatten – die Referenden in Frankreich und Dänemark, das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland, die Opt-out-Klauseln für Großbritannien – zeigten zugleich die Grenzen des Integrationspotentials zum gegebenen Zeitpunkt auf. Zu seinem Amtsantritt machte Santer daher deutlich, dass die Konsolidierung des Erreichten und damit das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes in seinem aktuellen Bestand Vorrang vor einer Vertiefung oder Veränderung haben müsse. Die zweite Hälfte der neunziger Jahre war entsprechend geprägt von einer eher administrativen denn politischen Einstellung zum Binnenmarkt. Damit verbunden ist beispielhaft etwa ein starkes Anwachsen der Bedeutung der Wettbewerbsverfahren (GD IV) für den Binnenmarkt. Ein Zeichen für das Ende dieser Übergangsphase könnte in den im Wortlaut unmerklich angepassten Fassungen der Grundfreiheiten nach Vereinbarung und Inkrafttreten der Vertragsänderung von Amsterdam gesehen werden. Die Grundfreiheiten werden auch äußerlich nicht mehr allein als Zwischenstadien auf dem Weg zum Ziel des einheitlichen Marktraumes gewertet. Ihr individualschützendes Potential wirkt sich damit erstmals sichtbar auf die Vorschriften selber aus.108 Aus diesen Indikatoren ist in der Zusammenschau ein sicherer Schluss auf den Eintritt in eine neue Phase des Integrationsprozesses Mitte der neunziger Jahren möglich. Die Phase der Konsolidierung und des Normalbetriebs des Binnenmarktes sollte mit einer Verlangsamung der Geschwindigkeit des Ausgleichsflusses einhergehen.109 Der äußere Druck auf die ein108
Siehe oben B. I. 2. d) im ersten Teil. Die Fassungen der Art. 28 und 29 EGV bleiben allerdings im Wesentlichen unverändert. Das ist ein weiterer Hinweis auf den unterschiedlichen Entwicklungsstand, den die einzelnen Grundfreiheiten wegen ihres jeweils unterschiedlichen Sachzusammenhangs erreicht haben, vgl. die Passagen zur Konvergenz, siehe oben B. II. 5. ebenfalls im ersten Teil der Arbeit.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
zelnen Akteure zu einem binnenmarktkonformen Verhalten kann heruntergefahren werden. In einer solchen Phase scheinen Rechte ein geeigneteres juristisches Instrumentarium als Pflichten. Diesen Vorteilen einer auf subjektive Rechte gegründeten Binnenmarktordnung werden in der Regel Argumente aus den Wirtschaftswissenschaften entgegengehalten, um die – unter ökonomischen Prämissen – unersetzliche Rolle der Grundfreiheiten für das Funktionieren des Binnenmarktes auch in der Phase nach Abschluss seiner Errichtung begründen zu können. Auch auf diese Argumente soll daher kurz eingegangen werden. 2. Der wirtschaftstheoretische und wirtschaftspolitische Kontext
Das gesamte Binnenmarktprojekt ist auf eine Reihe volkswirtschaftlicher Prämissen gebaut. Bereitgestellte Freiräume werden durch Einzelentscheidungen der privaten Wirtschaftsteilnehmer ausgefüllt, die sich durch ein Handeln in diesen Freiräumen eine Rendite erhoffen. Warenströme fließen, sobald und solange ein Preisgefälle Gewinne verspricht. Daneben ermöglicht ein größerer und grenzenloser Marktraum Skaleneffekte, niedrigere Transaktionskosten und sonstige Effizienzzuwächse. Die Grundfreiheiten schaffen diese Freiräume, halten sie offen und kompensieren zusätzlich bestimmte Transaktionskosten, die unmittelbar auf die Marktsegmentierung zurückgehen. Unter wirtschaftswissenschaftlichen Gesichtspunkten ist es für den Binnenmarkt daher scheinbar zwingend von Vorteil, dass die Grundfreiheiten als Programmnormen ihre Funktionen in alle Richtungen ausdehnen und zum einen über die kompensierende Funktion als Gleichheitsrechte hinaus auch eine beschleunigende, freisetzende Funktion ausüben, zum anderen neben den Staaten auch die privaten Wirtschaftsteilnehmer in die Pflicht nehmen. Dieser Automatismus, der eine direkte Linie von der Stärkung der Grundfreiheiten über eine rasche und gründliche Durchmischung zum stabilen und prosperierenden Binnenmarkt zieht, soll im Folgenden hinterfragt werden. Die Zwangsläufigkeit der Argumentation, die hier suggeriert wird, ist nicht haltbar. In einem – inhaltlich und zeitlich – weiter gefassten Rahmen ist es für den angestrebten Marktraum auch in ökonomischer Hinsicht vielmehr günstiger und zeitgemäßer, wenn die Grundfreiheiten auf ihre ursprüngliche Kernfunktion zurückgeschnitten und die „dritte Ebene“ der privaten Wirtschaftsteilnehmer grundsätzlich vom grundfreiheitlichen Rege109 Die Rückführung der Grundfreiheiten auf ihre ursprüngliche Funktion als Anund Ausgleichungsformen bringt m. E. ein solches Absenken der Integrationsgeschwindigkeit mit sich. A. A. etwa Kingreen, in: Bogdandy, Verfassungsrecht, S. 631, 656, der diesen Schluss für voreilig hält.
D. Die Vorteile einer Trennung von Grundfreiheiten und Grundrechten
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lungsanspruch freigehalten und einer von Grundrechten und dem Wettbewerbsrecht begrenzten Freiwilligkeit überlassen wird. a) Die wirtschaftstheoretischen Gründe für einen hohen Integrationsdruck über eine Ausweitung des grundfreiheitlichen Normprogramms Auf die wirtschaftswissenschaftlichen Grundlagen und Modelle, die hinter den angesprochenen volkswirtschaftlichen Überlegungen stehen, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht näher eingegangen werden. Es soll ausreichen, die einzelnen Argumente vereinfacht wiederzugeben und für die Diskussion in einem juristischen Zusammenhang nutzbar zu machen. Aus wirtschaftlicher Sicht ist es für die Integration in besonderem Maße vorteilhaft, wenn nicht allein die Diskriminierungen (Mehrkosten) zwischen den einzelnen Teilmärkten aufgehoben werden, sondern auch die Mobilität als solche erhöht wird. Das hieße, die Grundfreiheiten ganz bewusst nicht allein als Gleichheitsrechte zu verstehen, sondern unter Berufung auf die Grundfreiheiten – losgelöst von jedem Vergleichsmoment – ganz grundsätzlich die Zirkulationsgeschwindigkeit der Wirtschaftsfaktoren im Gesamtmarktgebiet zu erhöhen. Im ersten Teil der Arbeit sind diese Zusammenhänge am Beispiel des physikalischen Diffusionsmodells erläutert worden. Die Grundfreiheiten können – denkbar – an zwei verschiedenen Regelgrößen des Marktgeschehens ansetzen. Zum einen steuern sie die Durchlässigkeit der Trennwände, die den Fluss der Waren von einem Teilmarkt in den nächsten versperren oder verlangsamen. Daneben können die Grundfreiheiten insgesamt die Geschwindigkeit der Warenbewegungen im Markt anheben, indem sie als Beschränkungsverbote gegen verlangsamende Regelungen aller Art vorgebracht werden. Je höher die Zirkulationsgeschwindigkeit, umso rascher ist die Nivellierung der verbleibenden Unterschiede in den Teilmärkten und damit auch das angestrebte Ziel des level playingfield erreicht. Je aggressiver die Mittel sein dürfen, mit denen neue Märkte „gemacht“ werden, desto rascher wird diese homogene Verteilung von Waren und Arbeitskräften über das gesamte Marktgebiet erfolgen und umso rascher werden die alten Staatengrenzen an Bedeutung für den Binnenmarkt verlieren. Mit einer hohen Fließrate ist nach den Annahmen der Wirtschaftswissenschaftler zudem eine effiziente Verteilung (Allokation) der Ressourcen verbunden. Alles gelangt dahin, wo es am dringendsten benötigt wird, oder umgekehrt, alles wird von dort bezogen, wo es am preiswertesten zur Verfügung gestellt werden kann. Das hat – im Wertesystem der Volkswirtschaftler – positive Auswirkungen auf die Effizienz der Volkswirtschaft als solche und auf diesem Wege auch für jeden Einzelnen. Ganz besonders deutlich ist der Zusammenhang zwischen einer möglichst hohen
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
Anzahl grenzüberschreitender Einzelbewegungen und dem Gelingen des Binnenmarktes, wenn man sich den Modellcharakter der volkswirtschaftlichen Aussagen vor Augen hält. Je höher die Zahl, desto geringer wirken sich abweichende, irrationale Einzelfälle auf die Idealverteilung und die Standardabweichungen der Modelle aus. An dieser Stelle ist die Nähe der wirtschaftswissenschaftlichen Modelle zum physikalischen Diffusionsmodell nicht zu übersehen. Der atomistische Ansatz der wirtschaftswissenschaftlichen Modelle entspricht den „Teilchen“, die die Grundlage der Beschreibung des Diffusionsvorgangs bilden. Die eindimensionale Programmierung der wirtschaftlich Handelnden in den volkswirtschaftlichen Modellen entlang des Gefälles, das eine Gewinnerzielung ermöglicht, entspricht der „Brown’schen Bewegung“ als Eigenbewegung der Teilchen im Modell, die ebenfalls ausschließlich entlang eines Gefälles – Ausgleich der Konzentrationsunterschiede im Raum – abläuft.110 Ein weiterer Vorteil der raschen Durchmischung ist die Tatsache, dass mit zunehmender wechselseitiger Durchdringung der Teilmärkte die Umkehrbarkeit des Prozesses immer unwahrscheinlicher wird. Dadurch werden Fakten geschaffen und der Binnenmarkt als das Kernstück des Einigungsprojekts von einem weichen, verletzlichen in einen soliden, irreversiblen Zustand überführt. Erste Schwächen dieser wirtschaftlichen Argumente zeigen sich in ihrem Umgang mit Verhaltensweisen, die aus dem eindimensionalen Schema – „Richtung des Handelns als Funktion der Höhe des zu erwartenden Gewinns“ – ausbrechen. Die Gründe, die den Einzelnen davon abhalten, ins Ausland zu gehen, obwohl er dort einen höheren Lohn erhalten würde, sind im wirtschaftswissenschaftlichen Modell „Marktverzerrungen“ und wirken sich als Unreinheiten ungünstig auf die Abläufe im Modell aus. Die optimale Allokation wird dadurch behindert, dass der Einzelne nicht wie ein vernünftiger Wirtschaftsteilnehmer, sondern irrational handelt. Einzelne Gründe – etwa die Umzugskosten oder die Sprachbarrieren – lassen sich als Transaktionskosten darstellen und über Ausgleichszahlungen auffangen. Andere Gründe, wie die Verbundenheit mit dem Wohnort und den Menschen, die dort leben, eine diffuse Scheu vor Veränderung (inertness) oder vor dem Ausland können im volkswirtschaftlichen Modell nur sehr schwer er110 Siehe oben B. I. 1. b) im ersten Teil. Damit ist zugleich die entscheidende Schwäche der wirtschaftstheoretischen Argumente mitbenannt. Sie können externe Faktoren (politische, historische, nicht-rationale persönliche Entscheidungen) und vor allem Gemengelagen dieser Faktoren nicht adäquat abbilden. Zum Verhalten der einzelnen Wirtschaftsteilnehmer im Modell vgl. etwa Poiares Maduro, E.L.J. 1997, S. 55, 79 f.; Poiares Maduro, in: Alston, EU and Human Rights, S. 459, 451 ff.; Streit/Musseler, E.L.J. 1995, S. 4, 11, „Relentless rent-seeking activities“; MilnerMoore, Accountability of Private Parties, S. 20 ff.; u. v. m.
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fasst werden.111 Um dieses „Fehlverhalten“ der Einzelnen zu kompensieren, müssten nach den Modellen Anreize geschaffen werden, die aber kaum zu monetarisieren sind. Diese irrationalen Faktoren wiegen für jeden Einzelnen anders. Diese Schwierigkeiten lassen es aus wirtschaftstheoretischer Sicht klüger erscheinen, wenn die Gemeinschaft die „Fehleinschätzungen“ der Einzelnen, die aus deren begrenzter Sicht der Gesamtzusammenhänge (bounded rationality) resultiert, durch ihre eigene weitsichtigere Einschätzung ersetzt und das Verhalten der Einzelnen über die Grundfreiheiten als Pflichten direkt an die Beachtung der Binnenmarktziele bindet. Als ein Beispiel für die Bedeutung, die aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht einer hohen Mobilitätsrate zukommt, sollen die sogenannten „asymmetrischen Schocks“ genannt werden, die im Vorfeld der Beschlüsse zur Währungsunion Gegenstand der wirtschaftswissenschaftlichen Debatte waren. Solange die Währungen – wenn auch in geringem Umfang – gegeneinander ausgespielt werden konnten, war es möglich, Konjunktureinbrüche, die nur eine bestimmte Region in Europa betrafen (asymmetrische Schocks), über die nationalen Währungspolitiken bis zu einem gewissen Grad abzufangen und die Folgen für die betroffene Region zu mildern. Nach Einführung einer gemeinsamen Währung fällt dieses Steuerungsmittel und dieser „Puffer“ weg. Die Schocks treffen die Bevölkerung einer betroffenen Region ungebremst. Die einzige Möglichkeit, einer hohen Arbeitslosigkeit in diesen jeweils betroffenen Regionen zu entgehen, sehen die Wirtschaftswissenschaftler in einer sofortigen Abflussbewegung der Arbeitskräfte in eine andere – prosperierende – Region Europas. Ohne eine hohe Flexibilität und eine hohe „Leichtigkeit“ der Wanderungsbewegungen innerhalb des gesamten Marktraumes stellen die regionalen konjunkturellen Einbrüche ein hohes Risiko für die Stabilität der Gemeinschaft dar.112 b) Wirtschaftstheoretische Argumente gegen eine Forcierung des grundfreiheitlichen Normprogramms Es finden sich aber auch auf wirtschaftswissenschaftlichem Terrain Argumente, die gegen die behauptete Notwendigkeit einer maximalen Beschleunigung der gemeinschaftsweiten Marktbewegungen als unverzichtbarer Voraussetzung einer gelungenen Integration angeführt werden können.
111 Schönherr, Vereinigungsbedingte Dimensionen regionaler Arbeitsmobilität, S. 21 f., 141 f., 147. 112 Zu den „asymmetrischen Schocks“ vgl. etwa: Mundell, in: Taylor, EMU 2000. Prospects for European Monetary Union, S. 21; Taylor, EMU 2000. Prospects for European Monetary Union, S. 31; Degrauwe, The Economics of Monetary Integration, S. 86. Dahinter steht erkennbar der Allokationsgedanke.
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Insbesondere ist im Falle des Binnenmarktes die Geschwindigkeit, mit der die Durchmischung der Teilmärkte erreicht werden soll, als solche auch aus wirtschaftstheoretischer Sicht kein entscheidender Faktor für die Stabilität des angestrebten Zustandes. Es kommt – anders als etwa bei dem Wettlauf um bestimmte Märkte – nicht darauf an, in möglichst kurzer Zeit einen bestimmten Marktanteil zu sichern, um in dem neuen Markt überleben zu können. Einen „First-Mover-Advantage“ oder eine „kritische Masse“ gibt es für den Binnenmarkt nicht.113 Wenn einzelne EU-Bürger von den Grundfreiheiten keinen Gebrauch machen oder sich grundfreiheitswidrig verhalten, können sie nur anteilig die Erfolgsbilanz des Projekts „Binnenmarkt“ schmälern. Ihre Weigerung, sich an den Zielen der Grundfreiheiten zu orientieren, kann das bereits Erreichte nicht gefährden. Umgekehrt gibt es keinen Punkt, von dem ab die Integration unumkehrbar und gleichsam „eigendynamisch“ in eine Richtung weiterlaufen würde. Auch wirkt sich die Nicht-Beteiligung Einzelner nicht in der Weise auf das Verhalten anderer Einzelner aus, wie das etwa bei den „Netzwerk-Externalitäten“ der Fall ist.114 Der Nutzen, den der einzelne Wirtschaftsteilnehmer aus der Teilnahme am Binnenmarktprojekt zieht, ist unabhängig von der Anzahl der weiteren Teilnehmer.115 Wo ihr Verhalten (Grund-)Rechte anderer Einzelner beeinträchtigt, sind diese über die Gemeinschaftsgrundrechte und das Wettbewerbsrecht geschützt.
113 Vgl. Haas, Study of Regional Integration, in: International Organization XXIV (1970) S. 607, 615 f. „A critical mass composed of integrative activities in a number of issue areas likely to result in a culmination of de facto and de iure political union is difficult to identify and hazardous to predict“. 114 Bei bestimmten vernetzten Systemen (Telefon, Software, Infrastruktur, Vertriebskanäle) hängt der Nutzen, den der einzelne Teilnehmer aus diesem System ziehen kann, von der Anzahl weiterer Nutzer ab, die ebenfalls diesem System angehören. Ein einzelnes Telefon ist offensichtlich wertlos. Je mehr Teilnehmer über das Netzwerk erreichbar sind, desto wertvoller ist das Telefon für jeden einzelnen Nutzer. Wenn zwei oder mehr konkurrierende Netze im Aufbau begriffen sind, wird sich in der Regel das System durchsetzen, das als erstes eine bestimmte „kritische Masse“ erreicht hat. Die Teilnehmer des anderen Netzes wechseln dann in der Regel zu dem erfolgreicheren System über. Hier spielt – anders als beim Binnenmarkt – die Geschwindigkeit eine ganz entscheidende Rolle. 115 Im Gegenteil ist es für den mutigen Einzelnen unter Umständen sogar von Vorteil, bei den Ersten zu sein, die vom gemeinschaftsweiten Handel profitieren können. Gegen Ende der Assimilationsphase schwinden mit den Marktunebenheiten auch die Gewinnmargen. Diese Margen in der Übergangsphase sind zugleich eine potenzielle Schwachstelle des Binnenmarktes. Einzelne Private können Verwerfungen und Lücken, die sich vorübergehend durch die unklare Kompetenzverteilung auftun, zur Abschöpfung von Gewinnen nutzen. Diese Phase der Verwundbarkeit möglichst kurz zu halten, wäre ein Argument, das für eine forcierte Anwendung der Grundfreiheiten spräche.
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Der Ansatz, eine maximale Mobilität über die Anbindung aller Marktteilnehmer an ein weitverstandenes Normprogramm der Grundfreiheiten zu erreichen, kann daneben auch unter gesamtwirtschaftlichen Kosten- und Effizienzgesichtspunkten in Frage gestellt werden. Die Einhaltung dieser Bindung des Marktverhaltens an die Binnenmarktziele müsste überwacht und durchgesetzt werden.116 Die dadurch verursachten Kosten sind gegen den Nutzen abzuwägen, der für den Binnenmarkt daraus resultiert, dass auch diese verbleibende Marge an abweichlerischen einzelnen Markthandlungen auf die Linie der Binnenmarktziele gebracht wird. Wie eine solche KostenNutzen-Rechnung im Ergebnis ausfiele, darüber kann und sollte gestritten werden. Auch der Unwille der Wirtschaftsteilnehmer, an eine bestimmte politische Vorgabe – hier die Förderung des Binnenmarktprojekts – gebunden zu sein und die Beschneidung der unternehmerischen Freiheit, die mit dieser Bindung einhergeht, müsste bei offener und objektiver Betrachtung als „Effizienzverlust“ in die gesamtwirtschaftliche Bewertung einfließen. Diese Überlegungen bewegen sich im Bereich des Spekulativen. Sie können aber die wirtschaftswissenschaftlichen Notwendigkeiten, die für eine maximale Mobilität ins Spiel gebracht werden, etwas relativieren und auf die Grenzen und die Beliebigkeit des Effizienz-Arguments hinweisen. Im Ergebnis gilt hinsichtlich der wirtschaftstheoretischen und wirtschaftspolitischen Gründe für und gegen eine Ausweitung des grundfreiheitlichen Normprogramms: Ein Verzicht auf die Steuerung der dritten Ebene über die Grundfreiheiten hat bei bilanzierender Betrachtung nicht zwingend negative Auswirkungen auf die Integration des Binnenmarktes und die Integrationsgeschwindigkeit. Eine Notwendigkeit, die Geschwindigkeit der Durchmischung des Marktes zu erhöhen, folgt aus den wirtschaftswissenschaftlichen Vorgaben nicht. Vereinzelt wird es stets adverse Effekte geben, wenn Einzelne nicht binnenmarktkonform handeln wollen. Das kann durch den Verzicht auf Monitoring und vergleichbare Effizienzgewinne an anderer Stelle nur zu einem geringen Teil aufgefangen werden. Dem binnenmarktfeindlichen Verhalten Privater wird allerdings mehrfach die Spitze genommen, zum einen durch das Wettbewerbsrecht, das Marktmacht verhindert und eingrenzt, vor allem aber durch die Grundrechte, die dann eingreifen, wenn die grundrechtliche Freiheit des Einzelnen, seine Tätigkeit, seinen Beruf und seinen Aufenthalt zu wählen, nicht nur berührt, sondern potenziell aufgehoben wird.
116 Es wäre denkbar, diese Kontrolle ebenfalls weitgehend dem Markt zu überlassen und darauf zu vertrauen, dass die Grundfreiheiten über Vorlageverfahren steuerbar blieben. Auch diese Verfahren binden allerdings Ressourcen.
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c) Wachstum, Nachhaltigkeit und das Risiko instabiler Systeme als Ergebnis eines gesellschaftlichen Durchmischungsprozesses Letztlich kann die starke Stellung der ökonomischen Argumente aber nur durchbrochen werden, indem bewusst ein Bezugsrahmen gewählt wird, der in zweifacher Hinsicht die Koordinaten erweitert, innerhalb derer die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten gelten. Diese Erweiterung umfasst eine inhaltliche und eine zeitliche Komponente. Das Integrationsprojekt muss zum einen über einen langfristigen Zeitraum hin gedacht werden. Daneben sind die Begrifflichkeiten und die Axiome, die den volkswirtschaftlichen Modellen zugrunde liegen, ganz grundsätzlich daraufhin zu überprüfen, ob sie weiterhin als tragender methodologischer Unterbau einer mittlerweile um ein Vielfaches komplexeren Rechtsordnung geeignet sind. Die inhaltliche Erweiterung der Gemeinschaftsrechtsordnung von einer Binnenmarktordnung zur Rechtsordnung eines umfassenden Gemeinwesens lässt den Binnenmarkt, in dem die wirtschaftswissenschaftlichen Annahmen ihren angestammten Platz haben, als einen Bereich unter vielen in den Hintergrund treten. Diese inhaltliche Erweiterung entspricht zeitlich dem Übergang von der Konstruktions- in die Betriebsphase des Binnenmarktes. Dieser Schritt in die Betriebsphase des Binnenmarktes, der – stellvertretend – am Keck-Urteil festgemacht wurde, fällt notwendig auch mit einem Wechsel der rechtlichen Steuerungsmittel zusammen. Das Verhalten einer begrenzten Anzahl von Staaten ließ sich mit dem Instrumentarium von Grundfreiheiten als Ge- und Verboten auf das Binnenmarktziel hin ausrichten. Für beinahe vierhundert Millionen EU-Bürger müssen andere Regeln gelten. Das Konzept eines „von unten wachsenden Binnenmarktes“, der sich aus einer Vielzahl von autonomen Einzelentscheidungen heraus selber mit Leben erfüllt, hat die Schlagworte eines grundsätzlichen Paradigmenwechsels auf seiner Seite.117 Der alte Ansatz der Grundfreiheiten, über Verbote und Verpflichtungen den Binnenmarkt zu schaffen, sieht sich unter diesem Blickwinkel dem Vorwurf ausgesetzt, ein mechanistischer und simplifizierender Ansatz zu sein. Wo die Binnenmarktvorschriften bislang auf die Möglichkeit vertrauten, durch Konstruktion einen Zustand zu schaffen, wird dem jetzt das Wachsen in einen Zustand gegenübergestellt. Eine lineare, eindimensionale Entwicklung wird durch Modelle abgelöst, die Zufallsbewegungen und „chaotische“, mehrdimensionale Muster in die Darstellungen einer Entwicklung einzubeziehen versuchen.118 In der juristi117
Körber, EuR 2000, S. 932, 932 „Zusammenwachsen der Teilmärkte von unten durch grenzüberschreitende Ausübung der Privatautonomie“; Streit/Musseler, E.L.J. 1995, S. 4, 9 „Self-coordination from below based on the actions of autonomous economic agents“, S. 11 „Relentless rent-seeking activities“; Poiares Maduro, E.L.J. 1997, S. 55, 79 f.
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schen Terminologie sind diese Schlüsselbegriffe wie „Wachstum“ und „organische Entwicklung“ noch immer sehr vorsichtig verwendete Vokabeln.119 Das Ausweiten der Gemeinschaftsrechtsordnung über den Binnenmarkt hinaus lässt sich in Ansätzen dagegen bereits in der Rechtsprechung des Gerichtshofs finden („Civis europaeus“; Abschwächen des Merkmals der Wirtschaftsbezogenheit bei den Grundfreiheiten; Art. 18 Abs. 1 EGV), wenn auch bislang vor allem in den Schlussanträgen oder den nichttragenden Entscheidungsgründen.120 Hier wird erneut die Nähe zum rechtspolitischen Argument spürbar. Das Loslösen von den Binnenmarktzielen und dem Primat der Grundfreiheiten gelingt, wenn die Wirtschaftsgemeinschaft nur noch ein Baustein von mehreren innerhalb eines größeren Systems ist. Ob der „Schritt über die Binnenmarktlogik hinaus“ bereits vollzogen ist oder noch aussteht, ist schwer zu sagen. Außerdem soll im Folgenden der zeitliche Bezugsrahmen weiter gefasst werden. Die wirtschaftlichen Argumente treffen ihre Aussagen für einen kurz- oder mittelfristigen Zeitraum. Betrachtet man das Integrationsprojekt über einen langfristigen oder offenen Zeitraum, kann mit der Frage nach der Nachhaltigkeit des Integrationsprozesses ein weiterer Schlüsselbegriff in die Überlegungen eingebracht werden, der über die Naturwissenschaften Eingang in die politische und damit auch rechtspolitische Debatte gefunden hat. Das leitet ein letztes Mal über zu der Anleihe bei den Naturwissenschaften. Die Übertragung des physikalischen Modells auf die Gesetzmäßigkeiten im Binnenmarkt lenkt den Blick auf eine mögliche Instabilität, die von einer forcierten Anwendung der Grundfreiheiten ausgehen kann. Wenn nämlich die Grundfreiheiten – über ihre kompensierende Funktion hinaus – dazu benutzt werden, um ganz grundsätzlich die Zirkulationsgeschwindigkeit im gemeinsamen Marktraum zu erhöhen, dann ist dieses „Anheizen“ des Binnenmarktes für dessen weitere Integration nicht immer hilfreich. Die Zufuhr von Energie in ein komplexes System birgt auch ein 118 Haas, Study of Regional Integration, in: International Organization XXIV (1970) S. 607, 627 f., 645 f, „neo-functionalists rely on the primacy of incremental decision-making over grand designs“ (S. 627); Bekemans/Lourtie, Economy and Society, S. 66, 73; auch Streit/Musseler, E.L.J. 1995, S. 5, 25 sprechen sich gegen eine rein konstruktivistische Vorstellung des Binnenmarktprozesses aus. 119 Weiler, Rev.M.U.E. 1996, S. 35, 47 „Organic growth“; Körber, EuR 2000, S. 932, 932, Friedbacher, E.L.J. 1996, S. 226, 249 „A more stable, healthier evolution of the Common market“; Handoll, Free Movement, S. 310; Streit/Musseler, E.L.J. 1995, S. 4, 9 „Self-coordination from below“; Maduro, E.L.J. 1997, S. 55, 79 f.; Haas, Study of Regional Integration, in: International Organization XXIV (1970) S. 607, 630 f. 120 Schlussanträge zur Entscheidung des EuGH v. 30.3.1993, Rs. C-168/91, „Konstantinidis“, Slg. 95, S. 1191, 1212, Rz. 49; EuGH v. 19.1.99, Rs. C-348/96, „Calfa“, Slg. 99, S. 11, 31 f., Rz. 29 f.; siehe oben B. II. 1. b) und E. III. 2. a) im ersten Teil.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
schwer abzuschätzendes Risiko. Geht man von einer Art Energieerhaltungssatz für gesamtgesellschaftliche Prozesse aus, darf diese zugeführte Energie bei einer bilanzierenden Betrachtung über einen längeren Zeitraum nicht unberücksichtigt bleiben. Sie ist vielmehr in der Struktur der Gesellschaft „gespeichert“, zu deren Entstehung sie beigetragen hat. Wie sich diese gespeicherte Energie auf den Zustand einer Gesellschaft auswirkt, darüber kann an dieser Stelle nur spekuliert werden. Ein Gleichgewicht, das nur über eine sehr hohe Energiezufuhr erreicht werden kann, ist potenziell instabil. Die zugeführte Energie verbleibt in dem Gleichgewicht und in dem System und kann in einer späteren Phase wieder in einen Zerfallsprozess überleiten. In ähnlicher Weise können – übertragen auf chemische Prozesse – Katalysatoren Spuren in der Struktur der Produkte hinterlassen, deren Entstehung sie beschleunigt haben. Übertragen auf das Szenario eines gesellschaftlichen Vermischungsprozesses ergibt sich das folgende Bild. Falls die Grundfreiheiten gegen jede Art der beschränkenden und verlangsamenden Regulierung als Beschleuniger eingesetzt werden könnten, würden sie das Gleichgewicht der europäischen Volkswirtschaften in eine bestimmte Richtung verschieben. Die Grundfreiheiten stünden dann für hohe Umlaufgeschwindigkeiten von Waren und Personen, Volatilität, aggressive Marketingmethoden, Zugzwang, Verdrängungswettbewerb, Zwang zum Wachsen. Damit ist bewusst das Zerrbild einer neoliberalen, kalten und kompetitiven Welt geschildert. Es ist umgekehrt aber auch vorstellbar, dass die liberalen, freisetzenden Elemente in den Grundfreiheiten mehr Toleranz, Offenheit und Gerechtigkeit in die europäischen Gesellschaften hineintragen.121 Welches der skizzierten Szenarien wahrscheinlicher ist, soll hier nicht entschieden werden. Diese denkbaren Folgen sollten aber Teil einer Bewertung der rechtlichen Instrumentarien sein, derer sich die Gemeinschaft zur Förderung des Integrationsprozesses bedient. Die Wahl der Katalysatoren und der Beschleuniger ist unter Berücksichtigung dieser langfristigen Auswirkungen zu treffen. Die Bestimmung des späteren Gleichgewichts zwischen liberalisierenden und protegierenden Regeln sollte eine bewusste Wahl sein, die am Ende eines europaweiten, langsamen Meinungsbildungsprozesses steht. Sie sollte nicht präjudiziert werden durch den Rückgriff auf „beschleunigende“ Instrumente bei der Schaffung der Rahmenbedingungen für diese Gesellschaft. Ein langsameres, nachhaltiges Wachstum, das einen teilweisen Verzicht auf das zentrale Steuerungsmittel der Grundfreiheiten durch ein fragmentiertes, aber 121
So ausdrücklich die Hoffnung von Somek, E.L.J. 1999, S. 243, 268 f.; weniger im Sinne von Toleranz und Offenheit als vielmehr in Erwartung eines wettbewerbsorientierten Liberalismus dagegen Stein, EuZW 2000, S. 337, 338; ähnlich Hatje, in: Bogdandy, Verfassungsrecht, S. 683, 712, 727, der sich einen „liberalen Mehrwert“ verspricht.
D. Die Vorteile einer Trennung von Grundfreiheiten und Grundrechten
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freiwilliges Moment ersetzt, garantiert nach der hier vertretenen Auffassung einen günstigeren Verlauf des Integrationsprozesses und ein stabileres Ergebnis.122 3. Zusammenfassung: Der erste Vorteil der Doppelfunktionalität
Das Modell der Doppelfunktionalität und die klare Aufspaltung der Vorschriften der Art. 28 EGV, Art. 39 EGV, Art. 43 EGV und Art. 49 EGV in eine auf ihre ursprüngliche an- und ausgleichende Struktur reduzierte grundfreiheitliche Funktion und in eine weitergehende grundrechtliche Funktion führt ganz grundsätzlich zu einer Verringerung des Einflusses der Grundfreiheiten auf die Abläufe im Binnenmarkt. Der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten wird zurückgedrängt. Insbesondere sind die eng verstandenen Grundfreiheiten nicht (mehr) aufgerufen, die Ebene des Handelns privater Wirtschaftsteilnehmer zu regeln. Auf dieser dritten Ebene soll ein binnenmarktförderndes Handeln vielmehr auf freiwilliger Basis erfolgen. Eine Kontrolle wird weiterhin über die Wettbewerbsvorschriften und die Gemeinschaftsgrundrechte – insbesondere auch über die in den Grundfreiheiten enthaltenen Kern-Grundrechte – sichergestellt. Dieses Zurückweichen der Grundfreiheiten zugunsten einer erweiterten Anwendung der Grundrechte als zweckfreie subjektive Recht ist – entgegen erster Annahmen – für den Integrationsprozess von Vorteil. Das zeigt sich, wenn der unmittelbare juristisch-systematische Begründungszusammenhang verlassen wird. In einem weit gefassten rechtspolitischen Zusammenhang zeigt sich diese Schwerpunktverlagerung von Pflichten zu Rechten als sinnvoller und notwendiger Teil des Übergangs des Binnenmarktes von der Konstruktions- in die Betriebsphase. Dieser Übergang kann an einzelnen Punkten (Keck-Entscheidung, Maastricht-Vertrag, u. a.) festgemacht und zeitlich in der Mitte der neunziger Jahre angesiedelt werden. Die neue Zurückhaltung des Gerichtshofs im Umgang mit den Grundfreiheiten bringt diese veränderten Parameter zum Ausdruck. Die wirtschaftswissenschaftlichen Annahmen und 122
Vor der Gefahr der Instabilität, die in dieser unterschiedlichen Geschwindigkeit und Intensität der wirtschaftlichen und der politischen Integration liegt, warnen Streit/Musseler, E.L.J. 1997, S. 5, 25, 27 f.; Friedbacher, E.L.J. 1996, S. 226, 249 „More stable, healthier evolution“; Weiler, E.L.Rev. 22 (1997) S. 150, 150; vgl. auch Steindorff, ZHR 158 (1994) S. 149, 160, der für einen – dem hier skizzierten Modell ähnlichen – unvollkommenen Binnenmarkt plädiert, weil die strengere Vervollkommnung des Marktes die gegenwärtige Urteils- und Regelungsfähigkeit überfordere; Bekemans/Lourtie, Economy and Society, S. 68 f.; Hoffmann-Riem, EuGRZ 2002, S. 473, 480; ebenfalls zum Zusammenhang der Grundfreiheitsdogmatik und der Geschwindigkeit der Marktintegration zuletzt Kingreen, in: Bogdandy, Verfassungsrecht, S. 631, 648 f., 656.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
Gesetzmäßigkeiten dagegen liefern nach wie vor Argumente für eine möglichst weite Auslegung der Grundfreiheiten, um die Durchmischung des Marktes und damit die Unumkehrbarkeit des Integrationsprozesses nicht nur zu ermöglichen, sondern zu beschleunigen. Auch diese wirtschaftlichen Argumente lassen sich aber relativieren. Dieselben volkswirtschaftlichen Ziele lassen sich mit dem juristischen Instrumentarium der Gewährung subjektiver Rechte ebenso gut erreichen wie über die Grundfreiheiten als Verhaltenspflichten. Wenn der planerische Rahmen sowohl in inhaltlicher als auch in zeitlicher Hinsicht über den Binnenmarkt hinaus ausgedehnt wird, zeigt es sich, dass ein System, das auf Rechten und nicht auf Verhaltenspflichten basiert, langfristig stabilere Formen hervorbringt, selbst wenn es mittelfristig eine Verlangsamung des Integrationsprozesses hinnehmen muss. II. Ein zweiter Vorteil der Doppelfunktionalität: Höhere Transparenz für die Abwägung kollidierender Rechtspositionen im Gemeinschaftsrecht Ein weiterer Vorteil der Aufspaltung der Grundfreiheiten in grundfreiheitliche und grundrechtliche Funktionen ist die erhöhte Transparenz der Abwägung in den Fällen, in denen der Gerichtshof subjektive Rechte des Gemeinschaftsrechts mit anderen Rechtspositionen zu einem Ausgleich bringen muss. Hinter der Frage, ob eine Maßnahme gegen eine der vier Grundfreiheiten verstößt, verbirgt sich unter Umständen ein Geflecht verschiedener Interessen. Aus Sicht des Einzelnen kann eine solche Maßnahme gleichzeitig einen über die Grundfreiheiten geschützten Vorteil bedrohen und seine Grundrechte verletzen. Zugleich stößt – in den Drittwirkungsfällen – das Einfordern der grundfreiheitlichen Vorteile an Grenzen, wenn ein anderer Privater sich auf (Grund-)Rechte wie Privatautonomie, Vereinigungsfreiheit oder Pressefreiheit berufen kann, um sich dem Zwang zu einem binnenmarktfreundlichen wirtschaftlichen Verhalten im Einzelfall zu entziehen. Es ergibt sich, wie die Beispiele aus der Rechtsprechung zeigen, häufig eine Gemengelage von Allgemeininteressen, spezifisch grundrechtlichen Interessen und wirtschaftlichen Interessen von Privatpersonen, Unternehmen oder gesellschaftlichen Gruppen. Grundfreiheiten werden gegen Grundrechte, Grundrechte gegen Grundrechte abgewogen. Die Abwägung einer Grundfreiheit gegen eine andere Grundfreiheit ist dagegen nicht vorstellbar, weil die Grundfreiheiten vor allem beschleunigende, freisetzende Kräfte schützen und verstärken. Sie können daher nicht wechselseitig einschränkend wirken und ihrerseits den Schutzreflex einer anderen Grundfreiheit auslösen. Der Umgang des Gerichtshofs und der Literatur mit diesem Interessengeflecht ist näher untersucht worden.123 Sowohl Literatur als auch 123
Siehe oben B. IV. 2. im zweiten Teil.
D. Die Vorteile einer Trennung von Grundfreiheiten und Grundrechten
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die Rechtsprechung gehen danach von einer „offenen“ Abwägung gleichwertiger Interessen aus. Der Vorwurf einer systematischen Bevorzugung der Grundfreiheiten hat sich nicht nachweisen lassen. Die Vorteile dieser offenen Abwägung liegen in der Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an neue Konstellationen, die vor allem in der besonderen Situation des Gemeinschaftsrechts mit seinen mehrfachen Ebenen (Union, Gemeinschaften, Staaten, Einzelne) nötig ist. Ein weiterer Vorteil dieser offenen Abwägung ist auch, dass durch den Verzicht auf ein festgelegtes formales Kollisionsprogramm und die Notwendigkeit, alle Interessen zu einem Ausgleich zu bringen, eine – auch materielle – Kompromisslösung vorgezeichnet wird. Die Offenheit der Abwägung bringt allerdings auch Nachteile mit sich. Die Abwägung ist kaum strukturiert und daher wenig berechenbar. Das hat vor allem zwei potenziell negative Folgen. Zum einen besteht die Gefahr, dass nicht alle beteiligten Positionen überhaupt abgebildet werden und in die Abwägung einfließen können. Denn es fehlt an einem formalisierten Abwägungsverfahren, das die Funktion einer Art Check-Liste übernähme, nach der die einzelnen Rechte abgerufen und geprüft werden könnten. Wenn der Gerichtshof in seinen Entscheidungsgründen eine Vorschrift wie den Art. 39 EGV zur Anwendung bringt, kommt nicht deutlich genug zum Ausdruck, dass – unter dem Dach dieser Vorschrift – mehrere sehr unterschiedliche rechtlich geschützte Positionen in die Abwägung einfließen können. Ein Beispiel für eine rechtliche Position, die vom Gerichtshof in der Abwägung nicht erwähnt wurde, sind auch die grundrechtlich geschützten korporativen Interessen der streikenden und protestierenden Bauern in der Entscheidung Französische Bauernproteste. Diese Lücke in den Entscheidungsgründen ist von der Literatur kritisiert worden.124 Der zweite Nachteil der offenen Abwägung liegt in der Gefahr, dass die Unterschiede zwischen Grundrechten und Grundfreiheiten sich in einem unstrukturierten Abwägungsprozess nicht mehr mit der gebotenen Klarheit abbilden lassen und in der Folge verschwimmen und abgeschliffen werden. Das führt zumindest zu Irritationen. Selbst wenn man von einer Gleichwertigkeit der Kategorien in der Normenhierarchie ausgeht, ist es von Vorteil, wenn die Unterscheidbarkeit möglich und Unterschiede in Nuancen – Sprache, Herleitung, Kontext – auch sichtbar bleiben. Insbesondere darf nicht die Offenheit der Abwägung dazu führen, dass wirtschaftliche Interessen nicht klar als solche erkennbar sind, weil eine grundrechtliche Terminologie den Blick auf diese Interessen verstellt. Umgekehrt sollte ein vorder124 Siehe oben B. II. 4. c) im ersten Teil und die Kritik der Literatur unter B. IV. 2. c) aa) im zweiten Teil.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
gründiger Streit auf der Ebene wirtschaftlicher Argumente nicht einen tieferliegenden Wertekonflikt verdecken können. Diesen Gefahren setzt die Doppelfunktionalität ein einfaches Vorgehen entgegen. Vor der Abwägung sollten alle Interessen offengelegt, richtig bezeichnet und entweder dem Kontext des Binnenmarktprogramms oder aber dem Grundrechte- und Wertediskurs zugeordnet werden. Diese „Transparenz“ in der Abwägung wird durch die Aufspaltung der Grundfreiheiten in grundfreiheitliche und grundrechtliche Funktionen ermöglicht und erleichtert. 1. Transparenz in der Abwägung – Erster Schritt: Die beteiligten Interessen freilegen
Das Offenlegen der potenziell berührten Positionen vor der eigentlichen Abwägung kann zu einer Vielzahl an unterschiedlichen Positionen auch in zunächst sehr einfach und übersichtlich scheinenden Konstellationen führen. Der analytische Weg der Aufspaltung eines Interessengeflechts in seine Einzelpositionen soll im Folgenden an einer Reihe von Beispielen deutlich gemacht werden. Dabei wird wegen der leichteren Darstellbarkeit die Entwicklung in umgekehrter Richtung – vom einfachen zum komplexen System – nachvollzogen. Ausgangspunkt ist der Konflikt zwischen zwei objektiven Allgemeininteressen. In der einfachsten Variante dieses Konflikts trifft ein Mitgliedstaat unter Berufung auf ein nationales öffentliches Interesse eine Maßnahme, die mit den Grundfreiheiten nicht in Einklang steht, etwa ein Importverbot. Damit stellt sich der Mitgliedstaat gegen das objektive Gemeinschaftsinteresse an einem funktionierenden Binnenmarkt, das in den Grundfreiheiten seinen Ausdruck findet. Stellvertretend für die Gemeinschaft wird die Kommission in solchen Fällen das Gemeinschaftsinteresse dadurch zu verteidigen suchen, dass sie ein Vertragsverletzungsverfahren gegen den Mitgliedstaat einleitet. Die Anwendung der Grundfreiheit bleibt eine Angelegenheit zwischen der Gemeinschaft und dem Mitgliedstaat als Vertragspartei. Für die vorliegende Untersuchung von größerem Interesse ist die Variante, die um einen Beteiligten – einen privaten Wirtschaftsteilnehmer – angereichert ist. Die Grundfreiheiten sind unstreitig auch subjektive Rechte, und können von einem einzelnen Betroffenen vor Gericht geltend gemacht werden. Die Hauptlinie des Interessenkonfliktes verläuft auch in dieser Konstellation grundsätzlich zwischen dem Allgemeininteresse des regelnden Mitgliedstaates und dem objektiven Gemeinschaftsinteresse an der Befolgung der Grundfreiheiten. Neben dieses Gemeinschaftsinteresse tritt die Rechtsposition des Einzelnen, der den von den Grundfreiheiten geschaffenen Freiraum ausschöpfen möchte. Hier wirkt sich die Unterscheidung der
D. Die Vorteile einer Trennung von Grundfreiheiten und Grundrechten
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grundfreiheitlichen und der grundrechtlichen Funktionen innerhalb der Grundfreiheit, auf die der Einzelne sich beruft, erstmals spürbar auf die Abwägung der widerstreitenden Interessen aus. Denn für die Abwägung ist von Interesse, ob der Einzelne, der sich auf die Grundfreiheit beruft, die Grundfreiheit allein in ihrer genuin grundfreiheitlichen Funktion geltend macht oder ob er in einer der beiden grundrechtlichen Positionen innerhalb der Grundfreiheit betroffen ist. Falls nur die rein grundfreiheitliche Position von dem Einzelnen geltend gemacht wird, bleibt der Verlauf der Interessen-Linien unverändert. Der private Wirtschaftsteilnehmer als neuer dritter Beteiligter im Verfahren führt nicht zu einer neuen dritten – inhaltlichen – Position, die es in die Abwägung einzustellen gilt. Der Einzelne macht sich die Position des Gemeinschaftsinteresses zu eigen. Möglicherweise verstärkt er durch sein Beitreten die Position. Von den beteiligten Rechtspositionen her ist es für die Abwägung ohne Relevanz, ob die Kommission die behauptete Verletzung der Grundfreiheit nach Art. 226 EGV vor den Gerichtshof gebracht hat oder ob ein Einzelner sich im Vorlageverfahren gegen eine Verletzung „seiner Grundfreiheit“ wehrt. Die Möglichkeit des Einzelnen, diese Position vor Gericht geltend zu machen, könnte als zusätzliche Position mitberücksichtigt werden. Diese Einklagbarkeit der Grundfreiheiten ist aber nach dem Modell der Grundfreiheiten auf eine rein formale – vom materiell-rechtlichen Gehalt befreite – Position reduziert und verhält sich daher in der Abwägung im Ergebnis neutral. Anders verhält es sich dagegen, wenn der Einzelne eine grundrechtliche Position „in der Grundfreiheit“ (Gleichbehandlungsgrundrecht oder Freiheitsgrundrecht) geltend macht. Dann bringt er eine „neue“ inhaltliche Position ins Spiel, die mit in die Abwägung einfließen muss und die einer anderen Normkategorie – den Grundrechten – angehört. Diese andere Qualität kann sich in einer leicht veränderten Sprache und Art der Entscheidungsbegründung und im Ergebnis auch in einer stärkeren Gewichtung dieser Position auswirken. Grundsätzlich steht aber auch diese neue Position zu Beginn der Abwägung gleichberechtigt neben allen anderen Positionen. Die Konstellationen lassen sich schrittweise zu noch komplexeren Interessenkonflikten erweitern. Neben den Grundfreiheiten sind es vor allem die Gemeinschaftsgrundrechte, die auf Seiten der Interessen des Einzelnen in die Interessenabwägung eingehen können. Damit wird der Verlauf der Front zwischen den widerstreitenden Interessen beweglich. Die Gemeinschaftsgrundrechte schützen den Einzelnen nicht in erster Linie gegen Interessen der Mitgliedstaaten, sondern vor den Einschränkungen, die ihm „im Namen“ des Gemeinschaftsinteresses und durch das Handeln der Gemeinschaftsorgane drohen. Dass der Einzelne diese Gemeinschaftsgrundrechte mittlerweile auch gegen staatliche Interessen in Stellung bringen kann,
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
wenn die Mitgliedstaaten im Gemeinschaftsinteresse tätig werden, zeigt nur, dass hier ein Dreiecksverhältnis zugrunde liegt, bei dem wechselseitig zwei der Eckpunkte sich annähern können, um Front gegen die dritte Position zu machen. In zahlreichen Fällen kann sich der Einzelne sowohl auf Grundfreiheiten als auch auf Grundrechte berufen. In den Drittwirkungsfällen schließlich sind subjektive Rechte auf beiden Seiten der Abwägung zu berücksichtigen. Dann sind denkbar vier verschiedene Interessen involviert: Die Interessen der Gemeinschaft, die der betroffenen Mitgliedstaaten und zwei widerstreitende Privatinteressen. Ein letztes Mal soll das Beispiel des Fußballspielers Bosman gewählt werden, um zu zeigen, dass es für die Transparenz der Abwägung vorteilhaft ist, die „Grundrechte in der Grundfreiheit“ sichtbar zu machen und von der rein grundfreiheitlichen Funktion zu trennen. Der Interessenkonflikt, der dem Streit zwischen Bosman und dem belgischen Fußballverband zugrunde lag, lässt sich in eine Reihe einzelner Interessen zerlegen. Alle diese Interessen werden potenziell über Art. 39 EGV geschützt. Nicht alle sind aber im Einzelfall bedroht und schützenswert. Für die Analyse – und für die Berechenbarkeit – der Entscheidungen des Gerichtshofs ist es hilfreich, wenn verfolgt werden kann, welche Interessen in der jeweiligen Abwägung unberücksichtigt geblieben sind und welche Interessen den Ausschlag gegeben haben, während der Gerichtshof selber pauschal den Art. 39 EGV anwendet und die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht in ihre verschiedenen Funktionen aufschlüsselt. In der Sache Bosman hat der Gerichtshof zwei voneinander unabhängige Beschwerdepunkte des Spielers Bosman zusammengefasst. Der eine Streitpunkt waren die Transfersummen, die den Wechsel verhinderten. Der zweite Streitpunkt war das Verbot, mehr als drei Ausländer spielen zu lassen. Jeder dieser Streitpunkte führt zu einer eigenständigen Abwägung. Zunächst sollen nur die Transfersummen und deren Auswirkungen in den Blick genommen werden. Der Spieler Bosman konnte der Auswechselbank des FC Lüttich nicht durch einen Vereinswechsel entkommen, weil die hohe Ablösesumme den neuen Arbeitgeber in Frankreich vom Transfer abgehalten hatte.125 Die Interessen der Vereine sind leicht zu erkennen. Zum einen ist es das wirtschaftliche Interesse am System der Entschädigungssummen, die in die Kassen der Vereine fließen, daneben die teilweise grundrechtlich abgesicherte Autonomie, ihren Spielbetrieb und ihre Ge125 Mittlerweile ist diese Regel gefallen, vgl. die Verhandlungen zwischen Sepp Blatter für die FIFA und Viviane Reding für die Europäische Kommission zu Beginn des Jahres 2001. Sobald bereits drei Ausländer im Kader waren, zögerten die Vereine, sich einen weiteren Ausländer „für die Ersatzbank“ einzukaufen. Warum das Bosman-Urteil für die Torhüter besonders schlimme Folgen haben soll, bleibt das Geheimnis von Matthäus, Mein Tagebuch, S. 39.
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schäfte durch autonome Satzungen regeln zu können.126 Auf der Gegenseite kann Bosman nach dem Raster der Doppelfunktionalität unter dem Dach des Art. 39 EGV denkbar drei gemeinschaftsrechtlich verbürgte Positionen ins Spiel bringen: Zum einen die grundfreiheitliche Funktion des Art. 39 EGV als An- und Ausgleichsnorm, daneben das Gemeinschaftsgrundrecht auf Nicht-Diskriminierung und drittens das Gemeinschaftsgrundrecht auf Freizügigkeit. Der Gerichtshof hat im konkreten Fall die Satzung für unvereinbar mit Art. 39 EGV erklärt. Welche der drei genannten Positionen verletzt war, geht aus den Entscheidungsgründen nicht unmittelbar hervor. Die isolierte Untersuchung der drei Einzelpositionen ergibt das folgende Bild: Die grundfreiheitliche Funktion des Art. 39 EGV ist nicht betroffen, da die Transferregeln so ausgestaltet sind, dass der grenzüberschreitende Bezug zu keinem Zeitpunkt für die Schwierigkeiten bei Bosmans Weggang aus Lüttich. Es fehlt an einem vergleichenden Moment. Die Regelung verhält sich binnenmarktneutral. Aus demselben Grund ist auch an eine Verletzung der zweiten Position – des Grundrechts auf Gleichbehandlung – nicht zu denken. Dem Belgier Bosman erging es nicht besser und nicht schlechter als den Spielern anderer Nationalitäten. Allein die dritte Position – das Grundrecht auf Freizügigkeit – ist hier betroffen und kann für den Ausgang der Abwägung von Bedeutung sein. Damit bleibt insbesondere das objektive Gemeinschaftsinteresse an der Verwirklichung der Marktintegration, das an die grundfreiheitliche Funktion gekoppelt ist, in dieser Abwägung außen vor. Letztlich geht es nicht um Grundfreiheiten und um Gemeinschaftsinteressen, sondern um eine „ganz normale“ Abwägung zwischen den Grundrechten der beteiligten Privatpersonen, die nur aufgrund des europäischen Hintergrundes des Falls nicht über belgische, sondern über gemeinschaftsrechtliche Grundrechte gelöst wird. Da die angestrebte Bewegung über eine Grenze führt, profitiert das Gemeinschaftsinteresse indirekt auch, ohne aber als Argument in der Abwägung eine Rolle spielen zu können. Aus diesem Grund dürfte – bei einer sauber durchgeführten Trennung der einzelnen Positionen in der Abwägung – in den Entscheidungsgründen einer Abwägung wie im Fall Bosman das formelhafte Berufen auf das „Erreichen der Binnenmarktziele“ und auf das „überragend wichtige Gut der Marktintegration“ nicht vorkommen. Ganz anders dagegen die zweite Abwägung, die in der Entscheidung Bosman enthalten ist. Bosman wehrte sich nicht nur gegen die Ablösesumme, sondern auch gegen das satzungsmäßige Verbot, mehr als drei ausländische 126
Demaret, Rev.M.U.E. 1996, S. 11, 13, 15; Dinkelmeier, Profifußball in Europa, S. 39 f., 121 f., 132; Maier, Wer mit dem Ball tanzt, S. 177, der Erich Ribbeck mit der Aussage zitiert, das Bosman-Urteil sei das Schlimmste was in den letzten 100 Jahren im Fußball passiert sei; Plath, Individualrechtsbeschränkungen im Berufsfußball, S. 23, 227 f., 230.
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
Spieler gleichzeitig in einem Punktspiel einzusetzen. Diese Benachteiligung als Belgier in der französischen Liga verletzt Bosman zunächst in seinem Grundrecht auf Gleichbehandlung. Dass er in bestimmten Situationen als Belgier auf der Bank sitzen müsste, während die französischen Spieler eingewechselt werden können, macht ihn zu einem Spieler „zweiter Klasse“ und trifft ihn in seinem Anspruch auf Achtung der Person. Daneben ist aber auch sein grundfreiheitlicher Anspruch berührt, keinen wirtschaftlichen Nachteil zu erleiden, der aus dem Fortbestehen der Staatengrenzen im Gemeinsamen Markt resultiert. In dieser zuletzt genannten grundfreiheitlichen Schutzfunktion fallen sehr deutlich sichtbar das wirtschaftliche – grundfreiheitliche – Interesse Bosmans und das objektive Gemeinschaftsinteresse zusammen. Jeder Spieler mit EU-Staatsangehörigkeit soll unter den gleichen Bedingungen an jedem Punkt des Gemeinsamen Marktes spielen und arbeiten dürfen. Die Abschaffung der Beschränkungen für ausländische Spieler gleicht den konkreten Nachteil Bosmans aus und trägt zum Erreichen des Politikziels homogener Binnenmarkt bei. Damit wirkt die Grundfreiheit in der Arbeitnehmerfreizügigkeit im Einzelinteresse und im objektiven Gemeinschaftsinteresse. Auf Seiten Bosmans kommen in dieser Abwägung daher eine grundrechtliche und eine parallel gerichtete grundfreiheitliche Position zum Tragen. Auf der Gegenseite stehen in dieser Abwägung weniger die finanziellen Interessen der Vereine als vielmehr die Sorge um den Spielernachwuchs in den jeweiligen Staaten, die diffuse Angst vor einem Ausverkauf der nationalen Ligen und vor einem Verlust der Bindung der Vereine an Fans und Region. Dieses Bündel an Interessen ist aber über die Verbandsautonomie des belgischen Fußballverbandes zunächst grundrechtlich geschützt. In der Abwägung treffen demnach Grundfreiheit und Grundrecht, sowie Grundrecht und Grundrecht (Recht auf Nicht-Diskriminierung/ Verbandsautonomie) aufeinander. 2. Transparenz in der Abwägung – Zweiter Schritt: Die Interessen benennen und unmissverständlich entweder dem grundfreiheitlichen oder dem grundrechtlichen Bereich zuordnen
Die Vorgehensweise bei der Aufspaltung in die einzelnen rechtlich relevanten Interessen und deren Vervielfältigung in der Aufspaltung ist am Beispiel der Entscheidung Bosman beschrieben worden. Die Trennung und isolierte Darstellung der einzelnen Positionen erfolgt vor der Abwägung im engeren Sinne. Wie anschließend das Verhältnis der einzelnen Interessen zueinander bestimmt und gewichtet wird, bleibt zunächst bewusst offen.
D. Die Vorteile einer Trennung von Grundfreiheiten und Grundrechten
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a) Sichtbarmachen grundrechtlicher Positionen in der Abwägung Zum einen bietet diese Art der Vorbereitung auf die Abwägung eine höhere Sicherheit dagegen, dass Positionen übersehen und aus diesem Grund überhaupt nicht in der Abwägung berücksichtigt werden. Die Grundfreiheiten werden vor jeder Abwägung daraufhin abgefragt, ob im Einzelfall die Gemeinschaftsgrundrechte „in den Grundfreiheiten“ geltend gemacht werden. Nur in vereinzelten Fällen – den seltenen „echten Beschränkungsverbotsfällen“ – wird sich ein Freiheitsgrundrecht nachweisen lassen. Häufiger wird das Grundrecht auf Nicht-Diskriminierung in den Grundfreiheiten angesprochen sein. Bereits die Frage, ob die grundrechtlichen Kerne in den Grundfreiheiten mitbetroffen sind, lenkt den Blick und die Aufmerksamkeit auf Grundrechtsbelange und stärkt so – zunächst ganz unabhängig davon, ob die Abwägung dadurch im Ergebnis zu einem anderen Ausgang kommt – die Präsenz und die Relevanz der Grundrechte im Gemeinschaftsrecht gegenüber der starken Präsenz der Grundfreiheiten als Binnenmarktregeln. b) Der grundrechtliche Diskurs und der Binnenmarktprozess müssen unterscheidbar bleiben Daneben erlaubt es die Aufspaltung, auch im Zeitpunkt der eigentlichen Güterabwägung weiterhin zwischen grundfreiheitlichen und grundrechtlichen Positionen zu unterscheiden. Indem die einzelnen Positionen eindeutig entweder der grundfreiheitlichen oder der grundrechtlichen Seite zugeschlagen werden, sind sie über diese Markierung im Abwägungsprozess leichter zu verfolgen. Die Wirkung, die sie im Einzelfall auf den Ausgang der Abwägung haben, kann unterschiedlich sein, je nachdem, welcher Kategorie ein Recht zugeordnet wird. Sie muss es aber nicht sein. Ob im Ergebnis den grundrechtlichen Positionen oder dem Binnenmarktziel der Vorrang eingeräumt wird, ist für die Frage der Transparenz zunächst ohne Bedeutung. Nur so lässt sich die Ausgangshypothese aufrechterhalten, dass die Abwägung prinzipiell offen bleibt und weder Grundfreiheiten noch Grundrechte in der Gegenüberstellung einen automatischen Vorrang oder eine normenhierarchische Überlegenheit für sich in Anspruch nehmen können. Die Möglichkeit, das Verhalten der einzelnen Rechtspositionen in der Abwägung isoliert verfolgen zu können, macht eine solche wertende Entscheidung leichter, nachvollziehbarer und legitimiert sie auf diese Weise. Die Transparenz kommt dem Wunsch entgegen, die beiden Normkategorien – Grundfreiheiten und Grundrechte – trotz ihrer Gleichrangigkeit zumindest unterscheidbar zu halten. Dieser Wunsch ist offensichtlich tiefer verwurzelt, als es die Selbstverständlichkeit, mit der die Gleichrangigkeit angenommen wird, vermuten lässt. Das ist im Zusammenhang mit dem Wider-
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3. Teil: Doppelfunktionalität der Grundfreiheiten
stand spürbar geworden, der sich in der Literatur gegen eine Abwägung aufgebaut hat, in der die Konturen zwischen grundrechtlichen und grundfreiheitlichen Positionen aufgelöst und die beiden Kategorien un-unterscheidbar werden.127 Diese Kritik äußert einen – zum Teil nur schwer zu belegenden – Widerwillen gegen eine Abwägung, in der den einzelnen Positionen ihre Zugehörigkeit zu einer der beiden Normkategorien nicht mehr deutlich anzusehen und anzumerken ist. Dahinter steckt der Gedanke, dass hier mit dem Binnenmarktprogramm und der Grundrechtsrechtsprechung zwei Wertesysteme, zwei Arten der Argumentation und zwei Diskurse aufeinandertreffen, die sich nicht gut verbinden lassen und die nicht vermischt werden sollten. Die Unterschiede zwischen diesen beiden Diskursen entsprechen im Wesentlichen den Unterschieden, die bei der Suche nach Abgrenzungskriterien für die Grundfreiheiten und die Grundrechte im Verlauf der Untersuchung zusammengetragen werden konnten. Dazu gehören die Spuren, an denen der instrumentale Charakter der Grundfreiheiten festgemacht werden konnte, wie die fehlende Spürbarkeitsschwelle und die Zweckbindung des Normprogramms. Die in der grundfreiheitlichen Rhetorik vertraute formelhafte Rückanbindung der Grundfreiheiten an die überragende Bedeutung der Politikziele Binnenmarkt und Marktintegration erscheint im Bereich des Individualrechtsschutzes als Fremdkörper. Die Grundrechte sind zweckfrei geschützt. Ihr Schutz darf nicht in Abhängigkeit vom Binnenmarktnutzen variieren. Während statistische Zusammenhänge, über die eine großen Zahl individueller Entscheidungen in ihrer gemeinsamen Wirkung berücksichtigt werden können, im Bereich der Binnenmarktregeln zulässige Entscheidungshilfen sind, ist im Bereich des Grundrechtsschutzes zulässiger Maßstab allein der Einzelne und dessen konkrete Lebenssituation. Die Unterschiedlichkeit des Umfelds, dem die beiden Normkategorien angehören, zeigt sich darüber hinaus auch in der unvermeidlichen Nähe der Grundfreiheiten zu wirtschaftsbezogenen Sachverhalten im Gegensatz zu den Grundrechten, die im Gemeinschaftsrecht nur deshalb verstärkt wirtschaftsbezogene Konstellationen regeln, weil dieser Zuschnitt durch den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts vorgegeben ist. Auf jeden Fall lässt sich ein Alters- und Reifeunterschied zwischen den beiden Diskursen feststellen. Die Grundfreiheiten sind seit 1957 zentrale Vorschriften in der Gemeinschaftsrechtsordnung. In Hunderten von Entscheidungen zu den Grundfreiheiten hat der Gerichtshof ein dichtes Netz an Präzedenzfällen weben können. Wegen der Besonderheit der Grundfreiheiten als transnationale Vorschriften gibt es keine vergleichbaren Normen auf nationaler Ebene. Der Gerichtshof hat auf die Anwendung und Weiterentwicklung dieser Art Rechtssätze ein Monopol. Dagegen ist die Rechtsprechung zu den Grund127
Siehe oben B. IV. 2. e) aa) im zweiten Teil.
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rechten jünger, die Decke an Präzedenzfällen dünner. Von den nationalen Verfassungslehren und Verfassungsgerichten ist dem Gerichtshof eine Dogmatik der Grundrechte in Grundzügen bereits vorgezeichnet. Der Gerichtshof befindet sich in dieser Grundrechte- und Grundwertedebatte in einer anderen, stärker reaktiven Position. Dieser unterschiedliche Kontext und die unterschiedliche Färbung der beiden Bereiche wirken sich in den konkreten Formulierungen der Entscheidungsgründe nur selten spürbar und nachweisbar aus. Das kann auf den knappen, aus dem romanischen Rechtskreis übernommenen Stil des Gerichtshofs zurückgeführt werden, der sowohl für die Abwägungen im grundfreiheitlichen Bereich als auch für die Abwägungen im Bereich des Grundrechtsschutzes typisch ist. Ein besonderer Pathos oder eine stilistische Würde zeichnet die Passagen zu den Grundrechten in den entsprechenden Entscheidungsgründen des Gerichtshofs nicht aus. Dass die Unterschiedlichkeit der Diskurse sich in der Sprache des Gerichtshofs nicht wiederfindet, ist einer der Hauptkritikpunkte, der – zu Recht – gegen die Grundrechtsrechtsprechung des Gerichtshofs erhoben wird.128 Im Ergebnis ist mit der Abgrenzung der Grundfreiheiten gegen die Grundrechte auch die Unterscheidung der beiden zugehörigen Diskurse möglich. Die Grundfreiheiten und die Grundrechte werden vor ihrem jeweiligen Hintergrund auf unterschiedliche Weise hergeleitet, diskutiert, dargestellt und weiterentwickelt. Die beiden Diskurse existieren nicht vollständig isoliert nebeneinander, sondern berühren und kreuzen sich vielfach. In jedem Gemeinwesen und in jeder Rechtsordnung werden – in Zuspitzung der Gegenüberstellung – harte, kalte Wirtschaftsinteressen gegen warme, schützende Grundrechte abgewogen. Auch im Gemeinschaftsrecht können die Grundrechte nicht vor einer direkten Kollision mit den Grundfreiheiten bewahrt werden. Die Bedenken gegen den Verlust der Unterscheidbarkeit von Grundfreiheiten und Grundrechten sind ernst zu nehmen, selbst dort wo sie nur diffus geäußert werden oder stichhaltige Beweise schuldig bleiben. Diese Unterscheidbarkeit wird durch die Aufspaltung der Grundfreiheiten in ihre einzelnen Funktionen erleichtert. Es muss sichtbar bleiben, dass in der Kollision zwei unterschiedliche Normkategorien mit unterschiedlichem Hintergrund und unterschiedlicher Textur aufeinandertreffen können.129 128 Müller-Graff, Integration 1/2000, S. 34, 42 nimmt den Gerichtshof gegen diese Vorwürfe in Schutz und warnt davor, den Begründungsstil unzulässiger Weise mit dem Entscheidungsvorgang gleichzusetzen. 129 Nach der hier vertretenen Auffassung wirkt sich der Unterschied etwa bei der Drittwirkung sehr konkret aus. Grundrechte haben Drittwirkung, die Grundfreiheiten nicht, siehe oben A. II. 1. c). im zweiten Teil und C. I. (Modell) im dritten Teil. Nur eine klare Unterscheidung von Binnenmarktdiskurs und Grundrechtsdiskurs kann im Übrigen verhindern, dass sich Autoren in ihrem Engagement für den freien
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c) Inhalte, Zeitpunkt und Geschwindigkeit des gemeinschaftsweiten grundrechtlichen Diskurses dürfen nicht über die Grundfreiheiten erzwingbar sein Zuletzt ist die klare begriffliche und inhaltliche Unterscheidung von Grundfreiheiten und Grundrechten Voraussetzung, um den Übergang von der Wirtschaftsgemeinschaft zur politischen Gemeinschaft und zur Wertegemeinschaft bewusst vollziehen und steuern zu können. aa) Der Grundrechtsdiskurs erreicht die gemeinschaftliche Ebene Die Vorstellung, dass wirtschaftliches Handeln einer pragmatisch-wertfreien Binnenmarkt-Dogmatik zugeordnet werden kann, während Grundrechte und Werte den nationalen Verfassungsgerichten vorbehalten und damit außerhalb des Gemeinschaftsrechts bleiben, lässt sich – falls sie jemals in dieser Form zutreffend war – im momentanen Entwicklungsstand der Gemeinschaften nicht halten. In dem Maße, in dem die ursprüngliche Rechnung der Verfasser der Römischen Verträge aufgeht und die zunächst punktuelle Verzahnung der Handelsbeziehungen sich zu einem breiten Geflecht politischer und gesellschaftlicher Beziehungen verdichtet hat, unterfallen mehr und mehr Entscheidungen des – auch privaten – Alltagslebens der Regelung durch Gemeinschaftsrecht. Der Gerichtshof kann damit rechnen, dass er in absehbarer Zeit immer häufiger auch zu Werte-Fragen Stellung beziehen muss. Die Union, die für sich in Anspruch nimmt, mehr als eine Freihandelszone zu sein, muss sich während des Übergangs zur politischen Union ganz grundsätzlich darüber klar werden, welche Rolle Grundrechte in der Gemeinschaftsrechtsordnung haben. Untrennbar damit verbunden ist die Frage, welche Rolle „Werte“ in einer gemeinschaftsweiten Gesellschaft haben sollen. Der Gerichtshof – und zuletzt auch die Grundrechtscharta – sind dieser Frage nicht ausgewichen. In der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs hat sich die erste und wichtigste Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte gezeigt. Sie bieten Schutz vor Willkür durch die Gemeinschaftsorgane, denen immer mehr Einfluss auf das Leben der EU-Bürger zukommt. Einen grundrechtsfreien Raum darf es nicht geben. Die prekäre Aufgabe des Gerichtshofs und der Grundrechtscharta ist die Bestimmung eines Schutzniveaus, das gemeinschaftsweit akzeptiert wird. Bei fünfzehn nationalen Verfassungen sind Abweichungen unvermeidlich. Es wird immer eine Verfassung geben, die ein bestimmtes Rechtsgut stärker oder schwächer schützt als die gemeinschaftlichen Grundrechte das – mit Anspruch Warenverkehr zu der gedankenlosen Forderung hinreißen lassen, notfalls müsse gegen grundfreiheitswidriges Verhalten auch Waffengewalt eingesetzt werden, vgl. etwa Meier, EuZW 1998, 87 f.
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der Geltung auch in dem betroffenen Mitgliedstaat – gewährleisten können. Das weckt Erwartungen und birgt die Gefahr von Enttäuschungen. Dadurch erzeugen die Gemeinschaftsgrundrechte aber vor allem auch einen Anpassungsdruck, indem sie Anstoß sind, die nationalen Grundrechte im europäischen Vergleich zu sehen, in Frage zu stellen und zu verändern.130 Dieser Veränderungsdruck auf die nationalen Grundrechte und damit auch auf die Werte, die den Grundrechten vorgelagert sind, hat sich durch die Einbeziehung der Mitgliedstaaten in den Adressatenkreis der Gemeinschaftsgrundrechte verschärft. Eine staatliche Maßnahme kann jetzt unter Umständen wahlweise unter Berufung auf nationale Grundrechte oder auf Gemeinschaftsgrundrechte angegriffen werden, oder es können beide Grundrechtsebenen gleichzeitig ins Spiel gebracht werden. Aus Sicht des Bürgers ist die Versuchung nachvollziehbar, auf Ebene des Gemeinschaftsrechts eine weitere Instanz zu suchen, die insbesondere dann Grundrechtsschutz gewährt, wenn dieser auf nationaler Ebene versagt wird. Unter Rechtsschutzgesichtspunkten mag das begrüßt werden. Für den schutzsuchenden Bürger sei es nur vorteilhaft, wenn der enge nationale Kontext aufgebrochen werde und eine zweite – neutralere und distanziertere – Instanz eine zweite Bewertung vornehmen könne, „if the transnational forum is a second bite at the apple“, wie Weiler/Lockhart es ausdrücken.131 In der Tat wird es Fälle geben, in denen ein Einzelner in Luxemburg den Schutz erhält, der ihm billigerweise zukommt und der ihm – aus welchen Gründen auch immer – von einer nationalen Rechtsordnung vorenthalten wurde. Das wird dem Gerichtshof Sympathien eintragen. Der Zuständigkeitskonflikt mit dem Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte scheint dann allerdings unausweichlich. Vor allem aber gerät bei diesen Überlegungen ein Aspekt leicht aus dem Blickfeld. Die Formel „Je stärker der Grundrechtsschutz, desto vorteilhafter für den Einzelnen“ kann das Spannungsverhältnis, in dem Grundrechte sich stets bewegen, nur unvollständig wiedergeben. Grundrechte sind das Ergebnis eines Abwägungsprozesses innerhalb einer Gesellschaft.132 Sie sind immer ein Kompromiss und damit eine Positionsbestimmung auf einer Skala. An beiden Enden der Skala kann verloren werden. Ein stärkerer Eigentumsschutz kann auf Kosten des Gemeinnutzes gehen. Mehr Meinungsfreiheit führt zu Einbußen beim Schutz der Persönlichkeitsrechte. Meinungsfreiheit und Selbstbestimmungsrecht der Frau sind – wie in der Entscheidung 130 Siehe oben C. II. 2. b) im ersten Teil. Vgl. Frowein, in: Cappelletti/Seccombe/Weiler, Integration through Law, S. 300, 302; Clapham, Human Rights in the Private Sphere, S. 270 f.; Jürgensen/Schlünder, AöR 121 (1996) S. 200, 218 ff.; ähnlich: König, AöR 118 (1993), S. 591, 614 f.; Reich, E.L.J. 1997, S. 131, 141. 131 Weiler/Lockhart, C.M.L.R. 32 (1995) S. 51, 82; Weiler, Constitution, S. 128. 132 „Societal choices/core values“, vgl. Weiler, Constitution, S. 106, 112 f.
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SPUC/Grogan – dem Schutz des ungeborenen Lebens entgegengesetzt. Auf nationaler Ebene ist idealer Weise eine Bestimmung dieser Positionen in der Gesellschaft über Jahrzehnte erfolgt. Dahinter steht der angesprochene Diskurs über Grundrechte und Werte, der auf gemeinschaftsweiter Ebene noch geführt werden muss.133 Mit seiner Rechtsprechung zu den Gemeinschaftsgrundrechten hat der Gerichtshof diesen Prozess der Werte-Positionierung und damit auch den grundrechtlichen Diskurs auf europäischer Ebene aufgenommen und betrieben. In den Bereichen des Eigentumsschutzes, der Berufs- und wirtschaftlichen Handlungsfreiheit, d.h. auf den Feldern, die vom Gemeinschaftsrecht bereits stark normiert sind, zeichnet sich ein gemeinschaftliches Schutzniveau ab. Der Gerichtshof konnte es dagegen bisher vermeiden, Grundrechtspositionen in solchen Bereichen festzulegen, die das Leben der EUBürger nicht in ihrem Status als Teilnehmer am Wirtschaftsleben betreffen, sondern tiefer in der Persönlichkeit des Einzelnen verwurzelt sind. In den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen umfassen die Grundrechte gerade auch den Schutz dieser innersten Bereiche des menschlichen Lebens. Für sensible Bereiche wie Lebensschutz, schützenswerte Moralvorstellungen, Ehe und Familie, Schutz der Privat- und Intimsphäre, aber auch für das Verhältnis von Religiosität, Kirche und Staat, spiegeln die nationalen Grundrechte den Konsens wider, auf den sich eine Gesellschaft eingependelt hat. Selbst falls der Gerichtshof in einzelnen Fällen zu diesen Themenkomplexen Stellung nehmen sollte, kann das einen solchen gesellschaftlichen Konsens auf europäischer Ebene nicht ersetzen. Die Abwägung, die der Gerichtshof in einem Urteil trifft, und die Begründung, die er in den zumeist recht knappen Entscheidungsgründen liefert, können nur ein – punktueller – Beitrag zu der Diskussion sein, an deren Ende erst der gesellschaftliche Konsens über Werte stehen kann. Ein Urteil des Gerichtshofs zu Gemeinschaftsgrundrechten müsste diese Diskussion bereits voraussetzen und dürfte ihr nicht vorausgehen. Sie müsste zudem breiter angelegt sein, in der Öffentlichkeit im weitesten Sinn ausgetragen werden und insbesondere „grenzüberschreitend“ sein, weil gemeinschaftsweite Standards zu definieren sind. Das stellt die Teilnehmer an diesem Prozess vor praktische Schwierigkeiten, nicht zuletzt die Sprach- und Informationsbarrieren. 133 Am deutlichsten im Sinne der hier vertretenen Auffassung wohl Poiares Maduro, Striking the Elusive Balance Between Economic Freedom and Social Rights in the EU, in: Alston, EU and Human Rights, S. 449, 463 „The recent developments in the case law of the ECJ (. . .) must be supported by a fundamental rights discourse which is no longer functionally attached to market integration“; Poiares Maduro, E.L.J. 1997, S. 55, 73; Frahm/Gebauer, EuR 2002, S. 78, 93.
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bb) Die Gefahr einer missbräuchlichen Aufweichung der Grenze zwischen den beiden Diskursen Für jede grundrechtlich relevante Thematik, die vor den Gerichtshof getragen werden soll, muss demnach im Einzelfall entschieden werden, ob sie reif für eine Abwägung auf gemeinschaftlicher Ebene ist. Die Transparenz der Abwägung und die klare Unterscheidung von Grundfreiheiten und Grundrechten ist an dieser Stelle von Bedeutung, um eine bestimmte rechtliche Position eindeutig entweder dem grundfreiheitlichen Bereich – dann ist die Frage nach dem Reifegrad des Prozesses obsolet – oder aber dem grundrechtlichen Bereich zuordnen. Dann wäre die Frage nach dem Reifegrad auf gemeinschaftlicher Ebene von entscheidender Relevanz. In der Rechtssache SPUC/Grogan stand der Gerichtshof an dieser Schwelle und musste sich fragen, ob er über Grundrechte entscheiden würde oder nicht. Nur vordergründig ging es um die Grundfreiheit des Art. 49 EGV. Im Kern ging es um den sehr persönlichen, religiös motivierten und tief in der irischen Gesellschaft verwurzelten Streit um die Zulässigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen und den Schutz des ungeborenen Lebens. Die besonderen Umstände des Falles SPUC/Grogan machten es dem Gerichtshof möglich, der Frage auszuweichen. Die irischen Studenten hatten allzu offensichtlich die wirtschaftlichen Interessen der britischen Ärzte nur vorgeschoben, um ihre eigenen grundrechtlichen Anliegen vor den Gerichtshof tragen zu können. Der Gerichtshof konnte durch die Hintertür entkommen. Auf diese Hintertür wird sich der Gerichtshof nicht auf Dauer verlassen können. Sie wäre in dem Moment zugefallen, in dem tatsächlich ein britischer Arzt die Verletzung seiner Dienstleistungsfreiheit geltend gemacht hätte. Zwar ist die Entscheidung SPUC/Grogan in ihrem Kontext aus Religion, Medizinethik, Sexualmoral und Verfassungstradition sicher ein Ausnahmefall. Diese Ausnahmefälle zeigen aber auf eindringliche Weise die Konflikte, die den Gerichtshof erwarten. Vergleichbare Fälle zeichnen sich für die nähere Zukunft unausweichlich ab. Da wirtschaftliche Aspekte in alle Bereiche hineinspielen, lässt sich ein Bezug zu einer der vier Grundfreiheiten immer herstellen. In der Logik des Binnenmarktes wirken sich unterschiedliche Wertvorstellungen regelmäßig als Hindernisse für den freien Handel aus: Die Lieferung der niederländischen Sterbepille in die umliegenden EU-Staaten wird behindert, wenn die Nachbarländer die aktive Sterbehilfe weiterhin nicht legalisieren. Ein Importverbot für embryonale Stammzellen müsste sich – sofern sie nicht als res extra commercium aus dem Warenbegriff herausfallen – an der Warenverkehrsfreiheit messen lassen. Der Gedanke an eine missbräuchliche Berufung auf formale rechtliche Positionen steht bei diesen bewusst zugespitzten Beispielen unausgesprochen oder ausgesprochen im Raum. Dennoch sind die Grundfreiheiten der Funktion nach einschlägig. Ohne die Möglichkeit einer
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Hintertür müsste der Gerichtshof die nationalen Regelungen als Verletzung der Grundfreiheiten prüfen. Das Interesse an einer grenzüberschreitenden Lieferung der Ware wäre gegen die Grundrechte und die grundsätzlichen Wertentscheidungen der einzelnen Staaten abzuwägen. Alle beteiligten Interessen erschienen gleichrangig und gleichwertig in der Waagschale. Wie diese Entscheidung dann im Einzelfall ausfiele, kann hier nicht entschieden werden. In den geschilderten Beispielen ist davon auszugehen, dass die Handelsinteressen zurückstehen werden. Die Kritik wendet sich aber bereits gegen die Tatsache, dass hier eine Abwägung stattfinden soll, in deren Verlauf die Kategorien von Grundfreiheit und Grundrecht nicht mehr klar auseinandergehalten werden können, weil das Handelsinteresse in einer zwischen Grundfreiheit und Grundrecht changierenden Gestalt auftreten kann. Eine abstrakte Gefahr ist bereits darin zu sehen, dass die offene Abwägung zu einem Kompromiss führt, der als hybrides Produkt eines nicht nachvollziehbaren Reaktionsprozesses von wirtschaftsorientierten Binnenmarktzielen und wertegebundenen Grundrechten anfällt. Eine sehr konkrete Gefahr liegt in der Missbrauchsmöglichkeit dieser offenen Abwägung. Das Beispiel der Entscheidung SPUC/Grogan hat den Versuch gezeigt, über die vordergründig auf Grundfreiheiten zielende Debatte einen tieferliegenden Wertekonflikt vor den Gerichtshof zu tragen. Dass der Gerichtshof irgendwann auch solche Grundrechte- und Wertekonflikten annehmen und auf europäischer Ebene lösen wird, soll nicht in Frage gestellt werden. Die Trennwand zwischen den Lebensbereichen, die bereits so eng mit der gemeinschaftlichen Ebene verbunden ist, dass auch der Grundrechtsschutz gemeinschaftsweit definiert werden kann, und den Lebensbereichen, die von einer gemeinschaftlichen Einflussnahme noch so weit entfernt sind, dass sie den nationalen Grundrechten überlassen bleiben, verschiebt sich langsam, aber stetig in das Gebiet der verbleibenden nationalen Kernbereiche hinein. Die Geschwindigkeit, mit der diese Trennwand verschoben wird, entspricht idealer Weise der fortschreitenden Entwicklung, die der gesellschaftliche Diskurs zu diesen grundrechtlichen Themen auf gemeinschaftlicher Ebene erreicht. Die klare Aufspaltung der Grundfreiheiten in grundfreiheitliche und grundrechtliche Funktionen soll verhindern, dass diese Trennwand in missbräuchlicher Absicht umgangen oder aufgeweicht wird. Darin unterscheidet sich die Doppelfunktionalität von den Erklärungsmodellen, die von einer Evolution der Grundfreiheiten zu Grundrechten ausgehen. In der Norm, die aus dieser Verschmelzung hervorginge, würden die beiden Kategorien und damit auch die Grenze zwischen Binnenmarktdiskurs und Grundrechtsdiskurs verschwimmen. Der Gerichtshof liefe bei Anwendung einer solchen Grundfreiheit Gefahr, den Schritt in die Grundrechtsdebatte zu unterneh-
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men, ohne sich dieser Grenzüberschreitung bewusst werden zu können. Der Schritt in diese Grundrechtsdebatte ließe sich über die mit den Grundrechten vermischten Grundfreiheiten von interessierter Seite steuern und verfrüht herbeiführen. Wenn dagegen die Grundfreiheiten in ihre Bestandteile aufgebrochen werden, können die grundrechtlichen Kerne in den Grundfreiheiten klar dem Grundrechtsdiskurs zugeordnet werden. Über diese Grundrechte kann und soll diskutiert werden. Ob sie im Einzelfall eine Wertung für die gesamte Gemeinschaft tragen können, muss der Gerichtshof jeweils feststellen. Die Grundfreiheiten selber werden in diesem Diskurs nur eine untergeordnete Rolle spielen. Denn die vom subjektiven Element befreiten Grundfreiheiten werden dann wieder als das sichtbar, was sie in erster Linie sind: Ein Programm zur Kompensation struktureller wirtschaftlicher Nachteile. Das kann im engen Rahmen des Binnenmarktes von entscheidender Bedeutung sein. Wenn die Grundfreiheiten den Weg in den Nachbarmarkt ebnen, können von den Grundfreiheiten im Einzelfall wichtige strategische Unternehmensentscheidungen abhängen. In der Summe haben diese Vorteile möglicherweise Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Situation des Binnenmarktes. Im erweiterten Kontext eines europäischen Gemeinwesens dagegen ist die Bedeutung dieser entkernten Grundfreiheiten relativiert. Wirtschaftliche Vor- und Nachteile sind nur ein Faktor unter vielen Faktoren, die das Handeln der EU-Bürger bestimmen.
Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen 1. Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags sind keine Grundrechte. Die beiden Normkategorien lassen sich deutlich voneinander abgrenzen. 2. Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte unterscheiden sich durch ihre Entstehungsgeschichte und den gesellschaftlichen und politischen Kontext, dem sie zugeordnet sind. Sie unterscheiden sich durch ihre Schutzrichtung und ihre Normstruktur. 3. Eine Veränderung der Grundfreiheiten in Richtung einer grundrechtlichen Struktur oder einer Mischstruktur hat nicht stattgefunden. 4. Die Grundfreiheiten sind und bleiben An- und Ausgleichungsnormen, über die der Fluss der Waren und Produktionsfaktoren im Binnenmarkt gesteuert werden kann. Sie sollen Mehrkosten entgegenwirken, die einem Wirtschaftsteilnehmer dadurch entstehen, dass die Staatengrenzen den Binnenmarkt nach wie vor in Teilmärkte segmentieren. 5. Der Schutz der Grundfreiheiten wird den Einzelnen gewährt, wenn und soweit mit der Durchsetzung der Rechtsposition des Einzelnen zugleich die Durchmischung der Teilmärkte im Binnenmarkt gefördert wird (Binnenmarktnutzen). Die Rechtsposition des Einzelnen, der sich auf die Grundfreiheiten beruft, ist in ihrem Bestand abhängig von diesem Binnenmarktnutzen. 6. Die Gemeinschaftsgrundrechte sind Schutznormen, die dem Einzelnen im Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts bestimmte grundlegende Rechtspositionen garantieren. Diese Positionen dürfen weder durch Gemeinschaftsorgane noch durch die Mitgliedstaaten oder durch private Dritte aufgehoben oder im Kern angetastet werden. 7. Der Schutz der Gemeinschaftsgrundrechte wird gewährt unabhängig davon, ob damit ein Binnenmarktnutzen verbunden ist. Grundrechtsschutz ist zweckfrei. 8. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat eine Entwicklung der Grundfreiheiten hin zu Grundrechten nur scheinbar stattgefunden. In Einzelfällen bringt der Gerichtshof Gemeinschaftsgrundrechte zur Anwendung, ohne diese als solche zu bezeichnen. Der Gerichtshof benennt in diesen Entscheidungen als anwendbare Normen die Grundfreiheiten des EG-Vertrags, während er strukturell und inhaltlich nicht Grundfreiheiten, sondern Gemeinschaftsgrundrechte prüft.
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9. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs finden sich Hinweise darauf, dass die Art. 28, Art. 39, Art. 43 und Art. 49 EGV sowohl grundfreiheitliche als auch grundrechtliche Inhalte vermitteln können. Der Gerichtshof spricht den vier Grundfreiheiten des EG-Vertrags damit offenbar eine „Doppelfunktionalität“ zu. 10. Diese „Doppelfunktionalität“ lässt sich am deutlichsten für die Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 39 EGV nachweisen. Ein Beispiel ist die Entscheidung Bosman (Rs. 415/93). Unter dem Oberbegriff des Art. 39 EGV bringt der Gerichtshof in dieser Entscheidung sowohl grundfreiheitliche Funktionen (Angleichung der Arbeitsbedingungen für Profifußballer) als auch grundrechtliche Funktionen (Gemeinschaftsgrundrecht auf Freizügigkeit; Gemeinschaftsgrundrecht auf Nichtdiskriminierung) zur Anwendung. 11. Das Grundrecht auf Freizügigkeit ist spätestens seit der Entscheidung Bosman Teil des Kanons der Gemeinschaftsgrundrechte, auch wenn der Gerichtshof weiterhin nur von der Grundfreiheit des Art. 39 EGV spricht, auf die der Einzelne sich berufen kann. 12. Die beiden unterschiedlichen Funktionen unter dem Oberbegriff des Art. 39 EGV können für einen bestimmten Lebenssachverhalt auch nebeneinander Geltung beanspruchen, ohne dass dadurch die Unterscheidung zwischen den beiden Normkategorien aufgehoben würde. 13. Der Begriff „Grundfreiheit“ bezeichnet in der Systematik der vorliegenden Untersuchung sowohl den Oberbegriff als auch eine der beiden untergeordneten Kategorien. Zum einen werden – dem hergebrachten Sprachgebrauch folgend – die Vorschriften der Art. 28, Art. 39, Art. 43 und Art. 49 EGV weiterhin als „Grundfreiheiten“ i. w. S. benannt. Zum andern wird die An- und Ausgleichungsfunktion innerhalb der jeweiligen Vorschrift als „Grundfreiheit“ (i. e. S.) verstanden, in Abgrenzung zu der grundrechtlichen Funktion, die vom Gerichtshof im Einzelfall ebenfalls unter die Art. 28, Art. 39, Art. 43 oder Art. 49 EGV gefasst wird. 14. Um diese Doppelbelegung des Begriffs „Grundfreiheiten“ langfristig zu vermeiden, sollten die grundrechtlichen Funktionen begrifflich und systematisch von den Art. 28 f., Art. 39, Art. 43 und Art. 49 EGV gelöst werden. Die genannten Vorschriften und der Begriff „Grundfreiheiten“ sollten allein die An- und Ausgleichungsfunktion bezeichnen. Die grundrechtliche Funktion sollte dagegen auch in der Rechtsprechung des Gerichtshofs ausdrücklich dem Kanon der Gemeinschaftsgrundrechte zugeordnet und als solche bezeichnet werden. 15. Solange in der Rechtsprechung des Gerichtshofs diese Zuordnung der grundrechtlichen Funktion innerhalb der Art. 28, Art. 39, Art. 43 und
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Art. 49 EGV zur Dogmatik der Gemeinschaftsgrundrechte noch nicht erfolgt, bietet es sich an, von „Grundrechten in den Grundfreiheiten“ oder von „grundrechtlichen Kernen“ der Grundfreiheiten zu sprechen. 16. Die Unterschiede zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten lassen sich an einer Reihe von Strukturmerkmalen nachweisen. 17. Für die Grundfreiheiten ist der „grenzüberschreitende Bezug“ eines Sachverhalts Tatbestandsmerkmal. Für die Gemeinschaftsgrundrechte ist der „grenzüberschreitende Bezug“ kein Tatbestandsmerkmal, sondern nur Sachentscheidungsvoraussetzung. 18. Die Grundfreiheiten sind ohne das Tatbestandsmerkmal des „grenzüberschreitenden Bezugs“ nicht vorstellbar, weil das Normprogramm der Grundfreiheiten als An- und Ausgleichungsvorschriften zwingend einen Systemvergleich voraussetzt. Es werden die Kosten des konkret angestrebten wirtschaftlichen Handelns mit grenzüberschreitendem Bezug mit den Kosten eines – hypothetischen – wirtschaftlichen Handelns verglichen, das vollständig innerhalb der Grenzen einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung bleibt. Gegen die Maßnahmen, die zu Mehrkosten für das grenzüberschreitende Handeln führen, kann der Einzelne sich auf die Grundfreiheiten berufen. Der Schutz durch die Grundfreiheiten ist auf diese Vergleichskonstellation angewiesen. Die Grundfreiheiten gewähren relativen Schutz. 19. Die Grundfreiheiten schützen daher nicht die wirtschaftliche Betätigung oder Freizügigkeit im Binnenmarkt, sofern diese Betätigung oder Freizügigkeit nicht auf einen Grenzübertritt gerichtet ist und auch nicht auf einen Grenzübertritt zurückgeführt werden kann. Für rein nationale Sachverhalte laufen die Grundfreiheiten mangels Vergleichsgröße leer (Inländerdiskriminierung). 20. Die Gemeinschaftsgrundrechte dagegen sind von ihrer Struktur her auf einen Systemvergleich nicht angewiesen. Sie gewähren insoweit absoluten Schutz. Auch für einen rein nationalen Sachverhalt ist der Schutz durch Gemeinschaftsgrundrechte vorstellbar. Hier konkurrieren unter Umständen nationale und Gemeinschaftsgrundrechte um die Anwendung. 21. Eine Drittwirkung der Grundfreiheiten gibt es nicht. Die Grundfreiheiten i. e. S. binden nur die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaftsorgane. Private Wirtschaftsteilnehmer sind zwar berechtigt, sich auf die Grundfreiheiten als An- und Ausgleichungsnormen zu berufen. Sie sind aber nicht verpflichtet, zu Gunsten anderer Privater grundfreiheitskonform und binnenmarktnützlich zu handeln. 22. Die Gemeinschaftsgrundrechte dagegen können über eine mittelbare Drittwirkung auch andere Private dazu verpflichten, grundrechtlich ge-
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schützte Positionen Dritter zu respektieren. Wo diese Drittwirkung ansetzt, ist im Einzelfall zu bestimmen. Klare Vorgaben in der Rechtsprechung des Gerichtshofs gibt es bislang nicht. Offenbar scheint die Drittwirkung aber zumindest ab dem Punkt einzugreifen, in dem eine grundrechtlich geschützte Position durch das Handeln eines anderen privaten Wirtschaftsteilnehmers aufgehoben oder im Kern beschnitten wird. 23. In einzelnen Fällen scheint der Gerichtshof eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten anzuerkennen. Bei genauerer Analyse der Entscheidungen zeigt sich aber, dass es nicht die Grundfreiheiten im engen Sinne sind, die diese Bindung der privaten Wirtschaftsteilnehmer vermitteln, sondern die Gemeinschaftsgrundrechte, die hier – unter der Bezeichnung „Art. 39 EGV“ – Anwendung finden. Im Fall des Fußballspielers Bosman waren die privaten Sportverbände nicht verpflichtet, den Art. 39 EGV als An- und Ausgleichungsnorm zu respektieren. Sie mussten aber sowohl das Gemeinschaftsgrundrecht auf Freizügigkeit als auch das Gemeinschaftsgrundrecht auf Nichtdiskriminierung gegen sich gelten lassen. 24. Die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten kann von einer Spürbarkeitsschwelle nicht abhängig gemacht werden. Eine solche „De-minimis-Regel“, die für bloß geringfügige Verletzungen der Schutzziele der Grundfreiheiten deren Anwendbarkeit suspendieren würde, ließe sich mit dem Normprogramm als An- und Ausgleichungsnormen nicht vereinbaren. Die Systematik der Gemeinschaftsgrundrechte dagegen steht einer solchen Spürbarkeitsschwelle strukturell nicht entgegen. 25. Durch eine klare terminologische und systematische Unterscheidung kann eine Vermischung oder Verwechslung der beiden Normkategorien vermieden werden. 26. Die grundrechtlichen Funktionen, die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs unter den Oberbegriff der Art. 28 f., Art. 39, Art. 43 und Art. 49 EGV gefasst werden, sind Fremdkörper in der Systematik und Dogmatik der Grundfreiheiten. Der Versuch, diese grundrechtlichen Normen als Teil der Dogmatik der Grundfreiheiten zu erklären, führt zu Widersprüchen und Verwerfungen. Eine klare Zuordnung der jeweils angewandten Norm zu einer der beiden Kategorien vermeidet diese Widersprüche. 27. Ein Vorteil der Unterscheidung der beiden Normkategorien ist die Stärkung der genuin grundrechtlichen Positionen, die auf diese Weise von der Bindung an die Binnenmarktnützlichkeit freigestellt werden können. So führt etwa die Lockerung der Bindung von Privatpersonen an die Grundfreiheiten zu einem Zuwachs an Freiheit für die Einzelnen. Zugleich können „neue“ Gemeinschaftsgrundrechte wie etwa das Grund-
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recht auf Freizügigkeit oder das Grundrecht auf Nichtdiskriminierung diese Freiräume ausfüllen und reglementieren. 28. Ein weiterer Vorteil der Unterscheidung der beiden Normkategorien liegt in der verbesserten Transparenz in den Fällen, in denen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte gleichzeitig zur Anwendung gelangen. Vor allem in den sogenannten Drittwirkungsfällen kommt es sowohl zu Kollisionen von Grundfreiheiten mit Gemeinschaftsgrundrechten als auch zu Kollisionen von Gemeinschaftsgrundrechten mit anderen Gemeinschaftsgrundrechten. Die Abwägung dieser kollidierenden Rechtspositionen wird berechenbarer und nachvollziehbarer, wenn die einzelnen Rechtspositionen klar entweder der Kategorie Grundfreiheiten oder der Kategorie Gemeinschaftsgrundrechte zugeordnet werden. 29. Die klare Zuordnung zu einer der beiden Normkategorien erleichtert auch die Bestimmung der Grenze zwischen der Zuständigkeit des Gemeinschaftsrechts und der Zuständigkeit der nationalen Rechtsordnungen. Denn Sachverhalte, die zur Anwendbarkeit der Grundfreiheiten führen, gehören regelmäßig zum Bereich „Binnenmarkt“ und damit zu einem der Kernbereiche gemeinschaftlicher Zuständigkeit. Sie unterfallen stets dem Gemeinschaftsrecht und der Entscheidungszuständigkeit des Gerichtshofs. 30. Dagegen sind nicht alle Sachverhalte, die Grundrechtsschutz für EUBürger auslösen, zugleich in die Entscheidungszuständigkeit des Gerichtshofs gestellt. Bestimmte grundrechtlich relevante Wertentscheidungen bleiben bislang (noch) dem politisch-gesellschaftlichen Diskurs der einzelnen Mitgliedstaaten und den nationalen Rechtsordnungen vorbehalten, solange auf europäischer Ebene ein solcher Diskurs noch nicht stattfindet und gemeinschaftliche Wertvorstellungen sich noch nicht herausgebildet haben. Diese Grenze zwischen gemeinschaftlichen und mitgliedstaatlichen Kompetenzen geriete in Gefahr, wenn über einen erweiterten Begriff der Grundfreiheiten auch solche Sachverhalte, die tief in das nationale Grundrechtsverständnis eingreifen, ohne Weiteres dem Binnenmarkt und damit einer Entscheidung auf Ebene des Gemeinschaftsrechts zugerechnet werden müssten.
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Stichwortverzeichnis Abgrenzung – Art. 12 EGV/Grundfreiheiten 193 f. – Beschränkungsverbot (echtes/unechtes) 118 ff., 123 ff., 128 f., 131 ff. – Diskriminierungs-/Beschränkungsverbot 105 ff., 118 f., 131 ff., 141 f. – Doppelfunktionalität/andere Modelle 373 ff. – Grundfreiheiten/Grundrechte 264 ff., 285 ff., 301 ff., 309 ff., 334 ff., 342 f., 414 f. – Personenfreiheiten/Produktfreiheiten 156 ff., 194 Abwägung – Grundfreiheiten/Grundrechte 148 ff., 239 f., 259 ff., 317 ff., 406 ff., 412 ff. – Struktur 323 ff., 331 f., 406 ff., 412 f. Abwehrrechte 37, 50 ff., 245 ff., 272, 334 ff. Adressaten – von Grundfreiheiten 135 ff., 277, 287 ff. – von Grundrechten 172 ff., 277, 287 ff., 344 ff. – von Rechtsnormen 36 f., 198 f., 293 f., 343 f., 345 Allgemeine Rechtsgrundsätze 161 f. Allgemeininteresse 102 f., 257, 291, 319 f. Allokation 32 f., 397 ff. Alpine Investment 60, 118, 128 ff. An- und Ausgleichungsfunktion der Grundfreiheiten 107 f., 117 f., 125, 129 f., 246 ff., 346 ff., 359 ff. Angonese 89, 143, 150 f., 199, 207 Anwendungsbereich – der Gemeinschaftsgrundrechte 165 ff., 174 f., 179 f., 287 ff., 315 ff.
– der Grundfreiheiten 79 ff., 96 ff., 116 ff., 238 f., 256 f., 262, 279 ff., 296 ff., 339 ff., 358 f., 403 f. – des Gemeinschaftsrechts 164 f., 167, 202 ff., 262, 371 ff., 416 – des Gleichheitsgrundsatzes 162 ff., 199 ff. Arbeitnehmerfreizügigkeit (s. Freizügigkeit) Ausgleich (s. An- und Ausgleichungsfunktion) Ausreisefreiheit 92 ff., 121, 368 ff. Beihilfevorschriften 230 Berufsfreiheit 86, 121 f., 139 f., 233, 313 ff., 315 f. Beschränkungsverbot – echtes/scheinbares B. 118 ff., 123 ff., 128 f., 131 ff., 360 f. – Grundfreiheiten als B. (s. Grundfreiheiten) Beweislastregel 308, 326 Binnenmarkt – als Diffusionsprozess 56 ff., 61 ff. – binnenmarktneutrale Maßnahmen 117, 409 – Nutzen für den B. 31, 127 ff., 216, 308 ff., 346 ff., 412 – Übergang von der Konstruktions- zur Betriebsphase 28, 56, 63, 391 ff., 402, 405 Binnenmarktkonformität 30 f., 356, 389 ff., 395 f., 401 f. Bosman 121 ff., 127, 259 f., 371 ff., 410 ff. Bürgerrechte 38 ff., 48 f., 213 f., 223, 288
Stichwortverzeichnis Cassis de Dijon 102, 109 ff., 275, 283 Civis europaeus 279 ff., 304, 403 Dassonville-Formel 62, 91 ff., 101, 105 f., 154 f. De-minimis-Regel (s. Spürbarkeit) Definition (s. Grundfreiheiten etc.) Dienstleistungsfreiheit – aktive 69 ff., 74, 97 f. – als Beschränkungsverbot 105 ff., 128 ff. – passive 98, 220, 262, 281 Differenzierungsverbot 179 f., 185 ff., 188 f., 362 Diffusionsmodell 56 ff., 123 ff., 348 f., 397 Diskriminierung – aufgrund Geschlechts 196 ff. – aufgrund Staatsangehörigkeit 187 ff. – direkte (offene) 113 f., 193 f., 362 – indirekte (mittelbare) 110, 361 Diskriminierungsverbot 110 ff., 132 f., 163, 179 ff. Diskurs 408, 413 ff., 419 ff. Disparitäten 333 f., 342, 351 ff., 357 ff., 361 Doppelfunktionalität – Abgrenzung zu anderen Konzepten 374 f., 381 ff., 419 – Modell 359 ff. – Vorteile 386 ff., 406 ff., 420 f. Drittwirkung – der Gemeinschaftsgrundrechte 176 ff. – der Grundfreiheiten 135 ff., 248 ff., 293 ff. – mittelbare/unmittelbare 144 Durchlässigkeit – der Grenzen im Binnenmarkt 56, 117, 123 ff., 349, 397 – im Modell 56 ff., 61 f., 108, 349 Effet utile 44, 394 Effizienz 252 f., 353 f., 380, 393 ff., 400 f.
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EMRK 64, 94, 161, 172, 241 f., 271 f. Erosion des „grenzüberschreitenden Elements“ 83 ff., 95 f. Exportfälle 128 ff., 350 f., 368 ff. Freiheitsrechte – Grundfreiheiten als F. 68 f., 132 f., 164 f., 271 ff., 296 ff., 316, 362 f. – Grundrechte als F. 164 ff., 337, 344 f. Freiräume 28, 198, 251 ff. Freizügigkeit – als Gemeinschaftsgrundrecht 210 f., 212 ff., 223 ff., 236, 360, 363, 371 ff., 412 – als nationales Grundrecht 227 – als Unionsbürgerfreizügigkeit 223 ff. – Arbeitnehmer (Art. 39 EG) 66 ff., 121 ff., 139 ff., 153 f., 233 f., 246 ff., 358 f., 410 ff. – Schutzbereich des Art. 18 EGV 213 ff. Fußball 94, 119, 170, 259, 322, 371, 410 ff. Gemeinsamer Markt (s. Binnenmarkt) Gemeinschaftsgrundrechte (s. Grundrechte) Gemeinschaftstreue 145, 295, 318 Gerechtigkeit 185 f., 199 f., 324 Geschriebenes Recht 53, 159, 237 Geschwindigkeit 57, 59 ff., 126, 171 f., 395 ff., 398, 403 f., 420 Gesellschaft und Werte 175, 186, 199 f., 204 ff., 303, 402, 404, 416 ff. Gleichheitsgrundsatz 163 ff., 179 ff., 182 ff., 199, 207 f. Gleichsetzung von Grundfreiheiten und Grundrechten 84, 233 ff., 236 ff., 243, 264 ff., 285 f., 295 f., 302 f. Grenzüberschreitendes Element 79 ff., 86, 91, 117, 166 ff., 202 ff., 218 f., 350 ff.
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Stichwortverzeichnis
Grundfreiheiten – als Beschränkungsverbote 61 f., 105 ff., 245 ff., 271 ff., 294 f., 360, 363, 372 f., 381 ff. – als Diskriminierungsverbote 107 ff., 114 f., 132 ff., 141 ff. – als subjektive Rechte 73 ff. – Begriff 63 ff., 236 ff., 264 ff. – Drittwirkung 135 ff., 248 ff. – Konvergenz 152 ff. – Normstruktur 78 ff., 346 ff. – Schranken 100 ff. – Schutzbereich 79 ff., 97, 107 f., 153 ff., 272 ff., 297, 308 f. – Tatbestandsmerkmale 79 ff. – und Grundrechte (s. Abgrenzung) Grundnorm 104 f., 331 f. Grundrechte – Adressaten 172 ff. – Anwendbarkeit von Gemeinschaftsrecht 79 ff., 166 ff. – Arten von G. 162 ff. – Begriff 29 f., 334 ff. – Schranken 170 ff. – Schutzbereich 165, 179 f., 182 f., 313, 335, 340 f. – Zuständigkeit des Gerichtshofs 79 ff., 166 Grundrechtsmodell 47 ff., 165, 339 ff., 359 f. Handelsbeschränkungen 90 f., 352 f. Handlungspflichten 148 Herkunftsstaat 128 ff. Horizontale Wirkung (s. Drittwirkung) Human Rights 302 f., 392 f. Importfälle 91 f., 114 ff., 191, 246, 408 Individualschutz 41 ff., 53 f., 209 ff., 248 ff., 282 ff., 305 ff., 337 f., 345 f. Individuum 36 ff., 67, 156, 336 ff., 353, 389 f. Inländerdiskriminierung 84 ff., 96, 119, 300
Instrumentale Funktion 44, 64 ff., 108, 117 ff., 284, 304 ff., 346 ff., 352, 369 ff. Integration – negative 65, 70, 348, 353, 380 f., 392 ff. – politische 344 f., 380 f., 392 ff., 403 f. – positive 61, 66, 70, 348, 394 Kabotage 180, 188 Kapitalverkehr 63, 70, 180, 188 Kausalzusammenhang zwischen Grenzübertritt und Nachteil 86 ff., 121 f., 128 ff., 350 ff. Keck und Mithouard 62, 91 f., 103, 107, 134, 381 ff., 393 Kerne, grundrechtliche 148 f., 208, 248 ff., 253 ff., 334, 338 ff., 358 f., 359 ff., 373, 420 f. Kirchen 127, 186, 418 Koalitionsgrundrecht 148 ff., 260, 322 f., 406 Kollision – Grundfreiheiten und Grundfreiheiten 317 f. – Grundfreiheiten und Grundrechte 148 ff., 177 ff., 317 ff., 406 ff. – Grundrechte und Grundrechte 148 ff., 235, 259 ff., 317 ff., 320 f. – und Schutzpflichtenlehre 148 ff., 151, 252 f., 317 ff. Konkurrenzen 313 ff., 317 ff. Konvergenz 78, 152 ff., 270, 279 ff. Landwirtschaft 180, 188 Leistungsgrundrechte 51 ff., 336, 384 Liberale Wirtschaftsordnung 60 f., 128 f., 152 f., 177 f., 404 Lohngleichheit 163, 196 ff. Maastricht-Vertrag 28, 64, 83, 395, 405 Marktzugang 91 f., 107 f., 134, 255, 381 ff. Marktzugangsrecht 368 ff., 381 ff.
Stichwortverzeichnis Maßnahme gleicher Wirkung 65 ff., 102 Meinungsfreiheit 163, 241, 260 f., 294, 331 f., 340, 344, 417 f. Mehrkosten als Handelshindernis 115 ff., 125, 251, 254 f., 349, 362, 372 f., 397 ff. Membrane (s. Durchlässigkeit) Mittelbare Drittwirkung (s. Drittwirkung) Mobilität – „als solche“ 122 ff., 368, 385 – im Binnenmarkt 56 f., 87 f., 122 ff., 157, 382, 397 ff. Modell – Art. 18 EGV 217 ff., – Binnenmarkt 56 ff., 108, 117, 123 ff., 395 f., 402 ff. – Doppelfunktionalität 357 ff., 360, 373 ff., 386 ff. – Grundrechte 45, 51 f., 165, 338 ff. – nur näherungsweise Umschreibung 126 ff. Monopolsituation und Drittwirkung 140 f., 150, 207, 251 f., 373 Nachteile (s. Mehrkosten) Niederlassungsfreiheit – als Beschränkungsverbot 92 f., 131 ff., 152 – als subjektives Recht 70 ff., 74, 92 f., 152, 236 f. Normstruktur/Normprogramm (s. Grundfreiheiten) Nutzen (s. Binnenmarktnutzen) Objektive Rechtsgrundsätze 160 ff. Objektive Wertordnung 177 f., 278 f., 293, 338 f. Ordre Public 100 f., 271 f. Patrimoine Juridique 42 ff. Personenfreiheiten 94 f., 156, 194, 268, 279 ff., 376, 383, Praktische Konkordanz 149, 324 f.
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Pressefreiheit 261, 314, 406 Primärrecht 32, 47, 53, 160 f., 180 f., 312, 332 Privatautonomie 137 ff., 149 f., 251, 406 Privatrecht 33 f., 36, 136 ff. Produktbezogene Vorschriften 103, 108, 131 Produktfreiheiten 97, 155 ff., 194, 268, 281, 386 Profifußball (s. Fußball) Quellen der Grundrechte 53 ff., 160 f., 387 Rechtsetzungsbefugnis 150 Rechtsschutzfunktion 43 ff., 159, 282 f., 305 ff., 351, 356 ff., 379 f. Richtlinien und Horizontalwirkung 394 Rückkehrerfälle 87 ff., 95 Sachentscheidungsvoraussetzung 79 f. Schranken (s. Grundfreiheiten/Grundrechte) Schutzbereich (s. Grundfreiheiten/ Grundrechte) Schutznormtheorie 33, 40 ff. Schutzpflichten – grundfreiheitliche 149 ff., 151, 252 f., 295 f., 317 ff. – grundrechtliche 176, 252 f., 317 ff. Sonntagsverkaufsverbot 60, 91, 127 Sportlerfälle 121 ff., 139 ff., 251, 259 f. SPUC/Grogan 175, 261 ff., 330 f., 417 ff. Spürbarkeitsschwelle 137, 148 f., 252, 353 f., 385 Staatsangehörigkeit als Differenzierungskriterium 71, 110 ff., 188 ff., 208, 226, 254, 302, 362 Streikrecht (s. Koalitionsgrundrecht) Subjektive Rechte 32 ff., 73 ff. Subjektivierung von Rechtssätzen 38 ff., 45, 48 f., 278 f., 285 f., 351
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Stichwortverzeichnis
Subventionen (s. Beihilfen) Systemvergleich 116 ff., 120 f., 131, 248 ff. Tatbestandsmerkmal (s. Grundfreiheiten etc.) Teilhaberechte 51 f., 162 f., 336, 384 Teilmarkt 56, 83, 117, 130 ff., 255, 397 Transfersummen 119, 121 ff., 129 f., 245, 371 ff., 410 f. Transnationales Element (s. grenzüberschreitendes Element) Transparenz 324, 406 ff., 412 ff., 419 Umweltschutz 103, 261 UN-Menschenrechte 302 ff., 335, 392 f. Ungeschriebenes Recht 53, 159 ff., 184 f., 201, 327 (Fn 232) Unionsbürgerrechte 54, 156 Unionsbürgerschaft 209, 215 f., 221 ff., 303 f., 395 Unmittelbare Wirkung – der Gleichheitssätze 184, 188, 196 – der Grundfreiheiten 73 ff., 77 – des Art. 18 EGV 210 ff. – des Gemeinschaftsrechts 40 ff., 228 ff. Unterschiede (s. Abgrenzung) Van Gend & Loos 40 f., 73, 228 Verfassung 34 f., 50 f., 159 ff., 293 f., 334 ff., 340 f., 415 ff. Verfassungsautonomie der Mitgliedstaaten 169, 175, 419 f.
Verhältnismäßigkeit 48, 123, 153, 170, 258 Verkaufsmodalitäten 81, 103, 131, 383 Vermutungsregel (s. Beweislast) Versammlungsfreiheit 144 ff., 260 f., 344 Warenverkehrsfreiheit 65 ff., 71 f., 90 ff., 102, 147 f., 281, 381 ff. Werkzeug (s. Instrumentale Funktion) Wesensgehalt 166, 170, 179, 303 Wettbewerbsrecht 136 f., 156, 197, 229 f., 394 ff., 401 Wille des Einzelnen 32 f., 47, 51 f., 121, 156 f., 165 f., 246 ff., 340, 352 f. Willkür 143, 182, 362 Wirtschaftsbezogenheit der Grundfreiheiten 88 f., 100, 315, 402 f. Wirtschaftsfaktoren 56 ff., 117, 349, 366, 397 ff. Wortlaut 63 ff., 71 f., 236 ff. Zielerreichung (s. Binnenmarktnutzen) Zirkulation 56 ff., 126, 259, 397 ff. Zivilrecht (s. Privatrecht) Zollvorschriften 41, 228 Zuständigkeit des Gerichtshofs 88, 121 ff., 174 ff., 290 ff., 320 f., 417 Zweckfreiheit der Grundrechte 26, 227, 339 ff. Zwingende Gründe des Allgemeininteresses 102