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German Pages 301 [280] Year 1971
Die griechische Philosophie II Von den Sokratikern bis zur hellenistischen Philosophie
von
Prof. Dr. Wilhelm Capelle
3., bearbeitete Auflage
Sammlung Göschen Bd. 858/858 a Walter de Gruyter & Co. • Berlin 1971 vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung · J. Guttentag Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit Sc Comp.
Die Gesamtdarstellung umfaßt folgende Bände: Band I: Von Thaies bis zum Tode Piatons (Sammlung Göschen Bd. 857/857 a) Band II: Von den Sokratikern bis zur hellenistischen Philosophie (Sammlung Göschen Bd. 858/858 a)
Die Durchsicht der dritten Auflage und die Neubearbeitung des Literaturverzeichnisses besorgte Dr. J o h a n n e s M i i l l e r
Copyright 1971 by Walter de Gruyter Sc Co., vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung - J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J . Trübner - Veit & Comp., Berlin 30. - Alle Rechte, einschl. der Rechte der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, von der Verlagshandlung vorbehalten. - Archiv-Nr. 7120 701 - Satz und Druck: Saladruck, Berlin 36. - Printed in Germany.
Inhalt des zweiten Bandes D. Die Sokratiker I. Die Kyniker II. Die kyrenaische Philosophie III. Die megarische und die elisch-eretrisdie Schule
E. Aristoteles I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII.
Einleitung Die Logik Die Metaphysik Das Weltbild des Aristoteles Die Stellung des Menschen im Kosmos Die Psychologie Die Ethik Die Staatslehre Der alte Peripatos
F. Die hellenistische Philosophie I. Die alte Stoa II. Epikur Die epikureische Philosophie III. Die Skepsis IV. Die mittlere Stoa Poseidonios Antiochos von Askalon
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Literatur
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Register
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Inhalt des ersten Bandes Einleitung 1. 2. 3. 4.
Bedeutung und Ursprung der griechischen Philosophie Die erste Hauptperiode der griechischen Philosophie Die Quellen der vorattischen Philosophie Methodische Bemerkungen
A. Die vorattische Philosophie I. Der ionische Hylozoismus 1. Thaies 2. Anaximandros 3. Anaximenes II. Wissenschaft und Mystik 1. Pythagoras und die älteren Pythagoreer 2. Alkmaion von Kroton 3. Die Mystik des 6. Jahrhunderts III. Aufklärung und Metaphysik 1. Xenophanes von Kolophon 2. Herakleitos von Ephesos IV. Der metaphysische Grundgegensatz: Die Eleaten 1. Parmenides 2. Zenon 3. Melissos V. Die drei großen Vermittlungsversuche 1. Empedokles 2. Anaxagoras 3. Leukippos VI. Der Ausgang der vorattischen Philosophie
B. Das Zeitalter der Aufklärung I. Allgemeine Charakteristik. Die Sophistik II. Sokrates Sokrates der Philosoph 1. Der Dialektiker 2. Begründer der Ethik Die unvollkommenen Sokratiker
C. Piaton I. Piatons Leben und Schriften II. Die platonische Philosophie 1. Erkenntnislehre und Methaphysik 2. Die Seelenlehre 3. Ethik und Staatslehre 4. Naturphilosophie und Naturwissenschaft 5. Religionsphilosophie und Religiosität Exkurs Piatons Stellung zur Kunst III. Die alte Akademie Register Literatur siehe Band II
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D. Die Sokratiker Unter den Sokratikern verstehen die Historiker der alten Philosophie verschiedene Denker-Gruppen, deren Führer, persönliche Schüler des Sokrates, ihrerseits die Gedanken des Meisters, in Verbindung mit sophistischen Anschauungen, in eigenartiger Weise weiterentwickelt haben.
I. Die Kyniker Der Begründer des Kynismus ist nach der antiken Überlieferung, die mit Unrecht von einzelnen modernen Forschern verworfen wird, ANTISTHENES aus Athen, geboren etwa um 450 v. Chr., der Sohn einer thrakischen Sklavin und eines griechischen Vaters, daher kein Vollbürger, eine Tatsache, die für seine ganze Denkweise bedeutsam werden sollte. Ursprünglich Schüler des Gorgias, also durchaus rhetorisch gebildet, geht er erst in späteren Lebensjahren zur Philosophie über, indem er begeisterter Jünger des Sokrates wird, nach dessen Tode er dann selbst als Weisheitslehrer (nicht nur als Rhetor!) auftritt. Antisthenes hat eine ungewöhnlich fruchtbare Schriftstellerei entfaltet (die alexandrinischen Gelehrten teilten seine Werke in 10 Bände; vgl. den Schriften-Katalog bei D. L. VI). Seine Werke waren teils rhetorischen, teils dialektischen, teils ethischen Inhalts, ihrer Form nach zum Teil sokratische Dialoge. Sie sind größtenteils verloren, haben aber ζ. B. auf die Schriftstellerei eines Xenophon stark eingewirkt, doch sind sichere Spuren antisthenischer Gedanken in Xenophons Schriften nur selten faßbar. Zu Piaton hat Antisthenes dauernd im Gegensatz gestanden; zwischen beiden Männern hat vielfach - zeitweise in sehr scharfer Form - eine literarische Polemik stattgefunden. Zeugen hiervon sind Antisthenes' offenbar sehr grobe Streitschrift Sathon und gewisse Stellen in Piatons Dialogen, so im
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Theätet und Sophistes; die Beziehungen mancher anderen Stellen in Piatons Schriften auf Lehren des Antisthenes, wie sie seit Schleiermacher vielfach vermutet worden sind, sind oft zweifelhaft, oft durchaus trügerisch. Antisthenes hat im Jahre 366 noch als alter Mann gelebt; die Anspielungen auf ihn im Sophistes gehen daher vielleicht noch auf den Lebenden. Der persönliche Schüler des Antisthenes ist DIOGENES VON SINOPE, der dem Kynismus, insbesondere der äußeren kynischen Lebensführung, erst die volle Ausprägung gibt. Die Philosophie des Antisthenes stellt eine eigentümliche Vereinigung sophistischer und somatischer Elemente dar. Beide zeigen sich in seiner Dialektik, wo schon seine Beschäftigung mit Definitionen und dem Problem der Definition sokratischen Einfluß verrät. Eigentümlich ist dieser jedoch sein „Nominalismus", wie er uns durch Aristoteles in der Metaphysik und durch Piaton im Theätet wenigstens im Prinzip klar wird. Von den „ersten" Dingen, d. h. den Urbestandteilen der physischen und geistigen Dinge, haben wir Menschen keinerlei Erkenntnis; wir können sie nur mit ihrem Namen benennen, vermögen aber nicht zu sagen, was sie sind, sondern höchstens durch Vergleich anzudeuten, wie beschaffen sie sind (ζ. B. Silber ist etwas Ähnliches wie Zinn). Wir können daher diesen Urbestandteilen der Dinge (gleichsam ihren Buchstaben, d. h. Elementen) keinerlei Prädikate beilegen, die irgendwie zu ihrem Wesen in innerer Beziehung ständen; nicht einmal pronominale Zusätze wie „dieses" oder „jenes" sind zulässig. Wir können daher nur sagen: Ein Mensch ist ein Mensch, Silber ist Silber, aber ζ. B. nicht: „Der Mensch ist gut" oder: „Das Silber ist ein Metall". Es sind also Subsumtionen von Einzeldingen unter Gattungsbegriffe nicht zulässig. Nur von zusammengesetzten Dingen (σύνθετα), gleichsam den „Silben", d. h. Komplexen aus den Urdingen, können wir etwas wie eine Definition geben, indem wir ihre Urbestandteile angeben, die selbst aber für uns unerkennbar und daher unbestimmbar sind.
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Es sind also nach Antisthenes nur identische Urteile möglich, d. h. solche, in denen sich der Subjekts- und der Prädikatsbegriff decken. Hieraus ergibt sich, daß weder ein Widerspruch noch ein Irrtum möglich ist; denn, handelt es sich um die Aussagen verschiedener Personen über dieselbe Sache, so ist eben nur ein Urteil über diese möglich; sprechen sie dagegen von verschiedenen Dingen, dann besteht eben kein Widerspruch. Daß dieser „Nominalismus" - bestände er zu Recht - alle wirkliche Erkenntnis und damit alle Wissenschaft aufheben würde, liegt auf der Hand. Von Piatons sarkastischer Polemik abgesehen, hat ihn denn auch schon Aristoteles als „einfältig" und „ungebildet", d. h. unwissenschaftlich abgelehnt. Daß Antisthenes auch durch diese Theorie zu Piatons Ideenlehre in scharfen Gegensatz kommen mußte, ist hiernach verständlich. Übrigens ist die Ansicht des Antisthenes, daß es nur identische Urteile gibt, nicht einmal sein geistiges Eigentum, sondern sehr wahrscheinlich von Gorgias entlehnt. Im Zusammenhang mit seiner nominalistischen Theorie hatte Antisthenes auch eine Definition des Wissens (έπιστήμη) als der „mit Erkenntnis verbundenen richtigen Meinung" gegeben, die von Piaton im Theätet einer eingehenden Widerlegung gewürdigt wird. Daß echte Dialektik nicht die Stärke des Antisthenes war, mag auch die bezeichnende Tatsache zeigen, daß er zur Widerlegung der zenonischen Argumente gegen die Wirklichkeit der Bewegung keine logischen Gründe anzuführen wußte, sondern einfach auf und ab ging, um so die Wirklichkeit der Bewegung zu erweisen. Nach all diesem ist es begreiflich, daß die griechischen Denker der Folgezeit die Logik des Antisthenes nicht weiter berücksichtigt haben. Um so folgenreicher sollte seine Ethik werden, die ganz auf sokratischem Grunde ruht, aber eine durchaus originale und historisch bedeutsame Ausgestaltung erfahren hat. Von Sokrates, dessen Persönlichkeit auf ihn den stärksten Eindruck gemacht
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hat, hat Antisthenes eine für sein Denken maßgebende Überzeugung übernommen: Wert hat für den Menschen in Wahrheit nur die „Tugend" (άρετή, in sokratischem Sinne als sittliche Tüchtigkeit gefaßt), alles andere auf der Welt ist wertlos (dies Urteil: „wertlos" nimmt jedoch Antisthenes in absolutem Sinne!); die „Tugend" aber reicht von sich aus vollkommen hin zur „Glückseligkeit" (ευδαιμονία) des Menschen. Aus solchen Voraussetzungen entwickelt Antisthenes seine Tugend- und Güterlehre. Mit Sokrates hält er die Tugend für lehrbar, einheitlich und unverlierbar. Sokratisch ist auch die Grundlage der antisthenischen Tugend, da sie auf der richtigen Einsicht (φρόνησις) beruht. Aber hiermit ist ihr Wesen durchaus noch nicht erschöpfend bestimmt, und gerade hier vollzieht Antisthenes einen bedeutsamen Schritt über Sokrates hinaus. Denn der Tugendbegriff des Antisthenes birgt zugleich ein stark voluntaristiscbes Moment, das in der historischen Wirklichkeit in der Charakterstärke des Sokrates sein Urbild hat. Daß dies wirklich der Fall ist, ergibt sich vor allem aus Antisthenes' Lehre vom „Ponos" ( = Mühe und Arbeit), dessen Bekämpfung und Uberwindung erst die Tugend verwirklichen hilft und ohne konzentrierten, zielbewußten Willen unmöglich ist. Ideal dieses siegreichen Kampfes gegen den „Ponos" und damit Verkörperung der Areté als eines sich ständig durch die Tat bewährenden Willensaktes ist der - in seiner Überwindung der zwölf Abenteuer von Antisthenes allegorisch gedeutete - Herakles, dem wenigstens zwei seiner Schriften gewidmet waren. Daher ist Herakles der Schutzheilige der Kyniker bis ans Ende der Antike. Die Tugend ist also nach Antisthenes durchaus nicht reine Erkenntnis (wie sie Sokrates und Piaton fassen; beide in der Uberzeugung, daß sich aus solcher Erkenntnis das richtige Handeln des Menschen mit innerer Notwendigkeit ergeben wird); sie ist vielmehr eine auf richtiger Einsicht beruhende Gesinnung und Willensrichtung, deren Echtheit sich erst durch die Tat, und allein in dieser, bewährt. Denn die Tugend be-
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steht in den „Erga" (Werken, Taten), bedarf daher weder vieles Reden noch Erkenntnisse. Daher ist der Ponos (d. h. seine Überwindung) als einziger Weg zur Tugend und damit zur Glückseligkeit ein Gut, nicht ein Übel. Mit Antisthenes' Anschauung von der Autarkie der Tugend zur Glückseligkeit hängt aufs engste sein Ideal der Bedürfnislosigkeit zusammen, wie wir es schon in Xenophons Symposion kennenlernen, wie andererseits seine Güterlehre, die in schärfstem Gegensatz zur landläufigen griechischen Wertung del Dinge steht. So sind Krankheit, Alter, Tod, Armut, Verbannung, niedrige Herkunft kein Übel, wie ihr Gegenteil keine Güter daher auch das häufige Eifern der Kyniker gegen die „Tryphé", d. h. gegen jede Art von Luxus und Üppigkeit - , denn die Glückseligkeit hängt von ihnen in keiner Weise ab. Sie hängt aber auch nicht von dem Genuß der Sinneslust (ηδονή) ab, die dem Antisthenes als ärgstes Übels erscheint: „Lieber möchte ich dem Wahnsinn verfallen als der Lust erliegen." Droht doch die Lust den Menschen zu knechten und ihm damit seine Selbstbestimmung zu rauben, so daß dann von Tugend oder gar dei auf ihr beruhenden Glückseligkeit keine Rede mehr sein kann. Dabei ist aber Antisthenes, wie alle Kyniker und überhaupt die Griechen, von einer „asketischen" Auffassung der Tugend weit entfernt, wie ihm denn die Befriedigung des Geschlechtstriebes, weil natürlich, als etwas Selbverständliches erscheint. Nur darf dieser Trieb nicht zum Herrn über den Menschen werden! Charakteristisch ist das Verhältnis des athenischen Halbbürgers Antisthenes zum Staat, wie es sich in seiner Äußerung verrät, daß sich der Weise nicht nach den Gesetzen des Staates, sondern nach denen der „Tugend" richte, von seinen scharfen Urteilen über die Einrichtungen der athenischen Demokratie hier ganz zu schweigen. Wie Antisthenes über die Ehe gedacht hat, ist nicht ganz klar. Dagegen hören wir in einer wichtigen Äußerung von ihm über die beiden Geschlechter, daß nämlich die Tugend bei Mann und Weib ein und dieselbe sei. Auch dies
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eine damals durchaus ketzerische, nur von einzelnen Denkern geteilte Anschauung. Die sich deutlich anbahnende innere Loslösung des Antisthenes von den Grundlagen der griechischen Polis scheint sich auch aus seiner Stellung zur Staatsreligion zu ergeben. Er behauptet nämlich, daß es nur einen einzigen Gott gäbe, der nichts Sichtbarem gleiche. Noch eine ethisch-soziale Grundanschauung des Antisthenes verdient hier Erwähnung: Er unterscheidet unter den Menschen „Weise" und „Toren". Mit Unrecht ist diese Unterscheidung als bereits alt-kynisch bestritten worden. Die Masse der Menschen (die πολλοί) gehört zu den Unweisen, für die das Heil, da sie von sich aus zur Tugend nicht befähigt sind, in der Unterordnung unter einen starken, aufgeklärten, tugendhaften Willen liegt, wie er sich in Kyros, dem Gründer des Perserreichs, verkörpert hat. Seinen ethischen Tendenzen hat Antisthenes auch manche seiner Schriften dienstbar gemacht, so, außer seinen Herakles und Kyros verherrlichenden Werken, insbesondere seine Protreptikoi (Weckrufe zur Tugend). Auch seine Homererklärung, von der das Hilfsmittel der allegorischen Deutung aus sittlichreligiösen Gründen historisch folgenreich werden sollte, stand vielfach im Dienst seiner ethischen Grundsätze. Aber zur vollen Entfaltung hat den Kynismus erst DIOGENES, „der Hund", gebracht (so nach seiner Lebensweise und seinem Benehmen genannt; nach ihm, dem Kyon = Hund, dann seine Anhänger Kyniker), wenn es auch schwer und mit unseren Mitteln angesichts der Eigenart der Überlieferung vielfach unmöglich ist, das Gedankengut des Antisthenes und seines Jüngers Diogenes sicher zu scheiden. Denn erst Diogenes, der Zeitgenosse Alexanders, der in demselben Jahr wie der große König starb, ist das Urbild des Kynikers in Wort und Tat, wie es noch die um seine Person dicht wuchernde Legende der Folgezeit widerspiegelt. Und sicher hat erst Diogenes den Kynismus in die Praxis umgesetzt, so insbesondere in seiner Tracht
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und seiner ganzen äußeren Lebensweise, die hier als bekannt vorausgesetzt werden kann. Und gerade Diogenes sucht vor allem die antisthenische Areté durch die Tat zu verwirklichen. Hierbei ist für ihn noch weit mehr als für Antisthenes der alte Grundgegensatz „Nomos-Physis" (der herkömmlichen Sittlichkeit und der Natur) von Bedeutung, der von ihm, wie überhaupt die Gedanken des Antisthenes, auf die Spitze getrieben wird, indem er gegenüber den Grundlagen der griechischen Polis in geradezu revolutionärer Weise, jedoch den Radikalismus durch Witz und grotesken Humor mildernd, eine Umwertung aller herkömmlichen Werte heraufzuführen sucht. Die menschliche Kultur ist daher für ihn nicht etwa noch, wie für die Sophisten, ein Problem; er steht ihr vielmehr durchaus feindlich gegenüber, weil er in ihr nur ein System schädlichster Verkehrtheiten, ein vollkommenes Abirren von der Natur, d. h. von dem naturgemäßen Leben, sieht. Eben daher sucht er alle landläufigen Werte im Sinne des Antisthenes umzukehren, nicht nur in der Theorie und Lehre, sondern durch die Tat. Denn auf Grund solcher Uberzeugung von der Erzverkehrtheit der konventionellen Moral und gesellschaftlichen Sitte sucht er die Menschen - oft in höchst origineller, äußerst drastischer Weise, die ihren Ursprung in seinem derben, unerschöpflichen Mutterwitz hat zur Natur zurückzuführen, wobei er freilich, auf Grund der Überzeugung, daß „Naturalia non turpia" sind, und daß man, was man überhaupt tun darf, auch vor aller Augen tun darf, ärgste Schamlosigkeiten, zumal in sexueller Hinsicht, begeht. Solche Schamlosigkeiten des Diogenes zielen bewußt darauf ab, dem natürlichen Anstands- und Schamgefühl des Kulturmenschen ins Gesicht zu schlagen, es geradezu zu verhöhnen. Daher noch heute der Ausdruck „kynisch" von Äußerungen und Handlungen, die eine ähnliche Denkweise gegenüber dem, was anderen Menschen heilig ist, verraten. Entsprechend seiner Auffassung von der menschlichen Kultur im Gegensatz zur Natur hat Diogenes auch in der Theorie
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manche „kyuisch" anmutende Ansicht vertreten, wobei wir von seiner Forderung der Weiber- und Kindergemeinschaft sowie der „freien Liebe" in seinem Idealstaat noch ganz absehen: selbst der Geschlechtsverkehr zwischen Eltern und Kindern (Oedipus) und das Essen von Menschenfleisch (Thyestes) erscheint ihm in keiner Weise anstößig. Als Vorbild aber für ein wirklich naturgemäßes Leben scheint schon Diogenes das Leben der Tiere und die Sitten barbarischer Völker hingestellt zu haben. In seiner Auffassung von der Tugend zeigt sich noch weit stärker als bei Antisthenes die Betonung des Willensmomentes und die Verwirklichung des ethischen Willens durch die Tat. Und zwar hat diese kynische Tugend eine doppelte Betätigung: in Rücksicht auf das eigene Ich und seine Triebe ist sie Apathie, d. h. Freiheit von Affekten und Leidenschaften, insbesondere auch von der des Eros; gegenüber der Außenwelt aber „Autarkie", wie sie sich in äußerster Bedürfnislosigkeit an Nahrung, Kleidung und Wohnung offenbart, indem er durchaus in dem gerade Vorhandenen sein Genügen findet. Daher kann ihm auch die Fortuna (τύχη) nichts anhaben. Um aber solche Apathie und Autarkie zu erringen, bedarf es des ständigen Kampfes gegen den Ponos, in Form der zuerst von Diogenes geübten Askese, die freilich mit der mystischen nichts gemein hat, wie sie sich in systematischer äußerster Abhärtung gegen alle äußeren Nöte des Lebens zeigt. Denn der Endzweck dieser Askese ist die Freiheit, die absolute Unabhängigkeit: von der Außenwelt dank der Autarkie, von den Trieben und Regungen des eigenen Innern dank der Apathie. Um dieser äußeren und inneren Unabhängigkeit willen lehnt Diogenes auch alle sozialen Bindungen ab: den Staat (denn er ist Kosmopolit), die Ehe und die Familie. Bei solcher Auffassung vom Wesen und Wert der Tugend ergibt sich auch seine in Wahrheit schon von Sokrates gezogene Folgerung von selbst, daß die Tugend die Glückseligkeit mit
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innerer Notwendigkeit im Gefolge habe. Da aber allein von dem Menschen selber abhängt, ob er ein Leben der Tugend oder der Lust, ein Leben der sittlichen Zucht oder des Genusses, der Sinnenlust, wählt, so trägt auch der Mensch die Bedingungen zum eigenen Glück allein in sich selbst. Diogenes' radikale Auffassung von der Tugend als einzigem Gut hat aber auch noch eine andere Folge: bei Diogenes und seinen Jüngern zeigt sich trotz ihrer eigenen mannigfachen literarischen Betätigung doch eine mehr oder weniger banausische Verachtung von Kunst und Wissenschaft, vor allem aber der Fachwissenschaften, die ja nur von der Tugend ablenken, wie denn auch die kynische Philosophie, die schon in der Antike manche nicht als eine Philosophie, sondern nur als eine Form der Lebensführung anerkennen wollten, schon durch ihren Begründer Metaphysik und Erkenntnistheorie, Physik und Mathematik grundsätzlich aus ihrem Bereich ausgeschieden hat. Der Jünger des Diogenes ist KRATES aus Theben, der sein großes Vermögen seinen Mitbürgern überließ, um sich ganz dem kynischen Ideal auch in seiner eigenen Lebensführung zu widmen, für die er in Hipparchia, der Tochter eines reichen Hauses aus Maroneia in Thrakien, eine gleichgesinnte, tapfere Lebensgefährtin fand. Wenn auch durch Krates nicht eigentlich neue Ideen in den Kynismus kommen, so ist doch dreierlei an ihm auch historisch bedeutsam: seine ständige praktische Betätigung als der von echter Menschenliebe erfüllte Seelenarzt, der unter seinen Mitbürgern vor allem als ein Versöhner (als ein „Mittler", mit Goethe in den Wahlverwandtschaften zu reden) zwischen entzweiten Verwandten mit reichem Erfolge wirkt; seine literarische Betätigung durch Pflege einer oft äußerst witzigen, parodistischen Prosa, aus der jedoch sein Kynismus als heiterer Ernst überall hervorschimmert - das σκουδαιογέλοιον, dies Gemisch von Scherz und Ernst, in dem bei allem graziösen Spiel mit der leichten Form doch der Ernst
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den Grundton bildet, ist seitdem für die altkynische Literatur charakteristisch geworden - und endlich die Tatsache, daß Zenon von Kition, der Gründer der Stoa, für längere Zeit sein Jünger war. Bedeutsam, zumal für die Entwicklung einer Popular-Philosophie - die ja gerade durch den Kynismus heraufgeführt wird, mit dem die Philosophie sozusagen auf die Gasse und den Markt tritt, indem sie sich bald an jedermann wendet - sollten noch zwei andere Erscheinungen werden: einmal das Auftreten von Wanderpredigern mehr oder weniger kynischer Observanz, von denen wir uns, besonders dank Wilamowitz' berühmter Abhandlung, aus den Nachrichten über den Kyniker T E L E S , wie sie dann Otto Hense mustergültig herausgegeben hat, ein anschauliches Bild machen können, und - in engstem Zusammenhang hiermit - die Entstehung einer eigenen Literaturgattung, die recht eigentlich ein Kind der Hellenistenzeit ist, der Diatribe (des ethischen bzw. ethisch-religiösen Traktates), einer volkstümlichen Schriftgattung, die inhaltlich von ernster ethischer Tendenz erfüllt, in der Form eine Mischung aus rhetorischen Elementen (Antithesen, Verwendung von Dichterzitaten, Gleichnissen etc.) und dem sokratischen Dialog darstellt, das letztere insofern, als oft ein fingierter Mitunterredner eingeführt wird, auf dessen Einwand dann der Verfasser des längeren erwidert. Für die Geschichte dieser eigentümlichen und zugleich kulturhistorisch auch für das junge Christentum wichtigen Literaturgattung muß des näheren nächst Wilamowitz' Abhandlung vor allem auf die Arbeiten von Paul Wendland verwiesen werden. Als Musterbeispiel einer solchen Diatribe mag hier Epiktet III 22 genannt werden, jene mit Recht berühmte Erörterung über Wesen und Bedeutung des Kynismus, die zugleich von dem Idealtypus eines solchen Wanderpredigers als eines Apostels der Sittlichkeit, genauer der sittlichen Freiheit, eine großartige Vorstellung gibt.
Π. Die kyrenaische Philosophie Die kyrenaische Philosophie hat ihren Namen nach der Heimat ihres Gründers, des ARISTIPPOS VON KYRENE, dessen Leben annäherungsweise in die Zeit von 435 bis 355 fällt. In der üppigen gesellschaftlichen Sphäre der reichen Handelsstadt aufgewachsen - ein Umstand, der sicher nicht ohne Bedeutung für die Eigenart seiner Philosophie gewesen ist - und augenscheinlich schon in der Heimat mit der Lehre der großen griechischen Sophisten vertraut geworden, kam er als ein schon halb Fertiger nach Athen zu Sokrates, ohne von ihm - Aristippos ist eine gänzlich anders gerichtete Natur - wirklich entscheidende Einwirkungen zu empfangen. Aristippos, der später nach Sophistenart Honorar für seine Lehre nahm, hat auch wie diese ein mannigfaltiges Wanderleben geführt. So ist er wiederholt längere Zeit am Hof der Tyrannen Dionysios I. und II. gewesen, bis er dann in seiner Vaterstadt Kyrene eine Philosophenschule begründete, die dort mehrere Generationen hindurch bis in die Zeit der ersten Ptolemäer geblüht, seine Lehre fortgesetzt, aber durch mehrere ihrer Vertreter nicht unerheblich umgebildet hat. Schriften des Aristippos, deren es zahlreiche, darunter zweifellos echte, gab, sind uns nicht erhalten. Sicher aber gehören wenigstens die Grundzüge der Lehre nicht erst den jüngeren Kyrenaikern, sondern schon dem Aristippos selbst, wie dies sowohl die Einheit der Schule wie insbesondere die Berücksichtigung der Lehre bei Piaton, Speusippos und Aristoteles beweist. Doch können wir aus der literarischen Überlieferung, soweit sie nur von der kyrenaischen Philosophie (d.h. ohne Namensnennung eines Philosophen) spricht, nicht mehr überall die Lehre des Aristippos von der seiner Nachfolger unterscheiden. Beachtung verdient übrigens die Tatsache, daß Aristippos durch seine eigene Lebensführung seine philosophischen Grundsätze geradezu vollkommen verwirklicht hat.
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Die kyrenaische Philosophie ruht auf durchaus sophistischer Grundlage, ist aber mit einem sokratischen Moment verbunden. Sophistisch ist ihr erkenntnis-theoretischer Standpunkt, der eine Erkennbarkeit der Dinge außer uns für unmöglich hält, da er die Sinne (auch die kyrenaische Philosophie ist sensualistisch; Sinneserkenntnis ist ihr, wie dem Protagoras = Erkenntnis überhaupt) für unzuverlässig erachtet. Der Phänomenalismus und Subjektivismus des Protagoras wird also von Aristippos und seiner Schule völlig übernommen, jedoch mit einer entscheidenden Einschränkung: auch die Kyrenaiker geben zu, daß wir die Dinge an sich nicht zu erkennen vermögen, daher nichts Gewisses über ihr wirkliches Wesen aussagen können, sondern nur darüber, wie sie uns erscheinen. Wir können also nicht sagen: der Honig ist süß, sondern nur: er schmeckt süß. Eins aber ist für jeden einzelnen Menschen von unumstößlicher Gewißheit: daß und wie er in seinem Bewußtsein von den Außendingen affiziert wird. Ob wir durch irgendeinen äußeren Vorgang oder durch einen Vorgang in unserem Körper Lust oder Schmerz empfinden, darüber kann niemand von uns auch nur einen Augenblick im Zweifel sein. Unsere πάθη, d. h. die Affektion unseres Bewußtseins durch die Dinge, sie sind für jedes Ich von absoluter Evidenz, und nur sie, nichts anderes. Die πάθη (Lust und Schmerz) sind daher für uns das einzige Kriterium. Außerunseren eigenen (durch die Wirkung der Dinge auf unseren psycho-physischen Organismus verursachten) Empfindungen vermögen wir nichts auf der Welt zu erkennen. Aber auch diese Empfindungen sind kein gemeinsames Kriterium, das für alle Menschen die gleiche Gültigkeit hätte. Nur die Namen, die Wortbezeichnungen für die von den Dingen in uns verursachten Eindrücke sind uns gemeinsam. So brauchen zwar alle Menschen die Ausdrücke weiß oder süß von irgendwelchen Dingen; aber ein Ding, was für sie alle weiß oder süß wäre, gibt es nicht. Es ist also nicht einmal sicher, ob sie alle darunter ein und dasselbe verstehen. Denn jedes Individuum vermag nur
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sein eigenes πάθος, nur die ihm eignen, durch die Außendinge verursachten Reaktionen seines Bewußtseins, zu erkennen. Es ist also die ganz individuelle, rein subjektive Empfindung das einzig sichere Kriterium des Ich, genauer die Gefühle von Lust und Schmerz 1 . Hier liegt die Brücke von der Erkenntnislehre der Kyrenaiker zu ihrer Ethik, genauer zu ihrer Lustlehre. Wenn für uns das einzige wirkliche Wissen unsere Lust- und Schmerzempfindungen sind, können nur sie die Richtschnur für unser Tun und Lassen bilden. Nur die Lust kann daher unser Ziel (Télos) sein. Das wird ja auch durch die Tatsache bestätigt, daß schon die Kinder unwillkürlich nach Lust trachten und, wenn sie diese erlangt haben, nichts weiter begehren, und daß sie nichts so sehr scheuen wie den Schmerz, das Gegenteil der Lust. Was aber ist Lust und Unlust? In seiner Antwort hierauf unterscheidet Aristippos drei Zustände des Menschen: die Lust ist eine glatte Bewegung, vergleichbar der eines Schiffes bei günstigem Fahrwind, die Unlust eine rauhe Bewegung, wie die des stürmisch bewegten Meeres, während der mittlere Zustand - die Freiheit von Lust und Schmerz - der Meeresstille (γαλήνη) ähnelt. Schon dies zeigt deutlich, daß Aristippos unter Lust durchaus die positive Lust versteht, wie denn alle Kyrenaiker mit einer Ausnahme die negative Bestimmung der Lust (als Schmerzlosigkeit) ausdrücklich ablehnen, da ihnen diese wie der Zustand eines Schlafenden oder gar eines Toten erscheint, weil wir von einer solchen Lust gar nichts merken würden, während Lust doch gerade die glatte Bewegung ist, die uns zum Bewußtsein kommt. Schon hieraus ersieht man, daß in dem kyrenaischen Lustbegriff das sinnliche Element durchaus überwiegt, wenn auch die seelische Lust keineswegs geleugnet oder verachtet wird. Wie denn auch anerkannt wird - ob schon von Aristippos, ist freilich fraglich - , daß nicht alle seelischen Lüste aus körperlichen Ursachen entspringen; aber stärker, d. h. 1 Der Keim zu dieser Theorie liegt schon in dem Satz des Demokrit: „Lust und Unlust sind die Grenze des Zuträglichen und des Abträglichen."
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empfindlicher sind offenbar die körperlichen Lüste und Unlüste, wie man ja auch Übeltäter körperlicher Strafe, weil diese stärker als die seelische ist, zu unterziehen pflegt. Das natürliche Ziel (Télos) des Menschen aber kann immer nur die einzelne Lust sein. Hier machen nämlich die Kyrenaiker einen scharfen Unterschied zwischen dem Ziel und der „Glückseligkeit" (Eudaimonia) des Menschen: diese ist vielmehr die Summe der einzelnen Lüste, bei der auch die früheren und die zukünftigen mitgezählt werden. Eine solche Summe aber kann stets nur gedacht, nicht empfunden, die einzelne Lust dagegen nur empfunden werden; daher ist diese stets das jeweilige Ziel des Menschen. Unter Lust aber verstehen die Kyrenaiker - dies hängt offenbar mit dem Uberwiegen des sinnlichen Elementes in ihrem Lustbegriff zusammen - nur die gegenwärtige Lust; Erinnerung an vergangene und Erwartung zukünftiger ist noch keine Lust. Denn nur die gegenwärtige ist wirkliche Lust, daher nur diese Lust wahrhaft unser, denn die vergangene ist dahin, von der zukünftigen aber ist noch unsicher, ob sie jemals Wirklichkeit werden wird. Daher kann nur die Losung sein: Den Augenblick zu ergreifen und zu genießen, denn nur der Augenblick gehört uns wirklich. Hier haben wir das Grundprinzip der kyrenaischen Ethik. Freilich, wenn dies alles wäre, was wir von ihr wüßten, dann wäre mit dem Satz von Heinrich Gomperz wohl das letzte Wort über sie gesprochen: „Die Erlösung (des Ich) erscheint hier als bloße Steigerung und Vollendung animalischen Wohlgefühls und natürlicher guter Laune". Auch die folgenden Bestimmungen der Kyrenaiker über die Lust klingen noch so, als ob der Charakter der kyrenaischen Lust nicht nur ein grobsinnlicher, sondern auch ein schlechthin unsittlicher wäre: an sich ist jede Lust ein Gut, einerlei, aus welchen Handlungen sie entspringt, und wenn diese auch der herkömmlichen Auffassung als ärgste Ruchlosigkeit erscheinen sollten. Gibt es doch von Natur kein Gut oder Böse; solche Unterscheidung beruht ja nur
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auf Herkommen und Gewohnheit, auch dies eine echt sophistische Grundanschauung. Nichts beleuchtet diese Auffassung der Kyrenaiker vom Wert aller Lüste besser als die Bemerkung eines modernen Darstellers der alten Philosophie1: „Die Unterscheidung qualitativ verschiedener Lüste je nach der Qualität der Handlungen, deren Folgeerscheinungen sie sind, worauf Plato so großen Wert legt, ist fallen gelassen", wie denn die Kyrenaiker hierbei überhaupt nicht beachten, daß der verschiedene Charakter der Lüste (ihre Qualität und Intensität) durchaus von ihrem Ursprung abhängt, d. h. in seiner spezifischen Qualität maßgebend bestimmt ist. Dieser schroff hedonistische und immoralistische Standpunkt der Kyrenaiker erfährt nun aber eine wesentliche Milderung und Einschränkung durch das zweite Grundelement ihrer Ethik, das sokratische. Auch Aristipp konnte nicht verborgen bleiben, daß manche Lüste größere Unlust nach sich ziehen oder nur durch vorhergehende Unlust erkauft werden, so daß es für den Menschen, dessen Grundziel die Glückseligkeit, d. h. eine möglichst große Summe von Lust, bildet, notwendig ist, unter den Lüsten, im Hinblick auf die ihnen etwa vorausgehende oder nachfolgende Unlust, abzuwägen, eine „Meßkunst" zu üben, um nicht für geringere Lust größere Unlust einzutauschen. Solche „Lust-Unlust-Bilanz" aus unseren Handlungen und ihren Folgen zu ziehen, vermag allein die Einsicht (φρόνησις). Audi von vielerlei Quellen der Unlust (zumal seelischer), wie Neid, Aberglaube, Ruhmsucht, Liebesleidenschaft, die ja alle auf falschen Meinungen beruhen, vermag uns nur die Einsicht zu befreien. Die Einsicht ist es überhaupt, die uns davor bewahrt, unser Herz mehr an die Dinge zu hängen als sie in Wahrheit wert sind; sie ist es, die uns davor behütet, unser Ich in der Lust zu verlieren, zum Sklaven der Lust zu werden; auf der Einsicht, und nur auf ihr, beruht unsere innere Freiheit den 1
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Hans Meyer, Geschichte der alten Philosophie. S. 123.
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äußeren Dingen und unseren durch sie erweckten Empfindungen gegenüber; sie allein meistert diese und läßt uns auch im Genuß der Lust stets Herr unser selbst bleiben. Denn so wahr - hier zeigt sich der charakteristische Unterschied zur kynischen Ethik - das Ideal der Lebensführung nicht 1 ist, jede Lust zu meiden oder gar alle Lustgefühle und Begierden in uns auszurotten, sondern vielmehr die Lust zu genießen, so wahr wird dieser Genuß doch nur dann unsere Glückseligkeit nicht in Frage stellen oder gar zerstören, wenn wir uns im Genuß der Lust niemals von dieser wie von einem durchgehenden Pferde fortreißen lassen, sondern stets Herr unser selbst und der Situation bleiben. Das berühmte Wort des Aristipp von seinem Verhältnis zur Hetäre Lais (εχω, άλλ' ούκ εχομαι) „Ich habe, aber ich werde nicht gehabt") kennzeichnet ebenso lapidar wie treffend diesen Standpunkt. Die Einsicht ist also die Grundlage unserer inneren Freiheit und damit unserer Glückseligkeit und als solche ein Gut, d. h. nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen ihrer Ergebnisse: als Mittel zum Zweck. Diese Einsicht hindert auch den Weisen, irgendwelche sozialen Bindungen einzugehen: Ehe, Staat, Vaterland, überhaupt die menschliche Gesellschaft bedeuten ihm in Wahrheit nichts. Ein gefühlsmäßiges Verhältnis zu ihnen könnte ja nur seine innere Unabhängigkeit gefährden, die die eigentliche Grundlage des Weisen-Ideals ist, denn diese innere Unabhängigkeit geht ihm über alles. Daher vermag er auch, weil er sein Herz an nichts verliert, auf den Genuß, wenn es nötig ist oder die Umstände es so mit sich bringen, ohne Schmerz zu verzichten und sich mit dem gerade Vorhandenen ohne inneren Kampf zu begnügen, ohne anderes als das durch das Schicksal Gegebene zu begehren. Ist er doch gleich stark im Wählen und im Verschmähen der Lust, denn immer ist die innere Freiheit und Unabhängigkeit Dingen und Menschen gegenüber der Leitstern all seines Tuns und Lassens. Schon hieraus ergibt sich, was uns auch durch unsere Überlieferung ausdrücklich bezeugt wird, daß dieser
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Weise alles nur seiner eigenen Person wegen tut, alles nur unter dem Gesichtswinkel seines persönlichen Interesses betrachtet, und wie ihm der Reichtum nur Mittel zum Zweck ist, so hat er auch den Freund nur des Nutzens wegen. Da es aber unvermeidlich ist, innerhalb der menschlichen Gesellschaft zu leben, so wird der Weise, auch wenn er sich über die Meinungen und Gesetze der Menschen erhaben fühlt, doch nichts Anstößiges tun: aus Furcht vor Strafe und in Rücksicht auf seinen guten Ruf, eben, um sich keinerlei Unlust zuzuziehen. Denn sein Streben ist immer ein doppeltes: jede Unlust zu meiden und möglichst viel Lust zu genießen; ja, er allein - als der wahre Lebenskünstler - versteht es, sozusagen aus jeder Blüte Honig zu saugen, jeder Lage des Lebens ihre lustvolle Seite abzugewinnen. Die Gewähr, daß dies doppelte Streben stets Erfolg hat, liegt in der Einsicht, die natürlich die Grundtugend des Weisen ist, dem aber ebenso die anderen Tugenden in utilitaristisch-hedonistischer Auffassung zukommen: so die Selbstbeherrschung (σωφροσύνη), die ihn vor Unlust bewahrt und ihm sein inneres Gleichgewicht erhält. Aber auch körperliche Übung pflegt der Weise: zum Erwerb der Tugend, d. h. der Tapferkeit, die ihn befähigt, etwaige Unlustanwandlungen zu überwinden und seine innere Heiterkeit zu behaupten. Auch die Tugend hat für den Kyrenaiker in Wahrheit nur Wert als Mittel zum Zweck. Die kyrenaische Ethik ist - auch das entspricht ihrer sophistischen Grundlage - kraß individualistisch, ja egoistisch und ausgesprochen utilitaristisch. Höchst treffend hat daher Hans von Arnim die Einsicht des kyrenaischen Weisen als „opportunistische Klugheit" bezeichnet. Und die beiden Grundelemente der kyrenaischen Philosophie, das sophistische und das somatische, sind keineswegs widerspruchslos zu einer höheren Einheit verschmolzen. Das Lustprinzip und das Prinzip der inneren Freiheit sind in Wahrheit ebensowenig miteinander ausgeglichen wie das Lustprinzip mit dem der Einsicht, die die unerläßliche
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Voraussetzung jener Freiheit bildet: wenn einerseits als das einzig sichere Kriterium für das menschliche Tun und Lassen die Lust- und Schmerzempfindungen (πάθη) erklärt werden, andererseits doch der Einsicht für die Lebensführung des Weisen grundlegende Bedeutung beigemessen wird; denn was braucht der Mensch, wenn er in den πάθη das einzig sichere Kriterium hat, dann noch die Einsicht? Hier gerade wird offenbar, daß Aristipp die beiden Grundelemente seiner Lehre nicht zu einer wirklichen Einheit zu verschmelzen vermocht hat, was ja auch in vollkommener Weise unmöglich gewesen wäre. Und auf jeden Fall bedeutet die Lehre des Aristipp, trotz seiner Einführung der Einsiebt als zweiten Faktors der Glückseligkeit, einen Abfall vom sokratischen Urprinzip, dem autonomen Logos, denn durch Aristipps grundsätzlichen Hedonismus - die Lust als Eckstein seines Systems - wird in Wahrheit die Vernunft zur Magd der Gefühle, d. h. zu einer Handlangerin der Lust erniedrigt. Die weitere Entwicklung der kyrenaischen Schule, die sich infolge der inneren Widersprüche ihrer Lehre gewissermaßen selber zersetzte, kann hier nur kurz angedeutet werden. Durchaus treffend hat Zeller gezeigt, daß die Nachfolger des Aristippos die spezifischen Merkmale seines Ideals, des Télos, eins nach dem andern preisgeben: so wird der Satz, daß wirkliche Lust nur die des Augenblicks sei, von THEODOROS aufgegeben; der Satz, daß Lust die positive Lust sei, von HEGESIAS, dem Vertreter eines grundsätzlichen Pessimismus, verworfen. Für ihn ist das Télos das schmerzlose Leben, das durch die völlige Indifferenz gegenüber den lusterregenden Dingen erreicht wird. Die Glückseligkeit zu erringen, hält er wegen der Gebrechen des menschlichen Körpers, die auch die Seele in Mitleidenschaft ziehen, und wegen der Schläge des Schicksals (τύχη) für vollkommen unmöglich. Und der Standpunkt, daß die Lust in dem individualistischen Sinne des Aristippos das einzige Gut wäre, wird durch ANNIKERIS verlassen, der den Lustbegriff des
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Aristippos durch Einführung der „sympathischen" Lust erheblich erweitert. Die konsequenteste Umbildung der aristippischen Lehre aber erfolgt durch THEODOROS, der als Télos die χσρά, die dauernd heitere Gemütsstimmung aufstellt, die auf der Einsicht beruht, so daß diese zum beherrschenden Faktor wird, während Lust und Schmerz für indifferent erklärt werden. Andererseits zeigt aber Theodoros durch seine schroffe Verwerfung aller sozialen Beziehungen (wie Freundschaft und Vaterland) den einseitigen individualistischen Standpunkt der jüngeren Sophistik, mit der er auch den krassen Immoralismus gemeinsam hat, von dem sein radikaler Atheismus, der ihm den Beinamen δθεος eintrug, nur eine Teilerscheinung bildet. Zu dem verhältnismäßig frühen Erlöschen der kyrenaischen Schule hat offenbar das Aufkommen der epikureischen Philosophie erheblich beigetragen.
TO. Die megarische und die elisch-eretrische Schule Der Gründer der megarischen Schule ist EUKLEIDES von Megara, ein Jünger des Sokrates, bei dem nach der Hinrichtung des Meisters Piaton und seine Gefährten für längere Zeit Zuflucht fanden. Eukleides - von dessen Lehre wir nur wenig Sicheres wissen, zumal die vielumstrittene Stelle in Piatons Sophistes (246 A ff.) angesichts der unwiderlegbaren Ergebnisse der philologischen Forschung nicht zu ihrer Rekonstruktion verwertet werden darf - verbindet in dem positiven Teile seiner Philosophie die eleatische Ontologie mit der sokratischen Begriffsethik. Es existiert nach Eukleides nur eins, das Gute, das freilich mit vielen Namen - bald Einsicht, bald Gott, bald Vernunft - genannt wird. Entsprechend diesem objektiv existierenden einen Guten kann es im Menschen auch nur eine Tugend geben, mag sie auch mit verschiedenen Namen benannt werden. Außer diesem einen, ewigen, unveränderlichen Guten gibt es in
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Wirklichkeit nichts. Denn alles Werden und Vergehen, auch alle Bewegung, beruht nur auf dem Trug unserer Sinne. Durch diese, wenn auch ethisch modifizierte Wiederaufnahme der eleatischen Ontologie sah sich Eukleides, wie früher Parmenides' Jünger Zenon, alsbald gezwungen, gegenüber der gewöhnlichen Meinung, insbesondere gegenüber der Annahme der Vielheit und Veränderung (Bewegung) der Dinge, eine durchaus negative und im Grunde völlig unfruchtbare Dialektik zu entwickeln, wie denn Zeller schon Eukleides als den eigentlichen Urheber der megarischen Dialektik betrachtet. Allem Anschein nach bediente sich Eukleides in seiner Polemik in der Hauptsache der indirekten Methode, indem er die gegnerische Ansicht vermittels der deductio ad absurdum aus ihren Schlußfolgerungen heraus zu widerlegen suchte. Schon bei seinen ersten Nachfolgern überwuchert dann die Dialektik, die hier völlig zur Streitkunst (Eristik) ausartet, den positiven Teil seiner Lehre durchaus. Die Fang- und Trugschlüsse eines Eukleides, insbesondere aber die des DIODOROS K R O N O S , der nicht nur neue Beweise gegen die Wirklichkeit der Bewegung unternahm, sondern auch den Begriff der Möglichkeit (Potentialität) durch sein Raisonnement in nichts aufzulösen schien, haben seinerzeit eine uns heute kaum noch verständliche Berühmtheit erlangt. Tiefere historische Wirkung hatte jedoch STILPON VON M E G A R A , der mit elastischen Elementen kynische Grundansichten verband. Nicht nur, daß er mit Antisthenes jede Verbindung eines Subjektes mit einem Prädikat für unzulässig erklärte - was auf einen logischen Nihilismus hinauskommt - , sondern er vertrat auch die ethischen Grundsätze seines Lehrers Diogenes, indem er als höchstes Gut die radikale Apathie lehrte und für den Weisen die völlige Autarkie forderte. Noch weniger wissen wir von der elisch-eretrischen Schule, die PHAIDON VON E L I S , jener Jünger des Sokrates, nach dem Piatons berühmter Dialog benannt ist, gegründet hat, und die dann in der Folge von M E N E D E M O S und ASKLEPIADES nach
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Eretria auf Euböa verlegt wurde. Schon Phaidon scheint wesentlich Dialektiker gewesen zu sein, und sicherlich war dies wohl in noch höherem Grade Menedemos von Eretria, der überhaupt nur die bejahenden kategorischen Urteile als gültig anerkannte, im übrigen aber auch ethische Interessen vertrat. Er behauptet mit Eukleides nicht nur die Einheit aller Tugend, wie das schon Sokrates getan hatte, sondern er ließ auch alles Gute des Menschen auf dessen vernünftiger Einsicht beruhen. Er vertrat also im Grunde, wie ebenfalls schon Sokrates, einen ethischen Intellektualismus. Die historische Bedeutung dieser beiden Schulen scheint auf den ersten Blick gering. Und doch hat die megarische Schule durch Stilpon nicht nur auf seinen zeitweiligen Schüler Zenon von Kition, dem Gründer der Stoa, spürbar eingewirkt, sondern durch Vermittlung des Pyrrhon und Timon, der noch den Stilpon selbst gehört hatte, nachweislich zur Entstehung der alten Skepsis beigetragen.
E. Aristoteles Aristoteles wurde im Jahre 384 v. Chr. in Stagira auf der Halbinsel Chalkidike als Sohn des Nikomachos, des Leibarztes und Freundes des Königs Amyntas II. von Makedonien, geboren. Amyntas ist der Vater des Königs Philipp. Nicht ohne tiefere Bedeutung ist es für die Entwicklung des aristotelischen Denkens und seinen stark empirischen Grundzug, daß seine beiden Eltern aus Ärztefamilien stammen. Nach deren frühem Tode von einem gewissen Proxenos aus Atarneus erzogen, tritt im Jahre 367 der 17jährige in die platonische Akademie ein, der er bis zum Tode des Meisters, also zwanzig der besten Jahre seines Lebens, angehört hat. Piaton selbst war beim Eintritt des Aristoteles schon sechzig Jahre alt. Die ungeheure und grundlegende, für immer maßgebende Einwirkung auf Aristoteles hat
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Platon also zwischen seinem 60. und seinem 80. Jahre ausgeübt. In diesen zwanzig Jahren der innigsten Lebens- und Geistesgemeinschaft mit dem unvergleichlichen Meister hat sich Aristoteles, wie Jaeger treffend sagt, „an und aus der platonischen Philosophie zu sich selbst gebildet". Nach Piatons Tode (347) folgt Aristoteles einer Einladung des Hermeias, des Fürsten von Atarneus und Assos (an der Nordwestküste Kleinasiens), der selber eine Zeitlang Mitglied der Akademie gewesen war. Zu diesem tritt Aristoteles in ein nahes persönliches Verhältnis. Während Hermeias seine Regierungsweise unter Aristoteles' Einfluß wesentlich mildert, erfährt dieser seinerseits von dem klugen weltkundigen Regenten höchst bedeutsame Aufschlüsse und Einwirkungen für seine eigene realpolitische Erkenntnis. Schon in Assos, wo er drei Jahre (347 bis 344) weilt, wird Aristoteles das Haupt eines Kreises von Akademikern, in dem er bereits Vorlesungen hält. Im Jahre 344/43 siedelt er nach Mytilene auf Lesbos über. Nach dem Tode des Hermeias (342/41) heiratet Aristoteles dessen Nichte und Adoptivtochter Pythias. Aristoteles' Lehr- und Forschertätigkeit in Mytilene ist nur von kurzer Dauer, denn im Jahre 343/42 wird er von König Philipp zum Erzieher seines damals 13jährigen Sohnes Alexander berufen. Diese Tätigkeit, die auf Alexanders Denken und Fühlen trotz der späteren Entfremdung von seinem einstigen Lehrer, zumal in ethischpolitischer Hinsicht, von tiefgreifender Bedeutung werden sollte, hat er augenscheinlich bis zum Jahre 340 ausgeübt. In diesem Jahre wird Alexander von seinem Vater bereits zum stellvertretenden Regenten ernannt. Die nächsten fünf Jahre im Leben des Aristoteles liegen für uns völlig im Dunkeln. Sicher ist nur, daß er im Jahre 335, nachdem Alexander nach Asien aufgebrochen ist, nach Athen zurückkehrt und hier, unter dem Schutz eines mächtigen makedonischen Freundes Antipater (des Reichsverwesers während Alexanders Abwesenheit in Asien), der Akademie infolge seiner eigenen Entwicklung längst auch
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innerlich entfremdet, eine eigene Schule in dem Gymnasion Lykeion gründet, die den Namen Peripatos erhielt. 13 Jahre, von 335 bis zu seinem Tode im Jahre 322, ist Aristoteles Haupt des Peripatos gewesen, der unter seiner Leitung bald alle anderen griechischen Philosophenschulen weit in den Schatten stellte. Diese 13 Jahre bedeuten die letzte große Periode im Leben des die Jahrtausende überragenden Denkers und Forschers, seine Meisterzeit. Die innere Entwicklung seines Denkens und das tiefere Verständnis des Zustandes und der Entwicklungsphasen des aristotelischen Schrifttums, vor allem der uns erhaltenen Lehrschriften, von seinen platonischen Anfängen bis zu seiner höchsten Reifezeit, hat uns erst Werner Jaeger erschlossen, der uns auch die Reste der frühen Schriften des Aristoteles (insbesondere der Dialoge und des Protreptikos) in ihrer Bedeutung für die Entwicklung des Aristoteles verstehen gelehrt hat1. Die wichtigsten philosophischen Schriften des Aristoteles, die hier nicht einzeln aufgeführt werden können, gruppieren wir ihrem Inhalt nach in logische, metaphysische, physikalische, d. h. naturphilosophische und fachwissenschaftliche - sowohl zur anorganischen wie zur organischen Natur von unvergänglicher Bedeutung - und andererseits ethische und politische, d. h. staatsphilosophische.
I. Einleitung Aristoteles gebraucht das Wort Philosophie in einem weiteren und einem engeren Sinne. Im weiteren Sinne versteht er darunter die theoretischen, d. h. reinen, nicht angewandten Wissenschaften überhaupt und unterscheidet in diesem Sinne die physische, mathematische und theologische Philosophie. Alle 1
Werner Jaeger, Aristoteles, Berlin 1923.
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drei sind nach ihrem Gegenstand und daher auch nach ihrer Methode wesentlich verschieden. Unter dem Gesichtspunkt des Endzwecks unterscheidet Aristoteles die theoretische, praktische und poietische Philosophie, wobei er zur praktischen die Ethik und Politik (Staatslehre), zur poietischen die von uns sogenannte Ästhetik rechnet. Es fehlt daher bei Aristoteles nicht nur eine alle Teile umfassende Gliederung der Philosophie, sondern auch eine scharfe Abgrenzung ihres Begriffes von den Fachwissenschaften. Aber er hat hierzu doch schon den grundlegenden Schritt getan. Er unterscheidet nämlich die „erste Philosophie", die er auch wohl einfach Philosophie oder Sophia nennt, grundsätzlich von allen anderen Philosophien. Diese, d. h. die Metaphysik, sucht das Seiende als solches zu ergründen, d. h. die letzten Ursachen, die ewigen und unveränderlichen Urgründe (άρχαί) der Dinge. Da aber die Gottheit (Theos) der Urgrund aller Ursachen ist, nennt Aristoteles die Metaphysik auch wohl Theologie. Diese „erste Philosophie" ist die Wissenschaft von dem Allgemeinen, d. h. von den Begriffen, auf das sie alles einzelne, in der Erfahrung gegebene, zurückzuführen sucht. Die „erste Philosophie" ist allein von allen Wissenschaften Selbstzweck und schon daher die vornehmste und göttlichste aller Wissenschaften. In ihr betätigt sich am reinsten und vollkommensten das Vermögen, durch das allein der Mensch Gott ähnlich ist, der Geist (νους). Die Logik aber, von Aristoteles Analytik genannt, der wir uns zuerst zuwenden, hat Aristoteles augenscheinlich nicht als einen besonderen Teil der Philosophie betrachtet, sondern vielmehr als deren unerläßliche Grundlage, sozusagen als ihr Werkzeug (δργανον). Die Axiome und die Methode der Schlüsse und jeglicher Beweisführung gelten freilich für sämtliche Wissenschaften, aber diese Axiome und Methode festzustellen und zu formulieren, ist nur die Philosophie in der Lage. So ist die Logik ganz eigentlich das Werk der Philosophie, zugleich aber die unerläßliche Voraussetzung für alle materiale (im Gegen-
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satz zur formalen) Philosophie, ja, für alle Wissenschaften überhaupt. Die von Aristoteles erst in seiner Meisterzeit voll entwickelte Metbode der Philosophie, die sich von der Piatons in sehr charakteristischer Weise unterscheidet, kann hier nur angedeutet werden. Sie ist einerseits in höchstem Sinne dialektisch, indem sie die Begriffe methodisch auf das eindringendste zu analysieren sucht, andererseits ausgesprochen „empirisch", indem sie dem Gesamtbau der Philosophie eine möglichst breite, auf planmäßiger, umfassender Beobachtung beruhende Erfahrungsgrundlage zu geben sucht. Zugleich aber ist das gesamte Denken des Aristoteles historisch orientiert. Er - und er zuerst - hat erkannt, daß alles menschliche Wissen, also auch die Philosophie, eine lange Entwicklung hinter und vor sich hat, und daß er selber in dieser Denkentwicklung mitten darin steht. Er berücksichtigt daher in seiner Problematik grundsätzlich die Meinungen seiner Vorgänger und setzt sich mit ihnen kritisch auseinander, um im Anschluß daran und an die sich dabei ergebenden Aporien seine eigenen Lehren zu entwickeln. Aristoteles ist daher auch der Vater der sogenannten Doxographie und damit, seiner eigenen späteren Entwicklung entsprechend, der Geschichte der Fachwissenschaften, die er dann durch seine hervorragendsten Schüler (Theophrast, Eudemos, Menon) näher ausführen läßt.
II. Die Logik Der eigentliche Ursprung der Logik als Wissenschaft liegt in dem Auftreten der erkenntnistheoretischen Skepsis der Sophisten, d. h. in der hierdurch verursachten geistigen Gegenbewegung eines Sokrates und Piaton. Aber erst Aristoteles hat, wenn er auch den Untersuchungen gerade des alten Piaton hier manche Anstöße (ζ. B. betreffs der Klassifizierung und Ein-
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teilung von Begriffen) verdankt, die Logik als eine selbständige, systematische Wissenschaft geschaffen. Sie ist ganz eigentlich eine wahrhaft originale Schöpferleistung des Stagiriten, die auf die Jahrtausende gewirkt hat und noch wirkt. Und noch Kant hat geurteilt, daß die Logik seit Aristoteles keinen Schritt vorwärts zu tun brauchte; eine solche Vollkommenheit habe ihr Begründer ihr zu geben gewußt. Von epochemachender Bedeutung ist auch die besonders von Ernst Hoffmann ins Licht gestellte Tatsache, daß Aristoteles haarscharf und ein für allemal die Grenze zwischen Psychologie und Logik, zwischen dem Denkvorgang und dem Denkinhalt, gezogen hat, indem er feststellte, daß das logisch Frühere (das πρότερον φύσει) nicht das πρότερον προς ήμδς, das heißt, daß es seiner psychologischen Entstehung nach das Spätere ist. Im Sinne des Aristoteles ist die Logik jedoch, wie wir sahen, kein Teil der Philosophie, sondern vielmehr eine „Vorwissenschaft". Die Logik ist die propädeutische Grundwissenschaft von den Formen des Denkens überhaupt und ihren Gesetzen. Sie ist ganz eigentlich das „Organ" der Philosophie, weshalb auch seine logischen Schriften von den späteren Peripatetikern unter dem Titel Organon zusammengefaßt werden. Daher stellt man sie mit Recht in den Darstellungen der aristotelischen Lehre allen anderen Fachgebieten voran. - Die aristotelische Logik hat einen logischen (formalen), methodologischen und ontologischen Charakter: von der Kants und Herbarts ist sie schon hierdurch wesensverschieden. Ihr Wesen ist nicht rein formaler Art, denn nach Aristoteles beziehen sich die Formen des richtigen Denkens auf objektiv wirkliche Verhältnisse. Die Lehre vom Begriff, der Definition und vom Urteil hat Aristoteles freilich nur gelegentlich im Zusammenhang mit seiner Schlußlehre behandelt. Doch muß schon hier die ontologische Bedeutung des Begriffs im Sinne des Aristoteles hervorgehoben werden: der Begriff in streng logischem Sinne ist das subjektive Korrelat des wirklichen Wesens eines Dinges, das
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wir eben nur im Begriff, in diesem aber wirklich erfassen. Übrigens unterscheidet erst Aristoteles klar die Eigenschaftsund die Substanzbegriffe, wie er andererseits den Unterschied der Gattungs- und Artbegriffe scharf bestimmt. Von größerer Bedeutung ist schon seine Lehre vom Urteil. Zunächst ist hier von grundlegender Wichtigkeit, daß Aristoteles unter wahren Urteilen solche versteht, die in der Form des Satzes, d. h. der Verbindung von Subjekt und Prädikat, die Begriffe in einer der objektiven Wirklichkeit entsprechenden Weise verbinden oder trennen, unter „falschen" dagegen solche, die die Begriffe in einer der Wirklichkeit widersprechenden Weise verknüpfen oder scheiden. Die Grundform des Urteils ist nach Aristoteles das kategorische (apodiktische) Urteil. Von Bedeutung sind Aristoteles' verschiedene Klassifikationen des Urteils, nicht nur bejahender und verneinender, sondern einerseits solcher, die eine Wirklichkeit oder eine Notwendigkeit oder eine Möglichkeit ausdrücken, andererseits trifft er infolge ihrer Quantität die Unterscheidung von allgemeinen, partikulären und unbestimmten Urteilen. Besondere Aufmerksamkeit hat Aristoteles der Modalität des Urteils zugewandt, wie er bereits die Regeln für die Umkehrung der Urteile festgestellt hat. Auch die beiden Arten des Gegensatzes, die schon Piaton unterschieden hatte, den kontradiktorischen und den konträren, hat er behandelt und im Zusammenhang hiermit den Satz des Widerspruchs und den vom ausgeschlossenen Dritten statuiert. Aber die eigentliche unsterbliche Leistung des Aristoteles als Logiker ist erst seine Lehre vom Schluß (die Syllogistik), die er in seiner ersten Analytik entwickelt, und seine Theorie des wissenschaftlichen Beweises in der zweiten Analytik. Diese Lehre von den Schlüssen ist seine eigenste Entdeckung, wie übrigens auch das Wort Syllogismus seine eigene Prägung ist. Aristoteles hat als erster die schlechthin grundlegende Bedeutung der Schlüsse für unser Denken erkannt, denn er hat zuerst gesehen, daß jeder Zusammenhang und Fortschritt des mensch-
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liehen Denkens auf syllogistischer Verknüpfung unserer Urteile beruht. Das Wesen des Schlusses bestimmt Aristoteles als die Denkform, durch die sich, wenn gewisse Sätze gegeben sind, etwas anderes als das Gegebene mit Notwendigkeit für das Denken ergibt, ohne daß dies andere einer weiteren Begründung bedarf. Jeder Schluß besteht bekanntlich aus drei Sätzen: Obersatz, Untersatz und Schlußsatz, sowie aus drei verschiedenen Begriffen, und er muß einen den beiden anderen Begriffen gemeinsamen als Mittelbegriff enthalten, d. h. einen Begriff, der selbst in einem anderen enthalten ist (ζ. B. der Begriff Grieche in dem Begriff Mensch) und seinerseits wieder einen anderen in sich begreift (ζ. B. der Begriff Grieche den Begriff Athener). Bei der Untersuchung der verschiedenen Formen des kategorischen Schlusses (die hypothetischen und disjunktiven Schlüsse berücksichtigt Aristoteles nicht) hat Aristoteles das verschiedene Umfangsverhältnis der drei Begriffe und die Stellung des Mittelbegriffs (ob Subjekt oder Prädikat) und ihre Bedeutung für die Bündigkeit oder Nichtbündigkeit bzw. für die Tragweite des Schlusses genau untersucht und dabei schon die drei logischen Schlußfiguren1 entdeckt und ihre logische Bedeutung klargestellt. Die Zulässigkeit eines kategorischen Schlusses hängt nämlich von dem Verhältnis des Mittelbegriffs zu den beiden anderen Begriffen ab. Aristoteles erkennt hier drei verschiedene Möglichkeiten: 1. Wenn der Mittelbegriff im Obersatz Subjekt, im Untersatz Prädikat ist, richtet sich der Schlußsatz in der Qualität nach dem Obersatz, in der Quantität (in seinem Umfang) aber nach dem Untersatz. 2. Zwei der Begriffe sind dem dritten untergeordnet oder haben ihn zum gemeinschaftlichen Merkmal. Hierbei ist der Mittelbegriff in beiden Prämissen Prädikat. Sind hierbei beide 1 die freilich hier nur skizziert werden können. Zur näheren Erläuterung dieser Schlußfiguren ( σ χ ή μ α τ α ) Aristoteles vgl. J . Baumann: Elemente der Philosophie, $ 50 ff.
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Prämissen bejahend oder beide verneinend, so kann im allgemeinen kein gültiger Schluß gezogen werden. Dagegen kann man unbedingte Schlüsse in dieser Figur ziehen, wenn eine Prämisse bejahend, die andere verneinend ist. 3. Der Mittelbegriff ist in beiden Prämissen Subjekt (Beispiel: Jedes Quadrat ist ein Rechteck; jedes Quadrat ist ein Parallelogramm - also sind Rechtecke Parallelogramme). Auf Grund dieser Figur kann man nur Schlüsse allgemeinen Inhalts ziehen. Die andere grundlegende Leistung des Aristoteles ist seine Lehre vom wissenschaftlichen Beweis. Hierbei unterscheidet er scharf den gewöhnlichen Schluß von dem wissenschaftlichen Beweis. Denn der wissenschaftliche Beweis ist ein Schluß aus „notwendigen" Vordersätzen. Hierbei ist notwendig das, was sich aus dem Begriff des Gegenstandes mit logischer Notwendigkeit ergibt. Aristoteles unterscheidet eine apodiktische, eine dialektische und eine eristische Beweisführung. Für die strenge Wissenschaft kommt nur die erste der drei in Betracht. Da aber die Voraussetzung eines Beweises nicht ihrerseits wieder bewiesen werden und die Voraussetzung dieses letzteren Beweises etc. nicht bis ins Unendliche fort bewiesen werden kann (denn ein regressus in infinitum ist hier unzulässig), so stößt unser Wissen, d. h. jede wissenschaftliche Beweisführung, letzten Endes auf Prinzipien, die ihrerseits unbeweisbar und doch völlig evident und sicherer als alles vermittelte Wissen sind (die αμεσα). Die geistige Erfassung dieser obersten Prinzipien des Denkens beruht, im Unterschied zum vermittelten Wissen, auf einer unmittelbaren, d. h. rein intuitiven Erkenntnis der menschlichen Vernunft (des νους). Zu solchen Prinzipien gehört der Satz des Widerspruchs und der vom ausgeschlossenen Dritten. Übrigens hat jede Fachwissenschaft solche unbeweisbaren Prinzipien. Alles Wissen aber beruht auf der Zurückführung der Erscheinungen auf ihre Ursachen, des Besonderen auf das Allgemeine. Aber solchem deduktiven Verfahren muß das induktive vorangehen, das auf Grund der durch die Sinne gebotenen Erfahrung 3
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an vielen Einzcldingen derselben Gattung das Allgemeine feststellt. Hier ist auch der Analogieschluß von besonderer Bedeutung. Die Erkenntnistheorie des Aristoteles ist weder aprioristisch im eigentlichen Sinne noch rein empiristisch. Von grundlegender Bedeutung ist hier die Tatsache, daß Aristoteles - im Gegensatz zu den Atomisten - davon überzeugt ist, daß unsere Sinneseindrücke den wirklichen physischen Eigenschaften der Dinge entsprechen, daß also unsere Irrtümer erst auf einer falschen Verknüpfung von Wahrnehmungsinhalten durch das Denken oder auf falschen Folgerungen aus jenen beruhen. Andererseits ist er davon fest überzeugt, daß die Grundformen unserer Aussage von den Dingen und ihren Beziehungen zu einander, d. h. unserer Kategorien, den wirklichen Formen des Seienden entsprechen, d. h. deren subjektive Korrelate sind. So bezeichnet der Begriff in streng wissenschaftlichem Sinne wirklich das wahrhaftige Wesen eines Dinges. Wirkliche Erkenntnis ist daher nur die begriffliche Erkenntnis, deren letzte Voraussetzungen aber auf der Wahrnehmung unserer Sinne beruhen. Die Unterscheidung aber des durch Beobachtung, Erfahrung, Reflexion, Abstraktion vermittelten Wissens von der unmittelbaren Erkenntnis von Seiten der Vernunft, die wir eben berührten, hat bei Aristoteles nicht etwa die Annahme angeborener Ideen wie bei Piaton zur Voraussetzung, sondern es besteht nur die Anlage des Geistes zur selbständigen Schaffung von Begriffen, Urteilen und Schlüssen. Bis heute umstritten ist die eigentliche Bedeutung der aristotelischen Kategorienlehre, d. h., ob Aristoteles in seiner Lehre von den zehn Kategorien - der Substanz, der Qualität, der Relation etc. - nur oberste Gattungsbegriffe aufstellen wollte, die ihrerseits nicht wieder subsumiert werden können, sondern alle weiteren Begriffe in sich enthalten, oder ob diese Kategorien als Aussagen von dem Seienden und seinen verschiedenen Formen zugleich ontologische, d. h. metaphysische
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Bedeutung haben, deren subjektive Korrelate also in entsprechender sprachlicher Formulierung sind. Doch ist augenscheinlich das letztere richtig, wie mit anderen auch Hans Maier annimmt. Die wichtigste Kategorie ist unzweifelhaft die der Substanz, der gegenüber alle anderen von Aristoteles unter dem Namen der Akzidentien (συμβεβηκότα) zusammengefaßt werden. Ein bestimmtes Prinzip des Aristoteles bei der Aufstellung und Ableitung der Kategorien läßt sich freilich nicht erkennen. Jedenfalls aber bildet die Kategorienlehre des Aristoteles einen geeigneten Übergang zu seiner Metaphysik.
ΙΠ. Die Metaphysik Während sich Aristoteles in seinen Jugendschriften noch als überzeugten Anhänger der Ideenlehre offenbart, bekämpft er in seinem Werk Von der Philosophie, das seiner assischen Periode angehört, zum ersten Male dieses Grunddogma der platonischen Philosophie „vor der großen Öffentlichkeit der griechischen Wissenschaft". Vor allem aber ist uns an mehreren Stellen seiner Metaphysik (insbesondere 19, vgl. XIII 4 f.) seine Polemik dagegen erhalten, deren wichtigste Beweisgründe wir hier kurz zusammenfassen: Kein Argument Piatons für die Existenz der Ideen ist irgendwie zwingend. Diese Lehre führt außerdem zu einer ganzen Reihe völlig unmöglicher Ergebnisse (es müßte dann ζ. B. Ideen von Ideen geben etc. etc.). Sie steht auch mit den Grundvoraussetzungen der platonischen Altersontologie in schärfstem Widerspruch. Besonders anstößig aber ist dem Aristoteles die platonische Lehre von der Methexis, d. h. der Teilhabe der Sinnendinge an den Ideen, die nach Piaton für ihr Wesen bestimmend ist. Es kann doch keine selbständige Substanz an der anderen teilhaben. Uberhaupt die Erklärung, die Ideen seien die Urbilder der Sinnendinge, die an ihnen als ihre Abbilder teilhätten, ist ja in Wahrheit nichts als eine poetische 3·
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Metapher! Denn wo wäre das handelnde Wesen, das, bei seinem Wirken auf die Urbilder blickend, die Abbilder geschaffen hätte? Und wie soll das, was an ihnen angeblich teilhat, zum Dasein gelangt sein, wo es doch bei Piaton keine bewegende Ursache gibt, während anderes, wie die Erzeugnisse menschlicher Kunsttätigkeit, zustande kommt, ohne daß es davon selbständige, transzendente Ideen gibt! Vor allem aber: Welche Bedeutung haben die Ideen für die Erscheinungswelt? Es ist nicht abzusehen, wie sie davon die Ursache sein könnten. Es bleibt ja völlig rätselhaft, wie die Ideen Ursache der Bewegung oder der qualitativen Veränderung sein könnten. Die Ideen sind aber auch zur Erkenntnis der Dinge gänzlich ungeeignet. Und ebenso wenig dienen sie als deren Substanz, dann müßten sie ja den Dingen immanent sein. Denn unmöglich kann die Substanz für sich, getrennt von dem existieren, dessen Substanz sie ist. In Wahrheit ist - ganz abgesehen davon, daß die metaphysische Verselbständigung der Ideen eine völlig zwecklose Verdoppelung der Objekte ist - die Ideenlehre nur eine unzulässige Verselbständigung des Allgemeinen gegenüber den sinnlichen Einzeldingen. Das Allgemeine kann aber nicht als ein Getrenntes für sich neben den Gegenständen (deren Allgemeines es ist) existieren. Aristoteles hat auch die letzte Gestalt der Ideenlehre, durch die der greise Piaton die Ideen den „Idealzahlen" gleichsetzte, einer eingehenden Kritik unterzogen. Daraus mag hier nur ein durchschlagendes Argument angeführt sein: Wenn die Ideen Zahlen wären, wie könnten sie da Ursachen der Erscheinungswelt sein? Das bleibt ja, wie Aristoteles dann des näheren zeigt, völlig rätselhaft. Wenn aber auch, wie besonders Ernst Hoffmann gezeigt hat, Aristoteles' Kritik an der Grundlehre seines Meisters „Motive und Sinn der platonischen Ideen restlos verfehlt", so ist doch diese Kritik, wie auch Hoffmann anerkennt, vom aristotelischen Standpunkt aus durchaus folgerichtig und für die
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von Aristoteles neu gegründeten Fachwissenschaften von großer Bedeutung. Und sehr treffend bemerkt Hoffmann, daß Aristoteles' Kritik der Ideen „erst unter der Voraussetzung seines Substanzbegriffes ihren Motiven nach verständlich wird". Diese Kritik des Aristoteles an dem platonischen Grunddogma führt uns bereits mitten in seine Metaphysik. Wie wir sahen, hat es die „erste Philosophie" im Sinne des Aristoteles, d. h. die Metaphysik, mit dem Seienden als solchem (sofern es seiend ist) zu tun. Was aber ist das im eigentlichen Sinne Seiende? In Beantwortung dieser Kardinalfrage kommt Aristoteles in schärfstem Gegensatz zu Piaton, der als das wahrhaft Seiende die Ideen erklärt, d. h. die Gattungsbegriffe hypostasiert hatte, zu einem durchaus entgegengesetzten Ergebnis, weil er das Wesen des Seienden da sucht, „wo es konkrete und sinngegebene Wirklichkeiten gibt": das in eigentlichem Sinne Seiende (die ουσία, d. h. die Substanz) ist dasjenige, was weder von einem Substrat ausgesagt wird noch in einem solchen enthalten ist, was also, logisch ausgedrückt, nie Prädikat, sondern stets Subjekt ist; denn nur ein solches kann eine wirklich selbständige Wesenheit, eine Substanz, sein. Substanz in diesem Sinne ist aber - und hier erst zeigt sich der entscheidende Unterschied im Denken des großen Realisten gegenüber dem Begründer der Zweiwelten-Lehre - nur das sinnlich wahrnehmbare Einzelding. Als Beispiel solcher Substanzen nennt Aristoteles die vier Elemente, überhaupt die konkreten Stoffe und das aus diesen Bestehende, ferner die Lebewesen und die göttlichen Wesen (δαιμόνια), denn sie werden nicht als Prädikate von einem Substrat ausgesagt, sondern von ihnen die Prädikate. - Worauf aber beruht das Sein (die ουσία) des bestimmten Einzeldinges, des τόδε τι? Aristoteles kommt im Hinblick auf die Analyse des Werdeprozesses zu dem Ergebnis, daß dieses Sein, d. h. Sein in ursprünglichem, ganz eigentlichen Sinne, zwei konstituierende Elemente hat: den Stoff (ΰλη) als Substrat (ύποκείμενον) und die ihn bestimmende Form (είδος, μορφή). Erst das unlösliche
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„Zusammen", und zwar dies ganz bestimmt proportionierte „Zusammen" von Stoff und Form, macht die Substanz, die in eigentlichstem Sinne wirkliche, selbständige Wesenheit aus. Beide sind voneinander deshalb völlig untrennbar, weil ja die in dem Stoff wirksame Form das diesen bestimmende Wesen ausmacht, das von ihm überhaupt gar nicht zu trennen ist. So wird von Aristoteles zum ersten Male als die Substanz, d. h. als das in eigentlichstem Sinne Wirkliche, eine synthetische Einheit, ein aus Stoff und Form Zusammengesetztes, eine Gesamtheit (ein σύνολον) erklärt, die eine metaphysische Einheit bildet und nur im Denken zerlegbar ist, deren beide Elemente aber in der Wirklichkeit niemals von einander getrennt vorkommen, wie ja auch nie eine Seele ohne Leib vorkommt oder umgekehrt. Aber Stoff und Form sind nach Aristoteles nicht etwa nur subjektive Abstraktionen des analytischen Denkens, sondern absolut wirklithe Weisheiten, die er dann auch manchmal die Form (είδος) - ebenso wie den Stoff - als Substanz (ουσία) erklärt, deren absolute Wirklichkeit für ihn völlig feststeht, wenngleich sie in der empririschen Wirklichkeit nie getrennt von einander vorkommen. Hier zeigt sich - trotz seiner grundsätzlichen Ablehnung der platonischen Ideenlehre - doch die gemeinsame Grundlage des metaphysischen Denkens zwischen ihm und Piaton. Auch für Aristoteles steht es fest, daß dem subjektiven Begriffe, durch den der menschliche Geist die Form, d. h. das Wesen des Dinges erfaßt, eine objektive Realität entspricht; nur setzt er statt der von den Dingen abgesonderten, transzendenten Ideen die Immanenz der Form, d. h. des eigentlichen Wesens (des τί ήν είναι), in den sinnlich gegebenen Einzeldingen. Wissenschaftliche Erkenntnis freilich kann es nie von den Einzeldingen als solchen geben, denn der Stoff dieser ist letzten Endes als etwas Unbestimmtes völlig unerkennbar und tut zum Wesen des Dinges nichts hinzu, sondern nur von dem Allgemeinen, d. h. den Begriffen, die, von dem Einzelding im Denken abstrahiert, dessen Wesen ausmachen.
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Aristoteles hat bekanntlich die Unterscheidung von Stoff und Form und ihre Gleichsetzung mit der Möglichkeit und der Wirklichkeit bei der Analyse des Werdeprozesses gefunden. Die empirische Wirklichkeit zeigt uns eine stetige Veränderung der Dinge, ein ewiges Werden in Natur und Geschichte. In welchem Verhältnis aber dies ewige Werden zu dem ewig unveränderlichen Sein steht, an diesem Problem waren noch alle seine Vorgänger gescheitert. Nicht zuletzt sein Meister Piaton hatte hier völlig versagt, weil sich seine Ideenlehre als völlig untauglich hierzu erwies. Aristoteles erkennt sofort, daß allem Werden - sei es nun durch Natur oder durch Menschenhand - ein materielles Substrat zugrunde liegen muß, ohne das das Werden überhaupt völlig unvorstellbar ist. An diesem materiellen Substrat vollzieht sich das Werden; denn ein Werden aus dem reinen Nichts, dem schlechthin Nichtseienden, ist undenkbar, wie das schon die alten Physiker festgestellt hatten. Ein Ding wird also nicht aus einem schlechthin Nichtseienden, sondern nur aus einem in gewisser Hinsicht nicht Seienden. So wird beispielsweise ein gebildeter Mensch nicht aus einem überhaupt nicht seienden Menschen, sondern aus einem Menschen, der nicht gebildet ist; der Mensch an sich ist dabei nur das Substrat. Die Materie, die also - das ist denknotwendiges Postulat ungeworden und unvergänglich sein muß, ist daher die Grundlage jedes Werdens. In der empirischen Wirklichkeit kommt aber Materie stets nur in geformtem Zustande vor. Kein Stoff ist daher ohne Form und keine Form ohne Stoff vorstellbar, beide stehen ja in einem wesentlichen inneren Verhältnis zu einander. Die Form ist also ebenso ungeworden, ebenso ewig wie der Stoff. Was wird, ist also weder der Stoff noch die Form; werden kann nur die bestimmte Verbindung von Stoff und Form, indem einem schon geformten Stoff eine neue Form aufgeprägt wird. Werden bedeutet Ubergang aus einer Möglichkeit (Dynamis) in die Wirklichkeit (Enérgeia); die Möglichkeit liegt in der
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Materie, die Wirklichkeit beruht auf der Form. Alles Werden aber ist der Ubergang aus einem Entgegengesetzten in ein Entgegengesetztes oder zu einem zwischen zwei Gegensätzlichkeiten liegenden Zustand. Durch die Unterscheidung von Stoff und Form, von Möglichkeit und Wirklichkeit und durch die Unterscheidung nicht zwischen schlechthin Seiendem und schlechthin Nichtseienden, sondern durch die Unterscheidung an einem Ding, das in einer Hinsicht qualitativ bestimmt und daher in anderer, d. h. entgegengesetzter Hinsicht nicht qualitativ bestimmt ist, hat erst Aristoteles den Werdeprozeß im Prinzip verständlich gemacht. Werden ist also Veränderung eines schon bestimmt geformten Substrates aus einem bestimmten Zustand in den entgegengesetzten infolge der Form, die sich hierbei verwirklicht. Werden bedeutet also in Wahrheit nur Ablösung einer Form eines Substrates durch eine andere, zu der die Möglichkeit in dem Substrat, d. h. in der Materie beschlossen liegt. Das Ergebnis des Werdens, d. h. der Veränderung, ist also eine neue Form eines materiellen Substrates, das völlig formlos in der empirischen Wirklichkeit überhaupt nie vorkommt. Denn die absolut gestalt- und eigenschaftlose Materie, die absolute Möglichkeit, d. h. die Fähigkeit, schlechthin jede Form anzunehmen - in diesem Sinne von Aristoteles oft die „erste" Materie genannt - , ist nur ein Erzeugnis des reinen Denkens, während der konkrete Stoff schon die Anlage zur Ausprägung ganz bestimmter Formen, und nur dieser, enthält und nur als solcher in seiner konkreten Bestimmtheit zur Kausalerklärung brauchbar ist. Alles Werden erfolgt entweder von Natur (φύσει) oder durch menschliche Tätigkeit (τέχνη). Das Werden eines organischen Wesens aber ist stets schon durch das frühere Vorhandensein und die aktuelle Wirksamkeit eines ihm gleichartigen Wesens bedingt, indem der von diesem abgesetzte Samen (als Substrat) die Form des neuen Wesens der Möglichkeit nach in sich enthält. Dagegen muß bei dem künstlerischen Schaffen des Men-
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sehen an irgendeinem Material, wie Stein oder Erz, die Form dessen, was daraus werden soll, im Geiste des Schaffenden schon vorher vorhanden sein. Aber erst durch das bewußte Schaffen des Künstlers wird aus der in dem Stein oder Erz ruhenden Möglichkeit die Wirklichkeit. Was aber ist die Form im Sinne des Aristoteles? Form ist natürlich nicht nur die sichtbare Gestalt eines Sinnendinges. Form ist überhaupt das das eigentliche Wesen desselben auch qualitativ bestimmende Prinzip, demzufolge das Ding das ist, was es ist. Die Bedeutung der aristotelischen Form entspricht also genau der Bedeutung der platonischen Idee für das einzelne Sinnending, auch insofern, daß nur und erst die Form als das begrifflich erfaßbare Wesen des Dinges ein Wissen von ihm zuläßt. Im Bereich des Naturlebens aber sind die Formen (als Gattungstypen) die „unbewußt zweckmäßig wirkenden Kräfte", die sich in dem Naturwesen allmählich verwirklichen, wie ζ. B. aus dem Samen von Tier oder Pflanze. So wird aus dem Fruchtboden der Apfelblüte dank der in diesem wirksamen Form allmählich der Apfel verwirklicht, nicht nur der äußeren sichtbaren Gestalt nach, sondern mit all den dem Apfel eigentümlichen Qualitäten. Die Verwirklichung der Form eines Naturdinges bedeutet also zugleich die Erfüllung eines Zwecks (Entelechie). Formursache und Zweckursache sind daher im Bereich der organischen Natur identisch. Es sind also die ungewordenen Formen die gestaltenden Prinzipien der Dinge, die deren materiellem Substrat von vornherein immanent sind. Hier ist immer nur vom Naturwerden die Rede. Bei dem Werden durch Menschenhand (τέχνη) wird die in dem Geist des Schaffenden bereits vorhandene Form von außen auf den Stoff übertragen. Nun ist aber die Materie in der empirischen Wirklichkeit nie die „bare" Materie, d. h. nur toter, schlechthin eigenschafts- und gestaltloser Stoff, sondern in ihr besteht schon - weil die Materie „das noch nicht Haben einer Form", d. h. das Bedürf-
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nis nach einer solchen bedeutet 1 - infolge der in ihr ruhenden Anlage eine Art Verlangen (Orexis) nach Verwirklichung der Form: die Materie kommt ihrerseits der Formverwirklichung gewissermaßen entgegen. Es bedarf also nur des entsprechenden Anstoßes, um diese Verwirklichung zur Tatsache werden zu lassen. Eigentümlich ist hierbei die sich erst allmählich in der Lehre des Aristoteles herausstellende relativ selbständige Bedeutung der Materie, die freilich mit seiner Lehre von der „ersten Materie" im Grunde nicht vereinbar ist: hiernach ist die Materie oft die Ursache des Unvollkommenen, Zweckwidrigen in der Natur (so bei Mißbildungen im Bereich der organischen Wesen), ja, sie ist sogar die Ursache des Unterschiedes der Geschlechter, des männlichen und des weiblichen, ja, der irdischen und der himmlischen Welt. Auf der anderen Seite aber ist es bei der Lehre des Aristoteles von der Form für seine Weltansicht charakteristisch, daß er als der große Entdecker und Erforscher allen organischen Lebens - als der erste wirkliche Zoologe - in der gesamten Natur ein allmählich vom Niederen zum Höheren aufsteigendes Stufenreich der Formen erkennt, das für den denkenden Geist auf einen Gipfel aller Formen hinweist. Die Analyse des Werdeprozesses mußte Aristoteles notwendig zur Ergründung der letzten Ursachen allen Werdens führen. Nach dem Bisherigen haben sich uns bereits zwei Ursachen deutlich ergeben: die materielle und die formale. Auch die beiden anderen kamen schon zum Vorschein: die Zweckursache und als letztes bzw. erstes die bewegende Ursache, die den Werdeprozeß (durch Einwirkung von außen auf das Ding, das also von ihr „berührt" werden muß) in Gang bringt. Zuweilen wirken beim Zustandekommen eines Dinges alle vier Ursachen zusammen, so beim Zustandekommen eines Hauses. Hier bildet die Baukunst, bzw. der Baumeister die bewegende Ursache. Die Zweckursache ist die Vollendung des Baues, die materielle 1
Dies meint die aristotelische Lehre von der Steresis.
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Ursache Erde (Mörtel) und Stein, die formale der Begriff des Hauses, nämlich im Geist des Baumeisters. Oft fallen also beim Werden eines Dinges mehrere Ursachenarten zusammen, so insbesondere die bewegende und die Zweckursache - ζ. B. wenn ein Mann spazieren geht, um seine Gesundheit zu fördern - oder die Zweckursache und die formale. Bei dem Werden selbst aber unterscheidet Aristoteles, örtliche Veränderung, quantitative (Wachsen und Schwinden) und qualitative Veränderung; von diesen lassen sich die beiden letzteren bei genauerem Zusehen auf örtliche Veränderung zurückführen, wobei jedoch nicht übersehen werden darf, daß Aristoteles als Vertreter einer dynamischen Naturanschauung, im Gegensatz zu der rein mechanistischen der Atomisten, an der wirklich qualitativen Veränderung (Alloiosis) des Stoffes festhält, die freilich durch vorausgehende örtliche Veränderung bedingt ist. Alles Werden also ist Veränderung, und alle Veränderung beruht letzten Endes auf örtlicher, im Bereich des Geistigen aber auf rein geistiger Bewegung. Bewegung ist der Ubergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit, die Verwirklichung der Form an dem Stoff. Schon hieraus ergibt sich für Aristoteles, wie Zeller treffend bemerkt, die Ewigkeit der Bewegung, da ja Form und Stoff ewig sind, die Bewegung aber die wesentliche Beziehung beider ist, da eben auf ihr die Verwirklichung der Form am Stoff beruht. Die Bewegung als solche, d. h. solange sie andauert, ist ein Mittleres zwischen Potentialität und Aktualität. In der Analyse des Bewegungsvorganges aber kommt Aristoteles zu folgenden Ergebnissen. Zunächst ist die Bewegung eine Verwirklichung des Beweglichen, sofern es beweglich ist. Jede Bewegung aber setzt zweierlei voraus: einen Faktor, der zu bewegen vermag, und ein Objekt, das dementsprechend beweglich ist. Es ist also bei der wirklichen Bewegung stets ein Bewegendes und ein Bewegtes zu unterscheiden. Ferner ergeben sich dem Nachdenken drei Ursprungsmöglichkeiten der Bewegung: 1. Durch ein ande-
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res Bewegtes, das selbst bewegt wird, d. h. durch die Materie, 2. durch ein sich selbst Bewegendes. Die Analyse der Vorstellung aber, daß ein Ding sich selbst bewegt, ergibt, daß auch bei einem sich selbst bewegenden Ding stets ein Bewegtes und ein - seinerseits unbewegtes - Bewegendes zu unterscheiden ist; so ist beim Menschen oder Tier, die sich selbst bewegen, das Bewegte der Körper, das unbewegte Bewegende die Seele. 3. Durch ein Bewegendes, das selber unbewegt ist. Übrigens vermag sich Aristoteles Bewegung nur vermittels einer „Berührung" des Bewegenden und des Bewegten vorzustellen 1 . Die Bewegung der Welt ist anfangs- und endlos. Denn die gegenteilige Annahme würde zu unlösbaren Aporien führen: wir würden bei der Annahme eines Uranfangs der Bewegung gezwungen sein, vor diesem Anfang eine Bewegung anzunehmen und so fort bis ins Unendliche; bei der Annahme eines Aufhörens der Bewegung für immer aber eine Bewegung nach diesem Aufhören und so fort bis ins Unendliche. Wir würden also zu einer unendlichen Reihe bewegender Ursachen kommen, einem regressus in infinitum, der hier durchaus unzulässig ist. Die Bewegung ist also ewig. Die zweite grundlegende Tatsache aber ist die, daß bei allen bewegten Dingen das sie ursprünglich, d. h. das sie in letzter Linie Bewegende selber unbewegt ist. Denn sonst würden wir wiederum zu einer unendlichen Kette bewegender und bewegter Ursachen kommen und den wirklichen Ursprung der Bewegung überhaupt nicht begreifen; daher ist auch hier ein regressus unzulässig. Es müssen somit alle Bewegungen in der Welt letzten Endes auf ein selber unbewegtes Bewegendes zurückgehen, d. h. mit Aristoteles zu sprechen, auf ein „erstes Bewegendes". Dies „erste Bewegende" muß ebenso ewig sein wie die Bewegung selber. Und ebenso muß das „erste Bewegte" ewig sein, d. h. der Fixsternhimmel, der täglich in der vollkommensten • Vgl. S. 42 unten.
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aller Bewegungen, der Kreisbewegung, herumgeführt wird denn da diese erste Bewegung durchaus einheitlich und stetig ist, kann sie nur eine Kreisbewegung sein - und mit dem Fixsternhimmel alles, was er umschließt, d. h. der Kosmos überhaupt. Dies erste Bewegende muß ein Prinzip sein, dessen Wesen reine Aktualität (Energeia) ist, das also keinerlei Potentialität in sich birgt. Denn sonst wäre die ewige, stetige Bewegung der Welt nicht gewährleistet. Dies Prinzip muß zugleich durchaus immateriell sein, denn sonst wäre nicht jede Potentialität in ihm ausgeschlossen, und außerdem könnte es dann nicht ewig sein. Dies Prinzip ist daher die absolut reine, d. h. mit keinerlei Materie behaftete Form und damit die höchste aller Formen. In ihm fällt die letzte (oder, im Sinne des Aristoteles, die „erste", d. h. ursprüngliche) bewegende Ursache, die formale und die finale Ursache dei Welt zusammen. Diese Form, der nichts Stoffliches anhaftet, die in alle Ewigkeit reine Aktualität ist, ist der absolute Geist (νους), denn nur dieser ist für uns, nach dem Vorbild des menschlichen νους χωριστός als immaterielles und doch ständig tätiges Prinzip vorstellbar, d. h. die Gottheit. Wie aber kommt die Bewegung durch das erste Bewegende, durch die allem Sinnlichen entrückte Gottheit zustande? Wir sahen, daß das erste Bewegende bewegt, ohne selber bewegt zu werden. Wie sollen wir uns da die Verwirklichung der Bewegung (die doch nur im Raum und in der Zeit, also im Bereich der materiellen Welt stattfinden kann) im sichtbaren Kosmos vorstellen? Aristoteles hat hierauf nur die überraschende Antwort, die uns stark an platonische Vorstellungen erinnert: In solcher Weise bewegt nur das Begehrte (das Orekton) und das Gedachte. Das erste Begehrte aber und das erste Gedachte sind ein und dasselbe. Es wird also die Denkkraft von dem Gedachten bewegt, wie ja oft der Zweck die unbewegte Ursache der Bewegung ist. Das erste Bewegende aber ist der oberste, d. h. der
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Endzweck des gesamten Kosmos und κινεί ώς έρώμενον, d. h. es bewegt, wie ein geliebtes Wesen den Liebenden in Bewegung setzt, und vermittels des so Bewegten bewegt es das übrige. Indem es seinerseits den Fixsternhimmel „berührt", verursacht es durch das von ihm erweckte Verlangen in dem ihm zunächst befindlichen Stoff die Kreisbewegung und diese alles Weitere. „Von einem solchen Urgrund hängt Himmel und Natur ab." Worin aber besteht die ewige Tätigkeit (Enérgeia) des ersten Bewegenden? Denn irgendein Schaffen (ποιεΐν) oder Handeln (πράττειν) ist ja durch dessen eigenste Natur ausgeschlossen, hat doch jeder Schaffende oder Handelnde stets seinen Zweck außer seiner Person. Gott aber ist Selbstzweck, d. h. der oberste und höchste Zweck der Welt überhaupt. Jedenfalls aber kann die Tätigkeit Gottes nur die erhabenste und beste sein, d. h. das reine Denken des an sich Besten. Das an sich Beste aber ist Gott selbst. Es besteht also seine Tätigkeit in der reinen Denkbetrachtung seiner selbst, sie ist das Denken des Denkens (νόησις νοήσεως). In ihm und nur in ihm ist also Denken und Gedachtes ein und dasselbe. Gott kann nur das Göttlichste und Wertvollste denken, d. h. sich selber. Sein Wesen ist also die absolute Aktualität des Denkens. Er ist also die Energeia, die Aktualität schlechthin und damit das Leben selbst. „Denn die Aktualität des Geistes ist Leben". Seine Wirksamkeit ist daher das beste und ewige Leben. „Leben" in diesem Sinne und ewige Dauer sind ihm eigentümlich. Und auf Gottes reiner Selbstbetrachtung (darauf, daß er nichts als sich selbst denkt), auf dieser reinen Schau (θεωρία) beruht seine aller irdischen Lust unvergleichbare Seligkeit. Es gibt also ein ewiges, selber unbewegtes Wesen, getrennt von der sichtbaren Welt, das doch der Urgrund dieser wie überhaupt aller Bewegung ist, die ewig wirksame Ursache der ewigen Bewegung des gesamten Kosmos. Als absolut unkörperlich ist es natürlich jedem Leiden wie überhaupt jeder Veränderung entrückt.
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Erst mit der Einheit der bewegenden Ursache und des Endzwecks aller Bewegung wird auch die wirkliche Einheit der Welt verständlich. Auf die mannigfachen inneren Schwierigkeiten der aristotelischen Theologie, die schon Zeller verdeutlicht hat, kann hier freilich nicht näher eingegangen werden. Nur auf eine sei hier hingewiesen. Nach dieser Grundlehre ist die Gottheit dem Raum als auch der Zeit entrückt. Und doch zwingt der Versuch, die erste Bewegung, d. h. den täglichen Umschwung des Fixsternhimmels begreiflich zu machen, dazu, der Gottheit einen bestimmten Ort anzuweisen: nicht in der Mitte, sondern an der Peripherie der Weltkugel. „Denn am schnellsten werden die Partien bewegt, die dem Bewegenden am nächsten sind. Am schnellsten aber wird der Umkreis (d. h. der Fixsternhimmel) bewegt. Dort also hat die erste Bewegung ihren Sitz." Die aristotelische Metaphysik ist eine Synthese der grundlegend modifizierten platonischen Ideenlehre und des empirischen Weltbildes.
IV. Das Weltbild des Aristoteles Wenn auch die Einheit und Einzigkeit des Kosmos ihren Realgrund in der Einheit aller Bewegung und des ersten Bewegenden hat, so ist doch das Weltbild des Aristoteles ausgesprochen dualistisch. Denn in Wahrheit zerfällt die Welt des Aristoteles, die durch den Fixsternhimmel fest begrenzt, aber in zeitlicher Hinsicht ebenso wie Stoff und Form, Bewegung und erstes Bewegendes ohne Anfang und Ende, d. h. ewig ist, in zwei Reiche, ein himmlisches und ein irdisches, d . h . das über und unter dem Monde, die nicht nur räumlich, sondern auch in ihrem innersten Wesen von Grund aus verschieden sind. Dort das Reich ewiger Ordnung und vollkommener Gesetzmäßigkeit, wie es die unwandelbare Bewegung und völlig unveränderliche
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Struktur des Fixsternhimmels zeigt, der seit grauester Vorzeit bis auf die Tage Giordano Brunos als ein festes Gewölbe gedacht wird, hier dagegen das Reich des Wechsels, des Werdens und Vergehens, an dem ewig eben nur der ständige Wechsel, das unablässige Auf und Nieder ist. Eine dualistische Kosmologie, die bereits von den alten Pythagoreern und Empedokles, dann vor allem von Piaton vertreten, aber von Aristoteles mit voller Überzeugung im Hinblick auf die ewig gleichen Bahnen des gestirnten Himmels übernommen worden ist. Unmöglich aber kann diese himmlische Welt von einem oder gar mehreren der irdischen Stoffe erfüllt sein. Vielmehr ist sie ihrem Wesen gemäß von einer völlig andersartigen, ewigen, göttlichen Substanz, dem Äther, erfüllt, dem die niemals unterbrochene Kreisbewegung als vollkommenste aller Bewegungen ureigen ist. Wie in jedem der vier irdischen Elemente, die in konzentrischen Kugelschichten den Mittelpunkt der Welt als Erde, Wasser, Luft und Feuersphäre umgeben, so muß es auch im Bereich des göttlichen Äthers, dieser ungewordenen, feinsten, unsichtbaren und absolut unveränderlichen Substanz, ihm entsprechende Wesen geben. Das sind die ebenfalls aus Äther bestehenden Planeten (Venus, Merkur, Mars, Jupiter und Saturn, wenn auch Aristoteles diese der babylonischen Astronomie entlehnten Namen noch nicht kennt), zu denen auch Sonne und Mond gehören. Mit dem Reich der Planeten freilich beginnt bereits die Region eines gewissen Wechsels, gewisser Unregelmäßigkeiten. Ihre Bewegung, d. h. ihre Bahnen, die insbesondere bei Venus und Merkur auffallende Anomalien zeigen (bald Vorwärtsbewegung, bald Stillstand, bald rückläufige Bewegung, ja eine Bahn, die zweimal die Form einer Schleife zeigt), waren bereits dem Denken Piatons ein Fundamentalproblem, und infolge seiner grundsätzlichen Forderung, eine mathematische Theorie zu ersinnen, die all diese Anomalien auf regelmäßige Kreisbewegungen zurückzuführen erlaubte, hatte dann sein Mitforscher, der große Astronom EUDOXOS VON
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KNIDOS, ein - rein hypotetisch gedachtes - System von sich in verschiedener Richtung bewegenden konzentrischen, d. h. ineinander geschachtelten Sphären ersonnen, die jeden dieser Planeten umgaben und mit sich herumführten. Aristoteles, dem es unmöglich erschien, diese irregulären Planetenbahnen aus der Einheit der ersten Bewegung, der kreisförmigen Umdrehung des Fixsternhimmels herzuleiten, hat dann infolge seiner Verkennung des rein mathematisch-hypothetischen Charakters der Theorie des Eudoxos (und Kallippos) diese in physikalischem Sinne verstanden und sich jeden der Planeten an einer aus Äther bestehenden Kugelschale (Sphäre) befestigt gedacht, die ihn nicht nur ihrerseits kreisförmig herumführt, sondern infolge ihrer Verkoppelung mit anderen konzentrischen Sphären aus dem gleichen Stoff seine komplizierten Bahnen ausführen läßt. Ihre Bewegung aber wußte er nicht anders zu erklären, als daß ei jeder Sphäre einen besonderen, transzendenten Beweger, d. h. einen eigenen Sphärengeist setzte, so daß er für die von ihm für nötig befundenen 55 Sphären ebenso viele sie herumführende Sphärenseelen ansetzte. Die Gestirne selbst aber, d. h. die Planeten, die aus dem himmlischen Element, dem Äther, bestehen, sind, wie die unwandelbare Stetigkeit ihrer kreisförmigen Bahn beweist, beseelte, vernunftbegabte, göttliche Wesen - auch dies eine alte, pythagoreisch-platonische Ansicht, die Aristoteles ebenfalls schon in seinem Dialog „Von der Philosophie" vertreten hatte. Während aber schon Anaxagoras aus dem Meteor von Aigospotamoi in genialer Intuition die richtige astrophysische Ansicht von der Substanz der Gestirne als einer glühenden Metallmasse gewonnen hatte, war Aristoteles infolge seiner Ätherlehre gezwungen, die Wärme der Sonne nicht aus deren Substanz, sondern aus ihrer rasend schnellen Bewegung herzuleiten. Im Bereich der himmlischen Region, die von der Fixsternsphäre bis zum Monde vom Äther erfüllt ist, diesem göttlichen, mit keinem irdischen vergleichbaren Stoff, den erst spätantike 4
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Philosophen in Verkennung seines singulären Charakters gegenüber den vier Elementen als fünfte Substanz (quinta essentia) bezeichnet haben, herrscht daher unverbrüchliche Ordnung und absolute Konstanz. In der Welt unter dem Monde dagegen ist das Reich ewigen Werdens und Vergehens, das seinen letzten Grund in der schiefen Lage der Ekliptik hat, der zufolge die Sonne auf ihrer Jahresbahn der Erde bald näher, bald ferner ist, womit ein entsprechender Wechsel von Wärme und Kälte verbunden ist, der auf die vier Elemente entsprechend einwirkt, d. h. zum Aufsteigen von der Erde und Wiederherabsinken veranlaßt. Denn auch Aristoteles lehrt - so weit dem Empedokles und der Volksanschauung folgend - vier Elemente, die er auf die vier Grundqualitäten des Tastsinnes, warm und kalt, feucht und trocken und deren Kombinationen zurückführt: der von Haus warme und trockene Stoff ist das Feuer, der warme und feuchte die Luft, der feuchte und kalte das Wasser, der kalte und trockne die Erde. Hierbei unterscheidet er aber ein absolut schweres Element, die Erde, und ein absolut leichtes, das Feuer, das den obersten Umkreis der irdischen Atmosphäre einnimmt, die beide ihren „natürlichen Orten", dem Weltmittelpunkt und dem Weltumkreis, zustreben, und zwischen beiden ein vergleichsweise leichtes und ein vergleichsweise schweres Element, d. h. Luft und Wasser. Diese vier Elemente sind unter der Einwirkung von Wärme und Kälte in ständigem Kreislauf, d. h. in ständigem Übergang ineinander begriffen, also nicht „Elemente" in dem modernen Sinne des Wortes und wechseln dementsprechend ihre Eigenschaften, denn sie sind in Wahrheit ja nur die vier Grundformen der Materie, die in gewisser Folge unter gewissen Voraussetzungen ineinander übergehen. Am reinsten zeigt sich ihm dieser Kreislauf der Elemente, nicht nur des Wassers, in den atmosphärischen Vorgängen, die zu erforschen Sache einer eigenen Wissenschaft, der Meteorologie, ist. Ihr hat Aristoteles selber ein großes systematisches Werk gewidmet. In der Welt unter dem Monde verharren diese vier
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Elemente, aus deren Mischung alle sichtbaren Stoffe bestehen, trotz allen Wechsels und aller Bewegung, als Ganzes gesehen, in vollkommenem Gleichgewicht miteinander. Auch dies ist eine altpythagoreische Lehre. Wenn nun auch Aristoteles, wie wir früher gesehen haben, letzten Endes alle Veränderung der sichtbaren Stoffe auf örtliche Bewegung zurückführt, so ist er doch - im Gegensatz zur mechanischen Stofflehre der Atomisten ein überzeugter Vertreter der Alloiosis, d. h. der qualitativen Veränderung der Stoffe und eben daher nicht einer mechanischen, sondern einer chemischen Mischung dieser, wie die moderne Wissenschaft sich ausdrücken würde. Uberhaupt hat seine ganze Physik durchaus dynamischen Charakter; sie nimmt besondere, wirksame Kräfte (Dynameis) der Urstoffe, bzw. der aus ihrer Mischung entstehenden Substanzen an, die nicht auf quantitative Verhältnisse reduzierbar sind. Aus den vier Elementen, d. h. deren Mischung, bestehen im Reich der beseelten Körper die „gleichteiligen" Stoffe (wie Fleisch, Fett, Blut etc.), während die einzelnen Glieder von Mensch und Tier ihrer stofflichen Zusammensetzung nach „ungleichteilig" sind, d. h. aus einer Mehrheit verschiedener „gleichteiliger" bestehen. Wie aber Aristoteles im ganzen Kosmos ein Stufenreich der Dinge vom Niederen zum Höheren unterscheidet - alles Niedere ist um eines Höheren willen da - , so auch in seiner Stofflehre: auf den vier Urqualitäten der Materie und ihrer paarweisen Verbindung beruhen die vier Elemente, auf deren Mischung die „gleichteiligen", auf der Mischung dieser die „ungleichteiligen" Stoffe, die die höchste rein stofflichphysische Stufe darstellen. Doch auch die Welt der sichtbaren Dinge im Bereich der Erde, d. h. zwischen Erde und Mond, ist deutlich und grundsätzlich in zwei ganz verschiedene Bereiche geschieden: das Reich der leblosen Stoffe und das der beseelten Wesen oder - mit Aristoteles zu reden - die unorganische und die „organische" Natur. Und hier ist es der Begriff des Organischen, der, 4·
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wenn auch schon in Piatons Anschauung von den beseelten Wesen, d. h. von dem Verhältnis von Seele und Leib dieser angedeutet, doch erst von Aristoteles zu ungeahnter Bedeutung entwickelt, ja die Grundlage seiner ganzen Naturanschauung geworden ist. Das Wort Organon bedeutet im Griechischen das Werkzeug; Werkzeuge aber werden zu einem bestimmten Zweck, für eine ganz bestimmte Funktion hergestellt. Wer also die lebenden Wesen als „organisch" betrachtet, der sieht ihren Körper als ein Organ der Seele bzw. als ein System von Organen dieser an. Und hier überträgt Aristoteles seine metaphysische Ansicht vom Verhältnis von Stoff und Form auf die beseelten Wesen, wobei natürlich nur die Seele die Form und damit zugleich die Zweckursache des Leibes sein kann. Wer daher in diesem Sinne von organischen Körpern (gegenüber unorganischen wie Steinen oder Metallen) spricht, der faßt die Körper der lebenden Wesen, d. h. ihre Einrichtung, durchaus teleologisch auf, d. h. ihre Seele als das nach ganz bestimmten Zwecken gestaltende Prinzip ihres sichtbaren Gehäuses. Das Dichterwort „Es ist der Geist, der sich den Körper baut" ist seinem letzten Ursprung nach durchaus aristotelisch, genauer aristotelisch-platonisch. Und wie Aristoteles drei verschiedene Grundformen der Seele unterscheidet, die „ernährende", die „animalische" und die „denkende" Seele, wobei immer die niedere die Voraussetzung der höheren bildet, so bildet ihm auch das Reich alles Organischen den entsprechenden Stufenbau der beseelten Natur: zuunterst die Pflanzen, danach die Tiere und als Gipfel der ganzen Reihe der denkende Mensch. Bei allen drei Gruppen sind ihre Leiber die Organe ihrer Seelen, d. h. sie sind Organismen, leiblich-seelische Wesen, deren körperliche Substanz ein sinnvolles System von Organen zur Ernährung, Erhaltung und Fortpflanzung all dieser Lebewesen vom niedersten bis zum höchsten ist. Aristoteles hat seine teleologische Naturauffassung im Gesamtbereich des Organischen durchzuführen gesucht. Ist doch
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ihm, wie Zeller es formuliert hat, „die Ergriindung der Endursachen die eigentliche Aufgabe der Naturforschung". Auf Grund einer planmäßigen, umfassenden Organisation der anatomischen, physiologischen und biologischen Forschung (von Seiten seiner Schüler) - eins seiner für uns leider verlorenen Werke, das auf Grund von systematischen Tiersektionen ausgearbeitet und mit zahlreichen Abbildungen versehen war, trug den Titel Anatomien - hat er ein für seine Zeit einfach beispielloses Beobachtungsmaterial planmäßig sammeln lassen und dann selber, insbesondere in seinen Werken Von den Teilen der Tiere, Von der Erzeugung der Tiere und in seiner Tiergeschichte verarbeitet. Wer nach eindringender Lektüre der drei großen zoologischen Schriften des Aristoteles diese nach Inhalt, Absicht und Leistung denkend überschaut, der hat mehr als einen Grund zum θαυμάζειν, d. h. zu stets erneuter Bewunderung des unsterblichen Meisters der antiken Naturwissenschaft von der Welt des Organischen. Denn der erste Eindruck ist der des Staunens über die ungeheure, schier unübersehbare, weil so unendlich vielgestaltige Masse des Erfahrungsmaterials, das er zweifellos eigener Initiative, vor allem aber seiner wahrhaft phänomenalen Organisation wissenschaftlicher Forschung durch seine von ihm informierten und dirigierten Schüler verdankt. Wir erleben hier in überwältigender Weise seine geistige Umfassung des gesamten Bereiches aller Lebewesen, die hier freilich nur kurz charakterisiert werden kann. So die riesige Welt der gesamten Seetiere: aller Arten von Fischen, auch der Säugetiere unter den Großfischen (wie des Delphins und des Wales), Polypen, Krabben, Krebse, sodann die große Gruppe der Schaltiere (der όστρακόδερμα und μολακόστρακα etc.) und nicht zuletzt jene eigentümlichen Zwischengebilde zwischen Tier und Pflanze, wie Steckmuscheln, Quallen und Meerschwämme, die, weil sie ein Mittelding zwischen Tieren (ζφα) und Pflanzen (φυτά) sind, wohl schon Poseidonios als Zoophyten bezeichnet hat. Und
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andererseits die Gesamtheit der höheren Lebewesen, vom Menschen als dem erlesensten aller bis zu den niedersten Säugetieren, einschließlich der gesamten Vogelwelt. Aber ebenso intensiv betrachtet er den Bereich der niederen Tiere, nicht etwa nur der Amphibien und Reptilien, wie auch der Schnecken, sondern bis hinunter zu den kleinsten sichtbaren Lebewesen, die vielfach eine ganz obskure, vom Menschen, ja, auch von der griechischen Wissenschaft bisher kaum beachtete Existenz fristen und dem gewöhnlichen Menschen, sofern sie überhaupt von ihm beachtet werden, entweder gänzlich gleichgültig oder - was einzelne Arten von ihnen betrifft - äußerst widerwärtig sind, wie Tausendfüßler, Asseln, Flöhe und Wanzen. Wie aber Aristoteles, der Mensch und der Forscher, innerlich dieser Unterwelt organischer Wesen gegenübersteht, das mag eine Stelle aus seiner Schrift Von den Teilen der Tiere zeigen, ein großartiges Kapitel, das erst Werner Jaeger in seiner Bedeutung erkannt und in das rechte Licht gestellt hat, dessen Übersetzung ich hier zitiere: „Auch bei denjenigen dieser Wesen, die ein für unser Auge weniger reizvolles Äußere haben, gewährt ihre Schöpferin, die Natur, bei tieferer wissenschaftlicher Betrachtung dem, der die Ursachen zu erkennen vermag, und der eine echte Forschernatur ist, unbeschreibliche Freuden... Deswegen soll man sich nicht in kindischer Weise langweilen bei der Untersuchung der unbedeutenderen Lebewesen. Es liegt in jedem Geschöpf der Natur irgendetwas Wunderbares. Und wie Herakleitos zu den Fremden gesagt haben soll, die ihn gern sprechen wollten, aber beim Eintritt ihn sich am Backofen wärmen sahen und daher stehen blieben - er rief ihnen nämlich zu, sie möchten nur getrost hereintreten, denn auch hier seien Götter - ebenso soll man an die Untersuchung eines jeden lebendigen Wesens herangehen, nicht mit grämlichem Gesicht, sondern in der Gewißheit, daß in ihnen allen etwas Natürliches und Schönes steckt. In den Werken der Natur, und gerade in
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ihnen herrscht die Regel, nicht blinder Zufall, sondern Sinn und Zweck. Der Endzweck aber, um des willen ein Ding geschaffen oder geworden ist, gehört in das Reich des Schönen." Das Zweite aber, höchst Bewunderungswürdige, besteht darin, wie Aristoteles das unabsehbare Chaos sämtlicher ihm zugekommener zoologischer Nachrichten geistig gemeistert hat: durch ständiges Vergleichen und Differenzieren der Erscheinungen (d. h. von Nachrichten über zoologische Tatsachen), sodann durch Synthese der gleichartigen Fälle zu Gruppen von verschiedenen Gattungen der Lebewesen, und endlich, alle umfassend, zu großen Klassen - wie den beiden der blutlosen und blutführenden Tiere - und schließlich, wie aus dem unübersehbaren Chaos tausend und abertausendfältiger Nachrichten und Tatsachen aus dem gesamten Bereich der beseelten "Wesen dem Denker ein wirklicher Kosmos sich gestaltet. Der dritte Punkt ist seine grundsätzliche, daher ständige Ätiologie aller Erscheinungen und ihm vorkommenden Fälle, die ja für ihn so charakteristisch als wahrhaft wissenschaftlichen Forscher höchsten Ranges ist, daß selbst ein Geist minorum gentium, wie Strabo, wo er gegen Poseidonios eifert, diesem das Aitiologikon und das Aristotelizon vorwirft, da ihm beides identisch oder doch unlöslich miteinander verbunden erscheint. Aber auch noch andere bedeutsame wissenschaftliche Grundeinstellungen bzw. Gesichtspunkte offenbaren uns gerade seine zoologischen Schriften: so insbesondere den vergleichenden Anatomen, Physiologen und Embryologen, der aus den verschiedensten Bereichen der Zoa analoge oder gegensätzliche Erscheinungen vergleichend in Betracht zieht, ganz besonders in seinem anatomischen Grundwerk Von den Teilen der Tiere. Und andererseits überrascht uns seine grandiose Idee vom stufenweisen Aufstieg der beseelten Wesen bis zu dem einzigartigen Gipfelpunkt aller, dem Menschen, wie überhaupt vom stufenweisen organischen Übergang von einem Glied zu dem
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nächsten höheren 1 . Für Aristoteles gibt es auch noch nicht die Kluft zwischen vernünftigen und vernunftlosen Wesen (den logika und den aloga Zoa), wie sie später vor allem die alte Stoa zur Geltung bringt. Er sieht vielmehr in bevorzugten Gruppen höherer Tiere die Vorstufen, ja, fast möchte man sagen, überraschende Annäherungen an den Geist (Nous) des Menschen, dieses höchsten aller beseelten Wesen, zur Erscheinung kommen. Dem universalen Blick des Aristoteles hat sich aber auch noch ein anderes, von der bisherigen griechischen Naturwissenschaft kaum beachtetes Neuland erschlossen: das Gebiet, das wir heute Biologie nennen, die Lebensweise und Lebensgewohnheiten wie auch der individuelle Charakter der verschiedenen Tierarten, und damit deutliche Anfänge einer Tierpsychologie, zu der sich schon bei Piaton vereinzelte Ansätze finden. Dem großen Zoologen Aristoteles gebührt aber noch ein anderer Ruhmestitel, der bisher überhaupt nicht beachtet, geschweige denn in seiner Bedeutung erkannt ist. Aristoteles ist, - das zeigen gerade seine drei zoologischen Werke an vielen Stellen - auch der Begründer der wissenschaftlichen Entomologie, eine Tatsache, die freilich hier nur angedeutet werden kann. Die Stellung des Menschen im Kosmos Nach all diesem wollen wir erfahren, welche Anschauungen sich Aristoteles über den Menschen als leiblich-geistigen Organismus im Vergleich mit allen anderen Wesen gebildet hat. Wenn auch Aristoteles gewisse Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Tier durchaus nicht verkennt, wie schon das berühmte erste Kapitel von Buch VIII seiner Tiergeschichte ' Eine geniale Idee des Aristoteles, die tiefdringende Einwirkungen auf die hellenistische Naturphilosophie ausgeübt hat (auf Theophrast und vor allem auf Poseidonios).
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zeigen kann, so erkennt er doch mit seinem universalen und das wirklich Wesentliche erfassenden Tiefblick die einzigartige Stellung des Menschen gegenüber allen anderen Wesen der organischen Welt. Schon in der körperlichen Erscheinung des Menschen offenbart sich ihm diese zu höchster Evidenz. Schon der aufrechte Gang des Menschen, für den die Größe und Breite seiner Füße die mechanische Voraussetzung bilden, unterscheidet diesen von allen anderen Wesen. Dadurch, daß der Mensch infolgedessen sein Haupt hoch trägt, mit dem Blick in die Ferne und zur Höhe des Himmels gewandt, hat er schon einen unvergleichlichen Vorsprung vor allen Tieren, deren Kopf durch die Schwere und den Bau ihres Körpers zur Erde gerichtet ist. Dem Menschen dagegen wird durch die Lage und Richtung seines Kopfes, der durch den Bau seines Körpers in keiner Weise belastet ist, das Denken erleichtert, was ja seiner göttlichen Natur eigen, ja, seine höhere Bestimmung ist. Ist doch das Denken die göttlichste Tätigkeit und - abgesehen von der Gottheit - nur der menschlichen Natur eigen. Aber auch sonst offenbart sich der Vorrang des Menschen in der singulären Ausstattung seines Körpers. Ganz besonders in der Einrichtung der menschlichen Hand, zu der es in der gesamten Tierwelt keine wirkliche Parallele gibt. Anaxagoras hatte freilich gemeint, der Mensch sei das klügste aller Wesen, weil er Hände habe. Aristoteles zeigt dem gegenüber, daß gerade das Umgekehrte richtig ist: weil der Mensch das klügste aller Wesen ist, hat er Hände. Denn die menschliche Hand ist nicht eins seiner Organe unter vielen, sondern sie ist überhaupt das Organ aller Organe, das ihn zu vielerlei Handfertigkeiten befähigt. Und wundervoll zeigt der große Zoologe Aristoteles im einzelnen in seinem Buch Von den Teilen der Tiere, wie unglaublich sinnreich die menschliche Hand mit ihren so verschieden gestalteten Fingern eingerichtet ist zum Gebrauch mannigfachster Art, allein schon durch die Gegenüberstellung des Daumens zu den anderen Fingern.
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Und nun erst die innere Einrichtung des Menschen mit ihrer sinnvollen Funktion aller Organe, und nun erst das Wunder der Pepsis. Und das Ganze des menschlichen Körpers, ein einheitlicher, in jeder Hinsicht planvoller Organismus, ein wirklicher Kosmos, in dem alles aufeinander abgestimmt ist. Kein Wunder, wenn es da dem großen Anatomen und Physiologen Aristoteles ein Leichtes ist, die Torheit des Protagoras zu widerlegen, der behauptet hatte, daß die Ausstattung des menschlichen Körpers von der Natur im Vergleich mit der aller anderen Wesen geradezu stiefmütterlich behandelt sei. Aristoteles erkennt natürlich auch die kardinale Bedeutung der Zweihändigkeit des Menschen und die Befähigung beider Hände zu ganz analogem Gebrauch, ist doch nur der Mensch amphidexios, ein Doppelrechtser. Auch in den großen anderen Organen des menschlichen Leibes erkennt er dessen einzigartige Bevorzugung, nämlich in dessen Zunge, die dank der Eigenart ihrer physischen Substanz, ihrer Form und ihrer außerordentlichen Beweglichkeit nicht nur ein Organ des Geschmackssinnes ist, sondern auch erst das artikulierte Sprechen gewisser Laute ermöglicht. So zeigt schon der wunderbare Bau des menschlichen Leibes, daß im Vergleich mit ihm die Körper aller Tiere doch nur zwergenhafte Gebilde (Nanode) sind. Aber das alle anderen Unterschiede zwischen Mensch und Tier Überragende, weil wahrhaft Fundamentale, ist doch erst die Tatsache, daß der Mensch Denkvermögen (Nous), d. h. Geist besitzt, das Tier aber nicht. Denn dieses nimmt vermittels seiner Sinne nur wahr (αισθάνεται), begreift (ξυνίησι), d. h. denkt aber nicht. Diesen Kardinalunterschied hatte freilich schon Alkmaion von Kroton festgestellt1, wie denn über die Unterschiede von Mensch und Tier schon manche Denker vor Aristoteles, insbesondere die Sophisten und andererseits Piaton, tiefer nachgedacht hatten. Aber diesen Fundamentalunterschied 1
Fr. 1 a, Diels-Kranz.
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in seiner Bedeutung erkannt und in wirklich helles Licht gestellt zu haben, ist dodi erst die Tat des Aristoteles. Denn er statuiert nicht nur diesen Unterschied, sondern macht ihn auch mit exakter Schärfe klar. Denn der Geist, die Denkkraft, kann sich erst als Logos (von λέγειν) als sinnerfüllte Sprache offenbaren, wie ja überhaupt ein Denken ohne sprachliche Form unmöglich ist, oder, wie er an anderer Stelle sagt, als Dialektos1. Und eben das ist der zweite grundlegende Unterschied zwischen Mensch und Tier: die Sprache, denn diese besitzt nur der Mensch. Das Tier dagegen hat nur eine Stimme und bringt deshalb nur unartikulierte Laute hervor. Die Tatsache der menschlichen Sprache hatte einen dritten Fundamentalunterschied zur Folge, wie das Aristoteles an einer berühmten Stelle der Politik sagt: „Sprache (Logos, das sinnerfüllte Wort) hat von allen Wesen nur der Mensch. Nur der Logos vermag den Menschen im Verkehr miteinander das Nützliche und Schädliche, daher auch das Gerechte und Ungerechte zu offenbaren. Denn das ist das dem Menschen gegenüber den anderen Lebewesen Eigentümliche (ίδιον), daß er allein Gut und Böse, Gerecht und Ungerecht und die anderen Kardinalunterschiede zu erkennen vermag. Und erst die Gemeinschaft dieses geistigen Besitzes ermöglicht die Existenz von Familie und Staat." Diese bedeutsamen Worte sollen besagen, daß nur unter Vernunft- und sprachbegabten Wesen eine Rechtsgemeinscbaft, wie überhaupt eine sittliche Gemeinschaft möglich ist. Kann doch von einer solchen selbst im Bienen- oder Ameisenstaat gar keine Rede sein, denn eben infolge seiner Vernunftbegabung ist der Mensch auch ein sozial empfindendes Wesen (ζφον πολιτικόν). 1 Dieses Wort bedeutet genau die gegenseitige Verständigung von Menschen vermittels der Sprache, d. h. durch das δ ί α λ έ γ ε σ θ α ι miteinander.
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Aus diesen Tatsachen ergeben sich auch eine Reihe einzelner, nur dem Menschen eigentümlicher Fähigkeiten und Erlebnisse (πάθη). So hat nur der Mensch den Zeitbegriff und daher die Zeitrechnung, wie überhaupt die Fähigkeit zu zählen. Andererseits hat nur er das Vermögen, sich selbst zu erinnern, d. h. sich selber willkürlich Dinge oder Ereignisse ins Gedächtnis zurückzurufen, wie auch die Fähigkeit des βουλευτικόν, d. h. die Fähigkeit zu überlegen, welche von mehreren Möglichkeiten des Handelns er wählen will. Eigentümlich ist übrigens dem Menschen auch das Herzklopfen aus seelisch-geistigen Ursachen. So ist die Stellung des Menschen im Kosmos gegenüber allen anderen Lebewesen schlechthin singulär. Hat doch der Mensch allein von allen uns bekannten Wesen am Göttlichen teil. Denn er ist von allen Wesen das klügste und zur höchsten Erkenntnis befähigte. Vermag doch nur er die Gottheit und ihr Walten wie überhaupt die letzten Gründe allen Seins und Werdens zu erkennen. Auch noch eine andere Tatsache darf hier hervorgehoben werden. Wie aus manchen Stellen ihrer Schriften hervorgeht, ist es Aristoteles wie Theophrast durchaus bekannt, daß viele Tiere den Menschen an Schärfe der höheren wie der niederen Sinne weit übertreffen. Beide wissen natürlich auch, daß viele Tiere dem Menschen an physischer Kraft weit überlegen sind. Aber all diese Überlegenheiten versinken in ein Nichts gegenüber der Tatsache, daß der Mensch dank seines Geistes ein unendlich erfindungsreiches und zwecks Erreichung von ihm als richtig oder vorteilhaft erkannter Ziele unendlich beharrliches Wesen ist, Grundeigenschaften, die - von einzelnen Ausnahmen (wie ζ. B. Heuschreckenschwärmen) abgesehen — ihm die Herrschaft über die Tiere des Erdballes auf die Dauer sichern. Mit Recht hat man von dem neuen Naturbegriff des Aristoteles gesprochen. Denn die Natur (Physis) ist ihm nicht nur, wie den alten Naturphilosophen, das Prinzip der Bewegung und der
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Gestaltung, also Formprinzip, sondern zugleich und vor allem Zweckursache. Die Physis hat hier also die drei Grundfunktionen der Seele (einschließlich des Geistes, des νους) übernommen. Wie stark aber in seiner Naturauffassung der teleologische Gesichtspunkt alle anderen beherrscht, dafür mögen hier aus seinen verschiedenen naturwissenschaftlichen und zugleich naturphilosophischen Werken nur ein paar bezeichnende Äußerungen angeführt sein: „Die Natur tut alles eines Zweckes wegen" (de part. an. 641 b 12). „Gerade wie die Vernunft (νοδς) eines Zweckes wegen tätig ist, in derselben Weise ist es auch die Natur" (de an. 415 b 16). „Wie ein guter Haushalter pflegt auch die Natur nichts wegzuwerfen, woraus es möglich ist, etwas Nützliches zu schaffen" (de gen. an. 744 b 16). „Wie ein verständiger Mensch teilt die Natur stets ein jegliches dem zu, der es zu gebrauchen vermag (de part. an. 687 a 7 ff.). „Von den zur Abwehr und Hilfe geeigneten organischen Teilen verleiht die Natur einen jeden nur den Wesen, die sie zu gebrauchen v e r m ö g e n . . . , wie den Stachel, das Schlagorgan, Hörner, Hauzähne und dgl." (de part. 661 b 28 ff.). Sehr bezeichnend ist auch seine häufige Äußerung des Gedankens „die Natur wählt unter den möglichen Wegen stets den besten" oder „die Natur sucht auch stets zwischen entgegengesetzten Kräften oder Strömungen das Gleichgewicht wiederherzustellen" oder ein Satz wie dieser „stets sinnt die Natur gegenüber dem Ubermaß eines jeden Vorgangs auf Abhilfe durch die Unterstützung seines Gegenteils, damit die andere Kraft das Ubermaß ihres Widerparts ausgleicht." Bezeichnend ist auch Aristoteles' Äußerung über die Natur als Reich der Ordnung: „Nichts von dem, was von Natur und gemäß der Natur geschieht, ist ohne Ordnung. Ist doch die Natur für alle Dinge Ursache der Ordnung." (Physik 252 a 11 f.). Wir erinnern uns hierbei, daß Anaxagoras gerade von dem Prinzip der Ordnung des Weltalls (daher der Name Kosmos) auf seinen vernünftigen Urheber geschlossen hatte. Gerade die νοΰς-Lehre des Anaxagoras hat
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dem gesamten philosophischen Denken des Aristoteles starke Anstöße gegeben. Aber so wenig wie Piaton verkennt Aristoteles, daß der Physiker - das Wort bezeichnet im Griechischen sowohl den Naturforscher in fachwissenschaftlichem Sinn wie den Naturphilosophen - stets auch den anderen, wenn auch gewissermaßen negativen Faktor des Naturgeschehens berücksichtigen muß, die physikalisch-mechanische „Notwendigkeit", d. h. die Materie als „Mitursache" bzw. als unerläßliche Voraussetzung (das οΰ ουκ ανευ, wie schon Platon es ausdrückt) allen Werdens in der Natur. Und wie Piaton sieht auch Aristoteles in der Materie ein oft unüberwindliches Hindernis bei der Erfüllung der Naturzwecke; so, wenn er monströse Mißbildungen (τέρατα) in der organischen Welt auf ihre Rechnung setzt. Ja, oft gewinnt bei ihm in seiner Naturerklärung die Materie gegenüber der Form- und Zweckursache eine so starke positive Bedeutung, wie wir es bei seinem Begriff der „ersten Materie", die doch völlig gestalt- und eigenschaftslos ist, nicht erwarten sollten, so daß er ζ. B. sogar den Unterschied der Geschlechter auf materielle Ursachen zurückführt und das weibliche Geschlecht dementsprechend für eine verkrüppelte Bildung des männlichen hält, bei der das Form- und Zweckprinzip das stoffliche nicht zu meistern vermocht hat. Aristoteles unterscheidet also grundsätzlich zwei letzte Ursachen im Naturgeschehen: die Zweckursachen, die mit den Formursachen identisch sind, und die physikalisch-mechanischen „Mitursachen", diese „Notwendigkeiten", d. h. die Materie; aber maßgebend bleiben ihm doch immer die Zweckursachen, ohne daß er sich aber vermäße, im Bereich des Organischen (wie dies seine stoischen Epigonen tun) von jeder Erscheinung ihren Zweck erkennen und nachweisen zu können. Es muß hier noch eine andere charakteristische Ansicht des Aristoteles von dem Walten der Physis (Natur) in organischen Gebilden gekennzeichnet werden. Seine Erkenntnis der Tatsache, daß dem
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Schaffen der Physis, d. h. ihrer Macht, gewisse Grenzen gesetzt sind, eine Auffassung, der wir auch bei Theophrast im Leben der Pflanzen öfter begegnen. Hiernach faßt Aristoteles die Natur zwar als eine weise, höchst haushälterische Macht auf, die mit den ihr in dem betreffenden Organismus zu Gebote stehenden Stoffen durchaus haushalten und daher, wenn sie von einem solchen an einer Stelle des Körpers zu viel verbraucht hat, dafür an anderer Stelle entsprechend einsparen muß. Es ist hier nicht der Ort, die teleologische Naturanschauung des Aristoteles im einzelnen zu kritisieren. Doch muß in Rücksicht auf das Ganze seines philosophischen Systems dreierlei festgestellt werden: das Verhältnis zwischen der nach Zwecken waltenden und gestaltenden Natur, der Physis, dieser schöpferischen Urmacht, die sich in einem großartigen System ungezählter Formen offenbart, und dem „ersten Bewegenden", dem reinen Geist, der Gottheit, ist von Aristoteles ebenso wenig klar gestellt worden wie das Verhältnis der Sphärengeister oder der der Materie immanenten, ungewordenen Formen zu diesem. Andererseits muß nachdrücklich betont werden, daß der Entwicklungsgedanke der modernen Naturwissenschaft, d. h. die sogenannte Deszendenztheorie, dem Aristoteles noch gänzlich fern liegt. Er kennt Entwicklung im Bereich der Natur nur beim Einzelwesen irgendeiner Art oder Gattung im Rahmen seines Eidos (seiner Spezies). Gerade der Begriff des Eidos als einer ein für allemal stabilierten Form schließt jede Entwicklung im Sinne eines Übergangs in eine andere Gattung vollkommen aus. Endlich: von den großen mathematisch-astronomischen Entdeckungen der Vorgänger hat Aristoteles freilich die Kugelgestalt der Erde und die Schiefstellung ihrer Achse und als Konsequenzen dieser beiden Tatsachen die Lehre von den fünf Zonen und andererseits die winzige Kleinheit der Erde als Weltkörper übernommen, aber er hat nicht nur die bereits von den alten Pythagoreern entdeckte und von dem greisen Piaton übernommene Achsendrehung der Erde geleugnet, sondern
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seine Weltanschauung ist audi durchaus und geozentrisch geblieben.
grundsätzlich
V. Die Psychologie Vorbemerkung: Auch die Psychologie des Aristoteles hat im Lauf seiner Entwicklung eine tiefgreifende Wandlung durchgemacht. In seiner ersten Periode steht er mit seiner Grundauffassung von der Seele noch ganz auf dem Boden des platonischanthropologischen Dualismus, dem zufolge die unsterbliche Seele, aus ihrer Präexistenz heraustretend, nur vorübergehend in einem irdischen Leib Wohnung nimmt, von dem sie sich aber schon in diesem Dasein mit allen Mitteln wieder zu befreien trachtet. Dieser im Grunde mystische Standpunkt wurde für Aristoteles seit seinem Bruch mit der Ideenlehre und seiner Begründung einer eigenen Metaphysik, der zufolge er das Verhältnis von Leib und Seele gemäß seiner metaphysischen Fundamentalunterscheidung als das von Stoff und Form auffassen mußte, schlechthin unhaltbar. Aber obgleich er nun in seiner letzten Periode demgemäß seine Seelenlehre - unter weitgehender Berücksichtigung des psycho-physischen Gesichtspunktes wie überhaupt der empirischen Psychologie - aufbaut, so ist doch auch noch in der letzten Gestaltung seiner Lehre - wie ein höchst merkwürdiges Petrefakt - als ein in Wahrheit nun völlig unorganischer, innerlich inkonsequenter Bestandteil aus einer platonischen Periode seine Lehre vom νους, genauer von der schöpferischen Vernunft, stehen geblieben. Charakteristisch für den Psychologen Aristoteles der Meisterzeit, der zugleich der universale Naturforscher ist, ist unter anderem die Tatsache, daß er seine Seelenforschung auf das gesamte Reich alles Organischen ausdehnt, und daß auch hier der teleologische Gesichtspunkt der maßgebende ist.
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Im übrigen kann unsere Darstellung schon aus Raumgründen nur die Gestalt der aristotelischen Lehre in ihrer letzten Periode berücksichtigen. Die Seele ist nicht nur die bewegende Ursache, sondern sie ist zugleich das gestaltende Prinzip, die Form (είδος) des Leibes und als solche dessen Zweckursache. Nach Aristoteles' eigener Definition ist „die Seele die (erste) Entelechie, d. h. zweckentsprechende Verwirklichung eines natürlichen Körpers, der die Fähigkeit hat zu leben". Ein solcher Körper kann nur ein solcher sein, dessen Teile als Organe, d. h. Werkzeuge zur Erfüllung bestimmter Zwecke von vornherein angelegt sind. Ja, der Körper selber mit all seinen Organen, in seiner Totalität ist nichts anderes als das Organ der Seele. Mit dieser Grundanschauung des großen Teleologen Aristoteles scheint der platonisch-anthropologische Dualismus durchaus überwunden. Ist doch hiernach jedes organische Wesen eine wirkliche Einheit, nur begrifflich in zwei Seiten zerlegbar: dem Stoff nach Leib, der Form nach Seele. Aristoteles, der große Naturforscher, der wissenschaftliche Begründer aller Zoologie, dessen universaler Blick den ganzen Bereich des organischen Lebens überschaut und in ihm die in einem allmählichen Stufenbau vom Niederen zum Höheren sich verwirklichende Tätigkeit der Natur (Physis) erkennt - wie denn alle Reiche des Organischen von den niedersten Lebewesen bis zum höchsten ein inneres Band umschließt - , erkennt in ihrem Bereich drei verschiedene Formen der Seele, denen ganz verschiedene Vermögen (δυάμεις) eigen sind; wobei aber die höheren Seelenformen nicht ohne die niederen sein können, wohl aber umgekehrt. Die niedrigste Form ist die der „ernährenden Seele" (θρεπτική ψυχή), auf deren Besitz die Pflanzen beschränkt sind. Ernährung, Wachstum, Fortpflanzung durch den Samen, Verwelken sind ihre Wirkungen. Weit höher steht die nächste Seelenform, die der „wahrnehmenden Seele" (αισθητική ψυχή), 5 Capelle, Griediisdie Philosophie
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die das Tier von der Pflanze grundlegend unterscheidet; ihre Vermögen sind die Fähigkeit der Ortsbewegung, der Sinneswahrnehmung und damit der Vorstellung und des Begehrens. Dieser Kardinalunterschied zwischen Pflanze und Tier ruht nach Aristoteles auf der Tatsache, daß die Pflanze keine innere Einheit, kein Zentralorgan (μεσάτης) besitzt, während die Tiere wie auch der Mensch dies im Herzen haben. Die zentrale Bedeutung des Gehirns hat - im Gegensatz zu Alkmaion, gewissen hippokratischen Ärzten und zu Piaton - seltsamer- und verhängnisvollerweise der große Naturforscher Aristoteles verkannt. In seinen tief eindringenden Untersuchungen über Natur und Tätigkeiten der „wahrnehmenden", d. h. der „animalischen Seele", hat Aristoteles zunächst und vor allem das Wesen der Sinneswahrnehmung (αΐσθησις) untersucht. Aristoteles erkennt als erster die Wahrnehmung als einen psycho-physischen Prozeß. Genauer ist sie eine Veränderung in dem Sinnesorgan, d. h. der Übergang der in diesem angelegten Möglichkeit in die Wirklichkeit, hervorgerufen durch den in den Bereich des Sinnesorgans fallenden äußeren Gegenstand. Die objektive Wirklichkeit wird so in dem gesunden Organ subjektiv getreu reproduziert. Dabei steht für ihn und Theophrast im Gegensatz zu Demokrit die objektive Realität der Sinnesqualitäten fest. Die in dem Sinnesorgan durch das äußere Objekt hervorgerufene Veränderung ist eine von dem Objekt ausgehende Bewegung, die einer Vermittlung durch ein entsprechendes „Medium", wie Luft oder Wasser, bedarf. Wo aber und wodurch sich dieser physische Bewegungsvorgang in einen psychischen, d. h. in einen Bewußtseinsvorgang umsetzt, das ist für Aristoteles noch kein Problem. Nach ihm findet offenbar die Umsetzung in einen psychischen Vorgang schon in dem Sinnesorgan selber statt, das jedoch mit dem Zentralorgan, dem Herzen, durch die Adern oder sonstige Kanäle (denn von Nerven weiß Aristoteles noch nichts), in Verbindung steht und
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zusammen mit diesem als eine einheitliche Potenz wirkt. Jedenfalls aber ist die Wahrnehmung die Aufnahme der sinnlichen Form des äußeren Gegenstandes ohne seinen Stoff von Seiten der animalischen Seele. Auf Aristoteles' eindringende Psychologie der einzelnen Sinne kann hier nicht eingegangen werden. Doch sei hervorgehoben, daß Aristoteles durchaus die Tatsache kennt und würdigt, die wir die spezifische Sinnesenergie nennen. Auch die Bedeutung der einzelnen Sinne, so insbesondere die des Tastsinnes wie andererseits die des Gehörs und des Sehvermögens, betrachtet er unter biologisch-teleologischem Gesichtspunkt, d. h. in ihrer entscheidenden Bedeutung für die Erhaltung und Förderung des Lebens. Das einzelne Sinnesorgan reproduziert ausschließlich die in seinen spezifischen Bereich fallenden Eigenschaften der äußeren Objekte, so daß also die verschiedenen Sinne, wie ζ. B. der Tastsinn und der Gesichtssinn, über dasselbe Ding ganz Verschiedenes aussagen. Es gibt aber offenbar ein höheres, allen einzelnen Sinnen gemeinsames Vermögen, das die von den verschiedenen Sinnen ihm gemeldeten Tatbestände auf dasselbe Ding bezieht, sie unterscheidet, mit einander vergleicht, ihre Bewegung oder Ruhe, ihre Entfernung von dem Sinnesorgan, überhaupt ihren Ort, Zeit etc. feststellt, den Gemeinsinn (die κοινή αϊσθησις), dessen Tätigkeit nicht passiver, sondern rein aktiver Natur, und zwar in Wahrheit bereits ein Urteilen (κρίνειν), also eine Denktätigkeit ist. Sein Organ ist das Herz, das Zentralorgan des animalischen Lebens überhaupt. Aus der wiederholten Wahrnehmung eines und desselben Dinges von Seiten der Sinne bzw. des Gemeinsinns entspringt in der wahrnehmenden, d. h. der animalischen Seele, die Vorstellung (φαντασία)1, und, da die Verstellungsbilder, auch nachdem der 1 Deren Wesen Aristoteles eingehend untersucht und scharf von der W a h r nehmung und Meinung unterscheidet.
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äußere Gegenstand im Bereich der Sinne längst entschwunden ist, in den Sinnesorganen bzw. im Gemeinsinn aufbewahrt bleiben, um anläßlich gleicher äußerer Neueindrücke wieder ins Bewußtsein zu treten, das Gedächtnis. Beide Vermögen, die Vorstellung wie das Gedächtnis, sind auch dem Tiere eigen, während die bewußte, willkürliche Wiedererinnerung, das „sich auf eine Sache besinnen" (άνάμνησις), nur dem Menschen eigentümlich ist. Wie die Erfahrung zeigt, sind aber die Vorstellungen ebenso wie die allgemeinen Aussagen des Gemeinsinns dem Irrtum ausgesetzt. Verschiedene Zustände dieses Gemeinsinns sind Schlafen und Wachen, auf deren physiologische Erklärung hier jedoch ebenso wenig wie auf die der Träume eingegangen werden kann. Alle Wesen, die zu Wahrnehmungen und Vorstellungen von den Dingen befähigt sind, sind damit den Gefühlen der Lust und der Unlust ausgesetzt. Und eben hieraus entspringt ein psychisches Vermögen von grundlegender Bedeutung für die Erhaltung und Gestaltung des Lebens, das Begehren (das έπιθυμητικόν) oder sein Gegenteil, das Meiden, das beim Tier ausschließlich in der Form des Triebes zur Erscheinung kommt und es dadurch in Bewegung und Tätigkeit - nach einem bestimmten Ziele hin - versetzt. Vor allen Lebewesen aber, niederen und höheren Tieren, in einzigartiger Weise bevorzugt ist der Mensch. Der Grund seiner unvergleichlichen Überlegenheit über alle anderen Kreaturen liegt in dem nur ihm eigenen Denkvermögen, dem Geist (νους). Dieser ist die dritte und höchste Form der Seele, die aber in der empirischen Wirklichkeit stets nur in Verbindung mit den beiden anderen, niedrigeren vorkommt und Aristoteles unterscheidet daher häufig mit Piaton einen vernünftigen und einen vernunftlosen Teil, gewissermaßen zwei ganz verschiedene Bereiche der Seele. Dieser Geist (d. h. seine höhere Form, siehe unten) steht - anders als die animalische Seele - in Wahrheit zu
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dem Körper in keiner inneren Beziehung. Während die animalische Seele mit dem Leib entsteht und vergeht, ist der Geist von Ewigkeit her. Er ist präexistent und von außen (θύραθεν) in den Körper, d. h. in das männliche Sperma bei oder vor der Zeugung eingetreten und trennt sich nach dem Tode wieder von ihm und von der animalischen Seele völlig unversehrt (der νοΰς χωριστός). Er ist allem Leiden wie überhaupt jedem Einfluß des Körpers oder der animalischen Seele entrückt. Seine Tätigkeit besteht ausschließlich in dem reinen Denken. Da aber alles persönliche, individuelle Leben des Menschen, wie Lieben und Hassen, Begehren und Wollen, Erinnern und Hoffen, nur in der lebendigen Einheit von Seele und Leib bzw. in der niederen Denkseele wurzelt, also mit dem Tode erlischt, ist der Geist nach der Trennung vom Körper nur noch abstrakte Vernunft, deren Möglichkeit zur Betätigung und deren Gegenstand angesichts der sonstigen psychischen Grundansichten des Aristoteles (darunter auch des Satzes „Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu, vgl. De an. III 3. 427 b 16) völlig im Dunkeln bleibt. Und es ist schon so, wie Erwin Rohde gesagt hat, daß in solcher Lehre von diesem Geist „Aristoteles ein mythologisches Element aus Piatons Dogmatik bewahrt hat", ohne sich der Widersprüche mit seinen sonstigen psychologischen Lehren hinreichend bewußt zu werden. Wie aber Aristoteles im Bereich der sichtbaren Welt überall die Möglichkeit von der Wirklichkeit, die Potentialität von der Aktualität unterscheidet, so glaubt er, diesen Kardinalunterschied angesichts des Unterschiedes der Denkanlage von der wirklichen Denktätigkeit auch in der menschlichen Seele statuieren zu müssen: in seiner merkwürdigen Lehre von den beiden Naturen der menschlichen Vernunft, von der tätigen, besser schöpferischen, und der leidenden Vernunft (dem νους ποιητικός nach der späteren Ausdrucksweise und dem νους παθητικός). Offenbar hat ihn zu dieser eigentümlichen, größte Schwierigkeiten in sich bergenden Lehre die Überzeugung be-
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wogen, zwischen den Funktionen der animalischen Seele und dem reinen Geist und damit zwischen dem Sensualismus und dem Piatonismus eine vermittelnde Instanz annehmen zu müssen. So ist nach Aristoteles der eine Geist derartig, daß er - während er denkt - alles (d. h. alle denkbaren Dinge) wird; der andere, der schöpferische Geist dagegen, ist so geartet, daß er alles wirkt, ähnlich wie das Sonnenlicht. Denn in gewissem Sinne macht auch das Licht erst die potientiellen Farben der sichtbaren Gegenstände zu aktuellen. Die in der animalischen Seele auf Grund der Wahrnehmungen und Vorstellungsbilder unbewußt ruhenden Möglichkeiten zur Begriffsbildung werden also erst durch den schöpferischen Geist, der von allen Vermögen der animalischen Seele absolut wesensverschieden ist und zu ihnen als ein völlig Andersartiges, Neues hinzutritt, verwirklicht. Alle die oben gekennzeichneten singulären Eigenschaften und Fähigkeiten, die Aristoteles dem von außen in den Menschen eintretenden Geist (dem νους χωριστός) beilegt, gehören natürlich nur diesem schöpferischen Geist an, während der leidende mit dem Leib entsteht und vergeht. Die Funktion des Geistes, d. h. des schöpferischen Geistes, ist das reine Denken, bei dem Aristoteles zwei grundverschiedene Gebiete unterscheidet: das Reich der ewig unveränderlichen Urgründe der Dinge (der άρχαί), die nur dank unmittelbarer Intuition von ihm erfaßt werden können (also die Sphäre des Metaphysischen), und das Reich der Möglichkeiten, der Dinge, Verhältnisse, Situationen, die auch anders sein können, d. h. der Dinge, auf die dem Menschen eine Einwirkung vergönnt ist. Demgemäß unterscheidet Aristoteles eine theoretische und eine praktische Vernunft. Aber auch diese letztere, deren Tugend die Einsicht (φρόνησις) ist, ist an sich reines Erkennen, wenn auch nur der Dinge, „die auch anders sein können". Der Antrieb zum Handeln (πράττειν) wie überhaupt zur Bewegung - und ohne irgend welche örtliche Bewegung des Körpers oder seiner Organe ist kein Handeln möglich - liegt nicht in ihr, wie
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überhaupt nicht im Geist. Dieser Impuls stammt vielmehr aus dem Bereich der vernunftlosen Seele, d. h. der animalischen, der, im Unterschied von der Pflanzenseele, das Begehrungsvermögen eigen ist. Dies Begehrungsvermögen, obgleich zum Teil auch den Tieren eigen - wir haben daher beim wirklichen, d. h. beim empirischen Menschen zwischen vernunftlosen und vernünftigen Begierden zu unterscheiden - , hat insofern doch eine innere Beziehung zur Vernunft, als in ihm die Möglichkeit angelegt ist, daß es der Vernunft „gehorcht", d. h. daß seine jeweilige Begierde von der Vernunft überwunden oder doch modifiziert, korrigiert, reguliert wird. Wie weit aber diese Möglichkeit verwirklicht oder nicht verwirklicht wird, das hängt beim Menschen, abgesehen von der Einwirkung der praktischen Vernunft, von seinem Willen (βούλησις) ab, der auf vernünftiger Überlegung (βούλευσις) des „Entweder-oder", des „Ob oder ob nicht", „des Wie und wozu?" beruhend, zum festen Vorsatz (προαίρεσις) geworden, vermittels der animalischen Seele, d. h. des Begehrungsvermögens und der seinen Begierden zugrunde liegenden, mit Lust oder Unlust gepaarten Vorstellungen, die Organe und Glieder des menschlichen Körpers in Bewegung setzt. Das tiefgreifende psycho-physische Problem der Entstehung der körperlichen Bewegung der Tiere und Menschen hat Aristoteles als erster gesehen und in höchst bedeutsamer Weise in seiner Schrift Von der Bewegung der Lebewesen zu lösen unternommen. So wenig aber dem Gefühl in der Psychologie des Aristoteles oder überhaupt der antiken Seelenforschung ein selbständiges Vermögen zugewiesen, es vielmehr nur als Begleiterscheinung der Sphäre des Begehrens und Wollens angesehen wird, so wenig hat Aristoteles den Willen als etwas von der Vernunft, von dem Denken Wesensverschiedenes und durchaus Selbständiges erkannt. Wie insbesondere seine Ausführungen in der Nikomachischen Ethik zeigen, ist der Wille, mag er auch durch das Begehrungsvermögen hervorgerufen sein, augenscheinlich eine besondere
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Tätigkeit der Vernunft. Denn wir hören dort an einer Stelle ganz unzweideutig, daß es die (praktische) Vernunft ist, die zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählt, d. h. sich entscheidet und dementsprechnd Vorsätze faßt. Beruht doch der Wille, im Unterschied von der Begierde, auf ihm vorausgehender vernünftiger Überlegung, mag diese auch ihren letzten Antrieb durch das Begehrungsvermögen erhalten haben. Und in seinem psychologischen Hauptwerk sagt Aristoteles deutlich, daß der Wille in dem (praktischen) Denkvermögen (dem λογιστικόν) entsteht, während in dem vernunftlosen Teile der Seele die Begierde und der Zorn entspringen. So kommt in der aristotelischen Psychologie der Wille nur in beschränkter Weise zu seinem Recht. Dem vernunftlosen Teile - soweit man überhaupt von Teilen der Seele sprechen kann, denn Aristoteles ist das Problematische dieses Begriffes schon früh klar geworden - dem vernunftlosen Teile gehören die Affekte an, denen jedoch Aristoteles merkwürdigerweise weder in seinem psychologischen Hauptwerk noch in seiner Ethik, sondern vielmehr nur in seiner Rhetorik eine eingehende Betrachtung widmet. Die aristotelische Psychologie birgt, wie längst erkannt und insbesondere von Zeller dargelegt ist, nicht nur in ihrer Lehre von der doppelten Vernunft oder von dem vom Körper „trennbaren Geist" angesichts seiner sonstigen Lehren unlösbare Schwierigkeiten und nicht aufzuhellende Unklarheiten, zumal gegenüber der Tatsache der menschlichen Individualität und Persönlichkeit. „Uberall zeigt sich ein ungelöster Dualismus", sagt Zeller, denn die Einheit der menschlichen Seele ist, so sehr Aristoteles sie auch zu wahren sucht, doch durch seinen durchgehenden Dualismus aufs schwerste in Frage gestellt. Der Physiker und der Metaphysiker Aristoteles haben in seinen Lehren von der Seele es nicht zu einem harmonischen Ausgleich zu bringen vermocht.
VI. Die Ethik Grundlage unserer Kenntnis sind Aristoteles' beide Werke, die Eudemische und die Nikomachische Ethik. Die ebenfalls unter Aristoteles* Namen erhaltene „Große Ethik" stammt - trotz Hans von Arnim - nicht von Aristoteles. Sie ist ein Auszug aus den beiden anderen Werken, der von einem Peripatetiker für Vorlesungszwecke hergestellt ist; im übrigen in Sprache, Stil und Inhalt manches Unaristotelische enthält. Sie wird daher hier nicht berücksichtigt. Wie Jaeger erwiesen hat, zeigen beide Ethiken, problemgeschichtlich gesehen, einen ganz verschiedenen Standpunkt. Die Eudemische Ethik („die Urethik", d. h. die älteste Form der selbständigen aristotelischen Ethik) stammt noch aus der „reform-platonischen" Periode des Aristoteles, als er in Assos seine ersten Vorlesungen über Ethik hielt. Sie kennt nur eine metaphysische Begründung der Sittlichkeit, genauer eine „theonome Sittlichkeit im Sinne des späteren Piaton". Die Nikomachische Ethik dagegen ist ein Hauptwerk aus der letzten Periode des Aristoteles, d. h. der Meisterzeit. In ihr ist von Aristoteles - von einschneidenden Unterschieden im einzelnen, wie in der grundverschiedenen Auffassung des φρόνησις-Begriffs, der ganz anderen Wertung des irrationalen Elementes der Seele, dem Aufgeben des Norm-Begriffes in der Nikomachischen Ethik, abgesehen - auf jede metaphysische Begründung der Ethik verzichtet, ein Moment von kardinaler Bedeutung. Angesichts des verfügbaren Raumes kann unsere Darstellung nur einen kurzen Abriß auf Grund der Nikomachischen Ethik geben. Im übrigen muß auch hier auf Jaegers grundlegendes Werk verwiesen werden, das zum ersten Male eine Entwicklung auch des ethischen Denkens des Aristoteles aufgezeigt hat und in diesem scharf drei inhaltlich sehr verschiedene Perioden unterscheidet.
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Aristoteles teilt mit der gesamten griechischen Philosophie die Grundüberzeugung, daß es - wenigstens in der Hauptsache von dem Menschen selber abhängt, ob er glücklich, d. h. glückselig (εύδαίμον) wird oder nicht. Denn es hängt allein von ihm selber ab, ob er gut oder böse wird, die Tugend erlangt oder nicht. Der zweite Kardinalpunkt der aristotelischen Ethik ist der, daß sich nach ihm die Ethik dadurch von allen anderen Wissenschaften unterscheidet, daß nicht Erkenntnis der Tugend die Hauptsache für sie ist, sondern daß der Endzweck aller Ethik ist, tugendhaft zu sein: auf das tugendhafte Handeln, die sittliche Tat, das sittliche Leben, kommt es an. Nicht γνώσις (Erkenntnis), sondern ένέργεια (Betätigung, Verwirklichung) ist das Endziel (Telos) aller Ethik. Diese hat daher die menschlichen Handlungen (πράξεις) zum Gegenstand ihrer Betrachtung. Von diesen hängt ja Glück oder Unglück des Menschen ab. Die Ethik des Aristoteles ist durchaus individualistisch. Von grundlegender Bedeutung für ihren Charakter ist die Tatsache, daß sie die Grundsätze der Sittlichkeit nicht aus einem metaphysischen Prinzip, sondern aus dem ureigensten Wesen des Menschen selber herleitet.
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Eudaimonia
Das Telos aller menschlichen Handlungen, das wir um seiner selbst willen erstreben und das im Grunde die Endursache all unseren Tuns und Lassens ist, ist das - wirkliche oder vermeintliche - Gut, d. h. die Glückseligkeit (Eudaimonia). Sie ist der Endzweck allen menschlichen Strebens und Handelns. Aber gerade über den Inhalt dieser Eudaimonia gehen die Meinungen weit auseinander. Doch lassen sie sich auf drei Grundtypen zurückführen: ein Leben des Genusses (βίος άπολαυστικός), das
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dem Ideal der Masse entspricht; ein Leben der Tugend (αρετή) - von Aristoteles βίος πολιτικός genannt - und ein Leben der reinen Forschung (βίος θεωρητικός), das im Grunde Aristoteles' eigenes Ideal ist. Soviel aber ist gewiß, daß die Eudaimonia absoluten, nicht relativen Wert hat. Dies absolute Gute ist Selbstzweck, daher hat es sein Genügen in sich selbst (es ist αΰταρκες). Angesichts dieser drei Grundtypen menschlicher Lebensideale kann es für Aristoteles - und das ist für ihn in hohem Maße charakteristisch - keinem Zweifel unterliegen, daß die Eudaimonia nicht in irgendwelchem toten oder passiven Besitz liegen kann, sondern nur in der dem Menschen eigentümlichen Betätigung; die Eudaimonia ist also eine Art Enérgeia. Das Merkmal aber, das den Menschen von allen anderen Wesen der sichtbaren Welt unterscheidet, ist der Logos, die Vernunft. Es ist daher die dem Menschen eigentümliche Betätigung eine Tätigkeit der Seele gemäß der Vernunft, genauer eine Tätigkeit der Seele gemäß der Tugend, denn diese beruht auf vernünftigem Denken, in einem ausgereiften Leben. Kinder und Tiere können daher nicht wirklich glückselig sein. Beiden fehlt der Logos; die Tiere besitzen ihn überhaupt nicht, Kinder aber noch ganz unentwickelt. Logos und Energeia sind die beiden Grundsteine der aristotelischen Ethik, daher auch für seine Lehre vom Wesen der Eudaimonia maßgebend. Denn beide - Eudaimonia und Sittlichkeit (Tugend, αρετή) hängen ja unlöslich miteinander zusammen. Der intellektualistische Zug der aristotelischen Ethik zeigt sich, wenn auch gegenüber Sokrates abgemildert, vor allem in seiner Tugendlehre, in der ja der Logos die maßgebende Stellung hat. Ist doch die Tugend das Organon des denkenden Geistes (des νοΰς). Und vom sittlichen Handeln (πράττειν) kann überhaupt erst gesprochen werden, wo νοΰς vorhanden ist. Daher kann bei Kindern und Tieren vom Han-
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dein in diesem Sinn keine Rede sein. Und Tugend im eigentlichen Sinne kann nicht ohne denkende Einsicht (φρόνησις) sein. Das Zweite ist Aristoteles' grundlegende Wertung des Handelns, der sittlichen Energeia. Denn Sein und Wirken sind für Aristoteles unlöslich miteinander verbunden. Ja, das Leben selber ist eine Art Energeia (Wirksamkeit, Tätigkeit). Beide, das intellektualistische und das energetische Prinzip, sind daher in der aristotelischen Ethik aufs engste verbunden. Von dem sittlichen Handeln hängt die Glückseligkeit des Menschen ab. Sittliches Handeln ist aber nicht ohne denkende Vernunft möglich. „Nur die in der rechten Weise Handelnden erlangen die wahrhaft guten und schönen Dinge des Lebens". Das Leben solcher Menschen ist an sich voll Lust (ηδύς). Denn ihre tugendhaften Handlungen haben die Lust in sich selbst. Wie aber erwirbt man die Eudaimonia, d. h. die Tugend? Erlangt man sie durch Belehrung oder Gewöhnung oder Übung oder infolge einer „göttlichen Fügung" oder gar durch glücklichen Zufall (τύχη)? Aristoteles meint zunächst, daß alle, „die nicht verkrüppelt sind hinsichtlich der Tugend", die Eudaimonia erwerben können, und zwar durch eine gewisse Belehrung und eifriges Bemühen (έπιμέλεια). Von äußeren Zufälligkeiten (τύχαι) kann die Eudaimonia unmöglich abhängen. Gewiß bedarf das menschliche Leben bis zu einem gewissen Grade auch ihrer, d. h. gewisser äußerer Güter, aber „entscheidend über die Glückseligkeit (ob wir diese erlangen oder nicht) sind die tugendgemäßen Handlungen", die κατ' άρετήν ένέργειαι. Denn bei keinem menschlichen Tun ist eine solche Sicherheit und Dauer des Erfolgs vorhanden wie bei den tugendgemäßen Handlungen. Glückselig ist daher der Mensch, „der sich gemäß der Tugend (dauernd) betätigt und mit äußeren Gütern ausreichend versehen ist, und zwar während eines ausgereiften (τέλειος) Lebens". Da aber die Eudaimonia eine Betätigung der Seele gemäß der vollkommenen Tugend ist, ist es notwendig, das Wesen der Tugend genauer zu untersuchen.
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b) Die Tugend (άρετή) Was ist die Tugend? Um dies klarzustellen, ist eine Betrachtung der menschlichen Seele erforderlich, denn nur mit Tugend der Seele haben wir es hier zu tun. Auch nach Aristoteles hat die menschliche Seele zwei Teile1, einen vernünftigen und einen vernunftlosen. Der vernunftlose hat wieder Unterteile: das ernährende (θρεπτικόν) und das begehrende Vermögen (έπιθυμητικόν). Diese begehrende Kraft ist beim normalen Menschen irgendwie vom Logos beeinflußbar; beim tugendhaften Menschen gehorcht sie ihm schließlich immer. Auf dieser Zweiteilung der menschlichen Seele in einen vernünftigen und einen vernunftlosen Teil beruht Aristoteles' Zweiteilung der Tugenden: in dianoëtische (die allein auf dem Denken beruhen) und ethische (die zugleich auf dem Willen beruhen). Wie aber der vernünftige Teil ebenfalls in zwei Grundkräfte zerfällt, die erkennende (das έπιστημονικόν), die zur Erkenntnis der ewig unveränderlichen Wesenheiten (der άρχαί) befähigt ist, und die erwägende (das λογιστικόν), die dem Reich der Möglichkeiten in der sichtbaren Welt zugewandt ist, werden auch die dianoëtischen Tugenden in zwei Gruppen zerfallen, zu deren ersterer die Weisheit, zu deren letzterer vor allem die praktische Einsicht (φρόνησις) gehört. Zu den ethischen Tugenden aber, bei deren psychologischer Grundlage das Verhältnis des begehrenden Teils zum Denkvermögen (νους) die maßgebende Rolle spielt, gehören insbesondere die Tapferkeit und die Besonnenheit (Sophrosyne), aber auch die Gerechtigkeit. Es haben also die dianoëtischen und die ethischen Tugenden einen ganz verschiedenen Ursprung in der Seele des Menschen. Betätigen werden sich die (ethischen) Tugenden gegenüber den Affekten und Leidenschaften (πάθη) und Handlungen und demgemäß - je nachdem - Lust oder Pein im Gefolge haben. 1
Vgl. hierzu aber oben S. 72.
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Was aber ist die Tugend überhaupt und insbesondere die ethische Tugend? Von den drei Möglichkeiten, dai? sie eine Leidenschaft (πάθος), eine Kraft (δύναμις) oder eine natürliche seelische Beschaffenheit (Hexis) ist, scheiden die ersten beiden ohne weiteres aus. Es ist also die Tugend eine bestimmte, d. h. bestimmt qualifizierte, dauernde Beschaffenheit der Seele. Die ethische Tugend aber ist ein Mittleres zwischen zwei Extremen, einem Ubermaß und einem Untermaß. In dieser Bestimmung der Tugend als eines „Mittleren" wirkt - abgesehen von den Analogien im Bereich der diätetischen Medizin - die entscheidende Bewertung des Maßes (μέτρον) aus der altgriechischen Ethik nach. Und zwar beruht diese Hexis auf einer grundsätzlichen inneren Einstellung, d. h. einer ganz bestimmten Willensrichtung, die auf einer Entscheidung beruht. Das „Mittlere" aber zwischen zwei Extremen in der konkreten Wirklichkeit und zugleich mit Rücksicht auf die eigene Individualität zu erkennen und sich dafür zu entscheiden, ist Sache des rechten Logos, genauer der praktischen Einsicht (φρόνησις), ohne die überhaupt keine ethische Tugend möglich ist. Ist doch tugendhaftes Handeln nur das bewußte, gewollte, nach ganz bestimmten Grundsätzen erfolgende Handeln. Wie aber erwirbt man die ethische Tugend? Auch für Aristoteles steht es fest, daß dazu eine gewisse normale Veranlagung (φύσις), sodann die rechte Belehrung und endlich Übung notwendig sind. Wirklich erwerben aber als dauernde Eigenschaft kann sie der Mensch nur durch ständige Betätigung (Energeia). Und hier ist es gerade die ungeheure Bedeutung der (inneren) Gewöhnung (des Ethos), die der große Empiriker Aristoteles für das Werden eines sittlichen Charakters aufs stärkste betont. Denn im Grunde hängt - auch in seelischsittlichen Dingen - alles vom Ethos ab: wie man von früher Jugend auf gewöhnt wird bzw. sich gewöhnt. Denn von Natur sind wir weder gut noch böse. Schon hieraus erhellt die grundlegende Bedeutung einer richtigen Erziehung.
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Keine systematische Ethik kann an der Frage vorübergehen, ob es wirklich in der Hand des Menschen steht, gut oder böse zu sein, d. h. zu handeln. Das Problem der Willensfreiheit und damit der sittlichen Zurechnungsfähigkeit des Menschen, das offenbar schon in der platonischen Akademie und in der Generation nach Piatons Tode lebhaft erörtert worden ist, hat daher Aristoteles in seiner Ethik in psychologischer Hinsicht eingehend behandelt. Nach Klarstellung der Bezeichnungen freiwillig und unfreiwillig verfolgt er die seelische Genesis einer menschlichen Handlung. Das Ergebnis der Überlegung - Überlegung erstreckt sich nur auf Dinge, die in unserer Macht stehen - ist der Vorsatz (προαίρεσις), der stets auf Grund denkender Vernunfttätigkeit erfolgt. In diesem Begriffe der προαιρεσις - auf dessen eigentliche Wortbedeutung (daß wir einer Sache den Vorzug vor einer anderen geben) Aristoteles hierbei Bezug nimmt - erkennt er bereits deutlich das Moment einer Entscheidung, d. h. ein voluntaristisches Element. Diese aber hängt von uns, genauer von dem in unserer Seele Führenden, d. h. der Vernunft, ab. Auf Grund der προαίρεσις aber erfolgen alle unsere Handlungen. Es ist daher für Aristoteles ein Eckstein seiner gesamten Ethik, daß der Mensch - und er allein - der Ursprung (άρχή) und Urheber (γεννητής) seiner Handlungen ist, ein Standpunkt, der, wie Aristoteles nicht unterläßt zu betonen, auch durch die allgemeine staatliche Gesetzgebung und die Moral der öffentlichen Meinung bestätigt wird. Es steht also durchaus in der Macht des Menschen, ob er gut oder böse wird. Denn schlecht werden die Menschen erst durch ihren von ihnen selbst erwählten Lebenswandel. Dagegen hängt es nicht mehr von ihnen allein ab, ob sie schlecht bleiben. Denn sind sie erst einmal schlecht geworden, so stehen sie im Bann ihrer Hexis, einer gewissen Disposition, eines Hanges. Diese Hexis beeinflußt dann maßgebend ihr ganzes Vorstellungsleben, zuletzt sogar ihr Telos. So ist das für Aristoteles unumstößliche Ergebnis: Der Mensch ist für sein
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Tun und Lassen durchaus verantwortlich, weil er, dank seiner Vernunft, Herr seines Willens ist. Das andere große Problem, zu dem jede Ethik seit den Tagen des Sokrates Stellung nehmen mußte, ist das der Lust (ήδονή). Wie Piaton und andere unterscheidet Aristoteles scharf sinnliche und geistige Lust. Geistige Lust entsteht im Gefolge gewisser Betätigungen (ένέργειαι) des Menschen. Aber trotzdem ist, wie die psychologische Erfahrung zeigt, von vielen Handlungen und Tätigkeiten des Menschen nicht die Lust der Beweggrund, sondern sie ist nur die notwendige, wenn auch durchaus ungewollte Nebenfolge. Der Wert einer Lust aber, die jede vernünftige Handlung im Gefolge hat, richtet sich durchaus nach dem Wert der Tätigkeit, durch die sie erzeugt wird. Es wird also die höchste Tätigkeit des Menschen - das reine Denken - die höchste aller Lüste im Gefolge haben. Die sinnliche Lust dagegen hat, wie jedes Pathos, ihren Ursprung im vernunftlosen Teil der Seele. Sie - gemeint ist vor allem die Lust im Bereich des Sexuellen - hat der Mensch mit dem Tiere gemeinsam. Sie darf daher niemals Herr über ihn werden, wenn anders er des Namens Mensch würdig bleiben will. Aristoteles verkennt jedoch nicht, daß der Kampf mit der sinnlichen Lust weit schwerer als der mit anderen Leidenschaften, wie ζ. B. mit dem Zorn ist. Er erörtert auch eingehend das alte Problem, wie es psychologisch möglich ist, daß ein Mensch trotz besserer Einsicht der Lust erliegt. Das Pathos, die Begierde gegenüber dem bestimmten Falle verdrängt dann im Bewußtsein die allgemeine grundsätzliche Vernunfteinstellung des Betreffenden. Aber gerade hier - gegenüber solcher Lust - hat die Tugend ihr Feld, die Möglichkeit zu siegreicher Betätigung: die Enkrateia (Selbstbeherrschung), die ein Teil der Grundtugend der Sophrosyne (Besonnenheit) ist. Aristoteles' Lehre von den einzelnen Tugenden, die weit über den Kreis der vier platonischen Kardinaltugenden hinausgeht, kann hier nicht näher dargestellt werden, so interessant
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sie in psychologischer und soziologischer Hinsicht auch ist. Charakteristisch ist an ihr die entscheidende Bedeutung des Kalón (des Schönen, d. h. des aus sittlichen Gründen Rühmlichen) als Kriterium echter Tugenden, so insbesondere der Tapferkeit - denn von Tapferkeit eines Menschen kann man in Wahrheit nur dann reden, wenn es sich um ein rühmliches, d. h. sittlich schönes Grundmotiv seines furchtlosen Verhaltens gegenüber Tod und Gefahr handelt - aber auch der Sophrosyne. Von besonderer Bedeutung aber gegenüber Piaton ist die erst von Jaeger ins Licht gestellte Tatsache, daß der spätere Aristoteles, d. h. der Aristoteles der Meisterjahre, keinen anderen sittlichen Maßstab anerkennt - denn der Begriff der richtigen Mitte läßt sich auf viele Tugenden nicht anwenden - als „das autonome Gewissen der sittlich durchgebildeten Persönlichkeit". Ohne in die Überspannung des späteren epikureischen und stoischen Weisenideals zu verfallen, glaubt auch Aristoteles an die Möglichkeit bzw. Wirklichkeit eines wahrhaft sittlichen Menschen (d. h. des σπουδαίος). Dieser ist in Wahrheit „Maßstab und Richtschnur" des Handelns, wie denn seine sittliche bzw. ästhetische Empfindung überhaupt der Maßstab ist; ist er doch, und er allein, der stets gemäß dem Logos, nicht dem Pathos lebt, d. h. handelt, sich selber Gesetz. Einen großen Raum nimmt in der Ethik des Aristoteles die Freundschaft ein, deren auch der wahrhaft sittliche Mensch bedarf. Denn sie ist auch zu seinem Leben durchaus notwendig. Wahre Freundschaft - Aristoteles versteht übrigens das Wort Freundschaft in weitestem Sinne: von jeder sittlichen Gemeinschaft, so insbesondere auch von der Familie, der Ehe etc. - ist natürlich nur unter Guten möglich auf Grund derselben sittlichen Ideale, und nur sie ist von Dauer. Die ganze sittliche Höhe der aristotelischen Ethik zeigt sich in seiner Auffassung vom Wesen des „sich selbst Liebenden" (φίλαυτος). Aristoteles versteht nämlich unter dem Selbstliebenfi Capelle, Griechische Philosophie
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den nicht etwa den, der sich selber möglichst viel Geld, sinnliche Genüsse, Ehren, überhaupt Vorteile aller Art zu verschaffen sucht, sondern den, der möglichst gerecht, besonnen, tugendhaft, d. h. gut zu werden trachtet. Denn ein solcher Mensch pflegt und hütet ja vor allem das Beste in sich. Das eigentliche Selbst eines jeden aber ist sein denkender Geist (νους). Der Selbstliebende im Sinne des Aristoteles sucht daher bei allem rühmlichen Tun sich selber von dem wahrhaft Schönen (dem Kalón) einen möglichst großen Anteil zu verschaffen, d. h. einen möglichst großen aktiven Anteil daran zu nehmen: durch die Tat, d. h. durch wahrhaft sittliches Handeln. VII. Die Staatslehre Die Hauptquelle für unsere Kenntnis ist Aristoteles' Politik. Dies ungemein Stoff- und gedankenreiche Werk ist aber in einem sehr merkwürdigen, d. h. unausgeglichenen und widerspruchsvollen Zustand auf uns gekommen, der zeigt, daß das Werk so, wie es uns vorliegt, unmöglich von vornherein geplant und angelegt gewesen sein kann. In die zunächst völlig rätselhafte Beschaffenheit und Komposition des Werkes, d. h. in seine Entstehung, haben erst die schlechthin epochemachenden Forschungen Jaegers helles Licht gebracht. Nach Jaegers unanfechtbaren Ergebnissen stammen nämlich die Bücher Β und Γ sowie Η und Θ, die den Idealstaatsentwurf enthalten und daher einen wesentlich spekulativen und normativen Charakter im Geist des alten Piaton haben, in der Form daher wesentlich deduktiv und begrifflich konstruktiv sind, aus Aristoteles' früherer Periode in Assos (in den vierziger Jahren des 4. Jahrhunderts vor Chr.). Erst in seiner zweiten, athenischen Periode (zwischen 335 und 322) hat Aristoteles, nachdem er selber im Lauf der Jahre eine tiefgreifende Wandlung in seiner ganzen wissenschaftlichen Betrachtungsweise und Methode erfahren hatte, in dem Sinne, daß er sich von der von Piaton über-
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kommenen, rein spekulativ-konstruktiven Denkweise abwandte und immer mehr einer ausgesprochen empirischen, nach Art des Naturforschers alle Einzelerscheinungen des wirklichen Staatslebens beobachtenden und in ihren konkreten Bedingungen und ihren verschiedenen Gestaltungen erfassenden Methode zugewandt hatte - erst in dieser seiner letzten Periode hat Aristoteles die Bücher Δ bis Ζ verfaßt und zwischen Β Γ und ΗΘ eingeschoben und dann dem Ganzen in dem Buch A eine neue, allgemeinere Einleitung gegeben. Es hat daher Aristoteles' Politik in philosophischem Sinne, mit Jaeger zu reden, ein „Janus-Antlitz"; in den vier älteren Büchern ist sie durchaus individualistisch-spekulativ-normativ - auch darin ganz platonisch, daß sie das ethische Ziel und damit die Eudaimonia des Staates durchaus der des Individuums gleichsetzt - ; in den drei späteren Büchern (Δ-Ζ) dagegen durchaus realistisch-empirisch, wenn auch die individualistische Grundeinstellung des Denkens im Sinne Piatons dieselbe geblieben ist. Und es ist ohne weiteres verständlich, daß - unbeschadet aller inneren Selbständigkeit des Aristoteles gegenüber Piaton und seiner oft rücksichtslosen Kritik an den Utopien und an den Grundmängeln der platonischen Staatslehre - nicht nur viele Problemstellungen, sondern auch viele ethisch-politische Grundauffassungen des Aristoteles von Piaton ererbt sind, wie ζ. B. die, daß auch Aristoteles als die höchste Aufgabe des Staatsmannes die sittliche Erziehung der Bürger zur Gerechtigkeit auffaßt. Max Pohlenz hat die politische Grundeinstellung des Aristoteles als die „mittlere Linie zwischen Sozialismus und Individualismus" bezeichnet. Das trifft im allgemeinen gewiß zu. Doch darf man dabei die, insbesondere von Pöhlmann nachgewiesenen, sozialistisch anmutenden Züge der aristotelischen Staatslehre nicht übersehen. Der Mensch ist „ein von Natur zur Staatenbildung befähigtes und daher bestimmtes Wesen" (φύσει πολιτικόν ζφον). Schon 6'
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hieraus ergibt sich, daß der Mensch seine wahre Bestimmung (Telos) nur als Glied des Staates erfüllen kann. Was aber ist der Staat?1 An vielen Stellen seiner Politik sucht Aristoteles diesen Kardinalbegriff möglichst allseitig zu bestimmen. Zunächst, ganz allgemein gefaßt, ist der Staat ein zusammengesetztes Gebilde, dessen Urbestandteile die einzelnen Bürger sind. Bürger aber ist derjenige, der befähigt ist, als stimmberechtigtes Glied an Gericht und Regierung, einschließlich der Volksversammlung, teilzunehmen. Aber das eigentliche Wesen des Staates ist hierdurch nur erst angedeutet. Das freilich ergibt sich schon hieraus, daß eine Horde zusammen hausender Menschen noch kein Staat ist. Denn wenn der Staat auch einst aus der Not entsprungen ist, um dem einzelnen (d. h. der einzelnen Familie) durch Zusammenschluß mit seinesgleichen das zum Dasein Notwendige zu gewährleisten, so kann er doch nur bestehen durch ein Leben auf sittlicher Grundlage, wie überhaupt jeder wirkliche Wert des Menschen als Glied der Gesellschaft auf Recht und Sittlichkeit beruht. Daher wird auch die Autarkie, d. h. die Fähigkeit, aus sich selbst heraus mit eigener Kraft alle Bedingungen zum Leben zu erfüllen, dies für das Wesen des Staates grundlegende Merkmal, reale und ideale Momente in sich enthalten. Denn sie beruht nicht nur auf der nötigen Nahrung seiner Bewohner, auf den Gewerben der Handwerker, auf Waffen und den nötigen Geldmitteln - denn jeder über die primitiven Anfänge hinausgewachsene Staat beruht auf Geldwirtschaft, wenn auch das Zinsennehmen durchaus „wider die Natur" ist - , sondern ebenso sehr auf gemeinsamer Verehrung der Götter und einer entscheidenden Instanz über das, was für die Bürger, die frei und einander durchaus gleichberechtigt sind, in ihrem Verkehr untereinander erforderlich und gerecht ist, d. h. einer Regierung (αρχή) und Recht1 Auch Aristoteles versteht unter dem Staat immer den Stadtstaat, die Polis.
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sprechung. N u r auf dem Vorhandensein all dieser besonderen Momente beruht die Autarkie des Staates. Was aber den Staat von jeder anderen Gemeinschaft von Lebewesen unterscheidet, sind die Prinzipien von Recht und Sittlichkeit, die ganz eigentlich seine Grundlage bilden. Zur Entwicklung dieser Prinzipien aber ist allein von allen Lebewesen der Mensch befähigt, weil ihm allein von allen beseelten Wesen der Logos - das Wort bedeutet Vernunft und sinnerfüllte Rede zugleich - eigen ist, kraft dessen er schädlich und nützlich, recht und unrecht, gut und böse unterscheidet und vermittels seiner Stimme bezeichnen und daher einander mitteilen kann. Der eigentliche Zweck des Staates ist daher das wahrhaft sittliche Leben (das ευ ζην) seiner aus freiem Entschluß zusammen lebenden ,Bürger. Nur ein solches Leben ist mit innerer Glückseligkeit identisch, die ja auf der Verwirklichung der Tugend, d. h. der Sittlichkeit, beruht. Aus dieser Grundbestimmung des Staatsbegriffs werden sich für Aristoteles auch die wahren, d. h. die höchsten Aufgaben des Staates ergeben; seine Regierung wird als letztes Ziel haben, die Bürger zu guten und gerechten Männern zu machen, d. h. zu wahrer Sittlichkeit zu erziehen. Bis hierher zeigt Aristoteles' politisches Denken bei aller Selbständigkeit doch noch in vielem Wesentlichen enge Verwandtschaft mit den Lehren Piatons, aber von nun an tritt ein großer Unterschied zwischen Piaton und dem großen Empiriker und Realisten Aristoteles hervor, der in seinem Staat weder einen Stand von Philosophen, noch metaphysische Ideen als deren geistigen Lebensinhalt kennt. Sein auf eine erstaunliche Empirie gestützter Realismus faßt planmäßig die Schichten und Gruppen der Bevölkerung des Staates ins Auge. Zunächst in sozialer Hinsicht. Zur Bevölkerung des Staates gehören Freie - sie allein haben Bürgerrecht und Sklaven. Die Einrichtung der Sklaverei beruht im Grunde auf einem Naturgesetz, denn es gibt Menschen, die von Natur
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frei und solche, die von Natur Sklaven sind. Zu letzteren gehören alle diejenigen, die nur zu körperlichen Leistungen befähigt sind. Das Hauptmerkmal des „geborenen Sklaven" beruht aber darauf, daß er infolge seiner Naturanlage sich nicht selber zu regieren vermag, wohl aber von anderen, den geborenen Freien nämlich, die ihm durch ihren Logos überlegen sind, regiert werden kann. Für diese geborenen Sklaven ist es daher naturgewollt und somit in ihrem eigenen Interesse, von den von Natur Freien beherrscht zu werden, wie der Leib von der Seele, die Haustiere von den Menschen. Diese geborenen Sklaven sind für Aristoteles, der hier ebenso wie Piaton ganz im Banne der altgriechischen Anschauung steht, die Angehörigen der Barbarenvölker. Dieser Kardinalunterschied in der ganzen Bevölkerung des Staates - Freie und Sklaven - ist daher für Aristoteles in Wahrheit kein Problem, sondern eine dogmatische Grundvoraussetzung seines ganzen politischen Denkens, die nach seiner Überzeugung in der Natur selber begründet ist. Der andere einschneidende Unterschied unter den Angehörigen der Bevölkerung, der aber nur die Freien, also nur die Vollbürger angeht, ist der zwischen arm und reich. Dieser Unterschied ist für das ganze Leben des Staates von entscheidender Bedeutung; denn von dem Verhältnis der bemittelten und unbemittelten Bürger zu einander hängt nicht nur Wohl und Wehe des Staates, sondern auch die eigentümliche Form der Verfassung ab. Zwischen arm und reich gibt es in einzelnen Staaten noch den Mittelstand, die μέσοι, die weder zu den reichen noch zu den armen Leuten gehören. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Stellung zum Besitz. Aristoteles zeigt sich hier als ein energischer Anhänger des Privateigentums, auch aus psychologisch-ethischen Gründen. Er lehnt daher den eigentlichen Kommunismus als „etwas ganz Unmögliches" ab1. 1
1263 b 29: φαίνεται δ'εΐναι πάνταν αδύνατος ό βίος.
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In wirtschaftlicher Hinsicht unterscheidet Aristoteles drei Haupterwerbsgruppen: Bauern, Handwerker und Kaufleute. Sie sind, wie wir schon sahen, für das Leben des Staates in materieller Hinsicht unentbehrlich. Überraschend aber und sehr charakteristisch für seine Denkweise ist es, dai? in dem Staat, der ihm als der beste vorschwebt, die Bauern zu den Sklaven oder doch zu den Metöken (Halbbürgern) gehören, und daß auch die Handwerker, wenn sie auch frei sind, doch kein Bürgerrecht haben, weil die Tätigkeit dieser beiden Erwerbsstände ebenso wie die der Kaufleute nach seiner Auffassung kein Leben der Tugend ermöglicht. „Denn zur Erzeugung der Tugend und zu den Handlungen für das Gemeinwohl bedarf es der Freiheit von Geschäften (σχολή). Eingehend untersucht Aristoteles die Stellung und Bedeutung der einzelnen Faktoren des staatlichen Organismus. Im Interesse des Staatsganzen hält er es für erforderlich, daß die Regierung (τό βουλευόμενον) und die Wehrmacht in derselben Hand liegt. Ebenso führen ihn viele Gründe zu dem Ergebnis, daß alle Bürger in gleicher Weise am Regieren und am Regiertwerden teilhaben, d. h. daß die jüngere Generation, die auf der Höhe der physischen Kraft steht, die bewaffnete Macht bildet, während die ältere, die der jüngeren an Einsicht überlegen ist, die Regierung ausübt, die dereinst auf die Jüngeren übergehen wird. Die Regierung aber wie die Verwaltung der einzelnen Staatsämter und ebenso die Rechtsprechung erfordert Männer, die durch ihre Erziehung und Bildung der Tugend teilhaftig geworden sind. Es ist also für alle höheren Ämter im Staat eine psychisch-ethische Eignung und Bildung erforderlich. Diese ist aber nur bei Besitzenden (εύποροι) möglich, die von der Sorge um das tägliche Brot frei sind. Auch die Befugnisse und Aufgaben der einzelnen Behörden untersucht Aristoteles genauer. Hierbei erscheint ihm die aus den jüngeren Bürgern bestehende Wehrmacht für den Bestand des Staates, sowohl zur Unterdrückung innerer Unruhen wie
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zur Abwehr äußerer Feinde - diesen letzteren Gesichtspunkt hatte Piaton in seinem Staatsentwurf überhaupt nicht berücksichtigt - unbedingt notwendig. Er untersucht auch ausdrücklich, bei welchen Faktoren die entscheidende Macht (τό κύριον) im Staatsleben liegt bzw. liegen muß und ebenso die Bedürfnisse dieser Macht. Wenn aber der alles beherrschende Endzweck des Staates die Glückseligkeit seiner Bürger ist, so entsteht die Frage, auf welchem Wege dies Ziel erreichbar ist. Es gibt nach Aristoteles zwei Hauptwege zu diesem Ziel: die Verfassung und die Erziehung. Daher nehmen ganz natürlich in Aristoteles' Staatslehre die Untersuchungen über diese beiden Einrichtungen den weitesten Raum ein. Die Verfassung (πολιτεία) ist die Grundordnung des Staates hinsichtlich der in ihm entscheidenden Faktoren und ihrer Befugnisse. Daß es aber mehrere Formen (είδη) der Verfassung gibt und geben muß, liegt daran, daß jeder Staat ganz verschiedene Teile hat, vor allem die beiden Hauptgruppen reich und arm. Erstere sind meistens wenige, diese dagegen in der Überzahl. Je nachdem nun, welcher dieser Teile die entscheidende Macht hat bzw. wie die Macht zwischen beiden verteilt ist, ergibt sich auch die Form der Verfassung, ζ. B. ob Demokratie oder Oligarchie. In Wahrheit gibt es zwei grundsätzlich verschiedene, übrigens schon von Piaton erkannte Gattungen von Verfassungen: In den der einen ist das Gemeinwohl das maßgebende Prinzip, in den anderen das Interesse der jeweils Regierenden. Nur die ersteren sind die rechten, gemäß der Gerechtigkeit schlechthin. Die anderen sind Ausartungen (παρεκβάσεις), denn sie sind despotischer Natur. Der Staat aber ist eine Gemeinschaft von Freien. Von der rechten Verfassung gibt es, je nachdem die Gewalt im Staat ein einziger oder wenige oder „die Vielen" (die Masse) ausüben, drei Formen: das Königtum, die Aristokratie und die „Politie", die jede eine besondere Form der Ausartung aufweisen: die des Königtums ist die Tyrannis, die der Aristokratie
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die Oligarchie, die der Politie die Demokratie, worunter Aristoteles die radikale Demokratie versteht. Er unterucht hierbei nicht nur die Entstehung und das Wesen dieser Grundformen und ihrer Ausartungen genauer, sondern er zeigt auch, daß jede dieser Grundformen und Ausartungen infolge der verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten der Machtfaktoren des Staates auch eine große Anzahl von Unterarten aufweist. Die Theorie vom Königtum und der Aristokratie fällt im Grunde mit der vom besten Staat zusammen, da sich in diesen beiden Formen die Tugend rein verwirklicht, was in der „Politie" dagegen nur schwer möglich ist, weil in ihr die Gewalt bei der Mehrheit liegt. Aber doch gilt der „Politie" die besondere Sympathie des Realpolitikers Aristoteles. Sie ist nämlich eine Mischung aus oligarchischen und demokratischen Elementen, denn sie ist ein Ausgleich zwischen der Herrschaft der Besitzenden und der der Armen. Unter den besten Durchschnittsverfassungen aber ist „die mittlere Politie" die beste, d. h. diejenige, in der gegenüber reich und arm der Mittelstand den Ausschlag gibt, am besten, wenn er stärker ist als die beiden anderen Gruppen zusammen, wenigstens aber als eine der beiden anderen; denn dann gibt er bei drohenden Konflikten stets den Ausschlag. Ein Staat, in dem der Mittelstand herrscht, ist daher der relativ beste. Unter seinen Angehörigen besteht kein sozialer Neid und Haß gegeneinander. Sie sind ihrem Besitz nach alle mehr oder weniger gleich. Der Staat besteht aber am besten aus Gleichen. Die Angehörigen des Mittelstandes sind auch im Unterschied zu reich und arm am ersten geneigt, der Vernunft zu gehorchen. Das Ideale wäre daher, wenn sämtliche Bürger dem Mittelstand angehörten. Ein solcher Staat wäre - von innen wenigstens - überhaupt keinen Erschütterungen ausgesetzt. Auch das Wesen der ausgearteten Verfassungen, als deren schlechteste ihm die Tyrannis erscheint, hat Aristoteles näher untersucht, ganz besonders auch das der Demokratie und ihrer
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wirklichen oder angeblichen Prinzipien: der Freiheit, Gleichheit und politischen Gerechtigkeit, zumal in der extremen Demokratie. Ebenso hat er die sozialen und sittlichen Ursachen des Wandels der Verfassungen, ihres Untergangs und ihrer Erhaltung, ζ. T. im Gegensatz zu Piaton, klargestellt. Von besonderem Interesse aber sind seine Gedanken über den denkbar besten Staat (die αρίστη πολιτεία, die in den Büchern Β und Γ, vor allem aber in Η und Θ seines Werkes uns vorliegen). Davon kann hier nur das Wichtigste wiedergegeben werden. Aristoteles verkennt nicht, daß auch für den besten Staat gewisse Gaben der Fortuna (τύχη) erwünscht sind; daß aber dieser Staat zu einem sittlich guten Gebilde (zu einer πολιτεία σπουδαία) wird, das ist das Werk von Wissen und Wollen (von έπιοτήμη und προαίρεσις). Zunächst muß seine Volksmenge noch übersehbar sein, in Rücksicht auf die Autarkie des Staates. Wenn aber das Telos des Staates die auf der Tugend beruhende Glückseligkeit der Bürger ist, so wird eben der Staat der beste sein, der die Erreichung dieses Zieles am besten verbürgt. Daher muß zunächst das Land vollkommen dem Prinzip der Autarkie genügen, damit seine Bürger sorglos höheren Zwecken und Aufgaben leben, d. h. ungehindert die Tugend verwirklichen können. Um dieses Endzweckes willen dürfen sie keinerlei Gewerbe oder Geschäfte treiben. Die Bürger eines solchen Staates müssen in ihrer Veranlagung Denkkraft (Logos) und die Kräfte des Gemütes und Willens (θυμός) in glücklicher Weise vereinen. Nur so wird sie der Gesetzgeber leicht zur Tugend hinführen können. Damit aber die Bürger die für ihr Leben nötige Muße bewahren können, müssen sie die Tugend der Tapferkeit und der Ausdauer (καρτερία) besitzen, um ihre Unabhängigkeit gegenüber äußeren Feinden behaupten zu können. In gleicher Weise aber bedürfen sie für Krieg und Frieden der Tugend der Selbstbeherrschung (Sophrosyne) und der Gerechtigkeit, im Frieden dazu der Philosophie überhaupt. Worin aber besteht die Muße (σχολή) der Bürger, was ist ihr Lebens-
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inhalt im Frieden? Besteht doch das Wesen der wahren Muße in Freude und Glückseligkeit. Diese wiederum kann nur auf der Pflege und Ausübung der Tugend beruhen. Die Tugenden zu betätigen aber haben die Bürger als Mitglieder von Rat (Regierung) und Gericht ausreichend Gelegenheit. Zum Inhalt der Muße gehört aber auch insbesondere die Pflege der Musik, sowohl wegen der Freude an ihr selber wie auch zur mittelbaren Weckung und Förderung der Tugend. Zusammenfassend kann man daher sagen: Das Leben der Bürger des besten Staates besteht in dauernder Betätigung der Tugend (vor allem der vier Grundtugenden) zum Gesamtwohl des Staates, läßt aber auch Muße zur Freude am Schönen. Dafür aber, daß die Bürger ein solches Leben der Muße führen können, ist als wirtschaftlich-materielle Grundlage nicht nur ihr Grundbesitz, sondern auch die Arbeit der vom Bürgerrecht ausgeschlossenen Stände (der Bauern, Handwerker und Kaufleute) die notwendige Voraussetzung. Vom Standpunkt moderner Staatslehre aus gesehen mag noch gesagt werden, daß - wie bei Piaton - das Prinzip der Macht im politischen Denken des Aristoteles nur eine ganz geringe Rolle spielt. Nach außen verwirft er jeden Mißbrauch der Macht gegenüber anderen Staaten, wenn er auch eine starke Wehrmacht zur Erhaltung der Freiheit und Selbständigkeit des Staates für unerläßlich hält. Im übrigen zieht er überhaupt der „despotischen Herrschaft" die Herrschaft der Freien über sich selber und das Leben in Tugend (μετ' αρετής) vor. Das Nationalitätenprinzip aber, bzw. der „völkische" Gedanke, kommt im Denken des Aristoteles nur unbewußt und mittelbar zur Erscheinung: insofern die Bürger seines Staates selbstverständlich nur Griechen sind, so daß das Problem fremdstämmiger Mitbürger für ihn gar nicht existiert. Ein solcher Bürgerstand aber, wie er Aristoteles vorschwebt, kann nicht ohne die rechte Erziehung entstehen, die den anderen Hauptweg zur Verwirklichung des Telos des Staates be-
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deutet. Die Jugenderziehung ist daher eine Angelegenheit des Staates. Der Gesetzgeber muß ihr also ganz besondere Aufmerksamkeit widmen. Alle Erziehung der Jugend muß im Hinblick auf den Staat erfolgen, d. h. schon die Kinder müssen als künftige Glieder des Staates erzogen werden. Hängt doch von dem sittlichen Wert oder Unwert der einzelnen Bürger auch der des Staates ab. Da aber jeder Staat nur ein und dasselbe Ziel hat, müssen auch alle Kinder an ein und derselben Erziehung teilnehmen. Der Jugendunterricht ist daher nicht Privatsache, sondern Sache des Staates. Ist doch jeder Bürger nur ein Teilchen des Staates. Wie diese, sind auch die anderen grundsätzlichen pädagogischen Erwägungen des Aristoteles von Bedeutung. Gründlich untersucht er die Hauptfrage aller Jugendbildung: Soll sich der Unterricht nur auf die zum praktischen Leben notwendigen und nützlichen Dinge erstrecken, oder soll er als höheres Ziel die „Erzeugung der Tugend" in den Seelen haben? Soll die Erziehung nur Kenntnisse und Fertigkeiten vermitteln, die man im praktischen Leben „brauchen" kann, oder muß der gesamte öffentliche Unterricht als sein eigentliches Ziel die Erziehung zur Sittlichkeit haben? Auf Grund psychologischer und staatspolitischer Erwägungen kann sich Aristoteles nur für die letztere Möglichkeit entscheiden. Der Unterricht muß daher nicht nur notwendige und nützliche Kenntnisse vermitteln, sondern auch zur Freude am Schönen und Guten erziehen. Der künftige Bürger muß vorgebildet und „vorgewöhnt" werden für die „Taten der Tugend"; gerade hieran hat der Staat das denkbar größte Interesse. Damit ist jedes pädagogische Banausentum ein für allemal verworfen. Auch Aristoteles hat als echter Grieche das Ziel, einen gesunden Geist in einem gesunden Körper zu erziehen. Daher will er durch den Unterricht in der Gymnastik die körperliche Ertüchtigung der Jugend erzielen, wie er andererseits in seelischgeistiger Hinsicht die Musik auf ihren Bildungswert eindringend
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untersucht und dabei zu dem Ergebnis kommt, daß gerade der Unterricht in der Musik zur Jugendbildung in hohem Maße förderlich ist und durch nichts anderes ersetzt werden kann. Ihre Wirkung zur Versittlichung und Veredelung von Geist und Gemüt schätzt er daher sehr hoch ein. Denn sie kann zur Bildung, zur „Reinigung" der Seele wie auch zur Erholung höchst wertvolle Dienste leisten. Unter den damaligen Arten der Musik gibt Aristoteles der dorischen, der die „ethischen" Lieder und Weisen eigen sind, den Vorzug vor allen anderen. Auch Aristoteles weiß, was schon die Sophisten entdeckt hatten: damit ein wahrhaft tüchtiger Mann (ein σπουδαίος άνήρ) wird, muß dreierlei zusammenwirken: entsprechende Naturveranlagung (φύσις), Gewöhnung (εθος) und Belehrung. Aber die Gewöhnung, deren Bedeutung nicht hoch genug angeschlagen werden kann, muß durch die Zukunft (λόγος) geleitet werden. Leider sind uns wichtige Teile der aristotelischen Pädagogik - so die vom wissenschaftlichen Unterricht und von der Poesie als Bildungsmittel - nicht erhalten.
Vffl. Der alte Peripatos Entsprechend der inneren Entwicklung des Aristoteles, infolge deren er sich in seiner letzten großen Periode immer mehr auf die fachwissenschaftliche Forschung konzentrierte, hat sich auch die historische Weiterbildung seiner Schule, des Peripatos, gestaltet. Das zeigt sich schon bei seinem Nachfolger THEOPHRAST, der von 322-288 v. Chr. diese leitet und durch seine umfassende wissenschaftlich-literarische Produktion wie durch seine von glänzenden Erfolgen gekrönte Lehrtätigkeit zu hoher Blüte bringt. Als Philosoph aber bleibt er, wenn er auch die Schwierigkeiten mancher Grundlehren des Aristoteles durchaus nicht verkennt, wie insbesondere das uns erhaltene große Fragment
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Aristoteles
aus seiner Metaphysik zeigt, doch im allgemeinen schließlich immer wieder auf dem Standpunkt des Aristoteles stehen, obgleich er auf einzelnen Gebieten, so in der Logik, Ergänzungen und Abänderungen vornimmt. Aber seine eigentliche Begabung zieht ihn durchaus zu der Fachwissenschaft. Davon zeugen seine beiden uns erhaltenen, in ihrer Art klassischen, botanischen Werke. Er betritt aber auch, tiefgehenden Anregungen des Meisters folgend, ein wissenschaftliches Neuland: die Geschichte der Wissenschaften. So gibt sein großes Werk von den „Meinungen der Physiker" eine Geschichte der griechischen Naturphilosophie (einschließlich der Metaphysik) von ihren Anfängen bis auf Piaton, die f ü r immer f ü r die Kenntnis der altgriechischen Philosophie grundlegend wurde. Die Geschichte der Fachwissenschaften wurde insbesondere von seinem Mitschüler Eudemos gepflegt, der eine Geschichte der Mathematik und Astronomie, und von M e n o n , der eine Geschichte der Medizin verfaßte. In philosophischer Hinsicht aber ist von den Peripatetikern bis auf Andronikos (um 50 vor Chr.) sehr wenig von Belang zu berichten. Bedeutsam ist aber, daß mehrere von ihnen, wie Aristoxenos (der große Musiktheoretiker u n d Historiker der griechischen Musik) u n d Dikaiarchos von Messene, die Seele - im Einklang mit einer gewissen altpythagoreischen Lehre, die schon in Piatons Phaidon widerlegt wird - nur f ü r die Harmonie des Leibes erklären (Dikaiarchos genauer f ü r eine harmonische Mischung aus den vier Elementen des Körpers), deren Existenz mit dem T o d e vergeht. Der selbständigste philosophische wie überhaupt wissenschaftliche Kopf aber der peripatetischen Schule ist STRATON VON LAMPSAKOS, der um 2 8 8 der Nachfolger des Theophrast wird. Seine wissenschaftliche Selbständigkeit zeigt Straton vor allem auf dem Gebiet der speziellen Physik: so schon in seiner Lehre von der Schwere aller Stoffe, im Gegensatz zum aristotelischen Dogma von den „eigenen Orten" der vier Elemente und den absolut leichten und absolut schweren Körpern. Dadurch wird
Der alte Peripatos
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Aristoteles* dualistische Auffassung von der Körperwelt grundsätzlich ü b e r w u n d e n . W a h r h a f t original aber zeigt sich der Physiker Straton erst in seiner - damals geradezu u n e r h ö r t e n Lehre von dem Element der Luft. Die L u f t - so stellt er unter grundsätzlicher u n d umfassender A n w e n d u n g des Experimentes fest - ist ein aus unsichtbaren kleinen Körperchen (Molekeln) bestehender Stoff, der alle dem gewöhnlichen Menschen leer erscheinenden R ä u m e u n d Gefäße erfüllt u n d bei starker Z u sammenpressung sogar erheblichen körperlichen Widerstand zu leisten vermag. Im Z u s a m m e n h a n g hiermit entwickelt nun Straton eine neuartige Lehre von der Z u s a m m e n s e t z u n g aller sichtbaren Körper: ihnen allen - mit alleiniger A u s n a h m e des D i a m a n t e n - sind in unsichtbar kleinen Ausdehnungen unzus a m m e n h ä n g e n d e Vacua beigemischt. W o aber einmal „wider die N a t u r " , d. h. durch den Menschen ein zusammenhängendes V a c u u m entsteht, d a s t r ö m t sofort der benachbarte Stoff, d. h. die Luft, in dieses ein (der später sogenannte „ h o r r o r vacui"). Diese seine Lehre von den u n z u s a m m e n h ä n g e n d e n Vacua verw e n d e t n u n Straton, auch hierin original, zur Erklärung der verschiedensten physikalischen Vorgänge, wie der Fortpflanzung der W ä r m e u n d des Lichts, aber auch der magnetischen Kraft u n d der tierischen Elektrizität. Hiernach k a n n m a n gespannt darauf sein, wie dieser selbständige Kopf sich zu den philosophischen Grundlehren des Meisters gestellt hat. V o r w e g m u ß leider gesagt werden, d a ß wir n u r äußerst t r ü m m e r h a f t e Nachrichten d a r ü b e r haben, so d a ß unser Wissen über seine Philosophie durchaus fragmentarisch bleibt, aber das Wichtigste k ö n n e n wir doch noch mit Sicherheit erkennen. Im Gegensatz zu den Atomisten n i m m t Straton Körperwelt wirkende Kräfte an, die, an die Stoffe Substrat gebunden, diesen eigentümlich sind und deren eigenschaften bedingen. D e n n seine N a t u r a n s c h a u u n g die des alten Peripatos ü b e r h a u p t , durchaus dynamisch,
in der als ihr Grundist, wie genauer
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Aristoteles
eine Synthese von mechanistischen und dynamischen Prinzipien. Aber die Ätherlehre des Aristoteles und damit dessen ganze dualistische Kosmologie hat Straton offenbar aufgegeben, da er die Substanz des Himmelsgewölbes für feurig erklärt hat. Und seine Behauptung, daß die Gestirne von der Sonne ihr Licht erhielten, scheint darauf hinzuweisen, daß er nicht wie Piaton und Aristoteles und die meisten anderen griechischen Philosophen die Himmelskörper für beseelte, vernünftige, ja göttliche Wesen gehalten hat. Der Kardinalunterschied aber zwischen der Weltanschauung des Aristoteles und des Straton besteht darin, daß dieser das aristotelische Fundamentaldogma vom ersten Beweger grundsätzlich aufgegeben hat und als schöpferische, der Materie innewohnende Urkraft für alles Werden und Vergehen die „Natur" angenommen hat, wobei er aber jede anthropomorphe, vor allem jede teleologische Naturanschauung radikal verwirft. Also nicht Transzendenz, sondern Immanenz der Urfaktoren allen Werdens und Vergehens ist das entscheidende Merkmal der stratonischen Weltansicht. Hierzu stimmt auch seine Psychologie. Erst durch die Untersuchung von Hans Poppelreuter ist der tiefgreifende Unterschied zwischen der Auffassung des Aristoteles und der des Straton zu voller Klarheit gebracht worden: Bei der Ansicht des Aristoteles von Entstehung und Verlauf der Wahrnehmung kann von einem Analogon zur heutigen Erkenntnis von der Bedeutung der Empfindungsnerven noch keine Rede sein, da Aristoteles noch gar nicht gelehrt hat, daß der psychische Akt der Wahrnehmung ausschließlich in dem Zentralorgan stattfindet. Denn für Aristoteles war es überhaupt noch kein Problem, wo und wodurch dieser Akt erfolgt. Für Aristoteles ist das äußere Organ mitsamt seiner Verbindung mit dem Zentralorgan (d. h. mit dem Herzen) und mit dem zugehörigen Teile dieses letzteren ein einziges Organ, das in jedem seiner Teile Träger psychischer Empfindung sein kann. Straton aber erkennt bereits, daß die die Außenwelt mit dem Bewußt-
Der alte Peripatos
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seinszentrum verbindenden Organe nur Träger von Reizen sind, die erst in diesem Zentrum zu psychischen Empfindungen umgesetzt werden. Nach Aristoteles hat nur der Urgrund (αρχή) der Seele seinen Ort an einer Stelle im Herzen. Die „wahrnehmende Seele" aber vollzieht nach Aristoteles schon in den äußeren Organen selbst die Wahrnehmung. Dagegen kommen nach Straton nicht nur Affekte, sondern auch die Wahrnehmungen erst im Bewußtseinszentrum (ήγεμονικόν) und nicht schon an den betreffenden Stellen des Körpers zustande, d. h. erst im Hegemonikón werden sie in Bewußtseinszustände umgesetzt. Ebenso entstehen Schmerz- und Tastempfindungen als solche nicht an den betreffenden Stellen, sondern erst in der Seele, nach der sie durch das Pneuma übermittelt werden. Diese Leitung durch das Pneuma zur Seele - das Bewußtseinszentrum liegt nach Straton im vorderen Teile des Gehirns - kann unter Umständen durch den Menschen willkürlich unterbrochen werden (durch Abschnüren des betreffenden Gliedes etc.). Erst Straton also hat eine Auffassung vertreten, die der heutigen von der Bedeutung der Empfindungsnerven analog ist. Nur die Seele ist die Kraft, durch die sämtliche Vorgänge im Bereich unseres Körpers zum Bewußtsein kommen, nachdem sie ihr durch das Pneuma übermittelt sind. Straton wahrt daher im Gegensatz zu seinen Vorgängern durchaus die Einheit der Seele. Das zeigt auch seine Auffassung vom Verhältnis zwischen Wahrnehmen und Denken: Wahrnehmen ohne Denken ist unmöglich. Und ebenso setzt das Denken, d. h. die Anschauung (Vorstellung), vorherige Wahrnehmung voraus. In Wahrheit gibt Straton den Unterschied zwischen Wahrnehmen und Denken als getrennter Grundkräfte der Seele auf; denn er betrachtet die Sinne nur als Werkzeuge der durchaus einheitlichen Seele. Daher, weil kein Wahrnehmen ohne Denken möglich, schreibt Straton - im Gegensatz freilich zur gesamten griechischen Psychologie seit Alkmaion von Kroton - auch den Tieren Capelle, Griechische Philosophie
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Aristoteles
Denkfähigkeit zu. Die einheitliche Seele aber ist dem Leib des Lebewesens, auch des Menschen, immanent; von ihrer Präoder Postexistenz kann bei Straton keine Rede sein. Straton hat also auch völlig konsequent des Aristoteles Lehre vom νοΰς χωριστός aufgegeben. Übrigens sind uns bei dem Neuplatoniker Olympiodor noch Stratons Widerlegungen der Unsterblichkeitsbeweise in Piatons Phaidon erhalten. Straton von Lampsakos ist - er, der einzige Peripatetiker Monist auf scharf empirischer Grundlage und zugleich, wie wir sahen, der in modernem Sinne exakteste Naturforscher der Antike. Mit Recht hat er daher schon im Jahrhundert nach seinem Tode den auszeichnenden Beinamen „der Physiker" erhalten 1 .
F. Die hellenistische Philosophie Die ungeheure Umwälzung, die durch das Auftreten ALEXANDERS DES GROSSEN im gesamten geistigen und sozialen Leben der griechischen Nation erfolgt und das Zeitalter des Hellenismus heraufführt, ist auch für die weitere Entwicklung der Philosophie von schlechthin epochemachender Bedeutung. Das mag hier nur an der ungeheuren Wandlung im sozialen Denken des griechischen Menschen beleuchtet werden. Aristoteles hatte seinem einstigen Zögling, dem jugendlichen Alexander, vor seinem Aufbruch nach Asien den Rat gegeben, die Griechen wie ihr Führer, die Barbaren wie ihr Herr zu behandeln, für die Griechen wie für seine Freunde und Verwandten zu sorgen, die Barbaren dagegen wie Haustiere und Nutzpflanzen zu gebrauchen. Erschienen ihm doch die Barbaren infolge ihrer inferioren Natur als geborene Sklaven, die Griechen dagegen dank ihrer geistigen Überlegenheit und ihrer stolzen Kultur als 1 Im übrigen sei auf des Verfassers Artikel „Straton von Lampsakos" in der Realenzyklopädie der klass. Altertumswissenschaft verwiesen.
Die hellenistische Philosophie
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deren „geborene Herren". Alexander hat bekanntlich diesen Rat nicht befolgt, sondern gerade in entgegengesetztem Sinne gehandelt. Durch die ungeheuren sozialen Umwälzungen, die durch seine Kulturpolitik verursacht sind, hat sich das innere Verhältnis des Griechen gegenüber „Barbaren", d. h. allen nichtgriechischen Völkern, von Grund aus geändert. Daher verwirft 100 Jahre nach Aristoteles einer der feinsten Köpfe der griechischen Wissenschaft, ERATOSTHENES VON KYRENE, jene Zweiteilung der Menschheit durchaus, ja, er lobt sogar Alexander, weil er den Rat des Aristoteles nicht befolgt und dadurch seine Herrschaft vor unabsehbaren Kriegen, Verbannungen und Aufständen bewahrt habe. Denn nicht der Unterschied von Griechen und Barbaren sei ein haltbares Prinzip zur Einteilung der Völker des Erdballes, sondern allein der sittliche Wert oder Unwert des Menschen, der einzelnen wie der Völker. Oder, wie Eduard Schwartz 1 einmal den Gedanken des Eratosthenes formuliert hat: „Die Völker darf man verschieden schätzen nur nach der Höhe ihrer Gesittung und Kultur, nicht nach der Rasse". Aber dies ist nur die eine Seite der durch Alexander im Denken des griechischen Menschen verursachten tiefgreifenden Wandlungen. Viel bedeutsamer noch ist der Wandel in der griechischen Welt- und Lebensanschauung überhaupt. Das griechische Denken und Fühlen, das letzten Endes in der Polis, dem griechischen Bürgerstaat, verankert war, ist durch diese Umwälzung entwurzelt. Und durch die eigentümliche Durchdringung griechischer Kultur mit orientalischen Anschauungen, wie sie eben für den Hellenismus charakteristisch ist, wird auch das philosophische Denken der Folgezeit weithin beeinflußt. Das erkenntnistheoretische und metaphysische Interesse tritt, wenn es sich auch bei einzelnen Denkern noch durchaus produktiv erweist, im allgemeinen doch stark in den Hintergrund 1
7*
Charakterköpfe II 85.
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Die hellenistische Philosophie
gegenüber der praktisch-ethischen Frage nach den Grundlagen der menschlichen Glückseligkeit, deren Lösungsversuche sich fast sämtlich in der Richtung bewegen, dem einzelnen das seelische Gleichgewicht und die innere Selbstbehauptung gegenüber allem äußeren Geschehen zu retten. Logik (einschließlich der Erkenntnistheorie) und Physik (einschließlich der Metaphysik) erscheinen daher im allgemeinen jetzt nur noch als Hilfswissenschaften der alles beherrschenden Ethik.
I. Die alte Stoa Vorbemerkung: Vor einigen Jahren ist ein Werk über die Stoa erschienen, das an Bedeutung alle mir bekannten Werke darüber weit überragt: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung von MAX POHLENZ. Göttingen 1948, dazu Band II (Erläuterungen) 1949. Der Verfasser legt hierin die Ergebnisse fünfzigjährigen Forschens in souveräner Meisterung eines nahezu unübersehbaren Quellenstoffes und der fast ebenso unübersehbaren modernen wissenschaftlichen Literatur darüber von philologischer, philosophischer und historischer Seite vor. Er bietet daher fast auf jeder Seite über die Stoa als Ganzes und über ihre einzelnen Lehren und Schriften eine Fülle neuer Erkenntnisse und oft geradezu überraschende Entdeckungen hinsichtlich historischer, philosophischer oder literarischer Zusammenhänge ebenso wie über die führenden Persönlichkeiten der alten, mittleren und späten Stoa. Es kann der Verfasser dieses Grundrisses nur als ein besonderes Glück betrachten, daß es ihm vergönnt war, dies Standardwerk durchzuarbeiten und seine wichtigsten Ergebnisse an manchen Stellen dieser Darstellung zu verwerten, ohne dafür den Autor jedesmal nennen zu können. Ich verweise aber alle diejenigen, die sich für die Stoa wie für die stoische Weltanschauung überhaupt ernsthaft interessieren, nachdrücklich auf dies einzigartige Werk, dessen
Die alte Stoa
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eindringliches Studium den Jüngern der Philosophie und der klassischen Philologie und nicht zuletzt der wissenschaftlichen Theologie nicht genug empfohlen werden kann. Die außerordentliche, lichtvolle Klarheit und begriffliche Schärfe der Darstellung, durch die sich die Arbeiten von Max Pohlenz stets ausgezeichnet haben, macht dies Studium dem ernsten Leser nicht nur zu einer unerschöpflichen Quelle der Belehrung, sondern gewährt ihm auch einen hohen ästhetischen Genuß. Die Stoa bedeutet die zweite große Philosophie des Hellenismus, die es ebenso wie Epikur als die Aufgabe der Philosophie betrachtet, den Menschen auf Grund einer wissenschaftlich fundierten Lebensanschauung zur Glückseligkeit zu führen. Sie hat auch - und diese Tatsache ist ebenfalls von kardinaler Bedeutung - den Grundstandpunkt mit Epikur gemeinsam, daß das wahre Glück des Menschen allein von ihm selber abhängt. Dieser Standpunkt ihres Gründers Zenon ist in ihrer mehr als fünf hundertjährigen Geschichte niemals verlassen worden. Kommt er doch noch im zweiten Jahrhundert n. Chr. in Epiktet in wahrhaft vorbildlicher Weise zur Erscheinung. Doch ist die Grundauffassung der Stoa von dem Makro- wie von dem Mikrokosmos von der des Epikur durch Welten geschieden: Wenn ich die Lebensanschauung des Epikur als durchaus quietistisch und egoistisch, beziehungsweise utilitaristisch bezeichnet habe, so ist dagegen die der Stoa in des Wortes tiefstem Sinne aktivistisch und altruistisch, denn sie will den Menschen aufrufen zu ständiger sittlicher Arbeit an sich selbst und in der menschlichen Gemeinschaft. Ist doch der Mensch, mit Marc Aurel zu reden, ein | φ ο ν κοινωνικόν. Auch darf man sagen, während die Lebensanschauung des Epikur auf ein resigniertes schöngeistiges Genießertum hinauskommt, dem jeder, aber auch jeder Antrieb zur Tat, überhaupt zum Handeln, geschweige denn zur Arbeit fehlt, ist dagegen die stoische Weltanschauung, vor allem in ihrer Ethik, durchaus idealistisch, von der Höhe und Berufung des gottentsprossenen Menschen
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und seiner fundamentalen Aufgabe durchdrungen. Und viele ihrer Anhänger haben dies Ideal in ihrem eigenen Leben verwirklicht. Wie denn der französische Gelehrte Martha in seinem Buch Les moralistes sous l'empire Komaine von Epiktet einmal sagt: „Sa vie est conforme à sa doctrine." Und während die fünfhundertjährige Geschichte der Stoa eine geradezu ungeheure Denkarbeit ihrer großen Häupter, eines Zeno und Chrysipp, eines Panaitios und Poseidonios bedeutet, der ihre ungeheure literarische Produktion entspricht, kann man von Epikur und seiner Sekte - abgesehen von dessen uns verlorenen Schriftenmassen - wirklich nichts Ähnliches sagen, wie denn von einer Geschichte des Epikureismus wirklich keine Rede sein kann. Wir treten daher an die Geschichte der Stoa nicht ohne Spannung heran. Es sind aber unserer Darstellung der stoischen Philosophie noch zwei wichtige Tatsachen vorauszuschicken, die erst Pohlenz in hellstes Licht gestellt hat. Die eine betrifft die völkische Herkunft der Gründer der Stoa, des Zenon von Kition (auf Zypern) und des Chrysippos von Soloi (in Kilikien). Beide sind von semitischer, jedoch stark hellenisierter Herkunft. Es ergibt sich daher für die Forschung ein wichtiges Problem, das Pohlenz so formuliert hat: „Wir müssen das stoische Lehrsystem selbst ständig daraufhin prüfen, ob wir in ihm unhellenische Bestandteile feststellen, und dann fragen, ob diese sich aus dem, was wir über phönikische Geistesart vermuten können, erklären."1 Dieser Gesichtspunkt ist methodisch zuerst von Pohlenz konsequent durchgeführt worden. Das Zweite ist seine klare Darstellung der Situation der griechischen Philosophie um das Jahr 300 v. Chr. und insbesondere seine ätiologische Erklärung der Tatsache, daß die Stoa dank Zenon und Chrysipp an Ansehen und Geltung die platonische Akademie und den Peripatos des Aristoteles völlig * Die Stoa I S. 31.
Die alte Stoa
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in den Schatten gestellt und auf Jahrhunderte unter den vier Philosophenschulen Athens den Primat behauptet hat. Entscheidend dafür ist einmal die Logos-Philosophie Zenons, der hierbei auf das stärkste, ja, maßgebend durch die Logos-Lehre des Herakleitos beeinflußt ist. Die metaphysische Nus-Lehre des Aristoteles erwies sich dagegen zur Erklärung dieser sichtbaren Welt als völlig ungeeignet. Ganz anders die Logos-Lehre des Zenon. Wurde doch der Begriff des Logos, der den Impuls zum Wirken in sich birgt, durch Zenon infolge seines andersartigen Lebensgefühls zum Kardinalbegriff der ganzen stoischen Philosophie, nicht nur der Logik, sondern ebensosehr der Physik (der auch die Psychologie einbegreift) und der Ethik. Ist doch der Mensch ein vernunftbegabtes Wesen (Logikón zóon), das durch den in ihm wirkenden und sich rastlos betätigenden Logos zu dem Weltenlogos in engster Verwandtschaft steht. Durch diese alle „Teile" der Philosophie beherrschende LogosIdee wurde so in glücklichster Weise die innere Einheit der gesamten Philosophie begründet. Die zweite fundamentale Tatsache für den dauernden Primat der Stoa ist das Auftreten und die singulare Wirkung des Chrysipp, der mit Recht der zweite Gründer der Stoa genannt wurde. „Erschien Chrysippos nicht, dann wär' die Stoa nicht." ZENON aus Kition auf Cypern, Schüler des Kynikers Krates, dann des Megarikers Stilpon, gründet nach langjährigen Studien um 300 vor Chr. in Athen die stoische Schule, die ihren Namen von der „Stoa poikile", der mit bunten Gemälden geschmückten Säulenhalle führt, wo er seine Schüler um sich zu versammeln pflegte. Wir unterscheiden in der Geschichte der Stoa drei Perioden: die alte (300 bis etwa 130 v. Chr.), die mittlere (von 130-50 v. Chr.) und die spätere Stoa (von 50 v. bis ins 3. Jahrhundert n. Chr.). Die wichtigsten Häupter der alten Stoa sind (außer Zenon) Kleanthes aus Assos in der Landschaft Troas und vor allem CHRYSIPPOS aus Soloi in Kilikien (geboren zwischen 281 und 277, Schulhaupt 232-204). Unter Chrysippos
104
Die hellenistische Philosophie
wird die Stoa, die unter den Angriffen und der Konkurrenz zeitgenössischer
Philosophen
anderer
Richtung
unterzugehen
drohte, die einflußreichste Philosophenschule Athens. Chrysippos vermag es dank seiner eminenten dialektischen Begabung und seiner beispiellosen literarischen Produktion (über 700 Schriften, davon 311 Bücher zur Logik), die Gestalt der stoischen Lehre auf Jahrhunderte hinaus zu bestimmen und gegen alle Angriffe erfolgreich zu verteidigen. Die mittlere Stoa, deren hervorragende Führer Panaitios von Rhodos (Scholarch bis etwa 110 v. Chr.), danach Poseidonios aus dem syrischen Apameia waren, ist durch das Bestreben ausgezeichnet, die entscheidenden Gegensätze zwischen der Stoa und der platonisch-aristotelischen Philosophie in Form eines gewissen Eklektizismus auszugleichen. Durch Panaitios und Poseidonios dringt die Stoa siegreich in die römische Welt ein. POSEIDONIOS ist nach Aristoteles der größte Universalgelehrte der Antike und zugleich im Bereich der Fachwissenschaften ein selbständiger, schöpferischer Forscher hohen Ranges, dessen gesamte wissenschaftliche Arbeit in engem innerem Zusammenhang mit seiner Philosophie steht. Auch Poseidonios ist ein wirklich bedeutender und zugleich höchst produktiver Schriftsteller. Vertreter
der
späten
Stoa
sind
insbesondere
MUSONIUS,
SENECA (dieser jedoch kein „reiner" Stoiker), dann insbesondere der phrygische Freigelassene EPIKTET und Kaiser MARC AUREL. Daneben geht eine gelehrte Richtung einher, die, wie dies auch Epiktet tut, wieder zur Chrysippischen Orthodoxie zurückkehrt (Cornutus und Hierokles). Grundlage der folgenden Darstellung ist im allgemeinen die Orthodoxie des Chrysippos. Das Wesen des Denkens hat schon Piaton im Theätet als ein Sprechen, genauer als ein Sich Unterreden
(διαλέγεσθαι)
der
Seele mit sich selbst zu bestimmen gesucht, aber erst der zweisprachige Zenon hat den inneren Zusammenhang von Denken
Die alte Stoa
105
und Sprechen erkannt und genauer untersucht, wie ja ein Denken nur in Form von Worten möglich ist. Das Denken und die Sprache sind daher unlöslich miteinander verbunden. So wurde für Zenon auch die Sprache als solche und ihr Verhältnis zum Denken ein philosophisches Problem. War es doch sein „eigenster Gedanke, dai? das Sprechen genau so als Erscheinungsform des Logos zu berücksichtigen sei wie das Denken". Er ist daher, zumal infolge seiner ständigen Vergleichungen des Griechischen mit seiner phönikischen Muttersprache, dahin geführt worden, sich eindringend auch mit sprachlichen Forschungen zu befassen. Ja, er hat bereits den Grund zu einer griechischen Grammatik gelegt, wobei er - abgesehen von der Lautlehre - nicht nur die Hauptformen der Flexion (d. h. von Deklination und Konjugation) klargestellt, sondern auch eine eigentümliche Tempuslehre begründet hat. Er unterscheidet nur zwei Hauptgruppen der Verbalformen, d. h. solche, die die Fortdauer einer Handlung, und solche, die ihren Abschluß bezeichnen. Er läßt daher die Unterscheidung der Verbalformen nach Zeitstufen, wie dies schon Aristoteles getan hatte, völlig unberücksichtigt. Eine Tatsache, die zuerst Pohlenz beachtet und ihre Ursache in dem semitischen Sprachgefühl des Zenon erkannt hat. Denn die semitischen Sprachen, so auch das Phönikische und das Hebräische, kennen nur die Einteilung der Tempora in solche, die eine Dauer, und in solche, die den Abschluß einer Handlung bezeichnen. Diesen Punkt seiner Sprachlehre hat freilich die wissenschaftliche Griechische Grammatik alsbald abgelehnt und Aristoteles' Unterscheidung nach Zeitstufen wiederaufgenommen. Doch haben im übrigen Zenons Wertung der sprachlichen Erscheinungen und seine grundlegenden Ergebnisse hierüber einen so tiefen Eindruck auf seine Nachfolger gemacht, daß fortan in der stoischen Philosophie als zweiter Teil der Dialektik die sogenannte Rhetorik gelehrt wurde, wobei zu dieser vor allem Grammatik, Stilistik und sogar Metrik gerechnet wurden.
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Die hellenistische Philosophie
Die stoische Sprachphilosophie und vor allem die stoische Sprachlehre hat auf die Folgezeit, besonders auch auf die Römer (Varrò), so tief eingewirkt, daß sie bis auf den heutigen Tag in dem Lehrbetrieb der Alten Sprachen im Bereich der abendländischen Kultur Geltung hat. Z u einem ganz anderen, seit den Tagen der alten Sophisten viel erörterten Problem, im Grunde sprachphilosophischer Natur, hat auch Zenon und seine Nachfolger in charakteristischer Weise Stellung genommen, zu dem Problem nämlich, ob die menschliche Sprache von Natur (Physei) oder durch menschliche Satzung (Thesei), d. h. willkürlich entstanden sei. Zu dieser Streitfrage hat die Stoa eine vermittelnde Stellung eingenommen: die Natur sei die eigentliche Urquelle, die den menschlichen Namengebern, d. h. Sprachbildnern, den Weg gewiesen habe. Die Sprache nähme ihren Ursprung eben Physei und Thesei. Das Problem des Verhältnisses von Denken und Sprechen hat gerade auch die alte Stoa stark und nachhaltig beschäftigt. Hierbei wurde auch das Wesen der menschlichen Sprache nicht nur von den Lauten der Tiere scharf unterschieden, sondern gerade infolge des Vergleiches mit diesen schärfer, ja abschließend bestimmt. Konnte doch schon Diogenes von Babylon, ein Schüler des Chrysipp, erklären: „Die Sprache ist eine Stimme, die vom Denkvermögen (άπό διανοίας) ausgesandt wird und die Dinge bezeichnet". Es sind eben im Menschen, und nur in ihm, die Denkfähigkeit und die Sprache unlöslich als ein Ganzes innerlich verbunden.
a) Die altstoische Logik (insbesondere die
Erkenntnistheorie)
In dem Lehrgang der stoischen Philosophie stellt Chrysippos die Logik als Grundlage der anderen beiden Teile voran. Gegliedert wird die Logik in Dialektik und Rhetorik, denn der
Die alte Stoa
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Logos begreift ja das gesprochene Wort und seine Erscheinungsformen ein. Zur stoischen Dialektik, d. h. der Logik in eigentlichem Sinne, aber gehören, abgesehen von den Definitionen, vor allem die Erkenntnistheorie (und Sinnesphysiologie) sowie die Lehre von den Urteilen und Schlüssen. In der Erkenntnistheorie geht die Stoa teilweise neue und folgenreiche Wege. Nach ihnen - auch hier hat Chrysippos der Lehre die endgültige Form gegeben - verläuft der normale Erkenntnisprozeß in seinen einzelnen Stadien folgendermaßen: die durch das Sinnesorgan dem Hegemonikón (d. h. dem führenden Seelenteil, der Vernunft) übermittelte und von diesem aufgenommene Bewegung ruft in diesem eine Vorstellung (φαντασία) hervor, ein Vorgang, den Zenon als einen Abdruck (τΰπωσις) in der Seele erklärt, und Kleanthes durch den Vergleich mit dem Abdruck eines Siegelrings im Wachs veranschaulicht hatte. Diese Auffassung berichtigte Chrysippos, da unmöglich in dem Hegemonikon zu derselben Zeit die verschiedensten Abdrücke stattfinden bzw. sich erhalten könnten, von denen ja immer der letzte die früheren verwischen würde. Er beschränkte sich daher, in Ermangelung eines geeigneten Bildes, darauf, die Vorstellung als eine Veränderung der Seele (d. h. des Hegemonikon) zu bezeichnen. Er beobachtete auch schon, daß die Vorstellung (φαντασία) - ähnlich wie das Licht - sich selbst und den sie verursachenden Gegenstand zum Bewußtsein des Subjektes bringt. Ihrem Ursprung nach unterscheidet er φαντσαίαι αίσθητικαί, d. h. Vorstellungen von sinnlich wahrnehmbaren Dingen, und φαντασίαι λογικαί, d. h. Vorstellungen, die sich uns aus vernünftigem Denken ergeben haben, ζ. B. die von der Vorsehung. Durch die Masse der sich dem Menschen aufdrängenden Vorstellungen kommt aber noch keine Erkenntnis zustande. Denn stimmt das Hegemonikon einer Vorstellung zu, d. h. nimmt es sie als die Wirklichkeit reproduzierend an, ohne sie zu prüfen, dann entsteht nur eine Meinung (Doxa), keine wirkliche Er-
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Die hellenistische Philosophie
kenntnis. Erkenntnis entsteht erst auf Grund einer kataleptischen Vorstellung (φ. καταληπτική), d. h. einer solchen, die durch ihre unmittelbare Evidenz (ένάργεια) den Geist zur Zustimmung (συγκατάθεσις) veranlaßt, sie als zutreffend (der Wirklichkeit entsprechend) anzuerkennen. Mit dieser Zustimmung, von der es abhängt, ob sich der Geist die Erkenntnis durch „Erfassen" zu eigen macht oder nicht, scheint es freilich eine eigene Bewandtnis zu haben: „Sie scheint ein zwiefacher Vorgang zu sein und einerseits etwas Unfreiwilliges (Erzwungenes) zu haben, andererseits etwas Freiwilliges, das in unserer Entscheidung liegt. Denn eine Vorstellung empfangen war etwas Ungewolltes, d. h. geschah ohne unser Zutun und stand nicht in der Macht des Empfängers (eigentlich des Leidenden, denn auch eine Vorstellung ist ein πάθος), sondern es lag in der Gewalt des die Vorstellung erzeugenden Gegenstandes, daß die Seele in einen solchen Zustand versetzt wurde; dagegen lag die Zustimmung zu dieser Bewegung, d. h. zu der Vorstellung, in der Macht dessen, der die Vorstellung annahm" 1 . Diese Zustimmung also ist eine Tat des Hegemonikon, d. h. des Ich, und sie ist das entscheidende Moment bei der wirklichen Erkenntnis einer kataleptischen Vorstellung gegenüber. Denn sie ist ein Urteil, das allein von der Entscheidung des Hegemonikon abhängt. Analog jener inneren Zustimmung von uns bei Fassung eines Entschlusses, auf Grund dessen wir handeln. „Eine kataleptische Vorstellung aber ist eine solche, die entsteht infolge eines wirklich vorhandenen Dinges, die sich entsprechend eben diesem Vorhandenen eingeprägt und eingedrückt hat. Akataleptisch (nicht erfassend) ist dagegen die Vorstellung, die nicht auf Grund eines wirklich vorhandenen Dinges entsteht, oder falls doch auf Grund eines solchen, nicht eben diesem Vorhandenen genau entsprechend erfolgt." (Chrysipp fr. 53.) Zur Veranschaulichung dieser Unterscheidung mag man aus Goethes Erlkönig 1 Bericht des Sextus adv. math. Vili 396 i. über die altstoische Lehre = Chrysipp fr. 91.
Die alte Stoa
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die Vorstellung des Knaben von „Erlkönigs Töchtern am düsteren Ort" als Beispiel einer akataleptischen, dagegen die des Vaters von den „alten Weiden so grau" als Beispiel einer kataleptischen Vorstellung nehmen. Natürlich gibt es kataleptische Vorstellungen auf Grund sinnlicher Wahrnehmungen und solche auf Grund logischen Denkens, so insbesondere in der Mathematik. Diese kataleptische Vorstellung ist das „Kriterium der Wahrheit". Doch haben alle Vorstellungen, auch die kataleptischen, ihren Ursprung in der sinnlichen Wahrnehmung (αΐσθησις). Insofern ist freilich die stoische Erkenntnistheorie durchaus sensualistisch. Aber nun erfolgt durch Zenon die entscheidende Einschränkung dieses Sensualismus, in schräfstem Gegensatz zu Epikur. Da der Mensch nach stoischer Grundlehre, die übrigens der Anschauung eines Sokrates, Piaton und Aristoteles völlig entspricht, schon „von Hause aus" ein vernünftiges Wesen ist, in dem der Logos die ihn von allen anderen Wesen unterscheidende und maßgebende Potenz ist, so mußte das erste Anliegen Zenons sein, die Autonomie, die absolute Unabhängigkeit des Logos im Menschen, zu wahren. Das aber geschieht durch seine Lehre von der „kataleptischen Vorstellung". Denn diese kann überhaupt nur ein vernünftiges Wesen haben, d. h. in sich dank der Vernunft entstehen lassen, die zu der sinnlichen Wahrnehmung hinzutritt als ein von dieser nicht erzeugter, sondern zu ihr hinzutretender, von sich aus unabhängiger Faktor. Denn ob er einer Vorstellung (Phantasma) seine Zustimmung (Synkatáthesis) erteilt oder nicht, das hängt nur von ihm ab. Und wenn er ihr eine solche Zustimmung gibt, tut er dies nur auf Grund einer vernünftigen Prüfung der Merkmale des betreffenden Dinges, eben dank seiner kataleptischen Vorstellung. Aus den Vorstellungen entwickeln sich im Laufe der Entwicklung jedes einzelnen Menschen vom siebenten, vor allem aber mit Eintritt der Pubertät vom vierzehnten Jahre an die Begriffe, zuerst unbewußt, und dann unter Beistand des Ge-
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dächtnisses die Gattungsbegriffe (προλήψεις), zum Teil aber erst durch Schulung und Übung in der Dialektik. Der Weise hat natürlich nur kataleptische Vorstellungen und auf Grund dieser, ebenfalls unter Mitwirkung des Gedächtnisses, die Erfahrung (Empeiria). Dagegen bilden sich die höheren, insbesondere die sittlichen Begriffe, erst auf Grund innerer Erfahrung und Wertung der Dinge. Neben der Erkenntnistheorie hat die alte Stoa (Chrysippos) besonders die Logik in engerem Sinne als Lehre von den Urteilen und den Schlüssen und Beweisen mit besonderem Eifer gepflegt. Wenn auch auf ihre Lehre vom Urteil (αξίωμα) 1 hier nicht weiter eingegangen werden kann, so ist doch ihre Lehre vom wissenschaftlichen Beweis, d. h. von dessen Grundlagen, den bündigen Schlüssen, insbesondere von den hypothetischen und disjunktiven Syllogismen, von größerem Interesse. Eben diese hatten freilich schon Theophrast und insbesondere Eudemos behandelt; sie hatten auch schon deren fünf Grundformen festgestellt. Diese hat Chrysipp als sogenannte Tropen übernommen und folgendermaßen formuliert 2 : 1. Wenn es Tag ist, ist es hell - es ist aber Tag - also ist es hell (auf Buchstabenformel gebracht: Wenn A ist, ist auch Β - nun ist aber A - also ist auch B). 2. Wenn es Tag ist, ist es hell, - es ist aber nicht hell - also ist es nicht Tag. (Wenn A ist, ist auch Β - es ist aber nicht Β also ist auch nicht A.) 3. A und Β sind nie zugleich - es ist aber A - also ist nicht B. 5. Entweder ist A oder Β - es ist aber nicht A - also ist B. 1 St. V. F. II, p. 62, 33 ff. ' St. V. F. II p. 80, 33 ff. Er nannte diese fünf Schlußformen ά ν α π ό δ ε ι κ · TOI. weil sie unmittelbar evident und daher unwiderleglich, keines Beweises bedürfen.
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Zur Erläuterung dieser fünf Arten von Schlüssen bedient sich Chrysipp absichtlich dieser primitiven Beispiele, deren Schema aber natürlich auch auf alle möglichen konkreten Fälle aus dem Bereich der Physik oder Ethik angewendet werden kann, wo der Inhalt des Schlußsatzes noch unbekannt ist. Er definiert daher den Begriff des wissenschaftlichen Beweises so: „Beweis (Apodeixis) ist ein Schlußverfahren, das auf Grund anerkannter Voraussetzungen schließend einen bis dahin unbekannten Schlußsatz (Epiphora) enthüllt." 1 Natürlich diente ihm diese ganze Syllogistik zum Unterbau seiner gesamten Weltanschauung. Wenn auch der Raum nicht erlaubt, auf die altstoische Logik weiter einzugehen, so sei doch betont, daß diese erst Pohlenz, insbesondere gegenüber Prantl und nach ihm Zeller, voll gewürdigt und dabei auch neue wertvolle Ergebnisse gewonnen hat. b) Die Physik ZENON, der Gründer der stoischen Weltanschauung, sucht den platonisch-aristotelischen Dualismus in Form eines stark materialistischen Monismus zu überwinden. Die metaphysische Grundlage zur Erreichung dieses Zieles bot ihm die Weltanschauung des Herakleitos von Ephesos (vgl. Band I S. 68). Diese ist daher die Basis der gesamten stoischen Physik; daneben sind einzelne Züge dieser der Naturlehre des Aristoteles entlehnt. Wie Karl Praechter treffend gesagt hat, zeigt sich in der Entwicklung der griechischen Metaphysik seit Piaton, mit Aristoteles in seiner Lehre vom Verhältnis von Stoff und Form bereits deutlich beginnend, immer stärker die Tendenz, die Immanenz an Stelle der Transzendenz zu setzen: schon bei Theophrast ist diese Neigung gegenüber Aristoteles unverkenn1
St. V. F. II, p. 89, 9 ff.
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bar; vollends durchgeführt aber ist die Immanenz bei Straton von Lampsakos (S. 94 unten) und andererseits, wenn auch in wesentlich anderer Form, in der Stoa. Nicht ohne Anlehnung an aristotelische Grundanschauung unterscheidet diese zwei letzte Gründe der Dinge, ein leidendes und ein wirkendes Prinzip, die aber, wie wir sehen werden, nicht in einem absoluten Gegensatz zu einander stehen: die von Hause aus eigenschaftslose Materie (die aber, wie bei Aristoteles, in der Wirklichkeit nur bestimmt qualifiziert vorkommt) und den Logos, die Gottheit. Da aber nach stoischer Grundauffassung alles Wirkliche zugleich körperlich ist und nur Körperliches wirken kann, so ist auch die Gottheit, so gut wie die Seele, zugleich materieller Natur: feinster, unsichtbarer Stoff, aber doch Stoff, das als luftartiger Hauch gedachte Pneuma. Es stehen daher die beiden Urprinzipien der alten Stoa nicht in einem unüberbrückbaren Gegensatz zu einander; sie erscheinen nur graduell verschieden und sind stets und überall, wenn auch in verschiedenem Grade, miteinander vermischt. Keine Materie ohne Pneuma, kein Pneuma ohne Materie; es ist ja selbst schon feinste Materie. Begrifflich aber werden beide scharf voneinander unterschieden. Hiernach ist die Materie das rein passive, das Pneuma das ausschließlich aktive Prinzip. Dies aktive Prinzip, das alle Stoffe, alle Dinge durchdringt, hat nach der stoischen Metaphysik dreierlei Grundfunktionen: es ist Urstoff, Urkaft und zwecksetzender Geist in einer Person sozusagen, wenn man hier von Person sprechen dürfte. Es wirkt in allem Sichtbaren, in der Erdtiefe wie in der Atmosphäre und im Bereich der Gestirne ebenso wie im Gestein oder der Pflanze oder dem Lebewesen als zweckmäßig gestaltendes Prinzip, je nach dem Gesichtspunkt, unter dem man es betrachtet, als die Natur (φύσις), der Urgrund allen Lebens, aller Bewegung, als schöpferisch gestaltende Kraft, als die Vorsehung (πρόνοια), zugleich aber als Weltgesetz, ja, als das unentrinnbare Verhängnis gedacht, dem sich nichts im Himmel und auf Erden
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entziehen kann; religiös aufgefaßt, als die Gottheit schlechthin, in volkstümlicher Ausdrucksweise auch Zeus genannt, vor allem aber und mit besonderer Vorliebe - auch hier wirkt die großartige Konzeption des Herakleitos nach - als Logos, als weitbeherrschende Vernunft. Dieser Logos, als zeugungsfähige, schöpferische Urpotenz gefaßt, Logos spermatikós genannt, die alles erfüllt und durchdringt, birgt in sich wieder in unsichtbar feinsten Mengen allüberall in der Materie, wenn auch nach deren Eigenart in verschiedener Form vorhanden, d. h. diese Eigenart bestimmend, die zeugungsfähigen Einzelpotenzen, die λόγοι σπερματικοί. 1 Während aber die Materie - nicht von sich aus, sondern eben durch das in ihr ständig wirkende Prinzip in ewiger Wandlung begriffen ist, ist der Logos ihr ewig gleichbleibendes Gesetz. Auch das echt heraklitisch. Die Einheit der Welt beruht daher auf der Einheit des Urstoffes aller Dinge, der mit der Urkraft, dem Pneuma, identisch ist. Daraus ergibt sich für den Stoiker die Mitleidenschaft aller Dinge (die συμπάθεια των δλων), wie überhaupt, wie wir sehen werden, die übersinnliche Harmonie des Weltganzen (gleichfalls heraklitisch). Ja, die Häupter der alten Stoa, Zenon wie Chrysipp, glaubten auf dieser Grundlage sogar ein ganzes Lehrsystem des Weissagungs-Glaubens, die vielberufene Mantik, entwickeln zu können. Und auch mit der von Babylon hereindringenden Astrologie, die bereits von den alten Stoikern (Chrysipp vor allem) ihrem Lehrsystem bald eingefügt wurde, ließ sich diese Grundlehre von der „Sympathie aller Dinge" treffend vereinen, ganz besonders mit dem stoischen Fatalismus, der sich auf ihre Anschauung von der unentrinnbaren Verkettung aller Ursachen und der ewig gleichbleibenden absoluten Gesetzmäßigkeit allen Geschehens gründet und zum ausgesprochenen Determinismus wird. 1 Hier erkennen wir, wenn auch in vergröberter Gestalt, die Nachklänge der aristotelischen „Formen" (είδη)·
S Capelle, Griechische Philosophie
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Kosmos - Logos - Theos: Weltordnung - Weltvernunft - die Gottheit - diese Gedankenreihe ist der Stoa mehr eigen als irgendeiner anderen hellenistischen Philosophie. Diese sichtbare Welt, der Sternenhimmel vor allem, offenbart in all ihren Regionen - trotz aller scheinbaren Widersprüche und Dissonanzen - eine planvolle, überaus herrliche Ordnung, die nur das Werk einer zweckmäßigen Vernunft sein kann, die mit der Gottheit, die in allem Sichtbaren waltet, identisch ist. Ist doch die stoische Weltanschauung durchaus pantheistisch, in schärfstem Gegensatz zu dem Theismus eines Aristoteles. Diese Welt, „der Gottheit lebendiges Kleid", ist ein beseeltes, vernünftiges, göttliches Wesen, das aufs schönste und vollkommenste in all seinen Teilen - denn „alles webt sich zum Ganzen" - in übersinnlicher, nur dem Auge des Geistes erfaßbarer Harmonie eingerichtet ist - eine durchaus teleologische Weltansicht, die schon die Stoiker der ersten Generation dazu zwang, systematisch eine Theodizee zu entwickeln 1 , zumal sie mit besonderer Vorliebe den Logos als „Vorsehung" auffaßten und verherrlichten, wenn sie auch zugeben mußten, daß dieser sein Augenmerk durchaus auf die Erhaltung des Ganzen, nicht des Einzelnen, richte. Im Gegensatz zu Aristoteles, aber im Einklang mit ihrem geistigen Ahnen Herakleitos von Ephesos, lehren die Stoiker die Vergänglichkeit der Welt und dem entsprechend auf heraklitischer Grundlage die Entstehung der Welt aus dem schöpferischen Urfeuer, das der lebendige Leib des in ihm wirkenden Logos ist und in bestimmter Folge alle Dinge aus sich hervorbringt, um sie dereinst, wenn die Planeten wieder denselben Stand in demselben Sternbilde wie im Anfang zeigen, in sich zurückzunehmen, so daß sich mit dem Weltbrand (der Ekpyrosis) alles wieder ins Urfeuer auflöst, das sich alsbald anschickt, alles aufs neue, ganz in derselben Weise, in denselben 1 Vgl. hierzu meine Untersuchung „Zur antiken Theodizee", Archiv für Geschichte der Philosophie XX (1907) 173 ff.
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Formen und Gestalten, ja, in denselben Personen und Schicksalen hervorzubringen. Dies ist das stoische, auf altorphischpythagoreischer Grundlehre beruhende Dogma von der Palingenesie, der Wiedergeburt aller Dinge, die mit Notwendigkeit aus der absoluten Gesetzlichkeit allen Geschehens folgt, die in der absoluten Wesenskonstanz des Logos ihren letzten Grund hat. Es leuchtet ein, daß die Stoiker mit diesen Anschauungen des Herakleitos auch seine schon von seinen milesischen Vorgängern übernommene Lehre von den Weltperioden übernehmen mußten. Anders als Aristoteles nimmt die Stoa nur vier Elemente an, indem der Äther der Feuersphäre oder doch deren oberer Schicht gleichgesetzt wird. Aber im übrigen ist die stoische Lehre von den Elementen, die in ständigem Ubergang ineinander begriffen sind, nur, daß ganz allmählich das des Feuers in ihnen überwiegt, von der des Aristoteles aufs stärkste beeinflußt, nicht nur in der Auffassung, daß zwei der Elemente, Erde und Wasser, als die passiven, die beiden anderen, Luft und Feuer, als die aktiven aufgefaßt werden, sondern vor allem in der seltsamen, in Wahrheit nur durch Straton grundsätzlich überwundenen Lehre der aristotelischen Physik, daß die ersten beiden Elemente absolut schwer, die anderen beiden (Luft und Feuer) absolut leicht sind, und beide Elementarten ihren „natürlichen Orten" zustreben, so daß die beiden Elementenpaare, das eine mit seiner zentripetalen, das andere mit seiner zentrifugalen Tendenz, sich die Wage halten, woraus dann das Schweben der Weltkugel im unendlichen Leeren ebenso wie das Verharren des Erdballes im Mittelpunkt der Weltkugel erklärt sein sollte. Denn auch für die Stoa steht die Erde als Mittelpunkt des Weltalls vollkommen fest. Die stoische Weltanschauung ist ebenso geo- und anthropozentrisch wie die des Aristoteles. Schon im 5. Jahrhundert v. Chr. war freilich durch einen Pythagoreer, Hiketas von Syrakus, vermutet worden, daß die 8·
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tägliche Bewegung des Fixsternhimmels nur scheinbar sei, daß vielmehr die Erde sich um ihre eigene Achse bewege, während der Fixsternhimmel in Wahrheit stillstände. Und diese Entdeckung war durch Hiketas' Schüler Ekphantos dem Herakleides Pontikos, einem Schüler Piatons übermittelt worden, der aber noch an der Bewegung der Sonne um die Erde festhielt, dagegen die Planeten um die Sonne kreisen ließ. Und nun hatte um 250 v. Chr. Aristarchos von Samos, der die tägliche Achsendrehung von Herakleides übernahm, die Ansicht ausgesprochen, daß sich nicht die Sonne um die Erde, sondern die Erde auf einer zu ihrer Achse schief liegenden Jahresbahn (der Ekliptik) um die Sonne bewege. Hier war also die heliozentrische Hypothese, deren Wahrheit erst ein Kopernikus siegreich erhärten sollte, zum ersten Male in aller Deutlichkeit ausgesprochen. Wie ungeheuerlich aber Aristarchs Zeitgenossen diese Hypothese vorkam, kann man schon daraus ersehen, daß das damalige Haupt der Stoa, Kleanthes von Assos, ganz Griechenland in einer besonderen Schrift aufforderte, den Aristarch wegen Gottlosigkeit vor Gericht zu bringen. Schien ihm doch mit der altüberkommenen Anschauung von der Erde als Mittelpunkt der Welt die Gottheit selbst in ihrer Existenz bedroht. Und dabei ist dieser Aristarch von Samos der genialste, streng mathematisch denkende Astronom nicht nur des ganzen Altertums, sondern der Astronomie überhaupt gewesen. Denn er hat von der Größe und den Ausmaßen des Weltraums ohne Hilfe eines Teleskops eine so märchenhafte Erkenntnis gewonnen, daß selbst ein moderner Astronom darüber staunen würde, der doch weiß, daß der Sirius von uns vierhundert Lichtjahre entfernt ist (unter einem Lichtjahr versteht man den Raum, den das Licht im Laufe eines Jahres durcheilt. Ein Lichtjahr ist also gleich 1 314 000 000 000 Meilen à 7,5 km). Aristarch hat nämlich erklärt, wenn wir uns den Kreis der Erdbahn um die Sonne, der, wie wir heute wissen, einen Durchmesser von 40 Millionen Meilen hat, zur Kugel ergänzt dächten, daß dann
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diese unvorstellbar große Kugel im Vergleich zur Weltkugel, deren Durchmesser gleich der doppelten Entfernung der Erde von der Fixsternsphäre ist, nur ein Punkt wäre. Und einen solch genialen, die Jahrtausende überragenden wissenschaftlichen Astronomen wollte das damalige Haupt der Stoa als Gotteslästerer vor ein Volksgericht ganz Griechenlands bringen. Die heliozentrische Hypothese, die hundert Jahre später Seleukos von Seleukeia wissenschaftlich zu beweisen suchte, ist trotzdem in der Antike nicht durchgedrungen1. Ja, noch 1850 Jahre später ist Giordano Bruno, der begeisterte Herold der Entdeckung des Kopernikus, verbrannt worden. So fest stand die Erde als Mittelpunkt des Weltalls damals noch, ganz wie im Zeitalter des Kleanthes von Assos (250 v. Chr.). Diese Weltkugel ist aus vier konzentrischen Schichten gebildet, in denen nirgends ein Leeres ist. Die Leugnung des Leeren innerhalb der Welt erscheint den Stoikern deshalb notwendig, weil sonst die Kontinuität des alles durchdringenden Pneumas unterbrochen und damit die alles erfüllende Wirkung des Logos und so überhaupt die Einheit der Welt aufgehoben und andererseits jede Möglichkeit unserer Sinneswahrnehmung ausgeschlossen wäre. Die oberste dieser Schichten, die Feuersphäre, wird durch den Fixsternhimmel abgeschlossen, unterhalb dessen die Sphären der sieben Planeten, zu unterst die des Mondes, gelagert sind. Auch die Stoiker sind von der göttlichen Natur der Gestirne überzeugt, die aus dem „schöpferischen Feuer" (im Gegensatz zu dem zerstörenden, irdischen) bestehen, daher beseelte und vernünftige Wesen sind, die freilich der Ernährung aus den Ausdünstungen der irdischen Gewässer bedürfen und sich, wie dereinst entstanden, so mit dem Weltbrand wieder ins Urfeuer auflösen werden. Zu unterst, in dem Mittelpunkt der Weltkugel, ruht der Erdball, auf dem wir (hier zeigt sich die Nachwirkung von Aristoteles' großartiger An1
Man vergleiche hierüber Franz Boll, Das astronomische Weltbild S. 35 f.
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schauung) ein vierfaches Stufenreich der Natur erkennen: zunächst die Bildungen der unorganischen Natur, wie Steine und Metalle, in denen als Naturkraft nur die Hexis waltet, die Ursache ihres Zusammenhalts und ihrer Eigenschaften ist, die zugleich durch die eigentümlichen Spannungen des in ihnen wirkenden Pneumas bedingt sind. Weit höher steht schon die Welt der Pflanzen, die nicht nur die Fähigkeit einer gewissen Bewegung, sondern auch die zur Ernährung und Fortpflanzung, jedoch noch keine Seele, sondern nur eine Natur (Physis) als Prinzip der Belebung und Gestaltung besitzen. Eine Seele ist erst den Tieren eigen, die aber in einschneidendem Unterschied zum Menschen als „vernunftlose Lebewesen" bezeichnet werden, während der Mensch, als der Gipfel aller gewordenen Wesenheiten, durch den Logos, das Denkvermögen, vor allen anderen Wesen ausgezeichnet und zur Herrschaft über sie berufen ist. Sehr instruktiv ist ein Vergleich zwischen der Physik des Aristoteles und der Stoa, der hier freilich nicht ausgeführt werden, sondern nur an einem Einzelfall zum Bewußtsein gebracht werden kann, an dem Verhältnis zwischen Gott und Welt. Bei Aristoteles ist Gott der transzendente, nur mit der Betrachtung seines eigenen Wesens beschäftigte Geist, der von der Welt überhaupt keine Notiz nimmt, so daß es hier auch kein Problem der Theodizee gibt. In der Stoa dagegen ist die Gottheit, wie wir sahen, in ihrem Verhältnis zur Welt vor allem die „Vorsehung", die unablässig auf die Erhaltung des Weltganzen bedacht ist und alles in diesem aufs weiseste und vollkommenste eingerichtet hat, so daß manche Stoiker, in denen eine stark religiöse Empfindung oder gar eine dichterische Intuition lebendig ist, diese Vorsehung zugleich als den allgütigen, allweisen Vater des Menschengeschlechts auffassen, wie dies schon Kleanthes in seinem großartigen Zeushymnus tut. Die stoische Weltanschauung, d. h. ihre Physik und Metaphysik, ist ein stark materialistisch angehauchter Monismus, in
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Rücksicht auf die Gottheit gesehen, ein stark religiös gefärbter Pantheismus. Sie ist dabei - hierin mit Aristoteles übereinstimmend - als Naturanschauung durchaus dynamisch und teleologisch, zugleich aber ist sie - das zeigt ganz besonders ihre Theodizee - ausgesprochen rationalistisch. Und hinsichtlich allen Werdens und Vergehens durchaus fatalistisch.
c) Die
Psychologie
Wie die Metaphysik zeigt auch die Psychologie der Stoa einen ausgesprochen materialistischen Zug. Historisch ist sie vor allem durch Herakleitos' Anschauungen beeinflußt. Die menschliche Seele, die ein Stück der Weltseele, des das All durchwaltenden Logos, ist, ist ihrer Substanz nach körperlicher N a t u r , denn wie könnte sie sonst in Wechselwirkung mit dem Körper stehen? Ihre Körperlichkeit ergibt sich übrigens schon aus der stoischen Metaphysik, wonach alles Wirkliche körperlich ist. Daher sind auch alle seelisch-geistigen Vorgänge und Eigenschaften zugleich körperlicher Art. Genauer ist die Seele trockenes, feuriges Pneuma, das als eine zur W a h r n e h m u n g befähigte Ausdünstung aus dem Blut aufsteigt. Die Ernährung, d. h. in Wahrheit die ständige Neubildung dieses Pneumas, erfolgt von der Ausdünstung des Blutes und der eingeatmeten Luft. Auf der Spannung (τόνος) dieses Seelenpneumas beruhen alle Eigenschaften und Zustände der Seele. Denn dieses aus feinsten Teilen bestehende Pneuma, das die Fähigkeit hat, sich selbst zu bewegen, u n d zugleich das Lebensprinzip ist, durch das wir atmen und leben, ist dank seiner trockenen, feurigen Qualität, ähnlich wie die Gestirne dank ihrer strahlenartigen Substanz, vernunftbegabt. Entstanden ist die Seele erst nach der Zeugung: nachdem sich der Embryo im Mutterleib als vegetabilisches Wesen (φύσις) entwickelt hat, hat das Pneuma in ihm erst mit der Geburt infolge der Berührung mit der kalten äußeren Luft
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die Umwandlung zur Seele erfahren (ψυχή von ψύχεσθαι), und nun ist die Seele als feuriger Hauch „durch den ganzen Körper gemischt". Wenn sie dereinst aus dem Leibe entweicht, verfällt dieser dem Untergang, dem Tode. Die Seele aber - eine Anschauung, die sich freilich aus der stoischen Physik durchaus nicht ergibt - dauert noch eine Zeitlang fort, dann verlischt sie. Nach Kleanthes existiert sie bis zum Weltbrande, nach Chrysipp aber, dessen Lehre auch hier maßgebend wurde, leben so lange nur die Seelen der Weisen als Dämonen fort, um erst dann in die Weltseele zurückzukehren. Ein eigentliches Jenseits, überhaupt eine wirkliche Eschatologie der Seele, kennt die alte Stoa nicht. Das Nachdenken über das Verhältnis der Seele zum Leib hat die Stoiker auch schon zur Entdeckung einzelner psychophysischer Probleme und zu Versuchen ihrer Lösung geführt: so zu einer Erklärung der Lokalisierung einzelner physischer Gefühle in bestimmten Gegenden des Körpers, ferner des seelischen Ursprungs des Gehens, nach dem Vorgang des Aristoteles, wie auch zu einer psycho-physikalischen Erklärung des Ursprungs des Sprechens. Nach altstoischer Lehre besteht die Seele - im Gegensatz zur Lehre des Piaton und Aristoteles - aus acht Teilen: den fünf Sinnen, dem Zeugungsvermögen, dem Sprachvermögen und dem „herrschenden Teil", dem Hegemonikón. Von den Teilen werden aber die Vermögen (δυνάμεις) unterschieden, von denen schon das Hegemonikón mehrere besitzt. Das Hegemonikón ist das Denkvermögen, die Vernunft, von der das gesamte seelische und physische Leben des Menschen abhängt. Sitz des Hegemonikón ist nach altstoischer Lehre nicht das Gehirn, sondern die Brust, genauer das Herz, eine Meinung, die vor allem Chrysipp durch mancherlei Argumente zu erhärten suchte. Das Hegemonikón, der Logos - auch er ist ja erst mit der Geburt geworden - , entwickelt sich aber erst allmählich im Menschen, insbesondere vom 7. Jahre bis zum Eintritt der
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Pubertät, wie er auch später mit dem Altern des Körpers allmählich wieder schwächer wird. Eine Grundfunktion des Hegemonikón ist offenbar das Bewußtsein (Chrysipp fr. 845), während seine besonderen Vermögen diese vier sind: die Vorstellung (φαντασία), das zustimmende Urteil (συγκατύθεοις), der Trieb (ορμή) und das Denken (λόγος), worüber auf die Darstellung der stoischen Logik verwiesen sei. Zu eigentümlicher Entfaltung kommt die altstoische Psychologie aber erst in der Lehre von den Sinneswahrnehmungen (αισθήσεις) und von den Affekten (πάθη). Auch die Wahrnehmungen sind zugleich körperliche Vorgänge, wie ja alle Bewegungen der Seele zugleich körperlicher Natur sind. Die Wahrnehmung entsteht, indem durch einen Anstoß von außen, d. h. durch einen äußeren Reiz, in dem betreffenden Sinnesorgan eine diesem eigentümliche Bewegung verursacht wird, die sich bis zum „Urgrund der Seele", d. h. bis zum Hegemonikón, fortpflanzt und nur unter dessen Mitwirkung erfolgen kann. Denn es ist eine gewisse spannungsartige Bewegung (τονική κίνησις) des Hegomonikón dabei nötig. Von diesem erstrecken sich nämlich hauchartige Strömungen (πνεύματα) nach den einzelnen Sinnesorganen wie überhaupt nach den anderen sieben Seelenteilen, ähnlich wie die Fangarme eines Polypen oder die Fäden eines Spinngewebes, die der in dessen Mitte sitzenden Spinne alle Bewegungsvorgänge im Bereich des Gewebes vermitteln. Es beruhen aber die Sinneswahrnehmungen und das vernünftige Denken auf demselben Grundvermögen (δύναμις) der Seele, das sich nur in verschiedener Hinsicht betätigt. Doch sind die Sinne (αισθήσεις) nur Werkzeuge (bzw. Diener d. h. Boten) des Hegemonikón, das vermittels jener sieht, hört, schmeckt etc. Denn erst das Hegemonikón verarbeitet die Nachrichten der Sinne und zieht seine Schlüsse daraus; denn es allein denkt. So wahren auch hier die Stoiker durchaus die Einheit der Seele. Ein Problem bleibt aber das Verhältnis der Wahrnehmungsinhalte zum Gedächtnis. Auf die spezielle
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Sinnesphysiologie der Stoiker k a n n hier nicht eingegangen werden. Sehr charakteristisch ist die altstoische Lehre von den Affekten (πάθη), wobei jedoch zu beachten ist, daß das griechische Wort, d. h. der mit diesem verbundene Begriff, weit umfangreicher ist als der des Affektes, da es sowohl das Gefühl wie die Leidenschaft einbegreift. Der Affekt (hier immer im Sinne des griechischen Wortes gebraucht) ist nach altstoischer Definition eine vernunftlose, widernatürliche, d. h. der N a t u r des Logos zuwiderlaufende Bewegung der Seele oder in einer anderen Erklärung ein „übermäßiger Trieb", der der Vernunft nicht gehorcht. Doch liegt er nach altstoischer Lehre im Bereich des menschlichen Willens (in nostra potestate). Alle Affekte beruhen auf einem falschen Urteil, einer irrtümlichen Meinung (Doxa); sie sind „Verkehrungen" des Logos. Aus dieser altstoischen Grundanschauung ergibt sich ohne weiteres, daß der Weise von ihnen vollständig frei (απαθής) ist. Nach Zenon sind sie im Unterschied von Chrysippos aber nicht die falschen Urteile selbst, sondern die von diesen verursachten vernunftlosen „Zusammenziehungen und Ergießungen, Emporschwellungen und Niederstürze der Seele". Wenn Zenon übrigens als die M u t t e r aller Affekte „ungebändigte Hemmungslosigkeit" (intemperata intemperantia) bezeichnet haben soll, so verrät das nur, daß die rein rationalistische Erklärung der πάθη ihn selber nicht ganz befriedigte. Für die Affekte sind zwei Merkmale wesentlich: sie beruhen auf einer frisch gefaßten Meinung 1 , und sie haben in ihrem Verlauf etwas Gewaltsames, Zwangsläufiges (βιαστικόν). Dies letztere Merkmal bleibt freilich bei dem nach stoischer Lehre rein rationalen Charakter der π ά θ η unerklärt. D a die Affekte aus einem falschen Urteil über ein vermeint1 In diesem Merkmal ( π ρ ό σ φ α τ ο ς = recens) verrät sich die richtige Beobachtung, daß der ausbrechende Affekt auf einer unmittelbar vorher gefaßten Meinung beruht, die mit der Zeit (und durch psydiische Selbstbeobachtung bzw. Analyse ihre eruptive Kraft verliert.
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Iiches G u t oder Übel entspringen, unterscheidet die Stoa demgemäß vier Hauptgattungen von ihnen: Begierde, Lust, Angst und Kummer (έπιθυμία, ηδονή, φόβος, χΰπη). Begierde u n d Lust sind frisch gefaßte falsche Vorstellungen von einem vermeintlichen Gut, sei es in der Gegenwart oder in der Z u k u n f t ; Angst und Kummer solche Vorstellungen von einem vermeintlichen Übel in der Gegenwart oder in der Z u k u n f t . Unterarten dieser vier Grundaffekte werden von den Stoikern in großer Anzahl aufgeführt und begrifflich zu bestimmen gesucht. So ist ζ. B. eine Unterart des Kummers das Mitleid (ελεος). Daher empfindet der Weise, der ja frei von allen Affekten ist, auch kein Mitleid. Mitieid h a t nur der gedankenlose Tor. Es m u ß jedoch mit Nachdruck hervorgehoben werden, daß Chrysipp „unbekümmert u m die Erfahrungstatsachen den Intellektualismus bis in seine äußersten Konsequenzen durchgeführt h a t " (Pohlenz I 92). Das zeigt schon Fr. 823: „Es gibt nur ein einziges Vermögen (Dynamis) der Seele, dergestalt, daß ein und dieselbe Seele sich irgendwie verhaltend bald denkt, bald zürnt, bald begehrt". Chrysipp leugnet also die Existenz irrationaler Kräfte der Seele neben dem Hegemonikón d. h. dem vernünftigen Seelenteil. Er erklärt sie vielmehr für Urteile, wenn auch falsche oder fehlerhafte Urteile des Hegemonikón, die auf veränderten Verhaltungsweisen des Denkvermögens beruhten. Mit Hilfe dieser Formel des „Sich-irgendwie-Verhaltens" (des «ως ϊχον) erklärt er also irrationale Triebe und Bewegungen der Seele rein intellektualistisch mit streng monistischem Ergebnis. Eine ungeheuerliche Verkennung offenkundiger psychologischer Erfahrungstatsachen. Die altstoische Affektenlehre, die hier nur kurz skizziert werden konnte, zeigt besonders deutlich, d a ß die Stoa trotz der platonischen u n d aristotelischen Psychologie - im Einklang mit ihrem sonstigen Rationalismus - das Vorhandensein vernunftloser Teile der Seele durchaus leugnet. Spielen sich doch nach der Ansicht der H ä u p t e r der alten Stoa alle Affekte im Hege-
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monikón ab, d. h. in dem denkenden, vernünftigen Teil der Seele. Nur Kleanthes macht hier eine Ausnahme, indem er die platonische Dreiteilung der Seele übernimmt.
d) Fatum und
Willensfreiheit
Ein Problem, das nach moderner Anschauung der Ethik, nach stoischer dagegen der Physik (in dem oben gekennzeichneten weiteren Sinne des Wortes) angehört, mußte der Stoa ganz besondere Schwierigkeiten bereiten: die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Fatum und der menschlichen Willensfreiheit. Denn nach dem strengen Fatalismus ist alles Geschehen auf der Welt bis in seine letzten Einzelheiten hinein einem von Ewigkeit her unabänderlichen Kausalzusammenhang unterworfen, in den auch die menschliche Seele mit all ihren Betätigungen unlöslich verflochten ist. Hiernach konnten die Stoiker eine Freiheit des Willens in eigentlichem Sinne nicht anerkennen, wie schon Zeller durchaus richtig festgestellt hat. Damit scheint aber und schien bereits den zeitgenössischen philosophischen Gegnern der Stoa jede sittliche Verantwortung des Menschen aufgehoben zu werden, an deren Aufrechterhaltung die Stoa aus anderen Gründen das dringendste Interesse hatte. Hier hat sich besonders Chrysipp (fr. 974 ff.) die denkbar größte Mühe gegeben, die menschliche Willensfreiheit zu retten, indem er zwei Arten von Gründen allen Geschehens unterschied: die bewirkenden und die bedingenden Ursachen (causae principales und causae adjuvantes). Gewiß ist auch der menschliche Wille in die unentrinnbare Kette der Ursachen verflochten, aber er ist doch insofern durchaus frei, als er gegenüber dem von außen an sein Bewußtsein herantretenden Geschehen - analog den mathematischen Körpern Zylinder oder Kegel, die durch äußere Gewalt gestoßen, einen Abhang hinunterrollen, jedoch in verschiedener Richtung, - gemäß seiner eigensten Natur reagiert, durch die er
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sich vor allen anderen gewordenen Dingen auszeichnet, gemäß seiner Vernunft, dank der er die Fähigkeit zu freier, vernünftiger Selbstbestimmung besitzt. Entscheiden kann und muß sich der menschliche Wille bei seinen Urteilen wie seinem hierauf beruhenden Handeln entsprechend vernünftigem Denken, zu dem ihn seine angeborene geistige Begabung befähigt und zwingt - insofern hat auch der menschliche Wille eine von ihm unabhängige Ursache, die eben in seiner Eigenart liegt - , seine Freiheit beruht nur darin, daß er durch die an ihn herantretenden Ereignisse des Lebens weder mechanisch noch triebhaft zu irgendwelchen Handlungen gezwungen wird, sondern ihnen gegenüber seiner eigensten Natur gemäß reagiert, indem er als denkendes Wesen vernünftige (logische) Folgerungen daraus in seinem Urteilen und Handeln zieht. Hier bleibt freilich, wie Erwin Rohde in seiner Psyche ausgeführt hat, ein unausgeglichener Widerspruch in der stoischen Weltanschauung bestehen, der seinen Grund in der unüberbrückbaren Verschiedenheit ihrer historischen Quellen hat, des kynischen radikalen Individualismus und des heraklitischen Pantheismus und des schon in diesem liegenden Fatalismus.
e) Die altstoische
Ethik
Auch die stoische Ethik ist ausgesprochen eudämonistisch. Ihre historischen Wurzeln sind einerseits der Kynismus, wie überhaupt die Sokratik, andererseits - wenn auch nur mittelbar - die heraklitische Weltanschauung, daneben einzelne Grundgedanken des Aristoteles. Auch die stoische Ethik kennt den Begriff des Telos, des Endzwecks aller menschlichen Handlungen, der zugleich Selbstzweck ist. Telos ist für die Häupter der alten Stoa ein Leben „im Einklang mit der Natur", d. h. mit der Allnatur ebenso wie mit der eigenen, der menschlichen Natur. Der unterscheidende
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Grundzug dieser aber ist die Vernunft. Ein vernunftgemäßes Leben ist daher das Telos oder, da die Vernunft die Grundlage der Tugend überhaupt ist, ein tugendgemäßes Leben. Durch die Bestimmung des Telos als eines Lebens im Einklang mit der Natur, d. h. zunächst der Allnatur, ist als stoische Grundtugend die Ergebung in den Lauf der Welt, der mit dem Willen der Weltvernunft, der Gottheit, identisch ist, für den Menschen gegeben. Diese Ergebung wird daher von jedem wirklich einsichtigen, wirklich frommen Menschen gefordert, nicht etwa, weil wir das Weltgeschehen doch nicht ändern können, sondern weil es vollkommen vernünftig, daher auch für uns das denkbar beste ist. Ein Leben aber zugleich in Ubereinstimmung mit der eigenen, d. h. der menschlichen Natur überhaupt, bedeutet, da der Logos das maßgebende Prinzip im Menschen, das ihn von allen anderen Wesen unterscheidende und über sie turmhoch erhebende Merkmal ist, ein Leben rein nach dem Gesetz der Vernunft. Dieser, der Logos, ist die Grundlage aller Ethik, allen wirklich sittlichen Handelns: nur durch den Logos erkennen wir unser Verhältnis zum Weltganzen und unsere sich hieraus ergebende Bestimmung; nur durch den Logos auch unser Verhältnis zu unseren Mitmenschen und unsere sich hieraus ergebenden Pflichten gegen sie. All unsere Sittlichkeit beruht daher auf dem Logos in uns, der mit der Allvernunft wesensgleich, von ihr nur ein Stück ist. Durch diese tiefgreifende theoretische Grundlegung ihrer Ethik unterscheiden sich die Stoiker wesentlich von dem Kynismus. Eine gewichtige Bestätigung dieser Auffassung von der wahren Natur des Menschen findet die alte Stoa auch in ihrem Ergebnis über die Urtriebe des Menschen. Allerdings offenbart sich zunächst in dem jugendlichen Menschen - wie beim Tier der Selbsterhaltungstrieb des einzelnen wie der Gattung, dann aber überhaupt die „Befreundung mit sich selbst"1, d. h. mit der 1
Die vielberufene Oikeiosis.
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eigenen Natur: nicht einfach mit sich als Lebewesen, sondern als vernünftigem Wesen! Das zeigt sich alsbald, nachdem der Mensch ins Pubertätsalter eingetreten ist: hier tritt das vernünftige als ein maßgebendes Motiv alsbald hervor; die sittliche Zurechnungsfähigkeit erwacht und die Macht des Sittlichen - vorausgesetzt, daß normale Naturanlage und eine richtige Erziehung zusammenwirken - bricht siegreich durch. Nun gilt dem Menschen als das wahrhaft Gute nur noch das sittlich Gute. Auf diesen Grundlagen hat die Stoa, in starker Anlehnung an ihre großen Vorgänger, eine systematische Tugend- und Pflichtenlehre entwickelt, die freilich einen stark intellektualistischen Charakter hat, wenn auch die stoische Tugend, wie Zeller treffend gesagt hat, nicht reine Erkenntnis, sondern auf vernünftiger Einsicht beruhende Willensrichtung ist, eine Grundauffassung, die wir schon bei Aristoteles haben feststellen können. Hierzu paßt die Ansicht von der Grundbestimmung des Menschen „zur Erkenntnis und zum Handeln", wobei aber die Erkenntnis nur als Voraussetzung des richtigen Handelns - also nicht um ihrer selbst willen, wie bei Aristoteles - gewertet wird, denn dianoëtische Tugenden kennt die Stoa nicht. Das richtige Handeln folgt aus dem richtigen Wissen von selber; diese sokratisch-platonische Grundanschauung teilt auch die alte Stoa. Und wenn sie als das Telos des Menschen das naturgemäße Leben gleich dem tugendgemäßen Leben setzen, so verstehen sie unter diesem, wie die stoische Literatur auf jeder Seite bezeugt, ein Leben der Tat. Und wenn sie die Tugend als „an sich ausreichend zur Glückseligkeit" erklären - denn die Tugend ist Selbstzweck und trägt ihren Lohn in sich selbst - , so liegt darin, daß sie die Grundlage der Eudaimonia weder in der reinen Erkenntnis noch im Genuß, sondern nur im sittlichen Handeln und Leben sehen, das ganz allein von dem Menschen selber abhängt.
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Schon die alte Stoa hat einige radikale Lehren des Kynismus abmildern müssen: das zeigt sich in der Milderung des kynischen Ideals der Apathie, der völligen Unterdrückung der Affekte und Leidenschaften, durch die Lehre von den Edelaffekten (εύπάθειαι), aber auch in der Abschwächung der schroffen kynischen Güterlehre, daß nur die Tugend ein Gut, alles andere dagegen gleichgültig (Adiaphoron) sei, durch die von Zenon eingeführte Unterscheidung unter den Adiaphora: ein Teil dieser, wie Reichtum, Gesundheit, Körperkraft etc. ist zwar für die Sittlichkeit in eigentlichem Sinne ohne Belang, aber doch für die wirtschaftliche, soziale und geistig-physische Existenz des Menschen nicht ohne Bedeutung. Daher unterscheiden die Stoiker unter den Adiaphora im weiteren Sinne die bevorzugten (Proegmena) Dinge von den unbevorzugten (Apoproegmena), zwischen denen die Adiaphora in absolutem Sinne liegen, wie ζ. B. die Antwort auf die triviale Frage, ob die Anzahl unserer Haare auf dem Kopf gerade oder ungerade ist. Völlig fest steht ihnen hierbei aber, daß Lust und Schmerz zu den Adiaphora, den sittlich gleichgültigen Dingen, gehören. Im hellsten Licht zeigt sich das Ideal Individualethik in ihrer Lehre vom Weisen.
der
altstoischen
f ) Der Weise Nach altstoischer Anschauung, die schon im Kynismus ihre Wurzeln hat, zerfällt die ganze Menschheit in zwei scharf geschiedene Gruppen: die Weisen und die Unweisen (σπουθαΐοι und φαΰλοι). In dem Weisen, wie ihn schon die Häupter der alten Stoa kennzeichnen und verherrlichen, verkörpert sich ihr sittliches Ideal. Der Weise ist frei von Affekten und Leidenschaften (πά&η), findet durchaus sein Genügen in sich selbst (ist αυτάρκης) und ist wahrhaftig gottesfürchtig. Auf diesen drei Grundtugenden, die sein Verhältnis gegenüber den eigenen
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Trieben, der Außenwelt und der Gottheit andeuten, beruht seine innere Freiheit, die allein ihm eigen ist, während die Masse der Unweisen elende Sklaven ihrer Lüste und äußerer Verhältnisse sind. Seine Freiheit zeigt sich auch darin, daß er unter gewissen Umständen, wie im Interesse des Vaterlandes oder bei unheilbarer Krankheit, freiwillig aus dem Leben scheidet: der Selbstmord ist nach kynisch-stoischer Lehre im Gegensatz zur orphisch-pythagoreischen Anschauung, die auch Piaton nachdrücklich vertritt, unter gewissen Voraussetzungen sittlich gerechtfertigt. Der wahre Weise ist überhaupt unbesiegbar. Niemand kann ihn hindern, weil er sich nur auf geistigseelischen Gebieten betätigt, die der gewaltsamen Einwirkung von seiten anderer entzogen sind. Er ist überhaupt in allem, was er tut und treibt, unfehlbar; tut er doch alles gemäß der wahren Vernunft, die mit der Tugend gleichbedeutend ist. Daher ist jede seiner Handlungen vollkommen, auch wo er schimpflich und anstößig zu handeln scheint. Er handelt eben nach dem wahren, dem Naturrecht, nicht nach der konventionellen Moral, er allein hat das ständige Streben nach dem Guten und Rechten. Der Weise verkörpert in sich überhaupt alle Tugenden, die ja alle ein und dieselbe Wurzel in der wahren Einsicht haben; er ist geradezu der Inbegriff der Tugend, daher auch wahrhaft glückselig und im Grunde der Gottheit gleich. „Nur durch die Dauer der Lebenszeit unterscheidet sich der wahrhaft Gute von der Gottheit." Chrysipp sagt einmal in diesem Zusammenhang: „An Tugend übertrifft Zeus den Dion nicht; es werden aber Zeus und Dion, da sie beide Weise sind, voneinander in gleicher Weise gefördert". Auch die Beziehungen des Weisen zu den Einrichtungen und Verhältnissen des wirklichen Lebens kennzeichnen die Stoiker. Unter Umständen wird auch der Weise Gefühle des Eros empfinden; er wird auch heiraten und Kinder zeugen. Unter Umständen wird er sich auch am Staatsleben beteiligen, zumal in Staaten, die einen gewissen Fortschritt auf das Ideal zu 9
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erkennen lassen. Auch für das Vaterland wird er, wenn es seinem Ideal entspricht, Beschwerden und selbst den Tod auf sich nehmen. Untereinander aber sind alle Weisen befreundet: infolge der Gleichheit ihrer Grundsätze und Weltanschauung, verkörpert sich doch in ihnen das gleiche ethische Ideal. Dank dieser Freundschaft haben sie alles gemeinsam; es herrscht eine Art Kommunismus unter ihnen, nach Zenon und Chrysipp sogar Weibergemeinschaft. Das Verhältnis des Weisen zur Masse der Unweisen läßt sich kurz dahin bestimmen, daß der Weise, der durchaus kein Menschenfeind oder gar Menschenverächter ist, an dem wahren Wohl und Wehe dieser seiner Mitmenschen lebhaften inneren Anteil nimmt und auf sie im Sinne seines Ideals durch Wort und Tat einzuwirken sucht. Angesichts dieses hochgespannten Weisenideals lag seitens der Gegner die Frage nahe, ob denn je seine Verkörperung auf Erden gewandelt sei. Worauf denn die Stoiker erwiderten, wenn auch die Gegenwart keine solche aufweise, so bewiese doch die Person eines Sokrates und Diogenes, daß er mehr als einmal in der historischen Wirklichkeit aufgetreten sei. Wie alles Licht auf den Weisen, fällt in der stoischen Betrachtung aller Schatten auf die Masse der Unweisen. „Ist doch jeder Unweise im Wahnsinn befangen, da er in Unkenntnis über sich selber (über seinen sittlichen Zustand) und seine (wahren) Angelegenheiten ist." Die Kluft zwischen Weisen und Unweisen sucht aber die Stoa durch Einführung der „Fortschreitenden" zu überbrücken; doch auch diese gehören sämtlich noch den Unweisen an. Die Stoiker kennen nämlich keinen allmählichen Übergang in den Stand der Weisheit, sondern dieser erfolgt plötzlich, wie bei jener Bekehrung, die das Zeitalter Zenons an jenem Polemon erlebt hatte, der dann gar das Haupt der alten Akademie geworden war. In der Lehre vom Weisen, der freilich im Grunde nur die Verkörperung abstrakter Vernunfttugend ist, zeigt sich nicht nur der scharf individualistische Grundzug
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kynischen Gedankenerbteils, sondern zugleich der hochgespannte sittliche Optimismus der Stoa gegenüber der menschlichen Natur, der echt hellenisch ist: auch nach stoischer Auffassung trägt der Mensch alle Bedingungen zur wahren Glückseligkeit allein in sich selbst; es kommt nur auf ihn an, sie durch Einsicht, Willen und ständige Übung zu verwirklichen.
g)
Sozialethik
„Erst die Stoa hat den Gedanken der Gemeinschaft, wie er sich in der Polis-Idee verkörperte, auf die allgemeine Welt übertragen und ihm so universalen Charakter gegeben", sagt Julius Kaerst, der Kulturhistoriker des Hellenismus, einmal treffend. Erst die Stoa, so können wir fortfahren, hat unter dem mächtigen Eindruck des Alexanderreiches den Begriff der Menschheit als einen Fundamentalbegriff der Sozialethik geprägt. Sind doch alle Menschen - der Unterschied von Griechen und Barbaren beruht ja nicht auf der Natur, sondern nur auf herkömmlicher Auffassung - durch die in jedem von ihnen lebendige Vernunft, den Logos, miteinander innerlich verwandt, daher in Wahrheit Brüder und Schwestern, weil alle Kinder derselben alles durchwaltenden Weltvernunft sind, durch deren Teilbesitz der Mensch vor allen andern Wesen ausgezeichnet ist. Daher ist der Mensch ein „zur Gemeinschaft bestimmtes" Wesen (ζφον κοινωνικόν, im charakteristischen Unterschied zur aristotelischen Definition, und die Liebe zu seinen Mitmenschen (die Philanthropia) beruht auf dem Gefühl der Naturverwandtschaft. Das Vaterland des Stoikers ist daher die ganze Welt; seine Denkweise ist durchaus kosmopolitisch, wie sie schon der Gründer der Stoa in seinem Weltstaat mit größtem Nachdruck - programmatisch, möchte man sagen - vertreten hatte. Denn, wo in allen Menschen, wenn auch in verschiedenen Abstufungen, derselbe Logos lebendig ist, kann es in Wahrheit nur einen 9*
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Die hellenistische Philosophie
Staat, ein Recht, ein Gesetz geben. Dieser Gedanke der menschlichen Gemeinschaft, aus dem sich dann in der mittleren Stoa die Idee der Humanität entwickeln sollte, ist mit besonderer Wärme und Innigkeit in der späten Stoa, bei Epiktet und noch mehr bei Marc Aurel, hier in geradezu religiöser Grundstimmung - beruht doch diese Gemeinschaft auf der Abstammung von demselben göttlichen Logos, der religiöser Gefühlsweise als weiser, gütiger Allvater erscheint - , in höchst eindrucksvoller Weise gestaltet worden.
h) Die Bedeutung der stoischen
Weltanschauung
Die Wirkung der stoischen Weltanschauung auf die Menschen des hellenistischen und nachhellenistischen Zeitalters ist eine gewaltige gewesen, zumal sie Philosophie und Religiosität in unlöslicher Verbindung ist; und gerade dem Einzelnen, dem die Religion der Väter längst zum Mythos geworden war, hat sie festen Halt und innere Sicherheit gegenüber den Rätseln und Bitternissen dieses Lebens gegeben. Ja noch mehr: den Frieden der Seele und Gelassenheit gegenüber den Schrecken auch des Todes. Die tiefe Wirkung, die gerade die Stoa auf ernstere Geister der Spätantike ausübt, sehen wir in besonders eindringlicher, oft ergreifender Weise an dem phrygischen Freigelassenen Epiktet und dem Kaiser Marc Aurel. Die tieferen Gründe dieser bedeutenden Wirkung der Stoa scheinen mir in folgender Richtung zu liegen: die Stoa stellt den Menschen in wahrhaft große Zusammenhänge, als deren organisches Glied sie ihn verstehen lehrt. Zunächst: sie sieht ihn durchaus unter kosmischer Perspektive. Auch der Mensch ist ein Teil des Kosmos, und zwar der nächst der Gottheit bevorzugteste; ja, er selbst, d. h. seine Seele, ist ein unmittelbarer Abkömmling der Gottheit, d. h. des Logos, von dem auch in ihm - und, von der Gottheit abgesehen, nur in ihm - ein Stück lebendig ist, ein göttlicher
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Funke, den es zu heben und zu entwickeln gilt, wenn anders er seine wahre Bestimmung erfüllen soll: ein Leben der Tugend, d. h. gemäß dem Logos zu führen, als dessen Frucht ihm schon hier auf Erden - denn das Jenseits spielt in der alten Stoa keine Rolle - die Gottseligkeit (Eudaimonia) winkt. Durch die Auffassung von diesem singulären, unmittelbaren Verhältnis des eigenen Ich zur Urquelle des Lebens und Seins bekommt der Mensch eine ganz neue Würde, die dadurch noch mächtig gesteigert wird, daß auch nach stoischer Auffassung, die sich hier mit der echt griechischen deckt, der Mensch die Bedingung zu seiner Glückseligkeit allein in sich selbst trägt, daß es nur von ihm abhängt, ob er den Weg des rechten Lebens beschreiten will, das ihn seine wahre Bestimmung erfüllen und so zugleich zur Gottseligkeit kommen läßt. Auch die stoische Anschauung von der menschlichen Natur ist in des Wortes tieferem Sinne durchaus optimistisch; sie erfüllt den Menschen mit frohem Vertrauen auf die in ihm liegende göttliche Kraft. Zugleich aber ist der göttliche Logos, der, wenn auch in den mannigfachsten Abstufungen und Formen, in allen Wesen und allen Vorgängen dieses Kosmos als Pneuma waltet, die allweise Vorsehung, die alles zum Besten des Ganzen wie auch zum Besten des Menschen eingerichtet hat und durchwaltet. Ist doch die stoische Weltanschauung ausgesprochen anthropozentrisch. Faßt er diese Vorsehung aber, wie das dem von Anfang an in der Stoa waltenden religiösen Grundgefühl - wie es sich z. B. in Kleanthes' Zeushymnos offenbart - durchaus naheliegt, mehr persönlich, so erscheint sie ihm ganz natürlich als der weise, gütige Vater, gütig schon in der Art, wie er ihm durch sinnreiche Einrichtung des menschlichen Leibes und die stets wiederkehrenden Vorgänge der äußeren Natur, wie z. B. die Jahreszeiten, die Bedingungen seines Gedeihens gegeben hat, gütig noch mehr in dem Sinne, daß er in den Menschen selbst die Kraft gelegt hat, alle Ereignisse, die ihn treffen, zu seinem wahren Besten zu wenden, gütig vor allem aber darin, daß er den Menschen als
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ein Wesen seinesgleichen, wenn auch sterblichen Geblütes, zur Erkenntnis seines eigenen Waltens im Makro- wie im Mikrokosmos und zur Verwirklichung seiner Gottähnlichkeit, die er keimartig in ihn gelegt hat, durch ein Leben der άρετή, d. h. ein wahrhaft sittliches, in sich und mit der Allnatur übereinstimmendes Leben, befähigt hat. So hat der Mensch eine einzigartige Stellung in diesem Kosmos, mit dessen innerster Triebkraft sein eigenes Wesen unlöslich verbunden ist. Der andere große Zusammenhang, in den die Stoa den Menschen stellt, ist die menschliche Gemeinschaft, von der auch er ein organisches Glied ist. Der Begriff der Menschheit ist es hier, der den einzelnen mit Hochstimmung erfüllt, ein Begriff, der recht eigentlich durch die Stoa auf der Grundlage des Alexanderreiches geschaffen ist, indem der alte Gegensatz „Hellenen und Barbaren", der noch für Piaton und Aristoteles maßgebend ist, grundsätzlich und endgültig überwunden ist. Alle Menschen sind Kinder des einen Logos; in allen, auch im Ägypter oder im Kelten, ist ein göttlicher Funke lebendig, der ihre Seelen als aus derselben Quelle entsprungen erweist. Durch diesen Logos, die göttliche Gabe der Vernunft, sind sie alle miteinander verwandt, zu einer einzigen inneren Gemeinschaft bestimmt, deren Glieder auf ein Zusammenarbeiten und Zusammenwirken veranlagt und angewiesen sind. So fühlt ein jeder sich mit seinen Mitmenschen, als seinen Brüdern und Schwestern im Geiste, verbunden, und ist von Liebe zu ihnen als seinen Schicksals- und Stammesgenossen erfüllt - gerade die Philantropia ist eine echt stoische Tugend. So hat durch die Stoa der durch die Zerstörung der inneren Bindungen der griechischen Polis entwurzelte Mensch des hellenistischen Zeitalters, wie auch der der Spätantike, wieder eine feste Heimat gefunden, aus der ihn niemand vertreiben kann, die Heimat im Kosmos und im Logos, die ihm, faßt er diesen mehr persönlich, zur Heimat in Gott wird, zugleich aber eine neue Heimat in dieser Welt, in der ganzen Oikumene, die
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auch an den fernsten Küsten und Gestaden des Ozeans von seinesgleichen bewohnt ist, von Wesen, die, ihm innerlich verwandt,
dieselbe
göttliche
Abkunft
und
hohe
Bestimmung
haben wie er.
Π. Epikur Das Leben des Atheners EPIKUR fällt in die Zeit von 341/40 bis 271/70 vor Chr. Seine Jugend verlebt er auf der damals athenischen Insel Samos. Schon als angehender Jüngling hört er dort den Platoniker Pamphilos, ist aber von dessen Person und Lehre so wenig erbaut, daß ihn sein Vater nach Teos (nördlich von Samos an der kleinasiatischen Küste) zu dem Demokriteer Nausiphanes sendet. Dessen Lehren haben auf den jungen Epikur, der sich durch ungewöhnliche geistige Aufgeschlossenheit auszeichnet, tiefsten, ja in gewissem Sinne entscheidenden Einfluß ausgeübt. Denn durch Nausiphanes lernt er gründlich die atomistische Lehre des Demokrit kennen, wahrscheinlich auch schon (durch Nausiphanes vermittelt) die Anschauungen des Skeptikers Pyrrhon, dessen Lehre von der Ataraxie als Hauptziel des Menschen auf ihn unauslöschlichen Eindruck gemacht hat. Aber die grundsätzliche Skepsis des Pyrrhon lehnt er offenbar, weil seinem eigenen Charakter gänzlich zuwider, mit sicherem Instinkt a limine ab. Kaum 18 Jahre alt, muß er jedoch seine Studien unterbrechen, um als Ephebe in Athen seiner Dienstpflicht zu genügen. - Nach Alexanders Tode und der Vertreibung der Athener aus Samos siedelt er nach Kolophon über, wohin sein Vater schon vorher ausgewandert war. 32 Jahre alt, eröffnet er eine eigene Philosophenschule in Mytilene auf Lesbos, einige Jahre später in Lampsakos und geht im Jahre 306 nach Athen, wo er als Haupt der von ihm begründeten Schule, für die er schon zu Anfang seiner dortigen Wirksamkeit außerhalb der Stadt ein Grundstück, „den Garten",
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Die hellenistische Philosophie
erworben hatte, bis zu seinem Tode, also 36 Jahre lang, nui selten die Stadt zwecks kürzerer Reisen zu seinen Anhängern in den kleinasiatischen Küstenstädten verlassend, mit eigentümlichen Erfolg gelehrt und auf seine zahlreichen Jünger und Jüngerinnen durch seine Persönlichkeit einen unauslöschlichen Eindruck gemacht hat. Denn von Jüngern darf man hier sprechen, da sich hier um den schon zu Lebzeiten vergötterten Meister eine Art Gemeinde bildet, deren spätere auswärtige Mitglieder durch einen äußerst regen Briefwechsel des Meisters mit ihnen in ständiger innerer Verbindung mit der Urgemeinde blieben. - Epikur hat eine außerordentlich umfangreiche literarische Tätigkeit entfaltet, von der uns freilich fast nur Trümmer erhalten sind, die ζ. T. noch der Wiedererweckung aus den herkulanensischen Papyrosrollen harren. Hauptquellen seiner Lehre sind für uns Diogenes Laertius, Buch X, und das Werk des lateinischen Dichters Lukrez, daneben manche Schriften des Cicero und Plutarch und anderes. Bei Diogenes Laertius sind auch einige Briefe des Epikur erhalten, von denen der erste und dritte unzweifelhaft echt sind, während die „Herren-Lehren" (κύριαι δόξαι) offenbar noch unter den Augen des Epikur von einem seiner Jünger, wenn nicht von ihm selber, formuliert und zusammengestellt sind. Die antiken Nachrichten über Leben, Schriften und Lehre des Epikur, die freilich seitdem durch jüngere Forscher hier und da vervollständigt sind, hat Usener in seinem grundlegenden Werk Epicurea (Leipzig 1887) herausgegeben. Nach Useners Fragmentsammlung wird noch heute zitiert. Mit Epikur, seiner Person und seiner Lehre, hat es in der Geschichte der griechischen Philosophie eine ganz besondere Bewandtnis. Denn dieser Epikur ist keineswegs nur ein Lehrer oder Professor der Philosophie gewesen, vielmehr in einem nahezu religiösen Sinne der Gründer einer ihm ganz persönlich anhängenden Gemeinde, mit der er fern dem Geräusch der Stadt in seinem Garten zusammen gelebt hat, nicht als ihr
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Lehrer, sondern als ihr väterlicher Freund, ja, man darf sagen als ihr Seelsorger, der sie mit Rat und Tat und durch eigenes Beispiel für sein Ideal, dank intimster Freundschaft und echter Humanität, gewinnt. Wie er denn auch später mit einem Kreise seiner Jünger, die nach Kleinasien übergesiedelt waren, in regem Briefwechsel über das menschliche Leben und dessen wahres Ziel, wie auch über ihre persönlichen Nöte, gestanden hat. - Wir haben hier in Wahrheit das Beispiel einer quasi religiösen Sekte, die, völlig isoliert von Staat und Gesellschaft, in dem Garten des Meisters ein Sonderleben in schönster Eintracht und Harmonie ganz für sich in der Stille führt, ohne sich um die Händel und Streitigkeiten dieser Welt auch nur im geringsten zu kümmern. Eine in der gesamten Geschichte der griechischen Kultur, ja, der europäischen vorchristlichen Menschheit einzig dastehende Tatsache. Aber auch mit der Philosophie des Epikur hat es eine besondere Bewandtnis. Nicht ohne eine gewisse Berechtigung hat Wilamowitz in seinem Platon-Werk gesagt, ein Philosoph sei Epikur nicht gewesen, und jedenfalls ist dieser nie und nimmer ein „wissenschaftlicher Kopf" gewesen. Das zeigt schon seine völlige Ignorierung der gewaltigen Denkarbeit der Vorsokratiker (abgesehen von der Atomistik) und ebenso des Sokrates, Piaton und Aristoteles, wie auch seine völlige Mißachtung der Mathematik. Und in naturwissenschaftlichen Dingen vertritt er vielfach geradezu den Standpunkt eines Primitiven (behauptet er doch, die Sonne sei nur so groß, wie sie uns erschiene). Aber er ist mit erstaunlicher Konsequenz ein Führer zu einer - wie er wähnte - wissenschaftlich fundierten Lebenskunst gewesen, die - ihre Grundvoraussetzung einmal zugegeben - den Menschen zu innerer Freiheit und Frieden der Seele, d. h. zur Eudaimonia bringen muß. Und er ist das nicht nur in der Theorie gewesen, sondern er hat in intimster langjähriger Lebensgemeinschaft mit seinen Jüngern, zu denen auch einzelne Frauen, ja sogar einige Sklaven gehörten, dies Ideal bis zu
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seinem letzten Hauch verwirklicht. Auch dies ist in der Geschichte der vorchristlichen Menschheit eine einzig dastehende Tatsache. Wirklich bedeutsam in Leben und Lehre des Epikur ist aber vor allem dieses: die Tatsache nämlich, daß er den Menschen ganz auf sieb selbst stellt, d. h. er lehrt, daß der Mensch die Möglichkeit zur Glückseligkeit ganz in sich selber birgt, dank den durch die Natur in ihn gelegten physischen und geistigen Gaben. Das war etwas Ungeheures in der damaligen griechischen Kultur. Das Zweite ist seine grundsätzliche Bekämpfung jeder Art von „Mythen", d. h. von Aberglauben (Deisidaimonia), überhaupt seine Ablehnung jeder Art von übernatürlicher Einwirkung auf die Welt und nun gar auf den Menschen. Gerade hierdurch ist Epikur schon im Altertum für viele (so für den Römer Lukrez) ein wahrer Prophet, ja ein Erlöser von Todesfurcht und Götterfurcht geworden. Dazu kommt - als eine Voraussetzung seiner tief- und weitreichenden Wirkung auf Mit- und Nachwelt - nicht nur die folgerichtige zielbewußte Konsequenz seiner Lehre vom Wege zur wahren Glückseligkeit, sondern auch die Tatsache, daß er sie auf die primären Grundtatsachen der menschlichen Existenz, die sinnliche Wahrnehmung und die Urtatsachen von Lust und Schmerz in jedem menschlichen Individuum gründet. Auf das Ganze gesehen, darf man freilich nicht von epikureischer Philosophie im strengen Sinne des Wortes - nun gar im Sinne eines Sokrates, Piaton oder Aristoteles - sprechen; besser vielleicht von einer Anthroposophie auf rein natürlicher Grundlage, wenn auch mit vermeintlich wissenschaftlichen Argumenten unterbaut. Von neueren Darstellungen der epikureischen Philosophie ist m. E. die beste, weil tiefgründigste und umfassendste, die von Hans v. Arnim 1 , die auch durch begriffliche Schärfe und be1
In: Kultur der Gegenwart I., S. J, Berlin und Leipzig 1913.
Epikur
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sonnene Kritik ausgezeichnet ist. Ganz hervorragend ist dann die Schrift von Johannes Mewaldt: Die geistige Einheit Epikurs. Halle 1927. Auch die informative Schrift desselben Verfassers: Epikur. Philosophie der Freude, Stuttgart 1949, ist zur Einführung besonders geeignet. Epikur hat sich gerühmt, daß er in der Philosophie überhaupt keine Lehrer gehabt habe, aber wir wissen sowohl durch antike Zeugnisse (teilweise schon seiner persönlichen Jünger) und ebenso aus den Fragmenten seiner Schriften, daß er durchaus auf den Lehren großer Vorgänger, vor allem des Demokrit, fußt. Von seinen Jüngern sind am bekanntesten METRODOR, „paene alter Epicurus" (Cicero) und HERMARCHOS, Epikurs Nachfolger als Haupt der Schule. Von modernen Darstellungen der Persönlichkeit Epikurs sind besonders beachtenswert die von Eduard Schwartz: Charakterköpfe aus der antiken Literatur II und die von Heinrich Gomperz in seinem Buch: Die Lebensauffassung der griechischen Philosophen, Jena 1927; die letztere birgt freilich neben manchen psychologischen Entdeckungen auch manches Problematische. Die Philosophie ist nach Epikur die Kunst des glückseligen Lebens, genauer eine Betätigung, die durch wissenschaftliche Erörterungen und Untersuchungen das glückselige Leben bewirkt. Schon hieraus ergibt sich, daß Physik und Logik bei ihm höchstens Mittel zu diesem Endzweck sein können.
Die epikureische Philosophie a) Die Kanonik Die eigentliche Logik verwirft Epikur freilich als unnütz, ja abwegig; die Physik, die als Erkenntnis der naturgegebenen Wirklichkeit die Grundlage des glückseligen Lebens ist, bedarf
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Die hellenistische Philosophie
der Dialektik ebensowenig wie die Ethik. Daher kann von einer eigentlichen Logik des Epikur, der nicht nur Definitionen und Einteilungen, sondern auch die Lehre von den Beweisen und Schlüssen und die Auflösungen von Trugschlüssen als völlig unnütz verwirft, keine Rede sein. Nur von seiner - historisch betrachtet reichlich primitiven - Erkenntnislehre als der Einleitung zur eigentlichen Philosophie muß hier kurz gesprochen werden, zumal er selber der Ansicht war, daß diesen Teil der Philosophie ihr Jünger zuerst kennen lernen müsse. Diesen Teil nennt Epikur die Kanonik (κανών = Richtschnur, Maßstab; also Kanonik die Lehre von den Maßstäben, nämlich des Erkennens). Epikur nimmt bei seiner Erkenntnislehre augenscheinlich Rücksicht auf die gleichzeitige, genauer um ein oder zwei Jahrzehnte ältere, Skepsis des Pyrrhon von Elis. Da aber Epikurs gesamtes philosophisches Denken im Grunde rein ethisch orientiert ist, und er daher für das praktische Leben feste Maßstäbe des Erkennens für unentbehrlich hält, kommt der Agnostizismus eines Pyrrhon für ihn nicht in Frage. Da für ihn aber infolge seines materialistischen Grunderlebnisses nur eine sensualistische Erkenntnislehre möglich war, also nur die Sinneswahrnehmung als Kriterium in Frage kommen konnte, mußte er, wie insbesondere Hans von Arnim gezeigt hat, die Wahrheit der sinnlichen Wahrnehmung unter allen Umständen zu retten suchen, obgleich diese durch die sogenannten Sinnestäuschungen und Widersprüche in der Wahrnehmung desselben Objektes von selten desselben oder verschiedener Subjekte widerlegt zu werden scheint. Wenn er trotzdem die absolute „Wahrheit" der Sinneswahrnehmung aufrechthalten wollte, mußte er die genannten beiden Gegeninstanzen in einer Weise erklären, daß dadurch der Irrtum von der sinnlichen Wahrnehmung als solcher auf einen anderen Faktor abgewälzt wurde, indem er zugleich zeigte, daß es sich hier nur scheinbar um einen Irrtum der Wahrnehmung handle. Die Lösung dieser Aufgabe unter-
Epikur
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nimmt Epikur vermittels der demokritischen Theorie von den Bildchen (Eidola), die sich ständig von den Gegenständen in unsichtbarer Feinheit absondern, mit ungeheurer Geschwindigkeit den Raum durcheilen und auf unser Auge treffen. Uber solche Bildchen sagt die Sinneswahrnehmung stets die Wahrheit aus, da sie, die an sich vernunftlos und keiner Erinnerung fähig ist, von sich aus dem Inhalt des Bildchens weder etwas hinzusetzt noch wegnimmt, überhaupt nichts an diesem ändert. Erst wenn wir uns durch den Logos, in Form der Doxa (der willkürlichen Meinung), ein Urteil über die objektive Wahrheit des durch das Bildchen verursachten Sinneseindrucks bilden, besteht die Möglichkeit des Irrtums, der also nicht dem Bereich der sinnlichen Wahrnehmung, sondern dem des Denkens angehört. Wie aber ist solcher Irrtum möglich? Einmal dadurch, daß sich oft die Bildchen auf dem Wege von ihrem Objekt zu unserem Sinnesorgan verändern, d. h. verschieben. Es können aber auch gelegentlich durch rein zufällige Vereinigung verschiedener Atomgruppen von Eidola entstehen, denen keine objektive Wirklichkeit in Gestalt fester Körper entspricht. Wenn aber bei verschiedenen Subjekten manchmal von demselben Objekt verschiedene Sinneswahrnehmungen entstehen, so daß auch hier die eine Partei zu irren scheint, so liegt dies daran, daß von jedem Objekt Atomgruppen der verschiedensten Art ausströmen, von denen das einzelne Subjekt nur diejenigen aufzunehmen vermag, die seinen individuellen Poren der Sinnesorgane symmetrisch sind. Wie aber kann der von der Doxa begangene Irrtum berichtigt, bzw. die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Doxa erwiesen werden? Hierauf hat Epikur nur die Antwort: durch wiederholte und verschärfte sinnliche Wahrnehmung („aus der Nähe" des betreffenden Gegenstandes. Hierbei ergibt sich dann eine Bestätigung (έπιμαρτύρησις) oder Widerlegung (άντιμαρτύρησις) der Meinung oder aber zwar keine Bestätigung, aber auch keine Widerlegung dieser. Nur das letztere ist möglich bei Erkenntnis
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der άδηλα, der Dinge, die außerhalb des Bereichs der Sinneswahrnehmung liegen. Hier müssen wir uns damit begnügen, wenn solche έπί,νοιαι (durch Denken, meist auf dem Wege des Analogieschlusses, gewonnene Begriffe) durch die Sinneswahrnehmung wenigstens nicht widerlegt werden. Die Wahrnehmung ist also das fundamentale Kriterium aller Erkenntnis der Wirklichkeit. Gibt es doch nach Epikur - wie nach der Anschauung der alten Atomistik, auf deren Boden er steht - in Wahrheit nichts objektiv Wirkliches außer den durch die Sinneswahrnehmung erfaßbaren Dingen. Denn Erkenntnis, auch jede Vernunfterkenntnis (Logos), wie jeder unserer Gedanken, beruht letzten Endes auf der Sinneswahrnehmung. Der Satz des Thomas von Aquino „Nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu" entspricht genau der Ansicht Epikurs. Daher hängt an der Wahrheit oder Nichtwahrheit der Sinneserkenntnis alle Erkenntnis überhaupt. Denn, würden die Sinne etwas Falsches für wahr erklären, so würde jedes Urteil über wahr und falsch aufgehoben. Ja, wenn auch nur eine einzige Sinneswahrnehmung falsch wäre, könnte überhaupt nichts mit Sicherheit erkannt werden. Denn dann könnte man überhaupt keiner mehr trauen. Gerade hier zeigt sich Epikurs radikaler Sensualismus, der in seiner Erkenntnislehre die selbständige Tätigkeit der Vernunft völlig verkennt und daher auch „Messen und Wägen" als die unsere Sinneswahrnehmungen prüfenden Tätigkeiten des logischen Vermögens des menschlichen Geistes, die ein Piaton schon in einem seiner frühsten Dialoge kennt und in ihrer Bedeutung würdigt, gänzlich ignoriert, wie er überhaupt allem Mathematischen verständnislos und daher ablehnend gegenübersteht. An den aus diesem Standpunkt sich ergebenden Konsequenzen - insbesondere an seiner Leugnung jeder Sinnestäuschung - hat Epikur mit solcher Starrheit festgehalten, daß er z.B. behauptet hat: die Sonne sei so groß, wie sie uns erscheint, und ebenso, daß der Mond wirklich ab- und zunähme! Ja, er behauptet sogar, daß auch die Vorstellungen der Träu-
Epikur
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menden und der Wahnsinnigen, die ja oft für das einzelne Subjekt wenigstens das Merkmal völliger Evidenz zu haben scheinen und es daher sogar oft zu entsprechenden Handlungen fortreißen, auf Wahrheit, d. h. bis zu einem gewissen Grade auf einem objektiven äußeren Sachverhalt, beruhen, also nicht rein subjektiv sind. Versetzen sie doch den Geist der betreffenden Individuen in Bewegung; ein nicht Wirkliches aber kann keine Bewegung verursachen. Es beruhen also Träume und Wahnvorstellungen auf wirklichen, von dem Subjekt unabhängigen Vorgängen, deren Realgrund freilich ein ganz anderer ist, als die betreffenden Individuen wähnen. Erregt werden solche Vorstellungen durch gewisse Arten von Eidola. Epikur nimmt nämlich, wie Robert Philippson gezeigt hat, noch eine zweite Klasse von Bildern an, die in der Regel nicht auf der Ausströmung wirklicher Objekte und nur in seltenen Fällen auf dem Zusammentreffen und der Vereinigung zweier von verschiedenartigen wirklichen Gegenständen ausströmenden Bildern beruhen, sondern sich in der Luft „von selbst" (sponte sua, Lucr.), d. h. rein zufällig, durch Zusammenballung (σύστασις) feinster Atome bilden, im Innern hohl sind und sich gleichfalls mit unglaublicher Schnelligkeit fortbewegen und nicht durch unsere Sinnesorgane, sondern durch die Poren unseres Körpers zum Sitz des Denkens dringen und so unmittelbar durch den Geist wahrgenommen werden, daher in ihm entsprechende Vorstellungen hervorrufen. So kommt es, daß wir ζ. B. Bilder von Kentauren, von Skylla oder Kerberos, ja auch von Verstorbenen mit dem Geist wahrnehmen. Auch das Bewußtwerden dieser Klasse von Bildern betrachtet daher Epikur als eine Art dem Sehen durchaus analoger Wahrnehmung, die jedoch ohne Vermittlung körperlicher Organe nur durch den Geist erfolgt. Diesen Bildern fehlt nämlich die (räumliche) Tiefenvorstellung, die nur durch solche Bilder erweckt werden kann, die durch ständige Ausströmung von wirklich körperhaften Objekten entstehen.
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Infolge wiederholter Wahrnehmung eines und desselben Dinges bilden wir uns unter Mitwirkung des Gedächtnisses, das die Wahrnehmungsinhalte „behält", die „Vorbegriffe" von den sinnlichen Objekten (προλήψεις eigentlich = Vorwegnehmen), weil die überhaupt erste geistige Erfassung eines Dinges, die zugleich dem Menschen eine sprachliche Bezeichnung abringt, allen folgenden Wahrnehmungen bzw. Vorstellungen desselben Dinges oder von Exemplaren derselben Gattung vorausgegangen ist, die mit dem „Vorbegriff", wenn wir das für ihn geprägte Wort hören, sofort von uns identifiziert werden. Diese „Vorbegriffe", unter denen die Gattungsvorstellungen zu verstehen sind, sind ganz eigentlich die Grundlagen jedes weiteren Denkens und Erkennens und daher eine zweite Klasse von Kriterien. Denn sie sind gegenüber der ersten Gruppe dieser, den Sinneswahrnehmungen, insofern etwas ganz Neues, weil wesentlich anderes, als sie ein geistiges Erfassen der Einheit und Ganzheit eines Dinges bedeuten. Sie sind unmittelbar (d. h. intuitiv) einleuchtend, d. h. sie werden uns unmittelbar gleichzeitig mit dem Hören des sie bezeichnenden Wortes evident auf Grund der Erinnerung an viele identische, das Merkmal der Evidenz tragende Sinneseindrücke. Durch Zusammentreffen und Vergleichung solcher ersten geistigen Gebilde, der „Vorbegriffe" bzw. Gattungsvorstellungen, durch ihre Kombination von Seiten der Vernunft - denn diese, den Geist (διάνοια) und seine Tätigkeit (λογισμός) muß Epikur, obgleich doch nach demokritisch-epikureischer Lehre nur die Atome und das Leere objektiv wirklich sind, doch, gewissermaßen gegen seinen Willen, als einen selbständigen Faktor anerkennen, obgleich er aus der Natur der eigenschaftslosen Atome nicht ableitbar und dessen Wesen und Tätigkeit im Vergleich mit der Körperwelt und den sich in ihr abspielenden Vorgängen etwas völlig Andersartiges ist - und durch Schlußfolgerungen auf Grund dieser „Vorbegriffe" entsteht die Meinung (Doxa).
Epikur
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Wenn Epikur auch als Kriterien nur die drei: Wahrnehmung, „Vorbegriff", Gefühl (hierüber unten S. 154 f.) bezeichnet hat, so hat er doch, wie sich aus Partien seiner erhaltenen Schriften mit Sicherheit ergibt, unzweifelhaft noch ein viertes angenommen, wenn es auch erst seine Jünger ausdrücklich als solches erklärt haben: die φανταστική έπιβολή της διανοίας (meist nur als έπιβολή της διανοίας bezeichnet) „die vorstellungsfähige Erfassung von Seiten des Geistes", ein Begriff, der freilich - infolgte der Wortkargheit unserer Quellen, d. h. schon des Epikur selbst, der das Wort έπιβολή als terminus technicus verwendet und den Begriff in den uns erhaltenen Quellen nirgends näher erläutert, da er in seinen Briefen an Jünger schreibt, die mit seinen Lehren eng vertraut sind - bis auf den heutigen Tag in seiner Bedeutung noch stark umstritten ist. Man hat bis vor kurzem allgemein geglaubt und glaubt es vielfach noch heute, daß die Gegenstände, die nach Epikur der Geist vermittels „der vorstellungsfähigen Erfassung" begreift, nur die zweite Klasse jener Bilder seien, von denen eben gesprochen wurde. Aber nach der eindringenden Untersuchung des Epikurforschers Cyril Bailey darf man geradezu als sicher annehmen, daß die Objekte jener „vorstellungsfähigen Erfassung des Geistes" nicht nur jene Gruppen von Eidola sind, die der Geist unmittelbar, d. h. intuitiv erfaßt, sondern daneben auch die Begriffe der Dinge, und daß Epikur die επιβολή της διανοίας insofern als Kriterium betrachtet hat, als wir durch sie die falsche Meinung von der „wahren" unterscheiden, d. h. durch die begriffliche Erkenntnis. Schon Epikur selber hat also - das scheint nach Baileys eindringender Untersuchung kaum noch leugbar - die έπιβολή της διανοίας als ein Kriterium betrachtet und verwertet. Vermittels dieser - so vermutet Bailey als weiteren Gedanken Epikurs; doch bleibt dies Vermutung - steigen wir dann in methodischem Aufbau unserer Gedankengebilde schließlich zu den höchsten Begriffen wissenschaftlicher Wahrheit empor. 10 Capelle, Griechische Philosophie
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Daß Epikur neben den drei Kriterien der Wahrnehmung, der Prolepsis und den Gefühlen (πάθη) noch ein viertes angenommen haben muß und daß dieses nur die έπιβολή της διανοίας im Sinne der begrifflieben Erkenntnis gewesen sein kann, ergibt sich auch aus folgender Erwägung. Der Kardinalbegriff seiner Physik, dessen Wahrheit für ihn absolut feststeht - denn seine Erkenntnis beruht ja auf der γνησίη γνώμη, mit Demokrit zu reden - ist, wie wir gleich sehen werden, das Atom. Dieser Begriff kann aber weder durch das Kriterium der Sinneswahrnehmung noch durch das des „Vorbegriffs" (Prolepsis) geschweige denn durch die πάθη (Gefühle) erkannt werden, denn er ist das Ergebnis einer rein begrifflichen Deduktion. Epikur muß daher die begriffliche Erkenntnis (έ. τ. δ.) als das vierte und wichtigste Kriterium betrachtet haben. Von den Gefühlen (πάθη) als Kriterien unseres Handelns wird bei der Ethik zu sprechen sein.
b) Die Physik Auch die Naturkunde hat für Epikur Wert nur als Wegbereiterin des glückseligen Lebens (der Eudaimonia), deshalb nämlich, weil sie die Furcht vor dem Tode und vor den Göttern, überhaupt die Ungewißheit als Quelle von Aberglauben, Unruhe und Angst beseitigt und Mäßigung gegenüber den Lüsten und Begierden verleiht. Der Physiker Epikur ist also rein eudämonistisch orientiert; er ist weder Naturforscher im Sinne einer exakten Fachwissenschaft noch überhaupt Naturphilosoph in dem Sinne, daß ihn ein Drang nach Erkenntnis erfüllt und treibt, die wirklichen Ursachen der Naturerscheinungen und Vorgänge zu ergründen; es genügt ihm zu sehen und für seine Jünger klarzustellen, daß die betreffende Sache - ζ. B. ein Erdbeben oder eine Sonnenfinsternis - „mit rechten Dingen" zugeht, d. h. rein natürliche (mechanisch-physikalische) Ursachen
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hat. Wie im Einzelfall ein Naturvorgang wirklich zu erklären ist, das interessiert ihn im Grunde gar nicht. Er läßt daher bezeichnenderweise bei seinen Naturerklärungen stets verschiedene Möglichkeiten offen. Grundlegend für Epikurs gesamte Physik ist die Atomlehre der Abderiten 1 . Die Eigenschaften der Atome sind bei Epikur im ganzen dieselben wie bei Demokrit: Ausdehnung, d. h. absolute Raumerfüllung - denn die Atome sind das „Volle" (im Gegensatz zum leeren Raum) - und somit Größe und Gestalt sowie Schwere. Die Unterschiede der Atome voneinander beruhen daher auf ihrer verschiedenen Gestalt, Größe und Schwere, doch ist die Zahl ihrer Formen begrenzt (wenn auch die Atome derselben Form unendlich viele sind), während ihre Größe stets zwischen der Grenze des Sichtbaren und des unendlich Kleinen liegt. Infolge ihrer Schwere sind die Atome in einer Fallbewegung nach unten begriffen. Diese letztere Anschauung steht als epikureisch vollkommen fest, dagegen wird sie hinsichtlich des Demokrit und Leukippos von der neueren Forschung bestritten. Unter dieser Voraussetzung - daß nämlich die Schwere die Ursache des „Falls" der Atome ist - wird es ohne weiteres begreiflich, daß die Atome von Ewigkeit her in Bewegung sein müssen. Sie existieren als ungeworden von Ewigkeit her, haben also auch von Ewigkeit ihre Schwere und sind deshalb vor allem Werden in Bewegung. Die Atome bewegen sich alle gleich schnell - nur durch diese Annahme glaubt Epikur die Unteilbarkeit der Atome aufrechterhalten zu können - nach unten, d. h. nach der Mitte der betreffenden Welt zu. Wie aber sollen sie dann je aufeinandertreffen und sich miteinander verbinden und so die Entstehung einer Welt ermöglichen? Infolge seiner Annahme einer gleich 1 Auf gewisse, im Grunde unerhebliche Neuerungen des Epikur in der Atomlehre gegenüber Demokrit, wie ζ. B. seine Lehre von den Minima, kann hier nicht eingegangen werden.
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schnellen Bewegung aller Atome, die ihm, auch unter dem Zwang der aristotelischen Argumente dafür, daß im Leeren alle Körper gleich schnell fallen müßten, unvermeidlich schien, sah sich Epikur den Ausweg versperrt, auf Grund seiner Lehre von der Schwere der Atome als Ursache ihrer Bewegung anzunehmen, daß sie infolge ihrer verschiedenen Schwere verschiedene Schnelligkeit der Bewegung hätten und daher aufeinandertreffen müßten. Wie sollten sie dann aber je aufeinandertreffen? Das scheint ihm unter den obwaltenden Umständen nur möglich infolge einer παρέγκλισις, einer Abweichung der Atome von ihrer senkrechten Fallrichtung, eine Annahme, zu der er sich - im Unterschied zu Demokrit - schon aus einem anderen, außer-physikalischen Grunde gedrängt sah (vgl. auch S. 151), wenn er auch für diese παρέγκλισις keinerlei physikalische Ursache anzugeben wußte, so daß diese Annahme schon von seinen philosophischen Gegnern - Stoikern wie Akademikern als rein willkürlich und das Kausalitätsgesetz ignorierend aufs schärfste bekämpft wurde. Diese Lehre von der Abweichung der Atome von der senkrechten Fallrichtung ist dem Epikur eigentümlich. Das Motiv aber zu dieser - aus physikalischen Gründen überhaupt nicht herleitbaren - Annahme war für ihn, wie wir zuverlässig wissen, ein Motiv metaphysischer, bzw. ethischer Natur: der Wunsch, die Willensfreiheit gegenüber dem stoischen Determinismus zu retten. Epikur glaubt nämlich, wenn er die senkrechte Fallrichtung der Atome zugäbe - infolge des hiermit anerkannten ehernen Naturgesetzes, das keinerlei Ausnahme zuläßt - , dem absoluten Fatalismus erliegen zu müssen. Das scheint freilich betreffs der Seele auf den ersten Blick rätselhaft, da doch die Willensfreiheit nicht durch Gesetze der Schwere berührt zu werden scheint. Es wird aber deutlich werden, wenn wir die epikureische Seelenlehre kennengelernt haben (vgl. S. 150 f.). Daß alles Entstehen und Vergehen der Dinge auf der Vereinigung und Trennung der Atome besteht, gilt für die alten
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Atomisten wie für Epikur. Neu dagegen ist seine Meinung, daß die Bewegung der Atome auch noch in der Tiefe der festen Körper fortdauert, zu denen sie sich jeweils vereinigt haben. Wie es scheint, nimmt Epikur diese Fortdauer der Bewegung als eine notwendige Folge des Ab- und Zuströmens der Atome an einem sichtbaren Körper an. Auch in seiner Lehre vom Werden und Vergehen der Welten und der Lebewesen lehnt sich Epikur eng an seine großen atomistischen Vorgänger an. Dabei wirken auch die Theorien des Empedokles und Anaxagoras auf ihn ein. Daß das All unendlich ist, steht für ihn als eine denknotwendige Annahme fest. Natürlich ist es unentstanden und unvergänglich und erfährt in der Summe seiner Substanz weder Zu- noch Abnahme. Denn auch für Epikur gilt wie für die alten Physiker das Axiom, daß nichts aus nichts entstehen oder in nichts vergehen kann. Er lehrt daher ebenso wie sie die quantitative Konstanz des Stoffes und ebenso die Konstanz des Weltprozesses. Denn wie die Urbestandteile der Stoffe bleiben die Naturgesetze und damit alles Naturgeschehen in alle Ewigkeit gleich. Bei seiner Kosmogonie, die von der der alten Atomisten nur wenig abweicht, ist seine scharfe Ablehnung der Annahme eines persönlichen Urhebers bedeutsam. Im unendlichen All bilden sich im Laufe der unendlichen Zeit aus den unzähligen Atomen unzählige Welten, die, wie einst entstanden, einst wieder zugrunde gehen werden. Und während die einen entstehen, vergehen die anderen; ein Vorgang, der in alle Ewigkeit währt, da die allem Werden und Vergehen zugrunde liegende Bewegung ewig ist. Die entscheidenden Faktoren bei der Kosmogonie sind die Schwere und der Stoß der Atome gegeneinander, die dann je nach Form, Größe und Schwere voneinander abprallen oder sich miteinander verflechten, wobei sich das Gleiche zum Gleichen gesellt. Charakteristisch in seiner Kosmogonie ist auch seine scharfe Bekämpfung des Glaubens an die Beseeltheit oder gar göttliche Natur der Gestirne, denn gerade dieser Glaube
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- Epikur meint offenbar die babylonische Astrologie - ist eine Quelle schwerster seelischer Unruhen und Ängste. Die Gestirne sind nichts als zusammengeballtes Feuer, und der Ursprung ihrer Bahnen ist rein mechanisch-physikalischer Art. Auch die Entstehung der Lebewesen denkt sich Epikur ähnlich wie Demokrit und ältere Naturforscher: sie entstanden aus dem erwärmten Erdschlamm. In seiner Zoogonie wirken insbesondere empedokleische Anschauungen nach. Der Mensch aber hat sich aus ursprünglicher tierischer Roheit im Lauf einer langen Geschichte immer höher entwickelt; auch seine Sprache entsprang „von Natur". Waren doch seine ersten Sprechlaute ähnlicher Art wie das unwillkürliche Husten, Niesen, Brüllen und Stöhnen von Tier und Mensch. In seiner Lehre von den einzelnen Entwicklungsstadien der menschlichen Kultur lehnt sich Epikur wieder stark an Demokrit an, wobei insbesondere die Idee der Nachahmung der beseelten und unbeseelten Natur durch den Menschen eine große Rolle spielt. Auch Epikurs Meinung von der Seele beruht wesentlich auf den Anschauungen des Leukipp und Demokrit. Mit besonderem Nachdruck betont er die körperliche Natur der Seele; wenn sie körperlos wäre, könnte sie weder etwas wirken noch leiden. Hier begegnet sich der epikureische Materialismus mit der Stoa. Es wäre daher im Fall ihrer Unkörperlichkeit die Wechselwirkung von Seele und Leib unerklärlich. Unkörperlich ist nur der leere Raum. Die Seele, die erst mit dem Körper - bei der Zeugung durch die Vereinigung von Atomen des väterlichen und des mütterlichen Samens - entstanden ist, kann daher nur zusammen mit dem Leibe existieren, wie sie auch zusammen mit ihm wieder zugrunde gehen muß, indem sich zugleich mit der ganzen Ansammlung der Atome des Leibes auch die der Seele wie Rauch in die Luft zerstreuen. Wer das erkannt hat, der weiß, daß alle Hadesmythen, somit auch die Wiedervergeltung dereinst, nur Erfindungen der Dichter sind, daß daher keinerlei Grund zur Todesfurcht für uns vorliegt. Denn auch
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die Seele besteht aus Atomen, und zwar aus den glattesten und rundesten, die aber von denen des Feuers grundverschieden sind. Epikur faßt nämlich die Masse des Seelenstoffes als eine Zusammensetzung von vier verschiedenen Substanzen auf: einer feurigen, luftartigen, hauchartigen und dazu einer vierten ungenannten. Jede dieser vier Substanzen hat eine andere Funktion; nur die ungenannte hat die Fähigkeit, wahrzunehmen und zu denken. Während die drei anderen Seelenstoffe über den ganzen übrigen Körper verstreut sind, sind die Atome des vierten (ungenannten) im Thorax konzentriert - wie man schon aus den physischen Begleiterscheinungen von Angst und Freude ersieht - , der daher der Sitz des Denkens ist. Aus der verschiedenen Mischung dieser vier Seelensubstanzen erklären sich auch die vier menschlichen Temperamente. Epikur unterscheidet einen vernünftigen und einen vernunftlosen Teil der Seele, betont dabei aber nachdrücklich die Einheit der ganzen Seele, wenn sich auch beide Teile in sehr verschiedener Verfassung befinden können. Die Seele ist auch die Hauptursache der sinnlichen Wahrnehmung. Daher hat der Körper, wenn die von ihm scheidende Seele sich in ihre Atome auflöst, keinerlei Wahrnehmung mehr. Aber sie löst sich eben erst auf, wenn der Leib in seine Urteile zerfällt. Hier zeigt sich ein charakteristischer Unterschied zur Psychologie der Stoa: bei den Stoikern hält die Seele den Leib, bei Epikur dagegen der Leib die Seele zusammen, wie Zeller treffend bemerkt. Erst wenn man Epikurs kraß materialistische Auffassung von der Seele bedenkt, die aus einer Zusammensetzung vier verschiedener Atomkomplexe besteht, versteht man den Zusammenhang seiner Lehre von der Abweichung der Atome mit der Willensfreiheit, d. h. als diese rettend. Ein eigentümliches Stück der Physik Epikurs ist seine Lehre von den Göttern, die schon in ihrem negativen Teile charakteristische Züge zeigt. Epikur übt, teilweise auf ältere Argumente gestützt, schärfste Kritik an dem Anthropomorphismus der
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griechischen Volksreligion wie überhaupt an der Religion des Mythos. Aber ebenso scharf wendet er sich gegen den Vorsehungsglauben überhaupt, vor allem gegen den der Stoa, so daß er geradezu eine Antitheodizee entwickelt, bei der er auch rein anti-teleologische Argumente verwendet. In seiner Auffassung von der Entstehung des Götterglaubens steht er wieder ganz auf dem Boden des Demokrit: schon die Bilder (Eidola) der Götter, die die Menschen, wie im Traume, so auch im Wachen, unmittelbar durch ihren Geist aufnehmen, mußten ihnen das Dasein göttlicher Wesen zum Bewußtsein bringen. Auch die Regelmäßigkeit der Himmelserscheinungen und ebenso die meteorologischen Vorgänge (wie Blitz und Donner) ließen sie auf das Walten übermenschlicher Mächte schließen. Als einen „Beweis" für das Dasein von Göttern hat auch Epikur augenscheinlich den consensus gentium aufgefaßt (fr. 352). Hiermit hängt es zusammen, wenn er im dritten Brief sagt: „Denn das Dasein von Göttern ist Tatsache, ist doch ihre Erkenntnis evident." Da sich das Gottesbewußtsein bei allen Völkern findet, muß ihm, so meint er, die unmittelbare Erkenntnis von wirklich vorhandenen Wesen zugrunde liegen, die sich allen Menschen in gleicher Weise aufdrängt. Solche unmittelbare Erkenntnis aber kann nur erfolgt sein durch Eindringen der Eidola der Götter in das menschliche Bewußtsein. Denn die Erkenntnis der Götter durch die Menschen beruht auf dem ständigen Zuströmen von gleichen Bildern, die sich, aus unzähligen feinsten Atomen bestehend, von den Göttern selber ständig ablösen und durch die Poren in den Körper der Menschen zum Sitz des Denkens eindringen. Schon hieraus ergibt sich, daß die Götter eine körperliche Substanz haben müssen, wie ja alles Wirkliche körperlicher Natur ist. Epikur vermag sich auch die Götter nur in menschlicher Gestalt zu denken, die freilich aus einer unendlich feineren Substanz als die der sterblichen Menschen bestehen. Wenn er aber als ihren Aufenthaltsort die Metakosmien (die Zwischenräume zwischen den ver-
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schiedenen Welten) annimmt, so leitet ihn dabei offenbar der Gedanke, daß nur unter dieser Voraussetzung die Götter nicht in den Untergang irgendeiner Welt hineingezogen werden können. Besonders charakteristisch sind Epikurs Lehren von dem geistig-seelischen Wesen der Götter. Ihre beiden Grundeigenschaften sind Unsterblichkeit und Glückseligkeit. Schon hieraus ergibt sich, daß sie Leidenszuständen - physischer wie psychischer Art - entrückt sind. Solche Wesen werden weder von Sorge und Angst noch von Liebe und Haß oder Zorn bewegt. Sie haben keinerlei Ärger und Unruhe und machen auch anderen keine. Das eben ist der Inhalt ihrer Eudaimonia: sie kümmern sich um nichts, tun nichts als sich selbst und ihre glückliche Lage betrachten. Vollkommene Sorglosigkeit und Unbekümmertheit im Verein mit der Freiheit von allen Pflichten ist die Grundlage des Götterglücks nach Epikur. Daher erfreuen sie sich vollendeter Gemütsruhe und größter Heiterkeit. Aus alledem ergibt sich, daß sie sich um den Lauf der Welt, nun gar um das Leben der Menschen hier auf Erden, überhaupt nicht kümmern, so daß auch von dieser Seite her der Götterfurcht des Menschen jeder Boden entzogen ist. In Wahrheit sind die Götter des Epikur das kosmische Gegenbild des epikureischen Weisen (vgl. unten S. 161), Epikurs eigenes Ideal ins Außerweltliche projiziert. Die Frage, warum Epikur den Glauben an Götter beibehält, der doch durch das atomistische System in keiner Weise gefordert, vielmehr ausgeschlossen ist - wie schon Karneades, der große Kritiker der epikureischen Götterlehre, bemerkt hat - , kann hier nur kurz berührt werden. Unzweifelhaft wirkt auf ihn auch hier der Einfluß des Demokrit, der ebenfalls - im Widerspruch zu der Atomtheorie - die Existenz von Göttern, übrigens ähnlicher Art wie die Epikurs, angenommen hatte. Auch der consensus gentium hat dabei zweifellos auf Epikur eingewirkt und nicht zuletzt das innere Bedürfnis, sein Ideal in wirklich existierenden
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unsterblichen Wesen verkörpert zu sehen. Und wohl noch ein anderes, nicht zu unterschätzendes Moment: die nicht erloschene Erinnerung an die Lichtgestalten der hellenischen Götter in dem Glauben seiner Kindheit. Um so schärfer ist demgegenüber seine Ablehnung der Volksreligion als einer Quelle ewiger Unruhe und Angst für die Menschen. Es ist aber längst erkannt worden, daß hier Epikur in seiner Auffassung vom Wesen der griechischen Religion, bzw. Religiosität seiner Zeit durchaus unrecht hat. So bemerkt Heinrich Gomperz, daß die Religion weit mehr und weit öfter beruhigt und tröstet, als sie schreckt und beunruhigt. Und, fügen wir hinzu, die Auffassung, daß die Furcht die eigentliche Wurzel des religiösen Gefühls sei, ist nur die der griechischen Aufklärung, deren historische Linie von den Sophisten über Demokrit und Aristipp zu Epikur geht, der ja selber ganz und gar Aufklärer ist. Aufklärer aber sind noch niemals fähig gewesen, das eigentliche Wesen der Religion zu erfassen. Im übrigen ignoriert hier Epikur vollständig den gewaltigen geschichtlichen Prozeß der Vergeistigung und Versittlichung des griechischen Gottesbegriffs, der mit Xenophanes beginnt, um seinen Höhepunkt in Aischylos, Piaton und später in Poseidonios zu erreichen. Epikurs Kampf gegen die Religion trifft in Wahrheit nur die Religion der „Primitiven". c) Die Ethik Aus der Tatsache, daß wir nur einmal leben und mit dem Tode alles aus ist - denn dies steht für Epikur fest (siehe unten S. 148) - zieht er für seine Grundeinstellung zum Leben radikal die Konsequenzen (vgl. Fr. 204). Es gilt daher, dies kurze Dasein nach Möglichkeit mit Glück zu erfüllen. Denn gerade für Epikur ist der Endzweck aller Philosophie die Eudaimonia. Worin aber besteht diese? Was ist das Telos des Menschen, dessen Erreichung ihm die Glückseligkeit verbürgt? Das Telos
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ist die Lust (ήδονή). Dies Gefühl (πάθος), das der Maßstab für all unser Tun und Lassen ist, ist schon von Natur in alle Lebewesen gepflanzt. Das sehen wir schon am Verhalten kleiner Kinder, denen noch jede Reflexion fernliegt, ja der Tiere, die geradezu „Spiegelbilder der Natur" sind: sie trachten instinktiv nach der Lust, während sie den Schmerz scheuen. Es bedarf daher keines Beweises, daß die Lust das Ziel ist; das fühlt man, wie man fühlt, daß das Feuer heiß, wie man schmeckt, daß der Honig süß ist. Lust und Unlust sind daher Urmotive aller Handlungen der Lebewesen, die durch die Natur selber in sie gelegt sind. Was aber ist das Wesen der Lust? Hier fällt dem Kenner der Quellen zunächst auf, daß eine Definition des Begriffes Lust bei Epikur ebenso fehlt wie eine dialektische Untersuchung über den Begriff, eine Tatsache, die bei dem Verächter der Dialektik schwerlich ein Zufall ist. Sicher aber ist, daß unter Lust von Epikur in vielen Fällen seiner Äußerungen durchaus die Sinnenlust verstanden wird. „Ich wenigstens weiß nicht, was idi unter dem Guten verstehen soll, wenn ich absehe von den Lüsten durch den Gaumen, durch die Werke der Aphrodite, durch das Ohr und von den süßen Gefühlen beim Anblick einer schönen Gestalt" heißt es in Fr. 67, eine Äußerung, die keineswegs vereinzelt ist, sondern durch andere noch verdeutlicht und verstärkt wird (Fragment 410 ff.!), Äußerungen, die zugleich zeigen, daß für Epikur die Sinnenlust an sich nicht nur nicht verwerflich, sondern schlechthin naturgewollt ist. Auch die seelische Lust wird von ihm aus der sinnlichen hergeleitet. Denn auch die Seele empfindet Lust nur auf Grund körperlicher Lüste, sei es unmittelbar in der Gegenwart oder auf Grund der Erinnerung oder Erwartung (Fragm. 429 ff., 451), eine Ansicht, der die Kyrenaiker keineswegs beipflichteten. So kann es zunächst scheinen, als ob Epikur unter Lust nur die sinnliche Lust verstände. Aber dem stehen andere in ihrem Zusammenhang erhaltene Äußerungen des Epikur nachdrücklich entgegen, die deudich eine verschiedene Wertung der Lüste erkennen lassen.
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Denn wenn auch jede Lust an sich ein Gut ist, so ist doch nicht jede von uns zu wählen. Denn oft versagen wir uns manche Lust, dann nämlich, wenn größere Unlust aus ihr entspringen würde, wie wir umgekehrt manche Schmerzen freiwillig auf uns nehmen, wenn eine größere Lust für uns daraus folgt. Wir müssen daher - das lehrt uns die Erfahrung - vor unserem Tun und Lassen Lust und Unlust, die daraus entspringen werden, sorgfältig gegeneinander abwägen, eine „Lust-Unlust-Bilanz" (σνμμέτρησις) vornehmen. Epikur vertritt also gerade das Prinzip jener „Meßkunst", die ein Piaton (im Phaidon, c. 13) so scharf und verächtlich verwirft. Immerhin bedeutet dies von Epikur vertretene Prinzip bereits eine starke Einschränkung des Begriffes der Lust als Telos. Das zeigt sehr deutlich eine bekannte Stelle aus dem 3. Brief: „Sind doch nicht ständige Gelage und Schwelgereien oder der Genuß von Knaben und Weibern oder von Fischen und anderen Leckerbissen einer üppigen Tafel die Quelle des lustvollen Lebens, sondern vielmehr eine nüchterne Berechnung λογισμός), die die Beweggründe allen Wollens und Meidens ausspürt, ist diese Quelle". Der vernünftigen Einsicht (φρόνησις), die jene „Meßkunst" übt, kommt daher die entscheidende Bedeutung für unser Glück zu. Sie ist es auch, die unter unseren Begierden drei Arten unterscheidet: natürliche und notwendige, wie die nach Kleidung und Nahrung; natürliche, aber nicht notwendige, wie die erotischen und solche, die weder natürlich noch notwendig sind. Die erste Gruppe ist leicht zu befriedigen, ist doch die Natur mit wenigem zufrieden. Die zweite Gruppe ist nicht schwer zu stillen, aber auch leicht zu entbehren, während die dritte Gruppe zu unterdrücken ist. Bei allen Bedürfnissen des Lebens aber, auch bei den erlaubten, muß man Grenze und Maß innehalten. Das gilt von Speise und Trank wie von allen anderen. Auch Epikur vertritt das Ideal bescheidenster Genügsamkeit, ja möglichster Autarkie, wie denn auch sein Leben und das seiner Jünger diesen Grundsatz verwirklicht hat.
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Der Begriff der zu erstrebenden Lust hat somit tiefgreifende Einschränkungen erfahren. Kann aber auf dies stark gesiebte und reduzierte Quantum von Lust die Eudaimonia eines ganzen Lebens gegründet werden? Auch die sittlichen, d. h. von Seiten der Vernunft (der φρόνησις) erlaubten Lüste sind doch nur flüchtig und von kurzer Dauer. Die reine, die höchste Lust, die sich ständig gleich bleibt und daher ein absolutes Gut ist, muß anderer Art sein. Sie kann, da der Mensch aus Leib und Seele besteht, nur doppelter Natur sein; daher besteht sie in der Schmerzlosigkeit des Körpers und dem Zustand völliger Gemütsruhe (ησυχία), der schon von Epikur gern mit dem der γαλήνη verglichen wird, jener völligen Stille des Meeres, wenn sein Spiegel von keinem Windhauch bewegt wird. Dieser Zustand ist keiner Steigerung fähig; er ist die höchste Lust, die überhaupt denkbar ist. Quellen dieser Ataraxie 1 sind die Freiheit von allen πάθη, von jeder Art von Affekten und Begierden oder doch, was die letzteren betrifft, die Beherrschung der natürlichen und notwendigen, sowie der natürlichen, aber nicht notwendigen und die Freiheit von den weder natürlichen noch notwendigen Begierden und von jeder Art Furcht vor den Göttern, vor dem Tode, vor dem Schmerz wie vor den Mitmenschen, deren Treiben der Weise aus dem Wege geht und andererseits die Freiheit von allen Meinungen (Doxai), von Vorurteile jeder Art, die ja die Ursache aller πάθη sind. Diese Freiheit von allen Meinungen und Leidenszuständen der Seele kann nur durch Vernunft erworben werden; die Seele aber hat die Fähigkeit, der Vernunft zu gehorchen. Wir sehen: der Zustand, den Epikur unter höchster Lust versteht, ist rein negativer Natur, so daß es begreiflich ist, wenn die jüngeren Kyrenaiker diesen Zustand gar nicht als Lust anerkannten, da er ja dem eines Schlafenden, ja eines Toten gleiche. So ergeben sich für Epikur zwei Arten von Lüsten: die in der Bewegung, 1
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d h. die positiven Lustgefühle und die katastematischen, die, rein negativer Natur, den Zustand völliger Schmerz- und Sorglosigkeit bezeichnen. Aber nur die katastematische Lust ist ein unbedingtes Gut. Es ist für die Ethik des Epikur in hohem Grade bedeutsam und für ihn menschlich höchst charakteristisch, daß er, der - so schien es uns zuerst - die Lust des Fleisches (σάρξ, ein von Epikur in diesem Zusammenhang oft gebrauchter Ausdruck) als die einzig wahre zu betrachten scheint, als das Telos einen Zustand rein negativer Natur betrachtet. Diese seelische Lust aber, d. h. diejenige, die wir als rein seelische Lust bezeichnen würden, wie ζ. B. die Freude am Glück des Vaterlandes, wird nirgends von Epikur scharf und grundsätzlich von der leiblichen, bzw. leiblich-seelischen Lust unterschieden. Diese seelische Lust, die er gleichwohl sehr gut kennt, wie ζ. B. die denkwürdigen Worte seines letzten Briefes (Fragm. 138) zeigen, wird von ihm, im Gegensatz zu den Kyrenaikern, die körperliche Lüste und Schmerzen für weit stärker als die seelischen hielten, weit höher gewertet als die des Leibes, da diese nur in der Gegenwart wirkt, während sich die seelische durch Erinnerung und Hoffnung auch auf unser vergangenes und zukünftiges Leben erstreckt. Solche seelische Lust vermag, wenn anders man ein wirklicher Philosoph ist, audi die Schmerzen des Körpers zu übertäuben, wie es Epikur am letzten Tage seines Lebens durch sein eigenes Verhalten in so heroischer Weise bewahrheitet hat. Wenn die reine Lust das höchste Gut ist, muß der Schmerz das höchste Übel sein. Epikur denkt hierbei zunächst an den körperlichen Schmerz, denn wenn er auch den seelischen Schmerz entsprechend seiner Auffassung von der seelischen Lust für stärker als den physischen hält, so meint er doch, daß kein Grund zu seelischer Betrübnis vorliege, wenn wir weder von gegenwärtigen noch von der Furcht vor künftigen körperlichen Schmerzen gequält werden. Also auch hier ein ausge-
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sprechen sensualistischer und materialistischer Standpunkt. Was aber den körperlichen Schmerz, dies einzige wirkliche Übel, betrifft, so vermag der Philosoph auch dies zu überwinden in der Erwägung, daß gar zu arger Schmerz nur kurz ist, weil er zum Tode führt, während lange dauernder Schmerz minder heftig, daher erträglich ist. Der Weise vermag auch den physischen Schmerz durch die Erinnerung an genossene Freuden abzuschwächen; ist dieser aber gänzlich unerträglich, dann hat er stets die Möglichkeit, durch Selbstmord aller Qual ein Ende zu machen. So beruht die Eudaimonia auf völliger Freiheit von Schmerz und Furcht, während die Unseligkeit (κακοδαιμονία) der Masse auf tausend grundlosen Ängsten und ungezügelten, daher unsittlichen, eitlen Begierden beruht, da sie stets im Bann nichtiger Wahnvorstellungen (Doxai) dahinleben. So scheint die Eudaimonia des Philosophen - denn wenn auch jedermann dem Grundtriebe der menschlichen Natur zufolge danach trachtet, kann doch nur bei ihm von einer solchen die Rede sein, da jede Eudaimonia allein das Ergebnis der Philosophie ist - durchaus negativer Natur. Inwiefern sie trotzdem infolge von Beziehungen von Mensch zu Mensch einen gewissen positiven Inhalt hat, wird sich später bei der Lehre vom Weisen zeigen. Die Eudaimonia aber kann nur erreicht werden durch die Tugend (αρετή), eine Grundanschauung, die allgemein hellenisch ist. Nach Epikur aber reicht - das ist charakteristisch für seine Ethik - die Tugend selber nicht aus zur Glückseligkeit; denn diese wird erst durch die Lust verursacht, die aus der Tugend entspringt, nicht durch die Tugend selbst. Eine nähere Bestimmung des Tugendbegriffs suchen wir jedoch bei Epikur vergeblich. Um so deutlicher hat er sich über das Verhältnis des tugendhaften zum lustvollen Leben ausgesprochen: man kann, nicht dauernd in Lust leben, ohne zugleich einsichtig, gerecht, maßvoll etc. zu leben. Es gibt auch kein Leben der
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Tugend, das nicht von Lust erfüllt wäre. Beide sind voneinander untrennbar. So hat der Gerechte die vollendete Gemütsruhe, während der Ungerechte von lauter Unruhe erfüllt ist. Wirkliche Tugend, die keine Lust verursacht, gibt es nicht. Die Tugend aber erstreben wir um der Lust willen, die sie uns bringt; sie ist nach Epikur in Wahrheit nur Mittel zum Zweck (wird nur um ihrer Früchte willen erstrebt), während die Lust Selbstzweck ist. Wenn daher dem Epikur schon seine antiken Gegner vorwarfen, daß er die Tugenden zu Dienerinnen der Lust erniedrige, hatten sie durchaus recht. Das zeigt auch seine Lehre von den vier Grundtugenden, eine Einteilung, die er aus der Ethik und Staatslehre Piatons übernimmt, aber die vier Tugenden haben bei Epikur einen wesentlich veränderten Inhalt und - im Ganzen seiner Ethik, wie schon das eben Gesagte erkennen läßt - eine andere Bedeutung. Die φρόνησις ist die Einsicht, die uns die wahren Lüste verschafft, die Schmerzen vertreibt. Sie ist die höchste Tugend, denn auf ihr beruhen alle anderen. So die Tapferkeit, die auf kluger Berechnung (λογισμός) des für uns wirklich Vorteilhaften beruht. Daher ertragen wir durch sie Beschwerden, um größeren Beschwerden zu entgehen. Und wenn der Tapfere den Tod verachtet, den Schmerz erträgt, so geschieht auch dies auf Grund der vernünftigen Einsicht. Auch die Selbstbeherrschung (Sophrosyne) dient nur dazu, uns Unlust zu ersparen und größere Lust zu verschaffen. Denn sie vertreibt die überflüssigen, weder natürlichen noch notwendigen Begierden, während sie den notwendigen Maß und Ziel setzt. Auch die Gerechtigkeit hat ihren Ursprung in dem Nutzen, der uns aus ihr erwächst, wie denn auch das Recht unter den Menschen der Urzeit auf der Vereinbarung beruhte, sich gegenseitig nicht schaden zu wollen. Erstrebt wird also auch die Gerechtigkeit um ihrer Früchte willen, denn gerade der Gerechte besitzt, wie wir sahen, die vollendete Gemütsruhe (αταραξία).
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Wenn schon die Tugendlehre Epikurs überall den utilitaristischen Grundzug erkennen läßt, so ist dies noch mehr der Fall bei seiner Axiologie, soweit von einer solchen bei ihm die Rede sein kann, da er in Wahrheit nur die Lust als ein Gut, den Schmerz als ein Übel betrachtet. Aus dieser Grundanschauung zieht er radikal die Konsequenzen. Daher wird ein mittelmäßiger Schmerz für ein größeres Übel als die größte Schande erklärt: „In der Schande ist nichts Schlimmes, wenn keine Schmerzen folgen". So wird die Schale des Hohns über einen griechischen Nationalhelden wie Epaminondas und seine Taten ausgegossen: der Mann hätte lieber in Ruhe zu Hause bleiben sollen! Ja, es werden alle diejenigen, die den Standpunkt vertreten, man müsse der Würde dienen, sich um den Staat kümmern, sein ganzes Leben nach der Pflicht und nicht nach dem Vorurteil handeln, für das Vaterland Gefahren bestehen, bluten und sterben - alle solche Leute werden von Epikur für Phantasten und Verrückte erklärt. Daß bei solchem Standpunkt auch das Geld als Mittel zum Zweck geschätzt und sein Erwerb selbst unter Gefahr empfohlen wird, da es uns viele und große Lüste verschaffen kann, nimmt nicht weiter wunder. Am lehrreichsten für das Verständnis der Ethik Epikurs ist sein Idealbild des Weisen, das beinah in jeder Hinsicht das Gegenstück zum stoischen Weisen bildet. Der Weise wird sich auch den Anforderungen des praktischen Lebens nicht entziehen, doch immer nur, soweit es sein persönliches Interesse erfordert. Dem Nomos (hier: der herkömmlichen Sitte) seiner Mitbürger wird er, so sehr er sich innerlich über ihn erhaben fühlt, aus Opportunitätsgründen häufig Zugeständnisse machen. Wie er über die sozialen Werturteile denkt, haben wir schon gesehen. Die τύχη (Fortuna) hat über den epikureischen Weisen ebensowenig Macht wie über den der Stoa. Denn auch er ist αυτάρκης und trägt alle Güter in sich selbst. 11 Capelle, Griechische Philosophie
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Um so stärker unterscheidet sich der Weise Epikurs in seinen sozialen Beziehungen. Das kann schon der Satz Epikurs zeigen, daß es keine menschliche Gemeinschaft gäbe, vielmehr jeder nur für sich sorge. Aus dieser Grundeinstellung heraus zieht er radikal die Konsequenzen. Der Weise wird (von besonderen Ausnahmen abgesehen) weder Ehe noch Familie gründen, um keinerlei Pflichten oder gar Widerwärtigkeiten zu haben. Auch die Beteiligung an öffentlichen Angelegenheiten, insbesondere am Staatsleben, lehnt er durchaus ab, weil dadurch seine Ataraxie in Frage gestellt würde. Sein Lebensprinzip ist das Λάθε βιώσαζ (Lebe im Verborgenen). Ein Vaterland kennt er nicht; sein Grundsatz ist ausgesprochenermaßen: „Ubi bene, ibi patria". Auch er ist Kosmopolit, aber im Sinne der Isolierung des Individuums von der Gemeinschaft. Auch durch das Recht fühlt er sich innerlich nicht verbunden. Gibt es doch kein Recht von Natur, sondern nur auf Grund gegenseitiger Vereinbarung in der Urzeit. Denn auch die Gerechtigkeit beruht nur auf dem gegenseitigen Nutzen. Daher ist auch der Begriff des Rechts im Lauf der Zeit Wandlungen unterworfen. Daher ist auch das Ungerechtsein (was allgemein als solches gilt) an sich kein Übel. Nur eine Beziehung sozialer Art gibt es für den Weisen: die Freundschaft, die zu seinem Glück durchaus erforderlich ist, zumal auch sie von der Lust untrennbar ist. Sie wird daher als wichtigster Faktor zum glücklichen Leben gepriesen, wie denn auch zwischen Epikur und seinen Jüngern und Jüngerinnen sowie diesen untereinander eine einzigartige Freundschaft bestanden hat. In einer Denkerpersönlichkeit und der Gemeinde seiner Anhänger, in der die Ehe und die Familie überhaupt keine Bedeutung haben, wird ja gerade die Freundschaft aufs höchste gewertet und verwirklicht werden, zumal wenn alle mit ihrem vergötterten Meister dasselbe Ideal im Herzen tragen, so daß von ihnen allen das schöne Wort Ciceros gilt: „Idem velie atque idem nolle, ea demum vera amicitia est". Freilich auch die Freundschaft beruht auf dem gegenseitigen Nutzen, denn
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ohne die Freundschaft kann man nicht sicher und furchtlos leben, eine Auffassung, die aufs engste mit Epikurs Ansicht von der menschlichen Natur überhaupt zusammenhängt, die nach seiner Meinung nicht zu leben vermag, ohne dabei auf ihren Vorteil bedacht zu sein (Fragm. 527): „Jeder liebt den anderen nur um seiner eigenen Person willen", d. h. aus egoistischen Gründen. So lautet Epikurs Lehre in der Theorie, in der Wirklichkeit lebendigster Lebensgemeinschaft wird sicherlich dieser öde Utilitätsstandpunkt völlig vergessen sein und echter, d. h. idealer Freundschaft untereinander Platz gemacht haben. Und Epikur selber ist es offenbar nicht anders ergangen. Ja, nicht einmal die Liebe zwischen Eltern und Kindern ist von Natur (Fragm. 528)! Im übrigen meidet der Weise die Masse der Menschen. Eine eigentümliche Inkonsequenz in Epikurs Lehre ist das Verhältnis des Weisen zu den Göttern, die sich um nichts auf der Welt kümmern. Gleichwohl opfert er und betet zu ihnen und nimmt an ihren Festen teil, einmal in Anpassung an den Nomos, jedoch nicht etwa, als ob die Götter zürnten, wenn er das nicht täte, sondern aus Bewunderung und Ehrfurcht vor ihrem erhabenen Wesen. Dagegen wird die Mantik von Epikur im Einklang mit seiner Grundlehre von den Göttern völlig verworfen. Der Gemütszustand des Weisen ist dauernde Glückseligkeit: seine Seelenverfassung gleicht dem regungslos daliegenden Spiegel des Meeres; dabei genießt er die sich bietenden Lüste und schwelgt in Erinnerung an genossene Freuden. Selbst Zeus könnte ihn an Seligkeit nicht übertreffen, denn es kommt nicht auf ihre Dauer, sondern auf ihren Grad an. Selbst wenn er taub und blind werden sollte, bleibt der Weise glücklich, denn Leben heißt Denken, und seine Gedanken hängen allein von ihm ab. Die Schwäche dieses Weisenideals aber zeigt sich, wenn wir nach den Grundmotiven fragen, die den Weisen bei seinem Tun und Lassen leiten: er tut alles, aber auch alles, aus egoistischen 11*
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Beweggründen. Und wenn er das Unrecht meidet (was die Menschen unter Unrecht verstehen), tut er das nur aus Furcht vor den Folgen, seien diese subjektiver innere Unruhe und Angst vor Strafe seitens der Mitmenschen oder objektiver Natur. Wenn er sicher wüßte, daß es nicht herauskäme, würde er ohne Bedenken auch sogenanntes Unrecht tun. Wir sehen, dieser Weise ist ein geistiger Nachfahre der alten Sophistik, die von Piaton so scharf bekämpft wird. Die Ethik Epikurs ist extrem individualistisch, durchaus auf dem Prinzip des Egoismus aufgebaut und ausgesprochen utilitaristisch, so daß sie in manchen Zügen nicht nur kleinbürgerlich, sondern geradezu philiströs anmutet. Die entscheidenden Faktoren für Tun und Lassen des Menschen sind nach ihr der persönliche Vorteil und die persönliche Lust. Sie kennt weder das Prinzip des Guten an sich, das man um seiner selbst willen tut, noch das der Pflicht. Und sie ist durchaus antisozial; die Begriffe Staat und Vaterland werden von ihr ebenso negiert wie Familie und Ehe. Dabei ist sie im Grunde durchaus quietistisch: nicht das Handeln, sondern das Genießen ist ihr Lebensinhalt. Das „Glück im Winkel" ist ihr Ideal, das des sich von der bürgerlichen wie der menschlichen Gemeinschaft grundsätzlich isolierenden Einzelnen, der mit anderen ebensolchen Einzelnen eine Freundesgemeinde bildet, die in ästhetischen Gefühlen und Genüssen gemeinsam schwelgt. Eine solche Ethik konnte nur entstehen (nun gar im Kopf eines Atheners) als der Staatsgedanke, der noch im ethischen Denken eines Sokrates, Piaton und Aristoteles zentrale Bedeutung hat, infolge der weltgeschichtlichen Entwicklung gegenstandslos geworden war. Sie ist nur verständlich im Zeichen des politischen und ethischen Niedergangs der griechischen Nation. Es fehlen auch in dieser Ethik nicht Widersprüche und Unklarheiten, wovon hier nur eine besonders hervorgehoben sei: das Verhältnis der positiven zur negativen Lust und des Wertes beider wird von Epikur durchaus unklar gelassen. Bald hören wir, daß die Sinnenlust
Epikur
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das einzig wahre Gut sei, bald wird die rein negative Lust (die Schmerzlosigkeit und die Ataraxie) als das einzig wirkliche Gut und daher als das Telos erklärt. Dieser Widerspruch bleibt bei Epikur im Grunde durchaus unausgeglichen, so daß man die Frage aufwerfen könnte, die noch nirgends aufgeworfen ist, da das Problem einer Entwicklung des Epikur noch niemals gestellt ist, ob hier nicht zwei im Grunde unvereinbare Standpunkte vorliegen, die zwei verschiedenen Entwicklungsperioden des Epikur selber angehören. Aber auch seine Lehre vom Schmerz als größtem Übel steht mit seiner Behauptung vom Weisen in Widerspruch, der selbst unter Foltern glückselig sei. Sehr stark wirken in der epikureischen Ethik sophistische Grundanschauungen nach, und gerade die Immoralismen bei Epikur haben hier ihren historischen Ursprung. Mag auch ein Verteidiger der epikureischen Lehre auf den Vorwurf des Egoismus ihrer Lebensanschauung ihren Freundschaftskult demgegenüber anführen, so wäre doch, abgesehen davon, daß auch die Freundschaft - wenigstens theoretisch - von Epikur auf den Nutzen gegründet wird, zu sagen: es kann doch unzweifelhaft von einem Sektenegoismus der Epikureer gesprochen werden, wie man heutzutage von einem Familienegoismus oder in der Politik von einem Parteiegoismus spricht. Auch ist die Lehre, daß die Lust das Gute sei, ja - abgesehen von Aristipp und der kyrenaischen Schule - schon von Eudoxos von Knidos, Piatons einstigem Schüler an der Akademie, vertreten worden. Also auch dieser Gedanke ist nicht original. Doch nun noch ein Wort zur epikureischen Naturphilosophie, einschließlich der Psychologie. Der Atomismus versagt als Weltanschauung ja völlig gegenüber dem gesamten Bereich der Organismen und zweitens gegenüber den Tatsachen aller geistigen Vorgänge. Andererseits ist die Annahme von Göttern (bei Demokrit und Epikur) gegenüber der atomistischen Grundlehre, daß es in Wahrheit nur Atome und das Leere gibt, völlig
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unhaltbar. Denn diese epikureischen Götter haben ja in Wahrheit gar keine Existenzberechtigung. Nach Epikurs Lehre weilen sie in den Metakosmien, d. h. in den Zwischenräumen zwischen den zahllosen Welten, um nicht in deren Untergang mit hineingezogen zu werden. Dort weilen sie gänzlich unbekümmert um die gesamte Welt außer ihnen und schwelgen dort in reinster Lust. Sie haben keinerlei Funktion noch irgendeine Aufgabe oder ein Ziel. Man weiß wirklich nicht, wozu und weshalb sie da sind. Als psychologisches Urmotiv dieser seltsamen Lehre des Epikur ist von einem modernen Forscher gesagt worden, daß dem Epikur bei dieser Annahme von Göttern wohl die Lichtgestalten der hellenischen Götter in seine Seele aus seiner frühen Jugendzeit wie ein Märchen hineingeleuchtet haben. Von einer Geschichte des Epikureismus kann daher überhaupt nicht die Rede sein. Die Grundlehren des von seinen Jüngern vergötterten Meisters bleiben bis zum Erlöschen der Schule im 3. Jahrhundert n. Chr. unangetastet. Ein merkwürdiges Dokument ihres Fortlebens ist noch um 200 n. Chr. die im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts wiederentdeckte große Steininschrift auf der Wand einer Säulenhalle in Oinoanda tief im lykischen Binnenlande, die ein sonst nicht bekannter Diogenes, ein überzeugter Anhänger der epikureischen Lehre, zum Zwecke der Werbung für diese dort hat einmeißeln lassen. Ihr Verfasser verkündet hier nicht nur das epikureische Evangelium der inneren Freiheit des Menschen, sondern setzt sich auch kritisch mit Lehren des Empedokles, des Demokrit und insbesondere mit denen der Stoa auseinander. Anklang hat die epikureische Lebensanschauung seit dem Beginn des 1. Jahrhunderts v. Chr. besonders in Rom gefunden, wenn sie auch stets auf kleine Kreise beschränkt blieb. Ihr bedeutendstes Dokument im römischen Kulturkreis ist das Lehrgedicht des LUKREZ, das nicht nur als Quelle der epikureischen Philosophie von bleibendem Wert ist.
167 III. Die Skepsis Die Skepsis als grundsätzlicher philosophischer Standpunkt, der das ganze Denken beherrscht, wird erst in der Zeit nach Alexander durch PYRRHON VON ELIS gegründet, dessen Lebenszeit etwa den Zeitraum von 360-270 v. Chr. umfaßt. Doch hat auch Pyrrhons Skepsis eine lange und vielverzweigte Vorgeschichte. Sicher ist jedenfalls, daß auf die Entwicklung von Pyrrhons Standpunkt nicht nur die Ansichten gewisser Demokriteer, wie Anaxarchos, sondern vor allem die erkenntnistheoretische Skepsis der alten Sophisten (Protagoras) und wohl auch die Erkenntnislehre der Kyrenaiker maßgebend eingewirkt hat. Die Geschichte des griechischen Skeptizismus reicht mit gewissen Unterbrechungen von Pyrrhon bis in das 3. Jahrhundert n. Chr. Wir unterscheiden zunächst die alte Skepsis des Pyrrhon und des Timon - nach dessen Tode (etwa um 230) die altskeptische Schule alsbald erlischt - von der Form, die sie mit dem Eindringen des Skeptizismus in die Akademie Piatons durch ARKESILAOS erhält (in der sog. „mittleren" Akademie), ferner den Höhepunkt des griechischen Skeptizismus, der durch KARNEADES als Haupt der „neuen" Akademie bezeichnet wird. Mit Karneades' Nachfolger PHILON VON LARISA (Schulhaupt der Akademie von 110 bis etwa 88 v. Chr.) bahnt sich deutlich eine Abschwächung der radikalen Skepsis an. Sein Nachfolger ANTIOCHOS VON ASKALON, Schulhaupt etwa 88-68 v. Chr., geht dann mit vollem Bewußtsein von der Skepsis zum Eklektizismus über und kehrt damit zum Dogmatismus zurück1. Erst unter AINESIDEMOS (frühestens um 40 v. Chr.) beobachten wir ein Wiederaufleben der pyrrhonischen Skepsis, so daß die Geschichte der Philosophie hier von Neu-Pyrrhoneern spricht. Endlich entwickelt sich dann mit den „empirischen" Ärzten die Skepsis noch einmal im zweiten Jahrhundert n. Chr. zu hoher 1
Vgl.
s.
261.
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Blüte, wie sie vor allem durch den Namen dés SEXTUS EMPIRIcus (200 n. Chr.) bezeichnet wird, dessen Werke uns eine unschätzbare Quelle für die Geschichte des griechischen Skeptizismus sind. Eine besondere Beachtung verdient daneben der bedeutende Arzt und Skeptiker MENODOT VON NIKOMEDEIA, dessen Blütezeit in die erste Hälfte des zweiten Jahrhunderts n. Chr. fällt. Von großem Interesse ist es, daß dieser Menodot schon eine Theorie der wissenschaftlichen Forschungsmethode wie auch eine Theorie der Beobachtung entwickelt hat, die ja gerade für den Empiriker von besonderer Bedeutung sein mußte. Und ganz überraschend ist es, daß dieser Empiriker als zweiten Grund der Erfahrung die Geschichte statuiert. Und andererseits die Tatsache, daß er zur Verifikation der Hypothese das Experiment fordert (πείρα τριβική). Aber wie er trotzdem kein reiner Empiriker ist, so ist er auch kein reiner Skeptiker. Denn er hat bei seinem Kardinalbegriff der πείρα τριβική den skeptischen Standpunkt völlig aufgegeben. Setzt er doch die Phainomena (den Inhalt der Sinneswahrnehmungen) als feste Grundlage aller Empirie 1 . Pyrrhon, der selbst nichts geschrieben hat, hat offenbar nur die Grundzüge des skeptischen Standpunktes entworfen. Für ihn ist augenscheinlich das Fundament aller Philosophie und Wissenschaft das Erkenntnisproblem. Diesem Grundproblem gegenüber ist der Standpunkt des Pyrrhon der des Agnostizismus, d. h. auf Grund wissenschaftlichen Denkens gewonnene Uberzeugung, daß die Dinge für uns schlechterdings unerkennbar sind. Welche historischen und zeitgenössischen Einflüsse Pyrrhon zu diesem Standpunkt geführt haben, können wir nur mit einiger Wahrscheinlichkeit vermuten. Sicher aber machte er 1 Grandlegend für die gesamte empirische Lehre ist von Karl Deichgräber: Die griechische F.mpirikerschule, Berlin 1930. Doch ist über Menodot auch der von Deichgräber mehrfach stark abweichende Artikel Menodot 2 in der R.. E. Sp. 901, 38 ff., von dem Verfasser dieses Grundrisses zu vergleichen.
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diesen Standpunkt sowohl gegenüber der Sinnes- wie der Vernunfterkenntnis geltend. Und eben hier erkennen wir deutlich die Nachwirkungen von Gedankengängen der alten Sophistik. Nicht nur die Sinneseindrücke sind bei den einzelnen Menschen verschieden; auch ihre durch Denken gewonnenen Meinungen sind zwiespältig und oft einander entgegengesetzt, wie sich ja jeder Behauptung gegenüber die entgegengesetzte mit gleichem Rechte verfechten läßt. Wir können daher gar nicht sagen: „Der Schnee ist weiß", sondern nur: „Er erscheint uns in diesem Augenblick weiß", wie wir auch nicht behaupten können: „Der Honig ist süß", sondern nur, daß er uns süß schmeckt. Was aber an objektivem Sachverhalt diesen Erscheinungen zugrunde liegt, vermögen wir überhaupt nicht zu erkennen. Schon die alte Skepsis hat ihren Agnostizismus auf die Ethik ausgedehnt. Auch hier können wir Menschen gar keine positiven Meinungen haben; widersprechen sich doch vielfach die Ansichten verschiedener Völker über dieselben Dinge in geradezu diametraler Weise: was dem einen Volke heilig, ja göttlich ist, erscheint dem anderen greulich oder scheußlich. Wenn es aber Gut und Böse von Natur und nicht nur auf Grund der Konvention (νόμω) gäbe, dann müßte allen Menschen dasselbe als gut oder böse erscheinen, so wie ζ. B. der Schnee allen Menschen kalt vorkommt. Wir können daher auch auf ethischem Gebiete keinerlei Werturteile fällen, sondern höchstens sagen, wie uns eine Sache erscheint. Angesichts dieser Sachlage kann unser Standpunkt nur der einer grundsätzlichen Enthaltung jeder Meinung über etwas sein, d. h., wir müssen vollkommene Zurückhaltung (εποχή) unseres Urteils üben. Denn wir können von einer Sache weder das eine noch das andere (das Gegenteil jener Aussage) behaupten. Dies ist der Standpunkt des „Umnichts-mehr", nämlich: es läßt sich dies von dem Dinge genauso behaupten als etwa sein Gegenteil. Daher verzichten die Skeptiker auch auf alle Definitionen. Ihre Äußerungen über die Dinge aber, soweit sie solche überhaupt machen, sind nur als ein
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„Bekenntnis" darüber aufzufassen, wie ein Ding ihnen erscheint, nicht aber als eine Behauptung. Angesichts dieses „Gleichgewichtes" der entgegengesetzten Standpunkte kann der des Skeptikers also nur der des vollkommenen Verzichtes auf jedwede Meinung sein; und eben dieser grundsätzliche Verzicht - denn unsere Meinungen sind ja die Ursache all unseres Elends - und nur er hat die vollständige Seelenruhe des Philosophen zur Folge, die durch nichts auf der Welt gestört werden kann, die sog. Ataraxie. Es ist also das Endergebnis der alten Skepsis für den Menschen dem der Stoa und des Epikur durchaus ähnlich: die von der Außenwelt völlig unabhängige, von allem äußeren Geschehen völlig unerschütterte Gemütsruhe des Menschen, die völlige Unzerstörbarkeit seines seelischen Gleichgewichts. Die Gründe, die zu diesem so überraschend ähnlichen Grundergebnis führen, sind freilich einander geradezu entgegengesetzt. Man möchte annehmen, daß dieser Standpunkt der vollkommenen Gleichgültigkeit (Adiaphoria) gegenüber den Dingen für Pyrrhon und Timon im praktischen Leben zu einem vollendeten Quietismus geführt habe. Davon sind sie jedoch weit entfernt. Ihr Sinn war offenbar noch lebensnahe genug, den Forderungen des wirklichen Lebens wenigstens bis zu einem gewissen Grade gerecht zu werden. Und so lehren sie denn: gegenüber den physischen Bedürfnissen muß man einfach dem Naturzwange folgen, wenn auch stets mit innerem Vorbehalt, sozusagen einer reservatio mentalis. Im übrigen folgen wir Menschen am besten dem Herkommen und der Gewohnheit und, wo diese uns im Stich lassen, unserem Gutdünken (wobei aber unser inneres Verhalten stets nur ein bedingtes, gewissermaßen hypothetisches ist, ohne daß wir uns damit irgendwie eine positive Meinung oder ein Urteil über die Sache bilden wollten). Durch ARKESILAOS, dem Haupt der Akademie etwa von 270-241 v. Chr., dringt die Skepsis in die platonische Akademie
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ein. Anstöße zur Bildung seines skeptischen Standpunktes konnte ihm schon Piatons Lehre von der Unerkennbarkeit der Sinnenwelt geben. Zweifellos hat aber darauf - das ergibt sich schon aus den Angaben unserer Quellen - auch die megarische und die elisch-eretrische Dialektik sowie die Skepsis des Pyrrhon eingewirkt. Andererseits hat mittelbar die starre stoische Dogmatik ihn zum Widerspruch herausgefordert. Der grundsätzliche Standpunkt des Arkesilaos gegenüber dem Erkenntnisproblem ist derselbe wie der des Pyrrhon: er bestreitet die Wahrheit der Sinnes- und der Vernunfterkenntnis und leugnet, wie dieser, jedes Kriterium der Erkenntnis, so daß auch er das Prinzip der Epoche vertritt. Die Stärke des Arkesilaos aber - und darin liegt wesentlich seine historische Bedeutung - ist die Negation, d. h. die schlagende Polemik gegen die Dogmatik der zeitgenössischen Philosophenschulen, vor allem der Stoa. Hier richtet er seinen Angriff zielbewußt auf das Kardinaldogma der stoischen Erkenntnislehre, auf die Lehre von der kataleptischen Vorstellung als Kriterium des Wissens (vgl. oben S. 108 f.). Von seinen drei Beweisgängen in dieser Richtung wendet sich der dritte gegen das - in den Augen der Stoiker entscheidende - Merkmal der Evidenz, indem er demgegenüber behauptet: keine Vorstellung, die auf etwas Wirklichem beruht, ist derartig, daß nicht eine ebensolche Vorstellung auf Grund von etwas Unwirklichem entstehen könnte, und diese Behauptung dann durch konkrete Beispiele erhärtet. Mit dem Merkmal der Evidenz kommt dann aber überhaupt das Wissen, d. h. jede Möglichkeit wirklichen Wissens zu Fall. Vor allem weist Arkesilaos den inneren Widerspruch im Begriff der stoischen kataleptischen Vorstellung nach und folgert daraus, daß es eine solche nicht gibt und daher auch keine Erkenntnis. Wie Zeller bemerkt, scheint Arkesilaos freilich geglaubt zu haben, daß er mit der stoischen Lehre von der kataleptischen Vorstellung überhaupt jede Möglichkeit einer Vernunfterkenntnis widerlegt habe; „er scheint also den stoischen Sensualismus als die allein
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denkbare dogmatische Erkenntnistheorie betrachtet zu haben." Jedenfalls verlautet in unseren Quellen nichts von einer Polemik des Arkesilaos gegen die Erkenntnislehre eines Piaton oder Aristoteles. Im übrigen zeigen sich bei Arkesilaos schon deutlich die Ansätze zur Selbstaufhebung des skeptischen Standpunktes in ganz ähnlicher Weise, wie wir es in der These des Demokriteers Metrodor von Chios (Fr. 1 Diels) sehen. Gegenüber dem Agnostizismus des Arkesilaos war der Haupteinwand der zeitgenössischen Dogmatik, vor allem der Stoa, der, daß die radikale Leugnung der Möglichkeit jedes Wissens alles sittliche Handeln aufhebe. Was zunächst das Handeln überhaupt anbetrifft, so erwidert hierauf Arkesilaos, daß das Begehren des Menschen von selbst zum Handeln führe, ohne einer inneren Zustimmung zu bedürfen. Im übrigen macht er aber hier den Gegnern ein bedeutsames Zugeständnis: durch seine Lehre vom bulogon (dem guten Grunde), das er als Prinzip für das praktische Leben aufstellt. Auf Grund eben dieses Eulogon (ein Begriff, der übrigens in der neueren Forschung stark umstritten ist) wird der Skeptiker sein Wählen und Meiden regeln wie überhaupt seine Handlungen und so die Glückseligkeit in der Ataraxie finden. Das Eulogon spielt hier also gegenüber dem praktischen Leben die Rolle des Kriteriums. Das Eulogon selbst hat seine subjektive Grundlage in der praktischen Klugheit (φρόνησις) des Menschen. In dieser Lehre zeigt sich also eine bedenkliche Erweichung des skeptischen Standpunktes. Durch die schneidende Polemik des Arkesilaos gerät die Stoa, d. h. Zenons Nachfolger Kleanthes, in arge Bedrängnis, während zu gleicher Zeit die stoische Orthodoxie durch die kynisierende Richtung des Aristón von Chios ernstlich bedroht wird. Und nur dem Auftreten des Chrysipp ist, wie Hans v. Arnim gezeigt hat, die Rettung der Stoa aus dieser kritischen Lage zu danken.
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Die nächsten Nachfolger des Arkesilaos (so inbesondere Lakydes) sind, wie schon Zeller klar erkannt hat, historisch bedeutungslos, weil in philosophischer Hinsicht völlig steril. Erst mit K A R N E A D E S tritt der bedeutendste Skeptiker und zugleich einer der schärfsten Dialektiker der Antike überhaupt auf. Karneades aus Kyrene (214-129 v. Chr., Haupt der Akademie etwa 160-137) hat - im Einklang mit seiner skeptischen Position - nichts geschrieben, aber einer seiner Schüler, Kleitomachos aus Karthago, hat seine Lehren offenbar mit großer Treue aufgezeichnet. Auch bei Karneades unterscheiden wir einen negativen und einen positiven Teil der Philosophie. Seine Hauptstärke liegt in dem negativen, aber auch in dem positiven zeigt sich die umfassende, systematische Art seines kritischen Denkens, die auch weit eindringender ist als die des Arkesilaos. Von grundlegender Bedeutung ist seine Beweisführung gegen jede Annahme eines Kriteriums, wobei er übrigens mit seinen Gegnern die Voraussetzung gemeinsam hat, daß alle Erkenntnisse aus der sinnlichen Wahrnehmung stammen. Die auf der Sinneswahrnehmung beruhende Vorstellung (φαντασία) trügt oft und steht im Widerspruch mit den sie erregenden Gegenständen. Es kann also nicht jede Vorstellung ein Kriterium der Wahrheit sein, sondern nur die wahre Vorstellung. Da es nun aber eine Vorstellung, die niemals trügt, nicht gibt, sondern zu jeder scheinbar wahren eine ihr vollkommen gleiche falsche vorhanden ist - ein Argument, auf das Karneades ebenso wie Arkesilaos entscheidendes Gewicht legt - , wird das Kriterium in der gemeinsamen Vorstellung des Wahren und Falschen bestehen. Aber eine solche, diesen beiden gemeinsame Vorstellung ist nicht kataleptisch, d. h. die Wahrheit ergreifend; dann aber kann sie nicht Kriterium sein. Wenn es aber keine kritische Vorstellung gibt, kann auch die Vernunft nicht Kriterium sein, denn diese gründet sich eben auf die Vorstellung. Denn der Vernunft muß das zu Unterscheidende zum Bewußtsein kom-
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men; das ist aber ohne die vernunftlose Sinneswahrnehmung unmöglich. Es ist daher weder die Sinneswahrnehmung noch die Vernunft das Kriterium. Da ein Drittes nicht denkbar ist, wird damit jedes Kriterium der Wahrheit hinfällig. Es war nur folgerichtig, wenn Karneades, wie einst Protagoras, auch jede mathematische Erkenntnis leugnete. Die ganze Wucht und Schärfe seiner Dialektik wendet Karneades gegen den stoischen Dogmatismus, und zwar in der Form, wie sie diesem einst Chrysipp gegeben hatte. Und hier vor allem gegen die stoische Theologie, zunächst gegen ihre dogmatischen Gottesbeweise, ganz besonders gegen ihre Lehre von der Vorsehung wie überhaupt gegen jede teleologische Weltansicht, wobei er eine geradezu schneidende Antitheodizee entwickelt. Den Hauptangriff richtet Karneades gegen den stoischen Gottesbegriff selbst, indem er die Schwierigkeiten und zum Teil unlösbaren Aporien in diesem Begriff aufweist, so insbesondere die unlösbaren Widersprüche zwischen der Vorstellung von Gott als persönlichem und von Gott als unendlichem Wesen. Dann entwickelt er mit grausamer Schärfe die Aporien, die sich aus der Vorstellung von Gott als einem lebenden Wesen (ζφον) ergeben, und folgert daraus, daß kein solches Wesen schlechterdings vergänglich sein muß, also kein Gott sein kann. Und ebenso zeigt er, daß man der Gottheit keinerlei Tugend zuschreiben kann. Denn der Tugend bedarf nur derjenige, der Versuchungen und Anfechtungen zu überwinden hat; das aber kommt bei der Gottheit überhaupt nicht in Frage. Mit der gleichen Schärfe zersetzt Karneades den Gottesbegriff des anthropomorphen Polytheismus. Auch hier zeigt er die in ihm verborgenen unlösbaren Aporien auf. Ebenso scharf bekämpft er den stoischen Fatalismus (gegen den er vor allem die Tatsache der Willensfreiheit ausspielt) und in engstem Zusammenhang hiermit in geradezu klassischer Weise die Weltanschauung der Astrologie mit Argumenten, die noch ein Augustin verwerten sollte. Ebenso vernichtend ist seine
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Widerlegung der Voraussetzungen der stoischen Lehre von der Kunst der Weissagung, der Mantik. Auch die Begriffe des Rechtes, der Gerechtigkeit und der Sittlichkeit werden von diesem unerbittlichen Dialektiker auf das schärfste bekämpft. Denn, so führt er aus, es gibt keine Gerechtigkeit an sich - ist doch alles Recht nur relativ - ; sollte sie aber, d. h. diese ideale Gerechtigkeit, doch irgendwie wirklich vorkommen, wäre sie die denkbar größte Torheit. In Wahrheit schließen sich die sog. Gerechtigkeit und die wahre Klugheit, auf der alle Selbsterhaltung, alles Gedeihen und Vorwärtskommen der einzelnen wie der Staaten beruht, gegenseitig aus. Entweder man ist gerecht - dann ist man ein vollendeter Narr - oder man ist wirklich klug; dann aber kann man unmöglich gerecht sein. Mit der gleichen Intensität wendet sich Karneades gegen das Fundament jeder positiven Ethik, gegen die Voraussetzung nämlich, daß es ein absolutes Gut und Böse gibt. Wäre das der Fall, sagt Karneades, dann müßte doch allen Menschen ein und dasselbe gut und gerecht, dasselbe schlecht und schändlich erscheinen. Daß das aber nicht der Fall ist, zeigt uns schon die vergleichende Völkerkunde. Dieses altsophistische Argument hatte schon Arkesilaos benutzt. Übrigens übte Karneades auch an der Götterlehre des Epikur eine vernichtende Kritik. Bei seinem Kampf gegen die stoische wie gegen die epikureische Theologie darf man jedoch nicht übersehen, daß er hierbei keineswegs einen atheistischen Standpunkt vertreten wollte. Das wäre ja ein Rückfall in den Dogmatismus gewesen: der echte Skeptiker aber vertritt überhaupt kein Dogma. Karneades hat also nicht das Dasein von Göttern oder göttlichen Mächten leugnen wollen, sondern nur mit Bewußtsein, d. h. grundsätzlich darauf verzichtet, etwas von der Gottheit wissen zu wollen, wie Zeller treffend urteilt. Andererseits verdient es Beachtung, daß sich sämtliche Argumente des Karneades in seinem Kampf gegen die dogmatische Theologie
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nur gegen die anthropomorphen und anthropoiden Elemente des Gottesbegriffs richten - wie sie, abgesehen von dem polytheistischen Volksglauben, gerade in dem stoischen und dem epikureischen Gottesbegriff enthalten sind - , während sie den rein metaphysischen Gottesbegriff überhaupt nicht berühren. Die Stärke seiner Dialektik liegt fast ganz in der systematischen Negation, d. h. in seiner vernichtenden Kritik der zeitgenössischen philosophischen Dogmatik. Aber doch hat auch er gegenüber den unabweisbaren Forderungen des praktischen Lebens eine starke Konzession und damit eine relative Abschwächung des skeptischen Grundstandpunktes zulassen müssen, durch seine Probabilitätslehre nämlich, in der er drei Grade von Wahrscheinlichkeit unterscheidet: die glaubhafte, die glaubhafte und unwidersprochene sowie die glaubhafte, unwidersprochene und allseitig geprüfte Vorstellung - Unterschiede, die hier freilich nur angedeutet werden können. Die erste Art dieser Vorstellungen genügt gewöhnlich im praktischen Leben; bei Meinungsverschiedenheit genügt die zweite, aber in Fällen, in denen es sich um unser Wohl oder Wehe handelt, bedürfen wir unbedingt der dritten. Die Wirkung der Skepsis des Karneades sollte für die weitere Entwicklung der hellenistischen, insbesondere der stoischen Philosophie von tiefgreifender Bedeutung werden.
IV. Die mittlere Stoa1 „Unter Chrysipps nächsten Nachfolgern hat die Stoa weiter durchaus in Blüte gestanden . . . aber innerlich herrschte in ihr ein Epigonentum. Auf die Zeit des schöpferischen Denkens war die des nur erhaltenden Schulbetriebes gefolgt. Das große 1 Wir behalten diesen Terminus trotz seiner Verwerfung durch Pohlenz als eine rein zeitliche Bestimmung mit Nachdruck bei.
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Ringen um die Weltanschauung löste sich in Einzelkämpfe um Schuldogmen auf, und das Gefährliche war, daß die Stoiker sich dabei gerade an entscheidenden Stellen das Gesetz des Denkens von den Gegnern vorschreiben ließen. Sollte die Stoa ihre Bedeutung für das allgemeine Geistesleben der Griechen behalten, mußte frisches Leben einziehen, ein neuer Geist, der sich ausschließlich an die großen Grundgedanken der stoischen Weltanschauung hielt und sie aus eigenem Lebensgefühl heraus für die Gegenwart fruchtbar machte. - Diesen neuen Geist hat Panaitios gebracht." Diese Worte von Pohlenz kennzeichnen die geistige Lage der Stoa um das Jahr 130 v. Chr. und verdienen, den Übergang zu dem hier folgenden Kapitel zu bilden. Daß mit Panaitios wirklich eine ganz neue Periode in der Geschichte der stoischen, wie überhaupt der griechischen Philosophie beginnt, ist seit dem Buch von August Schmekel 1 von den meisten Forschern anerkannt. Denn dieser hat vor allem auf Grund seiner methodischen Analyse2 von Cicero De officiis wie auch seiner Schriften De legibus I und De república I—III nebst Varros Antiquitates rerum dtvinarum I die feste Grundlage für unsere Erkenntnis der Leistung des Panaitios geschaffen und wirklich Wesentliches und Bedeutendes über dessen Person und Philosophie als sichere Ergebnisse gewonnen. Es müssen nämlich vor allem Ciceros Schriften schon deshalb die feste, ja maßgebende Grundlage für unsere Kenntnis und unser Verständnis der Persönlichkeit und Leistung des Panaitios bilden, weil wir von dessen Schriften keinerlei Fragmente im griechischen Original besitzen und auch unsere sonstigen Nachrichten über ihn und seine Lehre nur kümmerlich sind, so ist doch unsere Erkenntnis von Panaitios' Persönlichkeit Die Philosophie der mittleren Stoa. Berlin 1892. * Diese Analyse stößt bei dem Bestreben, die Ausführungen Ciceros von dem Gedankengut des Panaitios reinlich zu scheiden, freilich an manchen Stellen auf erhebliche Schwierigkeiten. 1
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Capelle, Griechische Philosophie
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und der epochemachenden Bedeutung seiner Philosophie durch die Forschungen von Pohlenz in ein ganz neues, nicht nur vielfach überraschendes, sondern auch in allem Wesentlichen durchaus überzeugendes Licht getreten. Und zwar, von vielen seiner stets wirklich fördernden Einzeluntersuchungen abgesehen, durch seine zwei Bücher Antikes Führertum1 und nunmehr vor allem durch sein Grundwerk Die Stoa. Seine Ergebnisse müssen daher wenigstens in ihren Hauptpunkten der hier folgenden Darstellung zugrundegelegt werden, wenn auch das, was in der ersten Auflage dieses Grundrisses über Panaitios gesagt ist, in jedem Satz bestehen bleibt. Aber seit Pohlenz' Zeichnung eines ganz neuen Panaitios-Bildes, die in historisch-philologischer wie in philosophischer und insbesondere in psychologischer Hinsicht völlig überzeugend wirkt, ist es geboten, das Wesentliche seiner neuen Ergebnisse hier wenigstens in nuce darzulegen, um so mehr, als die wahre Bedeutung des Panaitios bis in die Gegenwart von einzelnen hervorragenden Historikern der griechischen Philosophie noch immer verkannt wird, so daß er sogar von zweien dieser als Eklektiker bezeichnet wird. Aber dieser Panaitios ist, wie schon in der ersten Auflage dieses Grundrisses gezeigt wurde, ein so erstaunlich selbständiger Denker in seiner kritischen Haltung gegenüber den großen Systemen seiner Vorgänger wie andererseits in seinen originalen positiven Neuschöpfungen gewesen, daß die Bezeichnung des Panaitios als Eklektiker aus der Wissenschaft ein für allemal verschwinden muß. Schon seine innere Einstellung gegenüber dem altstoischen Dogma ist so frei und selbständig wie andererseits seine Würdigung auch nichtstoischer Lehren (so insbesondere des Piaton und Aristoteles) - obgleich er selber diesen von ihm hochverehrten Häuptern durchaus selbständig gegenübersteht, so unbefangen und zugleich folgenreich für die Entwicklung seiner eigenen Philosophie, daß schon darum mit ' Antikes Führertum. Cicero De officiis und das Lebensideal des Panaitios. Leipzig 1934.
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ihm eine ganz neue Periode in der Geschichte der Stoa wie überhaupt der hellenistischen Philosophie beginnen muß. Der nüchterne, geistesklare Panaitios zeichnet sich durch scharfen Rationalismus gegenüber allen mystisch-theologischen Tendenzen, vor allem aber durch erfrischende Selbständigkeit gegenüber der seit Chrysipp so starren altstoischen Orthodoxie wie überhaupt durch weltoffenen Sinn und vor allem durch gesunden Menschenverstand gegenüber den altstoischen Paradoxien und Verstiegenheiten aus. Aber er mildert nicht nur die Schroffheiten und doktrinären Einseitigkeiten der alten stoischen Lehre, sondern läßt sogar manche ihrer wichtigen Positionen vollständig fallen; er läßt überhaupt die Philosophie sozusagen dem wirklichen Leben ganz bewußt näher treten. Auch trägt er vorurteilslos den erschütternden Angriffen eines Karneades auf das stoische Dogma in höchst besonnener Weise Rechnung, weist aber auch manche Attacken des Karneades siegreich zurück. Er ist, wie sich bald zeigen wird, ein Realist im besten Sinne des Wortes oder, besser gesagt, ein Idealist auf durchaus realistischer Grundlage und dabei als Denker wie als Mensch eine bewundernswerte Persönlichkeit. Doch werfen wir zunächst einen Blick auf den Werdegang dieses Mannes. Panaitios stammt von der Insel Rhodos, einem Freistaat mit rein griechischer Bevölkerung, der seine Selbständigkeit gegenüber den Diadochen in ihren wechselvollen Kämpfen und bisher auch Rom gegenüber mit erstaunlichem Geschick behauptet hatte, aus altem adligen, reichen Geschlecht, wie denn sein Vater Nikagoras schon im Jahre 169 als Gesandter nach Rom geschickt worden war. Aber seinen Wunsch, ebenfalls die politisch-militärische oder doch die diplomatische Laufbahn einzuschlagen - was ihm zweifellos am liebsten gewesen wäre - , hat er angesichts der starken Einschränkung der rhodischen Selbständigkeit nach dem makedonischen Kriege durch Rom in klarer Erkenntnis der dadurch sehr veränderten Lage schon früh aufgegeben und sich dem Studium der Wissenschaften zuge12*
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wandt. Zunächst wohl in Pergamon als Hörer des Philologen Krates, dann aber - weil ihm dieser nicht geben konnte, was er suchte - in Athen Schüler der Stoa, deren Haupt damals Diogenes von Babylon war; doch hat er dort sicher auch den großen Gegner der Stoa Karneades von Kyrene wie auch andere nichtstoische Philosophen gehört. Aber keinesfalls die epikureische Schule, denn diese kam bei dem quietistischen Grundcharakter der Philosophie ihres Gründers in ethischer Beziehung und überhaupt bei ihrer weltanschaulichen Basis auf der demokritischen Atomlehre für ihn überhaupt nicht in Betracht. Aber auch die damalige Akademie und der Peripatos, der sich immer mehr nach der Seite der exakten Fachwissenschaften hin entwickelt hatte, konnte ihn bei seinem Grundcharakter, der nicht auf die Theorie, sondern auf das wirkliche Leben gerichtet war, ebensowenig fesseln. Dagegen ist er der Stoa trotz allem treu geblieben. Zweifellos hat er aber schon damals die Hauptwerke des von ihm aufs höchste verehrten Piaton und sicher auch die des Aristoteles gründlich gelesen und für sein Denken dadurch nachhaltige Eindrücke empfangen. Aber die wahrhaft entscheidende Wendung in seinem Leben und Denken tritt erst durch seine persönliche Begegnung mit der neuen Weltmacht ein, d. h. mit Rom und den führenden Männern seiner Aristokratie. Vor allem mit Scipio Africanus, dem Eroberer Karthagos, dem mächtigsten Manne der Zeit, zu dem er im Lauf der Jahre, wohl etwa seit 150, in ein einzigartiges, enges, geistig-sittliches und rein menschliches Verhältnis tritt, eine Tatsache, die von tiefgreifender Bedeutung für ihn selber wie auch für das römische Wesen werden sollte. Wie denn ein ausgezeichneter Kenner der griechischen und römischen Literatur der Zeit einmal gesagt hat1: „Die welthistorische Bedeutung der Stoa liegt in ihrer Verbindung mit dem Römertum, die sich damals durch Panaitios' Vermittlung 1
Friedrich Leo: Geschichte der römisdien Literatur. I 322.
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v o l l z o g . . . Das Entscheidende war, daß eine griechische Philosophie sich in ihren für die Lebensführung bestimmenden Lehren mit verwandten Grundzügen des Römertums zusammenfand", und zwar, dürfen wir hinzufügen, nicht die alte, halb orientalische Stoa, sondern die völlig andersartige, rein hellenische Stoa des Panaitios, und das intime persönliche Verhältnis zwischen dem bedeutendsten Griechen und dem bedeutendsten Römer der Zeit. Hier lernt Panaitios durch jahrelangen persönlichen Verkehr mit den Häuptern der römischen Aristokratie eine ganz neue Welt kennen: die römische Weltmacht in ihren hervorragendsten Führern. So wird ihm ein großes nichtgriechisches Volk in seiner Eigenart, seiner Geschichte, seiner politischen und sozialen Struktur, seiner Kultur, wie auch seiner Literatur in überwältigender Weise bekannt, ja zu dem größten Erlebnis seines Denker- und Forscherlebens, zumal er die lateinische Sprache so gründlich erlernte, daß er sich bald darin wie in einer zweiten Muttersprache frei und zwanglos ausdrücken konnte. Daß sich hierdurch sein geistiger Horizont ebenso wie durch seine Teilnahme an Scipios großer Orientreise, die ihn „über Alexandria nilaufwärts bis nach Memphis, dann über Rhodos, Zypern, Syrien bis nach Ekbatana und Babylon führte" 1 , unendlich erweitern und vertiefen mußte, leuchtet ein. Es mag aber auch die für sein intimes Verhältnis zu Scipio wie für seinen eigenen wissenschaftlichen Forschersinn charakteristische, von Eduard Norden aus dem Herkulanensischen Stoikerverzeichnis herangezogene Notiz verwertet werden, laut der Scipio noch vor Zerstörung Karthagos im Jahre 146 von dort aus Panaitios und Polybios προς φιλομάθησιν, d. h. zu reinen Forschungszwecken mit sieben Schiffen an der Nordwestküste des heutigen Marokko entlang sandte. Wir müssen hiernach annehmen, daß Panaitios mit Scipio schon vor dem Jahre 146 in nähere persönliche Berührung getreten ist, 1 Eduard S. 435 A.
Norden:
Germanische
Urgeschichte
in
Tacitus'
Germania.
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wahrscheinlich, wie Leo vermutet hat, erst von Polybios, dem Lehrer und Vertrauten Scipios, nach Rom gerufen. Uber das Leben des Panaitios in dem Jahrzehnt nach der Rückkehr von der großen Reise mit Scipio im Jahre 139 fehlen uns alle näheren Nachrichten. Es steht aber durch das Zeugnis des Stratokies fest, daß er „bald in Rom und bald in Athen war". Man darf auch annehmen, daß er sich jahrelang in Rom in engstem Verkehr mit Scipio und seinem Kreise aufgehalten hat. Vollkommen sicher ist aber, daß er im Jahre 129 nach dem Tode des Antipater das Haupt der Stoa in Athen geworden und bis zu seinem Tode im Jahre 99 geblieben ist. In demselben Jahre, in dem Panaitios die Leitung der Stoa übernahm, wurde Scipio, ein leidenschaftlicher Gegner der Gracchischen Bewegung, meuchlings ermordet. Nun wenden wir uns zur Philosophie des Panaitios. Die Logik, die in der alten Stoa eine so überragende Rolle gespielt hatte - man denke nur an die 311 Schriften des Chrysipp zu logischen Problemen - , schiebt er, wie überhaupt alle dürren Abstraktionen Chrysipps, schweigend beiseite; logische Probleme interessieren ihn überhaupt nicht. Um so mehr aber alle Fragen, die die Welt- und vor allem die Lebensanschauung betreffen, daher die Physik (in dem antiken Sinne des Wortes, der auch die Naturphilosophie und Psychologie umfaßt) bis zu einem gewissen Grade durchaus, aber vor allem das Zentrum seiner ganzen Philosophie bildend, die Ethik, die auch die Politik und Soziologie einschließt. Das Fundament seiner gesamten Weltanschauung bildet die Logos-Lehre der alten Stoa, d. h. Zenons, nach der der Logos das ganze Weltall durchwaltet und nach höchsten Zwecken gestaltet. Der Kosmos in seiner harmonischen Ganzheit und Vollkommenheit ist auch Panaitios' tiefste Grundanschauung, wobei ihn aber nicht nur die wundervolle Ordnung und Zweckmäßigkeit des Kosmos, sondern auch dessen Schönheit entzückt, und zwar nicht nur die Majestät des nächtlichen Sternenhim-
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mels, der sich dem Südländer noch weit überwältigender offenbart als dem Sohne des nebligen Nordens, sondern auch, wie Pohlenz gezeigt hat, die Schönheit des Kosmos in all seinen Bereichen auf unserer Erde, in dem mannigfachen Wechsel und den Gegensätzen der Landschaft im Gebirge und am Meeresgestade wie in dem Bereich der Tier- und Pflanzenwelt. Uberall offenbart sich ihm der alles mit unendlicher Weisheit durchwaltende Logos. Aber schon hier offenbart sich die prachtvolle Unbefangenheit von Panaitios* philosophischem Denken. Während die alte Stoa, unter dem Einfluß der Lehre des Herakleitos und seiner ionischen Vorgänger von Weltperioden auf Grund eines sich in ungeheuren Zeiträumen wiederholenden Untergangs und darauf folgender Erneuerung der Welt, diesen Glauben mit all seinen Konsequenzen - man denke an die groteske Lehre von der damit verbundenen Wiedergeburt (Palingenesie) aller Dinge - festhielt, verwirft Panaitios diese Lehre im Hinblick auf die Weisheit, die Harmonie und Beständigkeit des göttlichen Waltens, d. h. des Logos, wie ja schon Aristoteles und Theophrast die Ewigkeit der Welt auf das nachdrücklichste nicht nur behauptet, sondern erwiesen hatten. Ein zweiter wichtiger Punkt der Weltanschauung des Panaitios betrifft die Art des Regimes, wenn man so sagen darf, des die gesamte sichtbare Welt durchwaltenden und gestaltenden Logos. Wohl unter dem Eindruck der Antitheodizee des Karneades lehrt er im Hinblick auf so manche Naturvorgänge wie Erdbeben und meteorische, oft die mühselige Arbeit des Menschen oder das herrliche Sprossen und Wachsen in der organischen Natur zerstörende Ereignisse, daß sich die Herrschaft der Weltvernunft nur auf die Erhaltung des Ganzen richtet. Der Satz: „Das Einzelne muß vergehen, damit das Ganze besteht" ebenso wie der Ursatz der altionischen Physiker: „Was entstanden ist, muß (eines Tages) wieder zugrunde gehen", ist auch die Grundanschauung des Panaitios. Es gibt daher für ihn überhaupt kein Problem der Theodizee, um dessen Lösung sich
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schon Chrysipp und seine Nachfolger gegenüber den Argumenten des Karneades so verzweifelt bemüht hatten. Der Hauptgegenstand der Philosophie des Panaitios ist überhaupt nicht der Makrokosmos, sondern der Mensch, wie er denn in seinem Werk von den zehn Philosophenschulen mit Sokrates die Geschichte der eigentlichen Philosophie beginnen Iäßt, ein Epochenansatz, der bis auf den heutigen Tag seine Bedeutung behalten hat. Sprechen wir doch noch heute von der ersten großen Hauptperiode der griechischen Philosophie stets als von den Vorsokratikern. Ist doch für Sokrates der Mensch der einzige Gegenstand aller ernsten Problematik. Und hier zeigen sich nun dank Pohlenz' Forschungen alsbald ganz neue und wirklich bedeutende Gedanken des Panaitios. Wirklich neu in der Geschichte der griechischen Philosophie ist vor allem seine echt hellenische Auffassung vom Menschen überhaupt. Denn während die Orphiker und Pythagoreer, vor allem aber Piaton, durchaus im Gegensatz zu dem allgemein griechischen Volksempfinden, wie es noch die Homerischen Gedichte zeigen, Leib und Seele des Menschen als unversöhnliche Gegensätze empfunden und mit stärkstem Nachdruck behauptet hatten, erkennt der Hellene Panaitios den lebenden Menschen als ein εν, d. h. als eine unlösbare Einheit. Denn beide - Leib und Seele - hängen gegenseitig voneinander ab, beide können nicht ohne einander auskommen. Kann doch der Mensch ohne die Sinne (αισθήσεις), insbesondere ohne den Gesichts- und Gehörsinn, die äußere Welt und damit den Kosmos gar nicht erkennen und somit auch nicht zu irgendwelcher Gotteserkenntnis gelangen. - Und wie sollte er ohne Hilfe seiner Hände irgendwelche Gedanken oder Absichten von sich überhaupt verwirklichen können? Und ohne die Sprache, die ohne körperliche Organe undenkbar, überhaupt nicht vorstellbar ist, könnte er ja gar nicht zur Verständigung mit seinesgleichen und damit zum Gefühl der Zusammengehörigkeit der Menschen oder gar zu einer auf der Basis des Rechtes organi-
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sierten menschlichen Gemeinschaft gelangen, ohne die ja jede Kultur, d. h. sowohl der Staat und die Wissenschaft wie auch die Religion, völlig unmöglich wäre. Und auf der anderen Seite: Was wäre der Körper ohne die ihn belebende und bewegende Seele? Nein! Leib und Seele sind eine gottgewollte Einheit. Erst wenn der Tod eintritt, wird diese Einheit f ü r immer aufgelöst, und die Seele geht alsbald zugrunde. Sie verweht in den Lüften wie ein Hauch oder Rauch 1 . Trotz seiner tiefen Verehrung für Piaton verwirft daher Panaitios den Glauben an ein Fortleben nach dem Tode. Und ebensowenig vermag er an eine Präexistenz der Seele, an ein Leben dieser in einem vorweltlichen Dasein, zu glauben. Schon die Tatsache der Vererbung geistiger Eigenschaften der Eltern oder Großeltern auf die Kinder bewies ihm, daß nicht etwa eine neue Seele „von außen her" in das Neugeborene eintritt. Denn woher sollte denn diese kommen? Wie wäre überhaupt die Existenz einer Seele ohne einen Körper vorstellbar? - Schon Straton, der Physiker, der Nachfolger des Theophrast in der Leitung der peripatetischen Schule zu Athen, hatte daher die Unsterblichkeit der Seele nicht nur bestritten, sondern sogar Piatons Beweise dafür im Phaidon scharfsinnig widerlegt 2 . Panaitios vertritt als erster in der griechischen Philosophie (wenn wir vom Atomismus und seinem Nachfahren Epikur hier absehen) ganz bewußt und mit all seinen Konsequenzen, d. h. nicht naiv, wie die griechische Volksanschauung, einen anthropologischen Monismus. Denn den ganzen Menschen als eine unlösbare Einheit hat von allen griechischen Philosophen zuerst Panaitios erfaßt. Seine zweite, gegenüber der alten Stoa und vor allem gegenüber Chrysipp 3 , geradezu revolutionäre Neuerung ist eine 1 So war selbst nach Piatons Zeugnis die rein griechische Volksansdiauung, wie viele Stellen im Phaidon beweisen. ' Vgl. meinen Artikel „Straton der Physiker" in der R. Ε. IV A 308, 7 ff. » Vgl. Bd. II, S. 117.
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scharfe Scheidung des Logos und der irrationalen Kräfte der Seele, der Triebe (όρμαί) und der πάθη. Der Jünger der Philosophie muß aber wissen, was der Grieche unter dem Wort Pàthos versteht. Wenn das Wort Pàthos auch in der modernen Geschichte der griechischen Philosophie gewöhnlich mit Affekt übersetzt und von einer Affektenlehre griechischer Philosophen gesprochen wird, so muß er wissen, daß der Begriff des griechischen Wortes Pathos viel weiter als der unseres Begriffes Affekt ist. Eine der besten Definitionen des modernen Begriffes Affekt ist die von Nahlowsky1. Nach diesem ist der Affekt „die durch einen überraschenden Eindruck bewirkte vorübergehende Verrückung des inneren Gleichgewichts, wodurch auch der Organismus in Mitleidenschaft gezogen und demgemäß die besonnene Überlegung und freie Selbstbestimmung entweder reduziert oder sogar momentan aufgehoben wird". - Im Griechischen wird dagegen das Wort Pathos, das eigentlich das Leiden, bzw. Erleiden bedeutet, in einem viel umfassenderen Sinne gebraucht. So auch oft bei Aristoteles und schon bei manchen Vorsokratikern von Vorgängen, bzw. Veränderungen von Stoffen oder Substanzen der anorganischen Natur. Wie ζ. B. im Bereich der Erdbeben oder atmosphärischer Vorgänge, dann in der Medizin von mancherlei Krankheiten. In seelischer Hinsicht bezeichnet das Wort keineswegs nur Gemütserregungen oder gar plötzliche, jähe Gemütserregungen, sondern auch dauernde Gemütszustände oder Gefühle (für die das Griechische kein eindeutiges Wort hat). So wird zu den „Pathé" von Chrysipp ζ. B. auch die λύπη (Kummer, Gram oder Trauer) gerechnet, aber auch das Mitleid (ελεος oder οίκτος), ferner die Furcht (nicht nur der Schreck), aber auch die Begierde (έπιθυμία), daher auch der Eros wie überhaupt jede Leidenschaft. Von Hause aus sind ja diese irrationalen Triebe und Regungen der Seele, wenn sie der Logos nicht beugt und gefügig 1 In seinem Buch: Das Gefühlsleben, S. 247, 2. Aufl. 1884. Ich verdanke dessen Kenntnis Eislers großem Wörterbuch der philosophischen Begriffe.
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macht, gar wilde und ungestüme Mächte und oft kaum zu bändigen, wie das schon Piaton auf Grund eigener innerster Erfahrungen zum überwältigenden Erlebnis geworden ist. Jedem Leser des Phaidros haftet das grandiose Seelengleichnis für immer im Gedächtnis, wo der Wagenlenker Vernunft (νους) bei seiner Fahrt über den „überhimmlischen Ort" nur mit größter Mühe die schäumenden Rosse „Mut" und „Begehren" zu meistern vermag 1 , indem er schließlich mit Hilfe des nun willigen „Mutes" das unbändige „Begehren" unterwirft. Wir dürfen sicher sein, daß Panaitios, der Piaton aufs höchste verehrt hat, weil dessen Werke tiefsten Eindruck auf ihn gemacht haben, das fundamentale Problem der Vereinigung von reiner Vernunft und völlig vernunftlosen oder gar widervernünftigen Trieben und Erregungszuständen ein und derselben Seele in seiner ganzen Tiefe und Tragik gewürdigt hat. Er hat daher gewiß schon früh zu dem Dogma des Chrysipp, der infolge seiner radikalen Rationalisierung der irrationalen Kräfte und Bewegungen der Seele sogar die völlige Ausrottung aller „Pathé" des Menschen gefordert hatte, so daß er die radikale Apathie des Weisen proklamierte und sogar jede Art von Mitleid als vernunftwidrig verwarf 2 , in stärkstem Gegensatz gestanden. Ja, man darf bei Panaitios geradezu von einer Rechtfertigung der menschlichen „Pathé" im antiken Sinne des Wortes sprechen, wenn auch mit einer gewissen Einschränkung. Denn diese sind nicht nur von dem Logos an sich, d. h. von Hause aus völlig unabhängig; sie können und sollen auch gar nicht von diesem ausgerottet, sondern nur von ihm gebändigt und unterworfen werden. Dann aber können selbst diese irrationalen Mächte der Seele förderlich werden. Ein Beispiel aus der neueren Geschichte mag diesen Satz erläutern. 1 Mut ist eine unzureichende Ubersetzung des griechischen Thymos, der zugleich den Willen einschließt. ! Ein Dogma, das sogar noch von einem so ehrwürdigen Vertreter der späten Stoa wie Epiktet durchaus anerkannt wird.
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Es kann ζ. B. der Zorn, d. h. der heilige Zorn, der der Ausfluß schwerster sittlicher Entrüstung ist, vom Logos gelenkt, zu einer positiven segensreichen Kraft werden, wie dies Preußen an den führenden Geistern von 1813 erlebt hat1. Die Folge einer solchen Bändigung der „Pathé" durch den Logos, d. h. durch lange, niemals nachlassende, Selbsterziehung des ernsten Menschen, wird eine wirkliche Harmonie seiner Seele sein, wenn auch Panaitios das schöne epikureische Bild von der γαλήνη der Seele hier vermeidet. Ein solches Ziel zu erreichen, steht aber durchaus in des Menschen Hand. Nur von ihm selber hängt es ab, ob er die Eudaimonia erlangt oder nicht. Denn auch für Panaitios, wie schon für Piaton und Aristoteles, ist die Willensfreiheit des Menschen ein unanfechtbares Axiom, das übrigens noch bis tief in das erste und zweite Jahrhundert nach Christus hinein seine Gültigkeit behält und für die Ethik eines Epiktet die absolute Grundlage bildet. Kann doch selbst Zeus die Willensentscheidung, d. h. die προαίρεσις des Menschen, nicht beugen. Denn er hat ja selber dem Menschen diese Souveränität verliehen. So führt uns Panaitios' Lehre von den „Pathé" ganz organisch zu dessen Ethik. Denn diese Harmonie des Menschen muß ja die Grundlage seiner Eudaimonia werden; nur dadurch, daß er „immer strebend sich bemüht", kann und wird es ihm gelingen, diese zu seinem festen, durch nichts auf der Welt zu erschütternden Besitz zu machen. Wie ja noch in der dritten Römerode des Horaz dieser Zug der Constantia des Charakters in den Worten Iustum et tenacem propositi virurn und Non mente quatit solida dem Kenner der Stoa, d. h. gerade des Panaitios, durchschimmert. Das Wundervolle an der Ethik des Panaitios gegenüber der alten Stoa, zumal ihres zweiten Gründers Chrysipp, ist aber die 1 Die Namen Gneisenau, Blücher, Stein, Arndt und Fichte sagen genug. Übrigens gibt es schon nadi Aristoteles (Eth. Nik. IV 11) unter gewissen Voraussetzungen auch einen lobenswerten Zorn.
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Tatsache, daß der Hellene Panaitios im Gegensatz zu Chrysipp des Lebens Wirklichkeiten gegenüber eine wahrhaft erfrischende Unbefangenheit und einen köstlichen common sense bekundet, wie er denn, wie Pohlenz einmal sagt, „ein reiner Diesseitsmensch" ist, wenn man auch hinzufügen darf: mit einer gewissen Einschränkung (davon nachher). Wenn die alte Stoa hierin dem alten Kynismus, zumal Diogenes folgend, gelehrt hatte, die Tugend sei autark zum glückseligen Leben, d. h. sie könnte allein durch sich selber die Eudaimonia erreichen, so verwarf Panaitios wie schon Aristoteles und Theophrast diesen Satz angesichts aller anderen Güter des wirklichen Lebens. Er betont mit Nachdruck, daß Gesundheit, Kraft und Wohlstand (χορηγία) und sonstige günstige Lebensumstände durchaus keine άδιάφορα 1 seien. Panaitios faßt auch die Stellung des Menschen gegenüber den vielen übernatürlichen Mächten der alten Stoa grundsätzlich anders auf. So verwirft er den stoischen Fatalismus, die Lehre von der Heimarméne, dem unentrinnbaren Verhängnis, vollkommen. Eine solche unentrinnbare, vom Willen des Menschen völlig unabhängige, unübersehbare Ursachenverkettung gibt es überhaupt nicht. Schon dadurch ist für Panaitios die ganze Astrologie, die schon Chrysippos akzeptiert hatte, vollständig überwunden. Von überragender Bedeutung, auch für seine Ethik, ist seine Anschauung von der Stellung des Menschen im Kosmos. Wenn diese auch zweifellos durch die Grunderkenntnisse des Aristoteles stark beeinflußt ist2, so enthält sie doch eine Reihe von diesem unabhängiger Gedanken. Zweierlei ist hier vor allem von Bedeutung: das Verhältnis des Menschen zur Allvernunft, die den ganzen Kosmos in all seinen Bereichen und Erscheinungsformen durchwaltet und gestaltet, und seine Stellung gegenüber allen andern Lebewesen. Durch die ihm 1 Dinge, auf die überhaupt nichts ankommt. * Vgl. den Abschnitt über das Weltbild des Aristoteles.
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eingeborene Vernunft ist der Mensch auf das engste verwandt mit der Allvernunft, die mit der Gottheit identisch ist. Ja, im Grunde ist dieser ihr sogar wesensgleich, wenn auch nicht unsterblich. Dank dieser innigen Verwandtschaft ist der Mensch - und er allein von allen lebendigen Wesen - befähigt zur Erkenntnis der Gottheit. Dank dieser Erkenntnis wird ihm auch seine höhere Bestimmung, sein wahres Telos klar: der Gottheit in ihrem Wesen möglichst ähnlich zu werden und sie in seiner ganzen Lebensführung als Vorbild vor Augen zu haben. Das Wesen der Gottheit ist aber vom Menschen dank seiner Vernunft nur aus ihren Werken erkennbar, die eine überwältigende Ordnung, Harmonie und Schönheit offenbaren. Um solche Harmonie in der eigenen Seele zu erlangen, muí? der Mensch vor allem die irrationalen Mächte in dieser durch den Logos bändigen und sich unterwerfen und seine Herrschaft mit unerschütterlicher Beharrlichkeit (constantia) gegenüber allen inneren und äußeren Anfechtungen behaupten. Und so versteht Panaitios das Telos Zenons, d. h. dessen Homologie, vielmehr als die unerschütterliche, in der eigenen Seele völlig ausgeglichene, konstante Einheit der Lebensführung. Den anderen Lebewesen aber ist der Mensch durch seine Vernunftbegabung unendlich überlegen, nicht etwa, daß diese alle nur um des Menschen willen da wären - denn eine anthropozentrische Auffassung lehnt Panaitios trotz Aristoteles und der alten Stoa durchaus ab - , aber der Mensch hat doch ihnen gegenüber trotz körperlicher Inferioritäten dank seiner Vernunft eine so überragende Stellung, daß er sie entweder, falls ihm feindlich, unterwirft oder aber zähmt und sich nutzbar macht. Es gibt aber noch ganz andere bedeutsame Vorzüge des Menschen, die erst Panaitios ins Licht gestellt hat: der Mensch unterscheidet sich von den Tieren durch den Sinn für Ordnung, Harmonie 1 und Schönheit, und in engstem Zusammenhang 1 Das Wort Harmonie sowohl in musikalischem wie in rein geistigem Sinne.
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hiermit durch den ihm eingeborenen künstlerischen Trieb, und dank seiner Hand, die Fähigkeit zu dessen Betätigung. Der Mensch unterscheidet sich aber vom Tier wie überhaupt von allen anderen Lebewesen auch durch die Erkenntnis und Unterscheidung von Werten, je nachdem die Dinge oder Vorgänge für ihn nützlich oder schädlich oder gleichgültig sind (die griechische Philosophie hat schon lange vor Panaitios eine Wertelehre, Axiologie, entwickelt). Freilich der Satz, daß das Sittliche das einzige wahrhafte Gut sei, stand sei Sokrates und Piaton völlig fest und daher natürlich auch für Panaitios. Aber er gestand doch, wie wir schon sahen (S. 189), gewissen Dingen einen nicht unerheblichen Wert zu. Gegenüber der Auffassung von gegnerischer Seite stellte er aber mit Nachdruck fest, daß das absolute Gute, d. h. das sittlich Gute, nie ernsthaft mit dem für den leiblichen Menschen nur Nützlichen oder Vorteilhaften im Streit liegen könnte, weil das absolute Gute mit dem absolut Nützlichen stets identisch sei. Was die Lehren der Hedoniker vom Wert der Lust und Unlust und deren Unwert, d. h. dem Übel des Schmerzes betrifft, so unterscheidet Panaitios scharf zwischen natürlichen und naturwidrigen Lüsten. Und was den physischen oder psychischen Schmerz betrifft, so hat ihn Panaitios sicher ebenso wie Poseidonios, der dies sogar durch die Tat bewies1, niemals als wirkliches Übel anerkannt und sicher nur als Mittel oder Anlaß betrachtet, seine sittliche Überlegenheit dank der Andreia odei Karteria zu beweisen. Panaitios unterscheidet vier geistig-seelische Grundtriebe des Menschen: den Erkenntnistrieb, den Gemeinschaftstrieb, den Trieb, Größeres als alle anderen leisten zu wollen, und den Drang nach Verwirklichung seines (noch unbewußten) Ideals der Homologie, d. h. nach seiner eigenen seelischen Harmonie. Aus diesen Urtrieben entwickeln sich dann oder können sich 1 In heroischer Bekämpfung eines schweren Giduanfalles in Gegenwart des Pompeius.
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doch entwickeln die vier Kardinaltugenden, die Panaitios mit Piaton, Aristoteles und der alten Stoa, wenn auch zum Teil mit einschneidenden Änderungen der Begriffe, unterscheidet. Zunächst die Sophia als höchste Erkenntnis des Philosophen von den letzten Ursachen, gegenüber der Phrónesis, der Einsicht des Kalóskagathós gegenüber allen Vorgängen und Anforderungen des realen Lebens, die Tapferkeit (Andreia), die im platonischen Sinne nicht nur als die des Kriegers, sondern überhaupt als sittliche Tapferkeit gegenüber allen Widerständen des inneren und äußeren Lebens zu verstehen ist, dann aber die vielberufene Sophrosyne. Das Wort ist trotzdem schwer übersetzbar; sicher bedeutet es gerade in der griechischen Ethik oft die Selbstzucht, die genauer durch das Wort Enkráteia be zeichnet wird (die Fähigkeit, daß man sich gegenüber allen Trieben, Affekten und Leidenschaften „in der Gewalt" hat). Aber der Begriff der Sophrosyne umfaßt noch mehr als Selbstzucht; er enthält überhaupt die Fähigkeit, „Maß zu halten" in allen Lebenslagen, so daß man Sophrosyne am besten wohl durch Besonnenheit übersetzt. Endlich die Gerechtigkeit (Dikaiosyne), die Panaitios natürlich als soziale Tugend, also durchaus anders als Piaton 1 , auffaßt. Alle vier Tugenden stehen aber im Verhältnis der Antakolothie zueinander, d. h. sie hängen unlöslich miteinander zusammen, bilden also im Grunde eine Einheit, die Areté, die sich nur gegenüber verschiedenen Lebensbereichen und Lebenslagen verschieden offenbart. - Als für Panaitios charakteristisch erscheint mir als Kriterium der Tugend überhaupt ein Merkmal, das wichtiger ist als alle entsprechenden altstoischen oder altsophistischen Definitionen: nämlich nicht die begriffliche Erfassung oder die angebliche Lehrbarkeit der Tugend ist die Hauptsache, sondern ihre Verwirklichung durch die Tat im eigenen Leben selbst, die letzten Endes auf 1 Der bekanntlich dabei die Beziehung zu den Mitmenschen ganz außer acht gelassen hat. Vgl. die Tugendlehre Piatons in Bd. I und Pohlenz: Aus Piatons Werdezeit, 230 ff.
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dem eingeborenen Ethos des Menschen, bzw. auf einer ganz bestimmten Hexis, der Naturveranlagung des Menschen, beruht, die freilich durch bewußte Selbsterziehung und Übung noch veredelt werden kann. Der Satz Ciceros 1 Virtutis ettim laus omnis in actione consistit2 offenbart eine Anschauung, die nicht erst Cicero, sondern schon Panaitios selber gefaßt und formuliert hat. Denn sie entspricht durchaus seinem eigenen innersten Wesen, das von Hause aus nicht so sehr auf die Wissenschaft und ihre Probleme als vielmehr auf Betätigung in der großen Welt, d. h. im politischen Leben gerichtet war.
a) Die Pflichtenlehre Vier Titel von Schriften des Panaitios sind uns überliefert: Die Schrift περί Αιρέσεων, die von den zehn verschiedenen griechischen Philosophenschulen, ihrer Geschichte und ihren Hauptlehren handelte; ein Werk, zu dem er notorisch eingehende historisch-philologische Vorstudien gemacht hat. Die von der Vorsehung, die unzweifelhaft den Aufbau des Kosmos und die ihn durchwaltende Regierung der Allvernunft (des Logos) darstellte, die Schrift von der Euthymia: Von der Wohlgemutheit 8 , und die Schrift Περί του καδήκοντος, Von den Pflichten, die Cicero den ersten zwei Büchern seines Werkes De officis zugrunde gelegt hat. Diese Schrift, offenbar das Kernstück seiner ganzen Philosophie, war ganz der Ethik gewidmet, und hier vor allem den Pflichten des Menschen gegenüber der Gottheit, gegenüber sich selber und gegenüber der 1
De off. I 19, vgl. auch I 17 und 1S3 f. „Aller Ruhm der Tugend beruht auf ihrer Verwirklichung" - diese Anschauung des P. teilt im Grunde noch Kaiser Marc Aurel: „Nur eine Frucht des Erdenlebens hat Wert: eine fromme Gesinnung und gemeinnützige Taten." s Vgl. S. 205. 1
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menschlichen Gemeinschaft. Hier ist zunächst wichtig und für Panaitos charakteristisch seine Unterscheidung der zwei Naturen des Menschen: seiner allgemein menschlichen, d. h. der allen Menschen gemeinsamen, und der individuellen Natur jedes einzelnen Menschen, d. h. die durch dessen Herkunft, die ihm angeborenen persönlichen Anlagen, seinen ihm eigentümlichen Charakter, das Mileu seiner Umwelt, seinen Beruf u. a. m. bestimmt ist. Diese grundsätzliche Unterscheidung der zwei Naturen des Menschen und die eingehende Würdigung der individuellen Natur jedes einzelnen bedeutet in der Kunde vom Menschen, d. h. vom geistig-seelischen Menschen, einen sehr bedeutenden Fortschritt des griechischen Denkers in psychologischer und in ethischer Hinsicht. Denn hierdurch hat Panaitios zum ersten Male der Erkenntnis der Individualität des einzelnen Menschen nachdrücklich zu ihrem Recht verholfen. Er hat hierbei auch erkannt und ausgeführt, wie jedes Individuum aus seiner innerstenEigentümlichkeit, wie aus einer Urwurzel entsprossen, all seine Lebenäußerungen, Gedanken, Taten, ja selbst seine physischen Gebärden, seine körperlichen Bewegungen, seinen wechselnden Gesichtsausdruck und nicht zuletzt seine Sprechweise in ihrer Besonderheit offenbart. Aus dieser Unterscheidung der zwei Naturen ergeben sich auch zwei Bereiche der menschlichen Pflichten, einmal die allen gemeinsamen und andererseits die jedem einzelnen Menschen infolge seiner ganz individuellen Physis und seines persönlichen Werdeganges obliegenden Pflichten und Aufgaben. Wenn Goethe, ohne von Panaitios zu wissen (denn dieser war damals noch nicht entdeckt), einmal gesagt hat: „Wir können dem Vaterlande nicht auf gleiche Weise dienen, sondern jeder tut sein Bestes, je nachdem Gott es ihm gegeben", so hat er auf seine Weise einen Grundgedanken des Panaitios ausgedrückt. Aus dieser Entdeckung der individuellen Natur jedes einzelnen durch Panaitios ergibt sich auch eine durchaus verschiedene Wertung der einzelnen Menschen, denn deren angeborene Naturanlagen, das, was wir im Deutschen
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durch das Wort Begabung ausdrücken, und die Entfaltung dieser Naturanlagen dank Belehrung, Übung, d. h. bewußte Betätigung und Weiterbildung oder auch nicht, sie sind nicht nur durchaus verschieden,
sondern
auch ganz
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wertig. Es ist ein zweites Verdienst des Panaitios, in bewußter Ablehnung des altstoischen Weisenideals als einer völlig abstrakten, weltfremden Konstruktion, die Natur einer hochbegabten und dank eigenem Streben zu größtmöglicher Vollendung gekommenen Persönlichkeit, auf Grund keineswegs nur theoretischer Überlegungen, sondern auf Grund einer einzigartigen, ganz konkreten Empirie in ihrem innersten Wesen und ihrer ethischen und zugleich politischen Bedeutung erkannt, in hohem Maße gewürdigt und in klassischer Form gezeichnet zu haben. Das Wesen einer singulären Gestalt der historischen selbsterlebten Wirklichkeit, das Wesen der „geschlossenen, harmonischen, durchaus konstanten Persönlichkeit", wie es sich ihm in Scipio offenbart hatte. Das war wirklich etwas anderes als die schemenhafte Figur des altstoischen Weisen, den niemals jemand auf Erden gesehen hatte. Von den besonderen Eigenschaften der Führernatur hebt Panaitios vor allem deren Megalopsychia (Seelengröße) hervor, deren Wesen schon Aristoteles in der Nikomachischen Ethik 1 in ethischer und soziologischer Hinsicht näher untersucht hat. Sein Ergebnis ist dabei, daß man ohne Kalogathia nicht megalópsychos sein kann, denn nur wer die Areté besitzt, ist auch megalópsychos. Jedenfalls ist diese Tugend hiernach eine Grundgesinnung hochstrebender Naturen, die sich selber hohe Ziele gesteckt haben und sich daher hoher Ehren wert erachten. Zu solcher Gesinnung können nach Aristoteles auch glückliche äußere Umstände wie vornehme Herkunft, Macht und Reich1
13·
IV 7-9.
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tum beitragen1. Wir dürfen mit Sicherheit annehmen, daß Panaitios die Nikomachische Ethik genau gekannt hat. Und ebenso sicher ist es, daß er im Sinne des Aristoteles diese Seelengröße in Scipio verkörpert fand und als einen wesentlichen Grundzug der wahren Führernatur statuiert hat. Er war sich dabei aber auch der Gefahren bewußt, denen eine solche Natur ausgesetzt ist, wenn sie nicht die Grenzen ihres Könnens und Wollens in der Bedingtheit und Begrenztheit aller Menschennatur empfindet. Denn auch für das Genie muß das für jeden Menschen verbindliche Vernunftgesetz und somit wahre Sophrosyne maßgebend bleiben. Wir sehen, das Phantom des Übermenschen, von dem schon einzelne Sophisten zur Zeit Piatons phantasiert hatten, hat dem Denken eines Panaitios vollständig ferngelegen. Es liegt auf der Hand, daß solcher Hochsinn niemals Tugend von Alltagsmenschen, sondern nur weniger auserwählter, ja singulärer Persönlichkeiten sein kann. Aber das entspricht durchaus der Anschauung des Aristokraten Panaitios. Zu den Pflichten des Individuums, die sich aus seiner allgemein menschlichen Natur ergeben, gehört in erster Linie die Entwicklung der Grundtugenden und die aus dieser sich von selbst ergebende Harmonie der ganzen Persönlichkeit, aber auch der gesamte Bereich ihres auch äußerlich sichtbaren Benehmens: in all ihren körperlichen Bewegungen, ihrer Stimme, ihrem Gesichtsausdruck und so manchen Äußerlichkeiten in Tracht, Gang und Handbewegungen, die insgesamt nur der Ausdruck von innerer Harmonie und seelischer Schönheit sind, das, was Panaitios als das Geziemende (πρέπον), Cicero danach als das decorum bezeichnet. In summa: ein stets gesittetes anmutiges Benehmen, das auch auf die Mitmenschen nicht nur ethisch, sondern auch ästhetisch wohltuend wirkt und, soweit die innere 1 Das "Wort Megalopsychia im Sinne des Aristoteles dürfte unseres Erachtens wohl auf eine Persönlichkeit wie Alexander den Großen (cum grano salis) passen.
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Rücksicht auf die Gefühle der anderen in Betracht kommt, im Griechischen wohl am besten als Aidós (ehrfürchtige Scheu), von uns als Taktgefühl bezeichnet werden würde.
b) Sozialethik Aristoteles hat bekanntlich den Menschen als ein ζφον πολιτικόν bezeichnet, d. h. als ein zur Staatenbildung veranlagtes Wesen, während die Stoa, entsprechend ihrem, die ganze Menschheit umfassenden Blick ihn ein ζφον κοινωνικόν, ein zur Gemeinschaft bestimmtes Wesen nennt. Auch nach Panaitios ist ja einer der geistig-seelischen Urtriebe des Menschen der zur Gemeinschaft. Er betont daher nachdrücklich, daß die Menschen alle auf Beistand oder Mithilfe voneinander angewiesen sind. Gerade die Stoa hat die fundamentale Bedeutung der Gemeinschaft für das Leben aller mit besonderem Nachdruck betont, wie denn noch Kaiser Marc Aurel sagt: „Wir Menschen sind zum Zusammenwirken bestimmt wie die Reihen der Zähne oben und unten". Die Urgemeinschaftsbildung ist aber nächst der Ehe, deren Probleme Panaitios offenbar nicht interessieren, die Familie. Freilich wird auch diese, soweit unsere Quellen ein Urteil gestatten, von ihm nur im Vorbeigehen erwähnt1. Wie anders steht dagegen ein ARISTOTELES ZU ihr, der einmal sagt: „In der Familie sind zuerst die Anfänge und Quellen der Freundschaft und Staatsgemeinschaft und des Rechtes"2. Aus dem Bereich des Umgangs einzelner Menschen miteinander kennen wir nur wenige, aber sehr bemerkenswerte Sätze des Panaitios. Offenbar ist nach seiner Ansicht Notwehr durchaus erlaubt und der Beistand gegenüber in Not befindlichen Mitmenschen ist sogar selbstverständliche Pflicht. Aber auch 1 Cicero: De off I 58. ' Eth. Eud. VII 10. 1242 b 1 f.
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die Rache zur Vergeltung für erlittenes Unrecht gilt ihm ohne jedes Bedenken als erlaubt. Doch müssen auch solche Handlungen stets von der Vernunft gelenkt, daher mit Mäßigung und Besonnenheit vollzogen werden. Und Gerechtigkeit im Privatleben gilt auch gegenüber den Sklaven, die man für ihre Arbeit gebührend entlohnen und menschlich behandeln soll. Den Höhepunkt der Ethik des Panaitios bildet erst seine Lehre vom Staat, die er in einer besonderen Schrift niedergelegt hat, die uns jedoch leider verloren ist, so daß wir auf einzelne Nachrichten durch Cicero und andere, die diese Schrift selber noch gelesen haben, angewiesen sind. Die überaus wichtige Schrift war von Panaitios zweifellos vor allem für Scipio und die Männer seines Kreises bestimmt, nicht etwa, wie man seltsamerweise gemeint hat, für athenische Jünglinge, die die Vorlesungen des Panaitios hörten. Soch hoch Panaitios, wie wir zuverlässig wissen, auch Piaton verehrt hat, so hat er doch dank seinem angeborenen Realismus und seinem gesunden Menschenverstand die Utopie des platonischen Idealstaates und nun gar dessen radikalen Kommunismus a limine abgelehnt. Überhaupt Konstruktionen eines besten Staates liegen seiner durchaus auf die Wirklichkeit gerichteten Natur völlig fern. Wenn er vom Staat spricht, so meint er den konkreten Staat der historischen Wirklichkeit überhaupt, wie er ihn im Imperium Romanum in seiner ganzen Größe dank seinem langjährigen intimen Verkehr mit Scipio und seinem Kreise in seinem innersten Wesen kennengelernt hat. Er ist daher zu einem ganz anderen Ergebnis als alle seine Vorgänger gekommen, die den Ursprung des Staates aus der Not, d. h. aus der Bedürftigkeit der einzelnen Individuen oder, wie gewisse Sophisten, gar aus einem contrat social herleiten wollten. Panaitios hat sich freilich vom Ursprung des Staates eine sehr merkwürdige Ansicht gebildet, die man nur aus den besonderen Verhältnissen seiner eigenen Zeit verstehen kann. Seine Ansicht war nämlich die, daß der Staat in der Urzeit von den
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Beteiligten gegründet sei, vor allem, um das Eigentum der einzelnen zu sichern. Denn das Eigentum, vor allem der Besitz an Grund und Boden, war im Verlauf der Zeit bei längerem Zusammenwohnen der Menschen zu einer feststehenden, von niemandem bestrittenen Einrichtung geworden. Panaitios lebte aber damals in Rom im Zeitalter der stürmischen gracchischen Revolutionen mit ihren leidenschaftlichen Forderungen einer Aufteilung von Grund und Boden. Aus dieser Tatsache erklärt sich seine eigentümliche Ansicht vom Ursprung des Staates. Von den drei Grundformen des Staates, der Monarchie, der Oligarchie bzw. Aristokratie und der Demokratie, die schon zur Zeit des Herodot Gegenstand theoretischer Erörterung gewesen waren, hatte schon der greise Piaton1, angesichts der in jeder der drei schlummernden Gefahren, der aus ihnen gemischten Verfassung seine Sympathie ausgesprochen. Doch erst Polybios2, mit dem Panaitios im Kreise des Scipio sicher oft ins Gespräch gekommen ist, hat nicht nur der gemischten Verfassung den Vorzug gegeben, sondern diese im römischen Staat verwirklicht gesehen und sie als die beste erwiesen. Diese Auffassung teilt aus sozialpolitischen Gründen auch Panaitios. Daß aber die dauernde, d. h. die überzeitliche (nicht die vorübergehende) Hauptaufgabe des Staates die Erziehung der Bewohner zur Sittlichkeit ist, ist bekanntlich schon die Grundüberzeugung Piatons, aber auch die Ansicht des Aristoteles, und, wie schon Reitzenstein3 erwiesen hat, auch die des Panaitios. Dann aber interessiert uns besonders seine Ansicht von der Haltung des Führers eines solchen Staates. Der Führergedanke hat in der griechischen Kultur seit den Tagen Homers schon eine lange Vorgeschichte, die hier jedoch nur gestreift werden kann, aber Panaitios wohl bekannt gewesen ist. Daß er sich in der Gestalt des Führers zugleich das sittliche Ideal der Areté 1 1 1
In den Gesetzen III 691 a ff. Vgl. auch VI 756 c. Im 6. Buch. Die Idee des Prinzipats. N G G W 1917 S. 408 ff.
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verkörpert gedacht hat, unterliegt keinem Zweifel. Vor allem aber ist wichtig das innere Verhältnis des Führers zu dem Staat, an dessen Spitze er steht. Diesem Führer ist der Dienst am Staat seine einzige, höchste gottgewollte Aufgabe, vor der alle anderen Anforderungen des Lebens zurücktreten müssen. Panaitios weiß aber auch und hat es öfter nachdrücklich betont, daß selbst die größten Feldherren und Staatsmänner ohne die Mitwirkung ihrer Mitmenschen nichts hätten erreichen können. Es kommt daher auf die innere Verbundenheit und Anhänglichkeit der „Vielen" an ihren Führer entscheidend an. Daher die tiefe psychologische Einsicht des Panaitios, daß zu solcher Anhänglichkeit dreierlei erforderlich ist: daß der Führer von allen geachtet wird, daß man ihm Vertrauen schenkt und daß er geliebt wird 1 . Denn nicht Furcht, sondern Liebe muß das Urmotiv aller Gefolgschaft sein 2 . Und die Achtung vor ihm muß so weit gehen, daß er infolge seiner Taten und seiner überlegenen Einsicht von allen bewundert wird, weil es die Menschen fühlen, daß dieser Mann ihnen allen an Einsicht und hohen Zielen seines Geistes weit überlegen ist 3 . Vor allem aber muß der Führer gerecht sein gegenüber jedermann, auch gegen den Sklaven, und voll Wohlwollen gegen jeden einzelnen, so daß das Vertrauen zu ihm als Helfer in der Not unbegrenzt ist. In summa: er muß in seinem ganzen Wesen das Ideal „der geschlossenen sittlichen Persönlichkeit" verkörpern, in seiner äußeren Haltung wie in seiner innersten zielbewußten Grundgesinnung. Seine persönliche Lebensführung muß daher in jeder Hinsicht untadelig sein; insbesondere wird er stets vollkommen uneigennützig und unparteiisch handeln, ohne jemals an eigenen Vorteil zu denken. Dem Volk aber 1 Dies letztere ist ein ganz neues M o m e n t in der Geschichte der griechischen Ethik. 8 Dieser g e w a l t i g e , in seinem Wert völlig überzeitliche Satz w i r d hier zum ersten M a l e in der Geschichte der Menschheit verkündet. 1 S o w a r es in Preußen unter Friedrich d e m G r o ß e n .
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muß es durch den Führer klar werden, daß das Wohl und Wehe jedes einzelnen von ihnen unlöslich mit dem Wohl und Wehe des Ganzen, d. h. des Vaterlandes, verbunden ist. Und daß daher sein Heil allein von dem Führer abhängt, dessen Trachten und Walten ständig dem Wohl des Ganzen geweiht ist. Panaitios hat aber auch die Möglichkeit ins Auge gefaßt, daß der Führer zugleich ein Jünger der reinen Wissenschaft sein könnte und sich daher am liebsten nur dieser widmen würde. Eine bekannte Stelle aus Cicero De officiis mag dies veranschaulichen: „Wer ist wohl auf die Erforschung und Ergründung der Natur der Dinge in solchem Grade erpicht, daß er - wenn ihm bei seiner Behandlung und Betrachtung der erkenntniswürdigsten Dinge plötzlich die Nachricht von höchster Gefahr des Vaterlandes gebracht wird, dem er helfen und beistehen müßte - da nicht all jene Fragen und Untersuchungen alsbald weit hinter sich läßt, auch wenn er glaubt, die Zahlen der Sterne berechnen oder die Größe des Erdballes messen zu können?" Das ist nachweislich ganz im Geiste des Panaitios gesprochen. Es ist aber auch ganz im Geiste Piatons und seiner Politeia gesprochen. Panaitios scheint in seiner Schrift vom Staat auch schon Gedanken zum Völker-, genauer zum Kriegsrecht ausgesprochen zu haben. Dies erscheint um so glaublicher, wenn man bedenkt, was er selber an Kriegsgreuel zu seiner Zeit erlebt hat. Ist er doch bei der Belagerung und Zerstörung Karthagos persönlich zugegen gewesen. Und daß er von den Grausamkeiten römischer Generale während des Numantinischen Krieges und überhaupt in den römischen Kriegen vor dem Jahre 133 gehört hat, darf man als sicher annehmen. Mehrere seiner bei Cicero erhaltenen Äußerungen klingen so, als ob er dadurch die römischen Optimaten, d. h. Scipio und seinen Kreis, leise habe mahnen wollen, auch das Kriegsrecht im Sinne der Gerechtigkeit oder
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vielmehr der Menschlichkeit bewußt zu mildern. Wir hören nämlich bei Cicero 1 : „Im Staatsleben sind vor allem die Kriegsrechte zu beachten. Es gibt nämlich zwei Arten des Krieges: die eine auf dem Wege der Verhandlung, die andere auf dem der Gewalt. Die erstere ist dem Menschen eigentümlich, die andere wilden Tieren. Diese darf man nur dann anwenden, wenn es keine Möglichkeit gibt, die erstere zu wählen. Daher sollen Kriege nur zu dem Zweck unternommen werden, daß man im Frieden leben kann, ohne Unrecht zu erleiden (gemeint ist also der Verteidigungskrieg). Wenn aber der Sieg errungen ist, dann sind diejenigen Feinde zu schonen, die sich im Kriege nicht grausam, nicht wie wilde Tiere benommen h a b e n . . . Ich halte dafür, daß man stets nach einem Friedensvertrag streben muß, der keinerlei Tücken in sich birgt. Auch für. diejenigen, die man durch Gewalt niedergeworfen hat, muß man sorgen. Und insbesondere sind diejenigen, die sich erst nach Niederlegung der Waffen dem Schutz des feindlichen Feldherrn anvertraut haben, wenn auch schon die Sturmböcke die Mauern erschüttert haben, zu schonen." Und in Ciceros Werk De república 2 heißt es, offenbar nach Panaitios: „Es gibt vier Arten von Kriegen, den gerechten, den ungerechten, den bürgerlichen und mehr als bürgerlichen. Gerecht ist der Krieg, der nach vorheriger Ankündigung wegen Erstattung gewisser Schäden oder zur Abwehr der Feinde unternommen wird. Ungerecht dagegen ist der Krieg, der aus wilder Leidenschaft und nicht aus guten Gründen begonnen wird. Ungerecht sind überhaupt die Kriege, die ohne ausreichenden Grund unternommen werden. Denn außer dem Rachekrieg und dem Verteidigungskrieg gibt es keinen gerechten Krieg. Kein Krieg kann daher für gerecht gelten, wenn er nicht vorher angedroht und feierlich erklärt oder nicht Genugtuung für erlittenen Schaden gefordert ist." • D e off. I 34 f. De rep. III 35.
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Es ist sehr zu bedauern, daß wir infolge des Verlustes von Panaitios' Staatschrift nur diese Rudimente von Kriegs- und Völkerrecht im Sinne des Panaitios besitzen. Um so erfreulicher ist es, daß wir mit völliger Sicherheit eine höchst bedeutsame theoretische Rechtfertigung des römischen Imperialismus durch Panaitios rekonstruieren können, wobei dieser aristotelische Grundgedanken über die Berechtigung der Sklaverei verwertet1. Im Gegensatz zu dem großen Skeptiker Karneades erklärt nämlich Panaitios den römischen Imperialismus mit der Gerechtigkeit für durchaus vereinbar. Ein solches Imperium ist deshalb gerecht, weil es zum Nutzen der Untertanen ist. Es ist also ihre Unterwerfung zu ihrem Besten, zumal dadurch den Schlechten die Möglichkeit zur Gewalttätigkeit und Ausbeutung der Schwächeren genommen wird. An Stelle der Anarchie, des Kampfes aller gegen alle, ewiger Fehden einzelner Völkergruppen gegeneinander, treten so Friede und Ordnung, überhaupt die Herrschaft des Gesetzes. Und auch diese Herrschaft von Menschen über Menschen, wie sie das Imperium Romanum bedeutet, beruht auf einem Weltgesetz; sie ist daher gottgewollt. Denn sie beruht nicht etwa auf dem Recht des Stärkeren, sondern auf dem des Besseren. Natürlich ist eine solche Herrschaft nur gerechtfertigt, wenn es sich bei den Beherrschten um Individuen oder Völker handelt, die sich nicht selber beherrschen und dementsprechend vernünftig handeln können. Und nicht vom Geist des Despoten, sondern von der Megalopsychíía muß die Herrschaft des regierenden Volkes getragen sein. Ihr Endziel muß immer die wahre Wohlfahrt der Untertanen bleiben. Diese Auffassung des Panaitios hat sein großer Nachfolger Poseidonios durchaus geteilt und sie auf Grund der Fülle seines historischen und geographischen Wissens an einzelnen konkreten Fällen als zutreffend erwiesen. Wie dem Polybios und 1 Vgl. des Verf. Untersuchung: Griechische Ethik und römischer Imperialismus, in Klio, 1932, S. 86 ft.
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Panaitios ist auch dem Poseidonios die Erkenntnis von der inneren Berufung des römischen Volkes zur Weltherrschaft zu einer Grundüberzeugung geworden. Diese Berufung - auch hierin sind Panaitios und Poseidonios durchaus einig - barg aber eine dauernde sittliche Verpflichtung Roms den unterworfenen Völkern gegenüber in sich. So wird der römische Imperialismus zu einer welthistorischen Aufgabe des römischen Volkes, die Untertanen allmählich zu wahrer Kultur, zur echten Sittlichkeit und Humanität zu erziehen, einer Aufgabe, um deren Erfüllung von den edelsten Männern Roms immer wieder gerungen werden muß. So wird der römische Imperialismus durch die mittlere Stoa sittlich gerechtfertigt. Diese Gedanken, die zuerst durch Panaitios im Kreise des jüngeren Scipio auf fruchtbaren Boden fallen, werden dann durch Cicero und andere in die folgenden Jahrhunderte, zu den großen christlichen Kirchenvätern (Lactanz und Augustin) und dadurch bis tief ins christliche Mittelalter getragen. Ein integrierender Bestandteil des griechischen wie des römischen Staates ist die Religion. Auch diese mußte daher im Staat des Panaitios berücksichtigt werden. Er unterscheidet dabei drei Klassen von Göttern: die mythische der Dichter, die bürgerliche im Staatskult und die „physische". Die mythische ist schon deshalb zu verwerfen, weil sie den Göttern vielfach Unwürdiges und Unsittliches andichtet. Und ebenso ist jede allegorische Deutung dieser Göttergestalten durchaus abzulehnen. Die bürgerliche dagegen ist im Interesse des Staates wie des Volkes unentbehrlich, zumal sie den römischen Staat groß gemacht hat. Die „physische" aber, d. h. die philosophische - gemeint ist die stoische - , die in Wahrheit nur eine einzige, das ganze All erfüllende und durchwaltende Gottheit anerkennt und die einzelnen großen Volksgottheiten der Griechen und Römer nur als Teilkräfte der einen göttlichen Allvernunft auffassen kann, diese ist für das Volk schon deshalb ungeeignet, weil sie über dessen Horizont weit hinausgeht und es nur
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beunruhigen und verwirren würde; daher ist sie auch für den Staat nicht brauchbar. Sie kann nur das geistige Eigentum einzelner wirklicher Denker sein. Im übrigen spielt die Religion im Staat des Panaitios, der selber durchaus Rationalist ist, kaum eine erhebliche Rolle, und für ihn selber schon deshalb nicht, weil nach seiner durch Karneades' Polemik gegen die altstoische Theodizee stark beeinflußten Auffassung die Vorsehung sich überhaupt nicht um das Wohl und Wehe einzelner Individuen kümmert, sondern nur auf Erhaltung des Weltganzen bedacht ist. In der Religion eines Panaitios ist daher audi für das Gebet (diese Urform aller Religion) kein Platz. In der von uns geschilderten Welt- und Lebensanschauung des Panaitios fehlt noch ein für ihn höchst charakteristisches Element. Es muß daher zum Schluß noch ein Wort über seine Schrift VOM der Euthymie (der Wohlgemutheit) gesagt werden. Es kann kein Zweifel sein, daß Panaitios diesen Titel nach dem Vorgang des Demokrit gewählt hat. Aber der Inhalt dieses Begriffes, insbesondere die Ursachen der Euthymie sind natürlich völlig andere als bei dem großen Atomisten. Denn die Euthymie im Sinne des Panaitios beruht nach Pohlenz' und anderer Forschungen „auf dem Bewußtsein eines der eigenen individuellen Natur gemäß durchgeführten und von Erfolg gekrönten Lebens, in dem sich der Mensch als sittliche Persönlichkeit aktiv zum Wohle der Mitmenschen betätigt und zugleich unbefangen die Güter des Lebens genießt" 1 und zugleich in dem Bewußtsein, daß dem Menschen kein Schicksalsschlag seinen Charakter, d. h. seine Grundgesinnung und seine Ideale wie überhaupt seinen ganzen „geistigen Lebensinhalt"2 rauben 1
Pohlenz, Die Stoa I 206. 2 Um hier einen treffenden Ausdruck Euckens zu gebrauchen, den dieser im Hinblick auf geistige Strömungen seiner eigenen Zeit gebraucht h a t , in seiner b e r ü h m t e n Schrift: Der Kampf u m einen geistigen Lebensinhalt, 1896, S. Aufl. 1924.
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kann. Die Fülle der Seelengründe der Euthymie eines Panaitios ist aber hiermit durchaus nicht erschöpft. Zu diesen gehört vor allem die Freude an allen Schönheiten dieser Welt, d. h. an allem Schönen, Großen und Wahren in Natur und Geschichte. Und drittens das Bewußtsein täglich erfolgreichen Wirkens und Schaffens. Goethes unsterbliches Wort: „Die Tätigkeit ist's, die den Menschen glücklich macht", entspricht ganz dem Grundcharakter des Panaitios. c) Epilog Vor allem durch Pohlenz' Werk und seine in diesem verarbeiteten Untersuchungen ist unsere Erkenntnis der Persönlichkeit des Panaitios und seiner historischen Bedeutung in epochemachender Weise vertieft und bereichert worden. Seine Hauptergebnisse sollen daher in einigen Sätzen kritisch zusammengefaßt wie auch hier und da ergänzt werden. Von geradezu weltgeschichtlicher Bedeutung ist zunächst die durch Panaitios bewirkte völlige Hellenisierung der Stoa, insbesondere durch Ausscheidung aller orientalischen Elemente. Seine zweite große historische Wirkung aber ist diese: Die Stoa wird durch Panaitios die führende Philosophenschule in der ganzen hellenistisch-römischen Welt. Das dritte Moment ist die Einwirkung des Panaitios auf Rom als Welt- und Kulturmacht, d. h. genauer, seine tiefgreifende Wirkung auf die höchsten aristokratischen Kreise Roms. Und gerade hier ist infolge seines langjährigen Verkehrs mit Scipo und seinem Kreise die Wirkung seines sittlichen Ideales von außerordentlicher, kaum zu überschätzender Wirkung gewesen. Tiefer und größer aber als seine Wirkung durch Lehre und Schrift ist der Einfluß, den Panaitios in jenem Kreise als „Mann der großen Welt" durch seine unmittelbare Persönlichkeit ausgeübt hat, dem das ethischpolitische Leben und Wirken weit wichtiger war als sein Lehramt in der Philosophenschule zu Athen.
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Doch nun zur Philosophie des Panaitios selbst: Die Ethik wird durch ihn das Hauptstück der ganzen Philosophie, während dies unter Chrysipp die Logik gewesen war. In der Psychologie und in der Ethik sind durch Panaitios wirklich bedeutende Fortschritte der philosophischen Forschung gemacht worden. Auf dem Gebiet der Psychologie ist es vor allem seine scharfe Unterscheidung der irrationalen Mächte des Seelenlebens von der Vernunft und die Würdigung der Bedeutung eben dieses Irrationalen. Dann aber seine Erkenntnis des innersten Wesens der menschlichen Individualität, deren sämtliche Lebensäußerungen, im Denken, Handeln, Sprechen usw. er - insbesondere unter dem Einfluß des Charakterforschers Theophrast - als aus einer einzigen Wurzel entspringend erkennt und würdigt, und drittens seine Erkenntnis der Totalität der großen sittlichen Persönlichkeit, d. h. einer wahrhaften Führernatur, die zugleich ein wirklich großer Charakter ist. Diese fundamentale Erkenntnis aber beruht bei ihm auf Beobachtung, Erfahrung im wirklichen Leben, eigenem Denken und nicht zuletzt auf großer Intuition. - Das Grundwesen eines solchen überragenden Charakters hat er dann in seinem Werk Πέρί τοΰ καθήκοντος (Von den Pflichten) und vielleicht in dem vom Staat als ein Ideal künstlerisch, ja schöpferisch gestaltet. Zweifellos hat auf ihn als Denker gerade der schärfste Gegner der Alten Stoa, Karneades von Kyrene, einer der kritischsten Köpfe der griechischen Philosophie überhaupt, einen tiefen Eindruck gemacht. Durch ihn und an ihm hat er als Denker Gewaltiges „gelernt". Um nur einen Beweis hierfür zu geben: Panaitios' völlige Verwerfung der Astrologie ist historisch gesehen eine unsterbliche Tat. Aber auch Karneades gegenüber hat er, soviel er auch von seinen Thesen akzeptiert hat - weil diese nicht nur unwiderleglich, sondern schlechthin überzeugend waren - durchaus seine Selbständigkeit gewahrt und nicht nur an der stoischen
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Weltanschauung festgehalten, sondern auch Karneades' gefährliche Argumentation überwunden. Nämlich dessen bestechende Argumentation, daß man nur „gerecht" oder lebensklug sein könnte; denn es gäbe nur dies Entweder-Oder. Entweder ist der Mensch im Sinne des Piaton gerecht - dann ist er alles andere als lebensklug und handelt im wirklichen Leben zu seinem eigenen schwersten Schaden als ein wahrer Narr - oder er ist wirklich lebensklug, dann handelt er nur zu seinem eigenen persönlichen Nutzen. Dann aber ist er im Sinne der Philosophie vollkommen ungerecht; eins schließt das andere aus. So die Beweisführung des Karneades, die dieser auch noch durch das berühmte Schiffsplankenbeispiel drastisch illustrierte. Diese Argumentationen des Karneades, der im Jahre 155 als Mitglied der berühmten Philosophengesandtschaft in Rom durch seinen Vortrag so tiefen Eindruck auf die römische Jugend machte, daß der alte Cato im Senat forderte, diese griechischen Gesandten sofort nach Hause zu schicken - diese Argumentation hat Panaitios durch seine ganz dem Standpunkte Piatons entsprechende Entscheidung zunichte gemacht. Dadurch, daß er zeigte, daß das wahrhaft Gute für den Menschen stets auch das wahrhaft Nützliche sei. Und noch ein anderer großer Zug im Wesen des Panaitios sei hervorgehoben: seine grundsätzliche Einstellung zu den philosophischen Dingen überhaupt. So insbesondere gegenüber der gräßlichett altstoischen Kasuistik wie überhaupt gegenüber der chrysippischen Logik mit ihren raffinierten Spitzfindigkeiten und lächerlichen Pedanterien. Panaitios kommt es stets nur auf das wirklich Wesentliche an, auf die „Kernprobleme", wie es Pohlenz ausgedrückt hat, d. h. auf die großen Fragen der Lebensanschauung. Wirklich bedeutsam ist daher auch seine Stellung gegenüber dem vielumstrittenen Tugendbegriff, der für ihn in Wahrheit gar kein Problem ist. Denn Wert hat Tugend überhaupt nur, wenn sie der Mensch in seiner Person durch die Tat, d. h. nicht
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nur durch einzelne Handlungen, sondern durch sein ganzes inneres und äußeres Leben verwirklicht. Ganz neu und erst durch Pohlenz in helles Licht gestellt ist das Moment der Schönheit in der Philosophie des Panaitios. Nicht etwa nur seine Erkenntnis, daß das sittlich Gute mit dem sittlich Schönen (dem καλόν) identisch ist, so daß das alte Wort Kalokagathia seine Bedeutung behält. Panaitios aber erkennt und empfindet auch die Schönheit des Kosmos in ihrem ganzen Umfang und sicher auch die des Sternenhimmels mit seiner südlichen Pracht. Ebensosehr empfindet er - und das bekundet ein ganz neues Lebensgefühl - die tausendfältige Schönheit hier auf Erden: in der ganzen Natur, in den wundervollen Reizen und Unterschieden der Landschaft vom Fels zum Meer. Ob er auch die Schönheit im Bereich der Pflanzen- und Tierwelt erkannt und empfunden hat, davon fehlt uns leider in unserer Überlieferung jede Spur. Sicher aber empfand er sie auf einem ganz anderen Gebiet: in der Musik mit ihrer überirdischen Schönheit. Er hat aber auch, wenn gewisse Indizien nicht trügen, einen offenen Blick für die Schönheiten in der bildenden Kunst gehabt. Uber Einzelheiten schweigen auch hier unsere Quellen. Aber noch auf einem gänzlich anderen Gebiet sieht Panaitios - und er zum erstenmal in der menschlichen Kulturgeschichte eine überwältigende Schönheit: in der vollkommenen Harmonie einer geschlossenen sittlichen Persönlichkeit, die in ihrem Denken, Handeln und in ihrer persönlichen leiblich-seelischen Erscheinung, überhaupt in ihrem ganzen Wesen, sich dem tiefer sehenden Geistesauge als ein einzigartiges, in jeder Hinsicht harmonisches Kunstwerk erweist - wie beispielsweise die Gestalt eines Perikles, Sokrates oder Piaton oder die eines Scipio oder Cato. Sicher aber erkannte er unter den singulären Fähigkeiten des Menschen, die ihn vom Tier und aller Kreatur unterscheiden, auch seine Fähigkeit, überhaupt Schönheit in der sichtbaren 14
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Welt zu erkennen und zu empfinden, wie andererseits seine Fähigkeit, dank dieser Veranlagung vermittels seiner Hände das Schöne durch Malerei und Plastik darzustellen, um so der Schönheit leibhafte Gestalt zu geben. So ist zum erstenmal in der Geschichte der Philosophie die Bedeutung des ästhetischen Momentes von dem Hellenen Panaitios erkannt und gewürdigt worden. Pohlenz hat aber auch mit vollem Recht Panaitios einen Optimisten genannt. Denn er ist Optimist in seiner Überzeugung von der Pronoia (Vorsehung, Fürsorge), der göttlichen Weltvernunft und der von dieser stammenden Vernunft des Menschen, vor allem aus zwei Gründen: weil es dank dieser Vernunft nur auf den Menschen ankommt, gut und glücklich zu werden, und dann, weil diese Vernunft die Grundlage allen Rechtes und aller Staatenbildung und als Grundlage aller Wissenschaft wie aller menschlichen Gemeinschaftsbildungen die Schöpferin aller Kultur ist und den Menschen befähigt, dank seiner inneren Verwandtschaft die Gottheit zu erkennen und dieser möglichst ähnlich zu werden. Und doch muß man den Optimismus des Panaitios - das darf man gegenüber Pohlenz betonen - in einem wichtigen Punkt einschränken: wegen seiner Beurteilung der konkreten, empirischen Menschheit, d. h. der Menschheit, wie sie sich uns wirklich auf Grund unserer Erfahrungen zeigt. Denn der große Realist Panaitios, der ein Zeitalter furchtbarer Kriege noch in der jüngsten Vergangenheit (Karthago, Numantia, Spanien, Korinth) und der das ganze römische Staatswesen auf das tiefste erschütternden Revolutionen erlebt hat, Panaitios hat von der wirklichen Menschheit, wie sie damals war, eine Auffassung, die ganz der gegenwärtigen entspricht, die wir uns infolge von zwei furchtbaren Weltkriegen und verschiedenen Revolutionen gebildet haben. Er konnte sich dabei schon auf eine Schrift von Aristoteles' Schüler DIKAIARCHOS „Vom Untergang der Menschen" berufen, der unter Vergleich mit allen
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sonstigen Ursachen vom Untergang von Menschenmassen - wie Überschwemmungen, Erdbeben, Seuchen, Raubtieren etc. - festgestellt hatte, daß unvergleichlich mehr Menschen durch Menschen umgekommen seien - d. h. durch Kriege und Revolutionen - , als durch alles übrige Unheil, das ohne Zutun des Menschen über diesen durch Naturgewalten hereingebrochen sei. Ja, Panaitios konstatiert sogar: es seien zwar manche großen Errungenschaften der Menschen durch Eintracht und Zusammenwirken von Menschen zustandegekommen: „Aber es gibt kein Verderben, was so verabscheuenswert wäre, daß es nicht dem Menschen vom Menschen angetan würde". Nulla tarn detestabilis pestis est, quae non homini ab homine nascatur1. Unter dem Eindruck der großen, ja erschütternden Erlebnisse seiner eigenen Zeit hat Panaitios, in tiefstem seelischen Zusammenhang mit allem von ihm selber im Imperium Romanum Erlebten auch auf dem Gebiet des Kriegs- und Völkerrechts höchst beachtenswerte Gedanken geäußert, wie er andererseits den römischen Imperialismus in glücklichster Weise gerechtfertigt hat 2 . Eine Tatsache aber, die von Pohlenz noch nicht berührt ist, mag trotz aller neuen und wirklich bedeutenden Erkenntnis der Persönlichkeit des Panaitios, die wir Pohlenz verdanken, noch hervorgehoben werden: in gewisser Hinsicht ist unsere Kenntnis von Panaitios' innerstem Wesen und Charakter doch un vollständig und wird es stets bleiben, falls uns nicht durch neue Funde eine überraschende Ergänzung und weitere Vertiefung unseres Wissens zuteil werden sollte. Denn es ist uns von Panaitios' Schriften kein einziges Fragment in griechischer Sprache erhalten. Denn das Studium seiner Sprache wie überhaupt seines ganzen Stiles würde uns, hätten wir Werke von ihm im griechischen Original, zweifellos manche neue Züge 1 !
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Cicero: De natura deorum II 16. Vgl. S. 203.
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seiner seelisch-geistigen Persönlichkeit offenbaren, wie uns das bei einem Herakleitos, einem Piaton, einem Aristoteles oder einem Thukydides und ganz besonders bei einem Poseidonios möglich ist. Denn le style c'est l'homme: wie dies schon der Grieche wußte: οίος ό τρόπος τοιούτος ό λόγος.
Poseidonios Der große Nachfolger des Panaitios, der ihn für die kommenden Jahrhunderte fast ganz in den Schatten stellen sollte, ist Poseidonios aus der Stadt Apameia in Syrien. Ihn darum aber seinem Volkstum nach als Syrer zu betrachten, ist durchaus nicht angängig. Denn dies Apameia hieß ursprünglich Pella nach der alten Hauptstadt Makedoniens. So hatten die Stadt ihre ersten Gründer und Besiedler, die überwiegend Makedonen aus dem Heere Alexanders waren, genannt, und erst von König Seleukos I. erhielt sie zu Ehren seiner Gattin den Namen Apameia. Apameia war also eine Griechenstadt und Poseidonios rein griechischer Herkunft. Dafür sprechen überdies andere entscheidende Gründe, wie denn Pohlenz 1 mit Recht nach Poseidonios' ganzer Geistesart nicht daran zweifelt, „daß vorwiegend hellenisch-makedonisches Blut in seinen Adern flöß". Dieser Poseidonios, dessen Lebenszeit die neuere Forschung mit Sicherheit annähernd auf die Jahre 135-51 v. Chr. bestimmt hat, ist eine der merkwürdigsten und bedeutendsten Gestalten der gesamten griechischen Geistesgeschichte. Denn er ist nach Aristoteles der größte Universalforscher der Antike, der in einer ganzen Reihe verschiedenster Fachwissenschaften selber mit glänzendem Erfolge forschend tätig gewesen ist, sie aber alle durch das Band seiner philosophischen Weltanschauung weiter und tiefer verankert und adelt. Denn er ist bei all seiner fach1
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wissenschaftlichen Forschung und seiner beispiellosen literarischen Gelehrsamkeit ein wirklicher Philosoph und mit nichten ein Eklektiker oder gar Kompilator, wie früher aus Unkenntnis des wahren Sachverhaltes behauptet worden ist. Er ist vielmehr - das sehen wir insbesondere dank Jaegers und Reinhardts Forschungen, die in allem Wesentlichen heute Gemeingut der modernen Altertumswissenschaft geworden sind - der bedeutendste Denker und Forscher der hellenistischen Philosophie überhaupt, der auf das letzte halbe Jahrtausend der antiken Kultur einen allbeherrschenden Einfluß geübt und vor allem durch Cicero auch auf Mittelalter und Neuzeit, ja, bis auf Goethes Welt- und Lebensanschauung - man denke nur an den Prolog des Faust - nachhaltig eingewirkt hat. Diese Tatsache hat ihren tieferen psychologischen Grund zunächst darin, daß er griechisches Denken, d. h. die Gedanken der griechischen Philosophie von ihren Anfängen bis auf seine eigene Zeit, in einer Weise synthetisch verarbeitet hat wie niemand vor und wie niemand nach ihm. Aber seine singuläre geistige Nachwirkung, durch die vor allem der Neuplatonismus heraufgeführt wird, hat noch tiefere Gründe in dem Wesen seiner ebenso interessanten wie komplizierten und, wie wir sehen werden, wahrhaft verehrungswürdigen Persönlichkeit. Um in die gedankliche Welt des Poseidonios verstehend einzudringen, ist zunächst eine kurze Einführung in das Leben und das gewaltige Schrifttum des Mannes notwendig. Er wird zuerst in Athen ein Schüler des großen Panaitios und durch diesen für die stoische Weltanschauung gewonnen, wenn er auch seiner eingeborenen Natur nach von diesem grundverschieden ist. Kein Zweifel, daß er dann auch länger in Alexandreia, der geistigen Zentrale aller Fachwissenschaften, geweilt und studiert hat. Was aber besonders merkwürdig und bedeutsam ist, das sind seine großen Forschungsreisen in wesdicher Richtung. Mit Recht ist jetzt allgemein anerkannt, daß er in Sizilien längere Zeit geweilt und dort die gewaltigen Phänomene des Vulkanis-
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mus auf das genaueste kennen und würdigen gelernt hat. Und sicher ist er dann auch in Rom und Etrurien gewesen. Vor allem aber hat er von Massalia (Marseille) aus das südliche Gallien, die Provence, d. h. deren Land und Leute, wie überhaupt das keltische Volkstum in all seinen Lebensäußerungen beobachtet und erforscht und dann - und das ist das zweite Land seiner großen weltgeschichtlich bedeutenden Entdeckungen - das südwestliche Spanien, auch hier das Land und seine Bewohner, ganz besonders aber die ungeheuren Phänomene des Meeres, d. h. die Gezeiten in ihrem stürmischen Wechsel an der Straße von Gibraltar. Kein Zweifel, daß Poseidonios der größte Forschungsreisende der Antike gewesen ist, mit einer alles Leben der Länder im ganzen wie in all seinen Einzelheiten erfassenden Beobachtungsgabe; denn auf ihn paßt wirklich das Wort eines späteren Griechen von der „Sendung" des wahren Philosophen επισκοπών πάντα τά των ανθρώπων εθη καΐ ήθη 1 . Nur hätte dieser Maximus Tyrius noch hinzufügen müssen: und all die Phänomene der Allnatur (Physis). Ein universaler Beobachter von Gottes Gnaden, wie seinesgleichen die Weltgeschichte bis auf Alexander von Humboldt nur ganz wenige auserlesene Forscher kennt, und der nur in einzelnen großen Ioniern Geistesverwandte hat. Nach Abschluß seiner Reisen, die wir mit Sicherheit in das Jahrzehnt nach dem Untergang der Kimbern und Teutonen, d. h. nach dem Jahre 101 v. Chr., setzen können, ist er dann in den Osten zurückgekehrt. Er hat aber nicht die Nachfolge des Panaitios als Haupt der Stoa in Athen angetreten; vielmehr hat er in der Hauptstadt der Insel Rhodos, also in der Heimat seines Lehrers Panaitios, eine eigene Philosophenschule eröffnet, als deren Haupt er bald ein ungewöhnliches Ansehen, sowohl in dem rhodischen Freistaat wie in der Folge auch in der vornehmen Gesellschaft Roms, gewonnen hat. 1
Alle Sitten und Bräuche der Menschen und ihre Wesensart betrachtend.
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Als Gesandter der Republik Rhodos weilte er im Jahre 86 in Rom und hatte dabei noch Gelegenheit, den Besieger der Kimbern und Teutonen auf seinem letzten Krankenlager zu besuchen. Später ist er in Rhodos sogar von der Bürgerschaft zum Prytanen, d. h. zum Präsidenten ihres Rates, gewählt worden. Wie bedeutend aber in der Hauptstadt der Welt sein Ansehen gewesen ist, das weiß nicht nur jeder Leser von Ciceros Schriften; es wird auch nicht nur durch die Tatsache beleuchtet, daß Cicero ihn bat, die Geschichte seines Konsulates im Jahr der catilinarischen Verschwörung zu schreiben, sondern vor allem dadurch, daß der große Feldherr Pompeius ihn zweimal in Rhodos besucht hat und bei seinem ersten Besuch vor dem Eintritt in das Haus des Poseidonios den Liktoren befahl, vorher die fasces (die Rutenbündel mit dem Beil, das Zeichen der römischen Staatshoheit) zu senken, „eine für einen Nicht-Römer unerhörte Ehre" (Mommsen). Poseidonios hat offenbar auch im Umgang mit Menschen, mit hoch und gering, Würde und Anmut in glücklichster Weise vereint. Denn er war sowohl ein erlauchter Vertreter der weltumspannenden griechischen Wissenschaft wie ein Mann von Welt, der vieler Menschen Städte gesehen und ihre Denkart kennengelernt hatte. Die Schriften des Poseidonios waren, als ganzes gesehen, von einem geradezu ungeheuren Umfang, aber auch durch Reichtum an verschiedenartigstem Inhalt schlechthin erstaunlich. Aus den verschiedensten Bereichen wirklich ernster Wissenschaft können hier nur einige besonders charakteristische Titel seiner Werke genannt werden, die von dem eindrucksvollen Interessenreichtum des Poseidonios eine Vorstellung erwecken können. So verfaßte er, und zwar zweifellos in der Hauptsache in der Zeit von spätestens 90 bis mindestens 60 v. Chr. - denn in dieser Zeit hat er nach Rückkehr von seinen Reisen notorisch auf Rhodos gelebt, gewirkt und unablässig gearbeitet - die Werke: Von den Tugenden - Vom Fatum - Ethik - Von Heroen und Dämonen
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- Von den Göttern (eins seiner Hauptwerke in wenigstens 13 Büchern) - Von der Mantik (in 5 Büchern) - Von der Vorsehung - , aber auch eine Reihe großer naturwissenschaftlicher Werke, so von den Metèora in wenigstens 6 Büchern, ferner eine Meteorologie und dann eins seiner Hauptwerke Vom Ozean; ferner in wenigstens 15 Büchern eine Physik; eine Schrift Von der Welt, andererseits ein Werk von den πάθη (Gemütsbewegungen, vgl. oben, S. 185 f.) in wenigstens 2 Büchern; ein Buch Von der Seele. Andererseits verfaßte er als Fortsetzer des Polybios, wenn auch in völlig anderem Geist, ein großartiges zeitgeschichtliches Werk, die Historien, in 52 Büchern, dessen Bedeutung, Ökonomie - es begann mit den Jahren 145/44 und endete wahrscheinlich mit dem Mithridatischen Kriege - und Eigenart, sowie den stoisch-religiösen Geist - der, aus der innersten Physis des Autors selbst entsprungen, das Ganze höchst eindrucksvoll durchwehte - uns erst Felix Jacoby, der größte Erforscher und Kenner der gesamten griechischen Historiographie, ganz verstehen und würdigen gelehrt hat, dem wir auch die erste wirklich wissenschaftliche Sammlung der Fragmente der Historien und des großen Werkes Vom Ozean und ihre höchst wertvolle Kommentierung verdanken. Wie denn überhaupt erst Jacoby uns eine völlig überzeugende und wahrhaft gerechte Charakteristik des Poseidonios gegeben hat. Und doch ist es von erheblichem Wert, neben der Jacobys die ausgezeichnete Charakteristik des Historikers Poseidonios von Max Pohlenz 1 zu lesen. Ich habe an anderer Stelle ein Bild des großen Geographen Poseidonios gegeben 2 , der auf dem Gebiet der mathematischen wie der physikalischen Geographie - gestützt nicht nur auf die Werke seiner großen Vorgänger wie insbesondere des Hekataios und des Eratosthenes, sondern auch auf seine eigenen großen Forschungsreisen in den Küstenländern des Mittelmeeres von Sizilien bis zur Straße von Gibraltar 1
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' Die griechische Erdkunde u. Poseidonios, N. Jbb. 1920, S. 305 ff.
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- wahrhaft Vorbildliches geleistet hat, das auch dem modernen Geographen Bewunderung abnötigt. Großartig ist schon seine mathematische Geographie, wie ihm denn die griechische Mathematik wie insbesondere die sog. Erdkugelgeographie ein ganz vertrautes Gebiet ist. Daher nicht nur seine Berechnung des größten Erdumfanges = 240 000 Stadien = 48 000 km, sondern auch seine eindringende, durchaus glückliche und zutreffende Behandlung der Zonenlehre, seine Konzeption der Gestalt und Ausdehnung der Oikumene und dabei seine ständige Berücksichtigung der kosmischen Vorgänge im Laufe des Jahres. Auf dem Gebiet der physikalischen Geographie sind seine Entdeckungen und Erkenntnisse so reich und tiefdringend, daß sie hier nur angedeutet werden können. So ist es zunächst der ewige Wechsel von Land und Meer im Lauf der Jahrtausende, der sein Nachdenken dauernd beschäftigt, wie denn Landverlusten an manchen Küsten gewaltige Anschwemmungen von Land an Flußmündungen, wie insbesondere im Nildelta, gegenüberstehen, an manchen Stellen Inseln zu Festland werden, an anderen neue Eilande auftauchen. Vor allem aber interessiert ihn das Meer als ein ungeheures, den ganzen Erdball umfassendes Phänomen. Und hier sind es besonders die Gezeiten, deren rhythmischen Wechsel er in einem besonders kritischen Zeitpunkt, zur Zeit der Sommersonnenwende, bei Vollmond und danach, an der Straße von Gibraltar einen Monat lang genau beobachtet und dabei die wechselnden Fluthöhen mißt, wie er auch die Auswirkungen der Flut, bis hoch in die südspanischen Ströme hinauffahrend, verfolgt. Ebenso hat er bei anderer Gelegenheit, auf der Rückfahrt von Spanien, durch widrige Winde im westlichen Mittelmeer zwischen den Balearen und Sardinien wochenlang festgehalten, die Meerestiefen gemessen und sich notiert. Aber wie sein Blick auch bei all seinen geographischen Beobachtungen stets zugleich auf das Ganze gerichtet ist, so hat er selbst solche Meerestiefen ebenso wie die
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dem Menschen gewaltig erscheinenden Hochgebirge (seien es Alpen oder Pyrenäen, der Ätna oder der Olymp) dank seiner Erkenntnis der Größe des gesamten Erdballes, die sogar noch über die Wirklichkeit etwas hinausgeht, für völlig belanglos erklärt: all solche Erhöhungen oder Vertiefungen ändern nichts an der Kugelgestalt der Erde. Und er hat sogar diese Erkenntnis auch für den Laien durch einen plastischen Vergleich anschaulich gemacht: auch die kleinen Früchte der Platane bleiben trotz aller sie umgebenden Stacheln doch immer kugelförmig. Er hat aber auch die allmählich im Lauf von Jahrtausenden vor sich gehenden Veränderungen der Erdoberfläche, sei es durch die unwiderstehlichen Wirkungen des Wassers oder durch Erdund Seebeben oder durch vulkanische, aus den Erdtiefen herauswirkende Kräfte, nicht nur umfassend betrachtet, sondern er ward auch ein wirklicher Seismologe und Vulkanforscher hohen Ranges. Er hat aber seine geophysischen wie seine meteorologischen Forschungen auch mit besonderem Interesse dem Grundwasserproblem und dem Kreislauf allen Wassers zugewendet. Er hat die Bodenschätze einzelner Länder, wie insbesondere die des so metallreichen Spaniens, nach ihrer wirtschaftlichen Bedeutung gewürdigt. Und dann noch eins: er hat als erster der antiken Geographen auch schon das Wesen einer Landschaft, d. h. insbesondere gewisse Charakterlandschaften, dank eigenen Schauens auf seinen Forschungsreisen geistig erfaßt und uns solche Landschaften wie die Crau d'Arles unweit der Rhönemündung, oder die Ätnalandschaft oder die Landschaften Turdetaniens (Andalusiens) ebenso wie die verbrannte Zone (die κατακεκαυμένη) im nordwestlichen Kleinasien mit wundervoller Plastik geschildert. Die mathematische Fundierung des Naturforschers Poseidonios tritt wie in der Geographie ganz besonders in seiner Astronomie hervor. Die großen Weltkörper, der Mond und vor allem die Sonne, haben die Forschung des Philosophen Poseidonios, der mit seinem Denken den Makrokosmos ebenso tief
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zu ergründen sucht wie den Mikrokosmos, ganz besonders gefesselt. Er berechnet die Entfernung des Mondes von der Erde auf 50 000 Meilen und kommt daher der Wahrheit (51800 Meilen schon erstaunlich nahe. Die Substanz des Mondes, seine Phasen, seine Bahn, seine Größe wie seine Entfernung sind für ihn selbstverständliche Fragen. Auf der anderen Seite interessieren ihn die Einwirkungen des Mondes auf die irdischen Dinge, d. h. auf die Atmosphäre, das Meer (die Gezeiten), aber auch, wie er meint, auf manche Lebewesen, wie z. B. die Schaltiere, und auf die Vegetation (das Reifen der Früchte). Aber gegenüber dem Herzen des Kosmos, der Sonne, ihrer wahrhaft zentralen Bedeutung, muß der Mond völlig verblassen. Schon über die Größe und die Entfernung der Sonne sind seine Forschungsergebnisse erstaunlich. Wie Franz Boll in seiner klassischen Abhandlung feststellt, ergibt seine Schätzung der Sonnenentfernung fünf Achtel und die des Sonnendurchmessers drei Achtel der wirklichen Beträge. Ja, es ist festgestellt worden, daß er über die Entfernung der Sonne schon richtigere Anschauungen gehabt hat als der große Physiker Newton. Gegenüber der Fülle der Erscheinungen auf der Oberfläche dieser Erde erhebt sich der Jünger des Piaton und Aristoteles zu höheren Sphären, um von hoher Warte die Gesamtheit des irdischen Lebens zu überschauen und nach seinen letzten Ursachen zu forschen. Und hier ist es die Sonne, von deren schöpferischer Macht er überall die Wirkungen zu erkennen glaubt, so daß er einmal, ihre Gesamtwirkung als Philosoph zusammenfassend, von ihrer ζωτικοτάτη δύναμις spricht, d. h. von ihrer alles Leben in seinen tiefsten Gründen erzeugenden Kraft. Wie schon das Klima nicht nur der verschiedenen Zonen, sondern auch der einzelnen Länder je nach dem Sonnenstande verschieden ist, so hängen auch Reichtum und Arten der Tierwie der Pflanzenwelt Indiens und Libyens von Licht und Wärme der Sonne ab, deren Einwirkung der Beryll und Smaragd Süd-
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arabiens ebenso Entstehung und Farbe verdanken wie das bunte Gefieder der tropischen Vogelwelt. Aber auch die bedeutsamen Unterschiede im Charakter der Völker verschiedener Himmelsstriche gehen letzten Endes auf die Eigenart ihres „Klimas" (das Wort in astronomisch-mathematischem Sinne, d. h. ihrer Lage zur Sonne) zurück, die nicht nur ihre körperliche Konstitution, sondern auch ihre seelische Veranlagung entscheidend beeinflußt. So wird alles Leben auf dieser Erde unter kosmischem Gesichtspunkt betrachtet. Auch der Geograph Poseidonios zeigt mehr als einen großen Zug: so fein er das einzelne beobachtet, nie bleibt sein Blick am einzelnen hängen; immer erhebt er sich zu einer alle Erscheinungen zusammenfassenden Gesamtansicht. Es ist der universale Zug des Philosophen, der die Dinge „zusammenschauend" nach einem Bilde des Ganzen strebt, alle Erscheinungen auf eine Ursache zurückführen möchte. Ist ihm doch die Geographie nur ein Teil der Philosophie, der „Wissenschaft von den menschlichen und göttlichen Dingen". Und gerade der philosophische Zug ist es, der Poseidonios vor anderen Geographen des Altertums sein besonderes Gepräge verleiht. Doch darf man darüber, daß sein inneres Verhältnis zu den kosmischen Dingen zugleich einen tief religiösen Charakter hat, so daß er oft ihre Macht begeistert preist, nicht übersehen, daß auch Poseidonios wie die alte Stoa und wie schon Piaton und selbst Aristoteles die Gestirne für beseelte, göttliche Wesen gehalten hat, in schärfstem Gegensatz zur Erkenntnis des Anaxagoras und der Atomisten. Auch die Planetenbahnen haben sein Denken stark beschäftigt. Er kennt die Lehre von den exzentrischen Kreisen und den Epizyklen, wie sie zur Erklärung der komplizierten Planetenbahnen (man denke nur an die Bahn der Venus) der große Mathematiker und Astronom Hipparch verwendet hatte. Bekanntlich war auch Poseidonios' Weltanschauung wie die des Piaton und Aristoteles und der alten Stoa geozentrisch.
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Und doch muß er die heliozentrische Lehre des Aristarch von Samos und ihre Begründung durch Seleukos gekannt haben. Wie er sich aber mit dieser auseinandergesetzt hat, darüber schweigt leider unsere Uberlieferung vollständig. Aber von der ungeheuren, d. h. unendlichen Größe des Weltalls hat er doch schon eine relativ annähernde Vorstellung. Wenn nach seiner Anschauung die Erde im All nur ein Punkt ist, so dürfen wir freilich nicht vergessen, daß diese schon bei den großen Astronomen vor ihm Gemeingut war, und daß Aristarch von den Ausmaßen des Alls (von der Erde bis zur Fixsternsphäre) eine noch viel tiefer dringende Erkenntnis hatte, die noch heute unsere Bewunderung erregt, zumal die Antike noch keinerlei Teleskope kannte. Bei all diesen Erkenntnissen und Problemen des Astronomen Poseidonios darf jedoch nicht verschwiegen werden, daß er ein überzeugter Anhänger der Astrologie gewesen ist und ihre Lehren in verschiedenen seiner Werke ausführlich entwickelt hat. Und eben dadurch, daß er im Gegensatz zu Panaitios die Astrologie und ihre Grundgedanken als einen integrierenden Bestandteil in seine Weltanschauung aufgenommen hat, hat diese gegenüber den scharfen Angriffen des Karneades und der Anerkennung dieser durch Panaitios infolge der ungeheuren Nachwirkung von Poseidonios' Werken in der griechischen und römischen Literatur der folgenden Jahrhunderte eine gewaltige Verstärkung erhalten. Es muß daher hier ein Wort über die nach dem Tode Alexanders des Großen in die griechische Welt allmählich immer tiefer eindringende Astrologie gesagt werden. Der Grundgedanke, daß des Menschen Schicksal „in den Sternen" geschrieben ist, geht auf die babylonische Astrologie zurück, die in dem Menschenalter nach Alexanders Tode durch Massen von Übersetzungen babylonischer astrologischer Schriften in das Griechische einen gewaltigen Einbruch orientalischen Wesens in das Denken des Abendlandes bewirkt hat.
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Eine Reihe gewichtiger Momente hat die Annahme astrologischer Lehren, zumal in der stoischen Philosophie, mächtig gefördert, wie denn schon Zenon und Chrysipp, die großen Häupter der alten Stoa, diese angenommen haben. Zunächst die Anschauung, daß die Gestirne, vor allem aber die Planeten einschließlich von Sonne und Mond, die man damals zu den Planeten rechnete, beseelte göttliche Wesen seien. Das zweite Moment ist der schon altstoische Fatalismus, der sich auf die Lehre von der unentrinnbaren Wirkung einer unendlichen Kette von Ursachen im Makro- wie im Mikrokosmos gründete. Hiermit hängt auf das engste das Dogma von dem unentrinnbaren Zusammenhang aller Dinge, der συμπάθεια των ολων, zusammen, die gerade für Poseidonios' grundlegende Überzeugung nicht nur von der Einheit des gesamten Kosmos, sondern auch von der harmonischen, durch die Weltvernunft in sämtlichen Teilen des Kosmos gewirkten Ordnung von größter Bedeutung ist, ein Gedanke, der durch die ewig unveränderlichen Bahnen der Planeten wie der Gestirne seine überwältigende Bestätigung fand, zumal für das Denken des Poseidonios. Und als letztes förderndes Moment kam die schon aus dem hohen griechischen Altertum stammende Uberzeugung hinzu, daß die Götter, sei es Zeus, Apollon oder wer auch immer, den Menschen kommende Ereignisse durch mancherlei Vorzeichen ankündigen. Und für Poseidonios, dem die Sonne als schlechthin fundamentale Ursache allen Lebens auf Erden nicht nur philosophische Uberzeugung, sondern zugleich ein religiöses Grunderlebnis war, scheint es nur folgerichtig, wenn er die babylonische Lehre von den Gestirnen, d. h. den Planeten, nicht nur als Kündern der Zukunft, sondern als Herrschern (Archonten) allen Lebens und Geschehens annahm. Eine Tatsache, die freilich für uns ein Rätsel zu bergen scheint, wenn wir bedenken, daß er wenigstens nach Ciceros Zeugnis ein Schüler des Panaitios gewesen ist, der diese ganze Lehre nach dem Vorgang des Karneades verworfen hat.
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Dies astrologische Weltbild aber bedeutet: daß die Planeten und im Verein mit ihnen die Zódia, die zwölf Bilder des Tierkreises, für das Leben, Handeln und Leiden aller Kreatur von entscheidender Bedeutung sind, und daß ihre Wirkung vor allem auf das gesamte Lebensschicksal des Menschen von der Geburt bis zum Tode absolut unentrinnbar ist, so daß demgegenüber nicht nur der Mensch, sondern auch alle anderen Götter völlig machtlos sind. Und daß - dies ist die zweite fundamentale Lehre der Astrologie - aus der Konstellation der Planeten in dem jeweiligen Tierkreiszeichen in der Geburtsstunde des Menschen mit völliger Sicherheit der Gang und Inhalt seines Erdenlebens vermittels des Horoskops vorausgesagt werden kann. Eine Lehre, die bekanntlich selbst einem Goethe eingeleuchtet hat, der zu Beginn von Dichtung und Wahrheit zu seiner Geburt in Frankfurt am 28. August 1749, mittags um 12 Uhr, sagte: „Die Konstellation war glücklich; die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig. Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig. Nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheines um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war." In diesen Worten ist die ganze astrologische Grundlehre enthalten, wie sie auch innerste Überzeugung des Poseidonios gewesen ist, der Philosoph, Naturforscher hohen Ranges und Theologe in einem ist. Und so ist auch mit der Astronomie seine Astrologie unlöslich verbunden. Es gibt zu denken, daß selbst große und größte Astronomen und Physiker der Neuzeit, daß selbst Kopernikus, Tycho de Brahe, Galilei und Kepler „samt und sonders noch praktische Astrologen" gewesen sind. Der Historiker der Philosophie kann aber angesichts dieser Entwicklung des griechischen Denkens, zumal seit Alexander und seiner Erschließung der geistigen Welt des Orients, durch die die Astrologie zu einer trotz aller
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Anfechtungen im Lauf der Jahrhunderte immer wieder siegreichen Macht wird, eine kritische Bemerkung nicht unterdrücken. W ä r e die Erkenntnis des ANAXAGORAS, der schon in der ersten Hälfte des 5. Jahrh., in Perikles' Tagen, aus dem Niedergang eines riesigen Meteors bei Aigospotamoi (auf der heute Gallipoli genannten Halbinsel) den kühnen Schluß zog 1 , daß die Gestirne (die Sonne einbegriffen) überhaupt keine Lebewesen oder gar Götter seien, sondern nur glühende Metallklumpen (μύδροι διάπυροι), in der griechischen Wissenschaft durchgedrungen und die Leugnung ihrer göttlichen Existenz danach nicht nur von den Atomisten erfolgt, dann hätte die von Osten in die Seelen der griechisch-römischen Welt immer tiefer einsickernde Astrologie niemals diese weltgeschichtliche Bedeutung auch für das christliche Abendland gewonnen, die wir bis in unsere Tage hinein nicht nur als Historiker sondern überhaupt als denkende Menschen der Gegenwart erleben. Die zweite Fachwissenschaft, in der Poseidonios, auf dem großen Werk des Aristoteles fußend, dieses zum Teil berichtigend, zum Teil auf Grund seiner gegenüber Aristoteles gewaltig erweiterten Länderkunde ergänzend, Hervorragendes leistet, ist die Meteorologie. Dies kann freilich hier nur angedeutet werden, obgleich wir darüber manches sehr Interessante wissen, nicht nur von seiner Optik der atmosphärischen Erscheinungen und von seiner zwölfstrichigen Windrose oder von der Entstehung von Fallwinden wie auch von Windhosen oder von seiner physikalischen Erklärung der Fata M o r g a n a in Libyen jenseits der Syrte. Doch ist auch hier bedeutsam, daß Poseidonios, der f ü r alle Vorgänge und Erscheinungen in der sublunaren Region, d. h. (nach antiker Auffassung) in der Atmospähre, ein besonders lebhaftes Interesse bekundet, auch all diese Vorgänge unter kosmischer Perspektive des Philosophen 1 Vgl. Philol. 71 S. 431 Anm. 46. Ferner meine Studie: Anaxagoras, Neue Jbb. 1919, S. 86 f.
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betrachtet, wie er ja auch die Sonne als die letzte Ursache aller atmosphärischen Vorgänge erkannt hat. Er erweist sich aber auch noch auf einem ganz anderen Gebiet, das nicht der Naturwissenschaft, sondern der Wissenschaft vom Menschen angehört, als ein Forscher hohen Ranges: in der wissenschaftlichen Völkerkunde. Wie schon die Arbeit von Karl Triidinger zeigen kann, hat er freilich auf diesem Gebiet schon eine ganze Reihe bedeutender Vorgänger gehabt, deren Werke er genau gekannt hat. Aber wenn wir von Hekataios und Herodot absehen, so hat er vor den meisten von ihnen einen gewaltigen Vorsprung: seine Völkerkunde gründet sich in der Hauptsache auf eigene große Forschungsreisen in den damals den griechischen Ethnologen noch kaum bekannten Westen Europas, d. h. auf Autopsie. Was er hier alles mit physischem Auge und mit dem Auge eines wahrhaft genialen Geistes geschaut, beobachtet, in großen Zusammenhängen geschaut, gewertet und gedacht hat - in dieser großen wahrhaft schöpferischen Synthese kommt ihm keiner seiner Vorgänger auch nur annähernd gleich. Denn er sieht die Dinge, die Menschen und ihre Gemeinschaftsbildungen nicht nur als Ethnologe im engeren Sinne, sondern zugleich als Soziologe und Historiker und als Philosoph und nicht zuletzt als Mensch. Seine innere Einstellung gegenüber fremden Völkern, sogenannten Barbaren, deren Leben und Treiben er nun, oft mitten unter ihnen, beobachtet, ja erlebt, ist eine völlig andere als die all seiner Vorgänger. Denn er erfaßt als erster wissenschaftlicher Mensch auf dieser Erde und als einziger in der gesamten antiken Wissenschaft die Welt der Barbarenvölker als etwas wirklich Erforschungswürdiges, ja, er sieht sogar in der Seele gewisser Barbarenvölker, d. h. des europäischen Nordens, trotz aller Schattenseiten göttliche Kräfte aufleuchten. Er tritt daher an diese Barbaren mit einer damals noch unerhörten Unbefangenheit und Frische heran, zugleich mit einer phänomenalen' 15 Capelle, Griechische Philosophie
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Beobachtungsgabe ausgerüstet, wie wir sie in dieser Universalität selbst bei den genialsten alten Ioniern nicht kennen. Denn es gibt überhaupt keine Erscheinung von Belang in fremden Landen, im Bereich der Natur und des Menschenlebens, die seinem Auge entgeht. Zunächst im Bereich der sichtbaren Phänomene des Menschenlebens: der physische Habitus des betreffenden Volkes - der Wuchs, die Farbe des Haares und der Augen, der Teint, der Blick - die Tracht, der Schmuck und die Bewaffnung. Dann aber der Bios des betreffenden Volkes in all seinen Äußerungen: Nahrung, Beschäftigung, Benehmen beim Mahle, beim Gelage oder beim Tanz; die Bauart der Häuser, all ihre Sitten und Bräuche, ihre Kampfesweise, Behandlung erschlagener oder gefangener Feinde, aber auch die soziale Struktur eines Volkes. Auch die Stellung der Frau, die Arbeitsteilung zwischen Frau und Mann, Sexualia und dann ganz besonders die Religion und die religiösen Bräuche des Volkes. Sehr interessiert ihn auch dessen Zukunftserforschung, die Mantik, insbesondere die Palmomantik: aus den Zuckungen und dem Fall der geschlagenen Opfer (bei Menschenopfern), aber auch Sagen und mündliche Überlieferungen, wie Heldenlieder und vieles andere. Und dazu kommen dann noch die mannigfachen Eigentümlichkeiten (die ίδια, eigentlich: Eigenheiten) der einzelnen Völker. In der ganzen antiken Literatur unerreicht sind seine Schilderungen der großen Nordvölker: der Kelten und der Kimbern und Teutonen auf Grund langwährender Autopsie, zumal in Südgallien, wobei er sich dankbar der äußerst förderlichen Unterstützung und Beratung seines Gastfreundes Charmoleon aus Massalia erfreut. Doch können hier nur Andeutungen gegeben werden. Poseidonios beschreibt - und dieser feine Zug verrät zugleich den echten Künstler anschaulicher Darstellung - die Wesenszüge des keltischen Volkes nicht etwa in trockener Aneinanderreihung, sondern er schildert diese, dank seinem eigenen Schauen mitten unter ihnen, wie Karl Reinhardt gesagt hat, „in
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Aktion", d. h. in lebendiger Bewegung. Er beobachtet sie beim Mahle, ihre leichte Erregbarkeit, die manchmal zum Streit oder gar zum Zweikampf ausartet; auch ihre Neigung zur Prahlerei fällt ihm auf, und mit Schaudern sieht er ihre barbarische Weise, ihr Fleisch mit den Händen zu zerkleinern und hinunterzuschlingen. Unter der Fülle ethnologisch interessanter Züge ist einer, der ihm selber auf seiner Reise durch das südliche Gallien zuerst starkes Unbehagen verursachte: nämlich ihr Brauch, dem getöteten Feinde den Kopf abzuhauen, diesen an die Mähne ihres Pferdes zu binden und damit unter wildem Siegesgesang nach Hause zu jagen, um ihn dann am Giebel ihrer Behausung anzunageln. Er schildert aber auch - dies vielleicht auf Grund von Mitteilungen seines Gastfreundes - mit grausamer Anschaulichkeit, als ob er selbst dabei gewesen wäre, und doch schlicht und sachlich, die Schlachtung und Opferung römischer Kriegsgefangener durch die Priesterin der Kimbern, so daß wir den greulichen Vorgang in unserer Phantasie miterleben. Aber der Historiker und der Philosoph der Völkerkunde - denn auch das ist er - betrachtet Wesen und Leben der Nordvölker, deren Individualität er in ihrer Totalität erfaßt, unter ganz anderem Gesichtspunkt. Schon Piaton hatte - ohne von den nordischen Völkern des Poseidonios zu wissen, denn für Piaton sind nördliche Völker nur Thraker und Skythen - auf Grund seiner Dreiteilung der menschlichen Seele drei Hauptgruppen von Völkern unterschieden und den nördlichen als Charakteristikum das „Mutartige" zugeschrieben, während die Griechen die Herrschaft des Logos auszeichnet, und den Phönikern und Ägyptern das „Begehrende", d. h. der Erwerbstrieb, eigen sei. Aber erst Poseidonios zieht als Historiker des europäischen Westens und als Ethnologe ganz neue Konsequenzen. Denn er hat wirklich den entscheidenden Wesenszug einer ganzen Völkergruppe (eben der Nordländer) als die Auswirkung einer einzigen tieferen seelischen Ursache aufgefaßt, nämlich des Mutes, wobei man wissen muß, daß das griechische 15*
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Wort Thymós nicht nur den Mut, sondern auch die Willenskraft einschließt. Unter diesem Gesichtspunkt hat er augenscheinlich auch die Kimbern und Teutonen betrachtet. Das Thymoeidés, das Mut- aber auch das Wutartige ihres Wesens - denken wir an den „Furor Teutonicus" - wurde ihnen zum Verhängnis. Aber dies Mutartige der Nordvölker, diese Tatsache von weltgeschichtlicher Bedeutung, führt er als Philosoph auf letzte, d. h. kosmische Ursachen zurück. Wie alle klimatischen Unterschiede von Ländern und Völkern, hängt auch dieser Zug mit dem individuellen Sonnenstand der Nordvölker zusammen. Die Sonne bewahrt in den Gegenden, die sie nur in mäßiger Weise erwärmt, die Körper in der rechten Mischung. Es wird daher in den kalten Gegenden, die weit vom Süden abliegen, die Feuchtigkeit von der Wärme nicht aufgezehrt, sondern aus der Atmosphäre ergießt die tauige Luft in die Körper Feuchtigkeit und macht den Körper umfangreicher und den Klang der Stimme tiefer. Daher sind die Völker, die unter dem Nordgestirn leben, von gewaltigem Körperbau, weißer Hautfarbe, schlichtem rötlichen Haar, blaugrauen Augen und mit viel Blut infolge der Fülle von Feuchtigkeit und des kalten Klimas ausgestattet. Es sind daher die Körper, die unter dem Nordgestirn geboren werden, dem Fieber mehr ausgesetzt und weniger widerstandsfähig, aber dank ihrem Reichtum an Blut widerstehen sie dem Eisen ohne Furcht. Daher sind die Völker, die in kalten Gegenden aufwachsen, zum Kampfe der Waffen geneigt infolge ihrer kriegerischen Eigenschaften, da sie keinerlei Furcht kennen. Dagegen stürmen sie infolge der Langsamkeit ihres Geistes ohne Überlegung darauf los und sind ohne kluge Gedanken ihren eigenen Entschlüssen im Wege. Es kann kein Zweifel sein, daß Poseidonios hier vor allem an •die Kimbern und Teutonen gedacht hat. Diese muß er doch •auch von den Kelten, die er persönlich näher kennenlernte, •stark unterschieden haben. Denn Logos traut er ihnen auf
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Grund historischer Erfahrung offenbar nur wenig zu, wohl aber den Kelten. Denn von diesen sagt er, daß sie einen scharfen Verstand hätten und zum Lernen nicht unbegabt wären. Bei diesen Kelten sah er offenbar im Gespräch bei jedem Wort sozusagen den Logos durchleuchten. Es kann daher kein Zweifel sein, daß er Kimbern und Teutonen von den Kelten infolge ihrer grundverschiedenen geistigen Veranlagung scharf unterschieden hat.
a) Der Philosoph „In der Vereinigung griechischer und orientalischer Wesensart ein echter Vertreter des Hellenismus, zugleich Mystiker und Rationalist, Wundergläubiger und exakter Ätiologe, spekulativer Denker und Empiriker, selbständiger Beobachter und Verarbeiter historischer Tradition, Naturforscher und Menschenkundiger, auch auf dem Gebiet der praktischen Politik, schuf er sich, nur zum Teil in den Spuren seines Lehrers Panaitios wandelnd, eine Weltanschauung, in der sich Vorsokratisches, Platonisches, Aristotelisches und Stoisches zu einem wohlgefügten System verbanden." Diese, Poseidonios in ausgezeichneter Weise in nuce charakterisierenden Worte eines Forschers wie Karl Praechter mögen gleich zu Beginn unserer Ausführungen dem Jünger der Philosophie eine Vorstellung davon geben, eine wie komplizierte Denkerpersönlichkeit Poseidonios ist. Ein Eindruck, der sich noch verstärkt, wenn wir die Worte eines Forschers wie Franz Cumont lesen, die ein kaum lösbares Problem andeuten: „If he is Greek in the constructive power of his speculative genius in the harmonious flow of his copious and hightly-coloured style, his genius remained Oriental in the singular combination of the more exact science with a fervent mysticism." Es können daher in diesem Grundriß nur die wesentlichen Züge seiner Philosophie skizziert werden.
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Vorweg aber sei, um einem Mißverständnis von Praechters klassischen Worten vorzubeugen, nachdrücklich hervorgehoben, daß trotz all dieser Widersprüche durch die Philosophie des Poseidonios ein wahrhaft großer Zug geht, so daß diese, trotz mancher Widersprüche im einzelnen, auf das Ganze gesehen, doch eine innerlich durchaus einheitliche und dabei in wesentlichsten Dingen durchaus originale Weltanschauung darstellt. Von seiner Erkenntnislehre, die im allgemeinen der altstoischen von der kataleptischen Vorstellung entspricht, interessiert uns besonders seine Schrift gegen den Epikureer Zenon von Sidon, in der er dessen Angriffe gegen die Grundvoraussetzungen der Geometrie widerlegt hat. Wie Pohlenz gezeigt hat, ist die altstoische Lehre von den Schlußfiguren unter dem Einfluß des mathematischen Beweisverfahrens (Eukleides) ausgebildet worden, aber „erst Poseidonios hat den inneren Zusammenhang zwischen Mathematik und Logik begriffen und ausgewertet". Denn er hat gezeigt, daß mit derselben unmittelbaren Evidenz wie die fünf Schlußfiguren (die „unbeweisbaren" Sätze des Chrysipp) die mathematischen Axiome einleuchten. Eine andere bedeutsame Erkenntnis betrifft das von der griechischen Wissenschaft seit den Tagen des Alkmaion von Kroton viel erörterte Problem der Unterschiede von Mensch und Tier. Das Tier kann trotz aller ererbten Anlagen nicht denken, d. h. es kann keinerlei Begriffe bilden, überhaupt keine Schlüsse ziehen. Vor allem sind ihm die Begriffe Zahl und Maß und daher auch Harmonie und Ordnung etwas völlig Fremdes. Während die menschlichen Künste und Wissenschaften sich auf eine Fülle nicht nur von Erfahrungstatsachen, sondern von daraus abgezogenen Begriffen und Schlüssen gründen, zeigen sich an den Instinkten einer Tiergattung keinerlei individuelle Unterschiede und daher keinerlei Entwicklung und von Freiheit und Selbstbestimmung keinerlei Spuren. Es gibt überhaupt keinerlei Betätigungen eines tierischen Einzelwesens, die verschieden wären von den ererbten Instinkten und Gewohnheiten
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seiner Gattung. Der Mensch dagegen hat dank seiner Vernunft, d. h. seinen logischen Schlußfolgerungen, ganze Systeme von Künsten und Wissenschaften
aufgebaut, weil er aus seinen
Erfahrungen logische Schlüsse zog, diese mit den Ergebnissen anderer Erfahrungen anderer Individuen verglich und so im Lauf der Jahrtausende einen Schluß an den andern reihend zu ganzen Systemen von Künsten und Wissenschaften gelangt ist. Z u solchem systematischen Denken des Menschengeschlechts zeigt sich beim Tier keinerlei Anlage. So bleibt auch, wie ein moderner Philosoph einmal gesagt hat, der Lebensinhalt eines Schmetterlings vor 22 000 Jahren genau derselbe wie der nach weiteren 22 000.
b) Der Kosmos Die Weltanschauung des Poseidonios ist im Gegensatz zu der rein intellektualistischen Auffassung der alten Stoa, wie Reinhardt gezeigt hat, durchaus vitalistisch. Daher ist die vis Vitalis ( = δύναμις ζωτική) der Zentralbegriff seiner gesamten Weltanschauung. Denn das Leben selbst ist für ihn das Urphänomen. Das Leben selber in all seinen Erscheinungsformen, in ihren ursächlichen Zusammenhängen und vor allem in seiner letzten Ursache, dem Urgrund schlechthin, zu begreifen und wieder dessen Auswirkungen im M a k r o - wie im Mikrokosmos auf allen Gebieten des Seh- und Denkbereiches zu ergründen, das ist das Urmotiv all seines Beobachtens, Denkens und Forschens. Das Aitiologikón (das Ursachensuchende) ist Poseidonios als M a n n der wahren Wissenschaft und insbesondere aller Arten von Fachwissenschaften, eingeboren; es ist das Urmotiv wissenschaftlichen Denkens überhaupt. Aber die letzte Ursache aller Dinge, die αρχή allen Seins und Erkennens zu ergründen, erst dies Verlangen macht den Philosophen aus. Denn er ist ein wirklich selbständiger Forscher auf den Gebieten verschieden-
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ster Fachwissenschaften und ein sie alle überschauender Philosoph in einer Person, wie dies vor ihm nur Aristoteles gewesen ist. Träger des Lebens im Organischen ist die Wärme. Wo aber diese Wärme am reinsten und ungetrübtesten ist, d. h. in der obersten Feuerregion des Himmels, der Fixsternsphäre, da ist das ήγεμονιχόν des Kosmos, d. h. der Logos in seiner reinsten Form. Dieser ist an Wärme und Feuerstoff gebunden (ein πνεύμα ενθερμον και πυρώδες). Wenn er auch keineswegs das Ergebnis dieses feuerartigen Pneumas ist, so ist er doch stets mit diesem zusammen. Der Logos ist daher die das ganze All durchflutende Urquelle allen Lebens, d. h. die alles Leben erzeugende und gestaltende Urkraft. Dieser Logos des Poseidonios ist also von dem der alten Stoa (Chrysipp) wesentlich verschieden; denn dieser war nur Vernunft; dagegen ist er jetzt zwecktätige Vernunft und alles Leben erzeugende und gestaltende Kraft zugleich. Denn die Weltanschauung des Poseidonios ist durchaus dynamisch. So ist durch ihn die rein intellektualistische Welterklärung des Chrysipp vollkommen überwunden, wie sich auch noch auf einem Sondergebiet zeigen wird. Dieser Logos ist als Urquelle allen Lebens und Seins identisch mit der Gottheit. Dieser Logos durchdringt in mehr oder weniger reiner Substanz alles auf der Welt. Ist doch dieser Kosmos ein lebendiger, kraft- und geisterfüllter Organismus, in dem alles und alles von Seele erfüllt ist. Insofern kann man diese Weltanschauung wohl als eine besondere Form von Panpsychismus bezeichnen. Sind doch nach der Anschauung des Poseidonios nicht nur die Planeten (einschließlich Sonne und Mond) lebende, beseelte, ja göttliche Wesen. Auch die Erde ist ein beseelter Organismus, wie auch das Meer lebt, nicht nur im Rhythmus seiner Gezeiten wie ein ein- und ausatmendes Wesen, sondern auch durch Auswerfen aller widrigen Stoffe und Dinge. Aber audi
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die Luft lebt, ja, sie sieht und hört, tönt und bewegt sich mit uns1. Dieser Logos offenbart sich im Lauf der Gestirne wie den Bewegungen der Erdoberfläche, sei es durch Erdbeben oder vulkanische Erscheinungen, im Leben der Pflanzen wie der Tiere und im Seelen- und Geistesleben des Menschen. Mittelpunkt dieses Kosmos ist die kugelförmige, sich täglich um ihre Achse drehende Erde. Um sie kreisen außer den fünf Planeten Sonne und Mond. Die Sonne hat dank ihren Ausstrahlungen eine alle anderen Planeten überragende, sie völlig in den Schatten stellende Bedeutung. In diesem Kosmos offenbart sich eine nur dem geistigen Auge erkennbare überwältigende Harmonie aus den sich widersprechenden Gegensätzen, eine singulare Gesetzlichkeit und wunderbare Schönheit, in der sich die nach überirdischen Zwecken wirkende und schaffende Weltvernunft offenbart. Und wenn die vier Elemente, wie schon Aristoteles lehrte, miteinander im Gleichgewicht verharren, im Wechsel und Austausch, also die berühmte ίσότης των στοιχείων wahren, so daß dadurch die Ewigkeit der Welt gewährleistet ist, so, scheint es, hätte auch Poseidonios keinen Grund gehabt, an dieser zu zweifeln, zumal auch Panaitios wie die alten Peripatiker die Lehre vom einstigen Untergang der Welt im Feuer, d. h. die sog. Ekpyrosis, verworfen hatte. Aber trotzdem hat Poseidonios an dieser festgehalten; die Gründe, die ihn dazu bewogen haben, kann man nur vermuten. Wahrscheinlich hat er das Feuer, zumal wenn er an die Allmacht des Sonnenfeuers dachte, für ein alle anderen Elemente an Urkraft überragendes Element gehalten, so daß durch dessen allmähliches Obsiegen die Welt eines Tages in Feuer aufgehen würde. Er hat daher auch, wie die alte Stoa, an Weltperioden geglaubt. Es hängen aber - wie wäre sonst eine wirkliche Einheit der Welt denkbar - alle Dinge dieser Welt miteinander zusammen, 1
Cie., N. D. II 83. Dazu Pohlenz II 107; Reinhardt: Poseidonios 239 f.
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sowohl körperlich - daher leugnen die Stoiker den leeren Raum - wie auch innerlich, d. h. ursächlich. Sie stehen daher irgendwie in Wechselwirkung miteinander. Dies ist die stoische Grundlehre von der συμπάθεια των όλων, wonach nichts für sich allein besteht, sondern alle Dinge direkt oder indirekt miteinander in einem ursächlichen Zusammenhang stehen, so daß sich hieraus die Anschauung einer unabsehbaren Kette von Ursachen ergibt. Wir werden später sehen, daß gerade für Poseidonios diese Anschauung von grundlegender Bedeutung ist. Im Zusammenhang mit dieser Grundanschauung hat Poseidonios bei seiner universalen Schau über alle Arten von Lebewesen, von den niedersten bis zu den höchsten, eine großartige, durchaus originale, ja geniale Idee gefaßt: die von dem Syndesmos aller Dinge, d. h. die Idee von einem stufenweisen Aufstieg der niedersten Naturdinge bis zur höchsten geistigen Macht. Die bekannte Stelle in Piatons Timaios 1 ist in Wahrheit zur Genesis dieser grandiosen Idee doch nur von relativ untergeordneter Bedeutung. Wesentlich anders verhält es sich mit zwei Äußerungen des Aristoteles2, an denen dieser von einem allmählichen Aufstieg von unbeseelten Naturdingen (d. h. den Steinen) zu den Lebewesen spricht. Hier liegt freilich ein solcher Gedanke eines allmählichen Aufstieges durch Zwischenformen vom Beseelten zum Unbeseelten vor. Aber Aristoteles verfolgt diesen Aufstieg an beiden Stellen nur vom Stein bis zum Tier, und ganz fern liegt ihm der Leitgedanke des Poseidonios, der aus der Stufenfolge vom Niedrigsten bis zum Allerhöchsten, à. h. bis zur Gottheit, die Einheit des Kosmos folgert, so daß durch diese Stufenfolge der Dualismus zwischen Natur und Geist im Sinne eines das ganze All beherrschenden Monismus überwunden wird. Denn vom Stein, wie der Magnet mit seiner Anziehungskraft zeigt, ist der Übergang zur Pflanze nur ein 1 1
31 BC. Anders Jaeger, Nemesios S. 101. De part. an. IV 5. 681 a 10 if. Hist. an. VII! 1, J88 b 4 ff.
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Schritt, und von der Pflanze durch das Zwischenglied der Zoophyten, jener Meeresgebilde, die halb Pflanze, halb Tier sind (wie die Seeanemone oder die Schwämme), bis zu den Tieren ebenfalls nur ein solcher und von diesen in ihren höheren Gattungen, die schon Spuren von einer Art Intelligenz zeigen, bis zum Menschen, wenn auch durch vielerlei Zwischenstufen, wieder ein solcher. Der Mensch aber steht in der Mitte zwischen Tier und Gott auf der Grenzscheide. Ist doch der Mensch durch seinen Logos nicht nur der Weltvernunft, d. h. der Gottheit, ähnlich, sondern ihr aufs engste verwandt und je intensiver und angelegentlicher in seinem leiblich-seelischen Dasein er sich der Gottheit nähert, desto geringer wird die Kluft zwischen ihm und dieser. Ja, in den Heroen und Dämonen mag sich sogar noch eine besondere Zwischenstufe zwischen Mensch und Gott offenbaren. Unter dieser großen Perspektive sind alle Gegensätze in einer höchsten Harmonie aufgelöst, wobei Poseidonios der Gedanke der heraklitischen Harmonie des Alls aus den Gegensätzen ebenso wie die Mikro- und Makrokosmoslehre des Demokrit Anregungen gegeben haben mag. Aber der großartige Gedanke, über all diese Dualisten (einen Piaton und Aristoteles) hinweg das Weltganze als eine große Einheit im Sinne eines, man möchte fast sagen überbegrifflichen Monismus aufzufassen, ist keinem seiner Vorgänger auch nur ahnungsweise gekommen. Durch diese geniale Idee des Syndesmos ist nicht nur die Kluft zwischen Organischem und Anorganischem überwunden, sondern auch die Kluft zwischen Vernunftlosem und Vernünftigem, ja, sogar die zwischen Mensch und Gott. Aus philosophiehistorischen Gründen muß angesichts dieser großartigen Idee des Poseidonios darauf hingewiesen werden, daß er, wie seit Jägers Entdeckung allgemein anerkannt ist, dadurch der Wegbereiter des Neuplatonismus geworden ist1. So offen1 Wie schon Jäger betont und nach ihm sein Schüler Willy Theiler des näheren nachgewiesen hat.
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bart sich Poseidonios der Tiefsinn des Logos, der mit der Gottheit identisch ist, in einer einzigartigen großen Intuition. Der Logos ist ja zugleich zwecksetzende Vernunft, wie ja überhaupt die stoische Weltanschauung durchaus teleologisch ist. Der Logos ist daher - unter diesem Gesichtspunkt gesehen die Vorsehung (Prónoia), die alles zum Besten, d. h. zur Erhaltung und zum Gedeihen des Weltganzen lenkt. Schon insofern ist die stoische, wie insbesondere die Anschauung des Poseidonios, durchaus optimistisch. Diese Anschauung war aber nicht nur durch Epikur, sondern vor allem durch Karneades auf das schärfste bekämpft, so daß gerade Poseidonios alle Ursache hatte, eine Rechtfertigung der Gottheit gegenüber allem - wirklichen oder vermeintlichen - Übel im Leben des Makro- wie des Mikrokosmos zu unternehmen, d. h. eine sog. Tbeodizee. Angesichts des vielfachen Versagens unserer Quellen können wir diese freilich nur in ihren Grundzügen kennzeichnen1. Wir unterscheiden bei Poseidonios ethisch-religiöse und rein wissenschaftliche Gesichtspunkte gegenüber diesem Problem, das die Menschheit seit den Tagen Homers bis heute beschäftigt hat. So erfahren wir aus unseren Quellen und deren philologischhistorischer Analyse, daß er das Übel, das die Bösen trifft, für eine Strafe der Vorsehung erklärt hat. Wie es denn überhaupt seine Meinung war, daß die Gottheit, d. h. die Vorsehung, den Menschen manche Übel als abschreckendes Beispiel zu ihrer Besserung sendet. Besonders charakteristisch ist aber für seine Denkweise die Uberzeugung, daß die Vorsehung eines Tages Sintflut wie Weltbrand heraufführt, um die Schlechtigkeit auf Erden zu tilgen und danach ein neues reineres Geschlecht erstehen zu lassen, in einem Zeitpunkt, wo sich nach unendlichen Zeiträumen wieder einmal die Planeten und Sternbilder in einer ganz bestimmten Konstellation befinden. Wenn er aber der Gottheit ein solches Motiv für ihr Weltgericht zutraut, so 1 Vgl. des näheren meine Untersuchung: Zur antiken Theodizee, Archiv f. Gesch. d. Philosophie X X (1907), S. 173-95.
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darf man hieraus wohl schließen, daß sein Urteil über den moralischen Zustand der Menschheit seiner Zeit (der römischen Bürgerkriege und Revolutionen) durchaus pessimistisch gewesen ist. Diese Annahme gewinnt noch dadurch an Wahrscheinlichkeit, daß schon Panaitios eine stark pessimistische Anschauung von den Menschen seiner Zeit gehabt hat. Durch die scharfen Angriffe eines Karneades sah sich der Physiker1 Poseidonios gezwungen, ein erhebliches Zugeständnis gegenüber der mechanischen, d. h. rein naturwissenschaftlichen Auffassung der Gegner zu machen (worin ihm freilich Chrysipp schon vorangegangen war): er mußte zugeben, daß manche Übel, die nicht nur den einzelnen, sondern unter Umständen ganze Städte und Landschaften oder gar ganze Völker heimsuchen, nur „unbeabsichtigte Nebenfolgen" (Parakoluthémeta) der Vorsehung sind; denn diese kann ihr Walten nur auf die Wohlfahrt des Weltganzen richten, der sich das einzelne unterordnen muß. Für katastrophale Naturereignisse wie Wolkenbrüche, Erdbeben oder Vulkanausbrüche, die unter der Menschheit Verheerungen anrichten, kann man daher der Gottheit keine Vorwürfe machen. Denn es sind das eben nur Nebenfolgen von Maßnahmen der Vorsehung, die zur Erhaltung des Weltganzen notwendig sind. Denn sie sind nur Nebenfolgen des Wandels der Elemente. Dieser aber ist zur Erhaltung des Ganzen unerläßlich. Ohne solchen Wandel würde ja alle Bewegung und alles Leben aufhören. Hiermit hat Poseidonios eine bewußte und gewollte Einwirkung der Vorsehung auf alles einzelne Geschehen in Natur und Menschenleben aufgegeben. Damit hat er aber zugleich, zum mindesten objektiv, eine Grenze der göttlichen Allmacht anerkannt, die noch die alte Stoa behauptet hatte. Und doch erleben wir in seiner Auffassung vom Walten der Vorsehung einen merkwürdigen Widerspruch, in dem sich das wissen* Das Wort in antikem Sinne, wonach es nicht nur den Naturforscher überhaupt, sondern zugleich den Naturphilosophen bedeutet.
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schaftliche und das religiöse Urmotiv seines Wesens durchkreuzen. Wir haben nämlich in unseren auf Poseidonios zurückgehenden Quellen zwei Spuren seiner Neigung, in außerordentlichen Fällen ein plötzliches, sichtbares Eingreifen der Vorsehung in den Gang der Erdendinge anzunehmen, das in Wahrheit dem natürlichen Lauf der Dinge widerstreitet: das eine Mal von der wunderbaren Rettung der Frommen (Ευσεβείς), der beiden Jünglinge, die ihre alten Eltern, die von zwei Armen des Lavastromes am Ätna eingeschlossen waren, infolge gottgefügter Teilung des einen dieser Stromarme auf ihren Schultern retten konnten; das andere Mal bei rächender Bestrafung der drei Tempelräuber, die die Schätze von Delphi geplündert hatten. Auch hier hat augenscheinlich Poseidonios an ein Wunder geglaubt. Anderer Art sind die Probleme der Theodizee, die sich auf die Menschenwelt erstrecken. Besonders schwierig war hier für ihn die Frage nach dem Ursprung des sittlichen Übels. So nahe es lag, dies gerade bei Anerkennung der menschlichen Willensfreiheit ausschließlich auf die Übeltäter, überhaupt auf die schlechten Menschen selber zurückzuführen, so war doch dieser Ausweg angesichts des strengen Determinismus der Stoa - wonach auch alles menschliche Ergehen und Handeln durch eine unabsehbare Kette von Ursachen schon von Ewigkeit her bestimmt ist - nicht möglich. Wie sich Poseidonios gegenüber diesem Dilemma gestellt hat, entzieht sich freilich unserer Kenntnis, weil hierüber die Quellen schweigen. Mit diesen Lehren über wirkliche und nur scheinbare Übel ist die stoische Theodizee nicht erschöpft. Denn da nach stoischer Lehre (so schon Zenon) der Kosmos ein beseeltes, denkfähiges und vernünftiges Lebewesen ist, waren die Stoiker gezwungen, überhaupt alles wirkliche oder scheinbare Sinn- und Zwecklose in der Natur zu rechtfertigen, vor allem aber drei Tatsachen: die leibliche Ausstattung des Menschen, die Existenz mancher verderblicher oder doch völlig unnützer oder gar ekelhafter
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Tiere, wie andererseits die giftiger Pflanzen, aber auch manche Vorgänge und Erscheinungen in der anorganischen Natur, die in der Welt des Organischen oft so schweres Unheil, ja völlige Zerstörungen anrichten. Denn hier war eine teleologische Erklärung angesichts einer allweisen und allmächtigen Vorsehung oft völlig unmöglich, so daß man sich auch hier vielfach mit der Erklärung behalf, es seien nur Nebenfolgen der Wandlung der Elemente. Die geschichtliche Nachwirkung der stoischen Theodizee, d. h. der Theodizee des Poseidonios wie überhaupt der teleologischen Weltansicht der Stoa, ist trotz ihrer Schwäche sehr bedeutend gewesen. Zunächst auf den Juden Philo, vor allem aber den Neuplatonismus und ganz besonders auf das alte und mittelalterliche Christentum.
c) Der Mensch Wir haben nicht nur gesehen, welch einzigartige Stellung Aristoteles und ebenso Panaitios dem Menschen in diesem Kosmos zugewiesen haben, sondern auch welch singuläre Stellung Poseidonios diesem auf Grund seiner Syndesmos-Theorie vom stufenweisen Aufstieg aller Lebewesen vom niedersten bis zum höchsten als dem Mittelwesen zwischen Tier und Gott gegeben hat. Wir werden hiernach auf seine weitere Lehre vom Menschen gespannt sein dürfen. Wir beginnen mit der Seite seines Wesens, durch die er mit dem Tier Gemeinsames hat, d. h. mit der Affektenlehre1. Wir haben die rein intellektualistische Auffassung des Chrysipp von den Affekten kennengelernt, der diese nur auf falsche Urteile des Logos zurückführen wollte und im Gegensatz zu Zeno alle irrationalen Kräfte der Seele hartnäckig leugnete. Für Poseidonios war es als Jünger 1 Idi behalte kürzehalber hier diesen Ausdruck bei, verweise aber auf meine kritische Bemerkung S. 186.
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Piatons, aber auch auf Grund der elementarsten Empirie und eigener Selbstbeobachtung, d. h. einfach evidenter seelischer Tatsachen, ein Leichtes, nicht nur die Existenz und die Auswirkung irrationaler Kräfte der Seele als wirklich zu erweisen, sondern auch mit Piaton drei, wenn auch nicht Teile der Seele, so doch drei Seelenvermögen1 als Grundlage aller Psychologie anzunehmen, wonach neben dem Logos zwei irrationale Vermögen, das Begehrende und das Mutartige (θυμοειδές), in jeder Menschenseele vorhanden sind. Er hatte auch beobachtet, daß der Mensch es in vielen Fällen in seiner Hand hat, die Wirkung eines starken Affektes dadurch abzuschwächen, daß er sich vor einem ihm drohenden oder ihn stark beunruhigenden künftigen Ereignis dieses in seiner Phantasie im einzelnen ausmalt 2 . Chrysipp hatte auch den höheren Tieren und sogar Kindern jeden Affekt abgesprochen, was Poseidonios mühelos auf Grund der empirischen Psychologie widerlegt. In welche Aporien Chrysipp bei seiner rein intellektualistischen Auffassung des Seelenlebens geriet, so daß er selber seine Aporie eingestehen mußte, das konnte Poseidonios schon durch ein ganz bestimmtes Argument erweisen: Chrysipp kann überhaupt nicht den Ursprung sittlicher Schlechtigkeit erklären. Um so feiner und treffender ist seine eigene Erklärung des Ursprungs menschlicher Schlechtigkeit. Von außen, d. h. durch andere Menschen, kann sie nur dann im Menschen Wurzel fassen, wenn solche gefährliche Lockungen infolge lasterhafter Veranlagung einen Widerhall in der menschlichen Seele finden, wodurch sie sich dann weiter entwickeln können. Denn in uns selber liegt das „Samenkorn der Schlechtigkeit"3, d. h. wenn 1 δυνάμεις· * άναζωγράφησίς · dra