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German Pages 228 Year 1977
ERICH
DÖHRING
Die gesellschaftlichen Grundlagen der juristischen Entscheidung
Schriften zur R ech t s t h e οri e Heft 70
Die gesellschaftlichen Grundlagen der juristischen Entscheidung
Von Prof. Dr. jur. Erich Döhring
DUNCKER
&
HUMBLOT
/
B E R L I N
Alle Rechte vorbehalten © 1977 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1977 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in GermanyISBN 3 428 04000 7
Vorwort Die Arbeit ist einem Rechtsfindungsproblem gewidmet, m i t dem sich der Jurist meist nicht genauer auseinandersetzt. Grundsätzliche Erwägungen über Eigenart und Bedeutung vorpositiver, der gesellschaftlichen Region entstammender Bezugspunkte liegen i h m i n der Regel ziemlich fern. Infolgedessen hat er oftmals auch keine deutliche Vorstellung darüber, wo sie zum Zuge kommen und nach welchen Grundsätzen sie zu handhaben sind. Eine eingehendere Beschäftigung m i t diesem speziellen Fragenkreis würde sowohl dem Rechtsstudenten als auch dem beruflich tätigen Juristen bei seiner Arbeit i m gesetzesfreien Raum vielfach zustatten kommen. Sie könnte beiden größere Sicherheit beim Vorgehen auf diesem unübersichtlichen Terrain geben, auf dem es nicht selten an den notwendigen Orientierungszeichen fehlt und Ablenkungen sonstiger A r t die Einhaltung des richtigen Weges erschweren. Das Absehen war, was vielleicht noch der Hervorhebung bedarf, nicht allein auf die Vermittlung von theoretischem Wissen gerichtet, sondern auch darauf, diesem einen unmittelbaren Einfluß auf die Rechtsfindung zu verschaffen. Eben deshalb wurde (in den durch das Thema gesetzten Grenzen) vor allem versucht, den Leser für eine kritische Betrachtung seines Umgangs mit vor juristischen Richtmitteln zu gewinnen und ihn insoweit von der Notwendigkeit einer intensiven Selbstkontrolle zu überzeugen. Die Schwierigkeit dieser Aufgabe ist, zumal wenn ein einzelner sich ihrer annimmt, nicht zu verkennen; doch dürfte wenigstens eine Annäherung an das Ziel möglich sein. Die genannte Zwecksetzung hat — wie es nicht anders sein kann — streckenweise den Stil der Erörterungen bestimmt. U m ihr gerecht zu werden, mußte i m letzten Drittel der Darlegungen konkreter als es sonst wohl i n vergleichbaren Fällen zu geschehen pflegt, auf die Widerstände eingegangen werden, die i m Rechtsanwender einer skeptischen Uberprüfung eigener Vorentscheidungen entgegenstehen. Wo i m folgenden Hinweise für die Handhabung der aus dem gesellschaftlichen Bereich entlehnten Materialien gegeben worden sind, ging das Bemühen dahin, den Fallbearbeiter möglichst auch auf die Bewältigung der i m Detail steckenden Schwierigkeiten vorzubereiten. Es wäre bei einem eminent praktischen Sachgebiet wie der Jurisprudenz nicht zu rechtfertigen, wenn die Theorie i h n i n dieser Hinsicht ganz ohne Beistand lassen wollte. Wenn trotz des Strebens nach konkreter Unter-
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Vorwort
richtung mitunter keine genau passende Auskunft zu erhalten ist, so hängt dies nicht zuletzt mit der großen Mannigfaltigkeit der tatsächlichen Umstände und mit der Vielzahl der bei der Beurteilung m i t sprechenden Faktoren zusammen. Doch w i r d der Rat und Hilfe Suchende durch das Gesagte dann immerhin einen gewissen Rahmen erhalten, der sein Aktionsfeld eingrenzt und ihm auf diese Weise die Auffindung des jeweils Zutreffenden erleichtert. Kiel/Plön (Holst.), den 20. J u l i 1977 Erich Döhring
Inhalt
Erster Teil
Allgemeine Grundlagen I. Hauptmerkmale der modernen Rechtsfindung 1. Auffassung des Rechts als T e i l der Gesamtentwicklung
9 9
2. Streben nach materieller Gerechtigkeit
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3. Beachtung gegenwartswichtiger Momente
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4. Obacht auf die Besonderheiten des Falles
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I I . Einfluß einiger spezieller Tendenzen auf den Charakter der Rechtsgewinnung
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1. Allgemeiner Überblick
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2. Die Ergebnisbeurteilung als neuartiges Element
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3. Eigenverantwortliche Mitarbeit des Einführende Bemerkungen S. 38 auf außergesetzliche Materialien keiten des Rechtsanwenders u n d
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Rechtsanwenders — Häufigkeit des Rückgriffs S. 40 — Die Einflußmöglichihre Grenzen S. 44
4. Gefolgschaft gegenüber dem Gesetz
Zweiter
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Teil
Der Gesamtbestand vorpositiver Materialien als Entscheidungshilfe 1. Die geistige Grundausrüstung des Rechtsanwenders als mitbestimmender Faktor
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2. Richtvorstellungen allgemeiner A r t
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3. Gerechtigkeitsüberlegungen
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4. Ethische Grundsätze als Teil der Richtigkeitserwägung
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5. Die normative K r a f t des sozialen Gesichtspunkts
88
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Inhalt Dritter
Teil
Angemessener Umgang mit nichtpositivierten Entscheidungsgrundlagen 1. Einführung i n die Problematik
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101 2. A u s w a h l u n d Prüfung vorpositiver Gesichtspunkte Klarstellung, ob das Gesetz ihre Heranziehung zuläßt S. 101 — Die Kichtigkeitserwägung als Behelf zur A u f f i n d u n g v o r rechtlicher K r i t e r i e n S. 104 — Erster K o n t a k t m i t außergesetzlichen Richtmitteln S. 109 — Gestalt u n d innerer A u f b a u nichtpositivierter Materialien S. 111 — Substantielle A n f o r derungen an externe Regelungsprinzipien S. 114 — Konsens i n bezug auf transpositive Maßstäbe S. 117 — Verallgemeinerungs- u n d Integrationsfähigkeit S. 120 3. H i l f s m i t t e l zur korrekten stimmungsmomente
Handhabung
außergesetzlicher
Be-
a) Selbstkritische H a l t u n g des Rechtsanwenders
127 127
b) Aufgeschlossenheit gegenüber abweichenden Ansichten u n d Weite des Horizonts 132 c) Beschaffung verläßlicher Tatsachenkenntnisse u n d Erfahrungsergebnisse 136 d) Aufspüren verborgener Erwägungsgrundlagen 149 4. Innere Schwächen der juristischen Lösung u n d ihre K o r r e k t u r 153 a) Objektivierung der Rechtsfindungsarbeit als Haupterfordernis 153 b) Formen rechtsfremder Einflüsse 155 c) Möglichkeiten zur A b w e h r ideenmäßiger Mängel 163 Grundsätzliche Erwägungen S. 163 — Kontrolle der eigenen Vorwegnahmen durch den Rechtsanwender S. 164 — Analyse i n sich geschlossener Auffassungszusammenhänge S. 167 5. Differenzierende Erörterung einzelner Problemkreise 171 Gegenwartsbezogenheit der Rechtsfindungsbemühungen S. 171 — Einzelfallgerechtigkeit S. 180 — Handhabung des sozialen Gesichtspunkts S. 185
Schlußbetrachtung Wandlungen i n der H a l t u n g gesellschaftlichen Bereich
des Rechtsanwenders
gegenüber
dem
195
Abgekürzt zitiertes Schrifttum
207
Sachregister
221
Erster Teil
Allgemeine Grundlagen I. HAUPTMERKMALE DER MODERNEN RECHTSFINDUNG Die Behandlung des Themas geht von der Grundansicht aus, daß der Jurist sich bei seiner Arbeit vielfach nicht auf die Beachtung des Gesetzesinhalts beschränkt, sondern daneben auch auf gewisse außergesetzliche Erwägungsunterlagen zurückgreift. Wenn man dieser A n nahme, die zunächst als Arbeitshypothese dienen mag, i m einzelnen nachgehen w i l l , dann liegt es nahe, sich vorweg einen Überblick über die charakteristischen Tendenzen der neuzeitlichen Rechtsfindungsmethode zu verschaffen. Dabei w i r d sich zeigen, daß diese fast sämtlich i m außergesetzlichen Bereich beheimatet sind und m i t h i n zu den allgemeinen gesellschaftlichen Grundlagen der Rechtsgewinnung gehören. Ihre Vergegenwärtigung dient demnach nicht nur dazu, die Bearbeitung des Themas vorzubereiten, sondern führt bereits unmittelbar i n die Problematik hinein. 1. Das Recht als Teil der Gesamtentwicklung I n bezug auf die Haltung, die der rechtanwendende Jurist bei seiner beruflichen Tätigkeit gegenüber dem i h n umgebenden universalen Zusammenhang, insbesondere gegenüber den wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Realitäten, einnimmt, sind i n neuerer Zeit nachhaltige Veränderungen vor sich gegangen. I m 18. Jahrhundert war das Verhältnis der Jurisprudenz zur gesellschaftlichen Umwelt ein eindeutig positives gewesen. Man hatte damals, ohne über diesen Punkt viel zu meditieren, keinen Zweifel an der engen Verflochtenheit des juristischen Denkens m i t der allgemeinen Entwicklung. Selbst i n den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war der Kontakt der rechtlichen Arbeit m i t den übrigen Lebensbereichen trotz des Kampfes der historischen Rechtsschule gegen die ihn begünstigenden naturrechtlichen Tendenzen einigermaßen gewahrt geblieben. Bereits gegen die Jahrhundertmitte h i n ging er jedoch mehr und mehr verloren. Je umfassender die Gesetzeskodifikationen ausgestaltet wurden, desto stärker machte sich die Ansicht geltend, daß die zur Rechts-
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1. Teil: I. Hauptmerkmale der modernen Rechtsfindung
gewinnung benötigten gedanklichen Elemente, wenn man das bedeutungslos gewordene Gewohnheitsrecht ausnimmt, allein i m Gesetz enthalten seien. Während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es i n der deutschen Jurisprudenz außer bei Einzelgängern wie L. v. Stein und O. v. Gierke sowie den frühen Vorläufern der Interessenjurisprudenz kaum noch ein echtes Verständnis dafür, daß wichtige Grundlagen der Rechtsgewinnung außerhalb des Gesetzes existieren könnten. Widerspruch auf breiterer Grundlage fand die Überzeugung von der Gesetzesallmacht damals lediglich i m sozialistischen Lager und i n der katholischen Kirche, die jedoch beide gegen die herrschende Strömung nicht aufkommen konnten. Das Recht wurde nicht mehr als Teil eines umfassenden Zusammenhangs aufgefaßt, sondern als vom allgemeinen Geistesleben weitgehend unabhängig angesehen. Man umbaute die Jurisprudenz m i t einer hohen Grenzmauer und meinte, sie gegen Einflüsse von außen her autark machen und eigenen Regeln unterstellen zu müssen. Ihre Selbständigkeit gegenüber den Nachbardisziplinen sowie gegenüber dem Universum wurde m i t Nachdruck hervorgehoben. Das Bestehen vielfältiger Beziehungen zur Gesamtwirklichkeit, das lange Zeit stillschweigend anerkannt worden war, wurde teils regelrecht geleugnet, teils bagatellisiert. Die Jurisprudenz erschien sich selbst genug. Man war davon überzeugt, daß die Grundlagen der juristischen Erwägung ausschließlich i n der rechtlichen Sphäre zu finden seien. Dabei lag u. a. die von starken idealistischen Strömungen gestützte Vorstellung zugrunde, daß die Rechtsnorm imstande sei, sich die Tatwelt völlig zu unterwerfen, daß es i h r (in Verbindung m i t den von der Rechtslehre erarbeiteten allgemeinen Grundsätzen) gelingen werde, alles i n concreto Wesentliche zu erfassen, und daß aus den dem Wechsel unterworfenen tatsächlichen Gegebenheiten kein Anlaß zur modifizierenden Bearbeitung der Gesetzesnorm hervorgehen könne. Man meinte, daß die Jurisprudenz auf irgendwelche Entlehnungen aus der gesellschaftlichen Sphäre nicht angewiesen sei und stellte demgemäß die Zulässigkeit derartiger Anleihen i n Abrede. Die i m Gesamtbereich vor sich gehenden Veränderungen wurden, so wenig einleuchtend das heute vielen auch klingen mag, für die Rechtsgewinnung als unwesentlich oder doch als nebensächlich angesehen. Der Blick auf sie erschien als unnütz oder geradezu als gefährlich. Er führte nach damaliger Ansicht zu einer Ablenkung vom eigentlich Wichtigen. Rechtsfindungsarbeit und gesellschaftliche Praxis lagen für das Verständnis jener Zeit auf so verschiedenen Ebenen, daß — wie man meinte — aus dem gesellschaftlichen Geschehen keine brauchbaren Anregungen für die Rechtsgewinnung zu erwarten waren. Soweit sich angesichts dieser Entfremdung bei den Rechtsfindungsbemühungen kein
1. Das Recht als T e i l der Gesamtentwicklung
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Zusammenklang zwischen dem juristischen Denken und der Gesamtwirklichkeit ergab, hatte nach der vorherrschenden Auffassung das Leben sich mit dem rechtlichen Ergebnis abzufinden. Freilich ließ sich diese Anschauung nicht allenthalben durchhalten. I n der Rechtsprechung jener Zeit wurde daher oftmals heimlich versucht, den Anschluß an die allgemeine Entwicklung aufrecht zu erhalten. Auch i n der Rechtswissenschaft waren entsprechende Bestrebungen unverkennbar. Aber die Auffassung, daß die juristische Arbeit allein auf dem Gesetz beruhe, setzte sich gleichwohl so energisch durch, daß die zaghaften Bemühungen der Rechtspraxis u m eine Berücksichtigung der i m gesellschaftlichen Raum vor sich gehenden Wandlungen stark behindert wurden und entsprechend unzulänglich ausfielen. Seit der Wende zum 20. Jahrhundert ist die Strenge, m i t der die Juristen bis dahin an der Unabhängigkeit der rechtlichen Erwägung von Einflüssen aus der vorpositiven Region festgehalten hatten, allmählich dahingeschwunden. Dementsprechend w i r d das Recht heute meist mehr oder weniger klar als Ausschnitt aus dem Gesamtbereich menschlichen Wirkens begriffen. Der Jurist, der viele Generationen hindurch seine Arbeit i n gedanklicher Abgeschiedenheit verrichtet hatte, fühlt sich bei der Berufsarbeit nunmehr zu einem engen Kontakt m i t den übrigen Lebensgebieten gedrängt. Von der eifersüchtigen Obacht früherer Zeiten auf die Eigenständigkeit der Jurisprudenz und auf ihre Unabhängigkeit von variablen Faktoren der allgemeinen Entwicklung ist nur noch wenig übrig geblieben. Man neigt ganz vorwiegend zu der Auffassung, daß die richtige Entscheidung nur unter aufmerksamer Beobachtung der i m zwischenmenschlichen Bereich stattfindenden Veränderungen gefunden werden könne und daß diese i n gewissen Grenzen Beachtung verdienen. Der praktizierende Jurist fühlt sich bei seinen rechtlichen Überlegungen m i t dem breiten Strom des Lebens wieder verbunden und leistet infolgedessen seine Arbeit heute viel seltener als ehedem aus einer Position der Absonderung heraus 1 . Auch i n der Rechtslehre herrscht trotz mancher Bedenken und Vorbehalte i m einzelnen die Ansicht vor, daß die Rechtsfindungsarbeit i n die Gesamtentwicklung eingebettet sei und 1 Vielleicht wäre es oftmals anschaulicher, statt v o m praktizierenden Juristen einfach v o m Richter zu sprechen, den m a n n u n einmal als Prototyp des Rechtspraktikers anzusehen pflegt. Wenn hier trotzdem vorwiegend allgemeinere Bezeichnungen gewählt werden, so deshalb, u m die Erinnerung daran wachzuhalten, daß das Gesagte nicht n u r für den Richter, sondern vielfach i n gleicher Weise auch f ü r den Rechtsanwalt, den Rechtspfleger, den Verwaltungsrechtler, den Wirtschafts juris ten u n d nicht zuletzt f ü r den Rechtsstudenten sowie das gesamte Lehrpersonal zu gelten hat u n d daß diese ständig mitgemeint sind.
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1. Teil: I. Hauptmerkmale der modernen Rechtsfindung
von ihr nicht ohne Schaden für die Sache abgetrennt werden könne 2 . Wenn die insoweit erfolgte Veränderung oft nicht i n ihrem vollen Ausmaß erkannt wird, so dürfte dies nicht zuletzt damit zusammenhängen, daß der heutige Jurist die frühere Eingeengtheit und die vielen Behinderungen, m i t denen ehedem beim Streben nach einer angemessenen Lösung zu rechnen war, nicht mehr aus eigener Anschauung kennt und sich auch aus der Literatur nur schwer einen zutreffenden Begriff darüber zu verschaffen vermag. Völlig überwunden ist freilich die Vorstellung einer i m älteren Sinn autonomen Jurisprudenz keineswegs. Man bekennt sich zwar meist nicht mehr offen zu ihr; aber i m Untergrund ist sie noch spürbar. Sie steht oftmals hinter dem unentwegten Streben, die rechtliche Erwägung nicht nur gegen fragwürdige Einflußnahmen von außen her, sondern auch gegen bestens begründete Einwirkungen aus dem vorpositiven Bereich abzuschirmen. Aufs Ganze gesehen pflegen unsere Juristen jedoch die reale Umwelt ernst zu nehmen und sich u m einen engen Kontakt der Rechtsfindungsarbeit mit ihr zu bemühen. Sie gehen bei ihrer Entscheidung — oft ohne sich dessen recht bewußt zu sein — von der Gesamtheit der für die Gegenwart charakteristischen Momente aus, auch soweit diese nicht i m Gesetz enthalten sind. Sie fußen bei ihren Werturteilen und sonstigen Stellungnahmen, soweit der Gesetzgeber ihnen freie Hand läßt, auf den wichtigsten Vorstellungen der Zeit. Demgemäß w i r d sowohl i n der Rechtswissenschaft als auch i n der Rechtspraxis, und zwar mitunter von Vertretern sehr unterschiedlicher Richtungen, darauf hingewiesen, daß die bei der Rechtsgewinnung notwendigen Denkschritte vielfach nicht ohne Anleihen i n der außerrechtlichen Sphäre vollzogen werden könnten. Bezeichnenderweise handelt es sich dabei keineswegs etwa u m widerwillige, dem einzelnen gleichsam abgerungene Zugeständnisse, sondern es liegt oftmals eine aufrichtige und deutliche Überzeugung zugrunde, für die man nach immer neuen einprägsamen Formulierungen sucht. I n der Rechtslehre hat vor allem Josef Esser i n zahlreichen Arbeiten deutlich gemacht, wie häufig w i r bei der Rechtsgewinnung auf met ajuristische Entscheidungsgrundlagen zurückgreifen müssen 3 . Die Erkenntnis als solche ist m i t h i n vorhanden. Es w i r d von ihr i n der Rechtspraxis auch unentwegt Gebrauch gemacht. Die Heranziehung außergesetzlicher Gesichtspunkte findet nicht etwa nur i n einigen 2 Statt vieler: Rüthers (1968) S. 437/38. „Grundsatz u n d N o r m i n der richterlichen Fortbildung des Privatrechts" (1956); „Vorverständnis u n d Methodenwahl i n der Rechtsfindung" (1970) sowie Essers weitere Veröffentlichungen (vgl. unten S. 209 f.). 3
1. Das Recht als Teil der Gesamtentwicklung
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wenigen Ausnahmefällen statt, sondern sie erfolgt immerfort, wovon man sich bei unbefangener Beobachtung jederzeit überzeugen kann. Sie kommt i n allen Rechtsgebieten vor, wenn dabei auch je nach der Eigenart der rechtlichen Materie gewisse Gradunterschiede nicht zu verkennen sind. Man nimmt zu ihr nicht nur dort Zuflucht, wo das Gesetz für den fraglichen Punkt keinerlei Weisung enthält, sondern schlechthin überall, wo die gesetzliche Vorschrift für den zu entscheidenden Fall keine hinreichend deutliche Anordnung enthält. Bei dem, was man gemeinhin als Normauslegung bezeichnet, werden ebenfalls vielfach vorpositive Materialien zu Hilfe genommen. Auch dort, wo lediglich eine Konkretisierung der gesetzlichen Regelung vorzunehmen ist, können häufig außer juristische Bestimmungsmomente ergänzend zur Geltung kommen. Besonders deutlich w i r d das, wenn mehrere Möglichkeiten der Konkretisierung i n Betracht kommen, zwischen denen eine Auswahl getroffen werden muß. Man hat es teilweise so darstellen wollen, als wenn die Benutzung von Richtpunkten, die aus dem juristischen Vorfeld stammen, erst gegen Ende der Rechtsfindungsbemühungen i n Betracht kommen könne. I n Wahrheit werden sie von unseren Juristen jedoch ohne irgendwelche Gewissensbedenken oft schon i n den Anfangsstadien der Rechtsgewinnung herangezogen. Der Bearbeiter stellt nicht selten bereits bei der ersten Kenntnisnahme vom Fall Erwägungen darüber an, inwieweit bestimmte vorrechtliche Bezugspunkte etwa für die Rechtsgewinnung notwendig sein könnten. Solche Anleihen von außerhalb brauchen sich keineswegs stets auf die durch den Rechtsfall aufgeworfene Kernfrage zu beziehen. Häufig betreffen sie irgendwelche Einzelpunkte, zu denen zwischendurch Stellung genommen werden muß, ohne daß diese deshalb von untergeordneter Bedeutung zu sein brauchen. Nicht immer haben die externen Elemente unmittelbar auf den Inhalt der zu fällenden Entscheidung Bezug. Oft werden sie vielmehr i n erster Linie zur Klärung prozessualer Bedenken benötigt; oder sie berühren Fragen der Rechtsfindungsmethode, des taktisch richtigen Vorgehens oder sonstige Zweifelspunkte von vorwiegend formalem Charakter, die auf den Inhalt der juristischen Lösung nur mittelbar Einfluß nehmen. Man geht bei einem so ausgedehnten Gebrauch nichtpositivierter Orientierungshilfen von der Erfahrung aus, daß ohne ihre determinierende K r a f t die rechtlichen Erwägungen häufig keinen festen Halt haben würden und daß der Rechtsanwender ohne ihre Heranziehung bei der Suche nach dem angemessenen Ergebnis erfolglos bleiben müsse. Auch wer nichts vom Naturrecht alter und neuer Fassung hält, muß i n bestimmtem Umfang auf Regelungsprinzipien zurückgreifen, die dem
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1. Teil: I. Hauptmerkmale der modernen Rechtsfindung
metarechtlichen Bereich entstammen. Selbst der entschiedenste Vorkämpfer einer Omnipotenz des Gesetzes, K a r l Bergbohm, mußte schließlich einräumen, daß bei der rechtlichen Erörterung nicht ohne gewisse „axiomartige Prämissen, Lehnsätze aus anderen Wissenschaften, praktische Lebensregeln und eigene Einsichten mannigfacher A r t " auszukommen sei 4 . Ihre enorme Durchschlagskraft bezieht die Tendenz zu Anleihen i n der gesellschaftlichen Region letzten Endes aus dem meist klar vorhandenen Bewußtsein, daß der Jurist heute m i t berechtigten Vorwürfen rechnen müßte, wenn er nicht die Gesamtentwicklung i m Blick behalten und sich von i h r inspirieren lassen würde. Der Bearbeiter muß auf Schritt und T r i t t wahrnehmen, daß die Beteiligung außergesetzlicher Richtvorstellungen sowohl von den einzelnen Rechtsgenossen als auch von der öffentlichen Meinung grundsätzlich gutgeheißen w i r d und daß man sich ihre Verwendung i n der Regel ohne Widerspruch gefallen läßt, wenn nur auf diese Weise das unabweisbare Verlangen nach einer dem herrschenden Rechtsbewußtsein gemäßen Entscheidung erfüllt werden kann. Die Tendenz, gedankliche Elemente, die aus dem juristischen Vorfeld stammen, für die Rechtsgewinnung nutzbar zu machen, findet sich nicht nur i n Westdeutschland, sondern auch anderwärts, wenngleich nicht überall i n derselben Stärke. Sie läßt sich i n Frankreich und Italien sowie i n den angloamerikanischen Ländern beobachten; sie ist ferner i n abgewandelter Form i n der Sowjetunion und den von i h r beeinflußten Staaten einschließlich der Deutschen Demokratischen Republik festzustellen 5 . Die einzelnen Länder wenden dabei vielfach ihre besonderen Techniken an, so daß bei einer nur auf das Äußerliche gerichteten Betrachtung die Tendenz mitunter kaum zu erkennen ist. Das verhältnismäßig geringste Ausmaß w i r d die Verwertung nichtpositivierter Bestimmungsmomente allgemein i n den Rechtsgemeinschaften haben, i n denen man — aus welchem Grunde auch immer — weitgehend bereit ist, sich m i t mehr oder minder formalen und daher nicht selten inadäquaten Rechtsfindungsergebnissen zufrieden zu geben. Da die Beteiligung außergesetzlicher Gesichtspunkte an der Rechtsgewinnung somit (zum mindesten durch schlüssiges Handeln) ziemlich allgemein anerkannt wird, könnte man denken, daß es weiterer Überlegungen dazu nicht mehr bedürfe. Eigentümlicherweise w i r d jedoch die alte Rahmenvorstellung, nach der die Entscheidungsmaßstäbe ausschließlich auf dem Gesetz beruhen und außerlegale Bezugspunkte keinen Einfluß auf die Rechtsfindung haben dürfen, vielfach unentwegt 4 „Jurisprudenz u n d Rechtsphilosophie" (1892) S. 139. 5 F ü r die D D R : Haney S. 254.
2. Streben nach materieller Gerechtigkeit
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festgehalten, womit bestimmte Wirkungen verbunden sind, auf die später noch eingegangen werden muß. — M i t der i n vieler Hinsicht gewandelten Situation, i n der sich der rechtanwendende Jurist bei seiner Arbeit heute befindet, stehen einige weitere Eigentümlichkeiten i n Verbindung, die den Rechtsfindungsbemühungen der neueren Zeit ihr spezifisches Gepräge geben, nämlich a) das Streben nach Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit, b) das Verlangen nach Anpassung der juristischen Lösung an die Gegenwart und c) die Neigung, den Besonderheiten des Falles Rechnung zu tragen. Sie machen (darin liegt der Zusammenhang m i t dem Thema) oftmals eine Ergänzung der gesetzlichen Weisungen durch transpositive Regelungselemente nötig. Gemeinsam ist diesen Grundströmungen ferner, daß sie die juristische Entscheidung nicht lediglich mittelbar beeinflussen, sondern unmittelbar auf sie bestimmend wirken. So sehr die genannten drei Charakterzüge eine wertende Stellungnahme erfordern, kann eine solche i n dieser einführenden Übersicht nicht gegeben werden. Es kommt hier vielmehr i n erster Linie darauf an, sie als tatsächlich vorhanden darzutun. Freilich ist das Absehen letzten Endes auf die Gewinnung allgemeiner Einsichten und verläßlicher Werturteile gerichtet. Da diese jedoch ohne genauere Kenntnis von der Wirklichkeit schwerlich erreichbar sein werden, bedarf es insoweit einer vorbereitenden Sondierung auf der Tatsachenebene. Ihrer Herkunft nach dürften die erwähnten drei Merkmale der neuzeitlichen Rechtsfindungsweise auf eine vorwiegend realistische bzw. (vorsichtiger ausgedrückt) nachidealistische Grundströmung zurückgehen 6 . Möglicherweise stehen dahinter weitere weltanschauliche Triebkräfte, aus denen sie abgeleitet und m i t deren Hilfe sie i n einen noch umfassenderen Zusammenhang eingeordnet werden können. Dem wird, soweit der Untersuchungsgegenstand es erfordert, später nachzugehen sein. 2. Streben nach materieller Gerechtigkeit Der Wille, Entscheidungen zustande zu bringen, die nicht nur formal, sondern der Sache nach als gerecht anzusehen sind, stellt nicht etwa eine Geistesregung wie viele andere dar, sondern muß als ein beherrschender Grundzug der modernen Rechtspflege angesehen werden. Durch die Kraft, m i t der er auf die Gemüter einwirkt, hat er die Situation, i n der sich der rechtanwendende Jurist befindet, i n vieler Hinsicht verändert. W i r werden i m Verlauf der Darstellung auf diese Tendenz noch wieder6
Entsprechende Hinweise bei Marcie S. 57 f.
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1. Teil: I. Hauptmerkmale der modernen Rechtsfindung
holt zurückkommen müssen und beobachten können, wie sie sich i n der Gegenwart auswirkt. Sie führt dazu, daß man heute die Orientierung an einem formalen Gerechtigkeitsbegriff als unbefriedigend betrachtet und zu konkreten, die Sache selbst betreffenden Richtigkeitsüberlegungen vorzudringen sucht. Unter dem Einfluß dieser Strömung hat die Forderung nach inhaltlicher Angemessenheit der juristischen Stellungnahme immer größere Wichtigkeit erhalten. Sie liefert das Kriterium, an Hand dessen die rechtliche Entscheidung i n erster Linie bewertet zu werden pflegt. Man w i l l nicht mehr zulassen, daß das Streben nach einem inhaltlich gut angepaßten Ergebnis durch begriffliche Notwendigkeiten, konstruktive Rücksichten, systematische Überlegungen sowie überhaupt durch allgemeine Prinzipien allzu sehr eingeengt wird. Zwar denkt niemand daran, formale Erwägungen, die i n der Tat nicht zu entbehren sind, aus der juristischen Erörterung zu verbannen. Aber man beruhigt sich nicht mehr so bereitwillig wie ehedem dabei, daß sie die Oberhand behalten. Eine Hintansetzung der materiellen Gerechtigkeit w i r d heute meist nur dann akzeptiert, wenn schwerwiegende Gründe dafür vorhanden sind. Es gibt zur Zeit bei uns vermutlich nur wenige Juristen, die sich leichten Herzens an einer bloß formal gerechten Lösung genügen lassen. Nach der weithin vorherrschenden Auffassung besteht vielmehr die Aufgabe des Rechtsanwenders gerade darin, daß er sich i m Streben nach materieller Gerechtigkeit durch begriffliche Widerstände, systematische Schwierigkeiten oder konstruktive Bedenken möglichst wenig behindern läßt 7 . Es ist bemerkenswert, daß diese Grundströmung nicht nur i n der Arbeiterschaft Anklang findet, die von jeher bestrebt war, substantiell gerechte Entscheidungen zu erreichen, sondern auch i n den Mittelschichten mit ihrer i n mancher Hinsicht abweichenden Mentalität und ihren vielfach andersartigen politischen Zielen.
7 Derartige Stellungnahmen zur tatsächlichen Lage stützen sich hier wie i m folgenden vornehmlich auf vielfältige Gespräche m i t Juristen der v e r schiedenen Berufszweige. Diese A r t der E r m i t t l u n g hat i m Vergleich zur Auswertung von Fragebogen den Vorzug, daß die zu klärenden Fragen während der Erörterung umspielt u n d entsprechend abgewandelt werden können, falls dies nötig ist, u m die w i r k l i c h e Auffassung des Diskussionspartners an den Tag zu bringen. Z w a r k a n n bei i h r das Beweismaterial nicht i n allgemein überzeugender Weise vorgeführt werden; gleichwohl w i r d man immer wieder auf sie zurückgreifen müssen, w e n n sich der Forscher, soweit verläßliche Untersuchungen fehlen, nicht allein auf seine persönlichen E r fahrungen verlassen w i l l , denen häufig n u r bedingte Geltung zukommt. Anzustreben ist jedoch eine Überprüfung der Ergebnisse m i t H i l f e exakter Forschungsmethoden, die freilich immer n u r stückweise u n d unter beträchtlichem K r a f t a u f w a n d möglich sein w i r d .
3. Beachtung gegenwartswichtiger Momente
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3. Beachtung gegenwartswichtiger Momente M i t dem Verlangen nach materieller Gerechtigkeit steht i n enger gedanklicher Verbindung die Forderung nach stärkerer Rücksichtnahme auf gewisse, die Gegenwart beherrschende Faktoren. Durch sie erhält die Neigung zu ausgiebigem Gebrauch transpositiver Entscheidungsgrundlagen eine konkretere Färbung. A u f den ersten Blick könnte man annehmen, daß m i t der erweiterten Befugnis des Juristen zur Heranziehung nichtpositivierter Gesichtspunkte zwangsläufig auch die Möglichkeit einer Verwertung von Gegenwartsmomenten verbunden sein müsse; doch wäre dies eine voreilige Schlußfolgerung. Wo ζ. B. unter der Herrschaft vorwiegend konservativer Ideen das Überlieferte regelmäßig als das Bessere angesehen wird, wie dies i n England teilweise noch heute der Fall ist, braucht die Beteiligung außergesetzlicher Regelungstendenzen nicht m i t einer speziellen Rücksicht auf Gegenwartsgesichtspunkte Hand i n Hand zu gehen. Dort kann es vielmehr zur Benutzung von vorrechtlichen Maßstäben kommen, die m i t einer ausgesprochenen Vernachlässigung wichtiger Gegenwartsfaktoren einhergeht. Das Ringen u m ein dem jeweils Aktuellen entsprechendes Ergebnis w i r d vom praktizierenden Juristen heute meist als ein zentrales A n liegen empfunden 8 . Es herrscht auf Grund der modernen Anschauung, die das Recht nur als einen besonderen Aspekt des menschlichen Lebens betrachtet, die Auffassung vor, daß die Rechtsgewinnung ohne ständige Obacht auf das für die unmittelbare Gegenwart Wichtige nicht mehr auskommen kann, mag auch längst nicht alles, was i m Augenblick faszinierend w i r k t und vordergründig bedeutsam erscheint, unter rechtlichen Blickpunkten als berücksichtigenswert angesehen werden. Der Jurist fühlt sich gedrängt, fortgesetzt Erwägungen über die zur Zeit gegebenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Zusammenhänge anzustellen und neugewonnenen Erkenntnissen, die nicht ignoriert werden dürfen, Rechnung zu tragen. Es handelt sich dabei vielfach u m Anschauungen, die infolge von Veränderungen der Umwelt der bisherigen Auffassung widersprechen; oft werden durch bestimmte Realitäten Wandlungen i m allgemeinen Lebensgefühl hervorgerufen, die zugleich auf die maßgebenden Richtigkeitsanschauungen einwirken. Wenn der Jurist solche Gegenwartsmomente i m Blickfeld zu behalten trachtet, u m sich durch sie gegebenenfalls beeinflussen zu lassen, so liegt dabei i n der Regel die Vorstellung zugrunde, daß die der Rechtspflege gestellten Aufgaben häufig eng m i t der Zeitsituation verbunden sind und nur i m Zusammenhang m i t ihr ordnungsgemäß wahrgenommen werden können. Die jeweilige Lage m i t ihren Nöten und Kümmer8 Berrà (Th. Rasehorn) S. 19; Ad. Arndt 2 Döhring
(1963) S. 1277.
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1. Teil: I. Hauptmerkmale der modernen Rechtsfindung
nissen gewinnt unter dem Einfluß einer zunehmend anthropozentrischen Grundhaltung zusehends an Gewicht. „Richtig" erscheint daher dem Juristen meist nur eine Auffassungsweise, die auf die einem ständigen Wechsel unterworfene Lebenswirklichkeit bezogen ist und dem sich fortbildenden Rechtsbewußtsein der Zeit Rechnung trägt. Eine Umbildung der allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen vermag heute das Rechtsfindungsergebnis nachhaltiger als früher zu beeinflussen. Sie kann dazu führen, daß — wofür vor allem der Rechtsanwalt ein scharfes Auge zu haben pflegt 9 — Z i v i l - oder Strafklagen bestimmter A r t , die bei den Gerichten noch vor kurzer Zeit auf entschiedene A b lehnung gestoßen waren, bei ihnen plötzlich wachsendes Verständnis finden (und umgekehrt). Versucht man, den Einfluß dieser Tendenz näher zu bestimmen, dann kann jedenfalls soviel gesagt werden, daß trotz der grundsätzlichen Bereitschaft unserer Juristen, m i t der Zeit zu gehen, bei ihnen keineswegs eine durchgehende Neigung vorhanden ist, sich neuartigen Entwicklungen rasch zu öffnen. Sie sind oft ganz und gar nicht darauf aus, die Verwertung von Gegenwartsmomenten zu forcieren, sondern verhalten sich — was ihnen häufig zum V o r w u r f gemacht w i r d — i m allgemeinen eher zögernd. Doch darf dessen ungeachtet die Geneigtheit zu stärkerer Rücksicht auf das Hier und Jetzt als ein die neuzeitliche Rechtsgewinnung kennzeichnendes Merkmal betrachtet werden. Dies w i r d besonders deutlich beim Vergleich m i t den Anschauungen, die i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herrschend waren. Damals wurde das Recht i m allgemeinen noch als eine unverbrüchlich feststehende Ordnung höherer A r t angesehen, der sich die Wirklichkeit anzugleichen habe. Der Gedanke, daß die Berücksichtigung von Zeitströmungen zur Rechtsfindung unter Umständen etwas Wesentliches beitragen könne, erschien abwegig. Demgemäß hielt man eine prompte Anpassung der juristischen Entscheidung an die Veränderungen der Umwelt auch nicht für eine vordringliche Aufgabe der Rechtsfindung. Unterstützt wurde diese Anschauungsweise durch die aus einer idealistischen Grundströmung hervorgehende Überzeugung, daß die Gesetzesnorm sich gegen den Widerstand der Realitäten durchsetzen werde und daß es einer besonderen Obacht des Rechtsanwenders auf die Erfordernisse der unmittelbaren Gegenwart nicht bedürfe. Erst » Auch sonst sind es vielfach gerade die Anwälte, die einen sicheren Blick f ü r die Eigenheiten der Rechtslandschaft u n d die i n i h r v o r sich gehenden Veränderungen besitzen. Dafür k a n n nicht n u r auf das gegenwärtige Schriftt u m verwiesen werden, sondern auch auf die i n der Zeit der Weimarer Republik erschienenen anwaltschaftlichen Beiträge zur juristischen Zeitgeschichte wie etwa die Arbeiten von Alsberg, Bendix, Berath, Fuchs, Isay, Rode usw., denen vielfach heute noch unmittelbare A k t u a l i t ä t zukommt.
3. Beachtung gegenwartswichtiger Momente
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wenn man diese Auffassungsweise der heutigen gegenüberstellt, t r i t t der Umfang der inzwischen vor sich gegangenen Veränderung anschaulich hervor. Ein Blick ins Ausland zeigt, daß die geschichtliche Entwicklung i n manchen Ländern m i t der unsrigen gewisse Ähnlichkeiten aufweist. Die i n raschem Tempo fortschreitende Industrialisierung, die soziale Umschichtung und die wirtschaftlichen Veränderungen, m i t denen sich heute viele Nationen abzufinden haben, führen nicht selten auch anderswo zu einem Wandel der geistigen Haltungen, zu andersartigen Lebensgewohnheiten und zu einem neuen Daseinszuschnitt. Die allgemeine Entwicklung formt nicht zuletzt durch den Einfluß der Massenmedien den Menschen heute rascher um, als das früher der Fall war. Seine Wahrnehmungswelt und sein Gefühlsleben werden i n einer bisher nicht gekannten Weise (manchmal selbst bis i n die tieferen Schichten hinein) verändert. Demgemäß sind auch i n anderen Ländern unter Umständen Erwägungen darüber nötig, inwieweit die Jurisprudenz davon Notiz nehmen und i n welcher Weise sie die wünschenswert erscheinenden Angleichungen vornehmen soll. Engere Grenzen sind einer zügigen Anpassung an die Jetztzeit gesetzt, wo ihr kraftvolle Traditionen, an denen m i t Zähigkeit festgehalten wird, entgegenstehen oder wo aus Gründen, die i m Volkscharakter bzw. i n den herrschenden Grundüberzeugungen liegen, ein behutsames, verzögerliches Vorgehen nicht als bedauerliches Nachhinken, sondern i m Gegenteil als ein Gebot der Klugheit erscheint. Soweit derartige Einflüsse wirksam sind, stellt nicht der auf Sozialadäquanz bedachte Jurist die Idealfigur dar, sondern das höchste Lob fällt dem gegenüber Zeiteinflüssen unnachgiebigen, dem unbeugsamen, intransigenten Richter (Rechtsanwender) zu, der sich eng an den Gesetzeswortlaut und i m übrigen vor allem an logische, systematische und historische Argumente hält. I n Rechtsgemeinschaften, die aus zahlreichen unterschiedlich strukturierten Bevölkerungsgruppen zusammengesetzt sind, ferner i n Staatsgebilden mit einem sehr labilen sozialen und politischen Gleichgewicht besteht bei den Gerichten oftmals die Neigung, m i t Rücksicht auf die starken Gegensätze innerhalb des Volkskörpers das Recht m i t Hilfe einer eng aufgefaßten Gesetzesauslegung und i m übrigen auf Grund vorwiegend formaler Erwägungen zu finden. Die gleiche Tendenz findet sich bisweilen auch bei hohen Gerichtshöfen, die wie der englische P r i v y Council für Gebiete m i t unterschiedlichen weltanschaulichen Grundlagen, verschiedenartiger Entwicklungsstufe und stark voneinander abweichenden sozialen Verhältnissen zuständig sind.
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1. Teil: I. Hauptmerkmale der modernen Rechtsfindung
4. Obacht auf die Besonderheiten des Falles Als ein die neuere Rechtsgewinnung prägender Grundzug muß schließlich das Streben nach Berücksichtigung der Falleigentümlichkeiten betrachtet werden. Dabei ist, dem Thema entsprechend, nicht an Lagen gedacht, i n denen vom Gesetzgeber bestimmten Sondergestaltungen bereits Rechnung getragen worden ist, sondern an die zahlreichen Fälle, i n denen das Gesetz bezüglich gewisser Besonderheiten, die vom Rechtsstandpunkt aus Beachtung zu verdienen scheinen, keine Anordnungen getroffen hat, andererseits aber deren Berücksichtigung i n gewissen Grenzen auch nicht hat ausschließen wollen. Während sich die Beachtung der Gegenwartsmomente i n dem vorstehend bezeichneten Sinn auf Gesichtspunkte bezieht, die der allgemeinen Lage entnommen sind, betrifft die Neigung, das juristische Urteil auch auf Eigenheiten des jeweiligen Sachverhalts abzustellen, die spezielle Gestaltung des gerade gegebenen Falles. I m Grunde stellt die Obacht auf die der einzelnen Rechtssache anhaftenden Eigentümlichkeiten eine Erscheinungsform des Gegenwartsdenkens dar. Denn der vom Juristen zu beurteilende Sachverhalt pflegt zeitlich der unmittelbaren Gegenwart nahezustehen. Zudem w i r d auch die Frage, ob bestimmte Besonderheiten der Sachlage Rechtserheblichkeit besitzen, regelmäßig an Hand der heute maßgebenden Anschauungen beantwortet. Gleichwohl braucht, wenn dem Bearbeiter die Rücksicht auf die gegenwärtige Gesamtsituation erlaubt ist, damit nicht ohne weiteres auch die Obacht auf Fallindividualitäten statthaft zu sein. Es gibt vielmehr Rechtsordnungen, i n denen man dem Rechtsanwender i m gesetzesfreien Raum die Aufmerksamkeit auf Gegenwartsmomente allgemeiner A r t i n bestimmtem Umfang gestattet, nicht jedoch die Beachtung von individuellen Umständen des vorliegenden Sachverhalts, wenn das Gesetz auf sie nicht Bezug nimmt. Wo — wie bei uns zur Zeit — gewisse Falleigentümlichkeiten vom Bearbeiter gegebenenfalls auch ohne ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung i n die rechtlichen Erwägungen einbezogen werden dürfen, liegt darin eine weitere Differenzierung seiner Befugnis zum Rückgriff auf außer juristische Materialien. Die verstärkte Aufmerksamkeit auf die Besonderheiten des Einzelfalls hat die Anschauung gefördert, daß es m i t der Konstatierung der gesetzlichen Merkmale zuweilen nicht getan ist, daß vielmehr die zutreffende Lösung unter Umständen erst erlangt werden kann, wenn außerdem bestimmte, gesetzlich nicht festgelegte Kriterien beachtet werden. Man findet es sowohl i m Strafrecht als auch i m Z i v i l - und Verwaltungsrecht oftmals unangemessen, daß konkrete Momente, die nach den herrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen als relevant anzusehen
4. Obacht auf die Besonderheiten des Falles
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sind, bei der Rechtsgewinnung nicht sollen mitsprechen dürfen, weil das Gesetz keinen Hinweis auf sie enthält. Es leuchtet nicht mehr ein, daß sie aus diesem Grunde, obgleich ihre Berücksichtigung auf der Linie der Gesetzesnorm liegt, ohne Wirkung bleiben müßten. Aus solchen Erwägungen ergibt sich dann vielfach die allgemeine Auffassung, daß die für die juristische Entscheidung maßgebenden Momente zuweilen nicht allein i m Gesetz zu finden sind, sondern unter Umständen auch von dem jeweils gegebenen Fall zur Verfügung gestellt werden 1 0 . Dieser ist nach einer unterschwellig allenthalben spürbaren Überzeugung gegebenenfalls imstande, wichtige Entscheidungshilfen zu liefern. Die individuellen Umstände werden mitunter so deutlich als mitsprechend erlebt, daß eine Bearbeitung, die sie außer Acht läßt, als regelrecht verfehlt betrachtet werden muß. Der Rechtsfall übt durch sie nicht nur einen Einfluß darauf aus, i n welche Richtung die Rechtsfindungserwägungen zu erstrecken sind, sondern er bestimmt auch mit, wie weit der eingeschlagene Weg zu verfolgen ist. A u f diese Weise muß nach der heute wohl vorherrschenden Ansicht i m richterlichen Freiraum, soweit der loyal zu ermittelnde Gesetzessinn nicht entgegensteht, manches m i t i n Anschlag gebracht werden, worüber i m Gesetz nichts gesagt worden ist. Wie durchgreifend das Aufkommen dieser Neuerungen die Situation des Rechtsanwenders verändert hat, läßt sich wiederum nur durch eine Gegenüberstellung m i t den Anschauungen ins richtige Licht setzen, wie sie i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts maßgebend gewesen sind. Nach der damals herrschenden Lehre sollte sich der Jurist bei der Rechtsgewinnung durch Falleigentümlichkeiten nur insoweit beeindrucken lassen, als ihre Berücksichtigung i m Gesetz vorgesehen war. Man hielt nicht viel von einer Obacht auf die Besonderheiten der Sachlage und fand sich meist verhältnismäßig leicht damit ab, daß Einzelumstände, die unter Billigkeitsgesichtspunkten Beachtung verdient hätten, infolge ungünstiger Gesetzeslage unberücksichtigt blieben. Wo sich während des 19. Jahrhunderts Juristen zu dieser Problematik äußerten, fielen ihre Stellungnahmen meist so streng und unnachsichtig aus, wie man es sich heute nur noch schwer vorstellen kann. A. F. J. Thibaut ζ. Β. sprach von dem unseligen Schwanken zwischen Billigkeit und juristischer Strenge. Er war der Ansicht, daß ein weinerliches mildes Wesen kräftigen Gemütern einen Widerwillen einflößen müsse und fuhr fort: „Leider gefällt gerade diese Schöntuerei engherzigen und kurzsichtigen Rechtsgelehrten am mehrsten. Es ist doch gar zu angenehm, auch i n jure den Gnädigen machen zu können; und wie kann 10
Heusinger S. 133 f.; als entsprechender Beleg aus dem Bereich der Rechtslehre können die i n s t r u k t i v e n Darlegungen von Fr. Müller (1976) S. 130 ff. dienen.
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1. Teil: I. Hauptmerkmale der modernen Rechtsfindung
der erfahrene Rechtsgelehrte seine Größe besser bewähren, als wenn er durch vorsichtige Einschränkungen und Ausnahmen fein und edelmütig der ganzen Welt zu helfen weiß 1 1 ." Als Beleg aus der Rechtspraxis mag J. H. Siegen angeführt sein, der das u m 1830 bei manchen Gerichten bemerkbare Bemühen u m fallgerechte Entscheidungen als Billigkeitskrämerei anprangerte 12 . Er sprach sich für strikte Gesetzesbeachtung ohne sonderliche Rücksicht auf die dabei etwa entstehenden Härten aus und vertrat damit eine Auffassung, die i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr an Boden gewann. Bezeichnend ist i n dieser Hinsicht die von Bernhard Windscheid i n seiner Universitätsrede von 1854 geäußerte Ansicht, daß der Vollzug eines unbilligen Urteils „eine A r t stolzer Freude" erregen könne und daß sich dabei die Majestät des Rechts selbst i m Unrecht bewähre 13 . Von dem Rechtsuchenden erwartete man damals wie selbstverständlich, daß er sich m i t den für ihn aus einer solchen Justizübung hervorgehenden Enttäuschungen abfand, während es heute i n gleichliegenden Fällen oft als unerträglich empfunden werden würde, wenn die Gerichte den Beteiligten die aus einer strikten Gesetzeshandhabung entstehenden Disharmonien m i t gleicher Unbekümmertheit zumuten w ü r den. Wie stark gegenwärtig beim Bürger das Verlangen nach Beachtung der Falleigentümlichkeiten ausgebildet ist, zeigt sich darin, daß Entscheidungen, die diese Forderung ignorieren, nicht lediglich m i t Bedauern hingenommen, sondern als grober Verstoß gegen Recht und Gerechtigkeit empfunden und dementsprechend vielfach mit Protesten heftigster A r t beantwortet werden. Der Rechtsanwender, der seinerseits Verstöße gegen die Fallgerechtigkeit als mißlich zu empfinden pflegt, sucht sie nach Möglichkeit zu vermeiden. Selbst diejenigen, die heute einer strengen Norminterpretation das Wort reden 14 , wollen nicht mehr zu jener rigorosen Gesetzeshandhabung zurückkehren, wie sie noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts von vielen für unerläßlich gehalten wurde. Sie werden (obgleich i m einzelnen beträchtliche Gradunterschiede vorhanden sind, auf die noch zurückzukommen sein wird) von der allgemeinen Strömung m i t gerissen. I m Grunde vermag sich der Tendenz zur individuellen Gerechtigkeit gegenwärtig niemand mehr vollkommen zu entziehen. Die obersten Gerichtshöfe haben (obwohl ständig darauf bedacht, Eigenmächtigkeiten der Instanzgerichte entgegenzutreten) die indi11 S. 305 ff. 12 „Juristische Abhandlungen" (1834) S. 279. 13 S. 12. 14 Ramm S. 81 f.; Flume S. I f f . ; H. J. Hirsch Recht: Forsthoff (1959) S.41ff., (1971) S. 126 ff.
S. 341; f ü r das öffentliche
4. Obacht auf die Besonderheiten des Falles
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vidualisierende Erwägung gleichfalls sowohl i m Z i v i l - und Verwaltungsrecht als auch i m Strafrecht i n gewissem Umfang anerkannt. Der Gesetzgeber handelt heute vielfach entsprechend aus der Einsicht heraus, daß er seinen lenkenden Einfluß nicht mehr i n gleicher Weise wie früher ausüben kann. Jedenfalls läßt sich der zunehmende Gebrauch von Generalklauseln durch die gesetzgebenden Körperschaften dahin deuten, daß diese sich angesichts der Wichtigkeit, die den besonderen Umständen des Einzelfalls beigemessen wird, oftmals zu einer genaueren Festlegung der maßgebenden Gesichtspunkte außerstande sehen. Es soll nicht verkannt werden, daß gelegentlich auch andere Momente die Verwendung unbestimmt gehaltener, vieles offen lassender Regelungsmerkmale nahelegen können; so etwa die Überlegung, daß bei stark umstrittenen Fragen ein Gesetz i m Parlament leichter durchzubringen ist, wenn für die kritischen Punkte eine Formulierung gewählt wird, die die normative Arbeit größtenteils den Gerichten überläßt. Dennoch dürfte i n der zunehmenden Verwendung von Generalklauseln durch den Gesetzgeber ein Beleg für seine Ansicht liegen, daß es häufig unmöglich sei, die Fülle der rechtserheblichen Umstände abstrakt hinreichend zu umschreiben. Innerhalb der Rechtswissenschaft haben die einer individualisierenden Betrachtungsweise entgegenkommenden Bestrebungen vor allem i m Wiederaufleben der Topik ihren Ausdruck gefunden 15 . Andererseits w i r d ihnen aber innerhalb der Rechtslehre energischer Widerstand entgegengesetzt. Man pflegt vor allem zu bedauern, daß ein häufiges Abstellen auf die Besonderheiten des Falles die praktische Bedeutung der von der Wissenschaft erarbeiteten dogmatischen Grundsätze mindert. Doch kann sich auch die Rechtswissenschaft dem Falldenken, das von vielen als geradezu unentrinnbar betrachtet wird, nicht verschließen. Sie muß sich heute darauf beschränken, Oberflächlichkeiten, zu denen die Praxis dabei leicht verlockt werden kann, zu bekämpfen und etwaigen Übertreibungen entgegenzuwirken. Bezeichnend sind i n dieser Hinsicht die Ausführungen Heinrich Henkels, der i n bezug auf die durch das Anwachsen individualisierender Tendenzen entstandene Gesamtlage sagt: „Selbst wenn dieser Wandel nicht zu begrüßen wäre, müßte er doch als schicksalhaft hingenommen werden, w e i l er sich aus der geistigen Strömung unserer Zeit ergibt 1 6 ." is Th. Viehweg, T o p i k u n d Jurisprudenz (5) 1974. Wegen des sich an diese grundlegende A r b e i t anschließenden Schrifttums w i r d auf Struck, Topische Jurisprudenz (1971) u n d Fikentscher Bd. 3 (1976) S. 350 Bezug genommen; ferner auf Otte , Zwanzig Jahre Topik-Diskussion, i n : Rechtstheorie Jg. 1970 S. 183 ff. " „Recht u n d I n d i v i d u a l i t ä t " (1958) S. 86; weiteres Schrifttum zu den Fragen der Individualgerechtigkeit bei Henkel (1977) S. 471 ff.; Engisch (1968) S. 215; Wieacker (1967) S. 580 f., 596; vgl. auch „ S u m m u m jus summa i n j u r i a "
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1. Teil: I. Hauptmerkmale der modernen Rechtsfindung
Die Argumente, die man aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung gegen den Trend zur Fallgerechtigkeit hergeleitet hat, sind letzten Endes wirkungslos geblieben. Die Kraft, welche die Forderung nach sozialadäquaten Lösungen heute besitzt, ist so stark, daß man sich meist eher dazu entschließt, die Strenge des Gewaltenteilungsprinzips entsprechend zu mildern, als statt dessen das Verlangen nach individueller Gerechtigkeit zu vernachlässigen. Diese erscheint gewissermaßen durch sich selbst gerechtfertigt, obwohl trotz hervorragender Arbeiten insoweit eine einwandfreie theoretische Grundlegung bisher fehlt. Der rechtanwendende Jurist sieht sich unter dem Einfluß dieser Strömung häufiger als früher zu der Überlegung veranlaßt, ob für die Rechtsgewinnung etwa aus dem speziellen Gepräge der gegebenen Rechtssache Hinweise zu entnehmen sind, die nicht ignoriert werden dürfen. Soweit eingewendet worden ist, daß die Rücksicht auf diese oder jene Besonderheiten des Sachverhalts die Vorausberechnung des Prozeßergebnisses durch die Parteien bzw. die interessierten Kreise erschwere, pflegt man dies i n der Gerichtspraxis wegen der Wichtigkeit, die dem Streben nach angepaßten Entscheidungen beigemessen wird, meist nicht als durchschlagenden Gegengrund anzuerkennen. I m allgemeinen w i r d das Erfordernis individueller Gerechtigkeit als Hauptgesichtspunkt betrachtet und, u m ihr zur Geltung zu verhelfen, die verminderte Voraussehbarkeit des gerichtlichen Urteils, soweit ihr auf andere Weise nicht abgeholfen werden kann, i n Kauf genommen. Mitunter scheint es geradezu, als wenn alles, was dem Streben nach Fallgerechtigkeit hindernd i m Wege steht, zum Zurückweichen gezwungen sei. Nicht als ob die Gerichte allenthalben bedenkenlos geneigt wären, besondere Umstände irgendwelcher A r t als rechtserheblich anzuerkennen. Vielfach widersetzen sie sich mit Nachdruck derartigen Erwartungen, insbesondere wenn die Eigenart der betroffenen Rechtsmaterie sich m i t einer individualisierenden Handhabung nicht recht verträgt. Aber aufs ganze gesehen haben sie sich von einer stärkeren Rücksicht auf die spezielle Fallgestaltung nicht abbringen lassen 17 . Infolgedessen werden die Gerichte i n neuerer Zeit vorzugsweise m i t Sachverhalten befaßt, die sich wegen ihrer besonderen Gestaltung nicht ohne weiteres i n die Gesetzeslage bzw. i n die herkömmliche juristische Denkweise fügen wollen. Vielfach stellt der Rechtsuchende dabei von vornherein i n Rechnung, daß der zur Entscheidung berufene Jurist auch (1963) m i t zahlreichen Beiträgen, von denen i n dem hier gegebenen K o n t e x t v o r allem die v o n Bachof, Baumann, Baur, Gernhub er u n d K . Peters hervorzuheben sind. 17 Eg. Schneider (1967) S. 8 ff.; Friesenhahn (1969) S. 173.
4. Obacht auf die Besonderheiten des Falles
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i n Fragen, die bisher als endgültig geklärt angesehen worden waren, mehr als früher durch die Eigentümlichkeiten des Falles dazu veranlaßt werden könnte, die Problematik neu zu überdenken. A u f diese Weise nimmt die Zahl der Rechtssachen ab, i n denen die Lösung sich ohne intensive Eigenarbeit des Rechtsanwenders von selbst ergibt. Ansätze für eine individualisierende Betrachtungsweise sind bei uns zur Zeit i n den meisten Rechtsgebieten bemerkbar. Sie finden sich i m Zivilrecht mitunter selbst dort, wo der vorwiegend formale Charakter der Materie als Hemmnis w i r k t . Auch der früher meist für zwingend gehaltene Hinweis auf die Notwendigkeit einer glatten Abwicklung des Warenverkehrs stellt keinen unbedingten Hinderungsgrund mehr dar. I m Strafrecht besteht ebenfalls nicht mehr der frühere Zwang, die juristische Entscheidung auf ein mehr oder minder abstraktes Individuum auszurichten. Vielmehr bieten sich dort heute i n mancher Hinsicht Möglichkeiten, den jeweiligen Einzelmenschen mit seinen Eigentümlichkeiten und seiner speziellen Lebenssphäre zum Gegenstand der rechtlichen Überlegungen zu machen. Die Überzeugung von der Wichtigkeit der jeweiligen Umstände hat nicht nur auf die Auslegung des Strafgesetzes Einfluß genommen, sondern macht sich vor allem auch bei der Strafzumessung geltend. Soweit dabei i m Einzelfall die Generalabschreckung den Hauptgesichtspunkt zu bilden hat, ist das Abstellen auf singuläre Momente allerdings erschwert. I m übrigen sind jedoch für ein Inrechnungsetzen von Sondergestaltungen mancherlei Handhaben ausgebildet worden. Auch i n den übrigen Gerichtszweigen kann dem geschärften Blick ein gewisser Zug zur Fallgerechtigkeit nicht entgehen. Er ist, wenngleich i n unterschiedlichem Grade, i n allen Stufen des Gerichtsaufbaus festzustellen; am deutlichsten bei den Instanzgerichten, die unmittelbar mit den rechtsuchenden Parteien zu t u n haben. Hier pflegt die angemessene Erledigung des konkreten Konflikts mehr i m Vordergrund zu stehen als bei den obersten Gerichtshöfen, für die das Hauptanliegen die Aufrechterhaltung der Rechtseinheit darstellt. Aber auch die Revisionsrichter bemühen sich heute, soweit ihre Sonderstellung es zuläßt, meist zugleich u m eine zufriedenstellende Lösung des speziellen Falls 1 8 . Der Gesetzgeber ist i n letzter Zeit darauf bedacht, ihnen diese Aufgabe nach Möglichkeit zu erleichtern. Vergleicht man die deutschen Verhältnisse mit denen i m europäischen Ausland, so ergeben sich dort gewisse Anzeichen für ähnlich gerichtete Strömungen. I n der Schweiz und i n Österreich, i n den Niederlanden und i n Skandinavien scheint trotz mancher Verschiedenheiten ebenfalls eine 18 Pohle S. 10 ff., 17.
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1. Teil: I I . Einfluß spezieller Tendenzen auf die Rechtsgewinnung
Tendenz zur Einzelfallgerechtigkeit vorhanden zu sein. Für Frankreich hat Jean Carbonnier die Ansicht vertreten, daß unter den rund 300 000 Urteilen, die dort alljährlich von den Gerichten gefällt werden, die übergroße Mehrzahl aus sog. individuellen Entscheidungen bestehe 19 . II. EINFLUSS EINIGER SPEZIELLER TENDENZEN AUF DEN CHARAKTER DER RECHTSGEWINNUNG 1. Allgemeiner Uberblick Die bisher festgestellten Einzelzüge hängen auf sinnvolle Weise miteinander zusammen und bedingen sich gegenseitig. Der durch das Verlangen nach materieller Gerechtigkeit erzwungene Anschluß der juristischen Arbeit an die geistigen Grundlagen der Gegenwart ließ sich nicht verwirklichen, ohne daß dem rechtanwendenden Juristen die Befugnis zu der insoweit notwendigen Gesetzesanpassung zugestanden wurde. Es blieb i n dieser Hinsicht, wenn man nicht auf eine Durchsetzung der substantiellen Gerechtigkeit überhaupt verzichten wollte, keine Wahl. Wer anders als der Fallbearbeiter hätte sonst die gedanklichen Elemente herausarbeiten und zur Wirkung bringen sollen, die letztendlich dazu erforderlich werden? Vom praktizierenden Juristen w i r d demgemäß heute verlangt, daß er selbst die Richtigkeitsfrage stellt und gegebenenfalls an Hand von außergesetzlichen Gesichtspunkten zur angemessenen Entscheidung vordringt. Er soll nach der vorherrschenden Auffassung nicht nur rezeptiv den Gesetzesinhalt erarbeiten, sondern m i t Hilfe der Ergebnisbetrachtung — soweit erforderlich — eigenverantwortlich tätig werden; und zwar nicht nur dort, wo das Gesetz i h m durch spezielle Anordnungen eine entsprechende Befugnis zuweist, sondern vielfach auch ohne eine ausdrückliche gesetzgeberische Ermächtigung. Er muß nach der gängigen Vorstellung bereit und i n der Lage sein, die Angleichung an die gegenwärtige Situation so durchzuführen, daß sie einer intersubjektiven Nachprüfung standhält. Diese Vermehrung der dem Richter (Rechtsanwender) zuwachsenden Machtvollkommenheiten kommt nicht von ungefähr; sie ist nicht etwa das Ergebnis eines bloßen Zufalls. Vielmehr w i r d hier die Entwicklungslinie fortgesetzt, die bereits während des 19. Jahrhunderts m i t dem Übergang von der formalen Beweistheorie zur freien Beweiswürdigung durch den Richter begonnen worden war und später durch die Beseitigung des Parteieides und die weitgehende Abstandnahme vom Zeugeneid wiederum bestätigt wurde. Man kann Zweifel haben, ob diese seit langem i m Gang befindliche Bewegung jetzt ihren Abschluß i» S. 147.
1. Allgemeiner Überblick
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gefunden hat. Manche Anzeichen deuten darauf hin, daß zum mindesten i n einzelnen Rechtsbereichen versucht werden wird, dem Rechtsanwender durch eine Intensivierung der teleologischen Rechtsfindungsmethode oder auf andere Weise weitere Freiheiten einzuräumen 20 . Es versteht sich von selbst, daß die rechtliche Arbeit einen unterschiedlichen Charakter haben muß, je nachdem ob — wie es i m 19. Jahrhundert gefordert wurde — die juristische Tätigkeit sich i n korrekter Textauslegung erschöpft oder ob vom Fallbearbeiter, ungeachtet der bestehen bleibenden Gesetzesbindung, verlangt wird, daß seine Lösung auch mit dem allgemeinen Rechtsbewußtsein der Gegenwart i n Einklang steht. I m letzteren Fall ist er genötigt, die Übereinstimmung seines Urteils m i t den herrschenden Richtigkeitsanschauungen zu erwägen und auch sonst mancherlei Gedankengängen Raum zu geben, die über die frühere eng begrenzte Tätigkeit hinausgehen. Dadurch w i r d insgesamt eine Veränderung der Rechtsfindungsgewohnheiten bewirkt, deren volle Bedeutung w i r erst i n neuester Zeit einzusehen beginnen. Die Erkenntnis, daß außer juristische Orientierungspunkte, obwohl sie ein variables Element darstellen, für die Rechtsgewinnung wichtig sein und legitim i n die rechtlichen Überlegungen eingreifen können, stellt die Rechtsgewinnung auf eine neue Grundlage. Der Bearbeiter ist nunmehr darauf angewiesen, die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen genauer zu beobachten, ihre Eigenart zu erkennen und i m Rahmen der Gesetzesanordnungen aus ihnen die nötigen Folgerungen zu ziehen. Daß beim Arbeiten mit nichtpositivierten Gesichtspunkten an den Bearbeiter besondere Anforderungen gestellt werden, ist sowohl von der Rechtslehre als auch von der Judikatur stets anerkannt worden 2 1 . Diese ergeben sich einmal daraus, daß die vorrechtlichen Materialien nicht wie die Gesetzesnorm i n bündiger Formulierung vorliegen, sondern erst vom Juristen erarbeitet werden müssen. Sie behalten zudem nicht selten trotz bester Bemühungen eine gewisse Schwäche, die sie gegen Einwände von Seiten Andersdenkender anfällig macht. Die Aufgabe des Rechtsanwenders kompliziert sich i n pluralistischen Gesellschaften wie der unsrigen ferner noch dadurch, daß i h m dort die Verpflichtung obliegt, die oft sehr unterschiedlichen Auffassungen als grundsätzlich gleichwertig anzusehen. Der früher ganz vorwiegend auf autoritärer Grundlage ergehende Urteilsspruch hat dadurch einen 20 Als ein gewisses Indiz dafür k a n n die A r b e i t von Steindorff „Politik des Gesetzes als Auslegungsmaßstab i m Wirtschaftsrecht" (1973) gelten. 21 Darüber BVerfGE Bd. 3 S. 225 (mit Bezug auf die Handhabung von Generalklauseln).
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1. T e i l : I I . Einfluß spezieller Tendenzen auf die
echtsgewinnung
Teil seines ehemaligen Herrschaftscharakters verloren, wenngleich seine Durchsetzung i m Ernstfall durch Gewaltanwendung erzwungen werden kann. Für die aus dem allen hervorgehenden Schwierigkeiten hat unsere herkömmliche, noch vielfach vom Gedanken der Gesetzesallmacht beherrschte Rechtstheorie keine hinreichende Vorsorge getroffen. Sie gewährt dem Rechtsanwender insoweit oft keine wirksame Unterstützung. Er findet aber auch i n der juristischen Tradition, die nur an bereits Bekanntes und Gewohntes anzuknüpfen vermag, keine A n weisung, wie er sich verhalten soll. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die entstandene Lage genauer zu analysieren und sodann nach Abhilfemöglichkeiten zu suchen. 2. Ergebnisbeurteilung als neuartiges Element Es ist nicht nur rechtsgeschichtlich interessant, sondern auch für das Verständnis der heutigen Situation aufschlußreich zu verfolgen, wie der rechtanwendende Jurist, der i m 19. Jahrhundert von der Theorie lediglich auf die klassischen Auslegungsbehelfe verwiesen worden war, nach und nach zu einer freieren Arbeitsweise gelangt ist. U m die Jahrhundertwende bestand i n Deutschland nur wenig Neigung, den Fallbearbeiter über die grammatische, logische, historische und systematische Interpretation hinaus an der rechtspolitischen Wertungsarbeit zu beteiligen. Die dem entgegenstehenden psychologischen Hemmnisse waren so stark, daß es jahrzehntelanger Anstrengungen bedurft hat, u m über die Interessenabwägung mit ihren Abarten hinweg zum teleologischen Rechtsdenken und von dort zur Wertungsjurisprudenz sowie zu einer umfassenden Ergebnisbetrachtung vorzudringen. Der Ablauf dieser historischen Entwicklung zeigt das langsame, aber stetige Fortschreiten zu größerer Bewegungsfreiheit bei der Rechtsanwendung. Regungen, die auf eine Lockerung des überkommenen Rechtsfindungsschemas hinzielten, waren i n der Juristenschaft unterschwellig bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts spürbar gewesen. I m ersten Dezennium nach der Jahrhundertwende kamen sie jedoch m i t besonderem Nachdruck zur Geltung. Bezeichnend ist während dieser Zeit das für deutsche Verhältnisse ungewöhnliche Maß der Anteilnahme und die vielfach geradezu leidenschaftliche Bewegtheit, m i t der nicht nur ein kleinerer Kreis Auserwählter, sondern die große Mehrheit der Juristen diesem Problem ihre Aufmerksamkeit zuwandte. Die Praktiker aller juristischen Berufszweige empfanden deutlich, daß es dabei nicht u m Erörterungen von allein wissenschaftlichem Interesse gehe, sondern daß u m sie unmittelbar berührende Dinge gerungen werde.
2. Ergebnisbeurteilung als neuartiges Element
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Wichtige Fragen der Rechtsfindungsmethode, die vorher als i m wesentlichen geklärt betrachtet worden waren, wurden damals neu gestellt und sind seitdem Gegenstand ständiger Bemühung geblieben, wenn auch der zunächst ungemein starke Impuls sich nicht über die Jahrzehnte hinweg aufrecht erhalten ließ. Durch das starke Streben nach materieller Gerechtigkeit und nach juristischen Lösungen, die der jeweiligen Lage angepaßt sind, war seit Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl i n der Rechtsgemeinschaft als auch bei den Juristen eine grundsätzliche Bereitschaft zustande gekommen, den Rechtsanwender i n gewissem Umfang zur Stellung der Richtigkeitsfrage und damit zu eigenen Überlegungen i n bezug auf das Rechtsfindungsergebnis zuzulassen. Gleichwohl erschien die Verwirklichung dieses Vorhabens i n vieler Hinsicht schwierig. Selbst für diejenigen, die dem Unternehmen ausgesprochen wohlwollend gegenüberstanden, waren mannigfache Bedenken nicht von der Hand zu weisen. Damit hing zusammen, daß es der Freirechtsbewegung mit ihren teilweise regelrecht provokatorischen Formulierungen nicht gelungen ist, i n einem A k t die nach Ansicht vieler notwendige Umstellung zu erreichen. Die Freirechtsschule scheiterte nicht zuletzt daran, daß sie zwar — wenn auch nur ziemlich allgemein — ihre Ziele angab, aber keine für die Zeit passende Anleitung lieferte, wie die große Masse der Juristen den Übergang von der herkömmlichen Rechtshandhabung zu der von ihr geforderten neuen A r t der Rechtsgewinnung finden sollte. Es hätte i n dieser Hinsicht eines behutsameren Vorgehens bedurft, u m die vorhandenen starken Hindernisse schrittweise abzubauen. Interessenbetrachtung, teleologisches Denken und Wertungsjurisprudenz haben dazu beigetragen, dem Fallbearbeiter einen engeren A n schluß seiner Entscheidung an das Hier und Jetzt zu ermöglichen. Das Stichwort „Interesse" stellte nicht etwa nur eine sprachliche Abwandlung bisher schon vorhanden gewesener gedanklicher Elemente dar, sondern enthielt eine grundlegende Neuerung. M i t i h m wurde ein psychologischer Mechanismus i n Gang gesetzt, der fast automatisch den Weg zur allerseits gewünschten Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit ebnete. Die gegensätzlichen Interessen der i m Streit befindlichen Prozeßparteien erschienen nunmehr i m Widerspruch zu dem, was bis dahin gelehrt worden war, als ein den Rechtsanwender unmittelbar angehender Gegenstand. Ursprünglich hatte man nur den Gesetzgeber als für die Interessenabwägung zuständig angesehen. Demgemäß wollte auch die Interessenjurisprudenz zunächst lediglich die vom Gesetzgeber bei Schaffung der Norm zugrundegelegte Bewertung der unterschiedlichen Belange ermitteln. Aber der Interessenbegriff eröffnete zugleich wei-
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1. Teil: I I . Einfluß spezieller Tendenzen auf die Rechtsgewinnung
ter e Möglichkeiten für diejenigen, die dem Rechtsanwender gegebenenfalls auch die Berücksichtigung von Momenten zugestehen wollten, denen i m Gesetz nicht Rechnung getragen worden war. Man ging daher, wo die Interessenbewertung des Gesetzgebers nicht sicher auszumachen war, sehr bald dazu über, auch sonstige Anliegen und Erfordernisse ins Spiel zu bringen, wenn dies bei Berücksichtigung aller i n Betracht kommenden Gesichtspunkte rechtlich unerläßlich erschien und das Gesetz nicht direkt entgegenstand. A u f diese Weise wurde die Beschäftigung des Fallbearbeiters m i t ganzen Gruppen metajuristischer Bezugspunkte, die er vorher nur heimlich und m i t schlechtem Gewissen hatte verwenden können, legitim. Die Folge war, daß sich der Kreis der für die Rechtsfindung verwendbaren Orientierungspunkte stark erweiterte. Der neue Topos „Interesse" empfahl sich dadurch, daß er sowohl den auf eng begrenzte Gesetzesauslegung bedachten Juristen von Nutzen sein als auch bei der freieren Rechtsfindung verwandt werden konnte. Durch diese Ambiguität hat er auf die große Masse der Juristen eine beträchtliche Anziehungskraft geübt 2 2 . Wenn die Inter essen jurisprudenz zunächst auch nur das Zivilrecht, also ein zwar großes, aber immerhin begrenztes Gebiet betraf, so bildete sie doch eine gute Handhabe zur Auflockerung des herkömmlichen Denkschemas. I h r gelang der Ausbruch aus jener Enge und Unfruchtbarkeit, i n der die Rechtsfindung viel zu lange festgehalten worden war. Der Begriff des Interesses, der i n der juristischen Erörterung bis dahin keine Stelle gehabt hatte, ließ die Juristen, nachdem er einmal i n das Zentrum der Diskussion geraten war, nicht mehr los. Selbst die erbittertsten Gegner der Interessenabwägung wurden genötigt, sich m i t ihr ständig auseinanderzusetzen. Als sich ergab, daß die Interessenlehre, die ihre Herkunft aus dem Zivilrecht nie ganz hat verleugnen können, i m Strafrecht und i m öffentlichen Recht trotz mancher Versuche, sie dorthin zu übertragen, weniger erfolgreich war, wandte sich die allgemeine Aufmerksamkeit mehr der teleologischen Rechtsfindung zu, die dem Fallbearbeiter noch größere Bewegungsfreiheit eröffnete. A u f sie waren die deutschen Juristen bereits durch R. v. Jherings Arbeiten, insbesondere durch sein Werk über den „Zweck i m Recht" (1877 ff.) i n gewisser Weise vorbereitet worden. 22
Uber die Interessenbetrachtung als Wegbereiter der Wertungsjurisprudenz G. Struck (1975) S. 171 ff.; zur Abwägungsmethode k a n n auf die D a r legungen von B. Schlink, Abwägung i m Verfassungsrecht (1976) verwiesen werden; bezüglich der geschichtlichen Wurzeln dieser Arbeitsweise wäre v o r allem die A r b e i t v o n J. Edelmann (1967) zu vergleichen. Umfassende Schrifttumsnachweise bei Fikentscher B d 3 S. 376 ff.
2. Ergebnisbeurteilung als neuartiges Element
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Auch die Zweckerwägung sollte nach der vorherrschenden A n schauung i n erster Linie dazu dienen, die Intentionen des historischen Gesetzgebers klarzustellen, damit sie bei der Rechtsgewinnung verwertet werden konnten 2 3 . Aber die teleologische Methode läßt zugleich einen weitergehenden Gebrauch zu. Sie kann nicht nur gut gesetzespositivistisch aufgefaßt, sondern auch dazu benutzt werden, bei der Erwägung über den Gesetzeszweck neue gedankliche Elemente i n die juristische Erörterung einzuführen. Dies liegt insbesondere dann nahe, wenn bei Ermittlung der gesetzgeberischen Absicht unterschiedliche A u f fassungen vertretbar sind, zwischen denen der Rechtsanwender sich (oftmals an Hand außerjuristischer Bezugspunkte) zu entscheiden hat. Aber selbst wenn der Gesetzeszweck eindeutig feststeht, können noch hinsichtlich seiner Verwirklichung i m gegebenen Fall voneinander abweichende Auffassungen i n Betracht kommen, unter denen, wenn das Gesetz sich insoweit als indifferent erweist, an Hand nichtpositivierter Orientierungspunkte eine Auswahl zu treffen ist. Es blieb m i t h i n jedermann unbenommen, i n zweifelhaften Lagen vorpositive Momente zur Geltung zu bringen, wenn sie als auf der Linie der gesetzgeberischen Absicht liegend angesehen werden konnten. Auch hier hat der Umstand, daß sich der Begriff der teleologischen Rechtsgewinnung sowohl m i t der herkömmlichen Auffassung des Rechtsfindungsvorgangs als auch mit einer freizügigeren Arbeitsweise verträgt, seine Beliebtheit nicht etwa beeinträchtigt, sondern sie i n der gegebenen geistigen Situation sogar noch erhöht. Obwohl bereits die Interessenjurisprudenz i n engeren Grenzen zur Zweckerwägung angeregt hatte, bewirkte die freimütige Etablierung des teleologischen Rechtsdenkens nunmehr ihre Anwendung auf breiter Grundlage. Der vorwiegend unformale Charakter der Zweckbetrachtung förderte die Entbindung der Rechtsfindungsmethode von der früheren Strenge. Er führte ähnlich wie die Interessenlehre zu einer stärkeren M i t w i r k u n g induktiver Elemente. Unter deren Einfluß vollzog sich eine gewisse Distanzierung vom begrifflich-systematischen Denken. So sehr die teleologische Methode eine Ableitung der juristischen Lösung aus allgemeinen Grundsätzen anstrebte, ließ sie auch die Berücksichtigung von Situationsmomenten zu, die nur schwer einer abstrakten Regel unterstellt werden konnten. Der Zweckgedanke hatte, zumal er nicht auf die Abwägung von Interessenlagen beschränkt war, sondern einen allgemeineren Charakter 23 Die Bedeutung des Zweckmoments f ü r das Rechtsdenken haben von vielfach unterschiedlichen Ausgangspunkten her erörtert Emge (1960) S. 193 ff.; Engisch (1971) S. 192 ff.; Germann (1967) S. 80 ff., 166; Krawietz (1967) S. 84 ff.; Larenz (1975) S. 315 ff.; Radbruch (1973) S. 214 ff.; Scheuerle (1967) S. 305 ff.; Eike Schmidt (1975) S. 139 ff.; Steindorff (1959) S. 11 ff.
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1. Teil: I I . Einfluß spezieller Tendenzen auf die Rechtsgewinnung
besaß, bessere Chancen als die Interessenjurisprudenz, sich i n einem erweiterten Rahmen (insbesondere auch außerhalb des Zivilrechts) durchzusetzen. I m Straf recht führte er zu wichtigen Veränderungen; aber auch sonst stellte er ein treffliches M i t t e l dar, vorpositiven Entscheidungsgrundlagen Eingang i n die Jurisprudenz zu verschaffen. M i t seiner Hilfe konnten ohne Vernachlässigung des Gesetzes Lösungen zustande gebracht werden, die i m klassischen Auslegungsverfahren niemals zu erreichen gewesen wären. Die trotz ihrer großen Bedeutung theoretisch noch weitgehend unerforschte teleologische Rechtsfindungsweise hat nur wenig von der Einförmigkeit und Geradlinigkeit der klassischen Methode an sich; sie besitzt ein mehr dynamisches Gepräge. Die i n den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts aufgekommene und m i t der Zeit immer häufiger benutzte Redewendung von dem zwischen den Möglichkeiten hin- und herwandernden Blick des das Recht suchenden Juristen bringt das gut zum Ausdruck. Die nach 1945 zu größerem Einfluß gelangte Wertungsjurisprudenz brachte insofern einen neuen Akzent i n die Entwicklung, als sie die wertende Tätigkeit des Rechtsanwenders, deren Unentbehrlichkeit lange Zeit strikt geleugnet und auch von der Interessenlehre und der teleologischen Richtung oft nur indirekt gutgeheißen worden war, als schlechthin unverzichtbar erkannte und offen hervorhob 2 4 . Diese eigenverantwortliche Wertungsarbeit des praktizierenden Juristen w i r d nunmehr als Hauptmoment betrachtet. Sie erscheint allgemein als das eigentlich Charakteristische an der neuzeitlichen Rechtsfindungsmethode. Die Gerichte sehen sich seit dem Beginn der fünfziger Jahre bis i n die unmittelbare Gegenwart hinein i n zunehmendem Maße neben dem Gesetzgeber als zu wertender Mitarbeit berufen an. Die obersten Gerichtshöfe haben während dieser Zeit an Hand der i n der Verfassung enthaltenen Weisungen die ersten Grundlagen für die insoweit vom Rechtsanwender wahrzunehmende Aufgabe geschaffen und sind dabei von der Rechtswissenschaft wirksam unterstützt worden. Wenn heute neben der Interessenabwägung, der Zweckbetrachtung usw. auch die „Ergebnisbeurteilung" des Rechtsanwenders für notwendig erklärt wird, so liegt dabei, soweit man unter dem Ergebnis das sozialadäquate Ergebnis versteht, das allgemeine Verlangen nach 24 Das allmähliche Fortschreiten der juristischen Arbeitsweise zu einer solchen, bei der die selbständige Wertungstätigkeit des Fallbearbeiters mehr u n d mehr i n den Vordergrund t r i t t , ist v o r allem von Coing (1962) Β 10 ff., Latenz (1975) S. 128 ff., Fikentscher Bd. 3 S. 361 ff. dargestellt worden; über die inneren Gründe, die der Wertungsjurisprudenz nach 1945 i n Westdeutschland so großen Beifall verschafft haben, Podlech (1967) S. 84 f.; zu den Grundformen wertorientierten Denkens: Larenz i n der Festschrift f ü r Walter W i l b u r g S. 217 ff.
2. Ergebnisbeurteilung als neuartiges Element
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inhaltlich angemessenen juristischen Lösungen zugrunde. Was bisher bei der Gesetzesauslegung und der Arbeit i n der gesetzesfreien Region allenfalls verdeckt praktiziert worden war, w i r d nunmehr i m Begriff der Ergebnisbeurteilung stichwortartig festgehalten und als legitime Rechtsfindungsmethode offen propagiert 2 5 . Ergebnisbetrachtung, Interessenabwägung, teleologisches Rechtsdenken und Wertungsjurisprudenz sind m i t h i n Teile einer folgerichtig ablaufenden Entwicklung. Sie haben nicht, wie man aus den ihnen gegebenen Benennungen schließen könnte, Anliegen ganz unterschiedlicher A r t zum Gegenstand, sondern streben dem gleichen Ziel zu und stehen untereinander i n einem inneren Zusammenhang. Durch sie ist die deutsche Jurisprudenz über eine Reihe von Zwischenstufen Schritt für Schritt (und zwar ohne nennenswerte Rückschläge) für eine Rechtsfindungsweise bereit gemacht worden, die — gegebenenfalls unter Heranziehung außergesetzlicher Momente — das Zustandekommen der inhaltlich angemessenen Entscheidung begünstigt. Speziell bei der Ergebnisreflektion läßt man sich bewußt vom Streben nach einer juristischen Lösung leiten, die mit dem allgemeinen Rechtsbewußtsein i n Einklang steht. Der Fallbearbeiter berücksichtigt hier, falls die Gesetzesauslegung zu keinem eindeutigen Ergebnis führt oder der Gesetzgeber über den fraglichen Punkt schweigt, u. a. das Gebot der Gleichbehandlung und die weitgehend anerkannten Interessenbewertungen; er hält sich an den Gesichtspunkt der Gegenwartsbezogenheit; an das, was der Natur der Sache entspricht, und an mancherlei sonstige Bezugspunkte, soweit sie für ihn verbindlich sind. Ein Resultat, das m i t den maßgeblichen Richtigkeitsvorstellungen nicht übereinstimmt, w i r d bei der Rechtsgewinnung vom Ergebnis her i n aller Regel nicht akzeptiert. Vielmehr geht i n solchen Fällen die Suche nach einer allgemein befriedigenden Regelung weiter. Die Ergebnisbetrachtung faßt die antiformalistischen Tendenzen der gegenwärtigen Rechtsfindung zielgerecht zusammen, indem sie sich der wertenden Beurteilung (einschließlich der Interessenabwägung) bedient und zugleich auch von der teleologischen Methode ausgiebigen Gebrauch macht. Diese Arbeitsweise steht i n bemerkenswertem Gegensatz zu der A n weisung, die den älteren Juristengenerationen gegeben worden war. Ehemals hatte man den Rechtsanwender keineswegs zur unausgesetzten Obacht auf die praktische Brauchbarkeit des Rechtsfindungsergebnisses 25 Die Notwendigkeit der Ergebnisbeurteilung w i r d betont von Adomeit (1970) S. 179; Betti (1967) S. 615; Draht (1968) S. 132, (1971) S. 203; Ecker (1967) S. 265; Enneccerus / Nipperdey, A l l g . T e i l §56, insbes. A n m . 12; Esser (1970) S. 38, 123; Heusinger S. 5 ff.; Kriele (1967) S. 169 ff.; Larenz, Methodenlehre (2) S. 326; Podlech (1970) S. 208; Schwerdtner (1969) S. 138 f. 3 Döhring
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1. Teil: I I . Einfluß spezieller Tendenzen auf die Rechtsgewinnung
angehalten. Von i h m wurde vielmehr allein die korrekte Handhabung der vier klassischen Auslegungsmittel verlangt, die der Theorie nach die zutreffende Lösung von sich aus erbringen sollten. Schon Savigny bezeichnete eine Gesetzesinterpretation vom Ergebnis her als höchst gefährlich und hielt sie nur i n den engsten Grenzen für zulässig 26 . Späterhin bildete sich diese ablehnende Haltung keineswegs zurück. Sie wurde i m Gegenteil i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch wesentlich verschärft. K a r l Bergbohm erklärte dazu, gerade dem i n seiner Schädlichkeit und Inhumanität mißfälligen Recht gegenüber bewähre sich erst des reinen Juristen vornehmste Tugend. Er sah diese darin, daß der Rechtsanwender es auch i m Fall eines krassen Widerspruchs der juristischen Entscheidung zu den allgemeinen Richtigkeitsanschauungen bei dem auf Grund eng gebundener Normauslegung gefundenen Resultat beläßt und der Versuchung widersteht, es durch Angleichung an das hier und jetzt Angemessene funktionsfähig zu machen. Seiner Meinung nach ist i n solcher Lage allein der Gesetzgeber imstande, Abhilfe zu schaffen 27 . Freilich war die ältere Gerichtspraxis keineswegs unempfänglich für die Einsicht, daß Ungerechtigkeiten möglichst verhindert werden müßten. Aber unter dem Zwang der damaligen Auffassungsweise glaubte der Richter meist, sich dabei nicht allzusehr ins Zeug legen zu müssen. Soweit er überhaupt dazu kam, sich über die Angemessenheit des Ergebnisses Gedanken zu machen, geschah dies gleichsam nebenbei. Man tat sozusagen ein Übriges und blieb infolgedessen vielfach auf halbem Wege stehen. Heute dagegen w i r k t ein unbefriedigendes Ergebnis als starker I m puls, der den Bearbeiter solange zu neuen Rechtsfindungsbemühungen antreibt, bis eine leidlich befriedigende Lösung vorliegt. Wo m i t den M i t t e l n der Gesetzesauslegung eine dem allgemeinen Rechtsbewußtsein entsprechende Entscheidung keinesfalls zu erlangen ist, bleibt dem Rechtsanwender nach der heute vorherrschenden Ansicht nichts anderes übrig, als unter Benutzung nichtpositivierter Materialien weiter nach einer solchen zu suchen. Dabei nötigt i h n die Ergebnisbetrachtung auch, die Folgen seiner rechtlichen Stellungnahme auf die unmittelbar Beteiligten und auf das Gemeinschaftsleben i m Auge zu behalten und sie gegebenenfalls bei der Rechtsgewinnung zu verwerten. Der Fallbearbeiter hat sich, soweit er selbständig handeln muß, nicht nur über die maßgebenden Zielvorstellungen klarzuwerden 2 8 , sondern — darin liegt eine besondere 26 System Bd. I S. 225. 27 S. 398, 138, 140. 28 Die aufschlußreichen Darlegungen v o n Noll (1973) S. 79 ff., 53 über den v o m Gesetzgeber einzuschlagenden Denkweg (Feststellung u n d wertende
2. Ergebnisbeurteilung als neuartiges Element
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Variante der beim Ergebnisdenken zum Zuge kommenden Überlegungen — auch die voraussichtlichen Konsequenzen seiner Entscheidung gründlich zu überdenken. Manchmal handelt es sich u m die Berücksichtigung des mit der beabsichtigten Rechtsprechung für die Betroffenen verbundenen größeren Arbeitsaufwand oder der von ihnen verlangten peinlicheren Sorgfalt; i n anderen Fällen stehen sonstige Belastungen psychischer und physischer A r t i m Vordergrund. Bei der Beurteilung, welche Auswirkungen die ausdrückliche oder stillschweigende Billigung bzw. die Nichtbilligung gewisser realer Zustände oder menschlicher Verhaltensweisen durch das Recht i m gesellschaftlichen Leben haben wird, hat der Rechtsanwender nicht nur die ökonomischen, sozialen und politischen Aspekte zu beachten, sondern ganz allgemein zu überlegen, was seine juristische Stellungnahme auszurichten vermag bzw. welchen Schaden sie möglicherweise anrichten wird. Es kann i h m nicht gleichgültig sein, ob sie fragwürdigen Neigungen Vorschub zu leisten oder gedeihliche Entwicklungen anzubahnen geeignet sein könnte. Er muß sich, soweit es irgend angeht, Klarheit darüber verschaffen, ob die von i h m i n Aussicht genommene Rechtsauffassung dazu beitragen wird, eine unter rechtlichen Gesichtspunkten notwendige Verlagerung der Lasten herbeizuführen, das gestörte innere Gleichgewicht der Allgemeinheit wiederherzustellen, das menschliche Zusammenleben zu vereinfachen, bestehende Unsicherheiten zu beseitigen oder unerfreuliche Zustände bestimmter A r t abzubauen. Meist denkt der Jurist, zumal wenn er als Instanzrichter tätig ist, i n erster Linie an den Einfluß seiner Entscheidung auf die unmittelbar betroffenen Prozeßparteien. Er überlegt ζ. B. bei Festsetzung der strafrechtlichen Sanktion, ob die von i h m i n Aussicht genommene Strafe geeignet sein wird, den Gestrauchelten wieder auf den rechten Weg zu bringen; ob sein Zivilurteil die auf Zusammenarbeit angewiesenen Handelsgesellschafter trotz ihrer gegenseitigen Verärgerung wieder zu einem ersprießlichen Einvernehmen zu bewegen vermag usw. Aber er ist zugleich genötigt, die Auswirkungen i m Blick zu behalten, die seine Entscheidung auf das Gemeinschaftsleben i m ganzen haben wird, und pflegt dem i n Fällen, die zu solchen Überlegungen Anlaß geben, auch Rechnung zu tragen. Der Rechtsanwender erwägt etwa, ob seine Rechtsauffassung, wenn er ihren Einfluß ins Große weiterdenkt, nicht die Gleichgültigkeit des Mieters i n bezug auf die pflegliche Behandlung der i h m überlassenen Mietsache allzusehr unterstützt; ob nicht die gerichtliche Tolerierung Beurteilung des gegebenen Zustande, E n t w u r f von Vorstellungen zu seiner Verbesserung, A u s w a h l der dazu geeigneten Mittel, Berücksichtigung u n beabsichtigter Nebenwirkungen) gelten i n gleicher Weise auch f ü r den Rechtsanwender, der i m gesetzesfreien Bereich, w i e N o l l es formuliert, „gesetzgeberisch mitdenken" muß. 3·
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1. Teil: I I . Einfluß spezieller Tendenzen auf die
echtsgewinnung
bestimmter Geschäftspraktiken den Handel zu weiteren Eigenmächtigkeiten ermutigen w i r d ; ob die i n Aussicht genommene rechtliche Beurteilung den Darlehnsgläubiger gegenüber dem Schuldner nicht ungerechtfertigt begünstigt; ob durch sie nicht die Leichtgläubigkeit, die Trägheit, die Verantwortungslosigkeit des einzelnen oder bestimmter Kreise gefördert und vielleicht regelrecht prämiiert wird. Allenthalben t r i t t , nachdem der zur Entscheidung berufene Jurist jetzt zur wertenden Mitarbeit zugelassen ist, mehr oder minder dringlich die Frage an ihn heran, ob er i m Rahmen des i h m belassenen Freiraums etwa durch indifferente Haltung gegenüber gewissen Entwicklungen seine Pflicht vernachlässigt; ob er umgekehrt durch scharfes Zugreifen nicht vielleicht mehr Unheil anzurichten als Nutzen zu stiften i m Begriff ist; ob seine Entscheidung durch mangelndes Verständnis für berechtigte Belange des Wirtschaftslebens, der Presse, der kirchlichen Organisationen, der politischen Vereinigungen Zustände heraufbeschwören wird, die m i t Recht und Gerechtigkeit nur schwer vereinbar sind. Oftmals ist i n diesem Zusammenhang auch zu erwägen, inwieweit bei einem bestimmten Eingreifen der Rechtspflege i n das soziale Leben Aussicht besteht, daß die erstrebte Wirkung erreicht wird. Der Fallbearbeiter muß sich vergewissern, ob die betroffenen Kreise, also ζ. B. die Industriekonzerne, die Kaufmannschaft, die landwirtschaftlichen Berufsverbände, die Gewerkschaften seine Entscheidung zur Grundlage ihres künftigen Verhaltens machen oder ob sie Ausweichmöglichkeiten suchen und finden werden, denen gegenüber die Gerichte machtlos sind. Soweit der Jurist genötigt ist, Maßstäbe für das angemessene Verhalten i n bestimmten Situationen aufzustellen, hat er einerseits zu bedenken, wie stark aus sachlichen Gründen der Zwang zum Normieren gewisser Anforderungen ist, und andererseits, welches Maß an Disziplin und Selbstverleugnung vom einzelnen verlangt wird, wenn er dem i n Aussicht genommenen Richtmaß genügen soll. Es bedarf ferner der Überlegung, ob die Betroffenen von sich aus i n der Lage sein werden, dem aufgestellten Maßstab zu entsprechen und inwieweit etwa m i t dem Wirksamwerden von Faktoren zu rechnen ist, die die Erfüllung der an sie gestellten Anforderungen erleichtern oder erschweren. Solche Erwägungen gehören i n das weite Gebiet der Realisierungsbedingungen, deren Beachtung dem Rechtsanwender heute zur Pflicht gemacht ist. Ohne ihre Berücksichtigung erscheint ein gezieltes Eingreifen i n die Umwelt mittels juristischer Stellungnahmen meist wenig aussichtsreich. Oftmals stößt dieses gerade deshalb ins Leere, w e i l die Verwirklichungschancen nicht sorgfältig genug geprüft worden sind 2 9 . 29 ü b e r die einen T e i l der Ergebnisbetrachtung bildende Folgenbeurteilung Esser (1970) S. 143 ff.; Kühler (1975) S. 52 ff.; Rottleuthner, Rechtswissenschaft
2. Ergebnisbeurteilung als neuartiges Element
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Auch wo der erstrebte Erfolg einer bestimmten Rechtsprechung als solcher nicht zweifelhaft sein kann, sind unerwünschte Nebenwirkungen, die sich jeweils einstellen können, i n die Betrachtung m i t einzubeziehen. Dabei gilt es zu klären, a) welche negativen Auswirkungen i m einzelnen zu erwarten sind, b) ob sie verhältnismäßig bedeutungslos erscheinen und deshalb i n Kauf genommen werden können bzw. falls das nicht ohne weiteres feststeht: c) m i t welcher Wahrscheinlichkeit sie eintreten werden, d) welche Möglichkeiten, sie zu neutralisieren, i m gesellschaftlichen Bereich vorhanden sind und i n welchem Umfang von diesen voraussichtlich (mit welcher Wirkung?) Gebrauch gemacht werden w i r d ; welche Gegenmaßnahmen der Rechtspflege zur Kompensierung schädlicher Nebenerscheinungen zur Verfügung stehen und inwieweit diese i m Rahmen des gerade zu fällenden juristischen Urteils getroffen werden können. Mancher w i r d vielleicht so viele konkrete Darlegungen als überflüssig empfinden. Aber sie sind, wenn eine fruchtbare Erörterung möglich werden soll, dort unentbehrlich, wo der einzelne das zur Anreicherung der abstrakten Erwägungen nötige Detail nicht bei der Hand hat. I n dieser Lage ist mitunter selbst der Praktiker, der zwar mit den einschlägigen Fakten ständig i n Berührung kommt, sie jedoch oftmals noch nicht entsprechend verarbeitet hat. Man kann nicht erwarten, daß es dem Rechtsanwender durchgehend gelingt, den neuartigen Anforderungen zu genügen, die auf diese Weise an i h n gestellt werden; sie machen i h m oftmals schwer zu schaffen. Bisweilen sehnt er sich vielleicht insgeheim sogar nach dem Zustand weitgehender Sorglosigkeit zurück, i n dem sich frühere Juristengeschlechter hinsichtlich des Rechtsfindungsergebnisses und seiner Konsequenzen für die Betroffenen bzw. die Gesamtheit befunden haben. Zum mindesten würde es nicht verwunderlich sein, wenn solche Gedanken ab und an aufkämen. Denn der Zwang zu intensiver Ergebnisreflektion S. 206 ff.; Schwerdtner (1971) S. 241. Skeptisch gegenüber der Folgenorientierung als einer brauchbaren Hilfe f ü r die Rechtsgewinnung Luhmann (1974) S. 31 ff., 36, 48; eine umsichtige Interpretation seiner H a l t u n g gibt Teubner (1975) S. 179 ff. M i t Recht fordert Luhmann, daß, w e n n man schon die Folgenerwägung als Entscheidungskriterium verwenden w i l l , feste G r u n d sätze f ü r ihre Handhabung aufgestellt werden müßten. Davon sind w i r freilich zur Zeit noch ziemlich w e i t entfernt; vgl. jedoch die Darlegungen von Hopt (1972) S. 71 ff., (1975) S. 346 f., Rüs'smann (1975) S. 352 ff. sowie unter dem Aspekt der elektronischen Datenverarbeitung Kilian S. 211 ff. Einen guten Überblick bezüglich der i n diesem Bereich zu klärenden Einzelfragen gibt H.-J. Koch (1973) S. 205.
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1. Teil: I I . Einfluß spezieller Tendenzen auf die Rechtsgewinnung
stellt eine i n ihrer heutigen Gestalt lange Zeit unbekannt gewesene neue Belastung für den Fallbearbeiter dar. Auch i m außerdeutschen Bereich ist vielfach eine gewisse, auf Rechtsfindung vom Ergebnis her gerichtete Tendenz zu beobachten. Freilich darf man nicht erwarten, daß dort die gleichen Techniken zur Vermeidung unangepaßter juristischer Lösungen i n Anwendung sind, wie die westdeutsche Jurisprudenz sie entwickelt hat. Vielmehr muß damit gerechnet werden, daß außerhalb unserer Grenzen versucht wird, das gleiche Ziel mit anderen M i t t e l n zu erreichen. W i l l man, die Tatsachenebene verlassend, den Wert bestimmen, den die Ergebnisreflektion für die Rechtsfindung hat, so sollte ihre Bedeutung nicht überschätzt werden. Sie stellt kein stets erfolgversprechendes Mittel zur Überwindung aller erdenklichen Hindernisse dar. So wichtig sie für die Gewinnung des angemessenen Urteils auch sein kann, geht ihre Brauchbarkeit über einen bestimmten Rahmen nicht hinaus. Die klassischen Rechtsfindungsbehelfe vermag sie oftmals zwar wirkungsvoll zu ergänzen, aber nicht zu ersetzen 30 . Schon aus rein tatsächlichen Gründen erbringt die Ergebnisbetrachtung mitunter keine endgültige Klarheit; insbesondere dann nicht, wenn zahlreiche, schwer kalkulierbare Momente mitsprechen und infolgedessen der vom Rechtsanwender benötigte höhere Wahrscheinlichkeitsgrad nicht erreichbar ist. Je unsicherer das durch Ergebnisbeurteilung zustande kommende Resultat ist, desto näher liegt es für den Bearbeiter, sich auf die Lösung zurückzuziehen, die an Hand der klassischen Rechtsgewinnungsmethode erarbeitet worden ist. 3. Eigenverantwortliche Mitarbeit des Rechtsanwenders Einführende Bemerkungen
Wenn jetzt nochmal i m Zusammenhang die aktive Teilnahme des praktizierenden Juristen an der Rechtsfindung betrachtet wird, so ist dabei weder sein Anteil an der Lenkung des Prozeßverfahrens gemeint, noch seine M i t w i r k u n g bei der Rekonstruktion des Sachverhalts, sondern seine stärker gewordene Beteiligung an der inhaltlichen Gestaltung des juristischen Urteils. Innerhalb dieses Rahmens richtet sich die Aufmerksamkeit nicht i n erster Linie auf die Sorge des Bearbeiters u m eine korrekte Gesetzesauslegung i m engeren Sinn, sondern auf seine Rechtsfindungsbemühungen i n den Fällen, i n denen er über die eigentliche Norminterpretation hinausgehend m i t vorrechtlichen Materialien zu arbeiten hat. 30 Müller (1976) S. 17 wendet sich deshalb m i t guten Gründen dagegen, daß n u r noch v o m Ergebnis her gedacht u n d argumentiert w i r d .
3. Eigenverantwortliche Mitarbeit des Rechtsanwenders
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Gerade i m Umgang m i t ihnen vermag sich die Einwirkung des Rechtsanwenders auf den Verlauf und das Ergebnis der Rechtsfindung voll zu entfalten. Teils bleibt er dabei noch weitgehend durch das Gesetz gefesselt, teils ist er ganz auf sich gestellt. Zwischen beiden gegensätzlichen Positionen gibt es eine Vielzahl von Abstufungen. Zu ihnen gehören die vielen Rechtsfindungslagen, i n denen zwar noch eine gewisse Lenkung durch das Gesetz vorhanden ist, aber vom Fallbearbeiter auch eine selbständige geistige Leistung erfordert wird. Dieser bedient sich bei Vornahme von Eigenbeurteilungen i n vieler Hinsicht der gleichen Methoden, wie sie der Gesetzgeber anwendet und stellt oft ganz ähnliche Einzelerwägungen an. Seine Lage ist zwar insofern eine andere, als er auch Elemente verwerten kann, die der unmittelbaren Gegenwart entstammen und die dem historischen Gesetzgeber nicht bekannt waren. I m übrigen jedoch strebt er beim Arbeiten i m gesetzesfreien Raum ebenso wie der Gesetzgeber nach einer auf allgemeingültigen Gesichtspunkten beruhenden Regelung; und zwar nach einer solchen, die sich nicht nur i m Augenblick bewährt, sondern sich voraussichtlich für längere Zeit durchhalten läßt 3 1 . Er versucht dabei, soweit es irgend geht, unter Zuhilfenahme der Phantasie auch etwaige Änderungen der Gesamtsituation m i t den aus ihr hervorgehenden besonderen Notwendigkeiten zu umfassen und i n seine Überlegungen einzuschließen. Fragt man praktizierende Juristen nach der Rechtfertigung für die erweiterten Aktivitäten, die sie bei der Rechtsgewinnung entwickeln, so w i r d meist zunächst auf A r t . 20 Abs. 3 des bundesdeutschen Grundgesetzes hingewiesen, der zwar ebenso wie Art. 97 die Fesselung des Richters an das Gesetz betont, aber darüber hinaus seine Bindung an Gesetz „und Recht" statuiert 3 2 . Forscht man jedoch weiter, so ergibt sich häufig, daß die Bezugnahme auf diese Bestimmung nur der positivrechtlichen Absicherung dienen soll, während die Motive, die als die eigentlich wesentlichen angesehen werden, anderer A r t sind. Diese haben oftmals vorwiegend pragmatischen Charakter. Viele unserer Juristen gehen auf Grund ihres beruflichen Erlebens von der Überzeugung aus, daß die komplizierten Gegenwartsaufgaben vielfach 31 Über die spezielle Eigenart der gesetzgeberischen Tätigkeit u n d der eigenverantwortlichen A r b e i t des Rechtsanwenders: Pawlowski (1974) S. 279 ff. 32 Insoweit w i r d auf die Literaturangaben bei Wolfg. Birke, Richterliche Rechtsanwendung u n d gesellschaftliche Auffassungen (1968) S. 10 ff. sowie bei Ebsen S. 36 ff. verwiesen. Die Vielschichtigkeit des behandelten Problemkreises zwingt zur Selbstbeschränkung. Demgemäß w i r d hier u n d i n ähnlich liegenden Fällen von einem näheren Eingehen auf rechtswissenschaftlich gut durchgearbeitete Streitfragen abgesehen u n d auch wegen des Schrifttums auf anderweit vorhandene Nachweise Bezug genommen, w e n n dies ohne Schaden für die Sache geschehen kann.
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1. Teil: I I . Einfluß spezieller Tendenzen auf die Rechtsgewinnung
nur m i t Hilfe einer Arbeitsweise zu bewältigen sind, bei der der Rechtsanwender zu eigenen Richtigkeitserwägungen fortschreitet. Mitunter läßt man es einfach bei der Erwägung bewenden, daß, wenn vom Fallbearbeiter eine der Zeitlage und dem allgemeinen Rechtsbewußtsein entsprechende juristische Entscheidung verlangt wird, i h m auch eine vergleichsweise freiere Rechtsfindungsmethode erlaubt sein müsse, weil dieses Ziel nach der i n der Praxis vorherrschenden Auffassung ohne eine solche nicht erreichbar ist 3 3 . Darin liegt immerhin die Berufung auf ein schwer widerlegbares Argument der praktischen Vernunft, das freilich eine weitere nachhaltige Bemühung u m die prinzipielle Seite des Problems keineswegs entbehrlich macht. Es erhält seine Überzeugungskraft letzten Endes aus der i n der deutschen Rechtsanschauung offenbar besonders stark ausgebildeten Sehnsucht nach Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit, die die Rechtsgemeinschaft beherrscht und bereits als Haupttriebkraft der neueren Rechtsentwicklung charakterisiert worden ist 3 4 . Der Fallbearbeiter ist sich bei seiner Haltung zudem dessen bewußt, daß er die allgemeine Meinung auf seiner Seite hat und sieht das mitunter bereits als Bestätigung der von i h m eingenommenen Grundposition an. Die früher meist sehr ernst genommene Frage, ob der praktizierende Jurist beim Fehlen einer einschlägigen Gesetzesvorschrift das Umweltgeschehen und damit auch menschliches Verhalten i n bestimmten Situationen einer normativen Regel unterwerfen darf, die er eigenverantwortlich erarbeitet hat und die m i t h i n i n gewissem Sinne erst von i h m selbst geschaffen worden ist, w i r d i n der westdeutschen Rechtspraxis, soweit man sie überhaupt stellt, meist ohne sonderliche Gewissensbedenken bejaht. Häufigkeit des Rückgriffs auf außergesetzliche Materialien Darüber, ob der Fallbearbeiter häufig oder nur verhältnismäßig selten zur Arbeit m i t vorpositiven Orientierungsmitteln seine Zuflucht nehmen muß, besteht unter den Juristen keine einheitliche Meinung. Sucht man bei Vertretern der verschiedenen juristischen Berufszweige zu erkunden, ob sie für ihre Person i n bestimmtem Umfang eine aktive, die eigentliche Normauslegung überschreitende Beteiligung an der Rechtsfindung bejahen würden, so lautet die A n t w o r t keineswegs immer schlechthin bejahend. 33 Fischer (1971) S. 29; Heusinger S. 107; Werner 34 I m einzelnen dazu vor allem Less S. 88 ff.
S. 274.
3. Eigenverantwortliche Mitarbeit des Rechtsanwenders
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Soweit eine solche Mitarbeit grundsätzlich zugegeben wird, besteht vielfach die Neigung, sie möglichst zu verkleinern. Meist machen sich gerade diejenigen, die von einer eigenverantwortlichen Beteiligung des Praktikers an der Rechtsgewinnung prinzipiell nicht viel halten, keine Vorstellung davon, i n wie weitem Umfang diese — vielfach unreflektiert — i n ihrer eigenen Berufsarbeit mitspricht. Sie haben oft keinen Blick für das weite Feld des gesetzlich nicht Geregelten, auf dem eine ständige intensive Mitarbeit des Rechtsanwenders unbedingt notwendig ist. Deshalb bedarf es eines näheren Eingehens auf diese Frage. Gewiß sind viele Zweifel, die der einzelne Fall aufwirft, vom Gesetz so eindeutig geregelt, daß m i t Bezug auf sie für ein eigenverantwortliches Eingreifen des Bearbeiters keine Gelegenheit gegeben ist. Aber ebenso sicher dürfte sein, daß es i n den meisten Prozeßsachen auch Punkte gibt, bezüglich deren der Rechtsanwender gänzlich ratlos sein würde, wenn er gezwungen wäre, sich ohne außergesetzliche Orientierungsmittel zu behelfen. Neben den Fällen, i n denen das Gesetz i n der fraglichen Hinsicht keine Anordnung enthält, sind vor allem die Lagen praktisch bedeutsam, i n denen die Rechtsnorm zwar eine Direktive enthält, jedoch eine solche, die Zweifel offen läßt. Häufig knüpft die gesetzliche Vorschrift die Rechtsfolge an das Vorliegen von Merkmalen, die m i t Rücksicht auf den gegebenen Sachverhalt einer näheren Bestimmung bedürfen, ohne daß diese allein mit Hilfe der klassischen Auslegungsmittel getroffen werden könnte. Mitunter enthält das Gesetz nur für den Kernbereich des Regelungsgebiets eine wirkliche Klarstellung, während in den Randzonen die Präzision verloren geht, so daß die Vorschrift dort keinen bis ins Detail gehenden Zwang mehr auszuüben vermag. Bei mancher Gesetzesbestimmung, die zunächst eindeutig erschien, zeigt sich erst nachträglich, daß sie einiges offen gelassen hat und daß es einer Interpolation durch den Rechtsanwender bedarf, u m sie voll funktionsfähig zu machen. Soweit die vorhandenen Ungewißheiten durch Gesetzesinterpretation nicht zu beseitigen sind, können sie nur an Hand von außergesetzlichen Bezugspunkten behoben werden, deren rechtliche Erheblichkeit erst geklärt werden muß. I n neuerer Zeit hat nicht zuletzt das Bemühen u m eine gewissenhafte Auswertung der i n unserer Verfassung enthaltenen Grundrechtsbestimmungen bewirkt, daß eine Vielzahl ursprünglich met ajuristischer Gesichtspunkte auf legitime Weise i n die juristische Erörterung hineingelangt ist. Denn obwohl die Grundrechtsartikel als Lenkungsinstrument von größter Bedeutung sind, vermögen sie den Bearbeiter oft nicht endgültig zu determinieren, sondern lassen allgemein oder doch für den Einzelfall mehrere Auffassungsmöglichkeiten zu.
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1. Teil: I I . Einfluß spezieller Tendenzen auf die Rechtsgewinnung
Der zur Entscheidung berufene Jurist entbehrt m i t h i n i n vieler Beziehung der richtunggebenden Weisungen. Oft geht es dabei nur um einen sog. Nebenpunkt. Der Bearbeiter vermißt häufig gerade für die kleinen, aber gleichwohl wichtigen Teilschritte, die er i m Verlauf der Rechtsfindungsbemühungen tun muß, eine unmißverständliche Direktive. Nicht selten bleibt er aber auch an den entscheidenden Weggabelungen ohne die benötigte Anleitung von Seiten des Gesetzgebers, so daß er versuchen muß, sich selbst weiterzuhelfen. Immer wieder w i r d fraglich, ob er den Norminhalt so gelten lassen soll, wie dieser sich auf Grund schlichter Auslegung darstellt, oder ob er darüber hinauszugehen hat. Sorgfältige Überlegungen werden insbesondere notwendig, wenn zweifelhaft ist, ob die für den Normalfall konzipierte Gesetzesvorschrift ohne entsprechende Zurichtung auch dort angewandt werden darf, wo Momente i m Vordergrund stehen, an die der Gesetzgeber nicht gedacht und die er deshalb nicht berücksichtigt hat. Soweit das Gesetz Hinweise enthält, wie derartige Ungewißheiten zu bereinigen sind, stellen sie mitunter nur mehr oder minder vage Anhaltspunkte dar, die m i t Hilfe von transpositiven Materialien erst erprobt werden müssen. Selbst wenn diese dem Bearbeiter durch die rechtswissenschaftliche Dogmatik oder durch Vorentscheidungen der Gerichte i n bereits bearbeiteter Form zur Verfügung gestellt werden, müssen sie oftmals erst auf den gegebenen Sachverhalt zugepaßt und mit Rücksicht auf ihn weitergedacht werden. Aus alledem geht hervor, daß die juristische Lösung keineswegs durch das Gesetz endgültig festgelegt ist. Der Rechtsanwender, der ehedem die Prüfung der Richtigkeitsfrage dem Gesetzgeber überlassen mußte, sieht sich heute vielfach zu tätigem Vorgehen genötigt. Dabei kann es geschehen, daß er, u m zu einer vertretbaren Lösung zu kommen, sprachlich offenbar zu eng formulierte oder zu weit gefaßte Bestimmungen (unter gebührender Beachtung der gesetzgeberischen Intention) richtigstellen muß. Unter Umständen kommt er dahin, einer Vorschrift, die vom Gesetzgeber i n einem begrenzten Rahmen konzipiert wurde und der nach seiner Vorstellung nur eine bescheidene Bedeutung zukommen sollte, eine darüber hinausgehende Wichtigkeit zu geben oder sie gar zu einem königlichen Paragraphen auszugestalten, wie die Rechtsprechung zu § 242 BGB es getan hat. Nicht selten muß m i t h i n erst der Rechtsanwender festlegen, i n welchen Fällen die Norm so angewandt werden soll, wie sie sich gibt, und in welchen sie nur i n modifizierter Form zum Zuge zu kommen bzw. als Entscheidungsgrundlage ganz außer Betracht zu bleiben hat. Er ist dabei zuweilen genötigt, ganze Gruppen von Fällen, die ursprünglich
3. Eigenverantwortliche Mitarbeit des Rechtsanwenders
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i n den Geltungsbereich einer Gesetzesvorschrift zu gehören schienen, aus i h m herauszunehmen und einer abweichenden Behandlung zu unterstellen oder umgekehrt Sachverhalte, die zunächst als von der Norm nicht erfaßt angesehen wurden, i n ihren Einflußbereich einzubeziehen. Häufig verleiht der Fallbearbeiter dem gesetzgeberischen Gedanken auf diese Weise erst seine eigentliche Fassung. Er nimmt neben dem Gesetzgeber an der Erstellung des „Programms" teil und trägt unter Heranziehung außergesetzlicher Gesichtspunkte zur Konstituierung von Recht bei. Es w i r d kaum des Hinweises bedürfen, daß seine das Gesetz konkretisierende und modifizierende Tätigkeit weit über das hinausgeht, was man bisher meist unter richterlicher Rechtsfortbildung bzw. unter Richterrecht verstanden hat 3 5 . Sie w i r k t sich auch dort aus, wo der Beitrag des praktizierenden Juristen zur Entwicklung neuer rechtlicher Regelungen sich nicht i n einem sensationellen Wandel der Rechtsprechung oder i n der Ausbildung dogmatisch verfestigter Institutionen wie der culpa i n contrahendo niederschlägt, sondern sich i n unscheinbarer, oft lange Zeit nicht faßbarer Weise vollzieht. Versucht man die heute gegebene faktische Situation zu kennzeichnen, so kann i n der Tat davon gesprochen werden, daß i n Verfolg der neuzeitlichen Veränderungen zwischen Gesetzgeber und Rechtsanwender eine Teilung des Aufgabenbereichs stattgefunden hat, für den früher der Gesetzgeber allein zuständig gewesen war. Man hat aus dieser Perspektive m i t gewissem Recht von einer quasi-gesetzgeberischen Funktion des Fallbearbeiters gesprochen und ihn als eine A r t Zweitgesetzgeber bezeichnet. Die Entwicklung ist bereits weiter fortgeschritten, als viele der wissenschaftlichen Stellungnahmen zu diesem Problemkreis erkennen lassen. W i r sind tiefer i n sie verstrickt, als die meisten ahnen. Zudem dürften trotz vielfacher Bemühungen, eine Rückkehr zur streng gebundenen Gesetzeshandhabung zu erreichen, die Aussichten i n dieser Hinsicht vorerst nur gering sein. Darüber macht man sich augenscheinlich sowohl i n der Rechtspraxis als auch i n der Rechtswissenschaft keine Illusionen 3 6 . Die verantwortliche M i t w i r k u n g des Fallbearbeiters an der Rechtsfindung muß daher, gleichgültig ob man ihr positiv oder 35 Z u vergleichen wären etwa Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen (1965) u n d Arndt / Heinrich / Weber-Lortsch, Richterliche Rechtsfortbildung (1970). se Adomeit (1969) S. 23, (1970) S. 179; Ad. Arndt (1963) S. 1273 ff.; Hilger S. 109 ff.; Coing (1975) S. 274 ff.; Fischer (1971) S.29ff.; Heusinger S.53ff.; Kriele (1967) S. 244 ff.; Larenz (1975) S. 350 ff.; Less S. 97 ff.; Pehle-Stimpel S. 4 ff.; Redeker (1972) S. 409 ff. m i t weiterem Schrifttum.
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. Teil: I I . Einfluß spezieller Tendenzen auf die Rechtsgewinnung
negativ gegenübersteht, zum mindesten als eine reale Tatsache der neueren Rechtsentwicklung betrachtet werden. Sie bedarf m i t h i n einer Analyse, die der Bedeutung dieses Grundphänomens entspricht. Die Einfiußmöglichkeiten des Rechtsanwenders und ihre Grenzen
Welche Chancen der rechtanwendende Jurist unter den ten zur Beeinflussung des Entscheidungsinhalts besitzt, sehr unterschiedliche Ansichten möglich. Diese pflegen Grundanschauungen, auf denen sie beruhen, mehr oder einander abzuweichen.
neuen Aspekdarüber sind je nach den weniger von-
Wer an den klassischen Leitvorstellungen festhält, ist meist geneigt, die für eine solche Wirksamkeit des Rechtsanwenders bestehenden Handhaben und die mit ihnen verbundenen Erfolgsaussichten zu unterschätzen. Wer dagegen die überkommenen Vorstellungen vom Hergang der Rechtsfindung hinter sich gelassen hat, w i r d die insoweit dem Fallbearbeiter gegebenen Möglichkeiten vielleicht für nahezu schrankenlos halten. Eine einigermaßen verläßliche Stellungnahme ist erst nach Aufbereitung des konkreten Materials zu erwarten. Wirkungen können von der Rechtsfindungsarbeit i n den vom Gesetz gezogenen Grenzen, wie oben bereits ausgeführt worden ist, auch auf die Gesamtlage ausgehen. Dem Rechtsanwender ist es gegebenenfalls möglich, gewisse Tendenzen zu stärken oder zu schwächen. Er ist i n der Lage, durch seine Rechtsauffassung bestimmte geistige Positionen zu schützen und andere schutzlos zu lassen. Der Einfluß, den er durch seine juristischen Stellungnahmen zum Segen oder zum Unsegen auf die wirtschaftlichen Zustände und das soziale Zusammenleben üben kann, hat heute ein weit größeres Ausmaß als etwa vor einem Jahrhundert. Er besitzt nicht nur durch die A n wendung der gesetzlichen Generalklauseln, sondern auch durch seine sonstige wertende Tätigkeit i n dem i h m übrig bleibenden Freiraum wichtige Wirkungschancen. Gegebenenfalls ist er i n der Lage, durch seine Rechtshandhabung einem ungesunden Erwerbsstreben Grenzen zu setzen sowie die m i t den herrschenden Gerechtigkeitsanschauungen unvereinbare Ausnutzung einer Machtposition zu verhindern. Er hat es oftmals i n der Hand, angemaßter Machtausübung von Menschen und Menschengruppen, wozu auch willkürliche Verhaltensweisen öffentlicher Stellen gehören, entgegenzuarbeiten. I h m stehen nicht selten M i t t e l und Wege zur Verfügung, mit deren Hilfe mehr soziale Gerechtigkeit, mehr effektive Selbstbestimmung, mehr Menschlichkeit erreicht werden kann 3 7 , mag von ihnen auch oft genug aus den verschiedensten Gründen nicht der rechte Gebrauch gemacht werden. 37 Wassermann
(1972) S. 48 ff.
3. Eigenverantwortliche Mitarbeit des Rechtsanwenders
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Bei i h m liegt es häufig, durch Zusprechen oder Aberkennen von Ansprüchen Haltungen zu bekämpfen, die dem Gesamtinteresse eindeutig zuwiderlaufen, oder umgekehrt durch unzulängliche wirtschaftliche, soziale, politische Sachkunde, durch psychologisches Ungeschick, durch Verwendung falscher M i t t e l oder ähnliche Mißgriffe beträchtlichen Schaden anzurichten. Er ist imstande, ungerechtfertigte Einschränkungen der individuellen Freiheit zu verhindern und andererseits Rücksichtslosigkeiten einzelner gegenüber fundamentalen Belangen der Gemeinschaft zu begegnen, wenn auch die besten Gelegenheiten dazu mitunter ungenutzt bleiben. Der Rechtsanwender kann nachhaltig i n den Kampf der Wertanschauungen eingreifen, indem er die Werte auf Grund der i m Gesetz vorhandenen Anhaltspunkte i n eine bestimmte Rangordnung zueinander bringt. Manchmal gelingt es ihm, Machtkämpfe zwischen einzelnen Gruppen innerhalb der Gesellschaft zum Vorteil für das allgemeine Beste i n geregelte Bahnen zu lenken und durch sein Eingreifen unfruchtbare Streitigkeiten zu beenden, während er bei solchen Gelegenheiten durch innere Befangenheit oder taktische Fehler auch wieder alles verderben kann. Daß der Richter (Rechtsanwender) Maßnahmen zu treffen hat, die i n deutlich sichtbarer Weise neue soziale Geschehensabläufe i n Gang setzen, w i r d vielleicht nur selten vorkommen. Dagegen ist er oftmals i n der Lage, bereits i m Gange befindliche Entwicklungen i n eine bestimmte Richtung zu lenken. Bisweilen hängt es von i h m ab, ob i n der gesellschaftlichen Praxis sich ein bestimmter Grundsatz, ein Begriff, ein Gedanke entfalten kann, i n bezug auf den der Gesetzgeber sich indifferent verhalten hat. Mitunter gelingt es ihm, verschwommene Elemente des allgemeinen Bewußtseins soweit zu klären, daß sie zu ordnungstiftenden Faktoren des Gemeinschaftslebens werden, mag auch der Versuch dazu noch so oft mißlingen oder nur teilweisen Erfolg haben. Manchmal kann eine glückliche Begriffsprägung, ein einleuchtendes Argument, eine gut gelungene Formulierung i n den Urteilsgründen (insbesondere der Obergerichte) die Rechtsauffassung i n einem bestimmten Punkt auf lange Zeit entscheidend beeinflussen oder i n weniger günstig liegenden Fällen doch eine vorläufige Richtlinie für die unteren Instanzen abgeben. Es handelt sich hier nicht u m juristische „Allmachtsphantasien", sondern u m eine wirklichkeitsgetreue Betrachtung über die Möglichkeiten, die der Rechtsanwender besitzt. Dabei w i r d keineswegs verkannt, daß diese oftmals nicht wahrgenommen werden. Die Gerichte stellen neben dem Parlament, der Regierung, den politischen Parteien, der Presse, der Kirche usw. eine meinungbildende
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1. Teil: I I . Einfluß spezieller Tendenzen auf die Rechtsgewinnung
K r a f t dar. Die von ihnen ausgehenden juristischen Stellungnahmen sind eine sachliche Gegebenheit, mit der stets gerechnet werden muß und auch tatsächlich gerechnet wird. Jeder einzelne Richter (Rechtsanwender) nimmt auf diese Weise m i t seinen rechtlichen Entscheidungen, selbst wenn sie sich i m Einzelfall wenig bedeutsam ausnehmen, an der Entwicklung des öffentlichen Bewußtseins teil. Viele Juristen haben darüber freilich keine der Wirklichkeit entsprechende Vorstellung. Ihnen w i r d oft nur i n Ausnahmefällen bewußt, daß sich ihre Tätigkeit nicht i n der Regelung von Einzelschicksalen erschöpft, sondern sich auch i m Großen auswirkt und die Gesamtsituation mitbestimmt. Es w i l l ihnen nicht i n den Sinn, daß sie selbst dort, wo weder die Fachzeitschriften noch die Tageszeitungen von ihrer Arbeit Notiz nehmen, an der Gestaltung des Gemeinschaftslebens beteiligt sind. Und doch werden mitunter Fragen von großer Tragweite durch äußerlich unauffällige rechtliche Beurteilungen entschieden. Deren Einfluß ist vielfach sogar dann am größten, wenn sie keinerlei Aufsehen verursachen. Gerade die stillen Dienste, die, obwohl sie noch auf der Linie der bisherigen Auffassung zu liegen scheinen, den Wandlungen der Gesamtlage bereits Rechnung tragen, sind unter Umständen am wirksamsten. Auch i n Ländern, i n denen vom Juristen eine strikte Gesetzesbefolgung ohne sonderliche Rücksicht auf das Ergebnis erwartet wird, vermag dieser viel zu tun, u m grobe Ungerechtigkeiten zu verhindern oder wenigstens zu mildern. Selbst i n Rechtsgemeinschaften m i t einem durch die Zentralgewalt straff gelenkten Rechtsverständnis hat er, so unwahrscheinlich das zunächst klingen mag, manche Gelegenheit, i n engerem Rahmen mitbestimmend einzugreifen. Freilich w i r d er das meist nicht zugeben wollen und bemüht sein, das Bewußtsein eigener Mitarbeit, wo es etwa hervortritt, rasch wieder zu verdrängen. Selbst dort, wo der Richter (Rechtsanwender), wenn er überleben und seinen Einfluß auf die Entwicklung nicht ganz verlieren w i l l , sich als völlig ergebener Schrittmacher der herrschenden Gewalten geben muß, kann er i n dem vom Gesetz nicht erfaßten Bereich noch mancherlei zur Verwirklichung von Recht und Gerechtigkeit t u n bzw. i n sehr ungünstig gelagerten Fällen wenigstens das Schlimmste verhüten 3 8 . Mitunter ist er auch i n so beengter Lage imstande, dem sachlich A n gemessenen auf eine Weise zur Geltung zu verhelfen, die allgemein unverfänglich erscheint. Deutsche Juristen haben während der nationalsozialistischen Zeit vielfache Gelegenheit gehabt, i n dieser Hinsicht Erfahrungen zu sammeln. s» Kirchheimer S. 326 f.; V. Knapp, les pays socialistes S. 67 ff.
L a création d u droit par le juge dans
3. Eigenverantwortliche Mitarbeit des Rechtsanwenders
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Trotz der größeren Freiheit des Rechtsanwenders beim Arbeiten i m gesetzlich nicht determinierten Raum ist seine eigenverantwortliche Tätigkeit jedoch auf vielerlei Weise eingeschränkt 39 . Z u umfassenderen Planungen, wie sie dem Gesetzgeber möglich sind, ist er nicht i n der Lage. Meist hat er nur bestimmte Einzelfragen klarzustellen, wie sie sich gerade aus der von i h m zu entscheidenden Rechtssache ergeben. Wichtige Weichenstellungen sind i n aller Regel der Gesetzgebung vorbehalten. Der rechtanwendende Jurist kann, auch soweit das Gesetz i h n nicht behindert, längst nicht alles durchsetzen, was er i m Hinblick auf die erstrebte angemessene Lösung für notwendig halten darf. Der fortschrittlich Eingestellte ist unter Umständen genötigt, entgegen seiner progressiven Haltung am Überkommenen festzuhalten. I n gleicher Weise w i r d der vorwiegend auf Bewahrung des Bestehenden Bedachte, wenn er den Anschluß an die Entwicklung nicht verlieren w i l l , häufig gegen seine eigentliche Absicht gezwungen, herkömmliche Anschauungen und Einrichtungen entsprechend umzuformen oder von ihnen ganz Abstand zu nehmen. Bisweilen drängen widrige Umstände den Rechtsanwender i n eine i h m keineswegs zusagende Richtung hinein, ohne daß er sich erfolgreich dagegen zur Wehr setzen kann. Das sind Dinge, die vielleicht nur der verstehen wird, der längere Zeit i m Dienst am Recht praktisch tätig gewesen ist, i n welchem juristischen Berufszweig das auch immer sein mag. Oft genug läßt sich die Gerechtigkeitsvorstellung, die der Jurist mit Hilfe der i h m zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Geltung bringen möchte, nur annäherungsweise verwirklichen. Häufig muß er Abstriche machen und auf das verzichten, was augenblicklich unerreichbar ist. Nicht allein Fernwirkungen der Gesetzeslage können zur Einengung führen, sondern auch allgemeine Prinzipien, die das Rechtsgebiet (Sachenrecht, Wechselrecht, Arbeitsrecht, Strafrecht usw.) beherrschen, i n das der zu entscheidende Fall hineingehört. Mitunter schließen sie gerade die Lösungsversion, die als völlig befriedigend anzusehen sein würde, von vornherein aus. Weitere Behinderungen hängen mit den beim Arbeiten mit vorpositivem Material zu beachtenden methodischen Rücksichten zusammen, von denen später noch die Rede sein wird. Wichtige Barrieren bilden auch die realen Faktoren, die oft den Gesamtrahmen der Rechtsfindungsarbeit i n bestimmter Weise abstecken und eingrenzen. Dahin sind u. a. zu rechnen die gesellschaftliche Struktur der Rechtsgemeinschaft, die jeweilige Regierungsform, die Agrarverfassung, die mehr 39 Draht
(1968) S. 126.
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oder weniger fortgeschrittene Industrialisierung des Landes, die soziale Gliederung, die wirtschaftlichen Grundtatsachen, von denen ein stark richtunggebender Einfluß ausgeht. I n diesem Zusammenhang kommen neben der geographischen Lage, dem K l i m a und den sonstigen realen Umweltverhältnissen auch die charakterlichen Eigentümlichkeiten der Rechtsgenossen, ihr Temperament, ihre typischen Denkgewohnheiten, ihre Sitten und Gebräuche zur Geltung, die die juristische Arbeit nicht selten i n bestimmter Weise determinieren. Der Rechtsanwender selbst ist i n diesen Zyklus m i t eingeschlossen; denn er entscheidet ungeachtet mancher persönlicher Eigenheiten, die zurückzudrängen i h m sein Beruf nahelegt, i n erster Linie als A n gehöriger einer bestimmten Nation, die i n vieler Hinsicht zugleich eine Erlebnisgemeinschaft bildet und trotz häufiger Auffassungsunterschiede einen gewissen Fond übereinstimmender Grundansichten besitzt. Diese sind stillschweigend m i t i m Spiel und können unter Umständen die Freiheit der juristischen Erwägung beträchtlich schmälern. Die Reihe der einengenden Momente ist damit längst nicht abgeschlossen. Es könnte hier vielmehr noch auf zahlreiche andere Faktoren eingegangen werden, die einen ähnlichen Einfluß üben; so etwa auf die Verfahrensgesetze, die sich nicht selten als Hemmschuh erweisen; auf die Pflicht des Bearbeiters, sein Urteil einleuchtend zu begründen; auf die Traditionen der Jurisprudenz, die i h m einen bestimmten Arbeitsstil aufzwingen und bestimmte Argumente oft i n einseitiger Weise als nicht passabel verfemen usw. Doch w i r d auch ohnedem die Fülle der Behinderungen erkennbar geworden sein, die der Beurteilung gesetzlich nicht festgelegter Punkte Schranken setzen. I n der Vergangenheit sind alle diese Hindernisse, besonders auch die i m allgemeinen Aufbau der Gesellschaft liegenden nicht entsprechend gewürdigt worden, weil sie sich mit der herrschenden Vorstellung von der Eigenständigkeit der rechtlichen Sphäre nicht vertrugen. Je tiefer jedoch die Überzeugung von der engen Verbundenheit der Jurisprudenz m i t dem großen Strom der allgemeinen Entwicklung ins Bewußtsein jedes einzelnen eindringt, desto mehr w i r d auch das Verständnis für die Beschränkungen zunehmen, die der Rechtsfindungsarbeit durch sie aufgezwungen werden. 4. Gefolgschaft gegenüber dem Gesetz Betrachtet man das Verhältnis unserer heutigen Juristen zur Rechtsnorm, so zeigen sich beim Vergleich m i t den u m die Jahrhundertwende herrschenden Anschauungen wichtige Veränderungen. Das Vertrauen der älteren Zeit i n die Fähigkeit des Gesetzgebers zur angemessenen
4. Gefolgschaft gegenüber dem Gesetz
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Ordnung der menschlichen Verhältnisse war ehedem unbegrenzt gewesen. Unter der Einwirkung idealistischer Grundströmungen hatte sich die Überzeugung herausgebildet, daß er allen Situationen gewachsen und i n der Lage sei, den jeweils hervortretenden Problemen gerecht zu werden. Man war der Ansicht, daß er die für eine stichhaltige Regelung wesentlichen Momente vollkommen innehabe und daß es i h m auch möglich sei, das Gewollte sprachlich hinreichend präzise zum Ausdruck zu bringen. Von diesem Ansatzpunkt her bedurfte es, nachdem die Naturrechtsidee ihre ursprüngliche K r a f t größtenteils eingebüßt hatte und durch die unausgesetzten Attacken seitens der historischen Schule i n Verruf gebracht worden war, nur noch eines kleinen Schritts zu der i m späteren 19. Jahrhundert herrschenden Vorstellung, daß das Gesetz die alleinige Grundlage der Rechtsgewinnung bilde. M i t ihr stand die seinerzeitige Anschauung von den Aufgaben der juristischen Dogmatik i n engem Zusammenhang. Diese erschien, soweit der Gesetzesinhalt Zweifel übrig ließ, geeignet, den Rückgriff des rechtanwendenden Juristen auf außergesetzliche Gesichtspunkte zu verhindern oder doch ganz wesentlich einzuschränken. Sie stellte ihm, wo das Gesetz der gedanklichen Aufarbeitung bedürftig war, die nötigen Regeln und Grundsätze i n verfestigter Form zur Verfügung. Aus dem trefflichen Hineinpassen i n das seinerzeitige Denksystem erklärt sich, daß die Idee von der zentralen Bedeutung der juristischen Dogmatik für die praktische Rechtspflege so weitgehend Anklang fand. M i t ihrer Hilfe ist es damals gelungen, die gewaltigen Energien zu mobilisieren, die nötig waren, u m präzise juristische Grundsätze m i t starker Bindungswirkung zu entwickeln, an denen die Praxis eine feste Stütze finden konnte. Die dogmatischen Lehrsätze enthielten ihrerseits viele für die Rechtsgewinnung unentbehrliche vorpositive Materialien. Diese wurden dem Rechtsanwender m i t h i n über die Rechtslehre i n bereits bearbeiteter Form zur Verfügung gestellt, was i h m den Verzicht auf eine eigene Fahndung i m juristischen Vorfeld erleichterte. Die ordnungsmäßige Rechtsfindung erschien auf solche Weise besser gewährleistet als bei einer unmittelbaren Auswertung nichtpositivierter Unterlagen durch die Rechtspraxis. Die von der Wissenschaft erarbeiteten dogmatischen Lehrsätze wurden als den von der Rechtsprechung entwickelten Entscheidungsmaximen überlegen betrachtet, und das hohe Niveau der damaligen Rechtswissenschaft war geeignet, diese Auffassung noch zu bestärken. Aber seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ließ sich der Ausschluß des rechtanwendenden Juristen von der eigenen Erwägung außer4 Döhring
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echtsgewinnung
gesetzlicher Bestimmungsmomente nicht mehr voll aufrecht erhalten. Die wachsende Tendenz zur materiellen Gerechtigkeit und die ständig größer werdende allgemeine Empfindlichkeit gegenüber Achtlosigkeiten, die i n bezug auf sie vorkamen, führte dazu, daß weder die notwendigerweise allgemein gefaßte Rechtsnorm noch die gleichfalls mehr oder minder abstrakte juristische Dogmatik den neuen A n sprüchen hinreichend genügen konnten. Der Gesetzgeber zeigte sich oftmals unfähig, die maßgebenden Gesichtspunkte so i n seine Regelung eingehen zu lassen, daß diese den begründeten Erwartungen entsprach. Er vermochte vor allem die sich erst späterhin ergebenden Notwendigkeiten nicht vollständig zu übersehen und war vielfach nicht imstande, etwaigen neuen Lagen gerecht zu werden. A u f Grund dessen ergab sich m i t der Zeit immer deutlicher, daß der Fallbearbeiter es nicht mehr wie ehedem dabei bewenden lassen konnte, lediglich den gröbsten Unstimmigkeiten durch die Hintertür auszuweichen, sondern daß i h m gestattet werden mußte, m i t Bezug auf die von i h m zu treffende Entscheidung offen die Richtigkeitsfrage aufzuwerfen und sich entsprechend zu verhalten. Man wurde dessen inne, daß kein Gesetz bereits bei seinem Inkrafttreten das, was es erreichen möchte, durch präzise Anordnungen endgültig festzulegen vermag. Die Einsicht nahm zu, daß die Rechtsnorm oft nicht imstande sei, die aus der veränderten Gesamtlage sowie aus den Falleigentümlichkeiten hervorgehenden Momente angemessen zu berücksichtigen und daß deshalb der Fallbearbeiter zum Gesetzesinhalt manches hinzufügen müsse. Je hastiger die Gesetzgebung zu arbeiten genötigt war, wenn sie den Anschluß an die Erfordernisse der Zeit nicht verlieren wollte, und je unausgereifter mitunter ihre Regelungen ausfielen, desto dringender erschien die aktive M i t w i r k u n g des Bearbeiters bei der Rechtsgewinnung. Daraus hat sich mit der Zeit ein gewandeltes Verhältnis des Juristen zum Gesetz ergeben. Die Entwicklung drängte i h n zu einem mehr dynamischen Umgang m i t der gesetzlichen Regelung, weil nur ein solcher das Gesetz m i t dem Fortgang des Geschehens i n Einklang halten konnte. Die ältere Ansicht, der zufolge die Norm m i t ihrer Inkraftsetzung sich so verselbständigt, daß sie von der allgemeinen Entwicklung nicht mehr beeinflußt wird, ließ sich i n ihrer strengen Ausprägung nicht aufrecht erhalten. Vielmehr gewann die Auffassung an Boden, daß die gesetzliche Vorschrift der geistigen und realen Umwelt verbunden bleibt und sich den eintretenden Veränderungen i n gewissem Umfang anzupassen hat- Das Reichsgericht erklärte i n einer grundlegend gewordenen Entscheidung, daß das Gesetz, einmal erlassen, sich von der historischen
4. Gefolgschaft gegenüber dem Gesetz
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Situation, aus der es hervorging, unabhängig mache und infolgedessen imstande sei, sich den wechselnden Bedürfnissen der Zeit anzugleichen 40 . Man drang m i t h i n zu der Erkenntnis durch, daß m i t dem Erlaß des Gesetzes zwar der politische Meinungskampf u m seine Gestaltung ein Ende findet, daß es aber auch nach seinem Inkrafttreten m i t dem gesellschaftlichen Ursprungsbereich, dem es entstammt, verknüpft bleibt. Die Rechtsnorm wurde nunmehr, wenn das meist auch nicht klar zum Ausdruck gebracht wurde, i n der abstrakten Fassung, die die gesetzgebenden Körperschaften ihr gegeben hatten, als noch nicht perfekt angesehen 41 . Sie erschien i n dieser Gestalt nicht als etwas fertig Gegebenes, sondern als eine der Weiterbearbeitung bedürftige Vorform, der erst durch den Rechtsanwender die für (Jen Fall maßgebende Fassung verliehen werden muß 4 2 . Demgemäß war man sich trotz vieler Vorbehalte und Einschränkungen i m einzelnen weitgehend darüber einig geworden, daß die Norm vom Rechtsanwender weiter entwickelt werden muß, und zwar soweit ihr entsprechende Hinweise zu entnehmen sind, an Hand dieser Direktiven und, soweit diese fehlen, i m Anschluß an außerjuristische Orientierungshilfen, denen i m rechtlichen Bereich normative K r a f t zuerkannt werden kann. Dieser Auffassung hatte Oskar Bülow schon 1885 Ausdruck gegeben, freilich ohne die damals herrschende streng gesetzespositivistische Grundströmung irgendwie beeinflussen zu können. Das abstrakte stumme Gebot des Gesetzes (sagt er) vermag der vielfältigen stürmischen Bewegung des menschlichen Gemeinschaftslebens nicht völlig Herr zu werden. Das vermag es nur i m Bunde m i t der lebendigen Macht eines unmittelbar ins Leben eingreifenden Willens. Die Gesetzgebung denkt den Rechtsgedanken noch nicht fertig. Erst die rechtsbeteiligten Personen und, wenn diese nicht einmütig werden, der Richter denkt i h n zu Ende. I m Gesetz kommt der rechtsordnende Wille der Staatsgewalt noch nicht zum Abschluß. Vollendet t r i t t er erst i n dem richterlichen Rechtsspruch heraus 43 . — I n weitere Kreise drang dieser Gedanke nur ganz allmählich ein. Dabei wurde die Strenge der ehemals vom Rechtsanwender geforderten Gesetzesbeachtung nach und nach i n einer wichtigen Beziehung gemildert: Man war m i t der Zeit immer weniger geneigt, die i m engen Anschluß an den Gesetzestext gefundene juristische Entscheidung zu akzeptieren, wenn sie der gegenwärtigen Gesamtlage und dem Rechts40 RGZ Bd. 145 S. 359 ff. Gerh. Husserl , Recht u n d Zeit (1955) S. 23. 42 Müller (1976) S. 127 ff. 43 „Gesetz u n d Richteramt" (1885) S. 46. 4*
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bewußtsein der Zeit nicht entsprach. Demgemäß wollen sich unsere Juristen heute nicht mehr unbedingt auf die Lösung festlegen lassen, die die klassischen Auslegungsmittel ergeben, sondern sie bedienen sich vielfach neuer Methoden, die eine intensivere Auswertung des Norminhalts möglich machen und gegebenenfalls zu seiner Ergänzung durch nichtpositivierte Entscheidungsgrundlagen führen. Auf diese Weise geht freilich die mechanische Gesetzestreue, wie sie i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als das Ideal erschien, verloren. Statt dessen entsteht ein neuer Begriff der Gesetzesgefolgschaft. Ansatzpunkte dazu waren bereits i n der den Zeiten der älteren Interessenj urisprudenz entstammenden Formel vom denkenden Gehorsam enthalten gewesen, den der Jurist — wie Phil. Heck gelehrt hatte — der Rechtsnorm entgegenbringen sollte. Der Fallbearbeiter sah meist keinen rechten Sinn mehr darin, sich der Arbeit am Gesetz unter Ausschluß jeder Eigenwertung so nachhaltig hinzugeben, wie man es von den früheren Juristengenerationen gefordert hatte. Da der m i t Nachdruck verlangte Anschluß an das Gegenwartsdenken und die Fallindividualität m i t einer eng gefesselten Gesetzesauslegung nicht zu erreichen war, mußte der praktizierende Jurist zu einer A r t der Gesetzesbeachtung fortschreiten, die, ohne i n eine laxe Billigkeitsrechtsprechung zu verfallen, für derartige Rücksichten einen gewissen Spielraum ließ. Als eine brauchbare Handhabe zur Erlangung größerer Beweglichkeit erwies sich die sog. objektive Auslegungslehre, nach der die Norm so zu interpretieren ist, daß der Gesetzeszweck auch bei Wandlungen der Gesamtlage erreichbar bleibt. Sie war bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch Kohler, Binding und Wach begründet worden 4 4 , entwickelte sich aber erst später zu einer weitgehend anerkannten und i n der Rechtspraxis ständig benutzten Handhabe. I h r lag die neuzeitliche Erfahrung zugrunde, daß die klassischen Auslegungsmittel für sich allein mitunter kein lebensnahes Ergebnis möglich machen. M i t Hilfe der objektiven Interpretation konnte dagegen oftmals eine engere Beziehung zwischen der gesetzgeberischen Absicht und der mittlerweile veränderten Wirklichkeit hergestellt werden. Sie eröffnete die Möglichkeit, dem Gesetz ungeachtet inzwischen vor sich gegangener Wandlungen seine Funktionsfähigkeit zu erhalten. M i t ihrer Hilfe kann der Rechtsnorm eine zeitgerechte Anordnung auch i n bezug auf Situationen entnommen werden, die der Gesetzgeber nicht vorausgesehen hat bzw. die i h m bekannt waren, ohne daß sie von i h m in ihrer Bedeutung voll gewürdigt worden sind. Die objektive Lehre ließ bei korrekter Handhabung i n der Tat Lösungen zu, die der 44 Ebsen S. 9 ff.
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historische Gesetzgeber zwar nicht i m Sinn gehabt hatte, die er aber vermutlich gut geheißen hätte, wenn i h m die spätere Entwicklung bekannt gewesen wäre 4 5 . Die Anhänger der objektiven Auslegungstheorie beriefen sich darauf, daß die Norm, wenn sie trotz wesentlicher Änderung der Verhältnisse gemäß der ursprünglichen Interpretation weiter angewandt wird, den m i t ihr verfolgten Zweck unter Umständen gründlich verfehlen würde und daß der gesetzgeberischen Absicht durch strenges Festhalten am eng aufgefaßten Gesetzestext nicht Rechnung getragen werden könne. Es soll hier nicht zu dem Streit zwischen den Vertretern der subjektiven und der objektiven Lehre Stellung genommen, sondern nur auf die Chancen hingewiesen werden, die die objektive Theorie für eine Angleichung der juristischen Lösung an die dringenden Gegenwartserfordernisse bietet. Der große Anklang, den sie i n neuerer Zeit gefunden hat, dürfte in der Hauptsache darauf beruhen, daß sie dem allgemeinen Wunsch nach sozial angepaßten Entscheidungen sehr entgegenkommt. Eine bedeutsame Veränderung, die die objektive Auffassung i n den herrschenden Rechtsfindungsgewohnheiten hervorrief, bestand darin, daß sie den rechtanwendenden Juristen dazu anhielt, über die Verwirklichung der gesetzgeberischen Absicht unter veränderten Verhältnissen gründlicher als bisher nachzudenken. Darin lag ein neues Element. Ansätze dieser A r t hatte es auch schon i n der Rechtspraxis des 19. Jahrhunderts gegeben. Doch war damals alles Erdenkliche getan worden, um ihre Weiterentwicklung zu verhindern, während sie nunmehr i n dem Bemühen u m zeitnahe juristische Ergebnisse zielbewußt ausgebildet wurden. Es paßt durchaus i n diese Entwicklungsrichtung hinein, daß sich heute, nachdem die objektive Theorie längere Zeit das Feld beherrscht und die m i t ihrer Hilfe erstrebte Lockerungswirkung zuwege gebracht hat, auch wieder Verständnis für gewisse Vorzüge der subjektiven Auslegungsmethode zeigt, freilich ohne daß man sich von der objektiven Auffassung abwendet, die als Wegbereiter der materiellen Gerechtigkeit nach wie vor große Bedeutung hat. Eine Angleichung der Rechtsnorm an die veränderten Umstände w i r d auch durch den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsatz der verfassungskonformen Auslegung erleichtert. Er ver4 5 RGZ Bd. 145 S. 366: E i n Gesetz, das Geltung f ü r längere Zeit beansprucht, k a n n nicht ohne Rücksicht auf die wechselnden Anschauungen richtig v e r standen werden. „ I n solchen Fällen w i l l der Gesetzgeber selbst auch künftige Entwicklungen berücksichtigt wissen." Über den vergleichsweise geringen Einfluß der objektiven Interpretationstheorie i n Frankreich Fabreguettes, L a logique judiciaire S. 502 u n d Fikentscher Bd. 1 S. 544; zur anwendungszeitlichen Gesetzesauslegung durch die Schweizer Gerichte Bär (1973) S. 16.
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dankt seine Entstehung dem Umstand, daß die gegenwärtige Normierung der Grundrechte, anders als es nach der Weimarer Verfassung der Fall war, m i t unmittelbarer Verbindlichkeit ausgestattet worden ist. Den Grundrechten kommt daher heute für die gesamte Rechtsgewinnung erhöhte Aktualität zu; sie gehören zum unentbehrlichen Handwerkszeug jedes Rechtsanwenders. Der Jurist hat nunmehr, wenn bei der Anwendung einer gesetzlichen Bestimmung mehrere Auslegungen i n Betracht kommen, diejenige zu wählen, die m i t der Verfassung am besten i n Einklang steht 46 . Dadurch wachsen i h m unter Umständen neue Möglichkeiten zu, die Gesetzesnorm der veränderten Sachlage, soweit sie i m Grundgesetz bereits berücksichtigt oder doch vorgeformt ist, anzupassen. Man kann die verfassungskonforme Auslegung als Ausfluß des alten Grundsatzes ansehen, daß die rangniedere Norm aus der ranghöheren zu interpretieren ist, und sie als eine Unterart der systematischen Auslegung i n das überkommene Denksystem integrieren. Doch w i r d durch diesen sachlich durchaus zutreffenden Eingliederungsversuch das Verständnis für die neuen Chancen nicht gerade erleichtert, die die verfassungskonforme Gesetzesanwendung angesichts der großen Abstraktheit der Grundrechtsnormen für eine mehr aufgelockerte Rechtshandhabung bietet. Infolge des durch den Fortgang des Geschehens erzwungenen und durch neu ausgebildete Techniken leicht gemachten Rückgriffs auf nichtpositivierte Gesichtspunkte ist jene früher allenthalben spürbar gewesene Strenge der Normauswertung zum Teil dahin geschwunden. Sie konnte sich nur solange halten, als nach der herrschenden Auffassung i n der Gesetzesarbeit i m engeren Sinne die einzige Chance zur Bewältigung der dem Juristen gestellten Aufgabe lag und kein anderer Weg gegeben erschien. Gleichwohl ist, und darin kann ein weiteres Merkmal der modernen Rechtsfindungsweise erblickt werden, die Achtung unserer Juristen vor der gesetzlichen Regelung weitgehend erhalten geblieben. Es bestehen keine Ressentiments gegenüber dem Gesetz als solchem, wie sie lange Zeit i m anglo-amerikanischen Rechtskreis vorhanden gewesen waren und dort teilweise auch heute noch festzustellen sind. Die westdeutschen Juristen zeigen keine Neigung, das Gesetz von vornherein als ein unvollkommenes, m i t vielen Schwächen behaftetes menschliches Erzeugnis anzusehen und seine Bedeutung entsprechend herabzustufen. Man pflegt etwaige Mängel der gesetzlichen Regelung nicht sonderlich hervorzukehren; selbst der ausgesprochene Zufallscharakter mancher 46 Göldner S. 43, 67, 85 ff., Zippelius Schrifttum.
(1976) S. 108 ff. u n d das dort genannte
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i m heftigen politischen Meinungskampf entstandener Gesetze vermag den Respekt vor ihnen vielfach nicht zu beeinträchtigen. Man pflegt vielmehr auch heute noch davon auszugehen, daß die Gesetzesnorm m i t den von ihr getroffenen Anordnungen grundsätzlich eine gerechte oder doch vertretbare Regelung enthält, die entsprechend zu respektieren ist, obwohl manchen progressiv Eingestellten diese Haltung, weil sie ihnen die Durchsetzung ihrer Ziele erschwert, begreiflicherweise mißfällt. Der Bearbeiter ist vielfach geneigt, die gesetzlichen Anordnungen solange ohne modifizierendes Eingreifen hinzunehmen, bis das Unangemessene dieses Vorgehens klar zutage liegt. Auch wo er sie nicht sonderlich befriedigend findet, w i r d er sie oftmals loyal befolgen, wenn sie immerhin passabel erscheinen und i m gegebenen Fall zu einem leidlich akzeptablen Ergebnis führen. Er verzichtet unter solchen Umständen nicht selten auf einen freieren Umgang m i t der Rechtsnorm und zieht es vor, sich mit kleinen Nachhilfen zu begnügen. Das Gesetz wird, wenn es hinreichend klar gefaßt ist, häufig auch dann noch als verpflichtend empfunden, wenn es m i t dem Rechtsbewußtsein der Gegenwart nur unvollkommen i n Einklang gebracht werden kann. Zum mindesten dürfte dies ein Grundsatz sein, der keineswegs nur als Wunschvorstellung i n den Köpfen der Juristen lebt und demgemäß vorwiegend i n Festtagsreden sowie bei Meinungsumfragen zur Geltung kommt, sondern eine beträchtliche praktische Bedeutung besitzt. I n dieser Grundhaltung w i r d der Rechtsanwender nicht nur durch manche Hinweise der obersten Gerichte, sondern teilweise auch durch Stellungnahmen der Rechtswissenschaft bestärkt. Dort war von jeher Hie m i t eigenverantwortlichen Erwägungen des Rechtsanwenders verbundene Gefahr besonders klar gesehen worden. Demgemäß w i r d es innerhalb der Rechtslehre vielfach auch gegenwärtig als die immer noch beste A r t der Rechtsgewinnung betrachtet, wenn der Fallbearbeiter sich i m wesentlichen an den Gesetzestext hält und sich m i t eigenen Richtigkeitsüberlegungen nicht allzu sehr ins M i t t e l legt. Man wehrt sich dabei m i t Nachdruck gegen die weit verbreitete Auffassung, daß es i n jedem Fall als ein Versagen der Rechtspflege zu betrachten sei, wenn die Gesetzesanwendung zu einem irgendwie unerwünschten Ergebnis führt 4 7 . Es ist bezeichnend, daß die Vorstellung Montesquieus vom Richter als dem Mund des Gesetzes unseren heutigen Juristen vielfach keineswegs überholt erscheint. Man erkennt zwar sehr wohl, daß dieses B i l d gegenwärtig nur m i t Vorbehalt verwendet werden kann. Gleichwohl 47 Eb. Schmidt,
Gesetz u n d Richter S. 21.
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1. Teil: I I . Einfluß spezieller Tendenzen auf die Rechtsgewinnung
erscheint es vielen immer noch als die treffendste Bezeichnung für das, was dem einzelnen als die dem Richter (Rechtsanwender) angemessene Haltung vorschwebt 48 . I m Vergleich damit ist die neuerdings i n verschiedenen Ausformungen hervorgetretene Ansicht, daß das Gesetz nur als Regelungsvorschlag anzusehen bzw. lediglich als Angebot aufzufassen sei, m i t dem der Rechtsanwender i m Interesse des allgemeinen Besten verhältnismäßig frei schalten könne, der ganz überwiegenden Mehrheit der westdeutschen Juristen denkbar fremd. Wo derartige Anschauungen bei uns vertreten werden, steht meist die Absicht dahinter, m i t Hilfe einer Distanzierung vom Gesetz politische Ziele zu verwirklichen, die ohne eine solche nicht erreichbar erscheinen. Trotz der allerwärts zu beobachtenden Neigung zum Festhalten am Gesetz ist andererseits nicht zu verkennen, daß der Bearbeiter infolge des i h m heute möglich gemachten Rückgriffs auf außergesetzliche Regelungen leicht dazu verleitet wird, sich mit der Rechtsnorm, die nach wie vor die Hauptgrundlage der Rechtsgewinnung bildet, nur noch obenhin abzugeben. Es kommt unter Umständen dahin, daß er, wenn sich an Hand des Gesetzes nicht sogleich eine dem Fall gut angepaßte Lösung finden läßt, den Norminhalt nicht wichtig genug nimmt und von einer intensiven Gesetzesauswertung absieht. Die Norminterpretation w i r d für den Rechtsanwender dann manchmal zu einer lästigen Pflichtübung, von der er baldigst loszukommen sucht. Eine solche Grundhaltung führt sehr leicht dazu, daß nicht nur die direkten Weisungen der Rechtsnorm mißachtet, sondern auch ihre Zielanschauungen, obwohl sie offen zutage liegen, nicht mehr ernst genommen werden. Die neuere Rechtspraxis ist solchen Versuchungen nicht selten erlegen, wie wohl jeder bestätigen wird, der diese Entwicklung unbefangen beobachtet hat. Es ist nicht allzu schwer, Beispiele zu finden, i n denen verbindliche gesetzliche Anordnungen überspielt worden sind, nur weil sie dem Rechtsanwender nicht sonderlich zusagten. Man kann sich daher nicht wundern, daß mitunter der Eindruck entsteht, als wenn die Freirechtsschule, zu der sich heute offen niemand mehr bekennt, insgeheim zum Glaubensbekenntnis unserer Praktiker geworden sei 49 . Wenn man versucht, sich zu vergewissern, wo für die große Mehrheit unserer Juristen die Stelle liegen mag, an der sie das Gesetz für ausgeschöpft halten und sich (in einem bestimmten Punkt) zu selbständigem Vorgehen als befugt ansehen, dann zeigt sich, daß darüber auch 48 Benda (1975) S. 169. 4» So Larenz (1962) S. 105.
4. Gefolgschaft gegenüber dem Gesetz
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durch Gespräche mit Vertretern der verschiedensten juristischen Berufsgruppen oft keine Klarheit zu erhalten ist. Bemühungen, die von einer so allgemeinen Fragestellung ihren Ausgang nehmen, werden ohnehin kaum weiterführen. Bessere Erfolgsaussichten bestehen dagegen, wenn die Ermittlung, wie früh oder wie spät unsere Juristen von der Normauswertung i m engeren Sinn zur Arbeit m i t außergesetzlichen Erwägungsgrundlagen überzugehen pflegen, auf einer konkreteren Basis erfolgt. Wer i n dieser Hinsicht teils durch systematische Selbsterforschung, teils auf Grund der Beobachtung von Kollegen (etwa i m Rahmen der Richterberatung) längere Zeit Unterlagen sammelt, erhält Einblick i n ein vielgestaltiges Gefüge von mitwirkenden Gesichtspunkten, die der Durchmusterung bedürfen, wenn man die m i t den neuzeitlichen Rechtsfindungsgewohnheiten zusammenhängenden Denkvorgänge theoretisch aufbereiten w i l l 5 0 . I m einzelnen kann zunächst die allgemeine Einstellung des Fallbearbeiters gegenüber der Rechtsnorm, d. h. seine mehr oder weniger gesetzespositivistische Grundauffassung, mitsprechen, die i h n entweder zu einem längeren Ausharren bei der Gesetzesauswertung veranlaßt oder ihn umgekehrt sehr bald zur Arbeit m i t transpositiven Gesichtspunkten übergehen läßt. Sieht man von dem Einfluß dieser prinzipiellen Einstellung zunächst einmal ab, die jederzeit durch irgendwelche Gegenkräfte wirkungslos gemacht werden kann, dann drängen sich dem Juristen, wenn er die Benutzung vorrechtlicher Maßstäbe erwägt, meist gewisse sachliche Überlegungen auf, die mehr oder weniger nachdrücklich Beachtung verlangen. Der umsichtige Bearbeiter pflegt, ehe er sich mit eigenen Wertungen ins M i t t e l legt, etwa zu bedenken, wie eindeutig die Rechtsnorm formuliert worden ist und wie ausgeprägt der hinter der jeweiligen gesetzlichen Anordnung stehende Wille des Gesetzgebers erscheint. Der Rechtsanwender w i r d dabei unter Umständen zu der Erwägung veranlaßt, ob die vom Gesetzgeber getroffene Regelung diesem i m fraglichen Punkt so wichtig war, daß er m i t der Akzentuierung, wie sie jetzt erwogen wird, nicht einverstanden gewesen wäre. Bejahendenfalls prüft der Bearbeiter auch, ob der Gesetzgeber diese Auffassung vernünftigerweise aufrecht erhalten könnte, wenn man ihn mit den inzwischen veränderten Umständen bekannt machen würde. Weiterhin spricht bei den Überlegungen des Praktikers oftmals mit, wie kraß das durch schlichte Normauswertung erreichbare Ergebnis von dem auf Grund von Gerechtigkeitserwägungen als angemessen 50 Umfangreiches, durch Fremdbeobachtung gewonnenes Material dieser A r t hat Lautmann S. 107 ff., 132 ff. zusammengefaßt u n d verarbeitet.
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1. Teil: I I . Einfluß spezieller Tendenzen auf die Rechtsgewinnung
betrachteten abweicht; ferner wie dringend vom Gerechtigkeitsstandpunkt aus eine Beteiligung des fraglichen vorpositiven Richtpunkts an der Rechtsfindung erscheint. Bei korrektem Vorgehen w i r d man auch darauf acht haben, ob die Heranziehung des transpositiven Elements die Rechtsnorm nur unwesentlich modifiziert oder ob die beabsichtigte Rektifikation einen Hauptpunkt betrifft; desgleichen ob das Element mit allgemeiner Überzeugungskraft ausgestattet ist und ob diese, wie stark sie zur Zeit auch sein mag, voraussichtlich nur von kurzer Dauer sein wird. Üblicherweise strebt man also je nach Lage des Falls eine Abwägung darüber an, ob sich der Rückgriff auf die als gegebenenfalls hilfreich erkannten außergesetzlichen Richtmittel angesichts der vorhandenen Risiken rechtfertigen läßt. Der Fallbearbeiter versucht vor allem Klarheit darüber zu schaffen, ob die auf diese Weise zustande kommende Lösung wesentliche Vorteile gegenüber der durch einfache Auslegung zu erreichenden besitzt. Soweit die Entscheidungssituation — insgesamt betrachtet — einen starken Zwang zum Hinausgehen über die schlichte Interpretation übt, w i r d der Jurist meist von den insoweit zur Verfügung stehenden Möglichkeiten einen mehr oder minder ausgiebigen Gebrauch machen; sei es durch Feststellung von Gesetzeslücken, die entsprechend ausgefüllt werden, sei es durch Anwendung einer Generalklausel, die für besondere Lagen eine Abweichung von der allgemeinen Regelung zuläßt bzw. durch Benutzung sonst vorhandener Behelfe. Auch diejenigen, die ihrer allgemeinen Grundhaltung gemäß bemüht sind, solange es irgend angeht, bei der eng aufgefaßten Gesetzesanwendung stehen zu bleiben, vertreten nicht mehr den rigorosen Standpunkt der älteren Zeit, von dem aus man sich oft ohne Gewissensskrupel mit unangepaßten juristischen Ergebnissen abfand.
Zweiter Teil
Der Gesamtbestand vorpositiver Materialien als Entscheidungshilfe 1. Die geistige Grundausrüstung des Rechtsanwenders als mitbestimmender Faktor Das allgemeine Gedankengut, aus dem die Gegenwart lebt, hat durch die Einsicht, daß ein häufigeres Zurückgreifen auf metajuris tische Richtpunkte und Maßstäbe nicht zu vermeiden ist, für die Jurisprudenz besondere Wichtigkeit erhalten. Infolgedessen genügt es nicht mehr, i h m nur obenhin eine gewisse Aufmerksamkeit zu widmen; vielmehr ist es notwendig, seine Eigenart und Vielgestaltigkeit genauer zur Kenntnis zu nehmen. Je deutlicher sich zeigt, wie sehr der Jurist auf diesen umfangreichen Bestand an Auffassungen und Vorstellungen angewiesen ist, desto notwendiger w i r d eine Vergewisserung darüber, von welcher Beschaffenheit sie sind und welche Rolle sie innerhalb der rechtlichen Erwägungen spielen. Viele Fehlleistungen bei der Rechtsgewinnung, die man bisher auf einen Verstoß gegen die Regeln der Gesetzesauslegung zurückgeführt hat, gehen i n Wahrheit aus einer inkorrekten Handhabung außergesetzlicher Entscheidungsgrundlagen hervor. Solche Fehler lassen sich nur durch eine nachhaltige Bemühung u m diesen weiten Bereich vermeiden. Es kommt dabei der gesamte, i n der gesellschaftlichen Sphäre vorhandene Gedankenvorrat i n Sicht, mit dem sich der Jurist als A n gehöriger seiner Zeit konfrontiert sieht, mag er die einzelnen Gesichtspunkte nun für seine Person als gültig ansehen oder sie als i h m nicht zusagend ablehnen. W i r haben es m i t jenem unerschöpflichen Reservoir zu tun, dem der Fallbearbeiter, soweit er i m gesetzesfreien Raum tätig ist, den Stoff für die inhaltliche Gestaltung der juristischen Lösung entnimmt. Das Augenmerk richtet sich hier nicht i n erster Linie auf die geistige Ausstattung der juristischen Spitzenkräfte, die möglicherweise durch besondere Gelehrsamkeit, durch Spezialkenntnisse irgendwelcher A r t oder durch eine gründliche philosophische Vorbildung hervorragen, sondern auf die Grundanschauungen des ausgedehnten Mittelfeldes,
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2. Teil: Der Gesamtbestand vorpositiver Materialien
also der vielen Praktiker, die i m Rechtsalltag ihre Hauptleistung zu erbringen haben. Das ist, so merkwürdig es klingen mag, eine für den deutschen Betrachter ziemlich ungewöhnliche Perspektive. Man hat bei uns — von Ausnahmen abgesehen — den Anschauungen und A u f fassungsweisen der i m Dienst am Recht an der vordersten Front stehenden Juristen bisher nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Ihre Arbeitsgewohnheiten wurden von der Theorie meist nicht für sonderlich belangreich gehalten. Die wissenschaftliche Durchleuchtung der Denkgrundlagen, von denen sie ausgehen, pflegte man nicht als eine vordringliche Aufgabe der Wissenschaft anzusehen1. I n anderen Ländern scheinen die Verhältnisse teilweise nicht viel anders zu liegen. Für die französische Jurisprudenz kann jedenfalls auf das Zeugnis eines ihrer hervorragendsten Vertreter verwiesen werden: Prof. René David gelangt auf Grund von Beobachtungen, die augenscheinlich i n seinem engeren Wirkungsbereich gemacht worden sind, zu der Ansicht, daß die Theorie meist nicht dazu komme, die von den Praktikern tatsächlich betätigten Denk- und Arbeitsweisen richtig zu beschreiben und genauer zu analysieren 2 . Freilich scheint sich bei uns unter dem Einfluß der neueren Entwicklung, die m i t Notwendigkeit zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit auf die i m juristischen Alltag wirksamen Grundanschauungen führt, allmählich eine Veränderung anzubahnen. Aber es w i r d wohl noch einige Zeit dauern, bis Untersuchungen vorliegen, die sich auf breiterer Basis der hier zu bewältigenden Aufgabe annehmen. Wegen der geringen Vorarbeiten kann die theoretische Aufschließung dieses ganzen Bereichs nur Schritt für Schritt i n zahlreichen Einzelaktionen vor sich gehen. I n der nachstehenden Übersicht w i r d demgemäß keine Vollständigkeit angestrebt. Angesichts der vielen i m Umlauf befindlichen Grundansichten müßte jeder Versuch einer auch nur annähernd erschöpfenden Zusammenfassung mißlingen. Es kommt hier nur darauf an, eine einigermaßen konkrete Anschauung darüber zu gewinnen, welcher A r t die i n diesem umfassenden Bestand enthaltenen Vorstellungen des Rechtsanwenders etwa sein könnten, für die der Begriff der geistigen Gesamtausrüstung den die Einzelteile zusammenhaltenden Rahmen abgibt. Wenn der Bearbeiter sich das Gedankengut vergegenwärtigt, das als Grundlage für seine Rechtsfindungstätigkeit i n Betracht kommen könnte, w i r d i h m dadurch das Auffinden seines weltanschaulichen Standorts erleichtert. Eine solche Bestandsaufnahme ermöglicht es i h m ι Wiethölter (1969) S. 7. Précis des grands systèmes de droit contemporains (Paris 1964) Nr. 90 (deutsche Ubersetzung v o n Grasmann, München 1966, S. 125). 2
1. Die geistige Grundausrüstung als mitbestimmender Faktor
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bis zu einem gewissen Grade, sich über den Aufbau seiner Denkwelt zu vergewissern und auf diese Weise die Überprüfung der eigenen Grundannahmen sowie die Auseinandersetzung mit abweichenden A n sichten vorzubereiten. Der Jurist benötigt, auch wenn er sich i n erster Linie als Vollstrecker gesetzlicher Anordnungen betrachtet, bezüglich vieler Fragen von allgemeinem Charakter eine A r t Berufsphilosophie, von der er sich bei seinem Vorgehen i m gesetzesfreien Raum leiten lassen kann. Soweit der einzelne das für seine Person glaubt bestreiten zu müssen, dürfte dies zum Teil m i t der weit verbreiteten Abneigung zusammenhängen, sich i n dieser Hinsicht einer systematischen Selbstbeobachtung zu unterziehen. Teils spricht aber auch mit, daß der Einfluß nichtpositivierter Grundannahmen auf die juristische Arbeit den Vorstellungen widerspricht, die man unseren westdeutschen Juristen i n der Ausbildungszeit und späterhin unentwegt eingehämmert hat. Sie sind geeignet, das Verständnis für eine M i t w i r k u n g weltanschaulicher und lebensphilosophischer Überzeugungen bei der Rechtsgewinnung zu blockieren. Derartige Uberzeugungen kommen bei der rechtlichen Erörterung auch dann zum Zuge, wenn der Bearbeiter weder m i t den verschiedenen Richtungen der modernen Philosophie bekannt noch i n der Philosophiegeschichte bewandert ist. Es wäre nicht gerechtfertigt, wenn man diese beim Fallbearbeiter wirksamen geistigen Grundlagen kurzerhand als „wissenschaftlich unerleuchtet" abwerten wollte, wozu mitunter eine gewisse Neigung vorhanden zu sein scheint. Oftmals beruhen sie auf wichtigen beruflichen Erfahrungen, die nicht jedermann zur Verfügung stehen. Sie sind vielfach durch Verarbeitung eines umfangreichen A n schauungsmaterials zustande gekommen und daher i m allgemeinen der Beachtung durchaus wert. Ihrer großen Bedeutung tut es keinen Abbruch, daß sie i n den Urteilsgründen der Gerichte mitunter nicht eben glücklich formuliert worden sind. Oftmals steckt i n ihnen weit mehr, als sich mit den durch die richterliche Tradition zuweilen stark eingeengten Argumentationsmöglichkeiten ausdrücken läßt. Ob und inwieweit die nachstehend aufgeführten geistigen Positionen beim einzelnen Rechtsanwender zum Zuge kommen, muß jeder selbst feststellen. Gewiß werden bestimmte gedankliche Grundlagen allenthalben irgendwie wirksam sein. Gleichwohl sind auch i n bezug auf sie oftmals unterschiedliche Nuancen vorhanden, die möglicherweise zu Auffassungsdifferenzen führen. Es kann nicht daran gedacht werden, bestimmte Grundannahmen westdeutschen Juristenschaft i m ganzen zuzuordnen. Wenn auch manchen Fragen ziemlich klar sein wird, zu welcher Alternative Mehrheit neigt, ist gleichwohl jeder einzelne darauf angewiesen,
der bei die sich
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2. Teil: Der Gesamtbestand vorpositiver Materialien
selbst Gewißheit darüber zu verschaffen, welche der angeführten Auffassungen oder welche Mischung aus ihnen er für sich als gültig ansehen kann und wie er sich mit seinen Anschauungen i n den Kosmos der i m Umlauf befindlichen Ansichten einzugliedern hat. I h m obliegt es, seine Stellung innerhalb der geistigen Landschaft, die sich dem schweifenden Blick darbietet, zu bestimmen. Dabei w i r d er nicht selten genötigt sein, die vorgeführten Meinungsmuster für seine Person zu verfeinern oder zu modifizieren. Entsprechend dem hier gewählten Blickpunkt interessieren von den zur geistigen Ausstattung des Rechtsanwenders gehörigen Grundanschauungen nicht solche, die sonst kaum wieder vorkommen werden, sondern nur diejenigen, die auch anderweit vielfach wirksam sind, die der Bearbeiter also m i t bestimmten Personengruppen innerhalb der Rechtsgemeinschaft teilt. Oftmals liegen solche allgemeinen Auffassungen bereits dem Gesetz erkennbar zugrunde. Ihnen kommt dann, w e i l sie m i t zum Gesetzesinhalt i m weiteren Sinne gehören, ohnehin Verbindlichkeit zu. Aber auch wenn sie nicht Teil der gesetzlichen Regelung sind, können sie die Entscheidung mitbestimmen, falls für den Gesetzgeber kein Anlaß bestand, ihre M i t w i r k u n g i m gegebenen Fall auszuschließen. 2. Richtvorstellungen allgemeiner Art Zu dem bei der Rechtsgewinnung unter Umständen mitsprechenden Gesamtvorrat von Grundannahmen gehören, wenn man mit lenkenden Ansichten von sehr allgemeiner Beschaffenheit den Anfang macht, die Vorstellungen, die der rechtanwendende Jurist vom Weltganzen hat, mögen sie nun auf religiösem Fundament bzw. auf humanitärer Grundlage beruhen oder i n der Hauptsache pragmatischen Charakter tragen. Aus ihnen geht das Weltbild des Rechtsanwenders und sein Weltverständnis hervor; also die Gesamtheit der Ansichten, die er über die Welt und die Stellung des Menschen i n ihr sowie darüber besitzt, wie w i r tatsächlich leben und wann gesagt werden kann, daß w i r richtig leben. Die Einsicht, daß diese Anschauungen für die Rechtsfindung bedeutsam sind, dokumentiert sich nicht zuletzt i n dem darüber erschienenen Schrifttum, auf das hier — wie auch i n vielen anderen Fällen — nur andeutend hingewiesen werden kann 3 . Dieser Komplex von Vorstellungen enthält einerseits Ansichten über die i n der Realität vorhandenen Gesetzmäßigkeiten bzw. darüber, wie es „ i n der Welt zugeht", und andererseits die wertende Verarbeitung der insoweit gemachten Wahrnehmungen zu einem abgerundeten Denkgefüge. 3 Max Alsberg, Das W e l t b i l d des Strafrichters (1928); Karl W e l t b ü d des Juristen (1965).
Engisch,
Vom
2. Richtvorstellungen allgemeiner A r t
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Jeder hat darüber seine mehr oder minder festen Auffassungen, seine Grundsätze, Faustregeln und, wenn man so w i l l , seine heimliche Philosophie 4 . Die insoweit beim einzelnen Juristen wirksamen A n schauungen stellen das Ergebnis seiner Auseinandersetzung m i t der Umwelt dar. Meist w i r d vom Vorhandensein eines weltbeherrschenden Prinzips und von der Existenz eines Weltplans ausgegangen, wie jenseitsbezogen oder diesseitig verfaßt er i m einzelnen auch aussehen mag. Das i n der Umwelt ablaufende Geschehen w i r d i m allgemeinen als einer inneren Ordnung teilhaftig betrachtet und entsprechend einem tief i m Menschen verwurzelten Verlangen als sinnvoll erlebt. Weit seltener versteht man das Weltgeschehen als ein zielloses Durcheinander von Einzelvorgängen, das die Weltbühne mehr oder minder als das Aktionsfeld großer und kleiner Gauner erscheinen läßt, auf dem Machtwille und Gewinnstreben die Oberhand behalten. Aus diesen hier nur kurz skizzierten Grundansichten leiten sich vielerlei Auffassungen spezieller A r t ab, die das Weltbild differenzieren. Der Jurist nimmt dabei an Hand einer metaphysischen Ausrichtung bzw. aus verweltlichter Sicht mehr oder weniger bewußt etwa dazu Stellung, ob das „Böse" als zur Weltordnung gehörig anzusehen ist und als ein notwendiges Lebenselement des Gesamtgeschehens zu gelten hat oder ob es dort als Fremdkörper betrachtet werden muß. Für die Arbeit des Rechtsanwenders kann es ferner (was damit i n gewisser Weise zusammenhängt) bedeutsam werden, ob er die i m Leben häufig vorkommende Verquickung des Vortrefflichen m i t dem Nichtswürdigen, des Edlen mit dem Gemeinen als anstößig empfindet und dementsprechend reagiert oder ob er ihr m i t Gelassenheit begegnet. Nicht selten w i r d der Bearbeiter indirekt auch zu einer bekenntnismäßigen Stellungnahme darüber gedrängt, ob es auf der Welt allenthalben möglichst behutsam und gelinde zugehen soll oder ob eine gute Portion Rauheit bzw. Derbheit als der Natur der Dinge entsprechend anzusehen und rechtlich zu akzeptieren ist. Er muß sich oftmals zur Vorbereitung des juristischen Ergebnisses darüber schlüssig machen, ob gewisse i n der gesellschaftlichen Praxis vorkommende Brutalitäten und Gefühllosigkeiten als eine A r t Auslesefaktor zu werten sind, durch den die Menschheit vor unerwünschter Verweichlichung bewahrt wird, oder ob es von Rechts wegen erforderlich ist, die vielerlei Rücksichtslosigkeiten des Alltags weitgehend auch dort zu bekämpfen, wo das Gesetz keine Weisungen gegeben, sondern der Rechtspflege freie Hand gelassen hat. Grundüberzeugungen sehr allgemeiner A r t kommen schließlich zum Zuge, wenn es sich darum handelt, ob der zur Entscheidung Berufene 4 Popper (1971) S. X X V .
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1. Teil: I. Hauptmerkmale der modernen Rechtsfindung
bereit ist, den häufigen Wandel wertender Gesichtspunkte als ein normales Element anzuerkennen, oder ob er meint, daß unwandelbare Maßstäbe belangreicher seien als veränderliche und daß man zu den konstant bleibenden grundsätzlich ein größeres Zutrauen haben dürfe als zu denen, die nur für eine gewisse Zeit Geltung beanspruchen können. Dem praktizierenden Juristen w i r d oftmals eine Stellungnahme darüber abverlangt, ob heftige Konflikte zwischen großen Gruppen der Gesellschaft schlechthin als nutzlos oder gar als sinnwidrig anzusehen und demgemäß möglichst rasch zum Abklingen zu bringen sind oder ob, wie andere meinen, der soziale Konflikt nicht auf Grund eines wirklichkeitsfremden Harmoniedenkens von vornherein als Anomalie, sondern als etwas Natürliches, zur Sache Gehöriges zu werten ist; m i t der Folge, daß selbst erbitterte Auseinandersetzungen, die zu einem Verbrauch wertvoller Volkskräfte führen, wegen ihrer reinigenden Wirkung unter Umständen positiv beurteilt werden müssen und nicht i m K e i m erstickt werden dürfen. Es kann für die rechtliche Würdigung gleichfalls bedeutsam sein, ob der Rechtsanwender das Heil bei der Lösung der Umweltprobleme von zielbewußten äußeren Maßnahmen erwartet oder ob er ihre innere Bewältigung für das eigentlich Entscheidende hält. Vom Weltbild w i r d zugleich das Menschenbild umfaßt, durch das sich der Bearbeiter bei der Rechtsfindung lenken läßt 6 . I n i h m sind seine Ansichten über die Stellung des Menschen i m Universum, über die menschliche Natur i m allgemeinen und die besondere Beschaffenheit des Volksschlages enthalten, m i t dem er bei seiner Arbeit zu t u n hat. Das Menschenbild gibt Auskunft darüber, ob der Bearbeiter den einzelnen seinem Wesen nach als moralisch schwach, als zur Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit geneigt, als durch unkontrollierte emotionale Regungen beeinträchtigt, von niederen Trieben gelenkt ansieht und ihn somit i m Grunde für erbärmlich hält oder ob er, günstiger urteilend, an das Gute i m Menschen glaubt, i h m sittliches Streben zutraut, i h n grundsätzlich für fähig hält, seiner Emotionen Herr zu werden und zu größerer Vollkommenheit fortzuschreiten. Aus dem Menschenbild des Juristen geht ferner hervor, ob er das Verhalten des Individuums als ausschließlich durch unmittelbare Vorteilserwägung bestimmt auffaßt oder ob er damit rechnet, daß neben diesem Grundtrieb Regungen vorwiegend uneigennütziger A r t bzw. solche wirksam werden können, denen keinerlei Egoismus anhaftet. Vom Rechtsanwender wird, soweit gesetzliche Direktiven fehlen, weiterhin vielfach ein Entschluß darüber gefordert, ob bei der Be5 Über das Menschenbild i m Recht vgl. die i m Schrifttumsverzeichnis genannten Arbeiten von H. Huber (1961), Jescheck (1964), Klug (1955), Maihofer (1964), ferner die Urteile des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE Bd. 4 S. 15 f., Bd. 12 S. 51; weitere Literaturangaben bei Henkel (1977) S.234.
2. Richtvorstellungen allgemeiner A r t
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urteilung menschlichen Verhaltens von einer auf strenge Pflichterfüllung gerichteten Anschauung ausgegangen werden soll, die beträchtliche Anforderungen i n bezug auf Disziplin, Selbstaufopferung und Bedürfnislosigkeit stellt oder ob nur ein Maßstab zugrundezulegen ist, der den unerläßlichen Mindestansprüchen Rechnung trägt bzw. ein solcher, der zwischen beiden Extremen zu vermitteln sucht. I n Erwägungen dieser A r t kommt zugleich die allgemeinere Frage zur Geltung, inwieweit der Mensch als das Maß aller Dinge anzusehen ist. Der Bearbeiter hat die von i h m gegenüber der anthropozentrischen Weltauffassung einzunehmende Haltung zu ermitteln. Er muß sich oft auch indirekt darüber schlüssig machen, wie hoch oder gering die materiellen Güter und die vielen Annehmlichkeiten einzuschätzen sind, die das äußere Wohlergehen der Menschenmassen betreffen. Von i h m w i r d bei seiner Berufsarbeit unter Umständen ferner eine stichhaltige Auffassung darüber verlangt, ob rechtlich der pragmatische Gesichtspunkt maßgebend sein soll oder ob Maßstäbe anderer A r t i n Betracht zu ziehen sind; ob i n erster Linie eine opportunistische Orientierung an Nahzielen zu erfolgen hat oder daneben Richtpunkte von mittlerer Reichweite und Fernziele i m Auge zu behalten sind usw. I n ähnlicher Weise können auch viele andere geistige Positionen des Rechtsanwenders auf seine Arbeit Einfluß nehmen. Er kommt möglicherweise zu unterschiedlichen Ergebnissen, je nachdem ob er den Fortschritt der Naturwissenschaften vorbehaltlos begrüßt oder i h n nur w i d e r w i l l i g gutheißt; je nachdem ob er den Standpunkt vertritt, daß dem Menschen infolge der technischen Entwicklung grundsätzlich nichts mehr unmöglich sei, oder umgekehrt von der Überzeugung durchdrungen ist, daß unser Wissen nach wie vor Stückwerk darstelle und daß es viele Gebiete gebe, die der Mensch trotz unausgesetzter Bemühungen niemals richtig i n den Griff bekommen werde. Es muß sich dabei je nach Lage des Falles auf die Suche des Bearbeiters nach dem Recht mitbestimmend auswirken, wenn er i n der unkontrollierten technischen Entwicklung eine ernste Gefahr erblickt und, u m ihr zu begegnen, einem postindustriellen Zeitalter den Boden zu bereiten versucht, i n dem Technik und Industrie zwar erhalten bleiben, aber gezwungen werden, der Rücksicht auf eine gedeihliche Entfaltung des Menschengeschlechts den Vorrang einzuräumen. Es kann für die Rechtshandhabung auch bedeutsam werden, ob der Jurist beim Arbeiten i m gesetzesfreien Bereich geneigt ist, ökonomische Überlegungen i n den Vordergrund zu stellen und das Streben nach wirtschaftlichem Aufschwung als vordringlich zu betrachten oder ob es i h m umgekehrt nichts ausmacht, wirtschaftliche Erwägungen zurücktreten zu lassen, soweit sie m i t anderen wichtigen Rücksichten konkurrieren 6 . Ebenso kann es sich auf das juristische Ergebnis auswirken, 5 Döhring
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2. Teil: Der Gesamtbestand vorpositiver Materialien
ob der zur Entscheidung Berufene vor allem i m allgemeinen Streben nach höherem Lebensstandard d. h. nach einer anspruchsvolleren Ausgestaltung des Daseins den richtigen Weg zur Verbesserung der gegenwärtigen Zustände erblickt oder ob er eine intensive Bemühung u m immer größeren Wohlstand für verfehlt hält und meint, daß ein solideres Fundament für Glück und Zufriedenheit der Menschen geschaffen werde, wenn man den Zugang zum notwendigen Lebensbedarf für jedermann sichert, jedoch i m übrigen auf eine schlichte Lebensführung hinarbeitet. Es mag bei den bisher angeführten, notwendigerweise lückenhaften Belegen zur Veranschaulichung dieser Fallgruppe sein Bewenden haben. Wer davon ausgeht, daß der praktizierende Jurist ganz vorwiegend ausführendes Organ des Gesetzgebers sei und als solcher über die gesetzlichen Anordnungen hinaus keine eigene A k t i v i t ä t zu entfalten habe, dem werden alle diese Hinweise nicht genügen. Er w i r d ungläubig immer wieder Näheres darüber wissen wollen, auf welche Weise und i n welchem Zusammenhang die erwähnten vorpositiven Grundansichten das Rechtsfindungsergebnis beeinflussen könnten. Aber müssen denn diese Fragen wirklich i m einzelnen beantwortet werden, wenn ohnehin klar ist, daß ein derartig festgelegter Fragesteller durch noch so viele Beispiele nicht zu überzeugen sein w i r d und neue Belege bei i h m immer nur weitere Zweifel hervorrufen werden? Zur Abrundung mag noch auf die große Zahl methodischer Grundauffassungen hingewiesen sein, die zur geistigen Ausstattung gehören sowie auf die Fülle von organisatorischen Prinzipien, taktischen Grundsätzen, technischen Vorstellungen, die bei der Rechtsgewinnung gegebenenfalls zur Geltung kommen, obwohl sie dem Gesetz nicht zu entnehmen sind. Methodische Vorentscheidungen sehr allgemeiner A r t t r i f f t der Rechtsanwender u. a., wenn er sich darüber schlüssig macht, ob der Schwerpunkt der Rechtsfindungsbemühungen i n einer minutiös genauen Aufklärung des Sachverhalts zu liegen hat oder ob man dem K e r n der Sache meist näher kommt, wenn wenig Beweis erhoben und der Hauptwert auf die geistige Durchdringung des Falles gelegt wird. Zu einer bedeutsamen methodischen Grundfrage nimmt er auch Stellung, wenn er i n erster Linie auf die durch Intuition gewonnenen Regelungsideen vertraut oder sich umgekehrt i n der Hauptsache an 6
Z u m Einfluß der wirtschaftlichen Betrachtungsweise auf die westdeutsche Jurisprudenz Dubischar (1974) S. 137 ff.; Hattenhauer S. 101 ff.; Raisch i Schmidt S. 165 f.; Rittner (1975). I n der D D R besitzt das wirtschaftliche A r gument dadurch besondere Bedeutung, daß die Gerichte gehalten sind, durch ihre Entscheidungen dem dort herrschenden ökonomischen System die Wege zu ebnen u n d v o r allem auch auf die Erreichung der sozialistischen Planziele hinzuwirken.
2. Richtvorstellungen allgemeiner A r t
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das i n bewußter Verstandesarbeit erlangte Ergebnis hält; wenn es i h m angemessen erscheint, die bei der Rechtsfindungsarbeit übriggebliebenen Zweifel durch einen Willensentschluß resolut abzuschneiden oder wenn er trotz ungünstiger Umstände die geduldige Fortsetzung rationaler Bemühungen als den richtigeren Weg betrachtet. Methodische Grundüberzeugungen sprechen weiterhin mit, wenn bei der Rechtsgewinnung davon ausgegangen wird, daß tüchtige Ergebnisse nur durch konsequentes Festhalten an einmal erprobten Grundsätzen zu erreichen seien; wenn der Jurist also meint, den Prinzipien, zu denen er sich durchgerungen hat, solange es irgend angeht, treu bleiben zu müssen oder wenn er — der Gegenmeinung Raum gebend — mehr zu der A u f fassung neigt, daß auch Axiome, die ihre Bewährungsprobe bestanden zu haben scheinen, sich beim Auftreten neuer Sachgestaltungen leicht als verkehrt erweisen können und daher einer ständigen kritischen Überprüfung bedürfen. Die zur allgemeinen geistigen Gesamtausrüstung des Juristen gehörigen Ansichten können reine Tatsachenurteile sein. I n vielen Fällen enthalten sie jedoch auch eine Bewertung. Oft t r i t t dabei das Tatsachenurteil so zurück, daß die würdigende Stellungnahme als das eigentlich Wesentliche zu gelten hat. Die Grundanschauung enthält dann zugleich eine Grundentscheidung dessen, der sie sich zu eigen macht. Der Herkunft nach stellen Grundüberzeugungen der gedachten A r t i n der Regel nichts Originäres dar. Sie leben nicht aus sich selbst, sondern kommen weitgehend unter der Einwirkung von Umwelt-Gegebenheiten zustande, denen sie sich anpassen. Manchmal scheinen die realen Verhältnisse die Entstehung bestimmter Leitanschauungen geradezu zu fordern. Dann bildet sich u m eine aus ihnen hervorgehende Grundtendenz herum wie von selbst eine entsprechende ideenmäßige Einkleidung, die ihrer Rechtfertigung dient und zugleich für ihre Popularisierung sorgt. Doch kann auch umgekehrt die Grundauffassung als solche bereits vorhanden gewesen sein und erst durch das Zustandekommen einer ihr gemäßen Gesamtlage für sich allein oder i n Verbindung mit anderen Ideen zentrale Bedeutung erhalten. Der Vorrat an Grundannahmen, die der Jurist als für seine Person gültig anerkennt, ist keine ein für allemal feststehende Größe. Er w i r d vielmehr durch den Zeitgeist und durch die bei jedem einzelnen hinzukommenden persönlichen Erlebnisse neu akzentuiert oder auch regelrecht umgeformt; er befindet sich infolgedessen, obwohl man allgemein nach einer gewissen Konstanz zu streben pflegt, immer irgendwie i n Bewegung. Trotz der stets vorhandenen Bemühung, die für richtig gehaltenen Anschauungen zu einem i n sich geschlossenen harmonischen Ganzen 5*
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2. Teil: Der Gesamtbestand vorpositiver Materialien
zusammenzuschweißen, weist der Gesamtkomplex der Grundannahmen bisweilen schwer zu tilgende Unstimmigkeiten auf. Infolgedessen kommt der Fallbearbeiter, wenn er sich über seine grundsätzliche Haltung bezüglich einer speziellen Frage klar zu werden versucht, mitunter nicht zu einer Auffassung, die sich unentwegt durchhalten läßt, sondern muß, wenn überhaupt ein roter Faden auffindbar ist, eine A r t Mittelmeinung für sich als maßgebend ansehen, bei der das Mischungsverhältnis der beteiligten Komponenten stark von den Umständen abhängt. Ein auf diese Weise ambivalent bleibender Standpunkt braucht nicht auf Gleichgültigkeit, unzulänglichem Urteilsvermögen oder mangelnder Entschlußkraft zu beruhen. Vielmehr können i m Einzelfall triftige Gründe dafür vorliegen, daß es hinsichtlich eines bestimmten Problems trotz längerer Bemühungen nicht zur Formierung einer gefestigten Ansicht kommt. Viele zum geistigen Fundament des Rechtsanwenders gehörige Vorstellungen besitzen nur einen begrenzten Einfluß. Oft fehlt ihnen die für eine umfassende Wirkung nötige Faszination oder sie leiden an sonstigen Schwächen. Von manchen anderen Grundannahmen geht dagegen ein so starker Einfluß aus, wie man ihn auf den ersten Blick nicht erwartet hätte. Mitunter bestricken sie die Menschen schon allein durch ihr Hineinpassen i n die Zeitlage. Je mehr sie den augenblicklichen realen oder psychologischen Notwendigkeiten entgegenkommen, desto größer pflegt ungeachtet der ihnen anhaftenden Fragwürdigkeiten der Anklang zu sein, den sie finden. Häufig stellen sie das verbindende Element dar, durch das die Menschenmassen zur Wirklichkeit i n Beziehung gesetzt und mit ihr i n Einklang gebracht werden. Oftmals wirken sie gar nicht so sehr durch ihren sachlichen Gehalt als dadurch, daß sie auf Grund ihres stabilisierenden Einflusses Ordnung und Übersicht i n eine verworrene Lage bringen. Für den Juristen geben die bei i h m wirksamen Grundüberzeugungen den gedanklichen Rahmen ab, der die bei der Rechtsfindung nach Geltung strebende Vielzahl möglicher Erwägungen eingrenzt und auf diese Weise das juristische Ergebnis beeinflußt. Sie liefern zuweilen den Blickpunkt, unter dem die Einzelheiten vom Bearbeiter wahrgenommen werden. Sie lenken seine Aufmerksamkeit auf diesen oder jenen Faktor und geben i h m Verständnis für gewisse Momente ein, während sie i h n für andere wichtige Gesichtspunkte blind oder unempfänglich machen. Manche Grundannahmen bringen dem Rechtsanwender eine Gedankenverbindung nahe, auf die er ohne sie niemals gekommen wäre. Sie werden auf diese Weise für den Ausfall der Entscheidung mitunter nicht weniger bedeutsam als der einschlägige Gesetzesinhalt. Sie bestimmen bei der Arbeit i m gesetzesfreien Bereich nicht selten darüber,
3. Gerechtigkeitsüberlegungen
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was als feststehend angesehen w i r d und was als klärungsbedürftig zu gelten hat. Sie sind vielfach dafür maßgebend, mit welcher Intensität ein bestimmtes Moment erlebt und welche Wichtigkeit i h m beigelegt wird. Sie stärken i m Bearbeiter die Bereitschaft zu tieferem Eindringen i n die Problematik oder veranlassen ihn, sich mit einer mehr oberflächlichen Erkundung zu begnügen. Auch dort, wo die für die Entscheidung wesentlichen Momente weitgehend durch das Gesetz festgelegt sind und der Rechtsanwender infolgedessen keine handfeste Verteilung der Gewichte vorzunehmen hat, geben zuweilen irgendwelche Grundannahmen des Bearbeiters i h m bestimmte Auffassungen darüber ein, was i m gegebenen Fall als angemessene Lösung zu betrachten ist. Daß lenkende Einflüsse dieser A r t auf die Rechtsgewinnung grundsätzlich unzulässig seien, kann nach den vorausgegangenen Erörterungen heute nicht mehr gesagt werden, obgleich Fehlverhalten möglich bleibt und sogar unvermeidlich ist, wenn allgemeine Grundansichten, die i n die rechtliche Erwägung eindringen, nicht bewußt gemacht und gewissenhaft auf ihre Stichhaltigkeit geprüft werden (vgl. S. 164 ff.). 3. Gerechtigkeitsüberlegungen Schreitet man von solchen Grundlagen allgemeinsten Charakters, die auf die juristische Arbeit einwirken, zu fundamentalen Anschauungen fort, die speziell die rechtliche Sphäre betreffen, so kommt dabei die Gerechtigkeitsidee ins Blickfeld, die i n der Vergangenheit eine beträchtliche Richtkraft entfaltet hat und deren gegenwärtige Bedeutung es zu prüfen gilt. Dabei ist wiederum zunächst von den tatsächlichen Gegebenheiten auszugehen: Obwohl die Gerechtigkeit nur unzulänglich definiert werden kann und sich auch durch Umschreibung nicht zufriedenstellend erfassen läßt, ist sie i n der ganzen Welt als eins der höchsten Güter anerkannt. Während stark abstrakte Wertvorstellungen ihre faszinierende W i r kung heute zum großen Teil eingebüßt haben, besitzt die Gerechtigkeitsidee nach wie vor eine große Intensität. M i t i h r verbinden sich allgemein, anders als das sonst bei derartigen Denkgebilden der Fall zu sein pflegt, lebhafte und kraftvolle Anschauungen. Vielfach umfassen diese zugleich auch die Überzeugung, daß das gerechte Ergebnis der menschlichen Einwirkung entzogen, also durch gezielte Maßnahmen nicht oder doch nur i n engsten Grenzen beeinflußbar sei. Der Gedanke der Gerechtigkeit ermöglicht eine Erörterung strittiger Fragen selbst zwischen sehr unterschiedlich strukturierten Gesellschaftssystemen. Seine Eignung als Diskussionsgrundlage w i r d nicht dadurch i n Frage gestellt, daß häufig strittig bleibt, was i m Einzelfall als gerecht
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anzusehen ist. Auch der Umstand, daß sich zwischen den verschiedenen Gesichtspunkten, die beim Streben nach der gerechten Entscheidung zu beachten sind, innere Widersprüche ergeben können und daß zwischen manchen von ihnen ein ständiges Spannungsverhältnis besteht, vermag den Respekt, den das Gerechtigkeitsprinzip genießt, offenbar nicht zu beeinträchtigen. A l l e Zuwiderhandlungen, denen es i n der Vergangenheit ausgesetzt gewesen ist, haben seine grundsätzliche Geltung nicht i n Frage stellen und das allgemeine Verlangen nach einer gerechten Regelung der menschlichen Verhältnisse nicht zum Schwinden bringen können. Keine noch so herbe Enttäuschung scheint die Überzeugung von der Ordnungskraft der Gerechtigkeitsidee entscheidend zu schwächen. Mitunter entsteht i m Gegenteil geradezu der Eindruck, daß sie desto größere Macht über die Gemüter erhält, je weniger die tatsächlichen Verhältnisse m i t ihr i n Einklang stehen. Man hat den Gerechtigkeitsbegriff i n neuerer Zeit mitunter als für die juristische Arbeit unergiebig bezeichnet und i h n teilweise geradezu als eine Leerformel ausgegeben, die je nach Bedarf m i t beliebigem Inhalt gefüllt werden könne 7 . Es ist hier nicht möglich, auf die weltanschaulichen Hintergründe dieser Grundansicht i m einzelnen einzugehen. Doch dürfte jedenfalls der meist angeführte Haupteinwand, daß die Denkfigur der Gerechtigkeit wegen ihrer Allgemeinheit und Unbestimmtheit keine brauchbaren Ergebnisse erwarten lasse, unzutreffend sein. Diese Auffassung verkennt die dem Gerechtigkeitsdenken i m Rahmen der rechtlichen Erörterung zukommende Funktion. I h r liegt die nicht haltbare Annahme zugrunde, daß das Gerechtigkeitsprinzip für die Jurisprudenz nur von Nutzen sein könne, wenn sich aus i h m die jeweils richtige Lösung i n direktem Zugriff ableiten läßt. Man stellt dabei i n Anwendung einer auch sonst zuweilen geübten Entwertungstaktik an die Gerechtigkeitsidee unerfüllbare, ihre Eigenart nicht berücksichtigende Anforderungen und hat es dann freilich leicht, sie zu diskreditieren, sobald sie diesen Anforderungen nicht zu entsprechen vermag. Wenn der Jurist beim Arbeiten i m gesetzesfreien Bereich die i m Fall enthaltenen juristischen Probleme sogleich auf höchster Ebene zu lösen versucht, indem er sie unvermittelt m i t dem Gerechtigkeitsprinzip i n Verbindung bringt, muß es notwendig zu Enttäuschungen kommen. M i t soliden Ergebnissen ist nur zu rechnen, wenn zunächst die zur Vorbereitung einer stichhaltigen Gerechtigkeitsüberlegung erforderlichen Faktenkenntnisse herbeigeschafft sowie die nötigen Vorerwägun7 Dagegen m i t bemerkenswerter Entschiedenheit Arth. Kaufmann (1961) S. 16; Henkel (1977) S. 397 ff. sowie als Stimme aus dem skandinavischen Raum Jörgensen (1971) S. 116.
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gen angestellt werden und der Rechtsanwender sich auf ihrer Grundlage über eine Reihe von Zwischenstationen durch viele kleine Schritte seinem Ziel zu nähern sucht. Es zeigt sich dann, daß das Gerechtigkeitsprinzip, wenn man von i h m nicht etwas verlangt, was es seiner Natur nach nun einmal nicht leisten kann, durchaus operationabel ist und gerade dort, wo das Gesetz keine Weisung enthält, ein Hilfsmittel von unschätzbarem Wert darstellt 8 . I n der Rechtspraxis bestätigt sich immer wieder, daß die herrschenden Gerechtigkeitsanschauungen auch dort, wo sie keine präzise Auskunft enthalten, meist wenigstens Anhaltspunkte dafür liefern, i n welcher Richtung die zutreffende Lösung zu suchen ist. Sie geben dadurch den Erwägungen des Für und Wider immerhin eine gewisse Einheitlichkeit. Ohne ihre Hilfe würde bei der juristischen Arbeit häufig eine Ratlosigkeit u m sich greifen, wie man sie sich nicht groß genug vorstellen kann 9 . Wenn bisweilen selbst Praktiker, die es eigentlich besser wissen müßten, die Ansicht äußern, daß für sie neben der Arbeit am Gesetz kaum eine Handhabe zu eigenen Gerechtigkeitsüberlegungen übrig bleibe, so beruht dies i n der Regel darauf, daß der einzelne seine Arbeitsweise nicht der eindringenden Analyse unterworfen hat, die erforderlich ist, u m i n diesem Punkt der Wirklichkeit habhaft zu werden. Die juristische Entscheidung erhebt heute, von seltenen Ausnahmen abgesehen, wie selbstverständlich den Anspruch, daß sie nicht nur der Gesetzeslage, sondern auch den maßgebenden Gerechtigkeitsauffassungen entspricht; sie steht dadurch zum Gerechtigkeitsgedanken i n enger Beziehung 10 . Dieser ist allenthalben am Werk; er beherrscht unterschwellig die gesamten Überlegungen, und zwar selbst dort, wo nur 8 Dazu eingehend Germann (1950) S. 226. Aus dem k a u m noch übersehbaren juristischen Schrifttum zum Gerechtigkeitsproblem w i r d m a n von dem hier gewählten B l i c k p u n k t nicht allzu v i e l Belehrung schöpfen können. Wer die vorwiegend pragmatisch bestimmten Gerechtigkeitserwägungen des Praktikers zu charakterisieren versucht, hat es, obwohl ihnen oftmals einige Subtilität keineswegs fehlt, m i t vergleichsweise schlichteren Gedankengebilden zu tun, als man sie i m rechtsphilosophischen Schrifttum zu finden pflegt. Gleichwohl sind hier zu nennen die (vielfach unterschiedliche Auffassungen widerspiegelnden) Arbeiten von Engisch (1971), Hart (1961), Kelsen (1953), Kriele (1963), Nef (1941), Perelman (1967), Podlech (1971), Tammelo (1975), Welzel (1962), H. J. Wolff (1949); weitere Literaturangaben i n den rechtsphilosophischen Gesamtdarstellungen von Henkel (1977), Radbruch (1973), Ryffel (1969). 9 Daß es trotz der i m einzelnen oftmals divergierenden Ansichten einen Kernbereich von Gerechtigkeitsüberzeugungen gibt, der weitgehend u n strittig ist, w i r d auch von W. Geiger (1963) S. 26 u n d Werner (1971) S. 155, 378 m i t Nachdruck betont. 10 Statt vieler gleichlautender Äußerungen aus P r a k t i k e r kreisen mag die Stellungnahme von Franz Scholz zitiert sein: „Wie auch das Gesetz lauten mag, der Richter muß i n jedem Einzelfall die gerechte Entscheidung finden können (Ein Leben für die Gerechtigkeit, 1955, S. 70).
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wirtschaftliche Erwägungen, soziale Gesichtspunkte, psychologische Rücksichten oder methodische Postulate beteiligt zu sein scheinen. Gerechtigkeitsvorstellungen stehen häufig auch hinter indifferent k l i n genden Stichworten wie angemessen, vernünftig, sachgemäß, gegenwartsbezogen, lebensrichtig usw. Diese würden sich sehr unbestimmt und oft geradezu nichtssagend ausnehmen, wenn man nicht dazu überginge, sie auf Grund der jeweils gültigen Gerechtigkeitsanschauungen m i t Inhalt zu erfüllen. Erhöht w i r d die allgemeine Verwendbarkeit des Gerechtigkeitsbegriffs für die i m Rechtsalltag zu leistende Arbeit noch dadurch, daß er sich sowohl i n seiner metaphysischen Fassung als auch i n säkularisierter Form hilfreich erweist. Es besteht m i t h i n kein Grund, sich von i h m wegen der überirdischen Bindungen zu distanzieren, die für ihn lange Zeit charakteristisch waren und die bis i n die Gegenwart hinein wirksam geblieben sind. Vielmehr hat sich in neuerer Zeit gezeigt, daß er i n einer profanen Umwelt seine Funktionsfähigkeit keineswegs verliert. Auch das verweltlichte Denken w i l l letzten Endes nicht i n Einzelheiten stecken bleiben, sondern strebt nach einer umfassenden, die Einzelaspekte überwölbenden Betrachtungsweise, für die der Gerechtigkeitsbegriff den angemessenen Rahmen abgibt 1 1 . Gewiß w i r d i n der Rechtspraxis von einer ausdrücklichen Berufung auf die Gerechtigkeit nur selten Gebrauch gemacht. I n den gerichtlichen Urteilen, juristischen Gutachten und selbst i n den Darlegungen der Anwälte ist eine solche kaum zu finden. Der praktizierende Jurist scheut sich, das große Wort Gerechtigkeit beständig i n Anspruch zu nehmen und bedient sich statt dessen, soweit es irgend angeht, detaillierter Umschreibungen 12 . Doch spricht diese Zurückhaltung nicht gegen die zentrale Bedeutung, die das Gerechtigkeitsdenken für die juristischen Erörterungen tatsächlich hat. Bei der Besinnung auf die für die modernen Gerechtigkeitsanschauungen kennzeichnenden Kriterien w i r d hier i m Bemühen u m einen engen Anschluß an den überlieferten Wissensstand von dem ausgegangen, was über die Jahrhunderte hinweg als ihre Hauptgrundlage angesehen worden ist, nämlich vom Prinzip der Gleichbehandlung und von der Forderung, daß bei Handhabung des Gerechtigkeitsmaßstabs „jedem das Seine" zugeteilt werden soll. 11 F ü r die sozialistischen Staaten Osteuropas Meister (1964) S. 1150 ff.; Schüsseler (1966) S. 4 ff.; Gollnick / Haney (1968) S. 584 sowie die „ P r o grammatische E r k l ä r u n g " des Staatsratsvorsitzenden der DDR, Walter Ulbricht, vor der Volkskammer am 4.10.1960 (Berlin 1960) S. 42, i n der die Überzeugung ausgesprochen w i r d , daß Gerechtigkeit nicht n u r eine papierne Formel sei, sondern alle Bereiche des Lebens durchdringe. 12 Arndt (1957) S. 14.
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Der Grundsatz der Gleichbehandlung 13 läßt sich dahin aufgliedern, daß gleichliegende Fälle nach denselben sachlich-inhaltlichen Regeln (und gemäß den gleichen methodischen Grundsätzen) zu erledigen sowie daß ungleiche Fälle nach Maßgabe des Unterschieds zu behandeln sind. Wo es der Rücksicht auf die besonderen Umstände der Gesamtlage oder des speziellen Sachverhalts bedarf, hat auch diese nach gleichen Maßstäben zu erfolgen. Der Gleichheitsgedanke besitzt ungeachtet der über seine inhaltliche Ausgestaltung möglichen Meinungsunterschiede eine beträchtliche Überzeugungskraft. M i t seiner Hilfe möchte man ganz allgemein einer Gesellschaft den Weg ebnen, i n der alle dieselben Lebens- und Fortkommenschancen haben und i n der die Voraussetzungen einer den Grundsätzen der Menschlichkeit entsprechenden Existenz für jedermann, insbesondere auch für die niederen Volksschichten, gesichert sind. Das w i r k t auch auf die Rechtsanwendung zurück. Eine lediglich formale Gleichbehandlung, mit der man sich früher vielfach begnügt hatte, erscheint nicht mehr hinreichend. Es w i r d vielmehr intensiv nach Durchsetzung einer effektiven Chancengleichheit gestrebt; und zwar auch dort, wo — wie etwa beim Recht auf Arbeit— zur Zeit noch keine entsprechende subjektiv-rechtliche Position des einzelnen Rechtsinteressenten anerkannt ist. Die Beurteilung, was m i t Bezug auf das Gleichbehandlungsprinzip als sachrichtig zu betrachten ist, hängt i m einzelnen häufig davon ab, welche allgemeinen Anschauungen i n der Rechtsgemeinschaft herrschend sind. Die Frage „rechtlich gleich" oder „rechtlich ungleich" w i r d mithin, soweit nicht das Gesetz bestimmte Hinweise gibt, oftmals m i t Hilfe von gedanklichen Elementen vorweg entschieden, die dem außer juristischen Bereich entstammen. I n ähnlicher Weise führt die Anwendung des Grundsatzes, daß jedem das Seine zuzuteilen sei, infolge differierender Grundüberzeugungen gegebenenfalls zu unterschiedlichen Ergebnissen. Jede Zeit hat darüber ihre eignen Auffassungen. Versucht man die Maßstäbe, nach denen dem einzelnen das Seine zugeteilt werden könnte (Jedem nach seinem Verhalten bzw. nach seinen Fähigkeiten, nach seinen Bedürfnissen usw.), i m Hinblick auf die vom Rechtsanwender vorzunehmenden Beurteilungen konkreter zu formulieren, dann kann die Maxime „Jedem das Seine" je nach dem allgemeinen gedanklichen Fundament, von dem ausgegangen wird, etwa dahin verstanden werden, daß es bei der rechtlichen Erwägung, soweit das Gesetz schweigt, darauf ankomme: a) was dem einzelnen angesichts der günstigen oder ungünstigen Folgen seiner Handlungsweise zukommt; 13 Richtungweisend i n dieser Hinsicht Podlech, Gehalt u n d F u n k t i o n des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes (1971).
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b) was auf Grund der mehr oder minder achtbaren Absicht, die seinem Verhalten zugrunde lag, angemessen ist; c) was von i h m angesichts seiner möglicherweise begrenzten geistigen Fähigkeiten bzw. seiner geringen Sachkenntnisse verlangt werden kann; ferner daß maßgebend sei, d) welche Leistung er i n der Vergangenheit zur Förderung des Gemeinwohls erbracht hat; e) welche mehr oder minder geachtete Stellung er i m sozialen Leben einnimmt; f) welcher rechtlichen Unterstützung er zur Führung eines menschenwürdigen Daseins und zur Entfaltung seiner Persönlichkeit bedarf; g) auf welche Mithilfe durch das Recht ein Mensch Anspruch hat, der ohne eigne Schuld i n Not und Elend leben muß usw. Die zur weiteren Differenzierung nötigen Denkschritte können hier nicht verfolgt werden. Hält man statt dessen den Blick auf den größeren Zusammenhang gerichtet, dann zeigt die obige Übersicht m i t ihren inhaltlich weit ausgreifenden und energisch vorwärts strebenden Zuteilungsgesichtspunkten, daß das Gerechtigkeitsdenken, wie es heute allgemein geübt wird, die Grenzen längst verlassen hat, die i h m durch das i m 19. Jahrhundert lediglich abstrakt und stark einengend aufgefaßte Erfordernis der Gleichbehandlung sowie durch das ebenfalls restriktiv ausgelegte Gebot des neminem laedere und des honeste vivere gesetzt worden waren. Der überkommene Gerechtigkeitsbegriff hat sich i n der ideologisch bedingten Dürftigkeit, die er den liberalistischen Tendenzen des vorigen Jahrhunderts verdankt, für die Bewältigung der modernen Rechtsprobleme als wenig brauchbar erwiesen. Vollends ungeeignet ist er als Grundlage für ein eigenverantwortliches Eingreifen durch den Rechtsanwender, das der Liberalismus alter A r t infolge seines festen Glaubens an die Selbststeuerung des Gesamtgeschehens nicht i n Betracht gezogen hatte. Der am Rechtsfindungsvorgang aktiv beteiligte Fallbearbeiter bedarf statt dessen einer Gerechtigkeitskonzeption, die konkreter durchgebildet ist und die vielfältigen Gesichtspunkte i n sich aufnimmt, die für das Zustandekommen der jeweils zutreffenden Entscheidung wichtig werden können. Der Rechtsanwender hat, obwohl er insoweit keine bewußten Überlegungen anzustellen pflegt, diese umfassende Gerechtigkeitsanschauung i n aller Regel zu seinem festen geistigen Besitz gemacht. Er schließt wie selbstverständlich alle unter dem Blickpunkt der Gerechtigkeit zur Geltung kommenden Bestimmungsmomente zu einem Ganzen zu-
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sammen, innerhalb dessen je nach Lage der Sache bald der eine und bald der andere Gesichtspunkt i m Vordergrund zu stehen hat. Zu diesen Bestandteilen des substantiell verstandenen Gerechtigkeitsbegriffs gehört (ganz allgemein und insbesondere beim Arbeiten i n der gesetzesfreien Sphäre) die Wahrung der ethischen Mindestanforderungen, die gegenwartsbezogene Betrachtungsweise, die Obacht auf etwaige Falleigentümlichkeiten; ferner auf das, was der Natur der Sache entspricht; auf die Durchsetzung des sozialen Gesichtspunkts und die Konsensfähigkeit der Entscheidung. Vom Gerechtigkeitsdenken des Praktikers w i r d auch die Beachtung dessen umfaßt, was i m Einzelfall die Zweckerwägung, der Gedanke der Verhältnismäßigkeit, das Erfordernis der Praktikabilität gebieten; desgleichen die Rücksicht auf das Rechtsstaatsprinzip mit seinen zahlreichen Aspekten, die Aufmerksamkeit auf den Grundsatz der Rechtssicherheit, der Formwahrung und vieles andere 14 . Alle diese Faktoren gehen zu Recht i n die Gerechtigkeitsüberlegungen mit ein. Keiner von ihnen wäre für sich allein imstande, das Denkbild der Gerechtigkeit inhaltlich auszufüllen. Jedes dieser Elemente bedarf vielmehr der Ergänzung durch zahlreiche andere Bestandteile des Gerechtigkeitsbegriffs. Das einzelne K r i t e r i u m vermag nur i m Zusammenwirken aller an der Beantwortung der Richtigkeitsfrage nutzbringend teilzunehmen 15 . Nicht alle auf diese Weise i n die Gerechtigkeitsbetrachtung einzubeziehenden Gesichtspunkte wurden von jeher als ihr zugehörig angesehen. Einige von ihnen sind sogar lange Zeit als i m Gegensatz zur Gerechtigkeit stehend betrachtet und erst nach und nach als Teilaspekt des Gerechtigkeitsbegriffs erkannt worden; so ζ. B. das soziale Element, das ursprünglich als i n dem Verlangen nach „Billigkeit" der juristischen Entscheidung enthalten aufgefaßt wurde, wobei man Gerechtigkeit und Billigkeit einander antithetisch gegenüber zu stellen pflegte; ferner der Zweckgedanke, der i m scharfen Gegensatz zur Gerechtigkeit zu stehen schien, solange man diese als eindeutig metaphysisch gebunden betrachtete; desgleichen die ethischen Prinzipien, die seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr recht i n das juristische Denken zu passen schienen und deren Einfluß auf das Recht man von da ab i n immer neuen A n läufen zurückzudrängen versucht hat. 14 Uber die dabei auftretenden Antinomien, soweit Grundrechte betroffen sind, Rüiner „Grundrechtskonflikte" (1976) S. 453 ff. 15 A u f diesen umfassenden Charakter des Gerechtigkeitsdenkens hat bereits Aristoteles hingewiesen, der i n der Nikomachischen E t h i k (V. 3, 1129 a) sagt: „Daher erscheint die Gerechtigkeit oft als die einfluß reichste Tugend u n d als ein Wunder, w i e es das i n West u n d Ost nicht wieder gibt. Geradezu sprichwörtlich heißt es: u n d die Gerechtigkeit hält eine jede Tugend i m Schöße."
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2. T e i l : Der Gesamtbestand vorpositiver Materialien
Diese die deutsche Hechtsentwicklung betreffenden Hinweise gelten für andere Rechtsgemeinschaften nur mit einigen Einschränkungen. So war z.B. i n Dänemark der Gegensatz zwischen Recht und Billigkeit auf Grund der dort wirksamen Traditionen von jeher nur wenig ausgebildet. I m zaristischen Rußland standen sich unter dem Einfluß alter Überlieferungen Recht und Zweckmäßigkeit so nahe, daß von einem Gegensatz zwischen ihnen nur bedingt gesprochen werden konnte; diese Besonderheit w i r k t i n gewisser Weise i m heutigen Sowjetrußland noch nach. I n den Staaten mit mohammedanischer Bevölkerung gehen auf religiöser Grundlage Recht und Ethik bis auf den heutigen Tag eine so enge Verbindung ein, daß sie kaum getrennt werden können. Charakteristisch ist für den hier skizzierten, die zahlreichen Einzelaspekte zusammenfassenden Gerechtigkeitsbegriff eine Eigentümlichkeit, die das Gerechtigkeitsdenken sowohl i n seiner metaphysisch gebundenen als auch i n seiner diesseitigen Fassung auszeichnet: daß nämlich die Gerechtigkeitserwägung dem Betrachter einen überlegenen Standpunkt verschafft. Der Rechtsanwender gelangt auf Grund dessen zu verläßlicheren Ergebnissen, als sie an Hand bestimmter Einzelaspekte — welcher A r t sie auch sein mögen — jemals erreichbar sein würden. Die Gerechtigkeitsüberlegung nimmt wirtschaftliche Maßstäbe, soziale Gesichtspunkte, ethische Grundsätze, Zweckerwägungen usw. i n sich auf, ohne von ihnen unterjocht zu werden. A l l e diese speziellen Bestimmungsmomente sind i n ihrer Vereinzelung nicht frei von Einseitigkeit. Sie kollidieren auch vielfach miteinander und müssen erst auf höherer Ebene sachgemäß i n Einklang gebracht werden. Keins von ihnen kann für sich absolute Geltung und unbedingten Respekt beanspruchen. Das gilt zunächst für die ethischen Prinzipien. Sie haben ip früheren Jahrhunderten die Rechtsauffassung entscheidend geprägt und zeitweise auf der Grundlage religiöser Überzeugungen ganz und gar beherrscht. Diese starke Vorherrschaft des ethischen Moments i m Recht gehört jetzt der Vergangenheit an. Freilich kann — wie bereits dargelegt wurde — an eine Rechtshandhabung ohne Zurückgreifen auf ethische Prinzipien nicht gedacht werden. Diese sind, wo auf inhaltlich befriedigende Entscheidungen Wert gelegt wird, keineswegs zu entbehren. Daß sie aber jemals wieder eine A r t Alleinherrschaft über die rechtliche Argumentation antreten könnten, ist zum mindesten i m europäischen Raum wenig wahrscheinlich. Auch der Zweckgesichtspunkt, der während der letzten Jahrzehnte innerhalb der Jurisprudenz große Macht erlangt hat, kann keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen. Sowohl i n der Rechtslehre als auch i n unserer bundesdeutschen Rechtspraxis ist bisher allenthalben die Überzeugung wirksam gewesen, daß die Rechtsgewinnung i m
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richterlichen Freiraum vom Zweckdenken nicht überwältigt werden darf. Die Gerichte zeigen sich nicht bereit, das Zweckargument, obwohl es ihnen oftmals gut zustatten kommt, als ein die Richtigkeitsüberlegungen durchdringendes oberstes Prinzip anzuerkennen. Der Jurist darf sich nach der herrschenden Auffassung nicht m i t einer Lösung zufrieden geben, die zwar durch Zweckmäßigkeitsgründe gedeckt ist, aber darüber gleichfalls bedeutsame Gesichtspunkte vernachlässigt. M i t unter vermag nach den geltenden Anschauungen eine noch so große Zweckmäßigkeit den Rechtsanwender nicht von der Beachtung anderer wichtiger Gerechtigkeitsaspekte zu entbinden 16 . Die große Mehrheit unserer Juristen wehrt sich entschieden dagegen, daß die rechtlichen Überlegungen der Zweckbetrachtung als dem höchsten Richtmaß unterstellt werden. Manchmal beruht diese Haltung auf dem Einfluß von Traditionen, die teils i m Volk, teils i n der Jurisprudenz lebendig sind. Vielfach stehen aber i m Hintergrund auch spezielle weltanschauliche Überzeugungen wie ζ. B. die, daß das menschliche Leben, falls der Zweckgedanke zwingende K r a f t erhält, i m ganzen veröden und damit auch das Recht der geistigen Verarmung anheimfallen müßte. Nicht anders verhält es sich nach der überwiegenden Auffassung m i t dem sozialen Element, soweit es bei der juristischen Erörterung bedeutsam wird. Ungeachtet der Wichtigkeit, die es i n neuerer Zeit erlangt hat, w i r d meist m i t Nachdruck daran festgehalten, daß die Gerechtigkeit sich nicht i n der Sorge für das sozial Wünschenswerte erschöpfen darf, daß sie vielmehr auch zahlreichen anderen Momenten Rechnung zu tragen hat, die i m Einzelfall möglicherweise die größere Durchschlagskraft besitzen. Die überwiegende Mehrheit unserer Juristen dürfte, obwohl ein statistischer Beweis dafür zur Zeit kaum möglich ist, der Ansicht sein, daß das zwischenmenschlich Wünschenswerte keineswegs den unbedingten Vorrang vor allen anderen, i m Gerechtigkeitsbegriff enthaltenen Gesichtspunkten genießen kann. Viele zögern schon allein wegen der ihnen aus Erfahrung bekannten Vielzahl von Sachgestaltungen, die das Leben hervorbringt, sich i n solcher Weise festzulegen; sie meinen, sich ihre Entschlußfreiheit für den Fall erhalten zu müssen, daß rechtliche Überlegungen anderer A r t (etwa solche staatspolitischer, wirtschaftlicher, kultureller oder auch psychologischer Provenienz) für die jeweils zu entscheidende Rechtssache ein größeres Gewicht besitzen, und sind dabei durchaus auf dem richtigen Wege. Manchem erscheint schon der Gedanke als solcher unbefriedigend, daß die vorteilhafte Wirkung, die eine bestimmte juristische Auffassung i m gesellschaftlichen Leben voraussichtlich haben wird, letzten Endes 16 Zeidler
S. 223 ff.; Eb. Schmidt
(1961) S.40f.
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dafür ausschlaggebend sein soll, was dem Recht und der Gerechtigkeit entspricht 17 . Selbst diejenigen, die die Rechtsfindung i n erster Linie als ein Instrument zur Förderung der sozialen Wohlfahrt betrachten, erkennen das bisweilen wenigstens dem Grundsatz nach an. Gewiß pflegt sich der Jurist bei seiner Arbeit i m gesetzesfreien Bereich heute schwerer als früher für eine Lösung zu entschließen, die dem maßgebenden sozialen Leitbild nicht voll entspricht. Gleichwohl w i r d er dem Streben nach dem gesellschaftlich Nützlichen meist keinen unbedingten Vorrang gegenüber den übrigen, bei der Gerechtigkeitserwägung zum Zuge kommenden Rücksichten zuerkennen. I n die gleiche Richtung geht auch die herrschende Ansicht über das Verhältnis zwischen der Gerechtigkeit und den politischen Gesichtspunkten, wobei hier speziell die staats- bzw. gesellschaftspolitischen Anschauungen gemeint sind. Man verspricht sich i n der Regel nichts von einer schrankenlosen Vorherrschaft des politischen Arguments bei der Rechtsfindungsarbeit. Der Gedanke, daß die massive politische Parteinahme des Richters (Rechtsanwenders) i n Zukunft zur Regel werden könnte, löst i m Gegenteil bei den meisten schreckhafte Vorstellungen aus. Die mitunter mehr oder minder verschlüsselt erhobene Forderung, daß die juristischen Überlegungen sich dem politischen Argument unbedingt unterzuordnen hätten, w i r d bei uns nicht anerkannt. I n der Regel sieht man zwar ein, daß der Jurist infolge des enger gewordenen Zusammenhangs der Rechtsfindung m i t dem Gesamtgeschehen heute auch von den politischen Gegebenheiten mehr als ehedem Kenntnis nehmen muß und daß sie innerhalb der rechtlichen Erörterung je nach Lage des Falles sogar stark i m Vordergrund stehen können. Doch bleibt dabei nach der herrschenden Auffassung die Gerechtigkeit m i t ihren umfassenderen Aspekten das letzten Endes dominierende Element. Politische Gesichtspunkte können i m gesetzlich nicht geregelten Bereich nur insoweit zum Zuge kommen, als sie m i t dem Grundgedanken von Recht und Gerechtigkeit vereinbar sind. Dadurch w i r d nicht ausgeschlossen, daß man den Rechtsanwender unter Umständen zu weitgehender Loyalität gegenüber den politischen Anschauungen der Staatsführung für verpflichtet hält. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß er die für die jeweilige Rechtsgemeinschaft gültigen Grundentscheidungen (auch soweit sie nicht i n der Verfassung festgelegt sind) zu respektieren hat. Mitunter erfordert die Mitver17 Wieacker (1967) S. 5701, dessen Ausführungen zu diesem P u n k t auch die i n der Praxis häufig vertretene Anschauung widerspiegeln. Die V o r stellung, daß die Jurisprudenz i n der Hauptsache zur Gefahrenabwehr bzw. zur Beseitigung sozialer Schäden einzusetzen sei, erscheint von diesem B l i c k p u n k t aus geradezu als eine Position, bei der das eigentlich Wesentliche der Rechtsfindungsaufgabe verloren geht.
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antwortung des Juristen für den Aufbau einer auf Freiheit und Gleichheit gerichteten Demokratie von i h m sogar einen entschlossenen Einsatz i n dieser Hinsicht. Aber von einem unbedingten Primat des politischen Standpunktes bei der Rechtsgewinnung kann nicht gesprochen werden. Politisches Verhalten muß vielmehr stets von der A r t sein, daß es i n bezug auf die Zielsetzungen und die verwandten M i t t e l einer kritischen Prüfung unter der rechtlichen Perspektive standhält 1 8 . Was nach früherer Anschauung nicht miteinander i n Einklang zu bringen war, erscheint heute vereinbar: daß nämlich der Jurist sich bei seiner Arbeit den politischen Anschauungen der Zeit gegenüber weitgehend aufgeschlossen zeigen und gegebenenfalls sogar tief i n die Politik einsteigen kann, ohne daß er dabei das Recht den politischen Postulaten vorbehaltlos auszuliefern braucht. Der Rechtsanwender erscheint (wenngleich es i h m mitunter schwer fällt, beides zu verbinden, und Fehlschläge jederzeit möglich bleiben) fähig, selbst i n heiklen politischen Fragen zu einem Standpunkt durchzudringen, der gegen Einwände gut gesichert und auch für den abweichend Eingestellten als stichhaltig zu betrachten ist. Diese Überzeugung liegt auch der Errichtung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde, dessen Mitglieder infolge der ihnen vom Grundgesetz zugewiesenen Aufgaben ständig genötigt sind, politische Gesichtspunkte auf solche Weise i n die rechtlichen Erörterungen einzubringen, daß die Gerechtigkeit dabei keinen Schaden leidet. Man geht davon aus, daß es zwischen der nicht mehr aufrecht zu erhaltenden weltanschaulichen Abstinenz, die früher vom Rechtsanwender gefordert wurde, und der einseitigen politischen Parteinahme eine mittlere Position gibt, die dem Bearbeiter die nötige Aufgeschlossenheit auch gegenüber andersartig Orientierten erlaubt, ohne daß dabei die Gerechtigkeitsüberlegung von politischen Erwägungen überwältigt werden müßte. Außerhalb unserer Grenzen können i n dieser Hinsicht abweichende Anschauungen maßgebend sein. Wo dem politischen Moment eine Bedeutung beigelegt wird, die alles andere aus dem Felde schlägt, pflegt regelmäßig die Auffassung zu herrschen, daß dem politischen Gedankengut auch innerhalb der rechtlichen Erörterung der unbedingte Vorrang zukomme. Wer es ferner als eine Hauptaufgabe des Rechts Aus dem neueren Schrifttum über das Verhältnis von Recht u n d P o l i t i k mögen hier erwähnt sein die Stellungnahmen von Ballerstedt (1969), Benda (1977), Eckertz (1976), Grimm (1969), Henkel (1974), E. Kogon (1969), Leibholz (1966), Pulch (1976), Ramm (1972), Rottleuthner, Richterliches Handeln (1973), Ryffel (1972), Wassermann (1972) sowie die Arbeiten von Wiethölter, vor allem seine „Anforderungen an den Juristen heute" (1969); kritisch gegenüber Wiethölters Auffassung (von teilweise unterschiedlichen Ausgangspunkten her) vor allem Schwerdtner (1969) S. 136 ff. u n d Fikentscher Bd. 3 S. 611 ff.; weitere L i t e r a t u r zu diesem unerschöpflichen Thema bei Engisch (1971) S. 139 ff., Schwab (1974) S. 28 u n d Futter (1975) S. 51 ff.
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ansieht, die Staatsführung über die vom Gesetz getroffenen Anordnungen hinaus bei der Verfolgung ihrer Ziele tatkräftig zu unterstützen, w i r d eine juristische Überlegung, die von dieser Linie abweicht, schwerlich als zutreffend anerkennen. Von solchen Ansatzpunkten her erscheint dann jede Gerechtigkeitserwägung, die sich den politischen Absichten des jeweiligen Regimes nicht vollkommen fügt, von vornherein verfehlt. 4. Ethische Grundsätze als Teil der Richtigkeitserwägung Zur Verdeutlichung und Ergänzung dieser bisher sehr allgemein gehaltenen Ausführungen bedarf es noch des Eingehens auf zwei i n den Bereich des Gerechtigkeitsdenkens gehörige spezielle Fragenkomplexe, mit denen der Jurist bei der Rechtsfindung ständig zu t u n hat: nämlich auf die ethischen Maßstäbe und auf das, was man als das soziale Element zu bezeichnen pflegt. Es w i r d dabei nicht der wenig lohnende Versuch gemacht, diese i n der Rechtsfindungspraxis eng miteinander verklammerten Kategorien scharf gegeneinander abzugrenzen. Sie sind auch ohnedem geeignet, eine gewisse Übersicht i n die Stoffmassen zu bringen. A u f bestimmte m i t diesen beiden Problemkreisen zusammenhängende Spezialfragen w i r d später noch zurückzukommen sein (S. 171 ff.). Über die Eigenart ethischer Bezugspunkte und über ihre Wirkungsweise i m Rahmen der Rechtsgewinnung scheint vielfach keine anschauliche Vorstellung zu bestehen. Dies dürfte teilweise damit zusammenhängen, daß sittliche Bestimmungsfaktoren bei ihrem Eindringen i n die rechtliche Argumentation meist sogleich m i t einer juristischen Einkleidung umgeben werden, so daß ihre Herkunft dem einzelnen oft nicht voll zum Bewußtsein kommt. Der Rechtsanwender sieht zudem meist keinen Anlaß, sich den Einfluß sittlicher Grundsätze auf die Rechtsfindungsarbeit zu vergegenwärtigen. Die traditionelle Methode der Rechtsgewinnung nötigt i h n nicht, auf diese Komponente besonders zu achten, sondern legt es i h m i m Gegenteil eher nahe, sie zu ignorieren. Auch davon abgesehen erweckt die Kategorie des Ethischen als solche heute nur wenig Anteilnahme, zumal wenn man dabei an den überkommenen Kodex sittlicher Anforderungen denkt. Unter dem Einfluß des Zeitgeistes erscheint sie vielen nicht so aktuell wie etwa das Zweckdenken, sondern eher etwas unmodern, wenn nicht geradezu altmodisch. Das alles steht der Einsicht i n die reale Bedeutung ethischer Maßstäbe für das Recht i m Wege. Hinzu
kommt
noch,
daß
die
einschlägige
rechtswissenschaftliche
L i t e r a t u r 1 9 sich i n n e u e r e r Z e i t m e i s t n u r m i t sehr a l l g e m e i n e n G r a n d ie Aus dem Schrifttum sind vor allem bemerkenswert Coing (1970) S. 11 ff.; Engisch
(1971) S.82ff.; Th. Geiger
(1947) S. 235 ff.; Haney
(1967) S. 147 ff.;
4. Ethische Grundsätze als T e i l der Richtigkeitserwägung
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sätzen der Rechtsethik befaßt hat, was dem Fallbearbeiter ihre Nutzbarmachung für die Punkte, bezüglich deren er von der Theorie eine Orientierungshilfe erhofft, nicht gerade erleichtert. Versucht man, sich i m einzelnen zu vergegenwärtigen, welcher A r t die bei der Rechtsgewinnung zum Zuge kommenden ethischen Prinzipien sein können, dann geraten sogleich die verschiedenartigsten gedanklichen Elemente ins Blickfeld. Grundsätze aus dem Bereich der Ethik sind bei der Rechtsfindung am Werk, wenn i m Namen des Rechts ein bestimmtes Verhalten gefordert w i r d ; so wenn es sich darum handelt, welcher Aufmerksamkeitsgrad vom Teilnehmer am Straßenverkehr i n bestimmten Situationen zu verlangen ist; welche Rücksicht i n der Ehe der eine Partner dem anderen gegenüber zu nehmen hat; welches Gebaren i m Geschäftsverkehr als gegen Treu und Glauben verstoßend anzusehen ist; welche Verhaltensweisen von Vertretern j u ristischer Personen rechtlich nicht akzeptabel erscheinen und daher als von Nachteilen bestimmter A r t bedroht anzusehen sind. Normative ethische Gesichtspunkte kommen jedoch vielfach auch bei wertenden Beurteilungen sonstiger A r t zum Zuge, die der Bearbeiter i m Verlauf des RechtsfindungsVorgangs abzugeben hat; so etwa wenn es darum geht, auf der Grundlage des Gerechtigkeitsprinzips Zurechnungsprobleme zu lösen oder i n sonstiger Hinsicht die Gewichte angemessen zu verteilen. Die Frage, welche Werte als Grundlage für die rechtliche Beurteilung maßgebend sein sollen und wie die miteinander konkurrierenden Werte einzustufen sind, stellt ein Hauptthema der Rechtsethik dar. Rechtsethische Orientierungen nehmen auch noch i n einem anderen Sinne auf die Rechtsgewinnung Einfluß, nämlich bei der Feststellung, welche methodischen und verfahrensmäßigen Rücksichten der Rechtsanwender auf der Suche nach der zutreffenden Lösung zu beachten hat, d. h. welche Denkgesetze eingehalten werden müssen, welche A r t des Vorgehens zu wählen ist usw. Die ethische Anforderung richtet sich hier also nicht an die Rechtsgenossen, deren Verhalten an Hand sittlicher Maximen zu beurteilen ist, sondern an den praktizierenden Juristen selbst, der bei seiner Arbeit bestimmte Regeln einzuhalten bzw. bestimmte Pflichten zu erfüllen hat. Solche berufsethischen Prinzipien sind bereits mehrfach erwähnt worden; von ihnen w i r d auch späterhin noch eingehend die Rede sein. Sie bilden innerhalb der Rechtsethik einen besonderen Problemkreis, der Juristen aller Berufszweige zu H. L. A. Hart, Recht u n d M o r a l (1971); Henkel (1977) S. 66 ff.; Arth. Kaufmann, Recht u n d Sittlichkeit (1964); Pawlowski (1964) S. 503 ff.; Podlech (1972) S. 129 ff.; Radbruch (1973) S. 134 ff.; Weischedel, Recht u n d E t h i k (1956); Welzel (1949) S. 409; (1951) S. 7 ff.; Wieacker (1961) S. 337 ff.; Zippelius (1962) S. 131 ff. β Döhring
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schaffen macht und auf den daher i n diesem Zusammenhang hingewiesen werden muß. Andererseits hat der Fallbearbeiter jedoch, wenn er i m gesetzesfreien Raum arbeitet, vielfach auch Denkschritte vorzunehmen, bei denen keine sittlichen Postulate zur Geltung kommen, sondern lediglich Erwägungen technischer A r t bzw. Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit mitsprechen. Manchmal hat i n einer regelungsbedürftigen Situation weder der einzelne noch die Allgemeinheit ein sonderliches Interesse daran, daß die Beseitigung bestehender Ungewißheiten inhaltlich i n einem durch die Ethik vorgezeichneten Sinn erfolgt, sondern man gibt anderen K r i terien den Vorzug. I n gewissen Rechtsbereichen sprechen zwar auch ethische Erwägungen irgendwie m i t ; sie stellen jedoch nicht den Hauptgesichtspunkt für die vom Gesetzgeber bzw. vom Rechtsanwender zu treffende Regelung dar. Es gibt zahlreiche Fälle dieser A r t . Ihr Gewicht innerhalb der gesamten Rechtsmasse w i r d voraussichtlich m i t dem Fortschreiten der industriellen Entwicklung noch weiter zunehmen. Ein besseres Verständnis für ihre Bedeutung ist innerhalb der Allgemeinheit jedoch nur zu erwarten, falls sich der Einfluß der Wertphilosophie, die unser Rechtsdenken zur Zeit durchdringt, i n Zukunft einmal abschwächen sollte. Der Gesetzgeber hat solche, vorwiegend auf naturgesetzlichen Erkenntnissen beruhende Regelungen z. B. i n der Straßenverkehrs- und der Luftverkehrs-Zulassungsordnung getroffen; desgl. i m Tierkörperbeseitigungsgesetz, i n den Bestimmungen über Strahlenschutz, i n den Verordnungen über den Umgang m i t Dampfkesselanlagen, m i t brennbaren Flüssigkeiten, mit explosiven Stoffen und vielen anderen Materien von rein technischem Charakter. Aber auch i n der außergesetzlichen Sphäre gibt es mancherlei Bereiche, denen der Rechtsanwender nicht so sehr an Hand ethischer Prinzipien, sondern vorwiegend auf Grund von Zwecküberlegungen gerecht werden muß. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist etwa die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs über das Verhältnis von Kaufund Darlehnsvertrag beim B-Geschäft des finanzierten Teilzahlungskaufs 2 0 . Wie aus dem Gesagten bereits hervorgeht, lassen sich Recht und Ethik niemals zur Deckung bringen. Die rechtliche Argumentation w i r d immer nur zu einem Teil durch ethische Erwägungen bestimmt. Auch dort, wo die juristische Beurteilung für ethische Bezugspunkte grund20 B G H Z Bd. 47 S. 207 ff. nebst den dazu gehörigen technischen Hinweisen v o n Pagendarm f ü r die Behandlung des finanzierten Abzahlungsvertrags i n „Wertpapiermitteilungen" 1967 S. 434.
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sätzlich offen ist, können diese mitunter nur i n gewissen Grenzen zum Zuge kommen. Das Recht setzt sich längst nicht überall für die Beachtung dessen ein, was sittlichen Grundsätzen entspricht. Darüber jedoch, wie groß deren Einfluß auf die Rechtsgewinnung heute ist und wie sich die Beziehungen zwischen Recht und Ethik i n der Zukunft voraussichtlich gestalten werden, lassen sich nähere A n gaben nur schwer machen. Es steht zwar fest, daß bereits seit Beginn des 18. Jahrhunderts die Trennung der rechtlichen und der ethischen Betrachtungsweise mit Nachdruck betrieben worden ist und daß diese Bestrebungen i n vieler Hinsicht Erfolg gehabt haben. Aber andererseits sind bis i n die unmittelbare Gegenwart hinein immer wieder auch gegenläufige Bewegungen zu verzeichnen. Faßt man die größeren Zusammenhänge ins Auge, so zeigt sich, daß die Entwicklung meist i n Schüben vor sich geht. Häufig betreffen die Veränderungen i m Verhältnis von Recht und Ethik nur bestimmte Rechtsbereiche. Mitunter läßt sich aber auch innerhalb desselben Rechtsgebiets ein zunehmender oder abflauender Einfluß sittlicher Momente nur mit Bezug auf bestimmte Fragenkomplexe feststellen. Insgesamt betrachtet nimmt die Bedeutung ethischer Richtpunkte für die Rechtsgewinnung offenbar nur langsam ab. Gewiß überläßt das Recht viele moralisch bedenkliche oder auch eindeutig verwerfliche Verhaltensweisen der Selbstregelung durch die Gesellschaft. Aber i n anderer Hinsicht glaubt man dann doch wieder auf ethische Maßstäbe nicht verzichten zu können und macht von ihnen ausgiebig Gebrauch. Der Grundsatz, daß die Justiz sich nur für die Aufrechterhaltung des ethischen Minimums einzusetzen habe, w i r d streckenweise immer wieder i n den Hintergrund gedrängt durch die Auffassung, daß sie i n mancher Hinsicht mehr leisten müsse als nur die Sicherung von M i n destanforderungen. Der technische Fortschritt und die m i t i h m Hand i n Hand gehende industrielle Entwicklung haben trotz der durch sie hervorgerufenen tiefgreifenden Veränderungen den Einfluß moralischer Gesichtspunkte auf die juristische Erörterung zwar gebietsweise zurückdrängen, aber nicht endgültig schwächen können. I m Gegenteil: Durch die von ihnen ausgehende Bedrohung des Individuums und der ganzen Menschheit ist die Kraft ethischer Maßstäbe vielfach erst recht gestärkt worden. Auch die soziale Idee hat sich i n der Jurisprudenz nicht als Widersacher, sondern eindeutig als Wegbereiter ethischer Anschauungen erwiesen. Die Verwirklichung sozialer Ziele von größerem Ausmaß ist ohne sittliche Anforderungen an das Individuum und an Personenmehrheiten nicht möglich. U m ihretwillen w i r d vom Einzelmenschen heute i n stärkerem Maße als früher ein solidarisches Verhalten gegen6*
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über den Mitmenschen erwartet und i n gewissem Umfang auch ein Einstehen für den anderen i n Notsituationen verlangt, was zwangsläufig zu einem häufigeren Gebrauch ethischer Orientierungspunkte führt. Solche Tendenzen beeinflussen nicht nur den Gesetzgeber, sondern w i r ken auch auf die Haltung des Rechtsanwenders i n gesetzlich nicht näher bestimmten Punkten ein. Versucht man, statt der Frage nachzugehen, inwieweit ethische Grundsätze i m gesetzesfreien Bereich maßgebend sein sollen, genauer zu klären, welche Bedeutung ihnen für die juristische Argumentation gegenwärtig tatsächlich beigemessen wird, so ergibt sich ein ziemlich einheitliches Bild. I n vieler Hinsicht (wenngleich längst nicht überall) sind die Gerichte bestrebt, dem ethisch Anstößigen auch den Stempel des Rechtswidrigen aufzudrücken, soweit das Gesetz ihnen dabei kein Hindernis i n den Weg legt. Die intensive Bemühung u m eine Aktualisierung der Grundrechte hat dieser Tendenz noch besonderen Auftrieb verschafft 21 . Der Jurist glaubt es oft nicht verantworten zu können, daß moralisch bedenkliche Praktiken durch indifferentes Verhalten der Rechtspflege mittelbar unterstützt werden. Er möchte die Beteiligten i n solchen Fällen vielfach schon aus rein erzieherischen Gründen nicht ohne entsprechenden Denkzettel davonkommen lassen, und bestünde er auch nur i n einer verbalen Mißbilligung. Zeitweise haben sich die Richter regelrecht als Hüter der sittlichen Ordnung betrachtet und sich dazu berufen gefühlt, dem moralisch Verfänglichen den Kampf anzusagen, wo immer es sich zeigt. Für das Zivilrecht hat Just. Wilhelm Hedemann i n einer seiner letzten Arbeiten spezifiziert nachgewiesen, wie stark diese Tendenz i n der deutschen Rechtsprechung bis zum Beginn der fünfziger Jahre vorhanden war; und seitdem dürfte sich, wenn man von gewissen periodischen Schwankungen absieht, die nun einmal zum Gesamtbild gehören, nicht allzuviel geändert haben. Hedemanns Darlegungen sind deshalb so eindrucksvoll, w e i l er an Hand zahlreicher höchstrichterlicher Entscheidungen zeigt, wie ethische Gesichtspunkte sich vor allem i m Schuldrecht, wo man es nicht ohne weiteres erwarten sollte, durchsetzen; und zwar auch abseits der allbekannten, gründlich durchdiskutierten Paradebeispiele und oft, ohne daß bereits eine festgefügte dogmatische Verarbeitung stattgefunden hätte 2 2 . 21 Die zunehmende Ethisierung der juristischen Überlegungen w i r d von vielen Autoren teils beifällig, teils ablehnend konstatiert; s. etwa Werner S. 430, Zweigert (1962) S. 303, (1967) S. 714; ferner Rottleuthner, Rechtswissenschaft S. 61, der die m i t dem Vordringen ethischer Argumente verbundene Vernachlässigung politischer Gesichtspunkte bedauert. Notwendig wäre darüber hinaus eine Klarstellung, an welchen Stellen u n d m i t welchem Ziel die Berufung auf ethische K r i t e r i e n erfolgt. Diese f ü r das Verständnis des Vorgangs wichtige Frage ist bisher k a u m irgendwo näher untersucht worden.
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Man meint bisweilen, ethisch fragwürdiges Verhalten unter keinen Umständen ohne rechtliche Sanktion durchgehen lassen zu können. Einfallsreiche Zeitgenossen, die durch die Maschen des Gesetzes zu schlüpfen trachten, sollen damit keinen Erfolg haben. Es w i r d versucht, ihnen durch eine mitunter bedenkliche Ausweitung der gesetzlichen Begriffe bzw. durch Verschärfung der Maßstäbe nach Möglichkeit das Handwerk zu legen. I m Strafrecht kommt es schon durch das dort geltende Schuldprinzip ganz allgemein dahin, daß die ethische Betrachtungsweise i n den Vordergrund rückt. Auch die Strafzumessung muß sich bei uns weitgehend am Ausmaß der Schuld orientieren. Die Neigung, das moralisch Verfängliche, soweit das Gesetz nicht entgegensteht, der strafrechtlichen Ahndung zuzuführen, ist unverkennbar. Nicht selten hält der Rechtsanwender es für seine Pflicht, m i t strafrechtlichen M i t t e l n solchen Verhaltensweisen auch dort Einhalt zu gebieten, wo weder die Gesetzesfassung noch das von der Rechtslehre entwickelte Begriffssystem dazu nötigen. Trotz des auf längere Sicht bemerkbaren Trends zu strengerer Scheidung von Recht und Ethik betrachten nicht nur viele Juristen, sondern meist auch die für die Staatsführung unmittelbar Verantwortlichen und ein großer Teil der Öffentlichkeit die Strafjustiz als ein unentbehrliches M i t t e l zur Durchsetzung der ethischen Mindestanforderungen. Wo dabei Meinungsverschiedenheiten auftreten, erstrecken sie sich regelmäßig nur darauf, ob bei bestimmten Fallgruppen die Einschaltung der Gerichte gerechtfertigt ist oder ob auf sie verzichtet werden kann. Der Gesetzgeber hat i m Strafrecht durch die Verwendung von ethisch gefärbten Tatbestandsmerkmalen wie böswillig, habgierig, gewissenlos, ferner durch sein Abstellen auf die „verwerfliche Gesinnung", die „niedrigen Beweggründe" selbst zur Stärkung der ethischen Faktoren beigetragen. I m bürgerlichen Recht sowie i m Verwaltungsrecht ist die Ethisierung der Rechtsfindung durch den Gebrauch von Begriffen wie Zumutbarkeit, billiges Ermessen usw. sehr gefördert worden. Es konnte nicht ausbleiben, daß der Rechtsanwender diese Linie auch bei seiner Arbeit i n der gesetzesfreien Sphäre vielfach eingehalten hat. Doch sind andererseits unter dem Einfluß der alle unsere Lebensäußerungen durchdringenden allgemeinen Entwicklungstendenzen auch starke Kräfte am Werk, die i m Recht eine Zugrundelegung ethischer Maximen zu vermindern trachten. Sie kommen wiederum vornehmlich zur Wirkung, wo der Gesetzgeber den Fallbearbeiter nicht mehr fest am Zügel hält. I m Strafrecht gewinnt die Anschauung an Boden, daß die Vergeltung als Strafzweck überholt und statt dessen der Schutz der 22 „Die Rechtsprechung als Tugendspiegel" i n : Juristische Rundschau 1951 S. 737 ff.
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Gesellschaft als Hauptgesichtspunkt anzusehen sei. A n die Stelle des von ethischen Vorstellungen geprägten Schuldbegriffs t r i t t nach dieser Ansicht die Erwägung der Sozialgefährlichkeit bzw. der Sozialschädlichkeit als das maßgebende Moment. Auf Grund dieses neuen Ausgangspunktes erscheint die Strafe nicht mehr als Sühne für begangenes Unrecht; sie hat vielmehr vorwiegend eine therapeutische Aufgabe zu erfüllen. I m Eherecht w i r d jetzt i n dem Bestreben, die Abhängigkeit des Rechts von ethischen Erwägungen zu vermindern, von dem „ehrlosen bzw. unsittlichen Verhalten" eines Ehegatten als Voraussetzung für die Ehescheidung Abstand genommen. I n diese Richtung ging trotz entgegenstehender Gesetzeslage schon seit etwa zwei Jahrzehnten die Praxis vieler Gerichte, namentlich solcher i n den evangelischen Gebieten der Bundesrepublik. I n letzter Zeit hat sich nun auch der Gesetzgeber bereit gezeigt, auf diese Linie einzuschwenken. I m übrigen Familienrecht, das von jeher stark unter dem Einfluß sittlicher Postulate gestanden hat, macht sich ebenfalls punktweise eine nüchterne, mehr der Regelung vermögensrechtlicher Fragen zugewandte Betrachtungsweise geltend, während der ethische Bezugspunkt einiges von seiner früheren Bedeutung zu verlieren scheint. Auch sonst ist man vielfach mit Eifer darauf bedacht, nur wirklich grobe Verstöße und nur solche gegen allgemein anerkannte sittliche Anschauungen zum Anlaß für ein gerichtliches Eingreifen zu nehmen. Entgleisungen, die (bei Anlegung eines großzügigen Maßstabs) nicht sonderlich schwer wiegen, sollen danach möglichst ohne rechtliche Sanktion bleiben. Dabei liegt teilweise die Überzeugung zugrunde, daß unnachsichtiges Einschreiten der Rechtspflegeorgane zur Durchsetzung sittlicher Forderungen, wie man sagt, häufig keinen entscheidenden Vorteil erbringen könne und allzu oft gänzlich ohne Erfolg bleiben müsse. Diese Auffassung pflegt sich m i t einem starken Vertrauen darauf zu verbinden, daß das Leben sich i m gegebenen Falle selbst helfen und die vorhandenen Schwierigkeiten aus eigener K r a f t ohne ein Eingreifen der Gerichte überwinden werde. Unter dem Einfluß solcher Grundannahmen findet man sich dann zum Hinwirken auf ethisch einwandfreies Verhalten der Rechtsgenossen nur dort bereit, wo das Gesetz völlig eindeutige Anweisungen darüber enthält, und begnügt sich i m übrigen damit, auf ein Eingreifen des Gesetzgebers zu warten. I n konsequenter Verfolgung dieser Auffassungsweise w i r d i n der wissenschaftlichen Diskussion teilweise versucht, den Einfluß ethischer Maßstäbe auf das zu beschränken, was erforderlich ist, u m die äußeren Überlebensbedingungen für den einzelnen bzw. die sozialen Gruppen zu sichern und die Menschheit vor dem offenkundigen Verfall zu bewahren. Unterstützung erhalten solche Tendenzen durch das i m Zuge
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der Zeit liegende Streben nach einer möglichst umfassenden Technisierung des Rechtsfindungsvorgangs. Es führt leicht dazu, daß Entscheidungsmerkmale bevorzugt werden, die bei automatisierter Rechtsgewinnung gut zu erfassen sind, und ethische Kriterien, die sich nicht oder nur mit unverhältnismäßigen Schwierigkeiten programmieren lassen, außer Betracht bleiben. I n welchem Umfang sich solche Tendenzen, die notwendigerweise auch das Verhalten des Rechtsanwenders in der gesetzesfreien Region beeinflussen müßten, allgemein durchsetzen werden, darüber läßt sich zur Zeit nichts Sicheres sagen. Vorerst werden sie nur von einem kleinen Teil der praktischen Juristen gebilligt. Die Zukunft muß lehren, ob sie stark genug sind, die öffentliche Meinung, die ihnen zur Zeit i n gewisser Weise entgegenkommt, für sich zu gewinnen und das allgemeine Rechtsbewußtsein entsprechend umzuformen. Nach alledem kann auf die eingangs gestellte Frage, inwieweit w i r i m Begriff sind, mit einer strengeren Scheidung von Recht und Ethik Ernst zu machen, nur schwer eine verläßliche A n t w o r t gegeben werden. Irritierend w i r k t dabei unter anderem auch, daß die Befürworter einer strengen Trennung der beiden Bereiche meist sehr wohl die Gefahr sehen, die m i t einer ethisch völlig indifferenten Geisteshaltung des Fallbearbeiters verbunden ist, und sich zu ihren radikalen Äußerungen mitunter nur durch die nicht von der Hand zu weisende Befürchtung veranlaßt sehen, daß die Allgemeinheit sich ohne extreme Formulierungen von der seit langem gewohnten Bevorzugung ethischer Kategorien nicht abbringen lassen wird. Zur Verwirrung trägt ferner bei, daß die Neuerer trotz der grundsätzlichen Fassung, die sie ihren Stellungnahmen meist geben, bei genauerem Zusehen mitunter gar nicht die Ethik als solche aus der Jurisprudenz vertreiben, sondern nur bestimmte, als überholt angesehene Auffassungen eliminieren und ethische Prinzipien an ihre Stelle setzen wollen, die inhaltlich der Gegenwart besser angepaßt sind. Aber selbst wenn auf Grund solcher Bestrebungen ganze Gebiete, die bisher der rechtlichen Kontrolle unterstellt gewesen sind, aus dem Bereich der Jurisprudenz ausgeschieden werden sollten, wie ζ. B. große Teile des Sexualstrafrechts, ließe das nicht ohne weiteres auf eine verringerte Bedeutung der Ethik für das Recht i m ganzen schließen, weil solche Veränderungen möglicherweise durch zunehmende Ethisierung anderer Rechtsmaterien wieder wettgemacht werden. Es ist m i t h i n wegen der Vielzahl der mitwirkenden Faktoren nicht möglich, über die gegenwärtige Wichtigkeit ethischer Gesichtspunkte für die Rechtsfindung eine bündige Aussage zu machen. Vielmehr lassen sich nur Elemente zu einer solchen aufzeigen, die eine A r t Vorklärung erbringen.
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5. Die normative Kraft des sozialen Gesichtspunkts Innerhalb des mehr oder weniger stark von ethischen Erwägungen beherrschten Bereichs der Jurisprudenz bedarf der soziale Gedanke wegen der i h m heute zukommenden Bedeutung einer speziellen Betrachtung. Er gibt den neuzeitlichen Gerechtigkeitsanschauungen i n vieler Hinsicht ihre eigentümliche Färbung. Sozial ist das Rechtsdenken freilich stets, insofern als es m i t Fragen zu t u n hat, wie sie das Zusammenleben der Menschen mit sich bringt, die nun einmal i n weitem Umfang aufeinander angewiesen sind und sich ineinander schicken müssen. Durch das i n unserer Verfassung verankerte Sozialstaatsprinzip erhält die Idee des Sozialen jedoch noch eine besondere Wichtigkeit. Obwohl sie eine lange geschichtliche Entwicklung durchgemacht und bereits i n der Vergangenheit oftmals unmittelbare Aktualität besessen hat, ist sie erst i m Laufe des 20. Jahrhunderts zu jenem großen Einfluß gelangt, den w i r heute allenthalben beobachten können. Otto v. Gierke hatte seinerzeit lediglich von dem Tropfen sozialen Öls gesprochen, der i n unserem Zivilrecht spürbar sein müsse 23 . Heute ist dagegen der soziale Gedanke zu einem Hauptorientierungspunkt geworden. I h m kommt innerhalb der geistigen Auseinandersetzung ein immer größeres Gewicht zu, und ein Ende dieser Entwicklung ist vorerst noch nicht abzusehen. Er legt Assoziationen nahe, die ehemals keineswegs i m Vordergrund standen und ruft innerhalb der Jurisprudenz Veränderungen hervor, von denen die älteren Juristengenerationen noch nichts geahnt haben. Die Idee des Sozialen, die gegenwärtig auf der ganzen Erde — wenngleich i n vielfach unterschiedlicher Gestaltung — wirksam ist, betrifft nicht den inneren Bereich des Individuums, i n dem dieses nur m i t sich selbst zu t u n hat, sondern es geht dabei u m Anliegen der i m Leben zusammenwirkenden Menschen bzw. Menschengruppen und die daraus sich ergebenden Probleme. Der auf Verbesserung der mitmenschlichen Verhältnisse abzielende soziale Gedanke stellt heute nicht mehr einen Orientierungsfaktor unter vielen anderen dar, sondern er hat mehr und mehr zentrale Bedeutung erhalten. Für die meisten Juristen ist er zu einem grundlegenden Erlebnis geworden, das dementsprechend auf die Rechtsgewinnung stark mitbestimmend w i r k t 2 4 . 23 „Die soziale Aufgabe des Privatrechts" (1889) S. 13. Aus dem reichhaltigen juristischen Schrifttum mögen hervorgehoben sein die Arbeiten v o n Denninger, Hartwich, Fr. Xaver Kaufmann, Noack, W. Schreiber, Würtenberger u n d Zacher, ferner die Sammelbände „Sozialer Rechtsstaat — Weg oder I r r w e g ? " (1963) u n d „Rechtsstaatlichkeit u n d Sozialstaatlichkeit" (1968), letzterer m i t Beiträgen v o n Abendroth, Bachof, Ipsen, Fechner, Forsthoff, A. Gehlen, K. Hesse, Scheuner, W. Weber u n d anderen. 24
5. Die normative K r a f t des sozialen Gesichtspunkts
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Unter diesem Stichwort werden zahlreiche, hier nur andeutend zu erwähnende Forderungen zusammengefaßt, die vielfach nicht ohne Einfluß auf die Rechtsfindungsarbeit bleiben können 2 5 . Es soll ein ersprießliches Zusammenleben der Menschen erreicht werden. Man strebt danach, vorhandene Spannungen zu beseitigen oder doch zu mildern. Die sozialen Ungleichheiten innerhalb der Rechtsgemeinschaft sollen abgebaut werden. Man w i l l den i n bedrängter Lage Befindlichen, und zwar vor allem den niederen Volksschichten, einen besonderen Schutz zukommen lassen. Die Bemühungen richten sich einerseits auf die Einzelmenschen, deren Beziehungen zueinander verbessert werden sollen, und andererseits auf eine tatkräftige Wahrnehmung der Gemeinschaftsinteressen. Diese werden unter der Wirkung des Sozialstaatsprinzips i n vieler Hinsicht höher als früher bewertet. Das Individuum steht, wie sich beim Eingehen auf die Einzelheiten zeigt, nicht mehr i n gleichem Maße wie während der liberalistischen Epoche des 19. Jahrhunderts i m Mittelpunkt der Szenerie; doch w i r d seinen Belangen, wie sie der Sozial- und Fürsorgestaat auffaßt, i n vieler Hinsicht Rechnung getragen. Man macht ernsthafte Anstrengungen, u m dem einzelnen ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen und i h m unnötige Leiden zu ersparen. Es w i r d versucht, ihn gegen persönliches Unglück und gegen Hilflosigkeit i n Krankheit und Alter auf mannigfache Weise, u. a. auch dadurch zu schützen, daß die Gemeinschaft sich für ihn ins M i t t e l legt. Einer verständnisvollen und wohlwollenden Behandlung i m Rahmen des rechtlich Zulässigen werden den Gerichten auf Grund von m i t menschlichen Erwägungen (ähnlich wie i m früheren deutschen Recht die Witwen und Waisen) heute nicht nur die geistig Behinderten, sondern ganz allgemein die vom Schicksal Vernachlässigten empfohlen, zumal wenn sie nicht organisiert und deshalb außerstande sind, sich zur Geltung zu bringen. I m Fall von strafrechtlichen Verfehlungen w i r d i m Gegensatz zu früher mehr und mehr darauf gesehen, daß der Täter nicht nur als Abstraktum beurteilt, sondern m i t seinen speziellen Eigenheiten erfaßt wird. Die Tendenz geht ferner vielfach dahin, die Strafe auf das sozial 25 i m einzelnen dazu Ramm (1965) S. 168 ff. u n d E. R. Huber (1968) S. 596 ff. Der Versuch, den sozialen Gedanken i n ein f ü r allemal feststehender Weise zu umgrenzen, w ü r d e zum Scheitern verurteilt sein. Die f ü r i h n maßgebenden K r i t e r i e n sind i n vieler Hinsicht dem Wandel unterworfen. Infolgedessen erweist sich die Fassung, die dem Begriff des Sozialen jeweils gegeben w i r d , oftmals der Ergänzung oder Berichtigung bedürftig. M i t scharf geschliffenen, statisch konzipierten Definitionen, die aus einem lebensfernen Bestimmtheitsdenken hervorgehen, ist i n diesem F a l l nichts zu erreichen. Das muß berücksichtigt werden, w e n n die dringend erforderlichen Bemühungen u m eine Präzisierung der sozialen Idee i n ihrer hier u n d jetzt gültigen Gestalt Erfolg haben sollen.
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Notwendige zu beschränken und, soweit Freiheitsentzug nicht zu vermeiden ist, dem Verurteilten die Wiedereingliederung i n die Gesellschaft zu erleichtern. Bei alledem liegt mehr oder weniger deutlich der Gedanke zugrunde, daß die Gemeinschaft nach Kräften für die Schaffung und Erhaltung der Voraussetzungen zu sorgen habe, die dem Individuum eine straffreie Existenz erleichtern und i h m darüber hinaus sein Dasein lebenswert machen. Ungeachtet dieser weitgehenden Fürsorge w i r d der einzelne aber i m Vergleich zu der starken Stellung, die er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts innehatte, i n seiner Position auch wieder dadurch geschwächt, daß man i h n als i n die Gemeinschaft eingebunden betrachtet. Seine berechtigten Interessen erscheinen heute i n mancher Hinsicht eingeschränkter als ehemals. Die früher stark zu seinen Gunsten ausgelegte und i n gewisser Weise geradezu als sein Schutzschild betrachtete Forderung, daß Rechte anderer nicht verletzt werden dürfen, w i r d nicht mehr als der alleinige Maßstab und als das Kernstück der zwischenmenschlichen Beziehungen angesehen. Die soziale Betrachtungsweise erzwingt vielmehr eine größere Aufmerksamkeit der Einzelperson auf die Interessenlage der anderen und eine gesteigerte Rücksicht auf deren Existenzmöglichkeiten. Die höhere Bewertung, die der soziale Gesichtspunkt i n den letzten Jahrzehnten erhalten hat, führt allgemein dazu, daß vom Individuum ein größeres Verantwortungsgefühl gegenüber der Gesamtheit verlangt w i r d 2 6 . Diese veränderte Grundeinstellung beeinflußt die rechtliche Beurteilung auf Schritt und Tritt, mag dabei nun die Aufführung der Beteiligten bei vertraglichen Abmachungen in Frage stehen oder ihr Vorgehen i m Konkurrenzkampf kaufmännischer Unternehmungen, ihr Verhalten i m Straßenverkehr oder i n anderen zwischenmenschlich wichtigen Situationen. Die ziemlich weitgehende Machtposition, die früher das subjektive Recht dem Inhaber verschaffte, ist inzwischen durch Einfügung von sozialen Pflichten teilweise abgebaut worden. Der ehemals feste Glaube an den wohltätigen Einfluß einer ungehemmten Wahrnehmung individueller Interessen existiert, wo er sich gehalten hat, meist nur noch i n stark abgemilderter Form. Die zunehmend soziale Grundhaltung räumt der Gesellschaft i n wichtigen Beziehungen den Vorrang vor dem Individuum ein. Man kann insofern von einer schrittweisen Entindividualisierung der rechtlichen Betrachtungsweise sprechen 27 . Der i m Vertrag zur Geltung kommende Wille des Einzelmenschen, der lange Zeit als Ausdruck der Macht erschien, die dieser über seine Umwelt besitzt, kann nur noch 2β BVerfGE Bd. 12 S. 51: Der Bürger w i r d zur Verteidigung der obersten Rechtsgüter der Gemeinschaft m i t eingesetzt. 27 Wiethölter (1971) S. 174 ff.; f ü r die Niederlande: Valkhoff S.65ff.; 95 ff.
5. Die normative K r a f t des sozialen Gesichtspunkts
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mit Vorbehalt als die Rechtsfigur bezeichnet werden, auf die sich das juristische Denken konzentriert. Durch die Herausarbeitung von vertragsähnlichen Pflichten aus sozialen Tatbeständen haben sich die Akzente i n bemerkenswerter Weise verschoben. Die den Anforderungen des Gemeinschaftslebens stärker angeglichene Auffassung der Privatrechte w i r d auch durch sozialethische Bindungen noch besonders betont, wie sie sich i m Mieterschutzrecht und verwandten Erscheinungen zeigen 28 . Die juristische Entscheidung hat nach einer weit verbreiteten Ansicht auch dort, wo der Gesetzgeber keine konkreten Anweisungen gibt, dem sozialen Gesichtspunkt Rechnung zu tragen, soweit nicht das Gesetz selbst oder stichhaltige außergesetzliche Gründe entgegenstehen. Die Gerichte werden damit zu einem Instrument, das i m Rahmen der Gerechtigkeitserwägung dem sozialen Denken zum Durchbruch zu verhelfen hat. Die Rechtshandhabung soll nach dieser Auffassung i n gewissen Grenzen, die jedoch meist nicht genauer umschrieben werden, Schrittmacher des sozialen Wandels sein. A u f solche Weise hofft man, neuartige und i n unkontrolliertem Zustand gefährliche gesellschaftliche Phänomene i n den Griff zu bekommen. Der Rechtsanwender w i r d von diesem Standpunkt aus betrachtet zum Diagnostiker gemeinmenschlicher Situationen und zum „Praktiker des sozialen Konflikts". Konrad Zweigert hat ihn geradezu als den Baumeister (Architekten) der Gesellschaft bezeichnet 29 . I m Strafrecht w i r d i h m dementsprechend teilweise die Rolle des Sozialtherapeuten zugedacht. Zwar würden viele unserer Juristen diese Bezeichnungen als zu weitgehend und als für sie selbst nicht zutreffend bezeichnen; aber der Sache nach sind sie doch mehr oder minder von dieser A u f fassungsweise angesteckt, wenn auch oftmals keine eigentliche Begeisterung dahinter steht. Der Rechtsanwender ist infolgedessen meist mehr als ehedem darauf bedacht, daß seine Entscheidung für die unmittelbar Beteiligten nicht neuen Konfliktstoff schafft, sondern die zwischen ihnen bestehenden Spannungen nach Möglichkeit abbaut. Er möchte die vorhandenen Mißstände, soweit es irgend angeht, beseitigen und neuen Unordnungen 28 Wieacker (1967) S. 525 ff., 543 ff. „ V o m Rechtsheiligen zum Sozialingenieur", i n : „Die Zeit" v o m 21. 2.1969 S. 56. Die Charakterisierung des Rechtsanwenders als eines Sozialingenieurs w i r d vielfach als nicht passend angesehen. Teils liegen dabei weltanschauliche Auffassungen zugrunde, die einem ausgiebigen Einfluß sozialer Bezugspunkte auf das Rechtsdenken nachteilig sind; teils sprechen sonstige E r wägungen unterschiedlicher A r t mit. Meist sucht m a n nach weniger technisch klingenden Stichworten. Zwingmann (1966) S. 147 bezeichnet den Richter ζ. B. als den „Fachmann der sozialen Ordnung" (soweit diese durch das Recht herzustellen ist); s. ferner die umsichtig sondierenden Bemerkungen bei Rottleuthner, Rechtswissenschaft S. 36 ff. 29
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vorbeugen. Der Jurist ist aus dieser Einstellung heraus oftmals bestrebt, unsoziales Gebaren i m Wirtschaftsleben, auf der Arbeitsstelle, bei der Freizeitgestaltung usw. auch dann einzudämmen, wenn die einschlägigen gesetzlichen Vorschriften keinen rechten Anhalt für ein solches Vorhaben zu bieten scheinen. Der Bearbeiter neigt auf Grund der Zugkraft, die der soziale Gedanke besitzt, mitunter dazu, ohne festen gesetzlichen Ansatzpunkt auch diejenigen i n Schutz zu nehmen, die sich infolge von Gleichgültigkeit oder sträflichem Leichtsinn durch allzu geschickte Geschäftemacher haben hereinlegen lassen. Er zögert aus gleichem Grunde nicht, i m Prozeß des Versicherungsnehmers gegen die mächtige Versicherungsgesellschaft sich durch Statutierung bestimmter Beweislastregeln, von denen i m Gesetz nichts zu finden ist, für den Kläger einzusetzen, weil dieser als der sozial Schwächere schutzbedürftig erscheint. Unter dem gleichen Vorzeichen w i r d auch i n anderen Ländern m i t unter einer der Streitteile trotz Fehlens einer entsprechenden gesetzlichen Handhabe begünstigt. So tendierten die italienischen Strafgerichte längere Zeit dazu, bei Anklagen wegen Notzucht, wenn sich i n der Beweisaufnahme ein einverständlicher außerehelicher Geschlechtsverkehr zwischen jungen Leuten ergab, diesen i n einen durch Gewalt oder List erzwungenen umzudeuten und auf solche Weise das beteiligte Mädchen vor den harten sozialen Folgen einer sachentsprechenden Behandlung des Rechtsfalls zu schützen 30 . Der Gesetzgeber hat die Handhaben für eine nachhaltige Berücksichtigung sozialer Erwägungen großenteils selbst geschaffen, indem er i n unser seit 1900 geltendes Bürgerliches Gesetzbuch die berühmt gewordenen §§ 138, 242 und 826 einfügte, die mit ihren Generalklauseln unter anderem auch die Verwirklichung sozialer Gedankengänge ermöglichen. Er hat darüber hinaus i n den meisten Rechtsgebieten durch zahlreiche Spezialvorschriften dem Juristen für bestimmte Einzelfälle direkt oder indirekt die Obacht auf das soziale Moment zur Pflicht gemacht, teilweise durch ausdrückliche Bezugnahme auf das soziale Bedürfnis bzw. durch Mißbilligung „sozial ungerechtfertigter" Einzelakte 3 1 . Auf manchen Gebieten ist der Fallbearbeiter sogar vom Gesetz ausdrücklich ermächtigt worden, bestimmte Rechtsverhältnisse von sich aus angemessen zu regeln, so i n einigen wichtigen Fragen des Wirtschaftsrechts, des Kartellrechts und des Arbeitsrechts, ferner bei Streitigkeiten der Wohnungseigentümer untereinander, bei der Teilung so Altavilla Bd. 2 S. 386 f.; f ü r Frankreich, England u n d die U S A ließen sich ebenfalls Belege anführen, wie nachhaltig man sich dort m i t u n t e r u m ein dem allgemeinen sozialen Empfinden gut angepaßtes U r t e i l bemüht. 3i Bundesbaugesetz § 1 Abs. 4, 5; Kündigungsschutzgesetz § 1 Abs. 1.
5. Die normative K r a f t des sozialen Gesichtspunkts
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des gemeinsamen Hausrats nach der Ehescheidung usw. 32 . Damit ist zugleich die Bahn für ein entsprechendes Rechtsfindungsverhalten des Bearbeiters i n der gesetzesfreien Zone freigemacht worden. Unsere Juristen benutzen demgemäß, wenn auch unter sich i n verschiedenem Umfang, heute insgesamt betrachtet häufiger als noch vor wenigen Jahrzehnten die Möglichkeiten, die ihnen für eine Einflußnahme i m Sinne der sozialen Idee zur Verfügung gestellt werden. Sie sind bestrebt, den zu bearbeitenden Rechtsfall nicht nur formell korrekt zu erledigen, sondern — soweit das Gesetz es irgend zuläßt — das Ergebnis zu erreichen, das den herrschenden sozialen Anschauungen gerecht wird. Dadurch t r i t t die juristische Arbeit auch i n eine engere Beziehung zur Zukunft. Soweit dem Rechtsanwender die Vervollkommnung der sozialen Zustände zur Aufgabe gemacht wird, muß er i n bestimmtem Umfang an der sozialen Planung teilnehmen. Die Gegenwart erscheint i h m nicht mehr allein als folgerichtige Fortsetzung der Vergangenheit, sondern zugleich als Vorstufe für den künftigen Ablauf des Geschehens. Die Aufmerksamkeit des Bearbeiters richtet sich mehr als früher auch auf das Kommende. Er muß, wenngleich die grundlegenden Entscheidungen dem Gesetzgeber vorbehalten sind, je nach Lage des Falles die künftige Gestaltung der Verhältnisse i n seine Betrachtungen m i t einbeziehen 33 . Freilich w i r d diesen neuen Anforderungen (darin liegt eine Schwäche unserer gegenwärtigen Rechtshandhabung) vielfach unreflektiert und mehr beiläufig Rechnung getragen. Doch würde sich das mit der Zeit ändern lassen. Bezeichnenderweise pflegt der praktizierende Jurist bezüglich der Möglichkeiten, die i h m für seine soziale Gestaltungsaufgabe zur Verfügung stehen, optimistisch zu sein. Meist ist er davon überzeugt, daß Aussicht besteht, die Umwelt durch rechtliche Entscheidungen entsprechend den verfolgten Zielen zu lenken. Auch i n weniger günstigen Fällen ist er vielfach von der Zuversicht beherrscht, daß bei entsprechender Konsequenz wenigstens Teilerfolge erreichbar sein werden. Selbst bei sehr ungewissem Ausgang der Bemühungen neigt er oftmals der Meinung zu, daß eine Beeinflussung der Verhältnisse wenigstens versucht werden müsse und daß solche Anstrengungen nicht ganz vergeblich bleiben könnten. Von dem sich auf manchen Gebieten unseres 32 Baur (1957) S. 194 ff. 33 Als Beleg aus der Praxis: Heusinger S. 172 ff.; für die Rechtslehre Forsthoff (1971) S. 115 ff., Maihof er (1971) S.432; s. auch R.V.Hippel, Gefahrenurteile u n d Prognoseentscheidungen i n der Strafrechtspraxis (1972); auf die rechtsphilosophischen Aspekte ist G. Husserl („Recht u n d Zeit", 1955) näher eingegangen; der psychologische Gesichtspunkt w i r d von Weimar S. 177 ff. erörtert.
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2. Teil: Der Gesamtbestand vorpositiver Materialien
Geisteslebens breitmachenden Defätismus ist bei i h m insofern nur wenig zu spüren. Fragt man sich, u m zunächst einmal die tatsächliche Lage zu klären, wie weit die große Mehrheit unserer Juristen bei der Wahrnehmung des sozialen Gesichtspunkts zu gehen pflegt, so w i r d es, wenn man der Wirklichkeit auf die Spur kommen w i l l , nötig sein, hier zu differenzieren. Bezeichnend ist, daß der Praktiker sich trotz weitgehender A u f geschlossenheit für das soziale Denken i m allgemeinen doch auch eine gewisse Skepsis gegenüber den Forderungen bewahrt hat, die i n dieser Hinsicht an i h n herangetragen werden. Die Einsicht ist vielfach deutlich vorhanden, daß dem Streben nach einer sozial gut angepaßten juristischen Lösung nicht selten Schranken gesetzt sind und daß der Rechtsanwender sich unter Umständen den entgegenstehenden Bedenken wegen ihres beträchtlichen Gewichts fügen muß. Der Gedanke, daß die Gerichte schlechthin überall i n die Bresche zu springen hätten, wo sich i m Gemeinschaftsleben unerfreuliche Entwicklungen zeigen, ohne daß der Gesetzgeber regelnd eingreift, stößt i m allgemeinen auf Ablehnung. Oftmals ist eine entschiedene Zurückweisung von extremen A n sprüchen zu beobachten, die unter Berufung auf soziale Erwägungen erhoben werden. Erst recht widersetzt sich das Gros der Praktiker der mitunter hervorgetretenen Absicht, aus der sozialen Idee i n der Jurisprudenz eine A r t revolutionäres Prinzip zu machen. Es gibt zwar bei uns eine zunehmende Zahl sozial stark engagierter Juristen; aber die überwiegende Mehrheit bringt es trotz des grundsätzlichen Verständnisses für den zwischenmenschlichen Aspekt doch nur zu einer begrenzten Anteilnahme. Es kann insoweit auf die Ausschnitte aus erstinstanzlichen Richterberatungen hingewiesen werden, die Rüdiger Lautmann aufgezeichnet und kritisch ausgewertet hat 3 4 . Wenn manche seiner Beobachtungen infolge ihrer Situationsabhängigkeit vielleicht auch kein völlig zutreffendes B i l d vermitteln, so sind sie doch für den, der eine konkrete Anschauung vom Stand der Auffassungen gewinnen w i l l , i n vieler Hinsicht aufschlußreich. Die weit überwiegende Mehrzahl unserer Praktiker vertritt bezüglich der Verwertung von sozialen Gesichtspunkten bei der juristischen A r beit eine gemäßigte Meinung; sie ist bei ernstlichen Zweifeln nicht selten geneigt, auf den Gesetzgeber als denjenigen zu verweisen, dem i n erster Linie die Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips obliegt 3 5 . Die Ansicht, daß gemäß dem i m Grundgesetz niedergelegten Bekenntnis zum Sozialstaat heute bereits alle Interessen, die durch herrschende 34 „Justiz — die stille Gewalt" (1972). 35 BVerfGE Bd. 1 S. 105; Bd. 8 S. 329 usw.; Benda (1975) S. 169.
5. Die normative K r a f t des sozialen Gesichtspunkts
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soziale Vorstellungen gedeckt sind, ohne weiteres auch als rechtlich geschützt anzusehen seien, hat sich nicht durchsetzen können. Mitunter verschärft sich allerdings die gewöhnliche, m i t Sympathie für das soziale Argument gepaarte Zurückhaltung zur prinzipiellen Abneigung des Rechtsanwenders gegen ein Eingreifen auf Grund von sozialen Erwägungen 36 . Diese gegenläufige, der herrschenden Tendenz widersprechende Haltung beruht manchmal noch auf der von altersher überlieferten, durch Gewohnheit gefestigten Grundauffassung, daß das Recht von den Zeitverhältnissen unabhängig sei. Sie führt letzten Endes dazu, daß die rechtliche Erwägung nur i n sehr engen Grenzen von Billigkeitserwägungen gelenkt w i r d und daß der Rechtsanwender nicht allein von der Rücksicht auf neuartige Gegenwartsmomente und auf die Lage des Einzelfalls dispensiert erscheint, sondern sich i n gleicher Weise vom Zwang zu einer sozial angepaßten rechtlichen Lösung weitgehend als befreit ansieht. Aber oft steht dahinter auch — wenngleich häufig unerkannt — die trotz widriger Umstände noch vielfach lebendige liberale Überzeugung des 19. Jahrhunderts, nach der den sich wandelnden Verhältnissen am besten gerecht zu werden ist, wenn der praktizierende Jurist die Dinge weitgehend sich selbst überläßt und möglichst wenig i n das Gemeinschaftsleben eingreift. Nach dieser Auffassung, die den Ablauf des Geschehens i m wesentlichen dem freien Spiel der Kräfte anheimstellt, hat der Fallbearbeiter sich nicht als Wegbereiter des sozialen Fortschritts anzusehen. Er soll nach ihr die Schwachen nur insoweit stützen, als das Gesetz dazu eine klare Handhabe bietet und abgesehen von den gesetzlich ausdrücklich geregelten Fällen nicht denjenigen das Handwerk zu legen trachten, die die jeweilige Situation mit wenig vorbildlichen Methoden für sich auszunutzen suchen. Diese Denkrichtung beharrt i n ihrer konsequenten Ausprägung auch dort, wo die Zweckdienlichkeit richterlichen Eingreifens nicht zu bestreiten ist, darauf, daß der Rechtsanwender sich dabei mit Aufgaben befasse, die ihn nichts angehen, und daß es sich trotz der i m Einzelfall gegebenen segensreichen Wirkung seines Vorgehens u m eine durchaus eigenmächtige Aktion handle, für die er getadelt werden müsse. Die praktische Bedeutung dieser Anschauung ist bei uns gegenwärtig nicht allzu groß. Die Zuversicht, daß sich die sozialen Zustände auch ohne gezielte Maßnahmen zufriedenstellend entwickeln werden, hält sich innerhalb der Juristenschaft vielmehr i n engeren Grenzen; doch kann sich das Blatt insoweit wenden. Es handelt sich bei dieser liberalen These immerhin u m eine weltanschauliche Position, die bisher nicht endgültig widerlegt worden ist und jederzeit wieder an Einfluß zu86
So etwa bei Eichenberger
S. 96 ff.; weiteres Schrifttum bei Birke
S. 21.
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2. Teil: Der Gesamtbestand vorpositiver Materialien
nehmen bzw. unter günstigen Umständen auch zur herrschenden Ansicht aufsteigen kann. Eine wachsende Rücksichtnahme auf den sozialen Gesichtspunkt ist — wenngleich dieser vielfach unterschiedlich aufgefaßt w i r d — auch i n anderen Rechtsordnungen zu beobachten, und zwar nicht nur i n den großen Industriestaaten des Westens und i n Osteuropa, sondern auch i n Südamerika und i n vielen Teilen der Dritten Welt. Dies läßt sich u. a. auch aus dem Schrifttum entnehmen, das den Einfluß erörtert, den die sozialen Tendenzen auf die Rechtshandhabung i n den verschiedenen Ländern ausüben 37 .
37
F ü r den anglo-amerikanischen Rechtskreis mag hingewiesen sein auf das einschlägige, auch i n deutscher Übersetzung vorliegende W e r k v o n Wolf gang Friedmann „Recht u n d sozialer Wandel" (Frankfurt 1969); f ü r die mohammedanischen Länder Say ed Kotb, Social Justice i n Islam, Washington 1953; f ü r den fernen Osten Jerome A. Cohen, Chinese Mediation on the Eve of Modernization, i n : California L a w Review Bd. 54 (1966); Arthur T. von Mehren, L a w i n Japan, i n : The Legal Order i n a Changing Society, Cambridge Mass. (1963) S. 41 ff.
Dritter Teil
Angemessener Umgang mit nichtpositivierten Entscheidu • gsgrundlagen 1. Einführung in die Problematik Soweit der Jurist nicht mehr allein auf das Gesetz zurückgreifen kann, sondern i n größerem Umfang außergesetzliche Gesichtspunkte verwenden muß, geht die Rechtsgewinnung unter erschwerten Bedingungen vor sich. Der Rechtsanwender ist dabei genötigt, sich i n unwegsamem Gelände vorwärts zu tasten. Er muß sich die für seinen Fall gültigen normativen Elemente großenteils unter widrigen Verhältnissen selbst erarbeiten. I h m fehlt dabei nicht nur der feste Halt, den die Gesetzesnorm bietet, sondern oft stehen i h m für die rechtliche Beurteilung auch keine sonstigen allgemein gebilligten Muster zur Verfügung, auf die er sich stützen könnte. Dem stehen die hohen Anforderungen gegenüber, die i n der Öffentlichkeit heute an die Rechtsfindungsarbeit gestellt werden. Danach darf die Heranziehung vorpositiver Ausgangsmaterialien nicht als bloße Auffassungssache betrachtet werden. Ihre Handhabung w i r d vielmehr i n gleicher Weise wie die Gesetzesauslegung als Rechtsanwendung, d. h. als eine Tätigkeit aufgefaßt, bei der der Gedanke des Rechts und die Gerechtigkeitsidee die obersten Bezugspunkte bilden. A n die Stelle der Gesetzestreue t r i t t hier die Rechtstreue. Das Vertrauen, welches die Allgemeinheit dem Juristen durch den i h m erteilten Rechtsfindungsauftrag entgegenbringt, beruht auf der Erwartung, daß das Recht auch dort, wo gesetzliche Weisungen fehlen, an Hand fester Grundsätze gefunden w i r d und daß persönliche Auffassungen des Bearbeiters dabei nicht mitwirken. Sein Entschluß über eine eventuelle Heranziehung außergesetzlicher Beurteilungsmaßstäbe soll weder durch methodische Unklarheiten noch durch Subjektivitäten irgendwelcher A r t beeinträchtigt sein. Angesichts dieser Erwartungen, die begrifflich meist als i m Rechtsstaatsprinzip enthalten angesehen werden, erhält die Frage besondere Aktualität, wie der Jurist sich i m gesetzesfreien Raum verfahrensmäßig korrekt zu verhalten hat und auf welche Weise er bei der Suche 7 Döhring
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3. Teil: Umgang m i t nichtpositivierten Entscheidungsgrundlagen
nach der angemessenen Lösung zu den für seinen Fall gültigen außerlegalen Bezugspunkten gelangt. Eine gründliche Aufarbeitung dieses ganzen Bereichs erscheint schon deshalb unerläßlich, weil dort vielfach spezielle methodische Regeln zum Zuge kommen 1 . Eine Theorie für den Umgang des Fallbearbeiters m i t präpositiven Richtmitteln kann diesem Anhaltspunkte dafür liefern, wie er gewissen Schwierigkeiten wertend und handelnd zu begegnen vermag. Von ihr sind unter Umständen Hinweise zu erwarten, die i h m auch i n heiklen Situationen weiterhelfen. Tüchtige allgemeine Grundsätze können den Rechtsanwender je nach Lage der Sache zu sinnvollem Vorgehen i n einer gewissen Richtung ermutigen oder ihn umgekehrt vor dem Gebrauch bestimmter Verfahrensweisen und Orientierungsbehelfe warnen. I m letzteren Fall wirken sie, u m ein B i l d von Beradt zu gebrauchen, wie die mechanischen Läutewerke der Eisenbahn, die sich beim Herannahen eines Zuges i n Bewegung setzen und daran erinnern, daß Gefahr unmittelbar droht 2 . Wenn die Theorie dem zur Entscheidung berufenen Juristen die von i h m i n der außergesetzlichen Sphäre zu erbringende besondere Leistung auch nicht abzunehmen vermag, so kann sie doch durch entsprechende Hinweise erreichen, daß er der i h m gestellten Aufgabe besser gewachsen ist. Gewiß w i r d der Fallbearbeiter auch ohne spezielle theoretische A n leitung nach Mitteln und Wegen zur Uberwindung der vorhandenen Schwierigkeiten suchen. Doch gelingt es i h m ohne eine solche nur sehr langsam, durch Probieren und durch Auswertung der dabei gemachten Erfahrungen die hier nötigen Fähigkeiten zu erwerben. Freilich kann es sich bei den für die Handhabung transpositiver Ordnungselemente gültigen Grundsätzen nicht u m unverbrüchliche Regeln i n dem Sinne handeln, wie sie früheren Juristengeschlechtern für ihre Berufsarbeit zur Verfügung standen. Die Umwelt wandelt sich heute zu schnell. W i r müssen uns damit abfinden, daß es infolgedessen — solange das gegenwärtige Entwicklungstempo anhält — nie versagende Maximen nur i n geringem Umfang gibt. Die Suche nach solchen kann daher lediglich i n sehr engen Grenzen Erfolg haben. Meist kommen w i r über Richtlinien nicht hinaus, die auf eine bestimmte Gesamtlage zugeschnitten sind und nur i m Zusammenhang m i t ihr Gültigkeit haben. ι Darmstaedter (1956) S. 437. 2 Martin Beradt, Der deutsche Richter (1930) S. 147. Wollte m a n die Rechtspraxis bei der Handhabung nichtpositivierter Entscheidungsgrundlagen sich selbst überlassen, so würde dadurch die ohnehin vielfach vorhandene Neigung der Gerichte begünstigt werden, sich i n einen Dezisionismus zu flüchten, der ein weites Feld f ü r subjektive Einflüsse eröffnet; darauf hat Wiethölter bei Erörterung arbeitsrechtlicher Probleme hingewiesen („Rechtswissenschaft", 1968, S. 292).
1. Einführung i n die Problematik
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Das Streben hat sich daher gegenwärtig nicht so sehr auf die Schaffung eines Kanons unveränderlicher Verhaltensanweisungen zu richten als vielmehr auf die Erarbeitung beweglicherer Regeln, die mit einer gewissen Skepsis jeweils darauf geprüft werden müssen, ob sie i m gegebenen Fall zutreffen. Nur auf diese Weise kann auch daran gedacht werden, den Juristen nicht allein für die Lösung von Gegenwartsproblemen zu wappnen, sondern i h n zugleich auf die Bewältigung bisher unbekannt gewesener Schwierigkeiten gefaßt zu machen. Von dieser A r t sind auch die Hinweise, die nachfolgend als Hilfe für das Verhalten i n bestimmten Rechtsfindungslagen gegeben werden. Wenn der Rechtsanwender sich ihrer mit kritischem Sinn bedient, vermögen sie i h m vermutlich bessere Unterstützung zu gewähren als dogmatisch verfestigte Lehrsätze mit vermeintlich absoluter Geltungskraft. Einen dauernden Nutzeffekt können sie freilich erst haben, wenn unseren Juristen die grundlegende Bedeutung der außergesetzlichen Anknüpfungspunkte für die Rechtsgewinnung einleuchtet; wenn es dahin gebracht werden kann, daß ihnen die unausgesetzte Obacht auf die i n ihrem Vorverständnis gespeicherten oder durch die Umwelt an sie herangetragenen transpositiven Bezugspunkte notwendig oder doch sinnvoll und lohnend erscheint. Hier liegt eine weitere von der Rechtstheorie zu lösende Aufgabe. Dabei erweist sich wiederum die herkömmliche, einseitig legalistische Auffassung des Rechtsfindungsvorgangs als ein Haupthindernis. Denn sie läßt keine der Wirklichkeit entsprechende Vorstellung darüber aufkommen, i n welch großem Umfang der Rechtsanwender über die eigentliche Gesetzesauslegung hinaus selbstverantwortlich tätig werden muß und wie beachtlich sein Anteil am Rechtsfindungsergebnis ist. Die traditionelle Rechtsfindungskonzeption übt, indem sie die Eigenart und die große praktische Wichtigkeit der vorpositiven Entscheidungskomponenten verleugnet, einen nachteiligen Einfluß auf die juristische Arbeit aus. Sie verführt i n ihrer landläufigen Form den Bearbeiter dazu, die metajuristischen Ausgangsmaterialien als nur halb zur Sache gehörig zu betrachten und dementsprechend mehr oder weniger nonchalant zu behandeln. Der Rechtsanwender sieht daher keinen Anlaß, ihren vorlegalen Charakter klarzustellen und ihre Stichhaltigkeit m i t der jeweils nötigen besonderen Skepsis zu überprüfen; sie nehmen vielmehr oftmals an der Rechtsgewinnung teil, ohne daß der Rechtsanwender dazu kommt, genauer über sie nachzudenken. Da das vielfach keineswegs von vornherein einleuchtet, muß darauf hier i n den verschiedenen Zusammenhängen mehrfach hingewiesen werden. Es gilt insoweit (wie auch sonst überall, wo ungewohnte Gedankengänge dem Leser das Verständnis erschweren) das Mephisto-Wort: „ D u mußt es dreimal sagen." 7*
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3. Teil: Umgang m i t nichtpositivierten Entscheidungsgrundlagen
Eine weitere unerfreuliche Konsequenz dieses Sachverhalts besteht darin, daß die Arbeit des Rechtsanwenders m i t Regelungsprinzipien, die der gesellschaftlichen Praxis entstammen, für Dritte oftmals undurchsichtig bleibt. Verstöße gegen die bei Verwendung vorpositiver Materialien zu beachtenden Momente entziehen sich nicht selten der einwandfreien Feststellung. Je weniger der praktizierende Jurist aber mit einer wirksamen Überwachung zu rechnen braucht, desto größer w i r d selbst für diejenigen, die u m ein ordnungsmäßiges Vorgehen ernstlich bemüht sind, die Versuchung, jene Zurückhaltung und Urteilsvorsicht außer Acht zu lassen, die allein den mit der Rechtsfindung verbundenen Machtgebrauch des Juristen akzeptabel machen kann. Die gesetzespositivistische Grundthese w i r k t für i h n zugleich als Alibi. Solange der Bearbeiter die Möglichkeit hat, sich lediglich als Auswerter dessen anzusehen, was i m Gesetz bereits vorhanden ist, vermag er die Verantwortung für das Rechtsfindungsergebnis, obwohl er an i h m maßgeblich beteiligt ist, weitgehend von sich abzuschieben. Die legalistische Konzeption w i r k t dabei als Entschuldigungsgrund, sofern der zur Entscheidung Berufene nur darzutun vermag, daß er keine allgemein anerkannten Auslegungsgrundsätze verletzt hat; und wie leicht ist das angesichts des gegenwärtigen Standes unserer juristischen Interpretationslehre oft auch bei fragwürdigen juristischen Lösungen möglich. Man pflegt es bei der Diskussion über diese Fragen mitunter als einen entschiedenen Vorzug der legalistischen Auffassung zu bezeichnen, daß sie den Fallbearbeiter streng an das Gesetz fesselt und dadurch viele Eigenmächtigkeiten verhindert. Doch dürfte sich dieser Vorteil, wenn man die insoweit vorliegenden praktischen Erfahrungen berücksichtigt, i n ziemlich engen Grenzen halten 3 . Andererseits ist damit zu rechnen, daß gerade durch die Abstandnahme vom klassischen Denkschema das Streben unserer Juristen nach einem korrekten Umgang m i t transpositiven Richtmitteln eine wesentliche Stärkung erfährt. Wenn ihnen während der Ausbildungszeit und späterhin die Bedeutung der außergesetzlichen Bezugspunkte ständig bewußt gemacht wird, werden sie deren Handhabung nicht mehr so oft wie bisher auf die leichte Achsel nehmen können, sondern statt dessen eher geneigt sein, sie m i t der nötigen Gewissenhaftigkeit zu erwägen und sie auch für den Außenstehenden besser durchschaubar zu machen.
3
Less spricht zutreffend von einer gewaltigen Überschätzung der Sicherheitsgarantie, die die B i n d u n g des Richters an das Gesetz gewährt, u n d f ü h r t i n diesem Zusammenhang eine Reihe von Argumenten an, die zum Nachdenken nötigen ( „ V o m Wesen u n d Wert des Richterrechts", 1954, S. 103).
2. A u s w a h l u n d Prüfung vorpositiver Gesichtspunkte
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2. Auswahl und Prüfung vorpositiver Gesichtspunkte Klarstellung, ob das Gesetz ihre Heranziehung zuläßt Wenn man die geistige Leistung nachvollziehen w i l l , die der Rechtsanwender beim Arbeiten i m außergesetzlichen Bereich zu erbringen hat, dann ist es nötig, sich zunächst zu vergegenwärtigen, unter welchen Voraussetzungen er überhaupt auf transpositive Ordnungselemente zurückgreifen darf; ferner sind die Regeln i n Betracht zu ziehen, nach denen (falls grundsätzliche Einwände nicht vorliegen) die Verwendung solcher Richtmittel zu erfolgen hat (S. 127 ff.) und schließlich ist zu untersuchen, wie angesichts der vorhandenen Fehlermöglichkeiten eine irrtumsfreie Benutzung außergesetzlicher Orientierungshilfen erreicht werden kann (S. 153 ff.). Die Erwägungen darüber, ob ein Gebrauch externer Gesichtspunkte i m gegebenen Fall zulässig, ob er sachlich erforderlich und auch realisierbar ist, sind i n der Rechtspraxis vielfach eng miteinander verflochten. Es kann dort vorkommen, daß mehrere dieser Fragestellungen nicht nacheinander, sondern gleichzeitig nebeneinander verfolgt werden müssen. Man muß sich dies gegenwärtig halten, wenn i m folgenden (wie es bei der theoretischen Erörterung nicht anders sein kann) die chronologische Aufeinanderfolge der Überlegungen eingehalten wird. Logisch betrachtet hat den Ausgangspunkt des Denkvorgangs die Feststellung zu bilden, ob sich nach der Gesetzeslage i m gegebenen Punkt ein Rückgriff auf außergesetzliche Unterlagen überhaupt rechtfertigen läßt. Das ist infolge der dem Richter (Rechtsanwender) auferlegten Bindung an das Gesetz ein Kardinalpunkt, der schon i m Vorangegangenen bald unter diesem, bald unter jenem Aspekt zur Geltung kam und der auch bei der praktischen Handhabung i n jedem Fall i m Anfangsstadium der Erwägungen zu klären ist. Der Übergang von der eng aufgefaßten Normauslegung zu einer freieren Gesetzesanwendung unter Hinzuziehung transpositiver Gesichtspunkte ist nur statthaft, wo das Gesetz einen solchen zuläßt. Es erscheint angebracht, diese Grundregel, gegen die i n der Praxis nicht selten verstoßen wird, näher zu erläutern. Die einschlägige Gesetzesvorschrift darf nach der m i t Recht herrschenden Anschauung nicht nur den Ausgangspunkt der rechtlichen Erwägungen bilden, von dem möglichst rasch zur Benutzung außergesetzlicher Regelungsmomente fortgeschritten wird, sondern der Rechtsanwender ist verpflichtet, sie während des ganzen Rechtsfindungsverfahrens nicht aus den Augen zu verlieren. Das durch die verfassungsmäßigen Organe beschlossene Gesetz ist i m Verhältnis zur richterlichen Rechtsfortbildung als vorrangig anzusehen.
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3. Teil: Umgang m i t nichtpositivierten Entscheidungsgrundlagen
Wenn der Gesetzesnorm für einen bestimmten Punkt keine Weisung zu entnehmen ist, dann ergibt sich daraus nicht ohne weiteres, daß der Fallbearbeiter von sich aus m i t Hilfe von vorpositiven Bezugspunkten eine ergänzende Regelung schaffen darf. Vielmehr enthält die Norm indirekt unter Umständen ein Verbot derartiger Versuche. Manchmal ist es ganz offensichtlich, daß der Gesetzgeber eine Heranziehung nichtpositivierter Entscheidungsgrundlagen ausschließen oder doch die Verwendung externer Maßstäbe bestimmter A r t nicht zulassen wollte. Dem Bearbeiter darf über dem Streben nach einem befriedigenden Ergebnis die Einsicht nicht verloren gehen, daß solchen Lagen eintreten können und daß, wo sie gegeben sind, das Gesetz respektiert werden muß. Dies gilt nicht zuletzt dann, wenn hinter der gesetzlichen Bestimmung ein starker politischer Wille steht und die vom Rechtsanwender i n Aussicht genommene differenzierende Gestaltung des Norminhalts sich nicht nur auf einen Nebenpunkt, sondern auf die Substanz der gesetzlichen Regelung bezieht. Die am Gesetz orientierte Rechtsfindung darf auch dort, wo m i t der strikten Normauslegung allein auf keine Weise auszukommen ist, nicht zu früh aufgegeben werden. Häufig lenkt das Gesetz, obwohl es i n einer bestimmten Hinsicht keine Anordnung enthält, doch die vom Rechtsanwender vorzunehmende Ergänzungsarbeit. Es liefert dann immerhin noch den Blickwinkel, unter dem die Suche nach einem angemessenen Maßstab vorzunehmen und die Auswahl zwischen mehreren konkurrierenden Richtpunkten zu treffen ist. Das Gesetz gibt dabei vielfach wenigstens die Richtung an, i n der die Antwort auf die offen gebliebene Frage zu suchen ist. Der Bearbeiter ist m i t h i n darauf angewiesen, auch den indirekten Weisungen, die der Gesetzeslage zu entnehmen sind, seine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Die i m Gesetz enthaltene Regelungstendenz steuert i n solchen Fällen mittelbar die juristische Arbeit i n der gesetzesfreien Region. Zuweilen w i r d die Heranziehung bestimmter außergesetzlicher Entscheidungsmaßstäbe oder ihre Beiseitelassung nicht durch die i m vorliegenden Fall zutreffende Spezialvorschrift gelenkt, sondern durch gewisse i n anderen Gesetzen oder i n der Verfassung enthaltene normative Elemente. Dann nehmen durch Fernwirkung unter Umständen Wertentscheidungen des Gesetzgebers auf die Rechtsfindung Einfluß, die an entlegener Stelle fixiert sind und sich zunächst oft gar nicht i m Gesichtskreis des Rechtsanwenders befunden haben. So weit hergeholt diese auf den ersten Blick auch scheinen mögen, können sie häufig doch Aufschlüsse i n einem Punkt geben, für den ein brauchbarer Regelungsgedanke i m Gesetz zunächst nicht zu finden war. Eine Weiterbildung des Gesetzesinhalts darf somit nur i n der Richtung vorgenommen werden, auf die hin die Norm angelegt ist. Selbst
2. A u s w a h l u n d Prüfung vorpositiver Gesichtspunkte
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vage Anhaltspunkte, die manches offenlassen, können i n der einen oder anderen Hinsicht einen Fingerzeig geben, der für den Bearbeiter verbindlich ist. Manchmal nötigt den Rechtsanwender nicht eine gesetzliche Sperre, sondern eine Erwägung, die m i t realen Gegebenheiten (also m i t Momenten außergesetzlicher Art) zusammenhängt, von der fortbildenden Deutung des Gesetzesinhalts abzusehen, obwohl sie vom Gerechtigkeitsstandpunkt wünschenswert erscheint; so etwa wenn die erwogene j u r i stische Stellungnahme einen solchen Aufwand an öffentlichen M i t t e l n bzw. eine so starke Verminderung der öffentlichen Einnahmen zur Folge haben würde, daß dadurch der Staatshaushalt i n Unordnung geraten könnte. Derartige Fälle kommen vor allem i m Sozialrecht und i m Steuerrecht häufiger vor. Teilweise verhindert auch der allgemeine Charakter des Rechtsgebiets, i n das der zu bearbeitende Fall hineingehört, die Verwendung einer speziellen außergesetzlichen Regelungsidee. Rechtsmaterien, für die aus bestimmten Erwägungen eine strikte Norminterpretation unerläßlich erscheint, setzen einer freieren Gesetzeshandhabung unter Verwendung transpositiver Elemente meist besonders starken Widerstand entgegen. Die Frage, ob externe Gesichtspunkte heranzuziehen sind oder nicht, läßt sich — wo immer sie während der Rechtsfindungsbemühungen hervortritt — nicht endgültig für das Verfahren i m Ganzen lösen. Sie kann stets nur für einen bestimmten Punkt beantwortet werden. Wenn sie sich i n der gleichen Sache mehrmals stellt, ist sie immer wieder neu von Grund aus zu prüfen. Vielfach kommen dem Bearbeiter gerade durch die Erwägung, ob der Gebrauch gewisser außergesetzlicher Momente verantwortet werden kann, die für den Ausfall der juristischen Entscheidung maßgebenden Kriterien zu. Nicht immer bietet sich dem Rechtsanwender die Möglichkeit zur Verwendung eines vorpositiven Bestimmungsmoments von selbst. Unter Umständen ergibt sie sich erst auf Grund intensiver Denkarbeit. Falls keine volle Klarheit darüber besteht, ob die Hinzuziehung eines vorrechtlichen Gesichtspunkts gerechtfertigt erscheint, h i l f t bisweilen die Überlegung weiter, ob der Gesetzgeber gegen seinen Einsatz bei Kenntnis der veränderten Gesamtsituation und der charakteristischen Umstände des Falles etwas einzuwenden gehabt haben würde oder nicht. Freilich kann diese Erwägung nur dann zu einem stichhaltigen Ergebnis führen, wenn der Rechtsanwender dem Gesetzgeber nicht kurzerhand die Meinung unterschiebt, die i h m selbst prima facie als zutreffend erscheint, sondern die Haltung des historischen Gesetzgebers hypothetisch i n loyaler Weise ermittelt.
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3. Teil: Umgang m i t nichtpositivierten Entscheidungsgrundlagen
Da sich unsere Juristen des von ihnen zu bestreitenden eigenen A n teils an der Rechtsgewinnung oft noch nicht recht bewußt sind, w i r d es dem einzelnen zunächst vielfach schwerfallen, die Trennung zwischen dem, was als eigentlicher Gesetzesinhalt zu betrachten ist und dem, was er auf Grund eigener Beurteilungsarbeit hinzubringt, vorzunehmen. Sobald er jedoch von der alten Gewohnheit Abstand nimmt, das, was i m Gesetz nicht enthalten war, sondern von außen hinzugekommen ist, von vornherein dem Gesetzestext unterzulegen und als Norminhalt aufzufassen, hindert ihn nichts mehr, die außergesetzlichen Ordnungselemente als solche bewußt wahrzunehmen und sich entsprechend zu verhalten. Der Bearbeiter w i r d dann i n der Urteilsbegründung das Rechtsfindungsergebnis zwar weiterhin insgesamt auf diese oder jene Gesetzesbestimmungen zurückführen, u m seine Vereinbarkeit m i t der Gesetzeslage zu erweisen. Aber es kann ihm, wenn er auf den Unterschied zwischen den beiden Kategorien erst einmal aufmerksam geworden ist, nicht allzu schwer fallen, zu taxieren, wo die Grenze zwischen dem eigentlichen Norminhalt und den an der Rechtsgewinnung beteiligten vorpositiven Zutaten liegt. Es kommt dabei nicht so sehr darauf an, daß die Grenzlinie i n jedem Fall völlig exakt markiert wird. Wichtiger ist die fortwährende Aufmerksamkeit des Bearbeiters darauf, inwieweit er sich bei seinen Rechtsfindungsbemühungen dem Punkt nähert, wo er von der Gesetzesinterpretation i m engeren Sinn zu einer Normauslegung praeter legem übergeht. Das Fehlerrisiko w i r d für i h n u m so größer, je mehr er aus der i h m vom Gesetz gewährten Deckung heraustritt und ohne eindeutige Direktive des Gesetzgebers die angemessene Entscheidung zu finden sucht. Wenn i h m das bei jedem seiner Denkschritte gegenwärtig bleibt, w i r d er leichter jenen Grad von Selbstdisziplin aufbringen, der häufig nötig ist, u m die norminternen und normexternen Entscheidungsgrundlagen auseinanderzuhalten 4 . Die Richtigkeitserwägung als Behelf zur Auffindung vorrechtlicher Kriterien Falls dem Rechtsanwender die Heranziehung außerjuristischer Gesichtspunkte sachlich wünschenswert erscheint und das Gesetz insoweit kein Hindernis aufrichtet, bedarf es weiter der Klarstellung, welcher A r t diese Gesichtspunkte etwa sein könnten. Es muß ferner ermittelt 4
Darüber, daß auch eine auf E r m i t t l u n g des Wortsinns beschränkte Gesetzesauslegung nicht ganz ohne normexterne gedankliche Elemente ausk o m m t : Heller (1961) S. 100 f. u n d Hruschka (1972) S. 91 ff.; i m m e r h i n ist dabei die Gefahr eines Fehlgreifens durch Heranziehung nichtpositivierter Gesichtspunkte noch verhältnismäßig gering.
2. A u s w a h l und Prüfung vorpositiver Gesichtspunkte
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werden, ob i m juristischen Vorfeld entsprechende Richtmittel bereits zur Verfügung stehen oder ob dort erst nach solchen gefahndet werden muß. Schließlich ist eine Klarstellung erforderlich, ob sich die ins Auge gefaßten transpositiven Bezugspunkte i n dieser oder jener Form für die rechtliche Erörterung als brauchbar erweisen. Bei allen diesen Denkvorgängen ist die am herrschenden Gerechtigkeitsbegriff orientierte Richtigkeitserwägung des Bearbeiters das wichtigste Hilfsmittel. Wenn i n diesem Zusammenhang von „Richtigkeit" die Rede ist, w i r d nicht so sehr an die formallogische Korrektheit des Rechtsfindungsergebnisses, d. h. an die Abwesenheit logischer Widersprüche gedacht, obwohl der Jurist auch sie anzustreben hat, sondern an die inhaltliche Angemessenheit der gefundenen Lösung 5 . Dabei handelt es sich speziell u m die Ermittlung des unter rechtlichen Gesichtspunkten Zutreffenden, also u m das Auffinden der Entscheidung, die Recht und Gerechtigkeit entspricht. Der hier i n Betracht kommende Richtigkeitsbegriff w i r d mithin entscheidend von den jeweils gültigen Gerechtigkeitsanschauungen geprägt. Eine absolute Richtigkeit kann für den praktizierenden Juristen nicht das maßgebliche Ziel sein. Für i h n versteht es sich von selbst, daß er i n den Wirrnissen des Alltags keine Aussicht hat, zu Ergebnissen vorzudringen, die i n bezug auf Richtigkeit höchsten Ansprüchen genügen. Vielmehr muß bei der rechtlichen Arbeit der pragmatische Charakter der Rechtsfindungsaufgabe berücksichtigt werden. Der Richter (Rechtsanwender) hat sich demgemäß damit abzufinden, daß für ihn eine i n jeder Hinsicht unanfechtbare Entscheidung oft nicht erreichbar ist. Er muß nicht nur bei der Bemühung u m den Gesetzesinhalt, sondern auch bei der Arbeit i m gesetzesfreien Bereich m i t einem Resultat zufrieden sein, das i n den Grenzen als richtig gelten kann, die sich aus dem praktischen Zweck der Rechtsgewinnung ergeben. Die Richtigkeitsüberlegung ist der Behelf, an Hand dessen der Bearbeiter (teils noch vom Gesetz gelenkt, teils ohne dessen Anleitung) klären kann, inwieweit außergesetzliche Erwägungsgrundlagen an der Rechtsfindung beteiligt werden müssen. Sie eignet sich vortrefflich als Suchgerät, mit dem i m Vorfeld der Jurisprudenz nach brauchbaren Materialien geforscht werden kann. Sie dient auch dazu, unter mehreren i n Betracht kommenden Orientierungsmitteln das jeweils zutreffende auszuwählen. Nur m i t ihrer Hilfe läßt sich ferner feststellen, welche Reichweite der i n Frage stehende Orientierungsfaktor besitzt, d. h. bis zu welchem Punkt er sich als voll funktionsfähig erweist und wo sich 5
Z u m Richtigkeitsbegriff i n der Jurisprudenz Ebsen (1974) S. 36, Engisch (1963) S. 10 ff., (1971) S. 186 ff.; Henkel (1977) S.529; Michaelis (1961) S. 117 ff.; Ryffel (1969) S. 235 ff., 308 ff.; C. Schmitt (1969) S. 4 ff., 71.
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3. Teil: Umgang m i t nichtpositivierten Entscheidungsgrundlagen
seine Richtkraft unter dem Einfluß anderweitiger Erwägungsgrundlagen abzuschwächen beginnt. Die Richtigkeitsüberlegung des Rechtsanwenders ist neben derjenigen, die der Gesetzgeber bei Abfassung der Norm anstellt, nicht zu entbehren; sie gehört heute zu den wichtigsten Obliegenheiten des Bearbeiters. Häufig besteht seine eigentliche Leistung nicht i n der reinen Gesetzesauslegung, sondern gerade darin, unter Stellung der Richtigkeitsfrage die zur Entscheidung benötigten außergesetzlichen Bestimmungsmomente zu ermitteln und zur Geltung zu bringen. Nicht selten erhalten die Rechtsfindungsbemühungen durch diese seine Tätigkeit erst ihr spezielles Gepräge. Richtigkeitserwägungen müssen i n verstärktem Umfang selbst von positivistisch eingestellten Juristen vorgenommen werden. Diese können angesichts der Anforderungen, die eine nur noch schwer übersehbare Umwelt heute an die Rechtsfindung stellt, nicht mehr wie früher einer selbständigen Beurteilungstätigkeit weitgehend ausweichen, sondern sind gezwungen, i n größerem Umfang selbstverantwortlich mitzuarbeiten. Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, daß von ihnen entsprechend den Grundprinzipien, von denen sie ausgehen, jede Gelegenheit wahrgenommen wird, ihre aktive M i t w i r k u n g zu kaschieren. Die wachsende Intensität der vom Rechtsanwender vorzunehmenden Richtigkeitserwägung steht i n Zusammenhang m i t der allgemeinen Neigung, dem gesellschaftlichen Gesamtgeschehen Einfluß auf die Rechtsgewinnung einzuräumen. Sie entspricht ferner der i n neuerer Zeit unüberhörbar erhobenen Forderung nach mehr materieller Gerechtigkeit und nach stärkerer Anpassung der juristischen Entscheidung an die jeweiligen Gegebenheiten. Zwischen diesen charakteristischen Tendenzen der modernen Rechtsentwicklung besteht eine enge Verbindung, der für die unmittelbare Gegenwart eine A r t Notwendigkeit innezuwohnen scheint. Das auf diese Weise heraufbeschworene Anwachsen der Richtermacht läßt sich durch gezielte organisatorische Maßnahmen zur Zeit nur teilweise beeinflussen. Selbst wenn der Gesetzgeber, wie mit Recht vielfach gefordert wird, die Benutzung von Generalklauseln 6 einschränken und versuchen würde, dadurch eine strengere Bindung des Rechtsanwenders an den Gesetzestext zu erreichen, bliebe, solange das intensive Streben nach materiell gerechten Lösungen weiter andauert, für den Fallbearbeiter noch ein beträchtliches Maß eigenverantwortlicher Tätigkeit übrig, die unter den gegebenen Umständen nur mit Hilfe der Richtigkeitsbeurteilung geleistet werden kann. 6
Dazu Hedemann
S. 66 ff. u n d Diederichsen
S. 21 ff.
2. A u s w a h l u n d Prüfung vorpositiver Gesichtspunkte
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Man hat, um seine Richtigkeitsüberlegungen i n möglichst engen Grenzen zu halten, sie i n die Schlußphase der Rechtsfindung verweisen wollen; aber diese Beschränkung läßt sich oft nicht durchführen. I n der Praxis w i r d die Richtigkeitserwägung vielmehr häufig von Anfang an notwendig. Nicht selten setzt sie schon bei der Suche nach einer passenden Gesetzesbestimmung ein. Auch bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften ist sie ständig am Werk. Von ihr hängt es unter Umständen ab, ob der Bearbeiter das arg. a majore ad minus zur Anwendung bringt oder davon Abstand nimmt; ob er den Schluß a minore ad majus zieht, ob er von der Möglichkeit zu analoger Anwendung einer Rechtsnorm Gebrauch macht oder einen Analogieschluß als unangebracht ablehnt usw. M i t Hilfe der Richtigkeitsbeurteilung prüft der Rechtsanwender auch, ob der von i h m herangezogene vorpositive Gesichtspunkt sich als sachlich wertvoll erweist und ob er ein solches Gewicht besitzt, daß die vorliegende Rechtssache ohne ihn nicht zutreffend entschieden werden kann oder ob angesichts der insoweit vorhandenen Zweifel von seiner Verwendung abzusehen ist. Zwischenentscheidungen dieser A r t werden besonders verantwortungsvoll, wenn die i m Fall enthaltenen Schwierigkeiten m i t den bisher üblich gewesenen juristischen Argumenten nicht zu überwinden sind und der Bearbeiter sich ohne durchgreifende Mithilfe von Rechtslehre und Rechtsprechung auf unbekanntem Gelände selbst zurechtfinden muß. Besteht für den fraglichen Zweifelspunkt innerhalb der Jurisprudenz bereits eine feste Meinung und eine herkömmliche Bearbeitungsweise, dann gilt es, mit Hilfe der Richtigkeitserwägung zu klären, ob sie der zu entscheidenden Sache gerecht w i r d oder ob diese Elemente enthält, die eine abweichende Beurteilung notwendig machen. Je mehr man nach einer engen Anpassung der juristischen Lösung an die als wesentlich erkannten Besonderheiten des jeweiligen Sachverhalts strebt, desto dringender stellt sich die Frage, ob die Entscheidung des betreffenden Punktes (und das heißt unter Umständen: der Rechtssache i m ganzen) auf Grund der herkömmlichen Auffassungsweise erfolgen kann oder ob die gängige A r t der Erledigung für die vorliegende Prozeßsache modifiziert werden muß. I n der französischen Rechtspraxis pflegt man i m letzteren Fall von einem jugement d'espèce zu sprechen und Entscheidungen dieser A r t , soweit sie veröffentlicht werden, unter Umständen auch der Klarheit wegen m i t einem entsprechenden Vermerk zu versehen 7 . 7 Uber traditionsgebundene Entscheidungen i m juristischen Bereich Weimar S. 145 sowie Luhmann, Lob der Routine (1964).
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Der Rechtsanwender muß sich also, wenn der von i h m zu entscheidende Rechtsstreit besonders gelagert zu sein scheint, darüber schlüssig machen, ob er trotz der unbefriedigenden Lösung, wie sie sich an Hand der Gesetzeslage und der i m Schrifttum vorherrschenden Ansicht ergibt, bei dieser bestehen zu bleiben hat oder ob unter Aktualisierung vorrechtlicher Maßstäbe, wie das Leben und die Natur der Sache sie an die Hand geben, eine Abweichung von der herkömmlichen Betrachtungsweise stattfinden soll. Oftmals hält er dann nach wiederholter Prüfung schließlich doch an der üblichen Auffassung fest, weil der innere Widerstand gegen die sich dabei ergebende Lösung nicht allzu stark ist. Unter Umständen schließt sich jedoch an eine solche Phase, i n der die herkömmliche A r t der Sachbehandlung eindeutig die Oberhand behält, ein Stadium an, i n dem der Bearbeiter, wo das Unbefriedigende der offiziellen Erledigungsweise allzu kraß hervortritt, versucht, mit kleinen Hilfsmitteln begradigend einzugreifen. Eine grundsätzliche Änderung w i r d meist erst dann i n Erwägung gezogen, wenn sich die Unzulänglichkeit dieser A r t des Vorgehens immer wieder deutlich zeigt. Je größer die K l u f t ist, die sich zwischen der gängigen Auffassung und den kollektiven Gerechtigkeitsanschauungen auftut, desto stärker w i r d für den Rechtsanwender der Anreiz zur unausgesetzten Suche nach außerjuristischen Entscheidungsbehelfen, die eine Uberbrückung des Zwiespalts ermöglichen. Bisweilen scheut sich der Bearbeiter dann, u m ein tüchtiges Resultat zu erreichen, auch nicht vor größeren Anstrengungen. Er schrickt i n einer solchen Situation mitunter vor kühnen Konstruktionsversuchen und selbst vor einem regelrechten geistigen Kraftakt nicht zurück. Der Rechtsanwender ist bei solchen Bemühungen vielfach genötigt, i n bezug auf seinen Fall die gleichen Denkwege zu beschreiten, die die gesetzgebenden Gremien bei der Ausarbeitung eines neuen Normenkomplexes gehen müssen. A n Hand der Richtigkeitserwägung forscht er nach nichtpositivierten Ordnungsvorstellungen, die den i h m vorliegenden Sachverhalt i n Ubereinstimmung m i t den Grundprinzipien der Gesamtrechtsordnung lebensrichtig regeln. Er versucht zu ergründen, wie das allgemeine Rechtsbewußtsein auf die wechselnden Gestaltungen der Umwelt reagiert und wie es sich auf neue (geistige oder nichtgeistige) Phänomene einstellt. Die i n ständiger Wandlung befindlichen Gerechtigkeitsanschauungen lenken seine Aufmerksamkeit unter Umständen auf Gesichtspunkte, die der gegebenen Sachlage besser entsprechen als die übliche Anschauungsweise. Dabei erhalten bisweilen Einzelumstände, die früher stets für unerheblich gehalten worden waren, ein signifikantes Aussehen. Manchmal werden infolgedessen K r i -
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terien bedeutsam, die bisher gänzlich neben der Sache zu liegen schienen und auf die abzustellen lange Zeit niemand gewagt haben würde. Nicht weniger sensationell kann es wirken, wenn umgekehrt wohletablierte Elemente, die von jeher als juristisch relevant angesehen worden waren, infolge veränderter Gerechtigkeitsanschauungen einen neuen Stellenwert erhalten und dadurch ihre ehemalige Überzeugungskraft teilweise einbüßen oder ganz und gar verlieren. Wie der Rechtsanwender i m gesellschaftlichen Bereich die Ordnungsvorstellungen findet, die beim Schweigen des Gesetzes seinen Fall der rechtlich angemessenen Lösung zuführen, und auf welche Weise er dah i n kommt, aus dem Grundstoff, den das Leben zur Verfügung stellt, ein brauchbares juristisches Richtmittel zu machen — diese Frage ist bisher meist gar nicht gestellt worden. Solange allgemein davon ausgegangen wurde, daß das Gesetz die alleinige Grundlage der Rechtsfindung bilde, konnte sie keine Bedeutung haben. Bis zur Jahrhundertwende hat man sie daher weitgehend ignoriert oder sich, wo sie gelegentlich hervortrat, mit einer formalen A n t w o r t begnügt. Heute w i r d sie zwar unter dem Eindruck ihrer zunehmenden Dringlichkeit häufiger aufgeworfen. Aber wer die Arbeit m i t vorpositiven Bestimmungsmomenten als bloße Zusatzveranstaltung zur Gesetzesauslegung ansieht, die nur i n Ausnahmefällen zum Zuge kommt oder sie gar als Fremdkörper innerhalb der juristischen Denkwelt betrachtet, w i r d meist wenig geneigt sein, über das Eindringen außergesetzlicher Regelungsideen i n die Jurisprudenz nachzudenken und den daraus hervorgehenden Problem ernstlich zu Leibe zu gehen. Erster Kontakt mit außergesetzlichen Richtmitteln Wenn man festzustellen versucht, wie der Jurist i n der gesetzesfreien Region an die zur Bearbeitung notwendigen vorpositiven Entscheidungshilfen herankommt, dann zeigt sich, daß die äußere Kontaktnahme m i t diesem Material auf sehr unterschiedliche Weise erfolgen kann. Vielfach drängen sich bestimmte außergesetzliche Gesichtspunkte so auf, daß der Blick von Anfang an auf sie gelenkt wird. Mitunter pochen sie sogar sehr vernehmlich an die Pforten der Jurisprudenz und verlangen — teils m i t zureichenden Gründen, teils ohne solche — lauthals Einlaß. I n anderen Fällen stehen zwar bestimmte gedankliche Elemente i n der gesellschaftlichen Sphäre bereit und streben nach Einfluß auf die rechtlichen Erörterungen. Aber sie t u n es nicht i n einer irgendwie auffälligen Weise, sondern dringen auf geheimen Wegen unerkannt i n die juristischen Überlegungen ein. Infolgedessen kommt es zunächst gar nicht zu den Prüfungen, die der Jurist vor ihrer Aufnahme i n das
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juristische Denksystem mit ihnen anzustellen verpflichtet ist. Sie sind vielmehr zu dem Zeitpunkt, wo der Rechtsanwender die Unterwanderung bemerkt, bereits tüchtig an der Arbeit. Manchmal lassen sich jedoch einschlägige vorrechtliche Maßstäbe zunächst überhaupt nicht auffinden. Sie sind weder auf der offenen Szene zu entdecken, noch t u n sie i m Untergrund ihre Wirkung. Es scheint vom juristischen Vorfeld her keine noch so flüchtige Anregung auszugehen, die i n eine bestimmte Richtung weist. Der Bearbeiter ist dann genötigt, i m transpositiven Bereich systematisch nach sachdienlichen normativen Elementen zu fahnden. Zumal i n schwierigen Fällen bleibt i h m nichts übrig, als dort unaufhörlich nach dem Regelungsprinzip zu suchen, das seinen Fall regiert und i h m für die i n Aussicht genommene Entscheidung die notwendige Rückendeckung verschafft. Gleichwohl ist zuweilen ein brauchbarer regulativer Bezugspunkt lange Zeit nicht aufzufinden, so daß die Anstrengungen immer weiter fortgesetzt werden müssen. Dies war die Lage, i n der sich Rud. v. Jhering befand, als er 1861 daran ging, an Hand des römischen Rechts die Lehre von der culpa i n contrahendo zu entwickeln. I h m hatte, wie er anschaulich beschreibt, i n den Fällen, wo sich bei Vertragsabschluß einer der Kontrahenten i n einem rechtlich erheblichen I r r t u m befindet, schon immer die Frage Schwierigkeiten bereitet, ob nicht, wenn es auf diese Weise zur Annullierung des Vertrages kommt, der irrende Teil verpflichtet ist, dem Partner den i h m dadurch entstandenen Schaden zu ersetzen. Da i n solchen Fällen ein Vertrag infolge der Annullierung als nicht zustande gekommen angesehen wird, konnten die römischrechtlichen Grundsätze über vertragliche culpa nicht angewandt werden. Demgemäß wurde, da auch sonstige haftungbegründende Momente zu fehlen schienen, ein Schadensersatzanspruch von der damals herrschenden Lehre verneint. Aber die „Unbilligkeit und praktische Trostlosigkeit" dieses Ergebnisses führte Jhering, wie er bekennt, dazu, daß er sich immer wieder m i t diesem Problem beschäftigte, bis i h m nach Vergegenwärtigung der i n Betracht kommenden unterschiedlichen Fallgestaltungen bewußt wurde, daß der schadenbringende I r r t u m immerhin „bei Gelegenheit eines intendierten Kontraktverhältnisses" entstanden war und daß i n diesem Umstand gegebenenfalls das zum Schadensersatz verpflichtende Moment erblickt werden könne. Von diesem, nicht den Quellenstellen entnommenen, sondern i n t u i t i v gefundenen Gesichtspunkt ausgehend, durchforschte Jhering erneut das römisch-rechtliche Material und fand nunmehr trotz der ungünstigen Quellenlage wenigstens gewisse Punkte, die dazu dienen konnten, eine Haftung des irrenden Vertragsteils zu begründen 8 . β Jherings Jahrbücher Bd. 4 S. 1 ff.
2. A u s w a h l u n d Prüfung vorpositiver Gesichtspunkte
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Was aus Jherings detailliertem Bericht nicht hervorgeht, sondern erst einem Betrachter erkennbar wird, der den Vorgang aus größerem zeitlichem Abstand wahrnimmt, ist: daß sich i n den dort beschriebenen Rechtsfindungserwägungen ein Wandel des Gerechtigkeitsbegriffs abzeichnete, der von der großen Mehrheit der Juristen vorerst gar nicht registriert wurde, aber bei Jhering bemerkenswert frühzeitig zur Geltung kam. Jhering vollzog i n seinen Überlegungen zur culpa i n contrahendo bereits die Loslösung von der damals herrschenden stark individualistisch gefärbten Gerechtigkeitsauffassung und ging zu einer mehr kollektivistischen Denkweise über, die dem Gemeinschaftsgedanken größeres Gewicht beimißt. — Gestalt und innerer Aufbau nichtpositivierter Materialien Die herkömmlichen Anschauungen darüber, wie die der Allgemeinsphäre entstammenden Richtmittel aussehen, deren der Rechtsanwender sich bedient, sind oft noch stark von naturrechtlichen Auffassungen alter A r t bestimmt, obwohl w i r uns von diesen sonst längst gelöst haben. Man stellt sich diese Bestimmungsmomente infolgedessen vielfach als regulative Ideen von umfassendem Charakter vor, die nach der Übernahme i n das juristische Denken zu einem festgefügten gedanklichen Zusammenhang ausgebaut werden können, wie das etwa bei der culpa i n contrahendo, beim Sicherungseigentum, bei der Lehre von der Geschäftsgrundlage und den Regeln von der Verwirkung geschehen ist. Doch gibt es außer diesem für jedermann erkennbaren metajuristischen Lehngut, wie bereits angedeutet worden war, auch viele kleinteilige Ausgangsmaterialien, die weit weniger i n die Augen fallen. Häufig handelt es sich u m unscheinbare Ideenfragmente, die i n die juristischen Überlegungen eindringen, ohne dort institutionalisiert zu werden. W i r haben es dabei nicht mit dogmatisch verarbeiteten Regelungsprinzipien zu tun, sondern mehr m i t Denkanstößen und A u f fassungsnuancen, die sich bisweilen noch nicht einmal zu „Gesichtspunkten" verdichtet haben. Man kann mitunter lediglich von gedanklichen Elementen sprechen, die, obwohl selbst mehr oder minder konturlos und nur schwer faßbar, immerhin determinierend wirken. Vielfach sind diese Ordnungsfaktoren von erstaunlicher Schlichtheit. Sie präsentieren sich nicht i n großer Aufmachung. A u f einen i n dieser Hinsicht verwöhnten Betrachter wirken sie oft enttäuschend und bisweilen trivial. Er vermag ihnen deshalb auch kein Interesse entgegenzubringen und kann die von ihnen ausgehenden Impulse nicht ihrer Bedeutung entsprechend würdigen. Die Beteiligung solcher Faktoren am Rechtsfindungsvorgang geht ohne irgendwelches Aufsehen vor sich. Oft treten sie lange Zeit überhaupt nicht ins Bewußtsein des Rechts-
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anwenders. Mitunter dringen sie wie eine sanfte atmosphärische Strömung, die mit der Atemluft eingesogen wird, i n die rechtlichen Uberlegungen ein, so daß es der konzentrierten Aufmerksamkeit bedarf, wenn man sie wahrnehmen und i n ihrer Eigenart erfassen w i l l . Die landläufige Anschauung bezüglich der bei der Rechtsgewinnung zum Zuge kommenden vorpositiven Richtmittel entspricht auch insofern nicht der Wirklichkeit, als man sich diese meist als i m wesentlichen fertige, sogleich verwendbare Behelfe vorstellt, während sie sich zunächst oftmals lediglich i n einer A r t Rohzustand präsentieren. Ihnen fehlt i n vielen Fällen zunächst noch manches, was für ihre Funktionsfähigkeit innerhalb der Jurisprudenz nötig wäre. Oft hat der Bearbeiter es mit Regelungsfaktoren zu tun, die zwar einen wertvollen Kern enthalten, jedoch erst den veränderten A n forderungen angepaßt werden müssen, denen sie i m juristischen Bereich zu genügen haben. Er ist daher genötigt, solche außergesetzlichen Materialien, die i n ihrer ursprünglichen Verfassung für die rechtliche Erwägung oft wenig belangreich zu sein scheinen, erst „zum Reden" zu bringen und ihren inneren Gehalt sichtbar zu machen. Dieser muß, wenn er zunächst nur undeutlich erkennbar ist, durch Bearbeitung geläutert und gegen I r r t u m des Rechtsanwenders selbst sowie gegen Einwände von dritter Seite gesichert werden. Der Rechtsanwender ist darauf angewiesen, die vorpositiven Bestimmungsgründe, denen es an der nötigen grundsätzlichen Klarheit mangelt, so zu fassen, daß sie innerhalb der rechtlichen Argumentation m i t Nutzen verwandt werden können. I h m obliegt es, sie zurechtzuhämmern, wenn es ihnen an der festen Umgrenzung fehlt oder wenn sie i n anderer Hinsicht noch unfertig sind. Bemerkenswert ist ferner, daß die aus der gesellschaftlichen Region herüberdringenden gedanklichen Elemente oft keineswegs i n spektakulärer Weise i n den Gang der Rechtsfindung eingreifen. Vielfach üben sie ihren Einfluß dadurch, daß sie die gesetzliche Regelung lediglich für den vorliegenden Fall bzw. für eine Gruppe von Einzelfällen „konkretisieren" und dabei oft genug stillschweigend formen. M i t ihrer Hilfe werden die gesetzlichen Weisungen i n bestimmter Richtung akzentuiert. Unter ihrem Einfluß ergeben sich mitunter neue Interpretationsmöglichkeiten, die trotz wenig günstiger Gesetzesfassung einer annehmbaren Lösung den Weg ebnen. Oft w i r d dabei die den gesetzlichen Kriterien anhaftende ursprüngliche Bedeutung verstärkt, abgeschwächt oder sonst modifiziert. A u f diese Weise können selbst anscheinend festgefügte normative Merkmale wie ursächlicher Zusammenhang, Unmöglichkeit der Leistung, Täterschaft, Fahrlässigkeit usw. ihren Sinn verändern, ohne daß dies sonderlich auffällt. Juristische Begriffe, von denen zunächst angenommen
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werden konnte, daß sie keiner Umformung zugänglich seien, erweisen sich mitunter auf Grund von Einflüssen aus dem juristischen Vorfeld plötzlich als i n der bisherigen Gestalt nicht mehr brauchbar. Sie können m i t der allgemeinen Rechtsüberzeugung nur noch teilweise zur Deckung gebracht werden und erscheinen daher der Abwandlung bedürftig. Bezeichnenderweise werden solche Anpassungen i n der Regel auch gutgeheißen, wenn das Rechtsfindungsergebnis dadurch eine Fassung erhalten kann, die jedermann zufriedenstellt. Man läßt es dann meist ohne Widerspruch zu, daß gesetzliche Anordnungen m i t Hilfe von nichtpositivierten Erwägungsgrundlagen umgebildet werden. Manchmal regen diese auch nur die kognitive Vorstellungskraft des Rechtsanwenders an und ermutigen ihn, den Fall durch eine bisher nicht üblich gewesene juristische Konstruktion der sachentsprechenden Lösung zuzuführen. Sie wirken zuweilen lediglich dadurch, daß sie den Bearbeiter für gewisse Zwischentöne empfänglich machen und ihn auf diese Weise zu Differenzierungen anleiten, zu denen es ohne sie niemals gekommen wäre. Sie inspirieren ihn zur Erprobung bestimmter Lösungsvarianten, die dem Gesetz nicht oder doch nicht unmittelbar zu entnehmen sind, aber nunmehr gleichwohl als dem Recht gemäß erscheinen. Wirklichkeitsfremd ist die gängige Anschauung darüber, wie die vorpositiven Entscheidungsbehelfe i n der Rechtspraxis auftreten, schließlich auch insofern, als man sich die benachbarten Sphären des gesetzlich Geregelten und der vorjuristischen Erwägungsgrundlagen — wenn überhaupt — wie auf einer Landkarte durch eine übersichtlich verlaufende Grenzlinie getrennt vorstellt. Sachgemäßer wäre es. die dabei angewandte gegenständlich-räumliche Betrachtungsweise aufzugeben. Falls diese gleichwohl beibehalten wird, was hier mit Rücksicht auf die herrschenden Auffassungs- und Sprachgewohnheiten geschieht, muß dieser Grenzverlauf als durch viele Enklaven unterbrochen und m i t h i n stark zerklüftet gedacht werden. Denn die außergesetzlichen Bestimmungsfaktoren kommen zwar an sehr vielen Stellen, aber immer nur punktweise zur Wirkung. Gesetzliche und außergesetzliche Elemente finden sich infolgedessen oft i n bunter Gemengelage nebeneinander vor. Bei den transpositiven Bezugspunkten handelt es sich unter Umständen u m winzige Einsprengsel, die außerdem möglicherweise gar nicht unmittelbar auf die Beurteilung der Sache, sondern auf die Beantwortung von Vor- bzw. Zwischenfragen methodischer oder prozessualer A r t Einfluß nehmen. Nur wenn man alle diese für die äußere Gestalt und den inneren Aufbau der nichtpositivierten Entscheidungsunterlagen so bezeichnenden Besonderheiten berücksichtigt, werden fruchtbare Erwägungen über den korrekten Umgang des Juristen m i t ihnen möglich. 8 Döhring
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3. Teil: Umgang m i t nichtpositivierten Entscheidungsgrundlagen Substantielle Anforderungen an externe Regelungsprinzipien
Die vor Aufnahme eines praepositiven Bestimmungsmoments i n die juristische Argumentation nötigen Überlegungen beziehen sich zunächst auf seine sachliche Stichhaltigkeit. Vielfach kann damit gerechnet werden, daß ein pragmatischer Gesichtspunkt, der sich i n der gesellschaftlichen Praxis als hilfreich erweist, auch i m rechtlichen Bereich als Richtmittel verwendbar ist. Mitunter w i r d er für den Juristen gerade dadurch interessant, daß er bereits auf bestimmten anderen Lebensgebieten mit Erfolg erprobt und dort vielleicht sogar schon institutionalisiert worden ist. Zuweilen bedarf es dann keiner besonderen Bemühung des Rechtsanwenders, i h m auch i n der Jurisprudenz Geltung zu verschaffen. Bezüglich vieler i m juristischen Vorfeld vorhandener Maßstäbe bestehen jedoch gewisse Zweifel an ihrer rechtlichen Relevanz. Manche vorrechtlichen Materialien zeigen zwar die Richtung an, i n der die angemessene Lösung zu suchen ist, sind jedoch i m übrigen so wenig signifikant, daß die juristische Entscheidung nicht auf sie abgestellt werden kann. Andere können als Regelungsfaktor nicht verwendet werden, weil die zu ihrer Handhabung erforderliche Tatsachengrundlage ihrer A r t nach vom Rechtsanwender nur selten mit der nötigen Sicherheit festgestellt werden kann, so daß dadurch für die Rechtspflege große praktische Schwierigkeiten entstehen würden. Bisweilen scheint der i n Betracht gezogene Richtpunkt zwar zur Zeit eine gewisse normative K r a f t zu besitzen; aber trotz des Ungestüms, mit dem er sich i m Augenblick geltend macht, ist fraglich, ob diese i h m über längere Zeit hinweg erhalten bleiben w i r d oder ob seine Evidenz möglicherweise so rasch verloren geht, daß er sich als juristisches K r i t e r i u m nicht mehr eignet. Es gibt vielerlei Bezugspunkte, die zwar i n der Lebenspraxis einige Bedeutung haben, aber gleichwohl ohne innere Festigkeit und ständig i n Gefahr sind, sozusagen von heute auf morgen außer Kurs gesetzt zu werden. I m gewöhnlichen Alltag, wo man jederzeit damit rechnen muß, daß maßgebende Grundsätze rasch wechseln, fällt das nicht sonderlich ins Gewicht. I m Rahmen der rechtlichen Betrachtung dagegen, die nach der herrschenden Ansicht zwar nicht unwandelbar, aber doch auf längere Dauer angelegt sein muß, w i r k t sich dieser Umstand sehr nachteilig aus. Das Abstellen der rechtlichen Überlegungen auf allzu kurzlebige Auffassungen pflegt man i n aller Regel als ungerecht anzusehen, weil die juristische Entscheidung auf diese Weise allzu stark vom Zufall abhängig wird. Häufig können Mängel einer außergesetzlichen Regelungsidee durch engere Umgrenzung oder durch bestimmte Differenzierungen behoben werden. Aber mitunter haftet dem vorpositiven Element auch eine nicht
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behebbare Schwäche an. Es erweist sich trotz der Bemühungen u m seine Präzisierung unter Umständen als so vage, daß innerhalb der juristischen Erörterung m i t i h m nichts auszurichten ist. Bisweilen sind die von außerhalb herangezogenen Bestimmungsmomente auch durch Selbstsucht einzelner beeinträchtigt oder durch Gruppenegoismus verdorben, der mehr oder weniger geschickt hinter vorgeschobenen Gerechtigkeitsargumenten versteckt wird. Der Rechtsanwender hat, wenn er i m gesetzesfreien Raum nach einem Festpunkt Ausschau hält, zu überlegen, ob das Richtmittel, dessen Benutzung er erwägt, für die rechtliche Betrachtung, aufs Ganze gesehen, so hilfreich und sachdienlich ist, daß es ohne stichhaltige Bedenken zur Vervollständigung der gesetzlichen Anordnungen benutzt werden kann. Er ist gehalten, die normative Kraft, die es zu entfalten vermag, gründlich zu erproben. I n diesem Zusammenhang bedarf es der Feststellung, ob die zu testende außergesetzliche Entscheidungskomponente das notwendige Gefälle zur Gerechtigkeit h i n besitzt, d. h. ob sie i n den Fallgruppen, die ihr unterstellt werden sollen, zu einer befriedigenden Lösung führt oder ob sie etwa trotz der ihr innewohnenden Ordnungsgewalt unter bestimmten Voraussetzungen versagt, ohne daß dies durch geeignete Gegenmaßnahmen verhindert werden kann. Der Bearbeiter muß zu taxieren wissen, was das von i h m als Rechtsfindungshilfe herangezogene regulative Prinzip insgesamt zu leisten vermag. Er hat sich darüber schlüssig zu machen, ob es von der A r t ist, daß i h m vom Standpunkt des Rechts Anerkennung gebührt. Dabei sind vor allem die hinter dem gedanklichen Element stehenden rechtspolitischen Tendenzen zu berücksichtigen, die keinesfalls unreflektiert bleiben dürfen. Soweit diese nicht offen zutage liegen, ist der Bearbeiter gehalten, sie aufzudecken und ihre Stichhaltigkeit unnachsichtig zu erforschen. Er hat dabei oftmals nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn er von der i m Rechtsalltag vielfach herrschenden vordergründigen Betrachtungsweise Abstand nimmt und das Für und Wider tiefer eindringend erwägt. Die Eignung des vom Rechtsanwender ins Auge gefaßten Gesichtspunkts ist nicht nur allgemein zu prüfen, sondern es bedarf der genauen Überlegung, welche Reichweite er innerhalb der juristischen Argumentation erhalten soll, d. h. i n welchem Umfang i h m ein Einfluß auf die Rechtsfindung zuzugestehen ist. Es gilt festzustellen, welche Bewertung dem betreffenden Orientierungsmittel i m Vergleich m i t konkurrierenden Bezugspunkten zukommt und welche Wirkungsgrenzen i h m gesetzt sind. Häufig besteht die eigentliche Schwierigkeit darin, die Voraussetzungen für sein Eingreifen so präzise festzulegen, daß es nicht 8*
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durch Ausuferung verdorben werden kann und auch die Gefahr sonstigen Mißbrauchs ausgeschaltet wird. Unter Umständen scheint ein außergesetzliches K r i t e r i u m zunächst für die juristische Arbeit gänzlich ungeeignet zu sein. Doch ruft die Nachdrücklichkeit, m i t der es sich geltend macht, immer neue Bemühungen des Rechtsanwenders u m seine Ansiedlung i n der Jurisprudenz hervor, die i h n schließlich anfangs nicht beachtete Integrationsmöglichkeiten entdecken lassen. I n solchen Fällen zeigt sich dann nachträglich m i t aller Deutlichkeit, daß die vorhanden gewesenen Bedenken überwindbar waren und daß der Einbau des fraglichen Elements, der ursprünglich unerreichbar zu sein schien, sich unter massivem Druck von außen her schließlich doch auf legitime Weise hat durchführen lassen. Manchmal geht die Überzeugung von der Unbrauchbarkeit eines exogenen Bezugspunktes für die Rechtsgewinnung lediglich darauf zurück, daß es dem Rechtsanwender an der erforderlichen geistigen Beweglichkeit bzw. an einem gewissen Reichtum konstruktiver Ideen mangelt. Er sieht daher die bisherige Anschauungsweise zu Unrecht als die allein i n Betracht kommende an und vermag infolgedessen das altgewohnte Denkgeleise nicht zu verlassen. Zuweilen führen auch gewisse Voreingenommenheiten dazu, daß es zu einer Abstandnahme von den üblichen Anschauungen und von der bisherigen A r t der Sachbehandlung nicht kommen kann. Wenn der Rechtsanwender es versteht, Hemmnisse dieser A r t zu überwinden, dann gelingt es i h m möglicherweise, sogar unter erschwerten Voraussetzungen zu einer tüchtigen Lösung vorzudringen. A u f diese Weise haben es Rechtslehre und Rechtsprechung (teils jede für sich, teils i n Zusammenarbeit) bisweilen dahin gebracht, selbst sehr komplizierte Problembündel durch Herstellen einer glücklichen Verbindung zwischen bestimmten gedanklichen Elementen zu entwirren, die zunächst heterogen anmuteten. Viele wichtige Ordnungsfaktoren, gegen deren Rezeption zunächst heftiger Widerstand geleistet worden war, sind der Jurisprudenz auf solche A r t i m Laufe der Zeit sozusagen wider Willen aufgedrängt worden. Sie haben sich mitunter so unabweisbar geltend gemacht, daß ihnen trotz der bestehenden konstruktiven Hindernisse und trotz vorhandener ideenmäßiger Bedenken Rechnung getragen werden mußte. Bisweilen ist schwer vorauszusagen, ob ein bestimmtes außergesetzliches K r i t e r i u m und die vom Rechtsanwender für seine Handhabung gewählte begriffliche Form sich auf die Dauer w i r d durchhalten lassen. Unter Umständen erweist sich ein Regelungsprinzip, auf das große Hoffnungen gesetzt worden waren, nachträglich als wenig hilfreich. Manchmal zeigt sich später, daß der Schritt ins Ungewisse, obwohl er
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vom Bearbeiter nach sorgfältigsten Überlegungen unternommen wurde, nicht den gewünschten Erfolg gehabt, sondern eher nachteilig gewirkt hat 9 . Wenn die auf ihre Brauchbarkeit zu erprobende Regelungsidee voraussichtlich für große Bereiche des sozialen Lebens ausschlaggebende Bedeutung erhalten wird, dann beunruhigt den Rechtsanwender m i t unter der Gedanke, daß ihre Zugrundelegung später möglicherweise auf Grund von Umständen, die von i h m nicht erwogen worden sind, zu unangenehmen oder geradezu absurden Ergebnissen führen könnte. I n den obersten Gerichtshöfen, durch deren Entscheidungen nicht selten Weisungen von großem Gewicht erteilt werden, pflegt man die Last dieses häufig nicht vermeidbaren Risikos besonders zu empfinden. Es kommt jedoch auch vor — und darin liegt zuweilen das Verwirrende bei solchen Überlegungen — daß die Funktionsfähigkeit des vom Bearbeiter zum Einsatz gebrachten Richtmittels stärker ist als zunächst angenommen worden war und daß seine ordnende K r a f t erst nachträglich v o l l eingesehen wird. Überraschungen sind i n dieser Hinsicht also nach beiden Seiten h i n möglich. Falls gewisse Zweifel übrig bleiben, ob der geprüfte Entscheidungsbehelf den zu stellenden Anforderungen gerecht zu werden vermag, kann sich unter Umständen ein stufenweises Vorgehen empfehlen, bei dem der neu eingeführte Gesichtspunkt zunächst nur i n engsten Grenzen als maßgebend anerkannt und i n der Folgezeit Obacht gegeben wird, ob sich eine Ausdehnung seines Geltungsbereichs auf Grund der mit i h m inzwischen gemachten Erfahrungen rechtfertigen läßt. Konsens in bezug auf transpositive Maßstäbe Als Anhaltspunkt dafür, ob ein außergesetzliches Bestimmungsmoment bei der Rechtsgewinnung brauchbar ist, kann das intersubjektive Einverständnis über seine Sachangemessenheit dienen. Dieses Einvernehmen bedeutet für den Juristen, dem die i m Leben herrschenden Anschauungen nicht gleichgültig sein können, unter Umständen eine gewisse Rückenstärkung. Freilich w i r d seine Rechtsauffassung nicht bereits dadurch als zutreffend ausgewiesen, daß sie vom Konsens der Rechtsinteressenten gedeckt ist 1 0 ; aber der Konsens stellt doch ein mehr oder weniger beweiskräftiges Anzeichen dafür dar, daß der Bearbeiter sich auf dem richtigen Wege befindet; manchmal kann dieses Indiz sogar eine beträchtliche Stärke besitzen. » Sarstedt (1968) S. 351 k o m m t ζ. B. m i t Bezug auf die höchstrichterliche Rechtsprechung über den Verbotsirrtum i m Strafrecht zu einem solchen Ergebnis. 10 I n diesem Sinne m i t erfreulicher Deutlichkeit auch O. A. Germann, Probleme u n d Methoden der Rechtsfindung (1965) S. 169.
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Man hat bisweilen gemeint, daß angesichts der vielen Meinungsunterschiede, die heute selbst i n Grundfragen vorhanden sind, die Suche nach kollektiv gebilligten vorlegalen Festpunkten meist erfolglos bleiben müsse. Damit werden jedoch die nicht selten vorhandenen Schwierigkeiten übertrieben. Vielfach stehen hinter dieser Anschauung ideologische Eingeengtheiten, die dem Betrachter eine derartig pessimistische Auffassung nahelegen. Das gleiche gilt freilich auch für die Gegenansicht, die, indem sie die zahlreichen Auffassungsdifferenzen nicht sehen w i l l , i n ihrer konsequenten Ausprägung dazu führt, daß die bestehenden Gegensätze verheimlicht oder bagatellisiert werden. Die Wahrheit dürfte etwa i n der Mitte liegen. Obwohl die das menschliche Verhalten bestimmenden gedanklichen Fundamente gegenwärtig bei weitem nicht mehr so festgefügt sind wie noch vor wenigen Jahrzehnten, hat der Jurist, wenn er sich i m gesetzesfreien Bereich unverdrossen u m die Auffindung allgemein plausibler normativer Richtpunkte bemüht, oft noch mancherlei Möglichkeiten zur Herstellung einer leidlich sicheren Urteilsgrundlage. Soweit eine einheitliche Überzeugung fehlt, sind häufig doch Hinweise auf einen möglichen Teilkonsens zu finden. I n vielen Fragen lassen sich immerhin Tendenzen feststellen, die dem Bearbeiter anzeigen, i n welche Richtung die allgemeine Auffassung geht und i n welchem Bereich etwa die von der Gemeinschaft gebilligte Rechtsanschauung liegen könnte. Die i n der gesellschaftlichen Region bereitstehenden gedanklichen Elemente haben für den Rechtsanwender oftmals auch dann Bedeutung, wenn sie zunächst unpräzise wirken oder unter sonstigen Schwächen leiden. Mitunter lassen sich ihnen durch denkende Verarbeitung allgemein gutgeheißene Bestandteile entnehmen, die für die Herbeiführung von Konsens hilfreich sein können. Gegebenenfalls ist es möglich, mit ihrer Unterstützung aus verstreuten und vorerst zusammenhanglos erscheinenden vorpositiven Bauelementen eine Ausgangsbasis zu schaffen, die eine sachlich gediegene Entscheidung gestattet. A u f diese Weise vermag der Bearbeiter nicht selten jener fatalen Unsicherheit Herr zu werden, der er ohne jedes Richtmittel anheimfallen würde. Durch sorgfältige Herausarbeitung konsensfähiger Einzelteile ist er imstande, selbst dort, wo die Rechtsinteressenten sich m i t dem fraglichen Punkt bisher kaum beschäftigt haben und daher i n bezug auf ihn noch keine Meinung besitzen, wenigstens hypothetisch festzustellen, welcher A r t diese voraussichtlich sein wird. Hypothetische Erwägungen sind auch nötig, wenn — was häufig vorkommt — zwar eine ziemlich einheitliche kollektive Auffassung vorhanden ist, diese jedoch bestimmte, i m gegebenen Fall enthaltene Besonderheiten nicht berücksichtigt, so daß sie insoweit durch Mutmaßungen ergänzt werden muß.
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Die i m juristischen Vorfeld gespeicherten gedanklichen Elemente sind mithin trotz der ihnen häufig anhaftenden Unvollkommenheiten oftmals ergiebiger, als man es sich vorzustellen pflegt 11 . Wenn der Rechtsanwender die i n ihnen enthaltenen konsensfähigen Einzelteile aufdeckt und mit ihnen ökonomisch umgeht, bringt er unter Umständen sowohl die Streitparteien als auch außenstehende Betrachter, soweit sie für eine leidlich unbefangene Erwägung offen sind, dazu, daß sie den von ihm für notwendig gehaltenen Einsatz außergesetzlicher Bezugspunkte und die daraus hervorgehende juristische Lösung billigen. Auch denen, die wegen interessemäßiger Gebundenheit oder infolge ideologischer Behinderung nicht zu gewinnen sind, kann auf solche Weise die Aufrechterhaltung ihres inneren Widerstands gegen die vom Bearbeiter für zutreffend erachtete Lösung so erschwert werden, daß ihre Gegenwehr einen Teil der früheren K r a f t verliert und sie keine Aussicht mehr haben, für ihre abweichende Meinung anderweit Verständnis zu finden 1 2 . Wenn sich innerhalb der Rechtsgemeinschaft ein einigermaßen dauerhafter Konsens i n bezug auf den zu klärenden Punkt nicht feststellen läßt, ist zu erwägen, ob ein solcher sich binnen angemessener Frist w i r d erreichen lassen. Handelt es sich u m Auffassungen, die alle angehen, dann sind, wenn man die vermutliche Haltung dieses umfassenden Personenkreises richtig taxieren w i l l , nicht selten eingehende und vielschichtige Überlegungen notwendig. Der Bearbeiter hat dabei den Inhalt des herrschenden Rechtsbewußtseins zu interpretieren und gegebenenfalls abzuschätzen, welche Möglichkeiten zu seiner Umbildung i m Sinne der geplanten rechtlichen Stellungnahme vorhanden sind. Das Risiko des Fehlgreifens ist i n solchen Fällen nicht zuletzt deshalb so groß, weil der Jurist für derartige Klarstellungen kaum entsprechend geschult wird. Oft stellt sich die Frage, ob m i t der noch fehlenden Zustimmung der Allgemeinheit nach einer gewissen Übergangszeit gerechnet werden kann, konkreter dahin, inwieweit es dem Rechtsanwender gelingen wird, seine mit Hilfe außergesetzlicher Richtpunkte gewonnene Auffassung so einleuchtend zu begründen, daß auch ein von anderen 11 Ebenso Werner (1971) S. 116, der die Überzeugung ausspricht, daß trotz aller Richtungsstreitigkeiten oftmals eine tiefere Übereinstimmung bestehe, ohne die die Rechtsfindung ein „zur Verzweiflung treibendes Wagnis" darstellen würde. 12 A u f die praktisch wichtige Möglichkeit einer solchen Isolierung Andersdenkender hat i n anderem Zusammenhang Luhmann (1969) S. 117 f., 123 hingewiesen. Spezifizierte Angaben darüber, unter welchen Bedingungen die Konsenssuche Aussicht auf Erfolg zu haben pflegt, bei E. Streißler (1967) S. 1 ff.
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Voraussetzungen ausgehender Betrachter beeindruckt wird. Mitunter ist es nötig, eine regelrechte Konsensstrategie zu entwickeln. Der Rechtsanwender läuft dabei ständig Gefahr, hinsichtlich der Aussichten auf Konsens einer Täuschung anheimzufallen. Selbst hohe Gerichte irren sich manchmal darüber, ob das von ihnen zur Rechtsfindung herangezogene vorpositive Moment (und das auf seiner Grundlage zustandegebrachte juristische Ergebnis) innerhalb der Rechtsgemeinschaft Anklang finden und Bestandteil des allgemeinen Rechtsbewußtseins werden wird. Bruno Heusinger hat erst kürzlich zum Ausdruck gebracht, die sog. Kuppeleientscheidung des Bundesgerichtshofs (Bd. 6 S. 46 der amtl. Sammlung) sei i n der Annahme konzipiert worden, daß sich die dort vertretene Auffassung allgemein durchsetzen werde 1 3 ; eine Erwartung, die jedoch — wie sich i n der Folge ergab — unzutreffend war. Zu einem gut fundierten Resultat werden solche Sondierungen meist nur dann führen, wenn der Jurist den festen Willen hat, die i n den herrschenden Gerechtigkeitsauffassungen enthaltenen Elemente unbefangen zu würdigen und sie auch dann ernst zu nehmen, wenn sie i h m nicht zusagen. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß der allgemeine Konsens, den der Bearbeiter für die von i h m i n Aussicht genommene Auffassung in der Rechtsgemeinschaft findet, ihre Richtigkeit zwar nicht ohne weiteres verbürgt, daß er aber doch als eine A r t Richtigkeitsindiz betrachtet werden kann. Wenn eine Erwägung der Konsenslage unterbleibt, dann mindern sich oftmals die Aussichten für eine wirkliche Bereinigung des vorhandenen Konflikts. Es muß i n solchen Fällen damit gerechnet werden, daß die aufgetretenen Dissonanzen weiter bestehen bleiben und daß die durch sie hervorgerufene Unzufriedenheit nicht getilgt, sondern möglicherweise noch verstärkt wird. Zum mindesten verringert sich dann die Aussicht auf das Zustandekommen einer j u ristischen Entscheidung, die von keiner der durch sie betroffenen Gruppierungen als unerträglich empfunden wird. Andererseits darf der Beifall der Allgemeinheit oder der interessierten Kreise die stets notwendige eigene Erwägung des zur Entscheidung Berufenen über die sachliche Angemessenheit seiner Rechtsansicht nicht beeinträchtigen, Verallgemeinerungs- und Integrationsfähigkeit Wenn der Jurist die Ergiebigkeit eines bestimmten transpositiven Entscheidungsbehelfs prüft, w i r d er regelmäßig i n erster Linie an den Beistand denken, den dieser i h m für die Bearbeitung der gerade vorliegenden Rechtssache leisten kann. Er sucht unter seiner Assistenz 13 „Rechtsfindung u n d Rechtsfortbildung i m Spiegel richterlicher r u n g " (1975) S. 88.
Erfah-
2. A u s w a h l u n d Prüfung vorpositiver Gesichtspunkte
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nach einer Lösung, die i m gegebenen Fall eine sachgemäße Entscheidung ermöglicht. Aber als wirklich stichhaltig kann der Gesichtspunkt nur angesehen werden, wenn sich seine Funktionsfähigkeit auch i m größeren Rahmen erweisen läßt. Dies hängt mit dem Erfordernis der Gleichbehandlung gleichliegender Sachverhalte zusammen, das bei uns und i n fast allen anderen Rechtsordnungen die oberste Richtschnur der rechtlichen Erwägung darstellt. Die Funktionsfähigkeit des zu erprobenden Bezugspunktes muß sich danach auch i n anderen entsprechend gelagerten Fallsituationen zeigen. Dem Rechtsanwender obliegt daher zu ermitteln, ob er dort ebenfalls zufriedenstellend arbeitet oder etwa i n irgendeiner Hinsicht enttäuscht. Es muß die Erwartung gerechtfertigt sein, daß das ins Auge gefaßte normative Element sich anderweit ebenfalls bewährt. Der Bearbeiter hat daher nicht allein die Verwendbarkeit des fraglichen Maßstabs i n der i h m vorliegenden Rechtssache zu beurteilen, sondern t r i f f t damit zugleich eine Vorentscheidung für alle als gleichliegend anzusehenden Rechtsfindungslagen. Er ist deshalb darauf angewiesen, sich die Sachverhalte möglichst vollständig zu vergegenwärtigen, i n denen das zu erprobende Bestimmungsmoment sonst noch zum Zuge kommen würde, und zu registrieren, wie es dort seine Ordnungsaufgabe erfüllt. Falls sich dabei negative Befunde ergeben, bedarf es der Klärung, ob sie durch eine modifizierte Fassung des Orientierungsbehelfs so weit behoben werden können, daß dieser zu einem brauchbaren Instrument der Rechtsfindung wird. Bei der i n diesem erweiterten Rahmen vorzunehmenden Erprobung muß von der kasuistischen Einzelarbeit zu einer allgemeineren Betrachtungsweise übergegangen werden. Man bemüht sich dabei,, ein Ordnungselement zu entdecken, das nicht nur i m gegebenen Fall, sondern auch anderweit zu befriedigenden Ergebnissen führt. Oftmals macht die Auffindung eines Gesichtspunktes, der das Detail auf höherer Ebene angemessen zusammenfaßt, Schwierigkeiten. Häufig sind der Kasuistik zwar andeutende Hinweise zu entnehmen; aber sie vermögen der bestehenden Unsicherheit nicht endgültig abzuhelfen. Der schöpferische A k t , der die Einzelumstände auf einen Nenner bringt und sie einer einheitlichen Grundregel unterstellt, w i l l nicht gelingen. Das braucht nicht immer auf der Unbehilflichkeit oder ideologischen Eingeengtheit des Rechtsanwenders zu beruhen. Vielmehr können dabei die verschiedenartigsten Ursachen zugrunde liegen; so etwa der U m stand, daß die herkömmlichen Anschauungen i n der Umbildung begriffen sind und der auf einen gewissen Einklang m i t der allgemeinen A u f fassungsweise angewiesene Bearbeiter i n seiner juristischen Stellungnahme — ohne daß i h m daraus irgendein V o r w u r f gemacht werden
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3. Teil: Umgang m i t nichtpositivierten Entscheidungsgrundlagen
kann — dieses Zwischenstadium und die mit i h m zusammenhängende Unfertigkeit widerspiegelt. Falls der übergreifende Gesichtspunkt sich nicht fassen läßt, kann dies auch damit zusammenhängen, daß für den Rechtsanwender die jeweils i m Fall enthaltene Vielzahl individueller Momente noch zu sehr i m Vordergrund steht. Er kommt seinem Ziel dann erst näher, wenn er den universalen Aspekt stärker beachtet und sich, unbeeindruckt durch die Ungunst der Umstände, nachhaltig um eine Betrachtung auf höherer Ebene bemüht. Vielfach kann ferner dadurch Abhilfe geschaffen werden, daß der Bearbeiter das von i h m bisher in Betracht gezogene Fallmaterial vervollständigt. Häufig läßt sich der zutreffende allgemeine Gesichtspunkt erst ermitteln, wenn eine größere Zahl einschlägiger Sachlagen zur Verfügung steht, die der Rechtsanwender sich auf Grund seiner praktischen Erfahrung oder mittels der kognitiven Phantasie bewußt machen muß. Zuweilen sind ganze Fallreihen nötig, u m dem maßgebenden Grundprinzip auf die Spur zu kommen. Unter ungünstigen Umständen können Jahre oder auch Jahrzehnte vergehen, ehe die Verallgemeinerung als endgültig gelungen anzusehen ist. Manchmal kommen die hierauf gerichteten Anstrengungen überhaupt nicht zu einem Abschluß. Doch bringt die Rechtsprechung es dann meist wenigstens zu einer gewissen Regelhaftigkeit, die immerhin einen Fortschritt darstellt, obwohl das erstrebte Ziel nicht erreicht ist. Zum mindesten werden dadurch die fortzusetzenden Bemühungen u m eine Erfassung des der Judikatur zugrunde liegenden Leitgedankens erleichtert. Solange es an der Erkenntnis des universalen Bezugspunktes fehlt, bleibt dem Rechtsanwender keine andere Wahl, als die Entscheidung von Fall zu Fall zu treffen. Man darf jedoch nicht annehmen, daß der Bearbeiter, wo er den umfassenden Zusammenhang nicht näher bezeichnen kann, bar jedes Bezuges auf ein übergeordnetes Prinzip entscheiden und m i t h i n gänzlich i m Dezisionismus stecken bleiben müßte. I n der Regel w i r d er vielmehr auch i n solchen Lagen von einem umfassenderen Gesichtspunkt gelenkt, der ihm, obwohl er ihn noch nicht zu fixieren vermag, oftmals deutlich vorschwebt. Nur so ist es zu erklären, daß die Gerichte mitunter, ohne sich völlig klar darüber zu sein, worum es eigentlich geht, i n ihrer Rechtsprechung zu bestimmten Fragen gleichwohl eine einheitliche Linie einhalten und so mit der Zeit einen gedanklichen Zusammenhang schaffen können, der sich letzten Endes als sachentsprechend und lebenstüchtig erweist. Die Tatsache, daß hier ein bereits vorhandenes, aber noch nicht v o l l bewußt gewordenes Regelungsprinzip angewandt wird, macht zugleich
2. A u s w a h l u n d Prüfung vorpositiver Gesichtspunkte
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verständlich, weshalb die kasuistische Arbeitsweise, obwohl sie i n neuerer Zeit auf manchen Gebieten stark zugenommen hat, i n der Bevölkerung aufs Ganze gesehen nicht den Eindruck willkürlicher Rechtshandhabung aufkommen läßt. Man w i r d dies wohl zum Teil darauf zurückführen können, daß bei Urteilen, die bezüglich des von ihnen verwendeten Gesichtspunkts nicht zu voller prinzipieller Klarheit durchgedrungen sind, auch der außenstehende Betrachter oftmals i m stande ist, die nur unvollkommen bezeichnete gedankliche Grundlage intuitiv zu erfassen und ihr zuzustimmen, soweit sie sich i m Rahmen des allgemeinen Rechtsbewußtseins hält. Dessen ungeachtet stellt jedoch — darüber kann kein Zweifel bestehen — die lediglich fallweise Äußerung zu bestimmten Rechtsfragen alles andere als einen Idealzustand dar. Sie führt unter Umständen dahin, daß sich der Bearbeiter bei dieser A r t der Sacherledigung schnell beruhigt und die Besinnung auf das Grundsätzliche über Gebühr hintanstellt. Sie birgt die Gefahr i n sich, daß unreflektierte Tendenzen zum Schaden für die Rechtshandhabung i n die juristischen Erwägungen eindringen. Je mehr es dem Rechtsanwender an der erforderlichen prinzipiellen Klarheit fehlt, desto mehr muß m i t dem Nachlassen seiner Treffsicherheit gerechnet werden. Zudem w i r d die zwingende K r a f t der Entscheidung gegenüber denjenigen geschwächt, die von abweichenden Grundüberzeugungen ausgehen und möglicherweise nicht gewillt sind, die Argumentationsbasis des Fallbearbeiters unvoreingenommen zu würdigen. Auch die Aussicht, die noch Unschlüssigen zu gewinnen, w i r d beeinträchtigt, wenn der Rechtsanwender den von i h m verwandten übergeordneten Bezugspunkt nicht deutlich anzugeben vermag. Das alles rechtfertigt die Warnungen, die vor allem von Seiten der Rechtstheorie vor der Zunahme kasuistischer Tendenzen i n der Judikatur laut geworden sind. Der Wille des Bearbeiters, den zugrunde gelegten vorpositiven Orientierungsfaktor i n gleichliegenden Fällen ebenfalls anzuwenden, genügt allein nicht. Es muß bezweifelt werden, daß der bloße Wille imstande ist, ihn vor einem Abgleiten i n I r r t u m und W i l l k ü r zu bewahren. Selbsttäuschungen aller A r t können ihn leicht zu Fehlhandlungen verleiten. Mitunter w i r d i h m ein etwaiger Verstoß gegen die Gleichbehandlungspflicht nicht einmal zum Bewußtsein kommen. Wo er diesen jedoch erkennt, vermag er zu seiner Deckung meist auch vermeintliche Rechtfertigungen aufzufinden, mit denen selbst der regelrechte Mißbrauch verbrämt und beschönigt werden kann. Die Zurückführung der außergesetzlichen Entscheidungsgrundlagen auf einen umfassenden Gesichtspunkt ist infolgedessen so unerläßlich, daß i n dieser Hinsicht nachhaltige Anstrengungen stets gerechtfertigt erscheinen. Sie erweist sich nicht nur bei der Auseinandersetzung der
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3. Teil: Umgang m i t nichtpositivierten Entscheidungsgrundlagen
hohen Gerichtshöfe mit komplizierten Rechtsproblemen als notwendig, sondern auch i n der täglichen Massenarbeit der Instanzgerichte, obwohl man sie dort noch am ehesten glaubt entbehren zu können. Wo sich trotz aller Bemühungen eine Generalisierung des vorpositiven Maßstabs zunächst nicht erreichen läßt, kommt es darauf an, daß der Rechtsanwender wenigstens die Ansatzpunkte für eine solche aufsucht und diese i n den Urteilsgründen aufweist. Die Fähigkeit dazu bedarf, weil lange Zeit ein zwingender Grund zu solchen Klarstellungen nicht vorhanden zu sein schien, oft noch der gehörigen Ausbildung. Teilweise fehlt es auch an dem für Darlegungen dieser A r t erforderlichen Vokabular. Doch würde sich das alles bei zielgerechtem Vorgehen vermutlich sehr bald zum Besseren wenden lassen. Ein anderer Aspekt, unter dem der Rechtsanwender die vorpositiven Materialien zu prüfen hat, ergibt sich daraus, daß sie mit dem vorhandenen Bestand an juristischen Vorstellungen i n Übereinstimmung gebracht werden müssen, wenn sie innerhalb der Jurisprudenz mit Nutzen verwendbar sein sollen. Daß gedankliche Elemente, die von außen her i n die rechtliche A r gumentation übernommen werden, m i t dem Gesetz vereinbar sein müssen, versteht sich von selbst. Es ist aber darüber hinaus erforderlich, daß sie sich auch i n die viel umfassendere Masse der jeweils gültigen juristischen Anschauungen und Grundsätze eingliedern lassen. Der neu hinzukommende Bezugspunkt ist mit dem von der Rechtslehre und der Rechtsprechung erarbeiteten Fond an Grundregeln und den in ihm enthaltenen außergesetzlichen Bestandteilen i n Einklang zu bringen. Der Rechtsanwender hat m i t h i n die von i h m zur Rechtsgewinnung herangezogenen externen Maßstäbe nicht nur auf ihre sachliche Eignung zu prüfen, sondern von Anfang an auch die Möglichkeiten für ihre Eingliederung i n die juristische Denkwelt zu erwägen. Mitunter ist der vom Rechtssystem und seinen Verteidigern geleistete Widerstand gegen das Eindringen von systemfremden Richtigkeitskriterien so beträchtlich, daß die Hauptschwierigkeit, mit der der Bearbeiter zu kämpfen hat, gerade i n der Feststellung besteht, ob sich dessen ungeachtet die Aufnahme des bisher für irrelevant gehaltenen Gesichtspunkts i n die juristische Argumentation verantworten läßt. Manchmal können, wenn das Rechtsgefüge sich gegen die Aufnahme eines von außerhalb stammenden gedanklichen Elements sperrt, die Hindernisse dadurch behoben werden, daß dieses entsprechend zugerichtet wird. Es kommt dann darauf an, ob die Anpassung sich so vornehmen läßt, daß der neue Orientierungspunkt die ordnende Kraft, um derentwillen seine Heranziehung erwogen worden ist, behält. Wenn das nicht erreichbar ist, bleibt noch zu erwägen, inwieweit etwa die zur
2. A u s w a h l u n d Prüfung vorpositiver Gesichtspunkte
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Zeit maßgebenden juristischen Grundlagen i n Einzelheiten modifiziert werden können m i t dem Ziel, auf diese Weise die Integration zu ermöglichen. Vielfach sind dazu nur kleinere Begradigungen erforderlich, die ohne weiteres i n Kauf genommen werden können. Bisweilen erscheinen die auf diese Weise am Rechtssystem vorzunehmenden Korrekturen geradezu als eine längst fällige Angleichung der herrschenden Lehre an die veränderten Verhältnisse und werden dann ohne nennenswerte Gegenwehr hingenommen. I n anderen Fällen w i r d jedoch manchmal unter Berufung auf gewichtige sachliche Gründe erbitterter Widerstand geleistet, so daß sich für den Rechtsanwender die Frage stellt, ob nicht m i t Rücksicht auf diese Argumente von einer Verwendung des praepositiven Richtmittels Abstand zu nehmen ist. Nicht selten geht der Bearbeiter beide Wege zugleich, indem er einerseits das zu integrierende Element zurechtstutzt und andererseits die i n K r a f t befindlichen Rechtsgrundsätze entsprechend berichtigt. Auch bei der Lehre von der culpa i n contrahendo mußte, u m bei diesem Beispiel zu bleiben, von beiden Möglichkeiten Gebrauch gemacht werden, wie die Arbeit Jherings zur Entfaltung dieses Rechtsinstituts zeigt. Der Rechtsanwender braucht i m allgemeinen zu tunlichster Rücksicht auf das etablierte Rechtsgefüge nicht besonders ermahnt zu werden. Er geht meist ohne weiteres von der Annahme aus, daß für eine tüchtige Rechtsübung ein gefestigter Zusammenhang von Basislehren nötig sei und richtet seine Bemühungen ganz von selbst darauf, die außergesetzlichen Bauelemente unter möglichster Schonung des bestehenden Denkgebäudes i n die Jurisprudenz einzuschleusen. Er sucht, schon u m Widerstände gegen die von i h m für richtig gehaltene Lösung zu vermeiden, die Einordnung so vorzunehmen, daß der bisher maßgeblich gewesene Denkzusammenhang nicht ohne Notwendigkeit verunsichert wird. Freilich hängt der Grad der Rücksichtnahme auf das Bestehende auch davon ab, wie dringend auf Grund der herrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen die Beteiligung des fraglichen vorpositiven Orientierungspunktes an der Rechtsgewinnung erscheint. Je nachhaltiger dieser sich geltend macht, desto mehr w i r d der Bearbeiter sich zu seiner Verwendung als befugt ansehen. Nicht selten beruhen Widerstände gegen die Anerkennung einer außerjuristischen Regelungsidee darauf, daß sich i n i h r auf Grund einer veränderten Gesamtlage neue, bisher ungewohnte Auffassungen bahnbrechen. Es war bereits darauf hingewiesen worden, daß i n der durch Jhering entwickelten Lehre von der culpa i n contrahendo gewandelte Anschauungen darüber zum Ausdruck kamen, was rechtens
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3. Teil: Umgang m i t nichtpositivierten Entscheidungsgrundlagen
ist, wenn gelegentlich von Vertragsverhandlungen dem einen Partner dadurch ein Schaden entsteht, daß der Vertrag infolge von zurechenbarem Verhalten des anderen Teils nicht perfekt wird. I n Fällen solcher A r t bedarf es dann regelmäßig einer genaueren Erwägung, w o r i n die Veränderung der Gesamtsituation besteht, die bezüglich des fraglichen Punkts einen Wandel der Richtigkeitsanschauungen hervorgerufen haben könnte und ob sie als so grundlegend anzusehen ist, wie es zunächst den Anschein hatte. Ferner ist zu klären, inwieweit die Umgestaltung der Gesamtlage innerhalb der Rechtsgemeinschaft als wesentlich empfunden w i r d ; ob sie — was sich keineswegs von selbst versteht — zugleich eine Umformung der Gerechtigkeitsvorstellungen zur Folge gehabt hat, die sich auf die vorliegende Rechtssache auswirkt oder ob Auffassungstendenzen i n Frage stehen, die zu keiner Änderung des allgemeinen Rechtsbewußtseins geführt haben. Jhering hat, als er über die culpa i n contrahendo nachdachte, solche Betrachtungen wahrscheinlich nicht bewußt angestellt, sondern m i t seinem ungewöhnlichen Spürsinn für i m Gang befindliche Veränderungen i n t u i t i v das Richtige getroffen und die rationale Überprüfung der so gewonnenen Erkenntnis entsprechend dem damaligen Entwicklungsstadium der Jurisprudenz an Hand des römischrechtlichen Quellenmaterials vorgenommen. Vom heutigen Juristen w i r d dagegen erwartet, daß er der Frage bewußt nachgeht, warum der neu eingeführte vorpositive Bezugspunkt, der bisher trotz gründlichster Erörterung des Für und Wider als unerheblich angesehen worden war, nunmehr wesentlich erscheint. Die Leichtigkeit, mit der die Integrierung i n das juristische Denken gelingt bzw. die Schwierigkeiten, die sich dabei ergeben, hängen u. a. auch von der mehr oder weniger großen Elastizität des Gesamtgefüges ab, i n das die Eingliederung erfolgen soll. Rechtsordnungen, die sich durch eine große Anpassungsfähigkeit auszeichnen, stehen der A u f nahme disparater Bestandteile naturgemäß weniger abweisend gegenüber als solche von statischem Aufbau. Doch spricht oft auch das spezielle Anliegen mit, u m das es sich handelt. Nicht selten erweisen sich selbst vorwiegend statisch konstruierte Rechtssysteme in mancher Hinsicht auf ihre A r t als überraschend flexibel, während Rechtsordnungen, die als ausgesprochen dynamisch angesehen zu werden pflegen, sich gegen vorpositive Elemente gewisser A r t zuweilen rigoros absperren. I m letzteren Fall beruht die konsequent ablehnende Haltung nicht selten auf bestimmten, das ganze Leben beherrschenden A n schauungen, die aller grundsätzlichen Dynamik zum Trotz eine starke lenkende K r a f t entfalten.
3. H i l f s m i t t e l zur Handhabung außergesetzlicher Bestimmungsmomente 127
Wichtig ist auch, was keiner näheren Erläuterung bedürfen wird, die mehr oder weniger große Überzeugungskraft, die dem neuen Bestimmungsmoment innewohnt und die Nachdrücklichkeit bzw. das Ungestüm, mit dem es sich geltend macht. M i t hartem Widerstand gegen den Integrationsversuch ist zu rechnen, wenn das der gesellschaftlichen Praxis entstammende Regelungsprinzip m i t den herrschenden juristischen Auffassungen so wenig i n Einklang steht, daß seine Rezeption eine grundlegende Änderung der bisherigen Denkweise voraussetzen würde und die große Mehrheit der Beurteiler dieser ablehnend gegenübersteht. Die Schwierigkeiten der Eingliederung wachsen noch weiter, wenn zu befürchten ist, daß durch die Aufnahme des neuen Richtmittels i n die juristische Argumentation der bisherige Vorstellungszusammenhang seine Festigkeit verlieren und der ganze Bau aus den Fugen geraten könnte. Es bedarf dann jeweils der Prüfung, ob die Bestandsfestigkeit des Rechtssystems i m ganzen oder doch die Stabilität wichtiger Teilbereiche ernstlich i n Frage gestellt ist, was trotz des i n diese Richtung gehenden ersten Eindrucks möglicherweise zu verneinen ist. Oft scheiden sich gerade bei dieser konkreten Erwägung die Geister. Mancher hält eine akute Gefährdung des Gesamtbaus bereits bei A u f nahme von gedanklichen Elementen für gegeben, die sich auf Grund oberflächlicher Betrachtung unbedeutend ausnehmen. Er meint (vielleicht mit Recht, vielleicht aber auch mit Unrecht), daß einer jener Fälle vorliege, die einen energischen Widerstand bereits i n den Anfängen erfordern, weil sonst jede Gegenwehr zu spät kommt. Andere dagegen sind unter Umständen der Meinung, daß die Festigkeit des Grundgerüstes selbst durch umfassende Eingriffe bestimmter A r t nicht tangiert werde, wenn dabei m i t Umsicht und taktischem Geschick vorgegangen wird. Der Rechtsanwender ist bei Stellungnahmen dieser A r t heute noch vorwiegend auf sich allein angewiesen. Er muß dann jeweils versuchen, sich ungeachtet seiner grundsätzlichen Sympathie für eine vorwiegend beharrende oder eine mehr fortschrittliche Haltung i n erster Linie an sachlichen Erwägungen zu orientieren. 3. Hilfsmittel zur korrekten Handhabung außergesetzlicher Bestimmungsmomente a) Selbstkritische
Haltung
des Rechtsanwenders
Bisher ist bei der Behandlung des Themas davon ausgegangen worden, daß die dem Juristen aus der gesellschaftlichen Region zukommenden Materialien aus dieser geradewegs i n das Rechtsdenken eindringen.
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3. Teil: Umgang m i t nichtpositivierten Entscheidungsgrundlagen
Sieht man jedoch genauer zu, so ergibt sich, daß ein Teil dieser Werkstoffe sich der juristischen Sphäre von einer anderen Seite her nähert. Viele vorpositive Bauelemente haben sich nämlich infolge der interessierten Teilnahme des Juristen an der Zeitentwicklung i n seiner Denkwelt bereits von langer Hand festgesetzt und streben von dort her, also aus einer weit günstigeren Position, nach Einfluß auf die Rechtsgewinnung. Teilweise handelt es sich dabei u m Wertanschauungen, teilweise jedoch auch u m Auffassungen tatsächlicher A r t , die der Bearbeiter für vorkommende Fälle bereit hält. Solche außerjuristischen Vorstellungen und Anknüpfungspunkte, die er i n gewisser Weise bereits akzeptiert hat, können fragwürdig sein. Der Rechtsanwender ist daher genötigt, sie auf ihre Brauchbarkeit zu testen. I h m obliegt nicht nur, die von außen her an ihn herankommenden vorpositiven Bestände zu prüfen und ihnen gegebenenfalls den Zugang zur juristischen Sphäre zu versperren. Vielmehr ist er auch gehalten, die vorrechtlichen Erwägungsgrundlagen, die bereits i n seinem Inneren Fuß gefaßt haben, auf ihre Stichhaltigkeit zu untersuchen. Durch die mehr oder weniger enge Beziehung, die er zu ihnen besitzt, erhält die Erprobung ihr spezielles Gepräge. Der Jurist w i r d auf diese Weise veranlaßt, i n gewissem Umfang auch seine Innenwelt einer skeptischen Betrachtung zu unterwerfen. Dementsprechend kann sich die Rechtstheorie, wenn sie ihrer Gegenwartsaufgabe gerecht werden w i l l , heute nicht mehr auf die Erforschung der sachlichen Gegebenheiten beschränken, sondern muß daneben den Faktor Mensch (das heißt hier: den Fallbearbeiter) und seinen Einfluß auf die Rechtsgewinnung m i t berücksichtigen. Sie ist darauf angewiesen, den inneren Zusammenhang zwischen den zu lösenden Rechtsfindungsproblemen und den bei ihrer Bewältigung mitsprechenden personellen Einflüssen ins Auge zu fassen. Der zur Entscheidung berufene Jurist stellt nun einmal das keineswegs neutrale Medium dar, durch welches rechtliche Weisungen aller A r t hindurchgehen müssen, ehe sie die konkrete Situation erreichen, an der sie sich bewähren sollen. Die Lehre von den personenbedingten Unzulänglichkeiten der vom Rechtsanwender i m gesetzlichen Freiraum zu leistenden Arbeit gehört daher mit zu dem hier behandelten Thema; desgleichen die Frage, welche M i t t e l etwa für die Vermeidung solcher Mängel zur Verfügung stehen 14 . I n der selbstkritischen Grundhaltung des Juristen liegt eine der wichtigsten Chancen zur Ausschaltung von inneren Unzulänglichkeiten, die 14 Wiethölter (1969) S. 7: Es geht u m ein zutreffendes B i l d dessen, was der Jurist denkt u n d f ü h l t ; „es geht u m seine Urteils- u n d Vorurteilsbildung, seine Ideologien u n d Utopien".
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sich bei der Handhabung vorrechtlicher Bestimmungsmomente geltend machen können. Sie befähigt den einzelnen, seine schwachen Seiten zu erkennen und zu bekämpfen. Der Rechtsanwender vermag sich durch strenge Prüfung der aus eigenen Beständen entnommenen vorjuristischen Orientierungshilfen gegen den Einfluß von persönlichen Bedingtheiten zu wehren, die m i t dem Rechtsgedanken nicht i n Einklang stehen. Auf diese Weise kann er sich weitgehend gegen die Blendwirkung schützen, die von externen gedanklichen Elementen oftmals ausgeht. Mitunter gelingt es i h m sogar, vorpositive Maßstäbe, die i n seinem Inneren bereits fest verwurzelt sind, aus dem Bereich des Unantastbaren herauszuheben, so daß der Weg für eine allmähliche Distanzierung von bestimmten Einstellungen, die die Rechtsfindungsarbeit fortgesetzt ungünstig beeinflussen, frei wird. M i t tüchtigen Ergebnissen ist freilich nur zu rechnen, wenn der Jurist dort, wo er bisher m i t transpositiven Materialien ziemlich sorglos zu arbeiten gewohnt war, zu einer genaueren Ermittlung der eigenen Vorwegnahmen fortschreitet und wenn er es über sich gewinnt, m i t dieser nicht aufzuhören, sobald sein Selbstgefühl betroffen wird. Eine gerade durchgehende Erprobung der Ausgangsmaterialien ist überhaupt nur realisierbar, wenn der Rechtsanwender es nicht von vornherein darauf anlegt, daß durch seine Sondierung der bei i h m bereits vorhandene Standpunkt bestätigt wird. Das ist eine Forderung, deren Erfüllung dem einzelnen mitunter sehr schwer fällt. Meist w i r d es i h m viel leichter, seine kritischen Fähigkeiten zur Bloßstellung fremder Fehler einzusetzen als zur Aufdeckung der eigenen Unzulänglichkeiten. Gewiß ist bei unseren Juristen eine zunehmende Aufmerksamkeit auf die zu den verschiedenen Positionen gehörigen weltanschaulichen Hintergründe zu bemerken. Man w i r d dies als Folge der ideologiekritischen Auseinandersetzungen anzusehen haben, die auf die Jurisprudenz nicht ohne Einfluß geblieben sind. Die Notwendigkeit einer streng prüfenden Betrachtungsweise mit Bezug auf die eigenen Denkvoraussetzungen w i r d i m juristischen Schrifttum demgemäß vielfach anerkannt 1 5 . Doch genügt das bei weitem nicht, wenn der Jurist sich den heute an ihn herantretenden Aufgaben gewachsen zeigen soll. Es bedarf vielmehr seiner engagierten Beteiligung. Diese kann, wie die Umstände liegen, nur durch eine unermüdliche Aufklärungsarbeit erreicht werden, die darauf abzielt, dem Gros der zur Rechtsfindung Berufenen die Notwendigkeit einer wirksamen Selbstkritik nahezubringen und sie für eine verständnisvolle M i t w i r Spezielle Hinweise finden sich i n den beiden Sammelbänden: Arth. Kaufmann (Hrsg.) „Rechtstheorie-Ansätze zu einem kritischen Rechtsverständnis" 1971 u n d G. Jahr/W. Maihof er (Hrsg.), „Rechtstheorie-Beiträge zur Grundlagendiskussion" 1971. 9 Döhring
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3. Teil: Umgang m i t nichtpositivierten Entscheidungsgrundlagen
kung zu gewinnen. Dabei muß der Widerstandsaffekt, den die Aufforderung zur Selbstüberwachung beim Rechtsanwender vielfach auslöst, zum Abklingen gebracht und versucht werden, dem einzelnen den Weg zur Überprüfung der eigenen Denkansätze zu erleichtern. Besonderer Wert ist bei alledem auf die Freiwilligkeit der vom praktizierenden Juristen zu leistenden Mitarbeit zu legen. Wenn diejenigen, die es angeht, zu sehr gedrängt und unter eine A r t Überzeugungszwang gesetzt werden, ist von vornherein alles verloren. Man würde dann das gerade Gegenteil von dem erreichen, was beabsichtigt gewesen war. Es gilt, den Normaljuristen für die vielen Handhaben zur Disziplinierung seiner geistigen Leistung zu interessieren. Die moderne Wissenschaft spricht i n Anlehnung an die Terminologie der Pädagogik sachlich zutreffend von Lernvorgängen. I n dem hier gegebenen Zusammenhang könnte man differenzierend vor allem auf die Möglichkeiten zur Stärkung der Wahrnehmungskraft, zur Steigerung der Erlebnisfähigkeit und zu einem systematischen Sensibilitätstraining hinweisen, von denen i m Rahmen solcher Selbstbildungsbemühungen Gebrauch gemacht werden kann. Solange der Rechtsanwender sich noch nicht nach außen hin festgelegt hat, die Selbstkontrolle also seine interne Angelegenheit geblieben ist, sind die Erfolgsaussichten sogar besonders günstig. Er w i r d sich i n solchen Fällen freier fühlen, als wenn er sich i n der Gerichtssitzung oder i m Hörsaal vor aller Augen m i t einem realen Gegner auseinanderzusetzen hat. Der Bearbeiter kommt dann nicht so leicht wie beim öffentlichen Disput i n die Gefahr, sich i n eine unfruchtbare Abwehrhaltung drängen zu lassen. Er hat deshalb Anlaß, diese diskrete Form der Selbstkontrolle besonders zu kultivieren. Ihre volle Wirkung können Erprobungen solcher A r t freilich erst entfalten, wenn sie nicht nur ab und an, sondern regelmäßig und planvoll betrieben werden. Die kritische Prüfung der eigenen Vorentscheidungen führt, auch wenn sie vom Juristen akkurat durchgeführt wird, i n der Regel nicht zu einer äußersten Kraftanstrengung. I n geeigneten Fällen kann jedoch mit Hilfe der Gewissensbefragung noch eine verschärfte Selbstüberwachung erreicht werden. Die Erörterung des Für und Wider w i r d dann gleichsam auf eine höhere Ebene gehoben und dort unter strengeren Bedingungen fortgesetzt. Der Test erhält auf diese Weise insofern einen umfassenderen Charakter, als er die Persönlichkeit des Rechtsanwenders i m ganzen ergreift und diesen zur Aktivierung der gesamten intellektuellen und sittlichen Kräfte zwingt, die i h m zu Gebote stehen. I n dieser übergeordneten Instanz, die an das bessere Ich des Bearbeiters appelliert, werden die i m Leben üblichen, mitunter verhältnismäßig weitherzigen Maßstäbe unter Umständen nicht mehr als aus-
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schlaggebend anerkannt. Der einzelne ist hier genötigt, seine Grundpositionen schonungsloser zu durchleuchten und sie noch entschiedener auf die Probe zu stellen, als er es bisher getan hat. Die Unbedenklichkeit, mit der man vielleicht auf der unteren Ebene den eigenen Grundannahmen vor denen Andersdenkender den Vorzug geben konnte, läßt sich vor diesem forum internum, das größere intellektuelle Redlichkeit und einen höheren Grad von Vorurteilslosigkeit verlangt, oftmals nicht mehr aufrecht erhalten. Die Gewissenserforschung drängt die persönlichen Einflüsse, denen der Rechtsanwender oft so schwer beikommen kann, unnachsichtig zurück und bringt mitunter objektive Momente zur Geltung, die sich vorher nicht hatten durchsetzen können. Wenn die Gewissensbefragung nicht nur mit halbem Herzen, sondern ernsthaft betrieben wird, zwingt sie den Bearbeiter nicht selten zur Abstandnahme von bisher uneingestandenen Sympathien oder Antipathien, deren reale M i t w i r k u n g den herrschenden Gerechtigkeitsanschauungen widerspricht. Der Beurteiler hat auf diese Weise erhöhte Chancen, zu einem Ergebnis zu kommen, das dem jeweilig Angemessenen Rechnung trägt. Die Gewissensstimme kann dem Rechtsanwender manchmal deutlicher als das schlichte Abwägen des Für und Wider die i n seinen Uberlegungen enthaltene Schwäche zum Bewußtsein bringen und i h m Hinweise auf bestimmte Denk- und Assoziationsgewohnheiten geben, die das Durchdringen zu einer akzeptablen Lösung verhindern. M i t Hilfe der Gewissenserforschung vermag der Bearbeiter zuweilen trotz der Anfälligkeit, die viele unserer Ordnungsprinzipien auszeichnet, dem Rechtsfindungsergebnis einige Bestandsfestigkeit und Uberzeugungskraft zu geben. Die Gewissenserkundung kommt als Auskunftsmittel nicht etwa nur für verinnerlichte Persönlichkeitstypen i n Betracht, sondern kann i n gleicher Weise auch dem außengeleiteten Menschen die Orientierung erleichtern. Sie erweist sich keineswegs nur i m Rahmen eines metaphysisch fundierten Weltbildes als hilfreich, sondern vermag ebensogut innerhalb säkularisierter Denksysteme wirksam zu werden. So wichtig danach die Hilfe ist, die die Gewissensschärfung i m Einzelfall gewähren kann — eine völlige Zuverlässigkeit des Rechtsfindungsergebnisses vermag sie natürlich nicht zu garantieren. Dies hängt einmal damit zusammen, daß sie meist nur dort mit Nutzen verwendbar ist, wo die rechtliche Beurteilung durch ethische Gesichtspunkte beeinflußt wird. Ihre Grenzen werden ferner daran erkennbar, daß der Jurist auf Grund der Gewissensprüfung nur verhältnismäßig selten eine fertige A n t w o r t erwarten kann. I n der Regel erhält er zwar bestimmte Hinweise, die höchst wertvoll sein können; das endgültige, für
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seinen Fall zutreffende Resultat muß er sich jedoch auf Grund dieser Hinweise selbst erarbeiten. Seine Aufgabe kompliziert sich zudem nicht unwesentlich dadurch, daß die für die Gewissensentscheidung maßgebenden Momente nicht ein für allemal feststehen, sondern unter Umständen erst durch die Gesamtentwicklung und die Zeitumstände geschaffen werden. Jeder grundlegende Wandel der allgemeinen Lage kann neue Wertauffassungen hervorbringen, die die Gewissensentscheidung mitbestimmen. Daraus folgt, daß auch auf dieser höheren Ebene unterschiedliche Meinungen denkbar sind. Die vorhandenen Ungewißheiten werden i n der Regel zwar vermindert, aber möglicherweise nicht gänzlich beseitigt. Irrtümer des Rechtsanwenders bleiben trotz der Chancen, die eine gründliche Gewissenserforschung gewährt, möglich 16 . b) Aufgeschlossenheit gegenüber abweichenden Ansichten und Weite des Horizonts Die Haltung, die der Richter (Rechtsanwender) i n der pluralistischen Gesellschaft gegenüber Auffassungen abweichender A r t einzunehmen hat, ist eine wesentlich andere als i n totalitär organisierten Gemeinschaften. Er hat trotz seiner Spezialausbildung bei der Erkenntnis dessen, was Recht ist, keine grundsätzliche Vorzugsstellung gegenüber dem nichtjuristischen Beurteiler. Besonders dort, wo er ohne festen Anhalt am positiven Recht i m gesetzesfreien Bereich arbeitet, kann er sich nicht als i m alleinigen Besitz der richtigen Auffassung befindlich ansehen. Daraus geht seine Pflicht hervor, sich gegenüber Anschauungen, die i h m unzutreffend erscheinen, weitgehend offen zu halten. Wo innerhalb der Rechtsgemeinschaft verschiedene Ansichten bestehen, stellt die Meinung des Juristen heute nur eine unter mehreren erwägenswerten Auffassungen dar. So fest er auch von der Richtigkeit seines Standpunkts überzeugt sein mag, bietet dieser grundsätzlich keine größere Richtigkeitsgewähr als der anderer Betrachter. Der Rechtsanwender hat stets damit zu rechnen, daß i n seiner Deutung Momente unbeachtet geblieben sind, ohne die eine zutreffende Beurteilung nicht zustande kommen kann. Er muß darauf gefaßt sein, daß auch der von i h m abgelehnte Gedankengang einen beachtlichen Beitrag zur Beantwortung der strittigen Frage darstellt und daß dieser der sachrichtigen Stellungnahme vielleicht sogar näher kommt als die eigene Ansicht. ιβ H. Welzel, V o m irrenden Gewissen (1949) S. 13 ff. Über die Bedeutung des Gewissens f ü r den rechtanwendenden Juristen konkret u n d daher i m gegebenen Zusammenhang besonders aufschlußreich Heusinger S. 49, 116 ff.; vgl. ferner W. Geiger (1963) S. 52 ff.; Egb. Paul i n : „ F u n k t i o n des Gewissens i m Recht" (1970); Th. Würtenberger (1962) S. 337 ff.
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Es wäre nicht zu rechtfertigen, wenn der Jurist die i h m naheliegende Meinung auf Grund der subjektiven Evidenz, die sie für ihn besitzt, von vornherein als feststehend annehmen wollte. Er ist vielmehr zu näherem Eingehen auch auf Denkweisen genötigt, denen er nichts abgewinnen kann. Es w i r d erwartet, daß er (statt sich der abweichenden Auffassung gegenüber abzusperren) zu ihr eine echte Beziehung herstellt und sich ihr — sei es auch nur für kurze Zeit — erlebnismäßig nähert, u m sie auf sich wirken zu lassen 17 . Er muß dabei fähig sein, die eigene Position bis zu einem gewissen Grade auch von den i h m nicht zusagenden Ansatzpunkten Andersdenkender zu betrachten. Ohnedem besteht jedenfalls keine Aussicht auf eine juristische Lösung, die auch Beurteiler von abweichender geistiger Struktur und andersartigen Erlebnisgrundlagen zu akzeptieren vermögen. Nur wo er sich auf einen Dialog m i t der gegnerischen Anschauung einläßt, w i r d eine wirkliche Auseinandersetzung m i t dieser möglich. Es bedarf dabei der ständigen Bereitschaft des Fallbearbeiters, sich von der zu prüfenden Gegenmeinung beeindrucken zu lassen, soweit sie sich als überlegen erweist. Häufig t r i t t dem Rechtsanwender die Gegenmeinung i n den Stellungnahmen der am Rechtsfall Beteiligten entgegen. Mitunter machen diese aber aus Unkenntnis, aus Gleichgültigkeit oder aus sonstigen Gründen von den ihnen zur Seite stehenden Argumenten keinen Gebrauch. I n anderen Fällen bedienen sie sich ihrer zwar, bringen sie aber i n einer unausgereiften Fassung vor. Der Bearbeiter ist dann genötigt, diese gegen seinen Standpunkt gerichteten Einwände, statt sie wegen Unfertigkeit kurzerhand abzutun, weiter zu denken und sie i n der vervollständigten Fassung auf ihre Stichhaltigkeit zu prüfen. I h m obliegt es, Gründe, von denen die Beteiligten keinen Gebrauch gemacht haben, selbst herauszuarbeiten und sie auf ihre Uberzeugungskraft zu untersuchen. Für den Rechtsanwender ist die Versuchung mitunter groß, die geistige Auseinandersetzung m i t der Gegenposition vorzeitig abzubrechen. Er meint unter Umständen, i n bezug auf die Widerlegung der abweichenden Stellungnahme m i t einigen obenhin angestellten Erwägungen genug getan zu haben und denkt, daß er sich i n dieser Hinsicht keine weitere Mühe zu machen brauche. Manchmal ist diese Haltung i n erster Linie aus dem Zeitdruck zu erklären, unter dem der Praktiker häufig steht. Zuweilen kommt darin aber auch noch die alte autoritäre Grundeinstellung zum Ausdruck, unter deren Einfluß er i m Gefühl seiner Überlegenheit von einer nachhaltigen Auseinandersetzung m i t der Gegenauffassung glaubt absehen zu können. π Draht
(1968) S. 125 ff., 150.
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3. Teil: Umgang m i t nichtpositivierten Entscheidungsgrundlagen
Manchmal w i r d eine aufgeschlossene Haltung des Rechtsanwenders gegenüber der abweichenden Ansicht dadurch erschwert, daß eine extreme Gegenmeinung ungewöhnlich hohe Anforderungen an seine Toleranz und seine Langmut stellt. I m allgemeinen haben unsere Juristen — wie man wohl sagen darf — während der letzten Jahre zunehmend gelernt, sich i n strittigen Fragen auch gegenüber Auffassungen einigermaßen offenzuhalten, für die sie persönlich nicht das Geringste übrig haben. Gleichwohl macht es ihnen immer wieder Mühe, sich zu einer echten Aufnahmebereitschaft durchzuringen. I n schwierigen Fällen dieser A r t ist es dann vielfach bereits anerkennenswert, wenn der Rechtsanwender einen inneren Dialog m i t der i h m nicht zusagenden Gegenansicht nicht von vornherein ablehnt, sondern sie als der Erörterung würdig ins Auge faßt und den, der sie sich zu eigen gemacht hat, als grundsätzlich gleichwertigen Diskussionspartner anerkennt. Darüber, wo die Grenze zu ziehen ist, von der ab es dem Rechtsanwender nicht mehr zugemutet werden kann, sich auf eine intensive Auseinandersetzung mit Meinungen einzulassen, zu denen er keine Beziehung zu gewinnen vermag, kann eine praktikable Auskunft nur schwer gegeben werden. Jedenfalls dürfte feststehen, daß das Eingehen auf den gegenteiligen Standpunkt vernünftigerweise nicht bis zur Selbstaufgabe getrieben werden kann. Der Bearbeiter ist vielmehr darauf angewiesen, die versuchsweise Identifikation m i t der abweichenden Auffassung so zu dosieren, daß dabei seine geistige Selbständigkeit und seine Fähigkeit zu sachgemäßer Beurteilung nicht verloren geht. Die für eine treffsichere Würdigung der Gegenmeinung notwendige Distanz muß gewahrt bleiben. Inwieweit der Verpflichtung des praktizierenden Juristen zu einer effektiven Fühlungnahme mit abweichenden Standpunkten bei der Rechtsfindung tatsächlich Rechnung getragen wird, läßt sich nichts völlig Sicheres sagen. Doch darf vermutet werden, daß i n dieser Hinsicht oftmals nicht genug geschieht. Dies kann nicht zuletzt aus manchen Urteilsbegründungen abgelesen werden, denen, obwohl die vom Gericht vertretene Auffassung keineswegs selbstverständlich erscheint, lediglich die Ablehnung der Gegenmeinung zu entnehmen ist, ohne daß auch nur der Versuch gemacht würde, sich m i t ihr wenigstens andeutungsweise abzugeben. Wohl liegt der Einwand nahe, es könnten i m Einzelfall triftige Gründe dafür vorhanden sein, daß trotz sorgfältiger Erwägung der abweichenden Ansicht i n den Urteilsgründen auf diese nicht eingegangen wird. Aber selbst wenn dieses Argument i n bestimmten Ausnahmefällen seine Berechtigung haben sollte, w i r d i n der Schweigsamkeit des Urteilsverfassers doch oftmals ein Indiz dafür zu erblicken sein, daß er es auch intern nicht zu einer ernsthaften Auseinandersetzung m i t der Gegenposition hat kommen lassen.
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Neben der Bereitschaft des Bearbeiters zum Eingehen auf abweichende Anschauungen, selbst wenn sie i h m gegen den Strich gehen, vermag es den sachgemäßen Umgang m i t vorpositiven Materialien zu erleichtern, wenn er den Blick nach der pflichtschuldigen Bemühung u m das Detail auf die größeren Zusammenhänge richtet 1 8 . Mitunter verliert er infolge der geistigen Eingeengtheit, die die abstumpfende Kleinarbeit mit sich bringt, weitgehend die Fähigkeit zu einer sachgemäßen Handhabung der i m juristischen Vorfeld zur Verfügung stehenden normativen Elemente. Möglicherweise nimmt er manche von ihnen dann gar nicht wahr oder sieht sie nicht unter dem richtigen Blickwinkel und vermag deshalb ihren wahren Wert nicht zutreffend abzuschätzen. Das ist für den zur Entscheidung Berufenen mißlich, w i r d aber meist auch von den auf Recht und Gericht Angewiesenen als höchst unbefriedigend empfunden. Der einzelne Rechtsgenosse zeigt sich unter dem Einfluß einer zunehmenden Verweltlichung des gesamten Denkens ohnehin immer weniger geneigt, einen Zwang anzuerkennen, der von Menschen gegen Menschen geübt wird. Er erwartet daher vom Richter (Rechtsanwender) als einem der wenigen Funktionsträger, die über die Anwendung von unmittelbarer Gewalt endgültig zu entscheiden haben, jene Weite des Horizonts, die für das Zustandekommen eines lebensnahen Rechtsfindungsergebnisses erforderlich ist. Der Jurist soll nach seiner Vorstellung zwar gewissenhaft und gründlich arbeiten, aber sein Urteil nicht von einer engherzigen Perspektive aus fällen. Er soll Augenmaß besitzen und imstande sein, die Erörterung des Für und Wider so weit aus der Sphäre unergiebiger Kleingeistigkeit herauszuheben, daß dem jeweils Betroffenen die Zustimmung zu der erarbeiteten juristischen Entscheidung möglich w i r d 1 9 . Besonders i n den Fällen, wo der Rechtsanwender bereits einige Zeit vergeblich nach der angemessenen Lösung gesucht hat, h i l f t es ihm, wenn er, sich von der Erwägung der Einzelheiten abwendend, den Blick wieder auf das Ganze richtet, u m sich seinem Ziel auf Grund einer umfassenderen Betrachtungsweise zu nähern. Manche Fehlbeurteilungen können überhaupt nur i n einem eingeschränkten, gleichsam provinziellen Rahmen entstehen und lassen sich schnell beheben, sobald die Überlegungen des Bearbeiters eine größere Weite gewinnen. Gerade dort, wo m i t den üblichen Handhaben nicht vorwärts zu kommen ist, wo die gängigen Hilfsmittel i m Stich lassen und der Jurist einigermaßen ratlos nach einem Ausweg aus dem Dilemma sucht, w i r k t die Hinwendung der Aufmerksamkeit auf die größeren Zusammenhänge 18 Zweigert fordert von dem zur Entscheidung Verpflichteten m i t Recht eine „maximale Offenheit des Geistes" u n d ein Sicherheben über „alles Kleinkarierte" (1967) S. 721. i® Rieh. Deinhardt, Erfahrungen (1909) Ziffer 7.
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oftmals befreiend. Es war deshalb kein Zufall, daß Oliver Wendell Holmes, als er bei der Fünfzig] ahrfeier der Harvard-Absolventen (1911) die Eigenschaften eines tüchtigen Juristen umschrieb, den weiten Horizont des Rechtsanwenders an erster Stelle nannte. I m einzelnen forderte er i n dieser denkwürdigen Rede, daß der Jurist den Blick so weit wie möglich erstrecken solle, daß er hinter jeder Einzelheit die großen Kräfte aufspüren und i m übrigen darauf bedacht sein müsse, ein so gediegenes Stück Arbeit zu leisten, wie es i h m nur irgend möglich ist, und zwar ohne viel Aufhebens davon zu machen. c) Beschaffung verläßlicher Tatsachenkenntnisse und Erfahrungsergebnisse Obwohl das Recht eine normative Ordnung darstellt und die rechtlichen Überlegungen infolgedessen zum großen Teil auf anderer Ebene liegen als die Erwägung der faktischen Gegebenheiten, ist für den Juristen ein solides Tatsachenwissen unentbehrlich 20 . Davon kann trotz der noch nicht abgeschlossenen wissenschaftstheoretischen Diskussion über den Gegensatz zwischen der Sollens- und der Seinssphäre ausgegangen werden. Freilich vermögen die tatsächlichen Verhältnisse den zutreffenden rechtlichen Beurteilungsmaßstab nicht selbst zu liefern; dieser muß vielmehr anderweit klargestellt werden. Gleichwohl darf der Rechtsanwender es als feststehend ansehen, daß vor allem der i m gesetzesfreien Raum von i h m zu ermittelnde normative Gesichtspunkt ohne hinlängliche Kenntnis der Wirklichkeit nicht sicher erfaßt werden kann. Es besteht für i h n nur geringe Aussicht, insoweit das Richtige zu treffen, solange er nicht weiß, wie die Verhältnisse beschaffen sind, die juristisch geregelt werden sollen. Die früher vielfach herrschend gewesene Ansicht, daß die genauere Bekanntschaft des Juristen m i t der Tatwelt für die Rechtsgewinnung keine wesentliche Bedeutung haben könne, läßt sich heute nicht mehr aufrecht erhalten. Wenn an dieser Stelle davon gesprochen wird, daß es für eine Rechtsfindung, die i m Grunde genommen den Inhalt des Gesetzes überschreitet, solider tatsächlicher Informationen bedarf, so ist dabei nicht an die Kenntnis des Sachverhalts gedacht, der dem zu entscheidenden Fall 20 Das wachsende Verständnis dafür k o m m t zunächst i n den sich mehrenden einschlägigen Spezialarbeiten zum Ausdruck; v o n diesen mögen hier Philippi, Tatsachenfeststellungen des Bundesverfassungsgerichts (1971) u n d Winter, Tatsachenurteile i m Prozeß richterlicher Rechtsetzung (1972) sowie Schünemann, Richterliche Tatsachenermittlung u n d Kritischer Rationalismus (1976) angemerkt sein; es dokumentiert sich aber auch sonst vielfach. Kubler ζ. B. stellt i n den zivilrechtlichen Entscheidungen des B G H m i t Recht eine neuerdings zunehmende Argumentation m i t faktischen Zusammenhängen fest u n d ein Arbeiten der Richter m i t „kleinen P a r t i k e l n aus dem großen Strom der vielfältig ineinander verwobenen gesellschaftlichen Abläufe" (Über die praktischen Aufgaben zeitgemäßer Privatrechtstheorie", 1975, S. 7).
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zugrunde liegt. Vielmehr richtet sich die Aufmerksamkeit auf das Wissen u m sonstige tatsächliche Gegebenheiten, die der Jurist bei seiner normativen Arbeit i m gesetzlichen Freiraum, insbesondere bei den dort von i h m vorzunehmenden Wertungen, innehaben muß. Soweit das Gesetz reicht, sind die maßgebenden Wertungen zwar bereits vom Gesetzgeber selbst vollzogen worden und dem Rechtsanwender bindend vorgeschrieben. Wo es daran jedoch fehlt, ist dieser zu selbständiger Beurteilungsarbeit genötigt und darauf angewiesen, auch die hierfür erforderlichen empirischen Unterlagen selbst zu beschaffen 21 . Zum Teil handelt es sich dabei um Tatsachenkenntnisse, die auf die Vergangenheit Bezug haben; so etwa wenn zu klären ist, woraus bestimmte, i n der Gegenwart feststellbare Wandlungen der Auffassungsweise hervorgegangen sind. Vielfach stehen aber auch Wissensbestände i n Frage, die sich auf die Jetztzeit beziehen, so ζ. B. darauf, welche Gegenwartsströmungen vorhanden sind und welche Durchschlagskraft sie besitzen. I n vielen Fällen bedarf der Bearbeiter schließlich tatsächlicher Informationen, die die Gestaltung der Zukunft betreffen; also etwa darüber, wie sich eine bestimmte, i m gesellschaftlichen Leben feststellbare Tendenz späterhin entwickeln w i r d und welche Probleme daraus hervorgehen werden. I m einzelnen haben w i r es einerseits mit Sachkenntnissen des Juristen zu tun, die sich auf seine Umwelt beziehen, und andererseits mit seinem Wissen u m tatsächliche Momente, die i h n selbst d. h. seine charakterlichen Anlagen, seine persönlichkeitsbedingten Einstellungen, seine körperliche bzw. nervenmäßige Konstitution und Ähnliches betreffen 22 · Soweit die Umwelt des Rechtsanwenders i n Betracht kommt, handelt es sich teils u m Fakten aus dem Bereich des Stofflichen, die für den gegebenen Rechtsfall von Wichtigkeit sind, teils u m geistige Gegebenheiten. Tatsachenkenntnisse über physische Objekte zeichnen sich zuweilen durch einen schlichten Aufbau aus; so wenn sie sich auf leicht wahrnehmbare äußere Konturen des Beobachtungsgegenstandes beziehen. Komplizierter werden sich die empirischen Daten meist ausnehmen, wenn es sich u m die für das Objekt gültigen naturgesetzlichen Regeln handelt sowie darum, welche Umstände geeignet sind, seine Funktionsfähigkeit zu beeinträchtigen, welche Widerstandskraft es unter bestimmten ungünstigen Umständen besitzt usw. Hierher gehört auch die Bekanntschaft m i t den Eigenarten des geographischen Bereichs, dem der zu entscheidende Fall zuzuordnen ist, insbesondere m i t den Besonderheiten des Klimas und der Bodenbeschaffenheit, mit den charakteristischen Merkmalen des ländlichen Milieus, der Großstadtatmosphäre, des Lebens i m Industriegebiet. Der 21 Kötz (1973) S. 23; Damm (1976) S. 239. 22 Dazu unten S. 150, 154 f.
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Rechtsanwender muß ferner über die allgemeine Wirtschaftslage seines Wirkungsbereichs, soweit sie für die rechtliche Erwägung bedeutsam ist, i m Bilde sein; desgl. gegebenenfalls über die politischen Verhältnisse, die sozialen Zustände und die kulturelle Situation. Damit ist bereits der Übergang zu den Informationen vollzogen, deren der Jurist hinsichtlich der mitmenschlichen Beziehungen bedarf, die durch sein Urteil berührt werden. Der Bearbeiter muß, wenn er das jeweils Angemessene nicht verfehlen w i l l , über die anthropologischen Fakten, die er in seiner Umwelt vorfindet, Bescheid wissen, soweit sie die rechtliche Beurteilung beeinflussen können; also u. a. über die normale körperliche Leistungsfähigkeit der einheimischen Bevölkerung, ihre durchschnittliche gesundheitliche Verfassung und ihre psychischen Eigentümlichkeiten, soweit sie typisch sind. Der i m gesetzlichen Freiraum agierende Rechtsanwender bedarf, wenn sein Fall dazu Anlaß gibt, genauerer Kenntnisse über die Verhaltensgewohnheiten der verschiedenen Volksschichten innerhalb der Familie, i m Umgang m i t den Nachbarn, den Arbeitskollegen, den Freunden und denen, die dem Betroffenen unbekannt sind und zu denen er nur aus besonderem Anlaß i n Beziehung tritt. W i r befinden uns hier bereits mitten i n den Wissensgebieten, die es mit geistigen Gegebenheiten zu t u n haben.. Sie interessieren i n diesem Zusammenhang freilich wiederum nur insoweit, als sie nicht zum gesetzlichen Tatbestand gehören, jedoch gleichwohl auf Grund kollektiv angenommener Gerechtigkeitsvorstellungen einige Aufmerksamkeit verdienen. Früher schien die Berücksichtigung solcher Momente — zum mindesten der Theorie nach — außerhalb des vom Juristen zu erfüllenden Rechtsfindungsauftrags zu liegen. Heute dagegen ist mitunter eine sachentsprechende juristische Lösung nur zu erreichen, wenn bestimmte sozialpsychologische Realitäten i n die Betrachtung einbezogen werden. Zuweilen gehen sie aus der Eigenart des Volkscharakters hervor; nicht selten sind sie jedoch i n allgemeinen Zeittendenzen begründet, von denen die Gegenwart geprägt w i r d und von denen auch die am Rechtsfall beteiligten Menschen beeinflußt worden sind. Der Jurist benötigt häufig auch eine spezifizierte Sachkunde über die i n den einzelnen Berufszweigen bzw. i m Kreis der Interessenten herrschende Mentalität sowie über die dort üblichen Anschauungsweisen und Verhaltensdispositionen. Er bedarf, wenn er nicht Schiffbruch leiden w i l l , wirklichkeitsgemäßer Vorstellungen über die daselbst i m Umlauf befindlichen Grundauffassungen und die insoweit etwa vorhandenen Meinungsunterschiede; über die Erwartungen, welche i n der betroffenen Personengruppe gegenüber der Justiz gehegt werden sowie darüber, welche Stoßkraft sie zur Zeit und auf längere Sicht betrachtet besitzen.
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Dabei werden zuweilen die verschiedenartigsten Gesichtspunkte wichtig. Es kann für den Juristen ζ. B. mitunter nicht ohne Belang sein, ob der Einzelmensch durch ein starkes Streben nach Sicherheit bezüglich der eigenen Existenzgrundlage bewegt w i r d oder umgekehrt durch Sympathie für eine ungedeckte, riskante Lebensführung; ob das Denken und Handeln der Menschenmassen auf ein bedürfnisloses Dasein eingestellt ist oder vorwiegend ein Lebensgenuß i m materiellen bzw. mehr vergeistigten Sinne erstrebt wird. Je nach der A r t der vorliegenden Rechtssache pflegen bald diese bald jene Momente der geistigen Atmosphäre i m Vordergrund zu stehen. Der Rechtsanwender hat sich gegebenenfalls auch Gewißheit darüber zu verschaffen, wodurch die Bevölkerungsgruppen, m i t denen er Tag für Tag zu tun hat, i m Gleichgewicht gehalten werden, was Menschen dieser A r t unberührt läßt und was sie beeindruckt, wodurch sie beunruhigt werden und was sie ermutigt bzw. entlastet. Er muß über die psychischen Engpässe, soweit sie für die i n Frage stehende Gesellschaftsgruppe typisch sind, einigermaßen unterrichtet sein; also etwa die Schwierigkeiten kennen, die entstehen, wenn der Bereich, i n den der Fall hineingehört, den Übergang von der Agrarwirtschaft zur i n dustriellen Produktion so unvermittelt vollzieht, daß weite Kreise der Bevölkerung nicht imstande sind, die dazu nötige geistige Umstellung rechtzeitig vorzunehmen. Er muß auch — u m ein Beispiel von noch universalerer Bedeutung zu erwähnen — u m die Nöte und Zwiespältigkeiten wissen, die für große Teile der Menschheit mit dem fortschreitenden Zerfall des metaphysischen Weltbildes zusammenhängen; und zwar auch dann, wenn er selbst durch Bedrängnisse dieser A r t nicht beeinträchtigt wird. Die unzulängliche Informationsdichte oder auch völlige Kenntnislosigkeit des Bearbeiters i n bestimmter Hinsicht hat ganz allgemein darin ihren Grund, daß die Sachkunde, die er von sich aus besitzt, aufs Ganze gesehen nur einen verhältnismäßig kleinen Ausschnitt dessen darstellt, was zur Bewältigung der ihm gestellten Aufgabe eigentlich nötig wäre. Die Tatsachenkenntnisse, die i h m über Gegebenheiten allgemeiner A r t aus den Angaben der Verfahrensbeteiligten zukommen, erweisen sich oft als lückenhaft bzw. inhaltlich mehr oder weniger fragwürdig. Ebenso ist das aus der persönlichen Verhandlung mit den Prozeßparteien gewonnene Wissen über deren Wesenart, Verständnishorizont, Intelligenzgrad und ähnliche Momente nicht zuletzt wegen der Kürze der Zeit, die für solche Wahrnehmungen zur Verfügung steht, vielfach unzulänglich. Es fehlt dem Rechtsanwender daher nur allzu oft i n wesentlichen Punkten an der notwendigen Unterrichtung. Er t r i f f t i n der gesetzesfreien Region fortgesetzt auf neue Ausformungen der W i r k -
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lichkeit, denen er zunächst einigermaßen hilflos gegenübersteht. Selbst bei intensiver Bemühung w i r d es i h m nicht gelingen, i n jeder Hinsicht auf dem Laufenden zu sein. Er ist vielmehr fortgesetzt gezwungen, sich über die zu klärenden Einzelpunkte tatsächlicher A r t von Fall zu Fall zu unterrichten. Es besteht hier freilich die Möglichkeit, daß sich der Bearbeiter nicht nur das Wissen über den jeweils zugrunde liegenden speziellen Sachverhalt, sondern auch die von i h m benötigten Tatsachenkenntnisse allgemeiner A r t i m prozessualen Beweisverfahren durch Vernehmung von Sachverständigen oder durch Einholung behördlicher Auskünfte beschafft. Doch ist vielfach keineswegs sicher, daß auf diese Weise ein leidlich verläßliches Tatsachenfundament für die bei der Rechtsgewinnung vorzunehmenden Beurteilungen erstellt werden kann. Zudem werden durch Beweiserhebungen dieser Art, abgesehen von dem möglicherweise nicht zu verantwortenden Zeitverlust, unter Umständen auch Kosten verursacht, die zu dem voraussichtlichen Ertrag i n keinem angemessenen Verhältnis stehen. Es muß daher jeweils erwogen werden, wie groß die Erfolgschancen einer solchen Beweisaufnahme sind und ob sich danach der entstehende Aufwand an Zeit, Kosten und Kraftanstrengung lohnt. Soweit das zu verneinen ist, bleibt dem Bearbeiter nichts anderes übrig, als die fehlenden Informationen auf formlose Weise heranzuholen. Unsere Prozeßordnungen, die noch aus dem 19. Jahrhundert stammen und infolgedessen für diese, erst i n neuerer Zeit hervorgetretenen Schwierigkeiten keine speziellen Hilfen zur Verfügung stellen, legen andererseits dem Streben des Rechtsanwenders nach informeller Herbeischaffung allgemeiner Sachkenntnisse keine Hindernisse i n den Weg, sondern lassen i h m weitgehend freie Hand 2 3 . Der Rechtsanwender ist m i t h i n befugt, das fehlende technische, psychologische, sozialwissenschaftliche, historische und sonstige Sachwissen, soweit es nicht durch Erörterung m i t den Prozeßparteien hereingebracht werden kann, durch Literaturbenutzung oder dadurch zu beschaffen, daß er sich, ohne von prozessualen Vorschriften eingeengt zu sein, m i t sachkundigen Personen bespricht. Manchmal läßt sich auch je nach den Umständen durch informelle Besichtigung von Objekten, durch experimentierende Erprobung oder dergl. die gewünschte Klarheit gewinnen. Daß der Bearbeiter die Prozeßbeteiligten, soweit es irgend angeht, an einer solchen Informationssuche zu beteiligen hat, damit sie i n der Lage sind, sich ergänzend und berichtigend einzuschalten, darüber sollte es keinen Zweifel geben. 23 So bereits Friedrich Stein, Das private Wissen des Richters (1893) S. 74 ff.; über die dabei auftretenden prozessualen u n d organisatorischen Fragen i m einzelnen Hopt (1975) S. 348 ff.
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Wenn die Gerichte, wo sie eigene Beurteilungen allgemeiner A r t vornehmen müssen, für die Heranholung der dazu benötigten tatsächlichen Unterlagen bisher meist nur wenig getan haben, so dürfte das nicht so sehr an den (angeblich) fehlenden verfahrensmäßigen Möglichkeiten als vielmehr an der herkömmlichen Vorstellung vom Wesen der Rechtsfindungstätigkeit liegen, die Informationsbeschaffungen dieser A r t nicht vorsieht, so daß der Übergang zu ihnen jedesmal eine Entschlossenheit erfordert, die von dem traditionellen Leitbild her nur selten aufzubringen ist. Immerhin sind hohe Gerichtshöfe i n grundsätzlich wichtigen Prozeßsachen, u m eine verläßliche Tatsachengrundlage für den von ihnen erwogenen normativen Gesichtspunkt zu erhalten, mitunter bereits dazu übergegangen, durch Anhörung von Berufsverbänden und wissenschaftlichen Autoritäten Erhebungen anzustellen, die dem nahekommen, was man i m englischen Sprachbereich als Hearing zu bezeichnen pflegt 24 . Freilich lassen sich auch Belege dafür beibringen, daß einzelne Gerichte eine bestimmte rechtliche Stellungnahme unter Berufung auf die ihnen fehlenden Informationsmöglichkeiten abgelehnt haben 25 . Doch muß bei Bewertung solcher Fälle bedacht werden, daß den Hauptgrund für diese ablehnende Haltung unter Umständen nicht so sehr das Fehlen von Informationen gebildet haben kann, sondern daß das Gericht dieses A r gument möglicherweise lediglich zur Vervollständigung seiner die Entscheidung tragenden sachlichen Erwägungen benutzt hat. Soweit der Rechtsanwender sich durch Studium des Schrifttums unterrichten w i l l , können i h m oftmals vor allem sozialwissenschaftliche, soziologische und politologische Werke von Nutzen sein. Fertige, ohne weiteres anwendbare Resultate w i r d er dort freilich meist nicht vorfinden. Vielmehr müssen die herbeigezogenen Forschungsergebnisse von i h m oftmals erst für seinen Fall zugerichtet bzw. umgedacht werden. Davon abgesehen bedarf es stets einer kritischen Mitarbeit des praktizierenden Juristen. Diese ist u m so notwendiger, als die von den Sozialwissenschaften i m weitesten Sinne präsentierten Thesen nicht selten innerhalb dieser Disziplinen selbst umstritten sind. Dieser Fall kann vor allem dann leicht eintreten, wenn die Resultate nicht rein empirisch gewonnen wurden, sondern Wertungen enthalten. Aber auch wo die Forschungsergebnisse der Nachbarwissenschaften bestimmten Einwendungen unterliegen, können sie dem Bearbeiter 24 E i n Beispiel dafür stellt das sog. Apothekenurteil des Bundesverfassungsgerichts (Bd. 7 S. 412 ff. der amtl. Sammlung) dar; f ü r Österreich: Mayer-Maly S. 329. 2« So B G H Z Bd. 57 S. 72 m i t Gründen, die f ü r den dort gegebenen F a l l der Geschlechtsumwandlung unmittelbar einleuchten.
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zuweilen wenigstens als Anregung zum eigenen Nachdenken dienen 26 . Sie sind, wenn sie den gegebenen Fall nicht genau treffen, unter Umständen doch geeignet, den Rechtsanwender aus der häufig vorliegenden Beengtheit der juristischen Erörterungen herauszuführen, indem sie sein Interesse für die mannigfachen Gestaltungen der Wirklichkeit stärken und Verständnis für die dort vor sich gehenden Veränderungen schaffen. Der Jurist hat daher keinen Grund, den Beistand geringschätzig zu bewerten, den die realwissenschaftlichen Disziplinen i h m zu leisten vermögen und für die Zukunft voraussichtlich i n erhöhtem Maße leisten werden. Für die Jurisprudenz, die heute mehr als früher auf einen engen Kontakt mit den Realitäten angewiesen ist, stellt die Beschaffung gediegener tatsächlicher Informationen eine Existenzfrage dar. K . D. Opp verlangt daher vom Juristen, daß er m i t den i m sozialwissenschaftlichen Bereich vorkommenden Problemmustern (Erklärungs-, Maßnahmen-, Prognoseprobleme usw.) bekannt sowie imstande sein müsse, die Lösungsstruktur für die verschiedenen Problemarten sich gegenwärtig zu halten und die jeweils bestehenden Fehlermöglichkeiten zu erfassen. Opp plädiert für eine Reform der Juristenausbildung, die auf diese Anforderungen Rücksicht n i m m t 2 7 . Innerhalb der Fachphilosophie, von der bisher noch nicht die Rede war, sind es vor allem die Vertreter des „Kritischen Rationalismus" (Karl R. Popper, H. Albert, E. Topitsch usw.), die sich i n neuerer Zeit besonders u m eine exakte, durch Wunschvorstellungen möglichst wenig beeinträchtigte Erkenntnis der Wirklichkeit bemüht haben, desgleichen die Wortführer der analytischen Rechtstheorie (Hart, Hoerster, Eike vSavigny) 28 . Der Jurist wird, soweit es i h m gelingt, zu diesen Forschungsrichtungen Fühlung zu gewinnen, ungeachtet der gegen sie möglichen Einwände von dem Ernst beeindruckt sein, mit dem dort nach der Bereitstellung eines gut gesicherten Tatsachenwissens gestrebt wird. Einer speziellen Betrachtung bedarf das Aufspüren verläßlicher Erfahrungsregeln 2*. Man kann sie zwar ebenso wie das schlichte Tat2β I m gleichen Sinn trotz mancher Vorbehalte Egon Schneider (1975) S. 268 u n d w o h l auch Röhl S. 288 f. 27 „Soziologie i m Recht" (1973) S. 224 ff. Uber gewisse Hindernisse, die der Einsicht i n die große Bedeutung verläßlicher Faktenkenntnisse für die Rechtsgewinnung teilweise noch entgegen stehen: „ I n f or mations verhalt en u n d Informationsbedarf von Juristen" B e r l i n 1974/76. 28 Vgl. ihre i m Schrifttumsverzeichnis aufgeführten Veröffentlichungen; weitere Literaturangaben enthält die gut unterrichtende Einführung von Schünemann JuS 1976 S. 560 ff. 2» Aus der nicht sehr ergiebigen L i t e r a t u r sind bemerkenswert Würtenb er g er, Z u r Phänomenologie der richterlichen Erfahrung bei der Strafzumessung (1969); Lüderssen JuS 1967 S. 444 ff.; ders., Einleitung zu „P.J.A.
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sachenmaterial mit einiger Berechtigung dem Bereich des Faktischen hinzurechnen. Doch zeichnen sie sich vor diesem dadurch aus, daß sie die zusammenfassende Auswertung zahlreicher Einzelvorgänge darstellen, aus denen der Erfahrungssatz abgeleitet wird. Die dabei vom Rechtsanwender zu erbringende geistige Leistung geht hier also über ein einfaches Wahrnehmungsurteil und die für ein solches notwendige Verarbeitung hinaus. Damit hängen gewisse Besonderheiten zusammen, die eine eingehendere Erörterung nötig machen. Das Erfahrungswissen gehört zu den außergesetzlichen Elementen, von denen der Jurist bei der Rechtsgewinnung m i t großer Selbstverständlichkeit Gebrauch zu machen pflegt. Der B e a r b e i t e r bringt auf diese Weise eine Fülle von tatsächlichen Kenntnissen i n die Rechtsfindung ein, die nebst den dazugehörigen Bewertungen bei i h m sozusagen auf Abruf bereit liegen. Viele juristische Stellungnahmen hinsichtlich gesetzlich nicht geregelter Punkte kommen unter der M i t w i r kung solcher Materialien zustande. Sofern diese, vom Rechtsanwender i n die Masse der mitsprechenden Momente eingeworfenen Erfahrungsbestände korrekt erarbeitet worden sind, können sie für die juristische Arbeit von unschätzbarem Wert sein. Einschlägige Erfahrungen nützen dem Juristen allenthalben; nicht nur bei der Beurteilungsarbeit, die i m Rahmen der Rechtsgewinnung zu leisten ist, sondern auch bei der Auswahl der prozeßleitenden Maßnahmen und beim Umgang m i t den Verfahrensbeteiligten. Der Rechtsanwender bedarf ihrer an allen Ecken und Enden. I m folgenden haben jedoch die Erfahrungsergebnisse i m Vordergrund zu stehen, die er speziell für die Ermittlung des zutreffenden rechtlichen Gesichtspunkts benötigt. So wenig Erfahrungskenntnisse bei der normativen Arbeit das letztlich entscheidende Element bilden können, sind sie doch gerade i m vorpositiven Bereich imstande, die Auffindung des maßgebenden Ordnungsprinzips zu erleichtern. Sie vermögen zwar nicht die Regelungsziele zu bestimmen, von denen der Bearbeiter beim Schweigen des Gesetzes auszugehen hat. Doch sind sie i n der Lage, der Festlegung und Realisierung von Zielvorstellungen den Weg zu ebnen. Erfahrungsergebnisse sind aber nicht nur an der normbildenden Tätigkeit des Rechtsanwenders (indirekt) beteiligt, sondern werden infolge seiner heute nicht allein durch spekulatives Denken, sondern mehr und mehr auch durch empirisches Wissen bestimmten Arbeitsweise zugleich für die Anwendung von Normen bedeutsam. Oft läßt Feuerbach u n d C. J. A. Mittermaier — Theorie der Erfahrung i n der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts" (1968); ders., Erfahrung als Rechtsquelle (1972).
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sich nur mit ihrer Hilfe jene enge Beziehung der juristischen Arbeit zur Wirklichkeit erreichen, die für das Zustandekommen einer lebensnahen Entscheidung nötig ist. Soweit die Erfahrungen des Rechtsanwenders nicht auf diesen selbst, sondern auf seine Umwelt Bezug haben, betreffen sie entweder körperliche Objekte oder geistige Phänomene. Teils handelt es sich u m die Auswertung von Vorgängen, die der Bearbeiter selbst beobachtet hat, teils u m Erfahrungsbestände, die nicht aus seinem eigenen Erleben stammen, sondern die er von dritter Seite übernommen hat. Wo Erfahrungswissen eingesetzt wird, das aus bestimmten, noch nachweisbaren Einzelwahrnehmungen des Bearbeiters hervorgegangen ist, kommt es für seine Brauchbarkeit oftmals entscheidend darauf an, wieviele bestätigende Erlebnisse für die zu benutzende Erfahrungsregel vorliegen; ob sie alle eindeutig i n die gleiche Richtung weisen oder ob etwa auch abweichende Vorgänge zu verzeichnen sind und, sofern der letztere Fall vorliegt, ob diese gegenläufigen Ausgangserlebnisse die Verwendung des i n Aussicht genommenen Erfahrungssatzes i n Frage stellen. Einfach ist die vom Rechtsanwender insoweit zu leistende Arbeit, wenn eine große Zahl eindeutig bestätigender Anwendungsfälle gegeben ist und i n der Tatsachenmasse keine gegenläufigen Tendenzen erkennbar sind. Unter Umständen kann sich der Bearbeiter jedoch auch mit einem zahlenmäßig enger begrenzten Anschauungsmaterial begnügen, wenn dieses m i t Umsicht ausgewertet und i h m keine größere Bedeutung als die nach Lage der Sache angemessene beigelegt wird. Soweit die Tatsachengrundlage unzulänglich erscheint, muß ihre Ergänzung versucht werden. Diese kann dadurch erfolgen, daß der Bearbeiter seine Erinnerung an selbsterlebte, aber nicht mehr präsente Vorfälle einschlägiger A r t wieder auffrischt; ferner dadurch, daß er m i t Hilfe der Literaturbenutzung oder auf Grund von Besprechung m i t sachkundigen Personen weitere Unterlagen herbeischafft. Von solchen Handhaben zur Vervollständigung des empirischen Wissens muß i n der Rechtspraxis oftmals Gebrauch gemacht werden. So umfängliche Erfahrungen der einzelne auch besitzen mag — seine Bekanntschaft m i t den verschiedenen Lebensgebieten erweist sich i m maßgeblichen Punkt immer wieder als ergänzungsbedürftig. Wenn die Möglichkeiten zur Vervollständigung der einschlägigen Erlebnismasse ausgeschöpft sind, können zahlenmäßig nicht zulängliche Ausgangstatsachen unter Umständen dadurch eine größere Allgemeingültigkeit erhalten, daß man sie ungeachtet der schmalen Basis, die sie zunächst gewähren, i n größere Dimensionen zu übertragen versucht.
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Eine solche „Hochrechnung", von der der Jurist wegen der Dürftigkeit der vorhandenen Unterlagen häufig Gebrauch machen muß, kann jedoch nur dann zu einem brauchbaren Ergebnis führen, wenn sie auf repräsentativem Fallmaterial aufbaut, wenn dieses dem Zuschnitt der vorliegenden Rechtssache gut angepaßt ist und der Rechtsanwender bei der von i h m vorzunehmenden denkenden Verarbeitung m i t der nötigen Umsicht und Unbefangenheit zu Werke geht. Sofern aus der Vergangenheit keine auf die gegebene Sachlage passenden Anwendungsfälle, sondern lediglich ähnliche Vorgänge bekannt sind, ist der Bearbeiter genötigt, auf Erfahrungsanalogien zurückzugreifen. Dagegen ist nichts Grundsätzliches einzuwenden, wenn gewisse Vorsichtsmaßregeln eingehalten werden. Es bedarf dann vor allem der Feststellung, welcher A r t die i m Analogiewege herangezogenen Ausgangserlebnisse sind und ob sie m i t den hier gegebenen so weitgehend übereinstimmen, daß die Verwendung der aus ihnen abgeleiteten Erfahrungsregel i m vorliegenden Fall gerechtfertigt ist. Mißgriffe können bei der Verwertung von Erfahrungen u. a. dadurch vorkommen, daß aus der Vielfalt der zur Verfügung stehenden tatsächlichen Beobachtungen nur gewisse, einseitig zusammengestellte Teile als Fundament für das Erfahrungsurteil verwandt werden. Es sind dann i n den zur Formierung der Erfahrungsregel herangezogenen Vorgängen bestimmte Momente gar nicht enthalten, so daß die Gewinnung eines brauchbaren Erfahrungssatzes mehr oder minder dem Zufall überlassen bleibt. Manchmal hat der Bearbeiter diese tendenziöse Auslese selbst vorgenommen; mitunter geht sie dagegen auf die Gewährsmänner zurück, von denen er das Erfahrungswissen übernommen hat. Soweit der Rechtsanwender eine solche schieflastige Stoffauswahl selbst vornimmt, kann dies auf seiner Unbehilflichkeit oder auf anderen äußeren Ursachen beruhen. Nicht selten liegt der Grund für sie jedoch i n bestimmten erkenntnisleitenden Uberzeugungen, die den Bearbeiter auf den Holzweg führen; oder darin, daß sich bei i h m persönlichkeitsbedingte Einstellungen nachteilig auswirken. Mitunter ist die Verarbeitung der Ausgangstatsachen auch durch fragwürdige Einflüsse des Zeitgeistes, durch ungerechtfertigte sozialpsychologische Rücksichten und ähnliche Faktoren beeinträchtigt. Der Rechtsanwender kann sich vor solchen Abirrungen dadurch schützen, daß er die von i h m auf Grund irgendwelcher Wahrnehmungen i n t u i t i v gewonnene Erfahrungsregel skeptisch betrachtet und nüchtern zu klären versucht, wieviel bzw. wiewenig sie wert ist 3 0 . Wenn sich ergibt, daß die Auswertung der Erfahrungsunterlagen durch bestimmte 30 Opp (1973) S. 52 ff. 10 Döhring
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Grundannahmen gelenkt worden ist, so braucht darin nicht unbedingt ein Manko zu liegen. Solche ideenmäßigen Einflüsse können ihre Berechtigung haben; doch müssen sie klargestellt und auf ihre Stichhaltigkeit i m gegebenen Zusammenhang untersucht werden. Der Bearbeiter w i r d sich dabei zu fragen haben, ob die von i h m herangezogenen Ausgangserlebnisse sich nicht m i t einigem Grund auch abweichend interpretieren lassen und ob nicht vielleicht ihre abweichende Auslegung sogar als sachgemäßer angesehen werden muß. Ergibt die anzustellende Prüfung, daß die verwandten Tatsachenunterlagen Mängel haben oder daß die Ableitung des Erfahrungsurteils aus ihnen bestimmte Schwächen aufweist, dann w i r d zu überlegen sein, ob sich die festgestellten Unzulänglichkeiten beseitigen lassen. Insoweit kann auf anderweitige Darlegungen des Verfassers verwiesen werden. Sie beziehen sich u. a. auch auf die Anpassung des Erfahrungswissens an die jeweilige Fallgestaltung; auf die Auseinandersetzung m i t Momenten, die den zu testenden Erfahrungssatz i n Frage stellen könnten und auf die Hindernisse, die aus einer tendenziösen Einstellung des Bearbeiters für die Gewinnung brauchbarer Erfahrungsergebnisse hervorgehen 31 . I m einzelnen bleibt bezüglich des Tatsachenfundaments noch zu bedenken: Bei der Stellungnahme zu neuartigen sozialen Phänomenen und bei der Beurteilung von gesellschaftlichen Entwicklungen ist der Kreis dessen, was der Rechtsanwender an Hand seiner allgemeinen Lebenserfahrung leidlich sicher festzustellen vermag, stark eingeengt. Je schwerer durchschaubar das moderne Leben m i t seinen vielerlei Verflechtungen wird, desto weniger ist der einzelne imstande, es m i t den i h m zu Gebote stehenden Erfahrungsunterlagen richtig zu taxieren. A l l z u leicht kann sich das, was i h m i n dieser Hinsicht richtig zu sein scheint, als irrtümlich erweisen. Gewiß w i r d der gesunde Sinn des Fallbearbeiters, zumal wenn er m i t vielfachen beruflichen Einsichten verbunden ist, ihn mitunter auch ohne spezielle Information den richtigen Weg führen. Aber bei den wenigsten ist i n dergleichen Lagen die intuitive Sicherheit so groß, daß man sich auf sie verlassen könnte. Soweit bei den juristischen Erwägungen die Gesamtsituation mit berücksichtigt werden muß, kann die angemessene Entscheidung oft nur auf Grund eines umfassenden Überblicks über die zeitwichtigen Momente wirtschaftlicher, sozialer, kultureller oder politischer A r t zustande kommen. Der Fallbearbeiter ist dabei genötigt, die i m Fluß befindliche Entwicklung i m Auge zu behalten und gegebenenfalls die bisher gültig gewesenen Rechtsgrundsätze entsprechend dem Wandel der Verhältnisse zu differenzieren. Das gilt nicht nur, wenn zu klären „Die Erforschung des Sachverhalts i m Prozeß" (1963) S. 339 - 362.
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ist, wie eine angemessene Gestaltung des Straßenverkehrs oder eine gut funktionierende Regelung gesamtwirtschaftlicher Zusammenhänge erreicht werden kann, sondern auch wenn es sich u m die Förderungswürdigkeit eines bestimmten Erwerbszweigs handelt oder zu ähnlichen über den Einzelfall hinausgehenden Fragen indirekt Stellung genommen werden muß. Wer der Meinung ist, daß solche Überlegungen — wenn überhaupt — allenfalls i m öffentlichen Recht zum Zuge kommen könnten, mag seine außerhalb dieses Bereichs liegende Rechtsfindungsarbeit einmal eine Zeitlang unbefangen analysieren. Es w i r d sich dann zeigen, wie häufig er, u m seiner Aufgabe voll gerecht werden zu können, zu Erwägungen über den größeren Zusammenhang genötigt ist, wenn diese auch oftmals nicht deutlich artikuliert werden. Es fällt insoweit auf, daß Beurteilungen dieser A r t durch den Fallbearbeiter zwar teils vom Gesetz selbst verlangt, teils darüber hinaus i m juristischen Schrifttum als unentbehrlich bezeichnet werden, daß jedoch nur verhältnismäßig selten spezifizierte Betrachtungen darüber zu finden sind, wie sie vor sich gehen sollen 32 : A u f Grund welcher Erfahrungskenntnisse kann festgestellt werden, ob sich das i n Erwägung gezogene Regelungsprinzip i n dem Bereich, i n dem es für maßgeblich erklärt werden soll, als funktionstüchtig erweisen wird, d. h. ob es voraussichtlich auf breiter Basis akzeptable Lösungen ermöglicht oder ob es i n bestimmten Fällen zu unhaltbaren Ergebnissen führt und sich deshalb — zum mindesten i n der vorliegenden Form — nicht durchhalten läßt? M i t Hilfe welcher empirischen Daten könnte der Rechtsanwender Klarheit darüber erhalten, ob es ζ. B. bei der Rechtsfindung i n Z i v i l sachen auf diese oder jene A r t gelingen wird, die betroffenen Kreise zu dem angezielten Verhalten zu veranlassen? Auf welche Erfahrungswerte kann sich der Strafrichter stützen, wenn er ergründen w i l l , wie bei gewissen Verfehlungen (Meineid, Unzucht, Demonstrationsdelikte) eine wesentlich mildere Strafzumessungspraxis als die bisher üblich gewesene auf die gesellschaftlichen Zustände und die Kriminalstatistik wirken würde? U m bei der letztgenannten, den Strafrichter bewußt oder unbewußt ständig beschäftigenden Frage zu bleiben: Der Bearbeiter könnte, wenn er sich nicht auf eigene Erfahrungen verlassen w i l l , die angesichts der vielen, bei der Beurteilung mitsprechenden Faktoren oft keine genügende Sicherheit geben, auf einschlägige Forschungsresultate der Nachbarwissenschaften zurückgreifen, soweit diese juristisch brauchbar sind. Er könnte ferner, falls dadurch noch keine hinreichende Klarheit zu 82
10»
Siehe aber die Hinweise oben S. 36/37 A n m . 29 am Schluss.
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erlangen ist, geschichtliche Belege darüber heranziehen, wie sich die Strafmilderung bei gewissen, das Gemeinschaftsleben stark belastenden Straftaten ausgewirkt hat. Dabei wäre etwa darauf hinzuweisen, daß die Abschaffung der von der Constitutio Criminalis Carolina für Zauberei, Kindestötung usw. verordneten harten Strafen sich i m 18. Jahrhundert trotz vieler düsterer Prophezeiungen schließlich durchgesetzt hat, ohne daß (bei Betrachtung i m größeren Zusammenhang) die Kriminalität wesentlich zugenommen hätte. Es wäre vielleicht auch möglich, als Beweisgrund den Umstand heranzuziehen, daß i n manchen Ländern die Todesstrafe selbst für schwerste Delikte abgeschafft worden ist, ohne daß — wie es scheint — sonderliche Nachteile für die Allgemeinheit daraus entstanden sind. So w i r d denn auch i n der Tat vielfach argumentiert. Rieh. Schmid, u m nur diesen einen Beleg anzuführen, sagt: „Es ist bekannt, was nach A b schaffung der Todesstrafe für Diebstahl i n England passiert ist. Die Zahl der Diebstähle ging zurück" 3 3 . Aber solche historischen Belege bedürfen, zumal sich mitunter auch einschlägige Gegenbeispiele anführen lassen, stets einer kritischen Betrachtung unter gebührender Rücksicht auf die zeitliche und örtliche Situation, aus der sie hervorgegangen sind. Falls die Dinge irgendwann und irgendwo unter vielleicht sehr speziellen Umständen einen bestimmten Verlauf genommen haben, läßt sich diese Erfahrung nicht ohne weiteres auch auf die gegenwärtige Lage übertragen. Vielmehr muß, wenn der Erfahrungsschluß stichhaltig sein und überzeugend wirken soll, i m einzelnen erwogen werden, inwieweit die anderswo gemachten Erfahrungen auf die Problematik anwendbar sind, der sich der Rechtsanwender hier und jetzt gegenübersieht. Demgemäß ist zu erwägen, ob das Streben nach einer liberalisierenden Sachbehandlung hinter anderen Rücksichten zurückzutreten hat, die sich allgemein oder wenigstens i m gegebenen Fall als stärker erweisen. Dabei bedarf u. a. auch der Überlegung, ob der Anreiz zur Begehung bestimmter Straftaten auf Grund der für die Bevölkerung charakteristischen Mentalität zu einer solchen Bedrohung des öffentlichen Lebens führen muß, daß Großzügigkeit, die ein bestimmtes Ausmaß überschreitet, nicht mehr zu verantworten ist. Es w i r d bisher augenscheinlich nur von wenigen erkannt, wieviel für die Rechtspflege auf eine einwandfreie Klärung dieser und ähnlicher Fragen ankommt und welche Riesenaufgabe hier der wissenschaftlichen Bearbeitung harrt. I m juristischen Schrifttum finden sich darüber jedenfalls nur selten spezifizierte Darlegungen 34 . 33 „Justiz i n der Bundesrepublik" (1967) S. 50. 34 Bemerkenswert sind i n dieser Hinsicht jedoch die Ausführungen v o n Heldrich (1974) S. 288.
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d) Aufspüren verborgener
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Erwägungsgrundlagen
Der Jurist ist, wie dargelegt wurde, bei seiner Arbeit i n der gesetzesfreien Sphäre darauf angewiesen, die von i h m benutzten vorpositiven Materialien einer rationalen Erprobung zu unterwerfen. Eine solche läßt sich jedoch nur durchführen, wenn er sich auch die Bestände vergegenwärtigt, deren Einfluß auf die Entscheidung i m Verborgenen geblieben ist. Eine tüchtige juristische Lösung w i r d oftmals erst möglich, wenn die zunächst unbewußten vor juristischen Anknüpfungspunkte klargestellt werden 3 5 . Es fällt freilich manchem schwer, das einzusehen und noch schwerer, die Konsequenzen daraus zu ziehen. Vielleicht neigt eine gar nicht so kleine Zahl unserer Juristen entsprechend dem gesetzespositivistischen Denkschema der älteren Zeit der Ansicht zu, daß es bei der Rechtsfindung unbemerkt bleibende Erwägungsgrundlagen gar nicht geben könne, sofern der Bearbeiter auch nur einigermaßen wachsam ist. Die Vertreter dieser lange Zeit herrschend gewesenen Auffassung haben meist keinen Zweifel, daß sie imstande sind, die für ihre Entscheidung maßgebenden Momente lückenlos zu überschauen. Sie werden, wenn man sie nach diesen fragt, auch regelmäßig die entsprechenden A r gumente bei der Hand haben. Ob ihnen jedoch die wesentlichen Gesichtspunkte vollständig bewußt geworden sind, steht damit noch nicht fest. Juristen sind i n dieser Hinsicht mitunter keine völlig verläßlichen Gewährsleute. Nicht selten erweist es sich, daß auch diejenigen, die sich u m eine zutreffende Auskunft über ihre Leitgedanken redlich bemühen, zu einer solchen nicht imstande sind. Selbst sehr intelligenten Gesprächspartnern gelingt es bisweilen nur unvollkommen, das auszusprechen, was sie letztlich zu der von ihnen für richtig gehaltenen Lösung bestimmt 3 6 . Wer häufiger Gelegenheit hat, mit Juristen über die Richtpunkte zu sprechen, die sie zu der von ihnen getroffenen Entscheidung veranlaßt haben, w i r d feststellen können, daß das Unerkanntbleiben maßgeblicher Bestimmungsmomente keineswegs einen seltenen Ausnahmefall darstellt, sondern daß es zumal i n komplizierten Fällen häufig vorkommt. Für den nachdenklichen Betrachter ist das ein beunruhigender Umstand, der nicht dadurch aus der Welt geschafft werden kann, daß man i h n beschönigt. 35 Wieacker (1958) S. 9. 36 D a m i t sollen nicht etwa die Äußerungen des Rechtsanwenders über seine Motive schlechthin als fragwürdig bezeichnet werden. Doch ist ihnen m i t einer gewissen Skepsis zu begegnen, w o Anzeichen dafür vorliegen, daß unbewußt gebliebene Beweggründe m i t g e w i r k t haben.
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Das Bedrohliche liegt hier u. a. darin, daß die unterhalb der Bewußtseinsschwelle verbleibenden Bestimmungsmomente ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen. Sie werden nicht durch die Regeln der klassischen Logik gezügelt. Auch die Wirkungsbedingungen, denen sie unterliegen, sind i n mancher Hinsicht besonderer Art. Diese Materialien haben keine Behinderung durch bewußte Willensanstrengungen der Einzelpersönlichkeit zu gewärtigen und können sich daher ungestört entwickeln. A u f diese Weise sind sie unter Umständen i n der Lage, mit dem Rechtsanwender i h r Spiel zu treiben, solange er sie nicht aufspürt und m i t Vorbedacht ins Auge faßt. Daraus erklärt sich, daß die i m Unterbewußtsein verbliebenen Entscheidungsgrundlagen auch insoweit, als sie durch die Entwicklung überholt sind, ungehindert ihr Werk verrichten können. Manche unserer Orientierungsbehelfe haben ungeachtet ihrer Antiquiertheit nur deshalb ein so zähes Leben, weil sie ihren Einfluß aus dem Untergrund üben und der Rechtsanwender, der infolgedessen gar nicht zur Entwicklung von Gegenkräften kommt, sie mehr oder minder widerstandslos hinnimmt. Gelingt es i h m dagegen, sie sich bewußt zu machen und über sie nachzudenken, dann zeigt sich bisweilen sofort, daß sie einer k r i tischen Betrachtung nicht standhalten. I n anderen Fällen dauert es zwar eine gewisse Zeit, bis der Bearbeiter zur Klarheit über solche verborgen gebliebenen Erwägungsunterlagen gelangt; aber soweit sie wirklich überlebt sind, w i r d i h m auf Grund kritischer Erwägung schließlich meist doch klar werden, daß sie nicht mehr bestimmend sein können, sondern das Feld räumen müssen. Daß die rationale Durchleuchtung unbewußt gebliebener Denkansätze stets zu einer Vervollkommnung der juristischen Ergebnisse führen muß, läßt sich freilich nicht zwingend dartun. Aber es sprechen doch starke Wahrscheinlichkeitsgründe dafür, daß der Bearbeiter, wenn er ursprünglich nicht erkannte Entscheidungsprämissen aufspürt und überprüft, das Richtige i m allgemeinen besser treffen w i r d als derjenige, der sie i m Zustand der Unreflektiertheit beläßt. Der Rechtsanwender kann sich auf diese Weise davor bewahren, daß er — wie es nicht selten geschieht — infolge lediglich instinktmäßigen Vorgehens immer wieder i n den gleichen anlagemäßig bedingten Fehler verfällt, ohne i h n als die eigentliche Ursache des Mißerfolgs zu erkennen. Durch Bewußtmachung versteckter Erwägungsgrundlagen w i r d es i h m ferner möglich, sich dort, wo starke emotionale Strömungen am Werk sind, aus der durch sie geschaffenen geistigen Abhängigkeit zu befreien und zu einer Erwägung des Für und Wider zu gelangen, die stärker von der Sache her bestimmt ist. Gewiß w i r d es trotz ständiger Rationalisierungsversuche wohl niemals dahin kommen, daß der praktizierende Jurist alle unreflektierten
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Geistesregungen einer bewußten Betrachtung unterwerfen kann; aber eine Annäherung an dieses Ziel ist möglich und erscheint i m Interesse der Rechtspflege dringend erforderlich. Dem Bearbeiter bleibt, sofern er auf korrektes Vorgehen Wert legt, keine andere Wahl, als seine ungeprüften Wertanschauungen, Handlungsmuster und sonstigen Leitvorstellungen unter Kontrolle zu nehmen. Zu ihnen gehören auch die vielen unscheinbaren und anspruchslosen „Alltagstheorien", m i t denen der Rechtsanwender, ohne über sie sonderlich nachzudenken, ständig arbeitet und die daher eine beträchtliche Wirkung auf seine juristische Tätigkeit üben 3 7 . Je mehr Einfluß dem Rechtsanwender auf die Gestaltung des j u ristischen Urteils zugestanden wird, desto wichtiger ist es, die Zahl der unerkannt gebliebenen Momente zu vermindern. I n vielen Fällen beruht die Schwäche des Rechtsfindungsergebnisses gerade darauf, daß der Bearbeiter es versäumt hat, sie ausfindig zu machen und damit die Voraussetzungen für ihre Erprobung zu schaffen. Erst wenn er i n dieser Hinsicht die nötige Obacht walten läßt, w i r d er zu der inneren Sicherheit und zu jener Gelassenheit kommen, die nur das Bewußtsein vollständig überprüfter Erwägungsgrundlagen zu geben vermag. Man darf sich die unreflektierten Ausgangsmaterialien nicht als durchweg i n tieferen Schichten des Unterbewußtseins domiziliert vorstellen. Vielmehr gehören hierhin vor allem auch die vielen i m Halbdunkel verharrenden gedanklichen Elemente, die jederzeit präsent gemacht werden können. Sie sind, obwohl man sie nicht als bewußt charakterisieren kann, doch bewußtseinsfähig und lassen sich zu einem reflektierten Bestandteil der geistigen Gesamtausstattung machen. I n diese Rubrik fallen ferner die Substanzen, die aus dem Bereich des jederzeit Verfügbaren abgeschoben wurden, u m Zeit und K r a f t für wichtigere Dinge zu erlangen; ferner die Werkstoffe, die i n das seinerzeit gültig gewesene Konzept des Bearbeiters nicht hineinpaßten und verdrängt worden sind, w e i l er ihnen keinen rechten Sinn abgewinnen konnte. A u f der gleichen Linie liegen die Gedankeninhalte, die dem Rechtsanwender ursprünglich entmutigend, schockierend oder sonst irgendwie unerfreulich erschienen und die er deshalb möglichst schnell loszuwerden bestrebt war; desgleichen die Vielzahl der Bezugspunkte, die sich aus sonstigen Gründen i n der Zone des Halbbewußten befinden. 37 Es k a n n insoweit hingewiesen werden auf das von Bielefelder Soziologen herausgegebene Sammelwerk „Alltagswissen, I n t e r a k t i o n u n d gesellschaftliche W i r k l i c h k e i t " (1973) sowie auf Opp (1972) S. 250 ff., (1973) S. 49, 55 ff.; Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 187, Rechtswissenschaft S. 192 ff.; Lautmann (1972) S. 22.
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Die i n diesem Zwischenbereich oder gerade eben unterhalb der Bewußtseinsschwelle liegenden Materialien setzen anders als die i n größerer Tiefe angesiedelten und schwer faßbaren Geistesregungen ihrer Vergegenwärtigung oftmals keinen unüberwindlichen Widerstand entgegen. Sie lassen sich nicht selten wenigstens für begrenzte Zeit bewußt machen. Verhältnismäßig leicht pflegt die Aktualisierung solcher Faktoren vor sich zu gehen, wenn ein besonders gelagerter Fall den Rechtsanwender ohnehin zu eindringenden Überlegungen herausfordert. Schwieriger ist dagegen die Aufdeckung heimlicher Denkvoraussetzungen meist, wenn bekannte Sachgestaltungen i n Frage stehen, für die bereits verfestigte Regeln oder doch häufiger angewandte Erledigungsweisen vorhanden sind. Gerade das Alltägliche, das uns seit langem vertraut ist und an dessen Anblick w i r uns gewöhnt haben, w i r d häufig mehr oder weniger gedankenlos hingenommen. Verminderte Erfolgsaussichten bestehen ferner, wenn der Bearbeiter unter dem Druck der äußeren Umstände nicht recht zum ruhigen Nachdenken kommt. Je weniger es i h m gelingt, auch i m Drange der Geschäfte ab und an Haltepunkte zu schaffen, die Gelegenheit zur Selbstbesinnung geben, desto geringer sind die Chancen für eine Dingfestmachung unbewußter Orientierungsbehelfe. Ob der Jurist beim Bemühen u m die Ermittlung latenter Erwägungsgrundlagen zum Ziel kommt, hängt freilich nicht allein von den genannten äußeren Umständen, sondern auch davon ab, m i t welcher Geschicklichkeit und Ausdauer er ans Werk geht. Insgesamt betrachtet ist jedoch der Versuch, unreflektierte Bestimmungsgründe rational zu durchleuchten, stets für lohnend zu halten. Häufig kann schon die bloße Aufdeckung als wertvoll angesehen werden. Denn der Bearbeiter w i r d sich, wenn er der zunächst unbeachtet gebliebenen Materialien erst einmal ansichtig geworden ist, meist nicht mehr so willenlos wie vorher von ihnen hinnehmen lassen. Selbst wenn er sie trotz gewisser Unzulänglichkeiten für die Rechtsfindung benutzt, w i r d er es sehenden Auges tun, w o r i n bereits ein nicht zu unterschätzender Vorteil liegt. Auch dort, wo es nicht zur regelrechten Klarstellung verborgener Entscheidungsgrundlagen kommt, sondern der Rechtsanwender es lediglich i m Gefühl hat, daß neben den bewußt verwendeten noch weitere vorpositive Richtpunkte bestimmter A r t mitsprechen könnten, w i r d diese Einsicht für ihn mitunter bereits hilfreich sein.
4. Innere Schwächen der juristischen Lösung u n d ihre K o r r e k t u r
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4. Innere Schwächen der juristischen Lösung und ihre Korrektur a) Objektivierung der Rechts findung sarbeit als Haupterfordernis Die Forderung, daß der Jurist seine Arbeit von subjektiven Einflüssen freizuhalten habe, w i r d vielfach unterschiedlich nuanciert. Bald betont man, daß die Rechtsgewinnung „ohne Ansehen der Person" vor sich gehen solle; bald w i r d hauptsächlich Wert darauf gelegt, daß die juristische Erwägung, auch abgesehen von Irritationen durch die Person des Rechtsuchenden, nicht von sachfremden Gesichtspunkten beeinträchtigt sein dürfe. Oft werden beide Anliegen i n dem Verlangen zusammengefaßt, daß der Jurist bei der Rechtsfindung u m „Objektivität" bemüht sein müsse. Seine Arbeit soll vom Objekt her bestimmt sein und nicht durch Geistesregungen i n Mitleidenschaft gezogen werden, denen trotz der möglicherweise vorhandenen guten Absicht ein Moment der Willkürlichkeit anhaftet. Es erscheint angesichts des hier zu erörternden vielschichtigen Problemkreises angebracht, von dieser verhältnismäßig unkomplizierten gedanklichen Grundlage auszugehen. „Objektivität" der rechtlichen Erwägungen, d. h. ihre Objektbezogenheit und ihre Unabhängigkeit von singulären Auffassungen des Rechtsanwenders w i r d nicht nur i m mitteleuropäischen Raum, sondern überall i n der Welt als wesentlich angesehen 38 . Sie gilt allgemein, und zwar selbst i n sehr unterschiedlich strukturierten Rechtsgemeinschaften als Grundwert, wenngleich bezüglich des verlangten Objektivitätsgrads verschiedene Abstufungen möglich sind. I n Sowjetrußland geht man zwar davon aus, daß die Rechtsgewinnung notwendigerweise (zu Gunsten der Arbeiterschaft) parteilich sein müsse. Aber nach der dort und auch sonst i n Osteuropa vorherrschenden A u f fassung widerspricht das Dogma der Parteilichkeit dem Erfordernis der Objektivität ebenso wenig wie die Bindung des Rechtsdenkens an den historisch-dialektischen Materialismus und an die sonstigen Grundlehren des Kommunismus. Vielmehr ist der Rechtsanwender innerhalb dieses Rahmens auch i n den osteuropäischen Ländern zur Abstandnahme von personenbedingten Eigenheiten und zur Vermeidung von W i l l k ü r verpflichtet 89 . Das allenthalben bemerkbare Verlangen nach einer überindividuellen, von höchstpersönlichen Anschauungen absehenden Grundhaltung des Juristen geht bei uns durch alle Schichten der Bevölkerung. Nach der 38 Brusiin, Über die O b j e k t i v i t ä t der Rechtsprechung (1949) S. 25, 43 ff., 88. 3» A. F. Tscherdanzew, Das Prinzip der Parteilichkeit i n der marxistischleninistischen Staats- u n d Rechtswissenschaft (1976), deutsche Übersetzung i n „Staat u n d Recht" Jg. 1977 S. 168 ff.
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herrschenden Auffassung ist der Rechtsanwender genötigt, auf die Verwendung außergesetzlicher Kriterien zu verzichten, die keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit machen können, mögen sie i h m selbst auch sehr einleuchtend sein. Es w i r d von i h m erwartet, daß er Befangenheiten und Vorurteile, die m i t Gesetz und Recht nicht vereinbar sind, i n sich niederkämpft. Man verlangt von i h m ohne Rücksicht auf die oftmals obwaltenden Schwierigkeiten, daß er die etwaigen Schwächen des eigenen Standpunkts erkennt und bei der Abwägung des Für und Wider i n Anschlag bringt. Vor allem dort, wo bei der Rechtsgewinnung starke weltanschauliche Gegensätze zur Geltung kommen, hat der Bearbeiter nach der herrschenden Vorstellung seine emotionalen Regungen so unter Kontrolle zu bringen, daß i h m eine sachgemäße Beurteilung möglich wird. Er soll den Ring inadäquater Vorwegnahmen durchbrechen und eine A u f fassung erreichen, die nicht mehr durch rechtsfremde Einflüsse beeinträchtigt ist. Das sind ziemlich hohe Anforderungen, denen sich mitunter nur schwer Rechnung tragen läßt und die demgemäß i n der Praxis auch längst nicht immer erfüllt werden. Zuweilen machen sich i m Rechtsanwender starke Kräfte geltend, die i h n von Anfang an i n die verkehrte Richtung zu drängen suchen. Sie bringen i h n unter Umständen u m wichtige Verständnismöglichkeiten und versperren i h m dadurch den Zugang zur angemessenen Lösung. Es ist für ihn dann gegebenenfalls ein beträchtlicher Kraftaufwand nötig, wenn er ein tüchtiges Rechtsfindungsergebnis erreichen w i l l . Man hat bisweilen gemeint, daß bereits die Gerichtsverfassungsgesetze, die Prozeßordnungen, die Relationstechnik und die innerhalb der Juristenschaft wirksamen Traditionen für sich allein imstande seien, ein Abgleiten des Juristen i n Einseitigkeit und Vorurteil zu verhindern. Vor allem i n Richterkreisen herrscht vielfach die Auffassung vor, daß der jeweilige Bearbeiter schon aus eigenem Antrieb auf Momente achten werde, die seine Objektivität bedrohen. Meist w i r d darauf hingewiesen, daß die Prozeßparteien und ihre Anwälte, die Rechtsmittelinstanzen und die Öffentlichkeit stets darauf bedacht seien, innere Defekte der gerichtlichen Rechtsfindung aufzudecken und anzuprangern. Man ist infolgedessen oft geneigt, die Gefahren nicht allzu hoch einzuschätzen, die aus fragwürdigen Einstellungen des jeweiligen Bearbeiters, aus ideologischer Verblendung und ähnlichen Einflüssen für die Rechtsgewinnung hervorgehen können. Gleichwohl sind sie von großer praktischer Bedeutung. Unser Denken und Handeln w i r d durch ein Geflecht von Zu- und Abneigungen und durch die aus ihnen hervorgehenden Willensimpulse eingeengt. W i r sind allzu leicht bereit, uns Illusionen hinzugeben, wenn
4. Innere Schwächen der juristischen Lösung u n d ihre K o r r e k t u r
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sie unseren Wünschen entgegenkommen. W i r klammern uns nicht selten nur deshalb an höchst fragwürdige Vorstellungen, w e i l sonst unsere Existenzgrundlagen i n Frage gestellt scheinen und w i r deshalb ohne sie nicht glauben leben zu können. Die Möglichkeit, daß innere Gebrechen solcher A r t zu einem Fehlverhalten des Rechtsanwenders führen, ist ständig gegeben. Gewiß t r i f f t der Jurist teilweise auch gänzlich unproblematische Entscheidungen. Er spricht Ehescheidungen aus, verurteilt zur Zahlung oder ordnet strafrechtliche Sanktionen an, ohne daß dabei auf irgendwie strittige vorpositive Grundlagen zurückgegriffen werden müßte. Aber man würde m i t der Annahme, daß dies die Regel sei, der Wirklichkeit nicht gerecht werden. Ältere, versierte Juristen sind gegen innere Unzulänglichkeiten ihrer Rechtsfindungsarbeit ebenso wenig gesichert wie ihre jüngeren Berufskollegen. Affektive Regungen vertragen sich gegebenenfalls durchaus mit juristischer Gelehrsamkeit und reicher Erfahrung. Selbst stark verstandesmäßig eingestellte Bearbeiter sind gegen solche Einflüsse nicht unbedingt geschützt. Das zeigen die gar nicht seltenen Fälle, i n denen sich ausgesprochen skeptisch veranlagte Beurteiler einer A u f fassung bedenkenlos anschließen, die sie bei unbefangener rationaler Erwägung als unhaltbar hätten erkennen müssen. W i l l man bedenklichen Vorwegnahmen wirksam begegnen, so kommt es zunächst darauf an, sich genauere Kenntnisse über die Formen zu verschaffen, i n denen sie aufzutreten pflegen (s. u.) und sodann zu klären, auf welche Weise sich von ihnen Abstand gewinnen läßt (S. 163 ff.). b) Formen rechtsfremder
Einflüsse
Lange Zeit wurden rechtswidrige Begünstigungen oder Benachteiligungen eines Rechtsuchenden durch die Gerichte regelmäßig entweder auf Bestechung oder auf enge persönliche Bindungen des Richters an eine der Prozeßparteien zurückgeführt; also etwa auf Freundschaft, Verwandtschaft, Liebesneigung oder auf Feindseligkeit, Bosheit und Übelwollen gegenüber der Partei. Erst i n der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als die Gemeinsamkeit der gedanklichen Fundamente, auf die man sich bis dahin noch weitgehend hatte verlassen können, sichtbar i n Frage gestellt erschien, begann man zu begreifen, daß der Jurist unter Umständen auch ohne das Vorliegen von handfesten Ursachen i n redlicher Absicht und gänzlich unbewußt parteiisch entscheiden könne 4 0 . Seitdem hat sich die allgemeine Aufmerksamkeit 40 Ausführliche Darlegungen unter diesem neuen Aspekt bei C. F. v.Be· nekendorf, Grab der Chikane (1781) Bd. I S. 85.
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immer mehr auf die sublimeren Spielarten richterlicher Befangenheit konzentriert 4 1 , während die groben, auf Erlangung persönlicher Vorteile gerichteten Formen der Parteilichkeit an Aktualität verloren haben. Die geistigen Voraussetzungen für eine Voreingenommenheit des Rechtsanwenders auf ideeller Grundlage haben demgemäß auch i m folgenden den Hauptgegenstand der Erörterung zu bilden. Eine vorwiegend i n der Ideenwelt des Bearbeiters begründete U r sache für Mängel der juristischen Lösung kann zunächst — worüber i n der Vorurteilsforschung viel debattiert worden ist — i n der imponierenden sozialen Position der Prozeßpartei bestehen. Man hat oftmals darauf hingewiesen, daß die Gerichte unter Umständen leicht geneigt seien, Regierungsbeamte, hohe Geistliche, einflußreiche Parteifunktionäre usw. schonender anzufassen und glimpflicher davonkommen zu lassen als den gewöhnlichen Bürger. Andererseits finden sich, wenn auch viel seltener, Fälle, i n denen die Beteiligung hochgestellter Persönlichkeiten am Rechtsstreit gerade umgekehrt dazu führt, daß der Bearbeiter, unbeeindruckt von der sozialen Position des Prozeßbeteiligten, i h n seine hohe Stellung ohne hinreichende Gründe entgelten läßt. Ein weiteres Feld, auf dem die Rechtsgewinnung durch ungerechtfertigte Vorurteile beeinträchtigt werden kann, bietet sich dar, wo die ursprünglich nur auf den Normalbürger ausgerichtete Rechtspflege es m i t Prozeßparteien zu t u n bekommt, die i m Gegensatz zum gewöhnlichen Rechtsuchenden über ein großes Machtpotential verfügen und mit fast unerschöpflichen Geldmitteln ausgerüstet sind. Sie passen in mancher Hinsicht nicht mehr recht i n das B i l d hinein, das man sich lange Zeit von den Verfahrensbeteiligten zu machen pflegte. Z u dieser neuartigen Kategorie von „Rechtskonsumenten" gehören etwa die führenden Industrieunternehmungen, die Großbanken, die Gewerkschaften und schließlich auch der Staat selbst, soweit er vor den Gerichten Recht nimmt. Auch solchen Mammutparteien gegenüber ist der Jurist mitunter i n Gefahr, sich entweder von übertriebenem Respekt hinnehmen oder es umgekehrt an der sachlich gebotenen Rücksicht fehlen zu lassen. Wenn er sich dem von einer solchen Prozeßpartei vertretenen Standpunkt anschließt, w i r d er freilich regelmäßig der Auffassung sein, daß dies lediglich aus zwingenden rechtlich-sachlichen Überlegungen geschehe. Aber unbewußt spricht möglicherweise doch auch die Erwägung mit, daß er sich m i t einem solchen überdimensionalen Gesprächspartner nicht ohne dringendste Notwendigkeit anlegen dürfe; daß viel Verdruß und Unannehmlichkeiten vermieden werden könnten, wenn er diesen 4i Z u diesem Fragenkreis Bendix
(1968) S. 96, 133, 200, 298, 328 usw.
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anspruchsvollen Rechtsuchenden nicht enttäuscht; daß es der Gegenpartei letzten Endes nichts nützen werde, wenn er sich für sie stark machen wollte, w e i l die Rechtsmittelinstanz ein solches Urteil aufheben würde usw. Man w i r d vielleicht die Vermutung, daß derartige Erwägungen zu Zeiten auch bei pflichtbewußten Bearbeitern mitsprechen könnten, abwegig finden. Immerhin ist i n neuerer Zeit von kompetenten und unverdächtigen Beurteilern darauf hingewiesen worden, einen wie schweren Stand der Rechtsanwender mitunter hat, wenn er sich genötigt sieht, gewichtigen Interessenverbänden oder starken Machtkonzentrationen anderer A r t die Stirn zu bieten, und daß es einer großen Selbstzucht bedarf, u m sich dabei auch i n Augenblicken der Schwäche vom rechten Wege nicht abbringen zu lassen. Problematisch kann ferner das Verhältnis des Juristen zu kleinen Bevölkerungsgruppen sein, für deren Lebensrecht bisweilen nur wenig Verständnis vorhanden ist, zumal wenn sie i n der öffentlichen Meinung (aus möglicherweise wenig stichhaltigen Gründen) nur geringes A n sehen genießen. Sie werden manchmal auch dann m i t einer rechtlich bedenklichen Engherzigkeit behandelt, wenn sie sich innerhalb der Rechtsgemeinschaft völlig loyal verhalten, also weder gegen die Staatsführung agitieren noch anderweit Unruhe hervorrufen. Ein gewisses Ungenügen des Rechtsanwenders kommt unter Umständen weiter darin zum Ausdruck, daß er auf Grund seiner eigenen, meist gut gesicherten Daseinsgrundlage den Existenznöten bestimmter Menschengruppen einigermaßen beziehungslos gegenüber steht. Er kennt mitunter die ständigen Sorgen der Kleingewerbetreibenden und ähnlicher Berufszweige u m das tägliche Brot nicht genügend. Er weiß manchmal auch zu wenig über den Kampf u m den Arbeitsplatz auf der unteren Ebene, über die Intrigen und sonstigen Mißhelligkeiten, denen der einzelne i m Betrieb ausgesetzt ist usw. I n gleicher Weise liegt dem Bearbeiter die besondere Situation des Angeklagten, auch wo er sie ständig vor Augen hat, bisweilen ziemlich fern, zumal wenn sein Einfühlungsvermögen nicht allzu stark ausgebildet ist und der abstumpfende Einfluß hinzukommt, den die Gewöhnung m i t sich bringt. A m ehesten vermag er sich i n die Lage des Angeklagten meist dann hineinzuversetzen, wenn ein Mitglied der höheren Stände vor dem Strafgericht Rede und A n t w o r t stehen soll. Vermutlich hängt damit die bereits erwähnte auffällige Gelindigkeit zusammen, m i t der Angeklagte i n gehobener Position von den Strafgerichten zuweilen behandelt werden. Man pflegt solche Fälle unter dem Stichwort der Schichtmentalität zu diskutieren 4 2 . Doch handelt es sich i m Grunde u m ein Problem von 42 Uber die engen Beziehungen unserer Berufsrichter zur gesellschaftlichen Oberschicht bzw. zur oberen Mittelschicht sind etwa die Arbeiten
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3. Teil: Umgang m i t nichtpositivierten Entscheidungsgrundlagen
allgemeinerem Charakter. Es t r i t t allenthalben hervor, wo der Rechtsanwender das Lebensgebiet, i n das die zu entscheidende Rechtsangelegenheit hineinfällt, m i t seinen Eigentümlichkeiten nicht hinreichend innehat. Die erwähnten Schwierigkeiten können daher auch dann auftreten, wenn am Sachverhalt ausschließlich Personen beteiligt sind, die der gleichen sozialen Schicht wie der Bearbeiter angehören, sofern sich nur das fragliche Geschehen auf eine Lebenssphäre erstreckt, die diesem nicht hinlänglich bekannt ist- Das kann vorkommen, wenn der zu lösende Konflikt etwa i n den Bereich der öffentlichen Verbände hineinragt oder den inneren Aufbau großer Industriewerke betrifft oder eine genauere Bekanntschaft m i t der Denk- und Arbeitsweise einzelner Berufsstände, etwa der Ärzteschaft, der Architektentätigkeit, des Kaufmannsstandes voraussetzt. Es ist oft behauptet worden, daß der Rechtsanwender infolge seiner eigenen gefestigten Berufsstellung mitunter kein rechtes Verständnis für die bewegte und aufreibende Arbeit i m kaufmännischen Gewerbe besitze. Man sagt, i h m liege auf Grund seiner beamtenähnlichen Position der i m Geschäftsleben herrschende Kampf u m die Erhaltung und Verbesserung der eigenen wirtschaftlichen Lage, die ständige Ausschau nach neuen Verdienstmöglichkeiten und der immerwährende Argwohn gegenüber etwaigen Schachzügen der Konkurrenz bisweilen so fern, daß die Sachrichtigkeit seiner Entscheidung darunter leide 4 3 . I n der Tat fehlt dem Bearbeiter mitunter der rechte Sinn für die Gedankenwelt des Geschäftsmanns und nicht zuletzt auch für die besonderen Gesichtspunkte, die innerhalb der Konzerne und sonstiger Großbetriebe zu beachten sind. Er begreift manchmal nur langsam, daß seine Aufgabe darin besteht, zwischen der i h m meist näher liegenden engen Perspektive des Endverbrauchers und dem großräumigeren Rentabilitäts- und Planungsdenkens des Handels und der Industrie eine angemessene Beziehung herzustellen und i m Konfliktsfall einen für beide Seiten tragbaren Ausgleich zu finden. Bemerkenswerte Unzulänglichkeiten können auch bei der Haltung des Juristen gegenüber dem Einzelmenschen auftreten. Er hat manchmal nur wenig für Außenseiter übrig, die auf unkonventionelle A r t m i t dem Leben fertig zu werden versuchen und sich dabei, ohne daß Schaden für die Gemeinschaft zu besorgen wäre, gegen bestimmte allgemein gebräuchliche Denk- und Verhaltensgewohnheiten sperren. Er ist oftmals leicht geneigt, Einzelgänger, die nicht recht i n die Landvon Kaupen, Die Hüter v o n Recht u n d Ordnung (1969) u n d Rottleuthner (1970) S. 283 ff. zu vergleichen; ferner Rasehorn, Was formt den Richter? (1968) sowie Walt. Richter, Z u r Bedeutung der H e r k u n f t des Richters f ü r die Entscheidungsbildung (1973). 43 Zacharias S. 67 f.
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schaft zu passen scheinen, von vornherein als lästig anzusehen und ihnen m i t Mißtrauen entgegenzutreten. Das kann je nach Lage des Falls sachlich berechtigt sein, führt aber nicht selten auch zu einer Diskriminierung von Haltungen, die unter rechtlichen Gesichtspunkten nichts Bedenkliches an sich haben. Auf diese Weise kann es unversehens dahin kommen, daß alle, die sich bestimmten allgemeinen Bräuchen nicht anschließen, ungeachtet der wertvollen Dienste, die sie durch ihren Nonkonformismus oftmals der Gesamtheit leisten, rechtlich benachteiligt werden. Manchmal beruht die Voreingenommenheit des Rechtsanwenders einfach darauf, daß die Gesamthaltung der Prozeßpartei und ihre allgemeine Lebensauffassung nicht m i t der seinen übereinstimmt. Zuweilen hat er ζ. B. für wagemutige und erlebnishungrige Menschen nur wenig übrig. Dementsprechend nötigen i h m auch Berufe, die einen großen Energieeinsatz erfordern und solche, die m i t starkem Risiko verbunden sind, oftmals keine sonderliche Achtung ab. Mitunter entsteht fast der Eindruck, als wenn i h m der Unsichere und Ängstliche, der den Komplikationen des Lebens möglichst auszuweichen sucht, näher stehe und bei i h m eher m i t Sympathie und Wohlwollen rechnen könne 4 4 . Das kann, soweit derartige Tendenzen tatsächlich vorhanden sind, gegebenenfalls nicht nur i n der Behandlung zum Ausdruck kommen, die solchen Persönlichkeitstypen während des Gerichtsverfahrens zuteil wird, sondern sich auch auf das Rechtsfindungsergebnis auswirken. Gelegentlich ist sogar die Ansicht geäußert worden, daß manchem unserer Juristen unter der Nachwirkung autoritärer Auffassungen schon das zwanglose und unbekümmerte Auftreten einer Prozeßpartei als solches i m Grunde zuwider sei, mag sie sich i n ihrer Freimütigkeit auch noch so schicklich betragen 45 . Wenn es sich bei solchen Beobachtungen wohl auch nur u m Ausnahmefälle handeln wird, die nicht verallgemeinert werden dürfen, so mag i n ihnen doch insofern ein Wahrheitskern enthalten sein, als die Aussicht des Rechtsuchenden, das Gericht durch Offenherzigkeit und freimütiges Auftreten zu beeindrucken, häufig als nicht allzu groß angesehen werden kann. Teilweise sind es nicht so sehr persönliche Antipathien, die die Rechtsfindungsarbeit irreleiten, sondern es w i r k t sich beim Rechtsanwender i n erster Linie die i n der Öffentlichkeit herrschende allgemeine Geringschätzung bestimmter Persönlichkeitstypen aus. Es ist dabei etwa an Randexistenzen wie Zigeuner und Landstreicher zu denken, aber auch an Hippies, Rauschgiftsüchtige, Homosexuelle und 44 I n diese Richtung gehen u. a. auch die Darlegungen von Weyrauch S. 304 ff. 4 ® Rode, Justiz (1929) S. 22.
(1970)
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Prostituierte, die sich durch ihre Lebensführung alle i n gewissem Umfang außerhalb der herrschenden Gepflogenheiten stellen und deshalb vor Gericht gegebenenfalls einem Vor-Urteil begegnen; gar nicht zu reden von den i m Verbrechermilieu Untergegangenen, die von der öffentlichen Meinung meist von vornherein als aus der Gesellschaft ausgestoßen betrachtet werden. Unzulänglichkeiten der Rechtsfindungsarbeit können aber auch m i t dem unmittelbaren Eindruck zusammenhängen, den der einzelne Rechtsuchende auf den Bearbeiter macht. Die von seiner Persönlichkeit ausgehenden Wirkungen stellen geradezu eine Hauptursache für das Eindringen subjektiver Momente i n die rechtliche Beurteilung dar. Die preußische Gesetzgebung des frühen 19. Jahrhunderts hatte deshalb, u m Ablenkungen dieser A r t unmöglich zu machen, zeitweise dafür gesorgt, daß der erkennende Richter den Beschuldigten weder i m Vorverfahren noch i m eigentlichen Strafprozeß zu Gesicht bekam und m i t h i n durch seine Körperlichkeit und seine Aufführung nicht irritiert werden konnte. Heute dagegen ist nicht nur i n Strafsachen, sondern auch i n den übrigen Justizzweigen durch die Gerichtsverfassung dafür gesorgt worden, daß der Rechtsanwender die Persönlichkeit der Partei auf sich wirken lassen und seinen Eindruck als Orientierungshilfe benutzen kann. Er erhält auf diese Weise vielfach wichtige Informationen, durch die die zutreffende Beurteilung des Rechtsfalls mitunter überhaupt erst ermöglicht wird. Aber die Auswertung des persönlichen Eindrucks durch den Rechtsanwender ist gegebenenfalls auch geeignet, sachwidrigen Einflüssen den Weg zu bereiten. Es läßt sich nicht exakt nachweisen, wie häufig das Rechtsfindungsergebnis durch Einwirkungen dieser A r t verdorben wird. Die aus direkter Befragung einzelner Juristen hervorgehenden Materialien führen begreiflicherweise meist zu keinem sicheren Resultat. Aber daß auf diese Weise eine Befangenheit des Bearbeiters entstehen und daß sie gegebenenfalls prozeßentscheidend werden kann, w i r d sich kaum bestreiten lassen. Regungen von Sympathie oder Antipathie, die m i t einer korrekten Rechtsfindung nicht vereinbar sind, gehen mitunter bereits von der äußeren Gestalt des Rechtsuchenden aus, dessen Physiognomie den Rechtsanwender möglicherweise abstößt oder i h n umgekehrt anspricht, vielleicht sogar m i t Bewunderung erfüllt. Auch durch das Mienenspiel, die Gesten und die sonstige Aufführung eines Verfahrensbeteiligten können derartige Wirkungen hervorgerufen werden; so etwa wenn i n Zivilsachen, vor dem Strafgericht oder i n den übrigen Prozeßarten der Bearbeiter sich durch offene oder versteckte Schmeichelei der vor i h m agierenden Partei, durch ihr bigottes Gehaben, durch ihre abgeschmackte, lederne, kontaktarme A r t vorschnell und zu Unrecht gegen sie
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einnehmen oder sich i m umgekehrten Fall durch die geschickten, vielleicht geradezu bestrickenden Umgangsformen seines Gegenübers gewinnen läßt. Rechtswidrige Beeinflussungen können ferner unabhängig von der äußeren Erscheinung der Prozeßpartei daraus hervorgehen, daß der Richter sich durch die von ihr bewußt oder unbewußt zur Schau getragene Lebensauffassung, durch ihre weltanschauliche Haltung oder durch ihre politischen Überzeugungen angesprochen fühlt bzw. daraus, daß er für diese kein Verständnis aufbringt, sondern ihnen ablehnend gegenübersteht. I m Einzelfall ist es möglich, daß die beim Bearbeiter auf gefühlsmäßiger Grundlage wirksam werdenden Zu- und Abneigungen sich nach erfolgter Prüfung als sachlich begründet erweisen, so daß er sie gelten lassen kann. Doch w i r d darauf, was es m i t einer solchen Erprobung auf sich hat, noch i m einzelnen zurückzukommen sein (S. 164 ff.). Eine besondere Entstehungsursache für innere Schwächen des Rechtsfindungsergebnisses bilden i n allen Justizzweigen die Fälle, i n denen ein Verfahrensbeteiligter während des Prozesses den Richter nicht durch seinen Persönlichkeitstyp oder durch die von i h m vertretenen Auffassungen negativ beeindruckt, sondern durch sein herausforderndes Betragen, durch zynische Redensarten, offensichtliche Verschleppungstaktik und Ähnliches. Es besteht dann die Gefahr, daß der Rechtsanwender, indem er sich pflichtmäßig gegen illegales Prozeßverhalten der Partei zur Wehr setzt, unter Umständen selbst, ohne es gewahr zu werden, i n eine A r t Parteistellung hineingedrängt w i r d und dabei möglicherweise seine Unbefangenheit einbüßt. Damit nähern w i r uns bereits jener großen Gruppe rechtsfremder Einflüsse, deren Schwerpunkt nicht eigentlich i n der Außenwelt des Bearbeiters liegt, sondern i n seiner speziellen charakterlichen Eigenart zu finden ist. Es handelt sich dabei, wie Ernst Benda es einmal formuliert hat, u m „unmittelbar der richterlichen Persönlichkeit entspringende. also menschliche Motive, die jeder Richter als Versuchung kennt" und die, wie er sagt, fast immer weit bedrohlicher sind als die Gefahren, die aus parteipolitischer (oder wie man erweiternd hinzufügen könnte: aus weltanschaulicher) Bindung entstehen können. I h m erschienen als Beispiele vor allem erwähnenswert Eitelkeit, Trotz, Hoffnung auf öffentliches Lob, Furcht vor K r i t i k bei Erlaß unpopulärer Entscheidungen, desgleichen der Wunsch, als originell und undoktrinär angesehen zu werden 4 6 . Benda w i r d diese Stichworte sicher nicht von ungefähr gewählt haben, sondern sich als einer unserer höchsten Richter dabei auf detaillierte Erfahrungen stützen können. W i l l i Geiger, ebenfalls 4β (1975) S. 168 f. 11
Döhring
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Mitglied des Bundesverfassungsgerichts, bezeichnet sachlich übereinstimmend als mögliche Anlässe für Beeinflussungen dieser A r t u. a. eigene Emotionen, Prätensionen, Ambitionen und Ressentiments des Fallbearbeiters 47 . Darüber hinaus könnte man weiter konkretisierend noch das Streben nach Prestigewahrung, Rechthaberei, unangebrachte persönliche Empfindlichkeit und ähnliche Antriebe nennen. Dies sind so allgemein bekannte Motivationen, daß sie einer näheren Erläuterung kaum bedürfen werden. Immerhin mögen zwei spezielle Hinweise den geistigen Zwang verdeutlichen, m i t dem der Rechtsanwender i n diesem Bereich mitunter fertig werden muß. Es war bereits erwähnt worden, daß vorpositive gedankliche Elemente nicht nur unmittelbar aus der gesellschaftlichen Sphäre i n die juristischen Überlegungen eindringen, sondern daß sie sich vielfach bereits i m Rechtsanwender festgesetzt haben und von dort her i n die rechtlichen Erwägungen hineingelangen. Der u m die Aufrechterhaltung seiner Unparteilichkeit besorgte Jurist befindet sich dann nicht selten insofern i n einer prekären Lage, als die fragliche vor juristische Entscheidungskomponente von i h m ungeprüft akzeptiert wurde, ohne daß er recht gewahr geworden ist, worauf er sich dabei eingelassen hat. Die sozusagen hinterrücks eingedrungenen Materialien haben zu dem Zeitpunkt, wo der Rechtsanwender auf sie aufmerksam w i r d und über sie zu meditieren beginnt, die erforderlichen rationalen Kontrollen schon unterlaufen und können, wie es mitunter scheint, kaum mehr aus ihrer gegenwärtigen Position verdrängt werden. Der Bearbeiter sieht sich auf diese Weise sozusagen vor vollendete Tatsachen gestellt und kommt leicht i n Gefahr, die positive Einstellung, die er ihnen gegenüber unbedachterweise eingenommen hat, beizubehalten, auch wenn handfeste Bedenken dem entgegenstehen. Zwar bemüht er sich i n der Regel redlich darum, das zunächst Versäumte nunmehr nachzuholen; aber oft gelingt es i h m nicht, sich gegen die hier wirksam werdende natürliche Gravitation durchzusetzen. I n anderen Fällen w i r d dem Juristen eine unvoreingenommene Haltung dadurch erschwert, daß i h m bestimmte Entscheidungsgesichtspunkte, zu deren Akzeptierung er sich letztlich doch entschließen muß, gerade von einer Seite aufgedrängt werden, von der er keine Belehrung annehmen möchte. Die Zahl solcher Zwangssituationen, aus denen Mängel des Rechtsfindungsergebnisses hervorgehen können, wenn der Bearbeiter sich ihnen nicht gewachsen zeigt, ist groß. Hier galt es zunächst lediglich, das Dilemma zu veranschaulichen, i n dem der Rechtsanwender sich zu Zeiten befindet. 47 (1959) S. 337. Calamandrei bemerkt scharfblickend, der Rechtsanwender glaube m i t u n t e r durch seine juristische Stellungnahme dem R e d i t u n d der Gerechtigkeit zu dienen, während sie weitgehend durch Eigenliebe bestimmt werde („Lob der Richter", 1956, S. 179).
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c) Möglichkeiten zur Abwehr ideenmäßiger Grundsätzliche Erwägungen
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Mängel
Dem Juristen, der sich u m die Vermeidung innerer Fragwürdigkeiten seiner Arbeit bemüht, kommt ein ganzes System gesetzlicher Anordnungen zu Hilfe, das darauf hinzielt, sein Abgleiten i n persönliches Dafürhalten und i n regelrechte W i l l k ü r zu verhindern. Gleichwohl sind die von i h m insoweit zu überwindenden Schwierigkeiten mitunter beträchtlich. Die Natur der Dinge leistet dabei häufig nur eine sehr unzureichende Unterstützung. Die i m Rechtsanwender selbst vorhandenen, auf eine Ausschaltung subjektiver Einflüsse gerichteten Impulse sind je nach seiner charakterlichen Eigenart vielfach ebenfalls nicht sonderlich stark. Die Einsicht, daß i n dieser Beziehung tatkräftige Bemühungen notwendig sind, ist zwar denen verhältnismäßig leicht nahezubringen, die ihrer speziellen Veranlagung nach für sie offen sind. Sie ist dagegen vielen, denen dieser Umstand nicht zu Hilfe kommt, nur schwer plausibel zu machen. Wenn man ihren Widerstand überwinden w i l l , bedarf es daher einer ins Detail gehenden Erörterung dieses ganzen Gebiets. Vorweg kommt es jedoch zunächst einmal darauf an, bei dem einzelnen jene innere Bereitschaft zu schaffen, die i h m die m i t manchen Unannehmlichkeiten verbundene Erprobung eigener Vorentscheidungen überhaupt erst ermöglicht. Ferner erscheint es i n diesem schwierigen Bereich noch mehr als sonst angebracht, die grundsätzlichen Erkenntnisse so zu Handlungsanweisungen umzuformen, daß dem Rechtsanwender ihre Verwertung einigermaßen leicht gemacht wird. Man kann zwar der Auffassung sein, daß spezifizierte Hinweise, die die Anwendung der allgemeinen Grundsätze betreffen, nicht mehr Aufgabe der Theorie seien. Wie man aber darüber auch denken mag: Sie sind hier, wo sich die Übertragung theoretischer Richtlinien i n die Praxis oftmals schwierig gestaltet, nicht zu entbehren. Bezeichnenderweise zeigen auch Juristen, die die Gefahr sachwidriger Einflüsse aus der Person des zur Entscheidung Berufenen klar erkennen, mitunter bezüglich ihres eigenen Rechtsfindungsverhaltens ein naives Zutrauen zur Stichhaltigkeit der Grundentscheidungen und Vorzugstendenzen, die sie i n ihrem Anschauungsvorrat eben gerade vorfinden. Sie benehmen sich bei der praktischen Arbeit häufig so, als wenn es sich von selbst verstünde, daß sie die ihnen am nächsten liegenden Grundannahmen ohne weiteres zur Geltung bringen dürfen. Nicht selten w i r d der Bearbeiter dabei durch das starke Evidenzerlebnis irregeführt, das von instinktiv sich einstellenden Vormeinungen oftmals ausgeht. Er kommt dann vielfach gar nicht auf den Gedanken, daß den von i h m bedenkenlos benutzten vorpositiven Materialien, die 11*
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dem Lauf der Welt zu entsprechen bzw. aus dem gesunden Menschenverstand hervorzugehen scheinen, eine aktuelle rechtspolitische Bedeutung innewohnen kann und daß selbst ein völlig neutral aussehender rechtsinhaltlicher Bezugspunkt möglicherweise auf die Durchsetzung fragwürdiger gesellschaftspolitischer Absichten hinzielt. Ebenso erscheint es i h m oft wenig einleuchtend, daß auch die von i h m ahnungslos bevorzugten methodischen Prinzipien bestimmten, vielleicht rechtlich bedenklichen Bestrebungen Vorschub leisten könnten. Es gibt Menschen, für die entsprechend ihrem Naturell dieses Problem gar nicht zu existieren scheint oder doch nur ganz gelegentlich i n Sicht kommt. Von selbst werden wahrscheinlich die wenigsten zu grundsätzlichen Überlegungen hinsichtlich des bezeichneten Fragenkreises gelangen. Kontrolle der eigenen Vorwegnahmen durch den Rechtsanwender Bei der planmäßigen Überprüfung der eigenen Antizipationen durch den Fallbearbeiter ist vor allem an Vorzugstendenzen und an Vororientierungen sonstiger A r t zu denken, die i n seinen Anschauungen unreflektiert Fuß gefaßt haben und m i t denen er sich verbunden fühlt. Ihre Analyse stellt für den Juristen ein M i t t e l dar, seinen Umgang mit transpositiven Anknüpfungspunkten zu disziplinieren. Dabei ist gleichgültig, ob Vormeinungen i n Frage stehen, die anlagebedingt sind, oder ob es sich u m solche handelt, die auf Gewohnheit, persönlichen Erfahrungen bzw. auf sonstigen Grundlagen beruhen. Je klarer die Bestandteile herausgearbeitet werden, aus denen solche Entscheidungsprämissen sich zusammensetzen, desto geringer ist die Gefahr, daß die Erörterung i m bloß subjektiven Meinen stecken bleibt. Auf diese Weise gelingt es dem Rechtsanwender nicht selten, die festgefahrene Auseinandersetzung m i t sich selbst über bestimmte Zweifelspunkte wieder i n Gang zu bringen. Wenn er sich daran gewöhnt, seine zunächst ungeprüft zugrunde gelegten Denkansätze kritisch zu betrachten, w i r d er zudem sehr bald gewisse Grundeinstellungen und Auffassungsbereitschaften bei sich wahrnehmen, deren Berechtigung es dann zu erproben gilt. Falls die überprüften eigenen Grundansichten i n der vorliegenden Fassung keinen Bedenken unterliegen, kann der Bearbeiter sich als zu ihrer Verwendung legitimiert betrachten. Falls sie sich dagegen i n bestimmter Hinsicht als unzulänglich erweisen und korrigiert werden müssen, mag i h n das zwar zunächst unangenehm berühren; aber letzten Endes bleibt i h m die Genugtuung, daß er m i t seiner entsprechend modifizierten Vororientierung i n aller Regel besser gerüstet ist, als wenn er unter leichtfertiger Ablehnung der Gegenposition seine Vorwegnahme i n der ursprünglichen Form aufrecht erhalten hätte.
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Anzustreben ist eine unnachsichtige Untersuchung der eigenen A n t i zipationen, die sich auch durch unbewältigte emotionale Impulse nicht auf die Dauer irreführen läßt. Der i n dieser Hinsicht dem Rechtsanwender von der Theorie geleistete Beistand hält sich vorerst i n bescheidenen Grenzen. Zwar w i r d i n den Fachwissenschaften an der Erstellung eines verläßlichen methodischen Musters für die rationale Uberprüfung von Werturteilen unentwegt gearbeitet; jedoch sind die vorgelegten Entwürfe bisher noch so kompliziert, daß sie sich für eine Anwendung i m Rechtsalltag (zum mindesten i n der gegenwärtigen Form) nicht eignen 48 . Der praktizierende Jurist kann jedoch nicht warten, bis ein wissenschaftlich exaktes und zugleich praktikables Modell für das Vorgehen i n solchen Fällen entwickelt worden ist. Er muß vielmehr nach Möglichkeiten Ausschau halten, wie sich inzwischen den an i h n gestellten A n forderungen Rechnung tragen läßt. Es bedarf m i t h i n der Prüfung, ob nicht für die vielleicht ausgedehnte Ubergangszeit M i t t e l und Wege vorhanden sind, m i t deren Hilfe der Rechtsanwender seiner Pflicht zur durchgreifenden Kontrolle der eigenen Vorwegnahmen einigermaßen zufriedenstellend zu genügen vermag. Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei auf methodische Regeln, die bereits jetzt zur Verfügung stehen und deren Benutzung an die große Mehrheit der Bearbeiter keine unzumutbaren Anforderungen stellt. Diesem begrenzten Zweck sollen nachstehende Hinweise dienen, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit machen können. Der erste Schritt zu einer skeptischen Betrachtung der eigenen Vorentscheidungen ist oft der schwerste. Gelingt es dem zur Entscheidung Berufenen erst einmal, seine Bindung an bestimmte bei i h m wirksame Vorurteile zu problematisieren und als mögliches Hindernis für eine sachgemäße Rechtsfindung ins Auge zu fassen, dann w i r d es i h m oft verhältnismäßig leicht werden, sich von i h r zu lösen, soweit sie sich als fragwürdig erweist. Zum mindesten nimmt damit der unbefriedigende Zustand ein Ende, i n dem der Rechtsanwender unreflektiert m i t vorpositiven Entscheidungsunterlagen umgeht. I m einzelnen kommt es vor allem darauf an, die Quellen ausfindig zu machen, aus denen ein bestimmtes richtunggebendes Element gespeist wird, und die Antriebskräfte zu ermitteln, die i h m mitunter einen so erstaunlichen Nachdruck verleihen. Es muß nach Möglichkeit klargestellt werden, weshalb dem Betrachter diese oder jene Vorzugstendenz so einleuchtend erscheint, daß abweichende Anschauungen dagegen nicht aufkommen können. 48 Deshalb ist hier auch davon abgesehen worden, über sie i m einzelnen zu berichten. E i n Resumé bezüglich der zur Zeit vorliegenden Konzepte findet sich (nach dem Stande von 1975) bei Simon, Die Unabhängigkeit des Richters S. 113 ff.
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W i r d die beim Bearbeiter instinktiv vorhandene Grundansicht durch eine gegenteilige Auffassung i n Frage gezogen, so bedarf es der Erwägung, welche Gründe dieser zur Seite stehen und w o r i n etwa die Überlegenheit des eigenen Standpunkts zu erblicken sein könnte. Der Rechtsanwender w i r d nach solchen Sondierungen, wenn sie leidlich unbefangen angestellt worden sind, eine konkretere und gediegenere Anschauung darüber haben, ob seine Position der Erprobung standhält oder ob ihr Schwächen anhaften, die ihre Berichtigung nötig machen. Günstige Bedingungen für die Distanzierung von fragwürdigen Vorwegnahmen sind gegeben, wenn diese nur eine geringe Konsistenz besitzen und sich der Rechtsanwender m i t ihnen nicht allzu fest verbunden fühlt. Oft können sie dann, falls sie sich als fehlerhaft erweisen, ohne besondere Schwierigkeiten abgetan werden. Geringe Mühe macht ihre Ausschaltung vielfach auch, wenn beim Bearbeiter bereits gewisse Bedenken mit Bezug auf sie rege geworden sind und ihre Unzulänglichkeit ihm vielleicht schon bei früheren Gelegenheiten zum Bewußtsein gekommen ist. Auf größere Widerstände stößt die Beseitigung von inneren Schwächen der Rechtsfindungsarbeit dagegen, wenn nicht vertretbare Vorentscheidungen auf starken emotionalen Regungen beruhen. Diese setzen unter Umständen das rationale Denken zugunsten einer affektiven Logik weitgehend außer Kraft, so daß es bisweilen nur schwer möglich ist, sie durch noch so stichhaltige verstandesmäßige Gegengründe zurückzudrängen. Wenn inadäquate Vorwegnahmen auf ererbten Grundhaltungen beruhen, oder wenn sie zwar nicht ererbt, aber durch Gewohnheit stark verfestigt sind, macht es meist ebenfalls einige Mühe, die alteingefahrenen Geleise zu verlassen und sich entsprechend umzustellen. I n aller Regel ist dann nicht daran zu denken, daß die einer angemessenen Sachbehandlung entgegenstehenden Hindernisse durch einen einzigen großen Kraftaufwand beseitigt werden könnten. Vielmehr lassen sie sich nur durch beharrliches Streben überwinden. Wenn nicht zufällig der Zeitgeist oder bestimmte Einzelumstände die Lage besonders günstig gestalten, bedarf es i n diesen Fällen meist lange dauernder geduldiger Bemühungen, u m über zahlreiche Zwischenstufen die notwendige A n passung zu erreichen. Weder ein ungestümes Andringen noch eine krampfhafte Anstrengung führen i n solchen Lagen zum Erfolg. Vielmehr kommt man i n aller Regel auf Grund einer aufgelockerten und ungezwungenen Grundhaltung besser zum Ziel. Eine große Hilfe stellt es für den Rechtsanwender dar, wenn er die erforderliche Umstimmung aus einem Zustand innerer Sammlung
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heraus einleiten kann, i n dem er von der Einzelarbeit m i t ihren speziellen Schwierigkeiten vorübergehend Abstand nimmt und neue Vorsätze faßt, die bei Rückkehr i n den Alltag mit seiner Unrast und seinen vielfachen Ablenkungen festgehalten werden. Sofern an der richtigen Stelle angesetzt und eine A r t des Vorgehens gewählt wird, die der jeweiligen Situation gemäß ist, dann lassen sich auf diese Weise manchmal selbst starke Widerstände überwinden. Freilich sind i n solchen Fällen die erzielten Fortschritte nicht unverlierbar. Vielmehr muß damit gerechnet werden, daß fehlerhafte Grundeinstellungen und Denkgewohnheiten, die auszuschalten der Jurist bestrebt ist, trotz der Erfolge, die zu verzeichnen gewesen sind, später wieder die Oberhand gewinnen. Die insoweit gemachten Anstrengungen dürfen jedoch deshalb nicht als vergeblich angesehen werden. Sie stellen vielmehr immerhin eine einigermaßen gefestigte Ausgangsstellung dar, von der aus ungeachtet teilweiser Mißerfolge der Kampf gegen eine bedenkliche Vorwegnahme fortgeführt werden kann. Der Rechtsanwender hat dabei durchaus die Chance, der vorhandenen Mängel Herr zu werden, wenn er seine Bemühungen mit der nötigen Energie fortsetzt. Mitunter kann bereits das Bewußtsein der Gefahr, die von nicht rational überprüften Vororientierungen ausgeht, die Ermittlung und den Abbau unzulänglicher Vor-Urteile erleichtern. Analyse i n sich geschlossener Auffassungszusammenhänge Oftmals handelt es sich bei den i n der geistigen Gesamtausrüstung des Rechtsanwenders enthaltenen vorpositiven Materialien nicht u m mehr oder weniger isolierte Momente, sondern um größere Gedankenkomplexe, die ein gewisses Prinzip oder eine bestimmte Wertansicht zur Geltung bringen und dadurch zum Segen oder Unsegen auf die Rechtsgewinnung einwirken. Der Jurist sieht sich dann gedanklichen Elementen gegenüber, die aufeinander zugepaßt und zu einem umfassenden Denkgefüge verwoben sind. Sie stellen einen aus sich heraus verständlichen Sinnzusammenhang dar, der einer bestimmten Idee dienstbar gemacht ist. A n seinem Zustandekommen hat nicht selten menschliche Initiative absichtsvoll mitgewirkt. Manchmal ist er m i t feinem Gefühl für das Zeitwirksame und unter Ausnutzung der i n den Massen vorhandenen geheimen Sehnsüchte entsprechend hergerichtet worden, u m die Menschen (und nicht zuletzt auch den zur Rechtsfindung berufenen Juristen) i n eine bestimmte Richtung zu lenken. Dabei werden möglicherweise mehr oder minder bedenkliche Auffassungen m i t dem Schein der unbezweifelbaren Richtigkeit umgeben, so daß der durchschnittliche Betrachter ihre eventuellen Mängel gar nicht zu erkennen bzw. nicht richtig zu
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taxieren vermag. Sie sind häufig zu einem festen Bollwerk ausgebaut worden und dadurch gegen kritische Einwände relativ gut geschützt. Meist werden solche manchmal regelrecht bezaubernd wirkenden Ideenzusammenhänge unter dem Stichwort „Ideologie" diskutiert, ohne daß es bisher gelungen wäre, einen einheitlichen, weitgehend anerkannten Ideologiebegriff zu entwickeln. I m einzelnen hat es der Bearbeiter dabei oft m i t der Artikulierung von lebensphilosophischen Grundannahmen allgemeinster A r t zu t u n (oben S. 62 ff.). Doch kommen hier keineswegs nur jene letzten menschlichen Positionen zum Zuge, von denen aus sich für i h n die Welt zu einem Ganzen ordnet, sondern auch die vielen sonstigen Vorwegnahmen, deren er sich bei seinen juristischen Überlegungen bedient; so ζ. B. wirtschaftliche Prinzipien, soziale Modelle, politische Überzeugungen, die i n dieser oder jener Form i n das rechtliche Denken eingegangen sind, oder schließlich Vorentscheidungen, die speziell juristische Probleme betreffen. Zu denken ist bei den letzteren etwa an Auffassungen über die Bedeutung des Rechts innerhalb des Gemeinschaftslebens, über die obersten Ziele der Rechtpflege, über die Hauptmerkmale einer gut organisierten Justiz; über die Art, wie der Rechtsanwender seine berufliche Stellung versteht und wie er den i h m erteilten Rechtsfindungsauftrag deutet. Ferner gehören hierher die Ansichten des Juristen darüber, wie die Forderung nach materieller Gerechtigkeit zu interpretieren ist, welcher Brauchbarkeitsgrad bestimmten methodischen Hilfsmitteln (Logik, systematisches Argument, Interessenabwägung, Zweckdenken) zukommt; was vom Beharren auf einer einheitlichen Arbeitsmethode bzw. vom Ubergang zum Methodenpluralismus zu halten ist usw. Die Hindernisse, die sich dem Rechtsanwender bei der Kontrolle dieser und ähnlicher, i n seine Denkwelt aufgenommener Anschauungsgefüge i n den Weg stellen, sind unter Umständen beträchtlich. Wie erdrückend sie sein können, vermögen meist nur diejenigen richtig zu würdigen, die sich insoweit einer ständigen Selbstbeobachtung unterziehen und jederzeit zur strengen Uberprüfung ihrer eigenen Vorwegnahmen bereit sind 4 9 . Schon die das Selbstgefühl des Bearbeiters noch kaum beeinträchtigende Anfangsüberlegung, was an solchen Denkgebilden als eine mit dem Rechtsgedanken unvereinbare Schwäche i n Frage kommen könnte, 49
A u f die Gefahren, die der Unparteilichkeit des Richters (Rechtsanwenders) durch den Einfluß starker nationalistischer Strömungen drohen, ist von Sachkennern mehrfach hingewiesen worden; besonders ausführlich dazu auf G r u n d umfangreicher Erfahrungen i n der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit Scholz (1955) S. 85 ff. Uber die Unzulänglichkeit der bisherigen Vorurteilsforschung Hattenhauer S. 119 ff.
4. Innere Schwächen der juristischen Lösung u n d ihre K o r r e k t u r
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w i r d möglicherweise durch irgendwelche Voreingenommenheiten irregeleitet. Es zeigt sich dabei, daß auch i m Rahmen solcher skeptischen Untersuchung i m Rechtsanwender tendenziöse, die unparteiliche Erwägung erschwerende Geistesregungen wirksam werden können. Der Jurist ist hier ständig i n Gefahr, durch Blendwerk verschiedenster A r t von seinem Vorhaben abgelenkt zu werden. Die verführerische K r a f t derartiger Gedankenkomplexe bringt es nicht selten dahin, daß sein Streben nach unbefangener Betrachtung durchkreuzt und sein kritischer Sinn umnebelt wird. Für viele Juristen besteht die schwerste Belastung aber darin, daß ihnen beim Bemühen u m die Ausschaltung ideenmäßiger Schwächen kein archimedischer Punkt von der einfachen A r t Halt und Stütze gibt, wie sie i h n sich wünschen. Wenn beim Rechtsanwender i n gewisser Hinsicht Zweifel an der Korrektheit seiner Vorwegnahmen aufkommen, vermag er vielmehr Klarheit oft nur durch ein ganzes Bündel von Erwägungen zu erhalten, für die es ein simples, stets passendes Bearbeitungsschema nicht gibt. A u f Grund genauerer Überlegungen zeigt sich aber, daß auch bei der Prüfung größerer Ideenkomplexe die Gefahr eines Abgleitens i n I r r t u m und Befangenheit nicht allenthalben die gleiche ist. Es kommt für den Bearbeiter darauf an, die einzelnen Lagen zu unterscheiden, damit er seine Kräfte i m Kampf gegen Verblendung und Vorurteil nicht verzettelt, sondern sie richtig einzusetzen vermag. Zu grundsätzlichen Erwägungen ist man i n dieser Hinsicht nur selten durchgedrungen. Das theoretische Interesse war meist ganz durch das Bemühen u m eine Klärung des Ideologiebegriffs absorbiert, das gewiß notwendig erscheint, mit dem allein die schwierige Materie jedoch nicht i n den Griff zu bekommen ist 5 0 . Die kritische Durchleuchtung der bei der juristischen Arbeit zum Zuge kommenden Deutungsmuster hat, wie sich beim Eingehen auf die Einzelheiten sehr bald ergibt, insofern keinen umfassenden Charakter, als sie sich lediglich auf den rechtlichen Aspekt erstreckt, also nur von diesem speziellen Blickpunkt aus vorzunehmen ist. Dabei kann der 50 E i n näheres Eingehen auf das sehr reichhaltige Schrifttum zum Ideologieproblem erscheint i n dem gegebenen Rahmen nicht notwendig. Einen Überblick über den Diskussionsstand ermöglichen die Sammelbände „Ideologie u n d Recht" (1969) hrgg. von W. Maihofer; „Ideologie, Ideologiek r i t i k u n d Wissenssoziologie" (4) 1972, hrgg. durch K . L e n k u n d „Ideologie — Wissenschaft — Gesellschaft" (1976) hrgg. v o n H.-J.Lieber. Bezüglich des Ideologiebegriffs finden sich richtungweisende Erörterungen, die vielleicht geeignet sein könnten, dem verworrenen Sprachgebrauch ein Ende zu bereiten, bei Fechner (1970) S. 218 ff. Es w i r d ferner auf die i m L i t e r a t u r verzeichnis genannten Arbeiten v o n Abendroth (1967), Barion (1964), Emge (1961), W. Geiger (1963), Henkel (1973) u n d Ryffel (1969) hingewiesen, die speziell den juristischen Aspekt berücksichtigen.
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3. Teil: Umgang m i t nichtpositivierten Entscheidungsgrundlagen
Jurist vieles gelten lassen, was i n gewisser Weise vorausgerichtet bzw. durch Inkonsequenzen, Halbheiten, Ubertreibungen gekennzeichnet ist, wenn es nur dem Gedanken des Rechts nicht entgegensteht. Unter den ideologisch beeinflußten Anschauungskomplexen gibt es viele, die der Durchsetzung des rechtlichen Gesichtspunkts keinen Eintrag tun und deren Begradigung daher nicht Aufgabe des Juristen sein kann. Zuweilen enthalten sie ungeachtet ihrer Einseitigkeit wesentliche Bestandteile des zeitgenössischen Denkens. Unter Umständen fassen sie geradezu die wichtigsten Uberzeugungen einer ganzen Nation zusammen. Nicht selten dienen sie der Befriedigung von legitimen A n liegen großer Menschenmassen. Oftmals ist dann das gesamte Geistesleben auf sie so sehr abgestimmt, daß auch der Jurist sich von ihnen beeinflussen lassen kann. Häufig würde i h m die für seine Arbeit notwendige Verbindung m i t der Wirklichkeit verloren gehen, wenn er sich ganz und gar von ihnen distanzieren wollte. Durch Vorurteile, die i n der gesetzlichen Regelung enthalten sind, braucht sich der Rechtsanwender ohnehin nicht beunruhigt zu fühlen; sie können ihm, soweit die gesetzliche Bindung reicht, schwerlich als Fehler angerechnet werden, selbst wenn gegen sie gewisse Einwendungen möglich sind. Es kann dem Juristen vielfach auch nicht zum V o r w u r f gemacht werden, wenn ein von i h m akzeptiertes Anschauungsgefüge sich als ungerechtfertigte Verallgemeinerung von Teilaspekten darstellt; wenn es also partielle Wahrheiten zu einem Zentralpunkt macht und als der Weisheit letzten Schluß ausgibt, sofern nur die dadurch entstehenden Verzeichnungen vom rechtlichen Standpunkt aus als harmlos und gutartig anzusehen sind. Bisweilen können gute Gründe für die innere Berechtigung eines einseitig strukturierten Denksystems vorliegen; so etwa, wenn die Schieflastigkeit lediglich den nach dem Gesetz des Pendelschlags notwendigen Ausgleich von vorausgegangenen Ubertreibungen entgegengesetzter A r t darstellt. Nicht selten ergibt sich auch sonst, daß tendenziöse Vorstellungen und Ansichten i n der historischen Situation, i n der sie sich geltend machen, durchaus positiv zu bewerten sind. Unter Umständen tragen sie gerade durch ihre Schmälspurigkeit Zeiterfordernissen, die rechtlich anzuerkennen sind, Rechnung. Zuweilen sind sie sogar hervorragend geeignet, allgemeine psychische Engpässe überwinden zu helfen oder i n anderer Weise sachdienliche Wirkungen hervorzurufen, so daß der Rechtsanwender, i n dessen geistige Grundausstattung sie eingegangen sind, ihnen bei der rechtlichen Betrachtung Raum geben darf. Andererseits können solche i m Juristen vorhandenen Ideenzusammenhänge, wenn sie den vom Rechtsgedanken her zu stellenden Anforde-
5. Differenzierende Erörterung einzelner Problemkreise
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rungen nicht genügen-, die Arbeit i m gesetzesfreien Bereich nachteilig beeinflussen. Sie sind imstande, die Auffindung des rechtlich Angemessenen erheblich zu erschweren. Der geistige Zwang, der von fragwürdigen Gedankenverflechtungen bestimmter A r t mitunter ausgeht, führt leicht dahin, daß dem Bearbeiter die Anfechtbarkeit der unter ihrer Assistenz erarbeiteten Rechtsauffassung nicht zum Bewußtsein kommt. Er nimmt dann manchmal bestimmte rechtlich erhebliche Momente gar nicht wahr oder vermag sie nicht zutreffend einzuschätzen. Er w i r d weitgehend gleichgültig gegenüber der Disharmonie, die auf Grund ideologischer Verzerrungen i n sein Rechtsfindungsergebnis hineingekommen ist und unternimmt deshalb vielleicht nicht einmal den Versuch, dessen offenbaren Mängeln abzuhelfen. Zuweilen ist i n einem fest verklammerten Zusammenschluß gedanklicher Elemente Richtiges und Verkehrtes, Maßvolles und Übertriebenes so miteinander verbunden, daß es einige Anstrengungen kostet, das für die rechtliche Erwägung Brauchbare vom Wertlosen zu trennen. Die Hauptaufgabe des Bearbeiters besteht dann darin festzustellen, ob sich die akzeptablen Teilstücke aussondern lassen und ob ihnen, nachdem dies geschehen ist, ihre ordnende K r a f t i n solchem Maß erhalten bleibt, daß sich ihre Verwendung innerhalb des rechtlichen Bereichs lohnt. Nicht selten geht nach Isolierung der unverfänglichen Bestandteile die faszinierende Wirkung, die der Ideenzusammenhang i m ganzen besaß, so weit verloren, daß diese Relikte zur Rechtsfindung nichts Wesentliches mehr beitragen können. Aber wie i n dieser Hinsicht das Ergebnis der Analyse auch ausfallen mag — stets w i r d es der juristischen Arbeit zugute kommen, wenn ein insgesamt oder doch zum Teil fragwürdiges Denkgefüge durch Zerlegung seiner verführerischen Eindrucksgewalt beraubt w i r d und dann mit Erfolgsaussicht auf seine Solidität untersucht werden kann. 5. Differenzierende Erörterung einzelner Problemkreise Gegenwartsbezogenheit der Rechtsfindungsbemühungen Das bisher über den Umgang m i t vorpositiven Richtmitteln Gesagte bedarf, ehe es i m Einzelfall von Nutzen sein kann, i n vielfacher Hinsicht der Konkretisierung, die i n der Hauptsache vom Rechtsanwender vorgenommen werden muß. Die Theorie vermag i h m angesichts der großen Zahl von Gesichtspunkten, die für die rechtliche Betrachtung wesentlich werden können, diese Mühe nicht abzunehmen. Doch sollen i m folgenden noch einige wichtige Fragenkomplexe genauer aufbereitet werden, u m beispielhaft zu veranschaulichen, i n welcher Weise die vom Rechtsanwender zu leistende Weiterarbeit etwa vor sich gehen könnte.
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3. Teil: Umgang m i t nichtpositivierten Entscheidungsgrundlagen
Dabei wird, an die früheren Erörterungen anknüpfend, auf die Problemkreise zurückgegriffen, mit deren Zurichtung bereits begonnen worden war, nämlich auf die Tendenz zu vordringlicher Beachtung von Gegenwartsmomenten und zur Berücksichtigung der besonderen Fallgestaltung, sowie auf die mit der Verwendung des sozialen Gesichtspunkts zusammenhängenden Spezialfragen. Häufig ist das jeweils Aktuelle, soweit es i m Rahmen der rechtlichen Erwägung bedeutsam werden kann, bereits i n der gesetzlichen Regelung enthalten. Seine Beachtung erscheint dann infolge der Gebundenheit des Rechtsanwenders an das Gesetz hinreichend gesichert. Bisweilen sind jedoch gewisse, der unmittelbaren Gegenwart zu entnehmende Bestimmungsmomente, die für das Zustandekommen der angemessenen Lösung notwendig zu sein scheinen, i m Gesetz nicht zu finden. Es bedarf dann der Überlegung, ob sie gleichwohl zu berücksichtigen oder ob sie außer Betracht zu lassen sind 5 1 . Daß solche aktuellen Momente nur i n den durch das Grundgesetz gezogenen Leitlinien zur Geltung kommen können, w i r d sich nach dem bisher Gesagten von selbst verstehen. Diese Grundlinien haben jedoch vielfach keine endgültig determinierende Wirkung, sondern lassen vieles offen. Daraus können sich mancherlei Zweifelsfragen ergeben. Früher brauchte der Rechtsanwender sich durch das i m Kommen befindliche Neue nicht beeindrucken zu lassen. Die Anpassung an die Gegenwartserfordernisse stellte kein Problem dar, das i h n sonderlich hätte beunruhigen müssen, während es i h m heute schwer zu schaffen macht und ihn unausgesetzt i n Atem hält. Daß gedankliche Elemente, die der Gegenwart entstammen, unter Umständen wesentlich zur j u r i stischen Beurteilung beitragen können, ist i m Schrifttum weitgehend anerkannt. Vorpositive Bezugspunkte dieser A r t w i r k e n bei der Rechtsfindung legitim mit. Oftmals bilden sie einen unentbehrlichen Bestandteil der rechtlichen Überlegungen. „Richtig" kann nach den herrschenden Vorstellungen eine juristische Entscheidung nur sein, wenn sie den Anschluß an die Hauptgrundlagen des Gegenwartsdenkens herstellt. Der Bearbeiter befindet sich demgemäß heute i n ständiger Fühlungnahme nicht nur m i t dem Gesetz, sondern auch m i t neuen Geistesströmungen, die die herkömmlichen Gerechtigkeitsanschauungen zu modifizieren trachten. Er stößt bei seinen Rechtsfindungsbemühungen immer wieder auf das noch nicht Dagewesene, auf das erst i n der Entstehung begriffene Unbekannte, von dem trotz seiner beträchtlichen SuggestivRolf Bär, Zeitgemäßes Recht (1973); Emge, Das A k t u e l l e (1935); Engisch (1968) S. 85 ff.; F. Müller, N o r m s t r u k t u r u n d N o r m a t i v i t ä t (1966); Wieacker, W i r k l i c h k e i t u n d Gerechtigkeit (1962).
5. Differenzierende Erörterung einzelner Problemkreise
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kraft zunächst nicht sicher gesagt werden kann, ob es zu den rechtlichen Überlegungen etwas Wesentliches beizutragen vermag. Zeitnahe Gesichtspunkte können auf sehr unterschiedlicher Grundlage rechtlich bedeutsam werden. Großenteils gehen sie auf reale Veränderungen der menschlichen Lebenssphäre zurück, die zugleich wichtige psychologische Wirkungen hervorrufen. Dabei ist etwa an Umgestaltungen der natürlich gewachsenen Landschaft durch Eingriffe von Menschenhand zu denken; an die Zusammendrängung der Bevölkerungsmassen i n den Großstädten m i t den sich daraus ergebenden Folgen; an die Überflutung des modernen Menschen m i t einer Fülle von Eindrücken, die er nur noch sehr oberflächlich zu verarbeiten vermag usw. Vielfach hängt das Aufkommen neuer zeitwichtiger Gesichtspunkte und Maßstäbe unmittelbar m i t der fortschreitenden technischen Entwicklung zusammen, die uns eine zunehmende Arbeitsteilung sowie einen wachsenden Leistungsdruck und viele andere Veränderungen gebracht hat. I n mancher Hinsicht wandeln sich heute die Grundlagen des Gemeinschaftslebens und die Daseinsformen der Einzelmenschen so stark, daß das Recht darauf Rücksicht nehmen muß. Teilweise stehen aktuelle, vom Bisherigen abweichende Anschauungsweisen m i t umf assenden geistigen Bewegungen i n Verbindung, die ihrerseits wieder durch Veränderungen der realen Umwelt hervorgerufen worden sein können. Man braucht dabei nicht einmal an allgemein bekannte und vielfach diskutierte gesellschaftliche Phänomene wie die Studentenrevolten und die Hippiebewegung zu denken, obwohl sie u. U. ebenfalls i n das vom Rechtsanwender zu beurteilende Geschehen hineinragen. Vielmehr hat sich der Blick hier auch auf schwerer faßbare Strömungen zu richten, wie sie etwa das stark hervortretende Verlangen nach existentieller Sicherheit und die wachsende Neigung zum Lebensgenuß darstellen. I n diesen Zusammenhang gehört ferner die unbefangenere Wertung der sexuellen Regungen, für die das reformierte Sexualstrafrecht nur ein Symptom bildet; desgleichen die gewandelte Auffassung über das Wesen der Ehe und das rechte Verhältnis der Ehepartner zueinander, der viele Gerichte bereits, lange bevor der Gesetzgeber sich zu einer Reform entschloß, Rechnung getragen haben. Auf der gleichen Entwicklungslinie liegt der i n vielen Lebensbereichen bemerkbare Wandel der ethischen Grundüberzeugungen, wie er unter anderem i n den toleranter gewordenen Anschauungen über die korrekte Dienstauffassung des Beamten erkennbar geworden ist. Es ließe sich i m einzelnen nachweisen, i n wie weitem Umfang die neuzeitliche Rechtsprechung solche Entwicklungen i n die rechtliche Erörterung einbezieht und entsprechend be-
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rücksichtigt. Vielfach finden sie auch dort i n die juristische Arbeit Eingang, wo i n der Urteilsbegründung nichts davon zu finden ist. Selbst diejenigen, denen ihrer Gesamthaltung nach eine gegenwartsorientierte Betrachtungsweise einigermaßen fernliegt, können sich dem Einfluß dieser Tendenz nicht völlig entziehen. Der Jurist ist nach alledem gehalten, bei der Arbeit i m gesetzesfreien Raum neben den traditionellen Denkansätzen auch die i n der Gegenwart wirksamen Geistesrichtungen abweichender A r t i m Auge zu behalten. Er ist i n den i h m durch seine Aufgabe gezogenen Grenzen darauf angewiesen, seiner Zeit den Puls zu fühlen 5 2 . Von i h m w i r d erwartet, daß er darauf Acht hat, wo Neues, das möglicherweise den Fortgang des gesellschaftlichen Geschehens bestimmen wird, sich ankündigt 5 3 . I n concreto geht die den Rechtsanwender vor allem i n Anspruch nehmende Frage dahin, ob er auf bestimmte, für das Hier und Jetzt charakteristische Strömungen eingehen soll oder ob sie bei der Rechtsfindung außer Betracht zu lassen sind. Bisweilen kommt der Bearbeiter dabei i n Gefahr, aus der Scylla i n die Charybdis zu geraten. Er w i r d unter Umständen leicht dazu verführt, sich von der Anziehungskraft neuartiger Zeittendenzen über Gebühr hinnehmen zu lassen, kann aber andererseits auch dadurch das Rechte verfehlen, daß er neue, positiv zu bewertende Geistesrichtungen nicht als solche erkennt. Mitunter fehlt dem Juristen insoweit ein brauchbares Kriterium, an das er sich halten könnte. Der oft plausibel klingende Grundsatz, daß, was zum Gegenwartsdenken und damit zur Lebenswirklichkeit i n W i derspruch steht, nicht richtig sein könne, vermag zwar bei vorsichtiger Handhabung gelegentlich hilfreich zu sein 5 4 ; aber er stellt i n so allgemeiner Fassung keine verläßliche Regel dar. Von i h m ist es zudem nur noch ein kleiner Schritt zu der bedenklichen Maxime, daß man lediglich die Lebenswirklichkeit oder schlechthin das Leben i n die rechtliche Erörterung zu übernehmen brauche, u m des richtigen Weges sicher zu sein. So einfach liegen die Dinge jedoch nicht. Vielmehr ist jeweils zu erwägen, ob sich i n der Realität und i n den allgemeinen Anschauungen eine grundlegende Neuorientierung abzeichnet, der auch juristisch Rechnung getragen werden muß oder ob das, 52 Darauf, daß die Berücksichtigung des der Zeit Entsprechenden nicht zu einem billigen Opportunismus zu führen braucht, hat Luhmann, Soziologische A u f k l ä r u n g (1970) S. 185 m i t Recht aufmerksam gemacht. 53 Streißler (1967) S. 40 bezeichnet Reflektionen dieser A r t u n d insbesondere die Überlegung, welcher der unterschiedlichen Auffassungen „die Z u k u n f t gehört", zutreffend als gefährlich. Wo sich der Fallbearbeiter ihnen nicht zu entziehen vermag, k o m m t daher alles darauf an, daß er m i t Besonnenheit u n d Vorsicht zu Werke geht. 84 BVerfGE Bd. 7 S. 401.
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was als etwas der Gegenwart Eigentümliches erscheint, i n seinem wesentlichen Kern von den herkömmlichen juristischen Anschauungen bereits m i t umfaßt ist und i n der bisher üblichen Weise aufgearbeitet werden kann. Zuweilen hat der Rechtsanwender schon sehr bald eine A r t Vorgefühl, das einen sich vollziehenden Umschwung zutreffend signalisiert. I n anderen Fällen ergibt sich erst nach vielfach wiederholter Konfrontation mit dem neuartigen Element einige Sicherheit darüber, ob eine so grundlegende Wandlung der Gesamtsituation stattgefunden hat, daß eine Änderung der bisherigen rechtlichen Betrachtungsweise notwendig wird. Die traditionellen Maßstäbe verschieben sich mitunter zunächst nur wenig, so daß die i n den allgemeinen Auffassungen vor sich gehende Veränderung selbst bei angespannter Aufmerksamkeit kaum erkennbar ist. Bisweilen scheint es so, als würde die landläufige Meinung lediglich i n Einzelheiten konsequenter ausgestaltet, während tatsächlich i m alten Gewände etwas bisher Unbekanntes zur Geltung kommt. Infolgedessen bleibt möglicherweise die Tatsache, daß Veränderungen wichtigster A r t i m Gange sind, längere Zeit verborgen, bis schließlich das Vorliegen von etwas Neuartigem offenkundig wird. Der Rechtsanwender merkt dann erst nachträglich, daß er die Lage nicht richtig gedeutet und das Neue nicht rechtzeitig als solches erkannt hat; oder er w i r d umgekehrt verspätet gewahr, daß er dort etwas grundsätzlich Neues vermutet hat, wo (wenn auch i n ungewohnter Einkleidung) lediglich Altbekanntes vorliegt, dem von der bisherigen Ausgangsposition her Rechnung getragen werden kann. Wo zweifelhaft bleibt, ob sich i n den realen Zuständen und i n den auf ihnen basierenden Anschauungen eine die rechtlichen Überlegungen beeinflussende Entwicklung vollzogen hat, w i r d der Rechtsanwender, falls sich nicht aus besonderen Gründen ein wagemutiges Vorgehen rechtfertigen läßt, Anlaß zur Zurückhaltung haben. Er w i r d dann regelmäßig bei den bisherigen Anknüpfungspunkten stehen bleiben bzw. sich m i t kleinen Begradigungen behelfen müssen. Die bedingungslose Anerkennung dessen, was auf den ersten Blick als das Erfordernis der Zeit oder als das Gebot der Stunde erscheint, kann keinesfalls als die richtige Grundhaltung angesehen werden 5 5 . Nicht selten dient der Jurist dem Recht besser, wenn er den Tendenzen, die i h m als dringendes Gegenwartserfordernis präsentiert werden, nicht allzu bereitwillig nachgibt. Obwohl er den unabweisbaren Notwendigkeiten der Zeit Rechnung zu tragen hat, steht es i h m nicht gut an, wenn er das, was von irgendeiner Seite dafür ausgegeben wird, ohne weiteres für bare Münze nimmt. I h m obliegt vielmehr, gewissen55 Rüthers
(1970) S.55; Heldrich
(1974) S. 286.
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haft zu prüfen, ob und inwieweit auf die zeitnahen Gesichtspunkte Rücksicht zu nehmen ist. Die vom Rechtsanwender i m Rahmen einer gegenwartsbezogenen Justizpflege zu leistende Arbeit läßt sich durch näheres Eingehen auf die bei der Rechtsfindung oftmals erforderliche (indirekte) Stellungnahme zu neu aufkommenden geistigen Bewegungen weiterhin veranschaulichen. Handelt es sich dabei u m Zeittendenzen destruktiver A r t , dann liegt die Hauptschwierigkeit meist darin, richtig zu taxieren, ob sie die Substanz des Volkskörpers angreifen und voraussichtlich zu einer besorgniserregenden Schwächung der inneren Kräfte führen werden. W i r sind bei der Bejahung solcher Fragen i n neuerer Zeit vorsichtiger geworden. Der Jurist erkennt meist sehr wohl, daß manches, was auf den ersten Blick für die Allgemeinheit verhängnisvoll und zersetzend zu sein scheint, diese Charakterisierung nicht oder doch nicht i n solchem Maße verdient, daß m i t harten rechtlichen Sanktionen durchgegriffen werden müßte. Er pflegt einzusehen, daß die Beurteilungen, die das vom Obrigkeitsgeist früherer Zeiten erfüllte Denken für solche Fälle vielfach noch bereit hält, heute oft nur m i t starken Einschränkungen als zutreffend betrachtet werden können. Dadurch w i r d die dem Rechtsanwender aufgegebene Würdigung jedoch keineswegs erleichtert. Vielmehr ergeben sich gerade von dieser liberaleren Ausgangsposition her vielerlei Zweifel. Meist sind daher spezielle, dem Fall angepaßte Erwägungen darüber nötig, ob bestimmte Anschauungen und Entwicklungen, die antidemokratisch oder auf andere Weise anstößig erscheinen, i n der Tat den Interessen der Allgemeinheit i n hohem Grade abträglich sind. Nicht alles, was zunächst starke Bedenken hervorruft, kann ohne weiteres als inhaltlich wertlos betrachtet werden. Oft ist auch die Befürchtung, daß bestimmte Tendenzen zur Auflösung jeder Ordnung führen müßten, unbegründet. Manche Zeiterscheinungen, die fürs erste einen stark chaotischen Eindruck machen, verlieren bei genauerer Erwägung ihren wenig vertrauenswürdigen Charakter. Manchmal stellen bestimmte Formen des Aufbegehrens nur die berechtigte Reaktion auf vorhandene Mißstände i m Gemeinwesen dar. Unter Umständen ist i n solchen Regungen auch ein positives Element enthalten, das ihre Bewertung günstig beeinflußt. Mitunter bilden sie geradezu die notwendige Vorbereitung für eine Verbesserung des gegenwärtigen Zustands, so daß sie von Rechts wegen nicht zu bekämpfen, sondern zu tolerieren oder regelrecht zu fördern sind.
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Auch sonst gibt es mancherlei Beispiele dafür, daß Gedankenrichtungen, die ursprünglich als eine schwere Belastung für das Gemeinwesen aufgefaßt worden waren, später beifälliger beurteilt, vielleicht sogar als fruchtbar und segensreich anerkannt werden mußten. I m einzelnen sind vielerlei Zweifel möglich. Bisweilen ist zunächst gänzlich unklar, ob die ins Auge gefaßten Bestrebungen imstande sein werden, einen brauchbaren Beitrag zur Vervollkommnung des gegenwärtigen Zustands zu liefern. Der Rechtsanwender versucht mitunter vorerst vergeblich, Gewißheit darüber zu erhalten, wie eine bestimmte Bewegung mit ihren freigeistigen Anschauungen oder ihrer Abkehr von den herkömmlichen Grundsätzen der Lebensführung unter rechtlichen Gesichtspunkten richtig zu würdigen ist. I h m erscheint zuweilen zweifelhaft, ob eine Entwicklung, die zunächst nur Unruhe und Verwirrung stiftet, jemals zur Herbeiführung geordneter Zustände dienlich sein wird. Manchmal fragt es sich auch, ob die i n der Rechtsgemeinschaft vorhandenen Kraftreserven so stark sind, daß die zu erwartenden destruktiven Wirkungen aufgefangen und unschädlich gemacht werden können; ob die betreffende Entwicklungstendenz etwa auf eine i m Volkscharakter begründete oder durch die Zeitumstände geschaffene besondere Anfälligkeit der breiten Massen trifft, so daß es an den natürlichen Abwehrkräften zur Uberwindung entstehender Schwierigkeiten fehlt usw. Oftmals bildet die ausgesprochene Ambivalenz einer Bewegung das Haupthindernis für die verläßliche Beurteilung. I h r haftet unter Umständen ein Moment der Unentschiedenheit und Undurchsichtigkeit an, so daß sich schwer abschätzen läßt, was i n ihr steckt und wie sie sich entfalten wird. Der Fallbearbeiter weiß nicht, ob sie zum Ausgleich der Gegensätze beitragen oder zur Verschärfung der Spannungen führen, ob sie zu fruchtlosen Auseinandersetzungen Anlaß geben bzw. sonstige, dem Gesamtinteresse nachteilige Wirkungen hervorrufen wird. Es besteht nicht selten Ungewißheit darüber, welche Kräfte das sich bahnbrechende Neue zu entfesseln vermag und welcher Zuchtlosigkeit bzw. Mißwirtschaft es möglicherweise die Wege ebnen kann. Der Rechtsanwender fragt sich mitunter vergeblich, wie bestimmte Einflüsse, wenn sie sich erst einmal durchgesetzt haben, auf den Fortgang der Dinge wirken werden. Er ist i n solchen Fällen genötigt, sich unter sehr ungünstigen Umständen m i t dem weitgehend Unberechenbaren angemessen auseinanderzusetzen. Teilweise erleichtert es i h m die richtige Einschätzung, wenn sich wenigstens mit einiger Wahrscheinlichkeit ermitteln läßt, welchen Tiefgang die zu beurteilende Strömung besitzt; ferner wenn leidlich taxiert 1
Döhring
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werden kann, ob sie sich noch weiter ausbreiten w i r d oder ihre Stoßkraft zum größten Teil bereits verbraucht und den Höhepunkt ihrer Wirkung überschritten hat. Nicht selten gehört große Besonnenheit dazu, u m i m Aktuellen das Gesunde und Lebenstüchtige vom Angekränkelten und Abgelebten zu unterscheiden. Der Verfasser hat jedenfalls zuweilen deutlich die Schwierigkeit solcher Beurteilungen empfunden und die i n Betracht kommenden Gegenwartsmomente nicht allzeit richtig einzuschätzen vermocht. Mitunter bedarf es eines gewissen Zuwartens, ehe erkennbar wird, was von einem vorerst zwiegesichtigen sozialen Phänomen zu halten ist. Es bleibt dann nichts übrig, als es für eine gewisse Übergangszeit zu tolerieren und abzuwarten, wie es sich fentfalten und wann es sein wahres Gesicht enthüllen wird. Freilich kann das für den Rechtsanwender kein Anlaß zu bequemem Ausruhen sein. Vielmehr bedarf es gerade i n solchen Fällen der fortdauernden konzentrierten Aufmerksamkeit darauf, welche Indizien für und wider sich i n der Folgezeit ergeben. Manchmal erscheint eine neue Bewegung, an rechtlichen Maßstäben gemessen, anfangs i n günstigem Licht und daher einer wohlwollenden Beurteilung wert, während nach und nach ihre Fragwürdigkeit immer deutlicher hervortritt. Es kommt dann vor allem darauf an, rechtzeitig den Punkt zu erkennen, an dem die ursprünglich vielversprechenden Bestrebungen ins Negative umschlagen. Wenn umgekehrt eine vom rechtlichen Blickwinkel aus zunächst ungünstig beurteilte Strömung sich nachträglich als unbedenklich erweist, so kann dies darauf beruhen, daß sie sich vorteilhaft weiterentwickelt hat oder auch darauf, daß sie zu einem späteren Zeitpunkt i n eine gewandelte Umwelt besser hineinpaßt als vorher. Mitunter haben sich innerhalb der Rechtsgemeinschaft auch Verständnismöglichkeit und Aufnahmebereitschaft für gewisse Neuerungen, die zunächst schockierend wirkten, inzwischen so weit gebessert, daß diese nunmehr auf wesentlich günstigere sozialpsychologische Bedingungen treffen. Wenn durch eine derartige Tendenz wohletablierte Auffassungen entschieden negiert werden, dann bedarf es unter Umständen der Uberlegung, ob gleichwohl der kontinuierliche Ubergang vom traditionellen Denken zu den stark abweichenden progressiven Anschauungen einigermaßen gewährleistet erscheint. Manche Juristen nehmen dabei einen sehr engherzigen Standpunkt ein. Andererseits ist man dagegen teilweise wieder von einer nicht zu rechtfertigenden Gutgläubigkeit beherrscht. Vielfach besteht der Haupteinwand gegen die rechtliche Anerkennung von etwas Neuem darin, daß bei einer Abstandnahme von der herkömmlichen Auffassung kein hinreichend durchgebildeter und aus-
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gereifter Ideenzusammenhang vorhanden sei, der an ihre Stelle treten und das Leben i n geordneten Bahnen halten könne. Der Rechtsanwender hat dann möglichst unvoreingenommen zu erwägen, ob es voraussichtlich gelingen wird, das beim Aufgeben der bisherigen Denkweise entstehende geistige Vakuum i n absehbarer Zeit angemessen auszufüllen, d. h. ob die Allgemeinheit imstande sein wird, die Periode der Umstellung improvisierend zu überbrücken, ohne daß ernste Schädigungen zu erwarten sind. Anders gefaßt lautet die sich dem Bearbeiter stellende Frage dahin, welches Maß an Unsicherheit die große Mehrheit der Rechtsgenossen i n der fraglichen Hinsicht zu ertragen vermag, ohne daß sie allzu stark verstört, entmutigt und von Ratlosigkeit ergriffen wird. Es gilt zu überlegen, ob bei den Betroffenen i n der kritischen Ubergangszeit soviel Standvermögen und Einsatzbereitschaft, soviel geistige Beweglichkeit und natürlicher Instinkt vorhanden ist, daß das in gewisser Weise gefährliche Zwischenstadium ohne sonderliche Schwierigkeiten überwunden werden kann. Der Rechtsanwender muß dabei zu ergründen versuchen, a) wieviel die i n Betracht kommenden Personengruppen zur Aufrechterhaltung befriedigender Zustände beizutragen vermögen, d. h. wie groß ihre potentielle Leistungsfähigkeit i n dieser H i n sicht ist; b) i n welchem Umfang sie — gegebenenfalls auf Grund von unterstützenden Maßnahmen bestimmter A r t — voraussichtlich bereit sein werden, ihre Kräfte zur Uberwindung der unvermeidlichen Disharmonien und Friktionen einzusetzen; c) welcher Endeffekt sich i m Zusammenwirken der fördernd und hindernd beteiligten Faktoren m i t Wahrscheinlichkeit ergeben wird. Der Umstand, daß der Rechtsanwender dabei vielfach nicht über Vermutungen hinauszukommen vermag, befreit ihn nicht von der Pflicht zu sorgfältiger Erwägung unter Heranziehung aller erreichbaren Hilfsmittel. Falls solcherart kein hinreichend positives Ergebnis zustandekommt, ist für den Bearbeiter Zurückhaltung angebracht. Er hat dann oft keine andere Wahl als abzuwarten und zu beobachten, ob sich nicht durch den Fortgang des Geschehens die Verhältnisse m i t der Zeit so gestalten, daß der — gegebenenfalls stufenweise — Ubergang zu dem aufkommenden Neuen gewagt werden kann. Vielleicht leuchtet es nicht jedermann sogleich ein, daß der Jurist bei der Rechtsfindung jemals zu Beurteilungen, wie sie vorstehend umschrieben worden sind, genötigt sein könnte. Gleichwohl w i r d man m i t der Zeit einsehen müssen, daß grundsätzliche Erwägungen dieser A r t , wenn auch häufig nur verschämt hinter legalistischen oder dogma12"
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tisch-begrifflichen Umhüllungen versteckt, oftmals angestellt werden und daß der Rechtsanwender, nachdem sie an Bedeutung ständig gewonnen haben, mehr und mehr gezwungen ist, über sie nicht nur nebenher nachzudenken, sondern sie zum Gegenstand eindringender Erwägungen zu machen. Das juristische Schrifttum hat dem zunehmend Rechnung zu tragen. Unabhängig davon, wie die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um eine Annäherung des juristischen Denkens an die Nachbarwissenschaften ausgehen, dürfte die Zeit nicht mehr allzu fern sein, wo i n den Text unserer Lehrbücher und Gesetzeskommentare sozialwissenschaftliche Darlegungen i n einer auf den Bedarf des Juristen zugepaßten Form eingebaut werden. Einzelfallgerechtigkeit Mitunter hat der Rechtsanwender, obwohl der i m Gesetz festgelegte Tatbestand i n jeder Hinsicht erfüllt ist, starke Zweifel, ob angesichts der speziellen Fallgestaltung auf die gesetzlich normierte Rechtsfolge erkannt werden darf. Er muß sich dann darüber schlüssig werden, ob die i h m vorliegende Streitsache gleichwohl routinemäßig zu bearbeiten oder ob sie m i t Rücksicht auf ihre Eigenart einer Sonderbehandlung zu unterwerfen ist. Die Tendenz zur Einzelfallgerechtigkeit wurde bereits als ein Grundzug der neueren Rechtsfindungsweise erkannt und gewürdigt (oben S. 20 ff.). Nunmehr soll daran anknüpfend noch auf die Frage nach der inneren Berechtigung des Bemühens u m eine individualisierende Rechtsgewinnung näher eingegangen werden. Sucht man dabei zunächst die Entstehungsgründe für diesen Entscheidungsgesichtspunkt zu ermitteln, dann richtet sich die Aufmerksamkeit auf seinen früher schon angedeuteten engen Zusammenhang m i t dem herzhaften Streben nach Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit. Wenn der Jurist, von dem heute eine der jeweiligen Sachgestaltung gemäße Entscheidung erwartet wird, diese weder mit Hilfe des Gesetzes noch auf Grund von allgemeinen Orientierungspunkten außergesetzlicher A r t zu finden vermag, dann ermöglicht i h m der Rekurs auf die speziellen Umstände des Falles oftmals einen Ausweg aus den Schwierigkeiten; insbesondere dort, wo sich widersprechende Grundannahmen unversöhnlich gegenüber stehen, kann der Durchgriff auf die besonderen Umstände den Bearbeiter gegebenenfalls aus seiner bedrängten Lage befreien. Für den Rechtsanwender, der aus der Sphäre des bloß persönlichen Dafürhaltens herauskommen möchte und nach einem allerseits einleuchtenden Bestimmungsmoment fahndet, erweist sich das Abstellen auf Gesichtspunkte, die der speziellen Sachlage entnommen sind, nicht selten als eine Hilfe aus größter Verlegenheit.
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Daraus erklärt sich zum guten Teil das entschiedene Eintreten vieler Praktiker für eine individualisierende Beurteilung, von deren Unentbehrlichkeit sie sich i n der Alltagsarbeit ständig haben überzeugen können 5 6 . Für nicht wenige von ihnen stellt die These, daß unter Umständen auch der Gestaltung des jeweiligen Falles Rechnung getragen werden müsse, geradezu eine A r t Glaubensartikel dar. Mitunter meint man sogar, daß i n dieser Hinsicht nicht leicht zuviel getan werden könne 5 7 . M i t dem Hinweis auf das dringende Verlangen der Rechtsgenossen nach materieller Gerechtigkeit allein läßt sich jedoch dieser Trend nicht erklären. Mitsprechen dürfte vielmehr auch das weit verbreitete Mißtrauen gegen Abstraktionen, die als allzu freischwebend und w i r k lichkeitsfern empfunden werden 5 8 . Es fehlt, wie bereits dargelegt, heute oftmals die früher vorhanden gewesene feste Zuversicht, daß die Gesetzesnorm i n der Lage sein werde, die Vielzahl der vom Leben hervorgebrachten Sachgestaltungen befriedigend zu ordnen. Maßgeblich beigetragen hat aber zum Vordringen der individualisierenden Tendenz neben den genannten Gründen w o h l auch die zunehmende Unsicherheit des allgemeinen Vorrats an Grundanschauungen, auf den der Jurist bei der Arbeit i n der gesetzesfreien Region aufzubauen genötigt ist. Sie hat i h n des festen Rahmens, i n dem sich früher seine Arbeit vollzog, zum Teil beraubt; sie zwingt den Rechtsanwender, auf der Suche nach plausiblen Bestimmungsmomenten seine Zuflucht zu den besonderen Umständen des Falles zu nehmen, die oft noch am ehesten eine für jedermann akzeptable Lösung ermöglichen. Es zeigt sich hier bereits, daß die geistigen Fundamente, auf denen das Streben nach Fallgerechtigkeit beruht, ihrer Herkunft nach ungleichartig und wahrscheinlich auch von sehr unterschiedlicher Wirkungsdauer sind. Während für die beiden ersterwähnten Ursachen i n den seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmenden realistischen Unterströmungen ein gemeinsamer Nenner gefunden werden könnte, scheint das seit dem Beginn der Neuzeit bemerkbare Dahinschwinden allseitig anerkannter Denkgrundlagen zeitlich, aber auch inhaltlich einen umfassenderen Charakter zu haben. Ob die Neigung zur individuellen Gerechtigkeit eine Dauererscheinung darstellt, darüber läßt sich eine sichere Voraussage kaum machen. s β Ad. Arndt (1963) S. 1283; Rieh. Schmid S. 23; Hartnack (H.J.Bull) S. 75, 78. 57 Eine extreme Variante dieser Auffassung v e r t r i t t G. Cohn, Existenzialismus u n d Rechtswissenschaft (1955) S. 47 ff. 58 Diederichsen spricht S. 49 m i t dem Blick auf die gegenwärtige Neigung zur Fallgerechtigkeit u. a. von der „modernen Unfähigkeit zur Abstraktion". Weitere Deutungsversuche bei Werner S. 154 u n d Heusinger S. 70 ff.
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Doch muß bedacht werden, daß sie aus einer höchst komplizierten, zur Zeit nur undeutlich erkennbaren Gesamtlage hervorgegangen ist, an deren Zustandekommen neben den genannten Ursachen wahrscheinlich noch weitere Momente mitgewirkt haben. Sie kann i n ihrer gegenwärtigen Gestalt daher nur solange aufrecht erhalten bleiben, als die verschiedenartigen Voraussetzungen weiterbestehen, auf denen sie beruht. Freilich scheint es so, als wenn diese Tendenz die nahe Zukunft noch bestimmen w i r d ; zum mindesten hat sich die i n den fünfziger Jahren mehrfach geäußerte Vermutung, daß sie sehr bald zum Abklingen kommen werde, nicht bewahrheitet. Die ziemlich heterogenen Entstehungsgrundlagen des Trends zur individualisierenden Rechtsfindung deuten darauf hin (und darin liegt bereits ein gewisses Ergebnis der bisherigen Überlegungen), daß w i r es hier mit einer Entwicklungsrichtung zu tun haben, die insgesamt betrachtet nichts schlechthin Zwingendes an sich hat. Der Jurist ist vielmehr i n der Lage, allenthalben kritisch zu erwägen, wie er sich allgemein zu ihr stellen soll und i n welchem Umfang er sich i n der gerade vorliegenden Rechtssache auf sie einlassen darf. — Meist ist beim Bearbeiter zunächst ein intuitiv gewonnener Eindruck darüber vorhanden, ob der Fall allein auf Grund von überindividuellen Gesichtspunkten zu entscheiden ist oder ob (und i n welchem Maß) dabei auch Falleigentümlichkeiten zu berücksichtigen sind. Diese intuitive Erkenntnis gilt es auf ihre sachliche Gediegenheit zu prüfen. Es bedarf, wenn der Zugang zu einer individualisierenden Rechtsfindung weder durch das Gesetz noch durch andere zwingende Rücksichten versperrt ist, vor allem der Ermittlung, was den Bearbeiter, soweit er auf die besonderen Umstände abstellen möchte, nun eigentlich dazu veranlaßt, die Entscheidung nicht lediglich auf Grund allgemeiner Erwägungen zu treffen, sondern die Sache einem der speziellen Lage entnommenen Gesichtspunkt zu unterstellen. Die Frage nach dem Warum erscheint i n solchen Fällen heute dringender als jemals 59 . Man beruhigt sich bezeichnenderweise nicht mehr so leicht wie früher bei nur vordergründig einleuchtenden Aussagen über die für die eigene Rechtsansicht maßgebenden Motive, sondern strebt nach Aufdeckung der tieferen Beweggründe. Es w i r d nicht selten ernsthaft zu ermitteln versucht, worauf es letzten Endes beruht, daß der Jurist sich m i t der Zugrundelegung genereller Orientierungspunkte nicht glaubt zufrieden geben zu können, sondern darüber hinaus auf spezielle Umstände abstellen möchte. Solche Überlegungen sind i n der Tat imstande, die Erörterung des Für und Wider über die 59 Heusinger S. 240, 182.
S. 137;
Redeker
S. 414;
Rottleuthner,
Rechtswissenschaft
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Erwägungen zur Gesetzeslage hinaus auf das oftmals eigentlich Wesentliche zu lenken. I n diesem Zusammenhang t r i t t nochmals die Wichtigkeit der herrschenden Gerechtigkeitsanschauungen hervor. Diese verleihen den jeweiligen Fallbesonderheiten unterschiedliche Kraft. Sie sind es, die eine Beteiligung spezieller Momente an der Rechtsgewinnung als „unabweisbar" oder doch als „erforderlich" bzw. i n weniger dringenden Fällen als „ i n gewisser Weise sachdienlich" oder schließlich als entbehrlich erscheinen lassen. Die Eigentümlichkeiten des Falles würden i n ihrer Faktizität eine solche differenzierende Abstufung niemals zuwege bringen; sie stellen nur das Material dar, das auf der Grundlage der maßgeblichen Gerechtigkeitsauffassungen vom Rechtsanwender wertend verarbeitet werden muß. Diese sind das die Rechtsfindung determinierende Element. Unter ihrem Einfluß kommen auch hier wieder die zahlreichen i m Gerechtigkeitsbegriff enthaltenen Gesichtspunkte m i t den zwischen ihnen bestehenden Antinomien zur Geltung 6 0 . Zuweilen bleibt der Bearbeiter längere Zeit i m Zweifel, ob ein bestimmtes ,der Fallgestaltung entnommenes Merkmal so allgemein überzeugend zu wirken vermag, daß es zur Rechtsgewinnung m i t herangezogen werden kann oder ob seine normbildende K r a f t sich letzten Endes doch als so schwach erweist, daß es außer Betracht zu bleiben hat. Da solche Erwägungen verhältnismäßig häufig anzustellen sind, würde es der Rechtshandhabung sehr zugute kommen, wenn der Jungjurist für Überlegungen dieser A r t eine spezielle Anleitung erhielte. Gewiß könnte eine solche nicht verhindern, daß auch ein höchst erfahrener Fallbearbeiter mitunter noch Mühe hat, das jeweils Richtige aufzufinden. Aber durch entsprechende Vorbereitung während der Ausbildungszeit ließen sich solche Schwierigkeiten mindern. Dafür, i n welchem Umfang eine individualisierende Rechtsfindung gerechtfertigt ist, kann eine praktikable allgemeine Regel nicht gegeben werden. Doch sind gewisse Hinweise möglich, die bei auftretenden Zweifeln gegebenenfalls hilfreich sein können. Daß m i t einem fortwährenden Rückgriff auf die Einzelumstände dem Recht nicht gedient ist, müßte eigentlich allgemein einleuchten 61 . Manche Juristen sind i m Streben nach einer dem Sachverhalt gut angepaßten Entscheidung ständig auf der Jagd nach besonderen Um60 Die Notwendigkeit, zur Rechtsfindung herangezogene Einzelumstände möglichst auf allgemeinere Grundlagen zurückzuführen, w a r bereits erw ä h n t worden. 61 Ubertreibungen dieser A r t i n der strafrechtlichen J u d i k a t u r sind von Sarstedt (1968) S. 345 ff. kritisiert worden. F ü r das Zivilrecht hat Steindorff (1959) S. 34, 46, 56 ff. u n d (1964) S. 423 ff. Hinweise gegeben, die etwa i n die gleiche Richtung gehen.
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ständen, die Anlaß zu einer speziellen rechtlichen Beurteilung geben könnten. Sie gehen dabei zuweilen m i t solchem Eifer ans Werk, daß ihnen die Grenzen außer Sicht geraten, die solchen Bemühungen gesetzt sind. Augenscheinlich sind derartige Neigungen nicht nur auf dem europäischen Kontinent, sondern auch anderswo vorhanden 62 . Von dieser Grundhaltung her kann es bei der Arbeit i m gesetzesfreien Bereich leicht zu jenem raschen Wechsel der zugrundegelegten rechtspolitischen Gesichtspunkte kommen, vor dem die Rechtslehre von jeher gewarnt hat 6 3 . Ein Jurist, der sich kritiklos unter das Joch der Umstände beugt und sich allen den Einzelmerkmalen, die als Falleigentümlichkeiten i n Betracht kommen können, rückhaltlos hingibt, w i r d angesichts ihrer Vielfalt sehr bald Richtung und Maßstab verlieren. Die Rechtsfindung i n der gesetzesfreien Sphäre erfolgt dann immer weniger aus der geistigen Substanz heraus, sondern w i r d statt dessen opportunistisch durch kurzlebige, m i t vielen Zufälligkeiten behaftete Momente bestimmt, deren Einfluß auf die juristische Arbeit i m Grunde niemanden wirklich befriedigen kann. Unter Umständen spricht bei der Haltung, die der Fallbearbeiter gegenüber der individualisierenden Rechtsfindung einnimmt, auch die Veranlagung des einzelnen mit. Wer wesensmäßig ohnehin dem Konkreten und Individuellen den Vorzug zu geben pflegt, w i r d sich von dieser Neigung mitunter auch bei der Entschließung darüber leiten lassen, ob auf das, was als Falleigentümlichkeit angesehen werden könnte, Rücksicht zu nehmen ist oder nicht. I n gleicher Weise können bei Erwägung dieser Frage andere Momente persönlicher A r t zur Geltung kommen. Man braucht nur an die Möglichkeit zu denken, daß der Rechtsanwender lediglich auf Grund von Entschlußlosigkeit oder aus purer Bequemlichkeit die minutiöse Aufklärung der Einzelumstände immer weiter fortsetzt, u m auf diese Weise der Mühsal auszuweichen, die mit einer intensiven Durchdenkung der Sache verbunden ist 6 4 . Andererseits kommt es, worüber meist weniger nachgedacht wird, auch vor, daß auf Grund von speziellen Neigungen des Fallbearbeiters oder infolge von gerichtlichen Traditionen, welche von früher her noch lebendig sind, die Besonderheiten der jeweiligen Sachlage m i t nicht zu rechtfertigender Gleichgültigkeit behandelt werden. Vor allem i n Z i v i l sachen kann man manchmal beobachten, daß versucht wird, die Fälle — β2 F ü r die U S A : Karl Nick. Llewellyn, The Common L a w Tradition (Boston 1960) S. 274. 03 Rüthers (1970) S. 55; Naucke (1975) S. 61; f ü r die Praxis: Horstkotte S. 10. 64 Solche T a k t i k e n gab es auch früher schon; Franz Klein sprach u m die Jahrhundertwende m i t Bezug auf die damalige österreichische Gerichtspraxis von dem unstillbaren Beweishunger, der sich dort aus ähnlichen Beweggründen teilweise geltend machte (Reden, 1927, S. 419).
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soweit es irgend angeht — über einen Leisten zu schlagen. Bisweilen legt es der Bearbeiter geradezu darauf an, m i t einem M i n i m u m an Sachverhaltskenntnis auszukommen, wodurch zum Schaden für das Recht gegebenenfalls die wesentlichen Konturen des Hergangs verloren gehen. Dem Mangel an Einblick i n das konkrete Geschehen w i r d dann nicht durch Ergänzung des Sachwissens i m Wege der Beweisaufnahme abgeholfen, sondern durch Heranziehung von Erfahrungen über den gewöhnlichen Verlauf. Diese A r t des Vorgehens war gegen Ende des 19. Jahrhunderts i n der Rechtspraxis weitgehend üblich. Auch späterhin ist sie den Juristen während der Ausbildungszeit vielfach nahegelegt worden. Wenn sie m i t Maßen angewandt wird, hat sie auch heute noch einige Berechtigung. Der Grund für den Beifall, den sie findet, liegt wohl hauptsächlich i n der hohen Einschätzung der Chancen, die eine geistige Durchdringung des Stoffs für die Erfassung der rechtlich wesentlichen Momente bietet. Doch sind auch insoweit Ubertreibungen möglich, die den Wert des Rechtsfindungsergebnisses beeinträchtigen. Wenn der Rechtsanwender die Falleigentümlichkeiten allzu stark vernachlässigt, können, solange die herrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen eine gewisse Rücksichtnahme auf individuelle Umstände fordern, Enttäuschungen auf die Dauer nicht ausbleiben. Somit ist Wachsamkeit sowohl nach der einen wie nach der andern Seite hin notwendig. Es kommt darauf an, daß der Bearbeiter an Hand der gegebenen Andeutungen zwischen den verschiedenen Verhaltensmöglichkeiten mit Umsicht die richtige Wahl trifft. Handhabung des sozialen Gesichtspunkts Die bezüglich des sozialen Arguments bereits gemachten Angaben betrafen vor allem den Einfluß, den dieses auf die juristischen Überlegungen heute tatsächlich besitzt. Jetzt sind ergänzend noch einige Fragen zu behandeln, die m i t der angemessenen Handhabung des sozialen Gedankens zusammenhängen. Der Rechtsanwender hat, weil er i n neuerer Zeit teils durch den Gesetzgeber selbst und teils auch durch sonstige Umstände zu selbstverantwortlichem Vorgehen angeregt wird, i n höherem Maß als frühere Juristengeschlechter Anlaß, sich über die Regelungsziele klarzuwerden, die dabei maßgebend sein sollen. Er kann grundsätzlichen Erwägungen über den Wert oder Unwert der Bezugspunkte, die i h m unter dem Kennwort des Sozialen begegnen, nicht ausweichen. Die Anschauungen des einzelnen darüber, i n welcher Weise das menschliche Zusammenleben gestaltet werden soll, pflegen sich bei ihm zu einer A r t Leitbild zu formieren, i n dem seine einschlägigen Auffassungen zu einem mehr oder weniger ausgeglichenen gedanklichen Zu-
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sammenhang verbunden sind. Diese Modellvorstellung entscheidet mit darüber, von welchen Absichten er sich bei seiner Arbeit i n der gesetzesfreien Sphäre lenken läßt, d. h. welche Nah- und Fernziele er verfolgt, mit welcher Intensität er ihnen nachstrebt und von welchem Rangverhältnis zwischen den miteinander konkurrierenden Zielvorstellungen er ausgeht. Das beim Bearbeiter vorhandene Sozialmodell 65 w i r d zunächst durch die i m Gesetz enthaltenen Grundlinien bestimmt, die für i h n bindend sind. Doch bedürfen die gesetzlichen Anweisungen der Vervollständigung. Die vorhandenen Lücken lassen sich selbst durch nachhaltige Auswertung des Grundgesetzes nicht annähernd schließen. Dieses hat sich zwar eindeutig zum Sozialstaatsprinzip bekannt; aber bei dessen Umgrenzung ist trotz wichtiger Hinweise vieles offen geblieben, so daß der Rechtsanwender versuchen muß, das Fehlende i n einer allgemein verbindlichen Weise zu ergänzen. Ob eine an den sozialen Auswirkungen orientierte Rechtsfindung mit der Gesetzeslage i n Einklang zu bringen ist, muß vom Bearbeiter jeweils erwogen werden. Daß das Gesetz jegliche Rücksicht auf die sozialen Folgen verbietet, w i r d vielleicht nicht allzu häufig vorkommen. Doch ist vielfach anzunehmen, daß die Berücksichtigung bestimmter Konsequenzen ausgeschlossen sein sollte; insbesondere solcher, die der Gesetzgeber selbst bereits erwägen konnte und als nicht stichhaltig angesehen hat. Soweit die Einbeziehung von sozialen Auswirkungen i n die juristische Erörterung grundsätzlich statthaft ist, sind Mißgriffe zunächst dadurch möglich, daß der Bearbeiter dabei die gebotenen Grenzen außer Acht läßt. Es bedarf keiner näheren Ausführung, daß eine uferlose Folgenberücksichtigung nicht i n Betracht kommen kann. Fehlleistungen können aber umgekehrt auch daraus hervorgehen, daß der zur Entscheidung Berufene bei der Reflektion über die sozialen Wirkungen seiner Stellungnahme sich m i t der Anstellung einiger vordergründiger Überlegungen begnügt und die Erwägung des Für und Wider allzu schnell abbricht; oder dadurch, daß er i m Streben nach einem i h m zusagenden, aber nicht hinreichend auf seine Sachrichtigkeit geprüften Rechtsfindungsergebnis nur bestimmte Konsequenzen ins Auge faßt, so daß es infolgedessen zu einer unbefangenen Betrachtung gar nicht kommt. Ein starkes Hindernis für die korrekte Handhabung mitmenschlicher Gesichtspunkte liegt darin, daß aus der sozialen Idee allein oftmals 65
Aus dem juristischen Schrifttum sind als Spezialarbeiten vor allem zu erwähnen Otto Kahn-Freund, Das soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts (1931) sowie Franz Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen PrivatrechtsGesetzbücher u n d die Entwicklung der modernen Gesellschaft (1953).
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keine zwingende Direktive zu entnehmen ist. Infolgedessen können leicht unterschiedliche Meinungen vorkommen, von denen auf Grund des bei uns herrschenden pluralistischen Prinzips keine Anspruch auf den absoluten Vorrang hat. Der Fallbearbeiter muß dann, soweit ihn das Gesetz nicht determiniert, i m Rahmen der Gerechtigkeitserwägung das dem sozialen Gesichtspunkt Entsprechende zu ermitteln suchen. Auf ihm lastet in solchen Fällen neben der Sorge u m die zutreffende Erfassung des Gesetzesinhalts auch die Verpflichtung, für die gesetzlich nicht geregelten Punkte eine stichhaltige Stellungnahme zu erarbeiten. Er hat sich Gewißheit darüber zu verschaffen, ob diese mit dem die Szene beherrschenden sozialen Leitbild i n Einklang steht und zugleich auch einer Nachprüfung an Hand von sachlichen Erwägungen standhält. Bezeichnenderweise kann dem Rechtsanwender bezüglich solcher Beurteilungen weder die Fachphilosophie noch die Soziologie noch eine der sonstigen Nachbardisziplinen der Jurisprudenz verbindliche Auskünfte geben. Der Bearbeiter ist vielmehr trotz des Beistands, den diese Wissenszweige i h m i n mancher Beziehung leisten, häufig auf sich allein angewiesen. Falls bezüglich der zu beantwortenden Einzelfrage gegensätzliche Anschauungen vorhanden sind, hat er durch sozialkritische Erwägungen festzustellen, ob sich seine Auffassung bei einer Konfrontation mit den Gegenmeinungen bewährt und so ihre Bestätigung erhält. Bei derartigen Nachprüfungen kommt der Jurist m i t dem von der klassischen Rechtstheorie für ihn bereitgehaltenen begrifflichen Rüstzeug oftmals nicht aus, sondern muß sich unter Umständen anderer Kategorien bedienen. Der Praktiker pflegt, soweit er sich i n der gesetzesfreien Region zu selbständiger Tätigkeit genötigt sieht, auf das abzustellen, was aus sachlichen, mit dem Gedanken des Rechts i n Einklang stehenden Gründen als erstrebenswert anzusehen ist. Er arbeitet, ohne daß dies prinzipiell beanstandet werden könnte, hier weitgehend mit dem Begriff des sozial Angemessenen. Freilich tut er es häufig, ohne das i n den Entscheidungsgründen erkennen zu lassen. Sozialwissenschaftliche Denkformen werden von i h m dort — wenn überhaupt — meist nur als Hilfsargument zur zusätzlichen Abstützung des Rechtsfindungsergebnisses benutzt, ohne daß es zu differenzierenden begrifflichen Überlegungen käme. Dabei liegt gerade i n der vom Rechtsanwender vorzunehmenden Klärung, was i m Rahmen der Gerechtigkeitsüberlegungen hier und jetzt als dem sozialen Gesichtspunkt entsprechend zu gelten hat, eine geistige Leistung, die sich durchaus sehen lassen kann. Durch die zielbewußte Aufarbeitung dieser Problematik vermag der Fallbearbeiter zum Aufbau einer Sozialtheorie beizutragen, die i n höherem Maße als bisher auf Empirie und
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auf das sich aus ihr ergebende Erfahrungswissen gegründet ist 6 6 . Ohne die vom Rechtsanwender i n dieser Hinsicht zu erbringende Mitarbeit besteht kaum Aussicht, dem für die rechtliche Betrachtung grundlegend gewordenen sozialen Gedanken die i h m zukommende Stellung zu verschaffen. A n Hand des maßgeblichen Sozialmodells beurteilt der Bearbeiter in der gesetzesfreien Sphäre, welche gesellschaftlichen Entwicklungen vom Rechtsstandpunkt aus der Unterstützung bedürfen. Das soziale Leitbild vermag i h m vielfach auch gewisse Anhaltspunkte dafür zu geben, wieviel Rücksichtnahme des einzelnen auf seine Mitmenschen unter bestimmten Umständen das Recht verlangt und welches M i n i m u m an Vertragstreue erwartet wird. Unter Anleitung dieses Leitbildes nimmt der Rechtsanwender i m gesetzesfreien Bereich sowohl die Auferlegung von Lasten und die Freistellung von Opfern vor als auch die Statuierung bestimmter Verhaltenspflichten. Der vom Rechtsanwender anzustellenden Überlegung, was unter rechtlichen Gesichtspunkten als sozial erstrebenswert zu gelten hat, entspricht die Feststellung, was aus zwischenmenschlichen Erwägungen nicht annehmbar und demgemäß durch juristische Maßnahmen zu unterbinden ist. I m Strafrecht wird, wenn auch oft nur i n kaschierter Form, auf die Strafwürdigkeit abgestellt, die sich heute mehr und mehr aus Vorstellungen von der Gefährlichkeit eines bestimmten Verhaltens für die Allgemeinheit herzuleiten pflegt. A n Hand dieses Richtmittels werden auch sonst vielfach gesetzliche Tatbestandsmerkmale so ausgelegt, juristische Begriffe so umgrenzt und dogmatische Grundsätze so formuliert, daß daraus eine Erschwerung von Verhaltensweisen hervorgeht, die sozialwidrig sind, d. h. auf das Gemeinschaftsleben nachteilig wirken, und daher — wie man meint — nicht ohne eine Reaktion von Seiten des Rechts bleiben dürfen. Das Moment der Strafwürdigkeit w i r d mitunter selbst i n offiziellen Stellungnahmen der obersten Gerichte ausdrücklich als maßgebend genannt 67 . Daneben gibt es jedoch mancherlei andere Denkfiguren, i n denen sich bei der Suche des Rechtsanwenders nach der angemessenen Lösung die Idee des Sozialen Geltung verschafft. Die Praxis pflegt offen oder verdeckt Stichworte wie „sozial gerechtfertigt" oder „durch mitmenschliche Erwägungen geboten" zu verwenden. Sie arbeitet jeweils differenzierend, wenn ein hoher Dringlichkeitsgrad für gegeben gehalten wird, ββ Daß eine solche nach dem heutigen Stand der Dinge unentbehrlich ist, hat Wiethölter (1969) S. 9, 19 m i t Recht hervorgehoben. β7 B G H Str Bd. 2 S. 207. Die Rechtslehre hat das Problem der Strafwürdigkeit bisher allein aus der Sicht des Gesetzgebers erörtert; Einzelangaben dazu bei Hoerster (1970) S. 538 ff. Daß nicht selten sich auch der Rechtsanwender i n d i r e k t m i t i h m auseinandersetzen muß, blieb weitgehend unbeachtet; vgl. jedoch Blei (1974) S. 109 ff.
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mit der Vorstellung einer unabweisbaren sozialen Notwendigkeit oder bei weniger fundamentalen, aber gleichwohl belangreichen Anliegen mit der eines rechtlich beachtenswerten sozialen Bedürfnisses. Das sozial determinierte Werturteil schlägt sich i n Wendungen wie „unangemessen streng", „unnötig formal" usw. nieder. Oft liegt es auch mehr vage gehaltenen Formeln wie: sachlich unbefriedigend, lebensfremd, unbillig, vernunftwidrig zugrunde 68 . Da der praktizierende Jurist — oft ohne sich dessen voll bewußt zu sein — solche Termini teils mit, teils ohne stichhaltigen Grund häufig bei der Hand hat und von ihnen methodisch mehr oder weniger korrekten Gebrauch macht, w i r d die Rechtstheorie dem, wenn sie den A n schluß an die Wirklichkeit nicht verlieren w i l l , Rechnung tragen müssen. Sie ist, soweit ihr als Ziel eine Hilfeleistung für die Gerichte und die Rechtsberatung vorschwebt, genötigt, sich bestimmter sozialwissenschaftlicher Kategorien, die nicht mehr ignoriert werden können, anzunehmen, so wenig diese auf den ersten Blick auch i n ihr bisheriges Denksystem hineinzupassen scheinen. Zu dieser sachlichen Notwendigkeit kommt ferner noch ein psychologisches Moment, das wenigstens kurz erwähnt sein mag: Der Rechtsanwender möchte i n den rechtstheoretischen Erörterungen die Probleme wiedererkennen, m i t denen er sich ständig abmühen muß; und man w i r d das schwerlich als ein unbilliges Verlangen ansehen können. Faßt man die Erwartungen näher ins Auge, die dem Rechtsanwender unter Berufung auf den sozialen Gesichtspunkt entgegentreten, dann zeigt sich, daß viele von ihnen zwar i n gewisser Weise menschlich verständlich, aber unter rechtlichen Blickpunkten letzten Endes nicht akzeptabel sind. Man braucht nur an die Fälle zu denken, i n denen fragwürdige Wünsche aus den gegebenen Verhältnissen w i l d hervorwachsen oder auch durch Maßnahmen von bestimmter Seite künstlich großgezogen werden, die zu protegieren die Rechtsordnung keinen Anlaß hat. Auf diese Weise können unter dem Einfluß von Gleichgültigkeit oder schlechter Gewohnheit beim Normalbürger Scheinbedürfnisse entstehen, die den Schutz des Rechts nicht verdienen. Der soziale Gedanke ist, gerade w e i l er grundsätzlich allgemein gutgeheißen wird, zur Auffangvorrichtung für mancherlei Forderungen geworden, die zwar insofern sozial genannt werden können, als sie das Verhältnis der Menschen zueinander betreffen, die aber m i t den speziellen Anliegen, denen man i m Namen der sozialen Idee heute Rechnung zu tragen sucht, wenig zu t u n haben. Nicht selten machen 68 Es ist das Verdienst von Ecker (1967), daß er die Rechtsprechung auf solche begrifflichen Behelfe durchforscht hat u n d daran gegangen ist, sie i n einen umfassenderen gedanklichen Zusammenhang zu stellen.
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sich unter dem Deckmantel des sozial Erforderlichen Bestrebungen geltend, die weder dem allgemeinen Interesse entsprechen noch den wirklichen Belangen des Einzelmenschen gerecht werden. Je mehr der Jurist zu eigenverantwortlichem Vorgehen auf Grund von mitmenschlichen Erwägungen für befugt gehalten wird, desto häufiger werden an ihn aus dem Kreise der Rechtsinteressenten immer neue Forderungen herangetragen. Man verlangt von i h m Beistand aus den verschiedensten Anlässen. Überall soll er von sich aus helfend eingreifen, ohne daß die möglicherweise entgegenstehenden Bedenken ernsthaft erwogen werden. Dem praktizierenden Juristen fällt hier die Aufgabe zu, das schwer entwirrbare Durcheinander von berechtigten Ansprüchen und unbegründeten Erwartungen zu entflechten. Er muß dem Ansturm gesellschaftlicher Kräfte, die seine Befugnis zu rechtsgestaltender Entscheidung i n unzulässiger Weise für sich auszunutzen versuchen, standhalten können. Bei der Klarstellung, was von Rechts wegen als schutzwürdiges Anliegen zu betrachten ist, läßt sich keine von Zeit und Raum losgelöste, ein für allemal gültige Antwort erreichen. Vielmehr w i r d die A u f fassung darüber oftmals je nach der geographischen Lage, den nationalen Besonderheiten und den jeweiligen Zeitverhältnissen verschieden ausfallen. Was i n dieser Hinsicht u m die Jahrhundertwende richtig war, kann heute vielfach nicht mehr als zutreffend angesehen werden. Unter Umständen sind selbst die noch vor wenigen Jahren maßgebend gewesenen Auffassungen bereits überholt. Die Anschauungen über das sozial Angemessene haben sich i n neuerer Zeit ζ. B. insofern wesentlich geändert, als der Schutz der Rechtsordnung danach gegenwärtig nicht mehr auf die vitalen Notwendigkeiten beschränkt werden kann, sondern auch auf mancherlei bloße Annehmlichkeiten erstreckt werden muß, die ehedem als sekundär, wenn nicht gar als überflüssiger Luxus angesehen wurden. Infolge des unablässigen Strebens nach Hebung des allgemeinen Lebenszuschnitts und nach einer erfreulicheren Gestaltung der menschlichen Existenz erscheint für die gedeihliche Entwicklung auch vieles bedeutsam, was über die unbedingten Lebensnotwendigkeiten weit hinausgeht und keineswegs zwingenden Charakter hat 0 9 . Voraussichtlich w i r d diese Tendenz i n Zukunft noch zunehmen und m i t der Zeit nicht nur i n den westlichen Industrieländern, sondern — mit Abstand — auch i n den anderen Bereichen der Welt Fuß fassen. Andererseits stellt sich aber für den u m das menschliche Wohl ernstlich bemühten Betrachter mitunter die Frage, ob das Erwecken immer neuer Begehrlichkeiten nicht auch gewisse Gefahren mit sich bringt. β0 Chombart
de Lauwe, L'expansion des besoins (1961) S. 230 ff.
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Der Rechtsanwender hat zu überlegen, wo die Grenze zu ziehen ist, bei deren Überschreitung das Heranziehen neuer Bedürfnisse nicht mehr zu einer Vervollkommnung der sozialen Zustände führt, sondern entscheidende Nachteile mit sich bringt; etwa dadurch, daß der Einzelmensch infolge von allzuviel Hilfeleistung i n seiner Lebenstüchtigkeit geschwächt oder sonst i n rechtlich nicht akzeptabler Weise beeinflußt und so vielleicht gerade u m das gebracht wird, was dem menschlichen Leben seinen Wert gibt. Die Sozialwissenschaften sind i m Begriff, dieses Gebiet theoretisch zu erschließen. Man bemüht sich u m eine sachgemäße Bedürfnisinterpretation, u m die Ermittlung der Bedürfnisstrukturen, ferner u m Bedürfnislegitimation und nachhaltige Bedürfniskritik; und zwar nicht nur dort, wo den Menschenmassen von interessierter Seite gewisse Annehmlichkeiten als unentbehrlich suggeriert werden 7 0 . Es gilt bei der unter rechtlichen Gesichtspunkten vorzunehmenden Abwägung des Für und Wider jeweils festzustellen, ob hinter dem, was sich i m gesetzesfreien Raum als soziales Erfordernis geltend macht, sachliche Gründe von solcher Überzeugungskraft stehen, daß ihnen von Rechts wegen Rechnung zu tragen ist. Ähnlich wie an die Erwartungen, die dem Bearbeiter unter dem Stichwort des Gegenwartswichtigen entgegentreten, hat er auch an die Forderungen, die auf den ersten Blick als sozial dringlich erscheinen, die kritische Sonde anzulegen. I n allen nicht ganz einfach liegenden Fällen sind konkrete Feststellungen darüber nötig, inwiefern die der gewohnten Denkweise entsprechende Lösung unter mitmenschlichen Aspekten unbefriedigend oder — bei starken Dissonanzen — i n hohem Grade unerfreulich bzw. i n extremen Fällen schlechthin „unerträglich" ist 7 1 . Dem Rechtsanwender obliegt es, sich darüber klar zu werden, ob das, was i h m auf Grund möglicherweise trügerischer intuitiver Einsichten als unannehmbar erscheint, tatsächlich diese Wertung verdient. Soweit i n diesem Zusammenhang die voraussichtlichen Wirkungen i n Betracht zu ziehen sind, die ein eigenverantwortliches Vorgehen des Bearbeiters an Hand von sozialen Rücksichten haben wird, ist keineswegs nur an die vermehrten Geldaufwendungen zu denken, die dadurch unter Umständen für öffentliche Kassen entstehen, sondern auch an die sonstigen Konsequenzen. Manchmal zeigt sich bei gehörigem Zusehen, daß durch ein vielleicht gut gemeintes, aber nicht genügend durch70 Eine die vielfachen Aspekte dieses Fragenkreises erfassende Darstellung w i r d zur Zeit auf interdisziplinärer Grundlage unter dem T i t e l „Die wahren Bedürfnisse" von S. Moser, G. Ropohl und W. Zimmerli i n der Taschenbuchreihe „Philosophie a k t u e l l " (Verlag Schwabe u n d Co., Basel) vorbereitet. 71 Über dieses i n der Praxis häufig benutzte, zuweilen auch i n höchstrichterlichen Urteilsbegründungen vorkommende Stichwort Heusinger S. 106 ff.
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dachtes Eingreifen des Rechtsanwenders zwar ein Rechtsinteressent i n wünschenswerter Weise gestützt wird, daß zugleich aber m i t wenig erfreulichen Nebenwirkungen zu rechnen ist, die die geplante rechtliche Stellungnahme fragwürdig machen. Zuweilen kann eine auf Grund von sozialen Erwägungen konzipierte Rechtsauffassung höchst unsoziale Auswirkungen für die Allgemeinheit, für bestimmte Personengruppen oder selbst für denjenigen, den der Bearbeiter i n Schutz zu nehmen trachtet, zur Folge haben; sei es, daß die rechtliche Unterstützung an der falschen Stelle oder zum verkehrten Zeitpunkt oder i n unangemessener Dosierung gewährt wird. Bei oberflächlicher oder ideologisch verzerrter Erwägung kann es leicht geschehen, daß die ohnehin geschwächte Position des Einzelmenschen durch Begründung neuer Abhängigkeiten bzw. durch den Abbau seiner Freiheitsrechte eine weitere Beeinträchtigung erfährt. Manchmal kommt es sogar dahin, daß durch eine vom sozialen Gedanken inspirierte Rechtsprechung unvermerkt die für eine befriedigende Daseinsgestaltung des Individuums notwendigen Vorbedingungen i n Frage gestellt werden. Der Rechtsanwender braucht sich durch dergleichen Fehlermöglichkeiten jedoch nicht entmutigen zu lassen. Denn sie können weitgehend dadurch ausgeschaltet werden, daß er nicht lediglich auf Grund unreflektierter sozialpolitischer Auffassungen vorgeht, sondern zu einer bewußten Erwägung der Einzelheiten fortschreitet. Freilich darf sich der Jurist, soweit unzweifelhaft berechtigte Anliegen ohne nennenswertes Risiko berücksichtigt werden können, rasch zu einem Eingreifen an Hand von sozialen Erwägungen entschließen. Wo seinem Vorgehen jedoch grundsätzliche oder aus dem jeweiligen Fall herrührende Bedenken entgegenstehen, w i r d regelmäßig Vorsicht am Platze sein. Die richtige Haltung gegenüber bestimmten mitmenschlichen Anliegen ist oftmals nicht durch eine obenhin angestellte, allein auf die allernächsten Vorteilsberechnungen Bedacht nehmende Arbeitsweise, sondern nur durch gründliche Erwägung der Einzelheiten zu ermitteln. Dabei muß u. a. der spezielle Charakter des i n Betracht kommenden Rechtsgebiets gebührend beachtet werden, der ein starkes Hindernis für die A k t i v i t ä t des Rechtsanwenders i m Sinn des sozialen Gedankens bilden kann. Teilweise stehen aber auch allgemeine Gerechtigkeitsanschauungen entgegen, wo der Jurist, soweit das Gesetz i h m Freiheit läßt, aus sozialen Gründen Schonung und Nachsicht für einen Betroffenen erreichen möchte. Wenn i m Zivilrecht die Klage auf Rückzahlung eines Darlehns von der Gesetzeslage her unzweifelhaft begründet ist, dann läßt sich die Verurteilung des Beklagten nicht m i t dem Hinweis abwenden, daß er durch ein Zahlungsurteil ohne seine Schuld wirtschaftlich ruiniert werden würde. Darüber war man sich zum
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mindesten lange Zeit einig, und auch heute kann diese Auffassung, soweit das Gesetz nicht für gewisse Fälle eine Ausnahme vorsieht, als zutreffend angesehen werden 7 2 . Doch erscheint diese Beurteilung (darin zeigt sich wiederum die starke prägende K r a f t der sozialen Idee) jetzt nicht mehr so völlig sicher wie ehemals. Ist der auf Zahlung verklagte Schuldner ein großes Industriewerk m i t Tausenden von Arbeitern und Angestellten, die beim finanziellen Zusammenbruch des Unternehmens i n einer Zeit allgemeinen wirtschaftlichen Niedergangs arbeitslos werden würden, dann wird, sofern durch Vergleich ein Zuwarten des Klägers nicht erreicht werden kann, der Bearbeiter trotz Vorliegens eines sog. „glatten Falls" nachhaltig eine rechtliche Handhabe zur A b wendung des Zahlungsurteils zu ermitteln suchen und je nach Lage der Sache vielleicht auch legitime Möglichkeiten für einen begrenzten A u f schub finden, der dem sozialen Gesichtspunkt Rechnung trägt. Es gibt ganz allgemein betrachtet für den Rechtsanwender, dem die Rücksicht auf den sozialen Gesichtspunkt durch die Gesetzeslage oder durch sonstige Umstände erschwert wird, vielerlei Hilfsmittel, u m entweder für bestimmte Sachgruppen oder wenigstens für den Einzelfall das zwischenmenschlich wünschenswerte Ergebnis durchzusetzen. Das dringende Verlangen nach sozial angepaßten juristischen Lösungen bildet einen starken Anreiz, immer neue, dazu dienliche Handhaben zu entwickeln und sich ihrer m i t Virtuosität zu bedienen, wobei jedoch die Korrektheit solcher Behelfe, die mehr oder minder fragwürdig sein können, jeweils zu prüfen ist. Für den Einzelfall läßt sich eine grobe Unbilligkeiten vermeidende und mitmenschlichen Erwägungen Rechnung tragende Entscheidung unter Umständen auf dem Weg über die Rekonstruktion des rechtlich zu beurteilenden Sachverhalts erreichen. Das ist ein i n der Praxis vielfach bekanntes, i n den verschiedensten Rechtsbereichen verwendbares Verfahren. Der Rechtsanwender geht dabei, u m i m Zivilrecht bestimmten sozialen Überlegungen gerecht zu werden bzw. i m Strafrecht eine ungerechtfertigt harte Sanktion zu vermeiden, von entsprechend hergerichteten Sachverhaltsfeststellungen aus, indem er etwa bei zweifelhafter Beweislage eine Würdigung der Auskunftsmittel bevorzugt, die der sozial befriedigenden Lösung die Wege ebnet. Mitunter (man mag daraus ersehen, wie heikle Varianten denkbar sind) kann es dahin kommen, daß der Fallbearbeiter, u m die für richtig gehaltene Entscheidung zu erreichen, vertrauenswürdige Angaben unverdächtiger Zeugen zu gering einschätzt und andererseits der Darstellung nicht sonderlich glaubwürdiger Wissenträger einen zu hohen Wert beimißt. Der gute Zweck bewirkt dann oftmals, daß i h m das Fragwürdige und Gefährliche dieser A r t des Vorgehens gar nicht zum Bewußtsein kommt. 72 Heusinger 13
Döhring
S. 7, 133.
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3. Teil: Umgang m i t nichtpositivierten Entscheidungsgrundlagen
I m Strafrecht ließ sich die Benutzung solcher Taktiken manchmal schwer vermeiden, solange der Richter (Rechtsanwender) an allzu starre Strafrahmen gebunden war und Handhaben zur Vermeidung unangemessener Härten weitgehend fehlten 7 3 . Für die Frage, ob und i n welchem Umfang heute versucht wird, dem sozialen Gedanken durch eine solche zweckgelenkte Beweiswürdigung zur Geltung zu verhelfen, wenn sonstige M i t t e l und Wege nicht zur Verfügung stehen, fehlt es an verläßlichen Daten. Doch darf vermutet werden, daß wegen der großen Suggestivkraft, die vielen mitmenschlichen Erwägungen eigen ist, die Verlockung, auf diese Weise eine sozialadäquate Entscheidung zu erreichen, noch eine gewisse Aktualität besitzt. Jedenfalls erscheint es angebracht, die Möglichkeit dieser Aushilfe hier m i t i n Betracht zu ziehen, wenngleich sich der Rechtsanwender i m allgemeinen nicht leichthin, sondern nur unter dem Zwang besonderer Umstände entschließen wird, von ihr Gebrauch zu machen.
73 Zeiler (1938) S. 64; Doerr i n Ztschr. f. Rechtspflege i n Bayern Jg. 1923 S. 14 ff. u n d als A n t w o r t auf die Gegenwehr, die seine Ausführungen t e i l weise i n Kreisen der Richterschaft gefunden hatten, nochmal i n Ztschr. f. d. ges. Strafrechtswissenschaft Bd. 45 S. 46 ff. Aufschlußreiche Angaben über die Möglichkeiten des Rechtsanwenders, w e n n es sich d a r u m handelt, durch umsichtige Zurichtung des Sachverhalts eine angemessene juristische Lösung zu erreichen, finden sich bei Isay, Rechtsnorm u n d Entscheidung (1929) S. 350 ff.
Schlußbetrachtung Wandlungen in der Haltung des Rechtsanwenders gegenüber dem gesellschaftlichen Bereich Es w i r d jetzt nochmal die bereits zu Beginn der Darstellung berührte Frage aufgeworfen, wie sich seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts die Beziehung des rechtanwendenden Juristen zu den die gesellschaftliche Entwicklung beherrschenden Impulsen gestaltet hat und welche Haltung von i h m i n dieser Hinsicht für die Zukunft zu verlangen ist. Dabei muß zunächst auf historische Überlegungen zurückgegriffen werden. Charakteristisch für die insoweit gegen Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Anschauungen ist jene spezielle Form des Gesetzespositivismus, wie sie für das Zivilrecht von Bernh. Windscheid (t 1892), für das öffentliche Recht von K . F . W . Gerber (t 1891) und Paul Laband (t 1918) sowie für das Strafrecht von K a r l Binding (t 1920) vertreten wurde 1 . I h r Kernstück besteht i n der Auffassung, daß als Recht nur anzusehen sei, was den römischrechtlichen Texten bzw. dem staatlichen Gesetz bei eng aufgefaßter Auslegung an Hand logischer Denktätigkeit entnommen werden kann. Daraus erklärt sich die von Windscheid immer wieder erhobene Forderung strenger Quellenmäßigkeit und seine Entrüstung darüber, daß R. v. Jhering — wie er meinte — i n späteren Jahren m i t den einschlägigen Belegstellen des Corpus juris bisweilen allzu freizügig umging. Es wurde als selbstverständlich vorausgesetzt, daß i m positiven Recht für alle vorkommenden juristischen Fragen die angemessene A n t w o r t enthalten sei. Durch neue Entwicklungen i m gesellschaftlichen Raum und die sich aus ihnen ergebenden besonderen Notwendigkeiten sollte sich der Bearbeiter nur insoweit beeindrucken lassen, als das positive Recht ihnen schon i m voraus Rechnung getragen hatte. Das waren Anschauungen, die sich nicht etwa, wie man teilweise gemeint hat, nur auf die Rechtspraxis bezogen; vielmehr erschienen sie auch für die Rechtslehre verbindlich. Wo m i t der strikt gebundenen Gesetzesinterpretation allein nicht auszukommen war, sollte i m prak1 Wieacker (1959) S. 181 ff. u n d E. Wolf S. 591 ff. (über Windscheid); P. v. Oertzen, Die soziale F u n k t i o n des staatsrechtlichen Positivismus S. 163, 254 ff. u n d Cl. E. Barsch i n : Die deutsche Staatslehre i m 19. u n d 20. J a h r hundert S. 43 ff. (über Gerber u n d Laband) ; Arm. Kaufmann, Lebendiges u n d Totes i n Bindings Normentheorie (1954); Döhring (1953) S. 351 ff. 13*
196
Schlußbetrachtung
tischen Rechtsbetrieb wie i m akademischen Bereich m i t einer logischdeduktiven Methode gearbeitet werden, die die Heranziehung vorpositiver Gesichtspunkte ausschloß. Das führte zu jener Vorherrschaft des syllogistischen Schlußverfahrens, die meist m i t dem Stichwort „Begriffsjurisprudenz" gekennzeichnet w i r d 2 . Über oder neben der Gesetzesnorm gab es für den Rechtsanwender, der nach einer für seinen Fall zutreffenden Lösung sucht, keine Hilfe. Die Heranziehung von gesetzesexternen Gesichtspunkten ethischer, ökonomischer oder sozialphilosophischer Herkunft erschien unzulässig und wurde dementsprechend diskreditiert 3 . Darin lag eine wesentliche Verschärfung der auch früher schon vielfach sichtbar gewordenen Tendenz zu strenger Fesselung des Fallbearbeiters an die Gesetzesnorm. Der Legalismus dieser Zeit ging selbst über A. v. Feuerbachs kategorisches Verlangen nach genauer Gesetzesbeachtung weit hinaus; denn Feuerbach hatte den Zusammenhang der juristischen Überlegungen m i t der zeitgenössischen Philosophie und der sich i n ihr abzeichnenden Gesamtentwicklung nicht i n Frage gezogen. Jetzt wurde dagegen die strenge Abschirmung der rechtlichen Überlegungen gegen Einflüsse nichtjuristischer A r t zum Programm erhoben. Die führenden Persönlichkeiten werden seinerzeit wohl erkannt oder doch halb bewußt empfunden haben, daß dieses Unternehmen nur i n gewissen Grenzen zu verwirklichen war; aber sie versprachen sich von einer so strengen Abschließung der Jurisprudenz gegenüber Einwirkungen von außerhalb zum mindesten beachtliche Teilerfolge und haben sich darin nicht getäuscht. I n der Tat wurde erreicht, daß die i m Grunde stets vorhandene Neigung der Gerichte, i n gesetzlich nicht eindeutig geregelten Punkten auf vorpositive Maßstäbe zurückzugreifen, nunmehr starken Behinderungen unterlag 4 . 2 Die bis zur Gegenwart andauernde Diskussion über Wesen u n d Wert dieser Arbeitsweise spiegelt der Band „Theorie u n d Technik der Begriffsjurisprudenz", hrgg. u n d eingeleitet v o n W. Krawietz (1976) gut w i d e r ; über ihre geschichtlichen Wurzeln Wilhelm (1958) S. 70 ff., Edelmann (1967) S. 35 ff. 3 Labands methodologische Grundauffassung ist i m V o r w o r t zu seinem „Staatsrechts des Deutschen Reichs" (2. Aufl. 1887) niedergelegt. F ü r Binding wäre dessen „Handbuch des Strafrechts" Bd. 1 (1885) S. V I I , S. 12 ff. zu vergleichen; f ü r Windscheid hat E. Wolf S. 593 ff., 615 ff. entsprechende Nachweise gegeben. 4 Die obigen Überlegungen beschränken sich auf eine detaillierte W ü r digung des Gesetzespositivismus. Er stellt eine Unterart des juristischen Positivismus dar, der die verschiedensten Formen annehmen kann, je nachdem das Positivum i m historischen Werdegang, i m dogmatischen L e h r gebäude, i n den soziologischen Gegebenheiten, i m ordnungsmäßig zustandegekommenen Gesetz oder anderswo gefunden w i r d . Intensive Bemühungen u m die begriffliche Eingrenzung dieses vielschichtigen, auch i n I t a l i e n u n d Frankreich lebhaft diskutierten Phänomens bei Wieacker (1967) S. 431, 459,
Schlußbetrachtung
Der Gesetzespositivismus dieser Zeit stellt, i m einzelnen betrachtet, ein komplexes und nuancenreiches Gebilde dar. Seine weltanschaulichen Fundamente und die sonst i m Untergrund wirksamen Motivationen sind sehr verschiedener A r t . Als weitgehend formales Instrument war er imstande, unterschiedliche Funktionen zu übernehmen und sehr ungleichartigen Zwecken zu dienen. Dadurch w i r d ein stichhaltiges Urteil über die i h m zugrunde liegenden Intentionen und die i h n begünstigenden Triebkräfte einigermaßen erschwert. Als ein wichtiger Beweggrund für die so energisch betriebene Ausklammerung nichtpositivierter Orientierungsbehelfe muß jedoch die Furcht vor dem ungeordneten Einbruch gesetzesexterner Regelungsfaktoren i n die Rechtsgewinnung betrachtet werden 5 . Man sah damals noch keine Möglichkeit, den gegebenenfalls durch die Rechtspraxis zu handhabenden Wertungsbereich mit Hilfe der Ratio wissenschaftlich so zu durchdringen, daß die eigenverantwortliche M i t w i r k u n g des Fallbearbeiters hinreichend gelenkt und kontrolliert werden konnte. Die ihrer Zeit vorauseilenden Ideen von Jhering und Liszt waren nach der zeitgenössischen Auffassung noch nicht so weit ins allgemeine Bewußtsein gedrungen, daß sie vom Durchschnittsjuristen i n die Praxis hätten umgesetzt werden können. Es schien daher, wenn man den Rechtsanwender vor einem Abgleiten ins Ungewisse bewahren wollte, keinen anderen Weg zu geben, als daß i h m jede selbständige Wertungsarbeit untersagt wurde. Die Verfechter dieses weit getriebenen Formalismus sind sich sicherlich darüber klar gewesen, daß dadurch die Rechtsfindungsergebnisse nicht selten zwar logisch einwandfrei, aber inhaltlich wenig überzeugend ausfallen mußten. Doch wurde dieses Moment offenbar nicht als allzu gravierend angesehen, w e i l auf diese Weise die Gefahr, die von einer dilettantischen Wertungsweise des Bearbeiters drohte, ausgeschaltet oder doch stark gemindert und der Weg für eine ruhige Weiterentwicklung geebnet werden konnte. Dadurch w i r d der leiden558; Viehweg (1968) S. 14 ff., (1971) S. 105 ff.; Hoerster (1970) S. 43 ff., Scarpelli (1965), Bobbio (1965); weitere Schrifttumsangaben bei Ott (1976). Über die Entwicklung des italienischen Rechtspositivismus während der letzten J a h r zehnte Pattaro (1974) S. 67 ff. Z u r Unterrichtung über den Diskussionsstand (die Jurisprudenz hat ebenso wie die Philosophie u n d die Soziologie ihren Positivismusstreit) können die Quellenbände „Naturrecht oder Rechtspositivismus?" (1962) u n d „Positivismus oder Realismus des Rechts?" (in Vorbereitung bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt) nützlich sein. δ Dieser Gedanke k l i n g t auch bei Forsthoff (1961) S. 36 an, der die E n t stehung des Rechtspositivismus i m ausgehenden 19.Jahrhundert u . a . aus der Besorgnis erklärt, „daß private Meinungen u n d Ideologien . . . i n das Rechtswesen Eingang finden u n d eine ihnen nicht zukommende Verbindlichkeit gewinnen könnten"; über die Bedeutung dieses Gesichtspunkts f ü r Windscheid: E. Wolf S. 615.
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Schlußbetrachtung
schaftliche Eifer verständlich, m i t dem die Abriegelung der juristischen Sphäre gegen Einflüsse aus der gesellschaftlichen Region betrieben wurde, und die erstaunliche Hartnäckigkeit, m i t der man allen Schwierigkeiten zum Trotz an diesem unnatürlichen Vorhaben festhielt. Aber neben den Schreckvorstellungen, die der Gedanke an eine Zulassung des Rechtsanwenders zu selbständiger Wertungsarbeit i n gesetzlich nicht klar geregelten Punkten hervorrief, waren es häufig offenbar auch politische Erwägungen, aus denen heraus man die Konstituierung eines unnachgiebigen Legalismus für erforderlich hielt. Es ist i m Schrifttum mehrfach darauf hingewiesen worden, daß das Dogma von der Gesetzesallmacht sich ausgezeichnet m i t den politischen Zielen des damals an der Macht befindlichen Bürgertums vertrug, dem an einer Festigung der errungenen Position liegen mußte®. Für diesen Zweck ließ sich die strenge Gesetzesbindung und die Beschränkung der juristischen Arbeit auf formallogische Denkoperationen i n der Tat trefflich verwenden, weil sie eine inhaltliche K r i t i k am herrschenden bürgerlich-liberalen Wertsystem erschwerte und dadurch der Aufrechterhaltung des bestehenden politischen Zustands diente 7 . Zum nicht geringen Teil dürfte sich der Beifall, den die Idee der Gesetzesomnipotenz seinerzeit fand, auch daraus erklären, daß man hoffte, durch Absperrung der juristischen Argumentation gegenüber dem gesellschaftlichen Geschehen ein als bedrohlich empfundenes Übergreifen der rasch fortschreitenden Verweltlichung auf den j u ristischen Bereich verhindern zu können, der vielen als ein Bollwerk i m Kampf gegen die Zersetzung der überkommenen metaphysischen Bindungen erschien. Dieses Motiv war zwar oft nur i m Unterbewußtsein vorhanden und wurde deshalb selten deutlich artikuliert, übte jedoch gleichwohl eine beträchtliche W i r k u n g aus 8 . Aber alle diese Erwartungen, die seinerzeit von sehr unterschiedlichen Blickpunkten aus geeignet gewesen waren, der Idee der Gesetzesβ Die Verwendung des juristischen Positivismus als Waffe i m politischen K a m p f ist vor allem von Franssen (1969) S. 766 ff.; Görlitz (1970) S. 274; Kriele (1967) S. 41 ff. u n d Wiethölter (1969) S. 12 ff. ins Blickfeld gerückt worden. 7 E. Fechner hat den klassischen Gesetzespositivismus wegen seiner ausgeprägt formalistischen Tendenzen allgemein als durch machtpolitische A b sichten m o t i v i e r t bezeichnet (Ideologische Elemente i n positivistischen Rechtsanschauungen, dargestellt an Hans Kelsens „Reiner Rechtslehre", 1970). Es erscheint jedoch fraglich, ob m i t einer so pauschalen Beurteilung dem Untersuchungsgegenstand gerecht zu werden ist; Bedenken dieser A r t kommen auch i n der stärker differenzierenden Stellungnahme v o n Maus, „Aspekte des Rechtspositivismus i n der entwickelten Industriegesellschaft" (1972) S. 124 f. zum Ausdruck. 8 Der i n diesem Zeitabschnitt stark zunehmende Einfluß der V e r w e l t lichungstendenz auf die gesamte Lebenssphäre w i r d dargestellt bei Owen Chadwick, The Secularization of the European M i n d i n the Nineteenth Century, Cambridge 1975.
Schlußbetrachtung
allmacht Zustimmung und Rückhalt zu verschaffen, haben sich seit der u m die Jahrhundertwende einsetzenden juristischen Reformbewegung als nicht mehr stichhaltig erwiesen. Die Erneuerungsbestrebungen bildeten den Auftakt für eine bis i n die Gegenwart reichende Entwicklung. Sie haben dem rechtanwendenden Juristen Schritt für Schritt eine mehr aufgelockerte und stärker soziologisch orientierte Rechtsfindungsweise ermöglicht. Es ist bereits dargelegt worden, wie man den Fallbearbeiter nach und nach zu einer engeren Anpassung seiner Entscheidung an die Erfordernisse der Gegenwart sowie an die Besonderheiten der speziellen Sachlage befähigt und ermutigt hat 9 . Diese Veränderung stand deutlich unter dem Einfluß neuer methodischer Ansätze und bisher unbekannt gewesener Denkformen, die sich nicht mehr darauf richteten, den Rechtsfall an Hand begriffsjuristischer Überlegungen zu entscheiden, wie sie für Windscheid und Laband i m Vordergrund gestanden hatten. Vielmehr zielten der Interessenbegriff und die i m Zusammenhang m i t i h m neu entwickelten methodischen Gesichtspunkte i n erster Linie darauf hin, dem Rechtsanwender eine Lösung zu ermöglichen, die unten den sich wandelnden Zeitumständen der materiellen Gerechtigkeit (wie man sie i m einzelnen auch auffassen mochte) besser als früher Rechnung trug. I n diesem Sinne hat sich nicht nur die Interessenabwägung und die Wiederbelebung der Topik ausgewirkt, sondern auch die verstärkte Pflege der funktionalen Methode und der immer häufiger werdende Rückgriff auf das Analogieargument und auf die „Natur der Sache" 10 . Die legalistische Grundthese, die i n der Gestalt, i n welcher sie sich während des 19. Jahrhunderts ideologisch verfestigt hatte, darauf angelegt war, den Fallbearbeiter von einer eigenverantwortlichen A k t i v i t ä t fernzuhalten, erwies sich nunmehr als zur Erreichung dieses Ziels ungeeignet. Sie hat diesen ihr durch die speziellen historischen Umstände zugefallenen Auftrag zwar eine Zeitlang erfüllt, aber letzten Endes den Übergang des Rechtsanwenders zu selbständig wertender Arbeit i m gesetzesfreien Bereich nicht hindern können. Sie konnte auch die Machtposition des Bürgertums auf die Dauer nicht gewährleisten, noch den massiven Einbruch unmetaphysischer Betrachtungsweisen i n die Rechtsfindung aufhalten. Die Verdiesseitigung der recht• Einige wichtige Faktoren, die diesen Umschwung herbeigeführt haben, sind bereits v o n Dessauer (1928) S. 58 ff, 70 genauer umschrieben worden. Die nicht zu unterschätzende Bedeutung, die der Freirechtsschule dabei zukommt, hat v o r allem H. Thieme (1970) S. 71 gewürdigt; zu diesem P u n k t ferner Rehbinder (1967) S. 77 ff., Lombardi (1971); weiteres Schrifttum i n der Einleitung zu Ernst Fuchs, Gesammelte Schriften über Freirecht u n d Rechtsreform, hrgg. v o n A . S. Foulkes Bd. 1 (1970) S. 9 ff. 10 Grundsätzliche Überlegungen zu einer funktionalen Rechtstheorie bei W. Krawietz, Das positive Recht u n d seine F u n k t i o n (1967) sowie kurz zusammengefaßt i n JuS 1970 S. 431 f.
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Schlußbetrachtung
liehen Sphäre hat vielmehr unaufhaltsam ihren Fortgang genommen. Zwar hätten die Topik, das Problemdenken, die funktionale Methode usw. jede für sich nicht unbedingt zu einer weiteren Profanierung des Rechtsdenkens führen müssen. Insgesamt haben sie jedoch — vor allem durch die A r t , i n der man von ihnen vorwiegend Gebrauch gemacht hat — der Verweltlichung juristischer Überlegungen kräftig Vorschub geleistet. Das streng legalistische Auffassungsschema der Pandektenzeit war m i t h i n zur Wahrnehmung der i h m zugedachten Aufgaben untauglich geworden und hatte damit seine Mission erfüllt 1 1 . Freilich ist denkbar, daß dessen ungeachtet i m Lauf der Entwicklung wieder zwingende Gründe für eine stärker formale Rechtsgewinnung hervortreten und daß dadurch dem klassischen Gesetzespositivismus erneut eine historische Aufgabe zufällt, die i h m unmittelbare A k t u a l i tät verschafft; aber eine solche ist nicht i n Sicht. Sie könnte für die Zukunft allenfalls daraus hervorgehen, daß entsprechend den A n forderungen der modernen Gesellschaft eine Mathematisierung der Rechtsfindungsarbeit i n größerem Stil erforderlich w i r d und daß dabei die trotz fortschreitender sprachanalytischer Bemühungen i m Gesetzestext notwendig enthaltenen Lücken durch abstrakt gefaßte Ergänzungen geschlossen werden müssen 12 . Aber solange das unabweisbare Verlangen der Allgemeinheit nach juristischen Entscheidungen anhält, die auf materielle Gerechtigkeit unter Berücksichtigung der besonderen Umstände abzielen, würde ein Gesetzespositivismus, der sich auf dieser Grundlage ausbildet, nicht mehr mit dem Legalismus der Pandektenzeit zu vergleichen sein, der die juristische Arbeit gegen Einflüsse von außen her rigoros abzuriegeln versuchte. Vielmehr müßten i m Fall einer Automation der Rechtsfindung Einflüsse dieser A r t als grundsätzlich legitim anerkannt und laufend durch nachträgliche Einspeicherungen bestmöglichst berücksichtigt werden. Obwohl demgemäß das gesetzespositivistische Denkmuster des späten 19. Jahrhunderts als durch die Entwicklung überholt anzusehen ist, hat sich die Vorstellung des allein nach dem Gesetz und ohne Beteiligung vorpositiver Elemente entscheidenden Juristen bis zur Gegenwart erhalten. Sie hat zwar das ihr ursprünglich anhaftende zeitgeschichtlich bedingte Kolorit inzwischen verloren. Aber ihr wesentlicher Inhalt lebt über die Jahrzehnte hinweg weiter fort 1 3 . 11 Z u m gleichen Schluß k o m m t auf G r u n d eingehender Studien A. Baratta („Rechtspositivismus u n d Gesetzespositivismus", 1968, S. 329, 333) ; s. ferner Ott (1976) S. 42 ff., 198 ff. 12 Aus systemtheoretischer Perspektive hat Luhmann den Gesetzespositivismus beurteilt i n „ L e g i t i m a t i o n durch Verfahren" (1969) S. 141 ff.; „Positivität als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft" (1970); „Rechtssoziologie" (1972) S. 190 ff., 207 usw. 13 Arth. Kaufmann macht diese Einsicht geradezu zum Zentralpunkt seiner
Schlußbetrachtung
Dies ist, und darin liegt ein bemerkenswertes Faktum, die Rechtsfindungskonzeption, von der man heute sowohl i n den Gerichten als auch i m akademischen Bereich auszugehen pflegt. Sie w i r d vom rechtanwendenden Juristen zwar nicht i n dem Sinne befolgt, daß er sich bei seiner Arbeit an sie unbedingt gebunden fühlte (in Wahrheit handelt er ihr täglich und stündlich zuwider); aber sie ist doch als Auffassungsmodell nach wie vor gebräuchlich und bestimmt weitgehend den Verständnisrahmen, i n den die einzelnen Denkschritte eingeordnet werden. Der Fallbearbeiter ist darüber hinaus meist überzeugt, daß er für seine Person den damit an ihn gestellten Anforderungen tatsächlich gerecht werde und sich i n der überwältigenden Mehrzahl der Fälle ohne Rekurs auf außergesetzliche Momente ausschließlich vom Gesetz leiten lasse. Auch diejenigen, denen die Unentbehrlichkeit vorpositiver Richtmittel völlig klar ist, haben oft eine schwer verständliche Scheu, sich von dem herkömmlichen, starr legalistischen Schema grundsätzlich zu trennen. Obwohl sie die Bedeutung präpositiver Maßstäbe deutlich erkennen, w i r d diese Einsicht nicht m i t den vorhandenen juristischen Denkgrundlagen i n eine lebensvolle Verbindung gebracht. Vielmehr beläßt man sie i n ihrer Isolierung, u m — wie es scheint — sich auf diese Weise eine Neufassung der Rechtsfindungskonzeption ersparen zu können. Zwar gibt es i m juristischen Schrifttum bereits mancherlei zukunftweisende Richtungen, die von diesem unnachgiebigen klassischen Denkmuster nicht nur pro forma Abstand genommen haben, sondern den so gewonnenen neuen Denkansatz entschlossen weiter verfolgen. Aber sie haben bisher auf die große Mehrheit unserer Juristen keinen nachhaltigen Eindruck gemacht, zumal sie keine gleichförmige Gruppe bilden, sondern vielfach von unterschiedlichen Grundannahmen und Zielvorstellungen ausgehen 14 . Maßgebend ist — manchem äußerem A n schein zum Trotz — für das Gros der Juristenschaft immer noch die überlieferte Vorstellung des ausschließlich m i t dem Gesetz arbeitenden Rechtsanwenders. W i l l man dieses infolge der Zeitumstände überholte Rechtsfindungsschema durch ein der Gegenwart angemesseneres ersetzen, so braucht dabei der Gesetzespositivismus keineswegs ganz und gar aufgegeben zu werden. Aber wer an i h m festhalten w i l l , müßte eine Variante Betrachtungen über „Tendenzen i m Rechtsdenken der Gegenwart" (1976) S. 19 ff. 14 Eine zusammenfassende Darstellung des Einflusses, den diese „ k r i tischen" Richtungen einschließlich der neomarxistischen Tendenzen auf die Beurteilung der Rechtsfindungsprobleme gewonnen haben, muß noch erfolgen; erste Ansätze dazu bei Fikentscher, Methoden des Rechts Bd. 3 S. 361 ff., 405 ff.
202
Schlußbetrachtung
wählen, die für die Einsicht i n die Unentbehrlichkeit außergesetzlicher Ordnungsfaktoren Raum läßt. Akzeptabel dürfte gegenwärtig nur noch ein Leitbild sein, das die Verwendung vorpositiver Richtmittel i n gesetzlich nicht geregelten Punkten als prinzipiell zulässig vorsieht und m i t h i n nichts mehr von dem Ausschließlichkeitsanspruch an sich hat, der das legalistische Grundmuster der älteren Zeit auszeichnete. Die frühere Uberzeugung von der Allgewalt des Gesetzes wäre so weit einzuschränken, daß daneben die gesetzesexternen Bestimmungsmomente den Platz i m juristischen Denksystem einnehmen können, den sie m i t weitgehender B i l l i gung der Allgemeinheit i n der Rechtspflege praktisch bereits seit einiger Zeit innehaben. Man gelangt dann, sofern der einzelne sich nicht ein entschieden antipositivistisches Verständnismuster zu eigen machen w i l l , zu einem Positivismus, der unbedingte Beachtung des Gesetzes vorschreibt, sich jedoch dort, wo dieses keine effektive Herrschaft mehr auszuüben vermag, das unumwunden eingesteht. Auch i n dieser weniger extremistischen Auffassung der Gesetzesherrschaft fungiert die Gesetzesnorm als ein Positivum, an das sich der Fallbearbeiter zu halten hat; sie stellt insbesondere eine Ablehnung aller Denkvorlagen dar, die das Gesetz mehr oder weniger offen nur als Anknüpfungspunkt für vorpositive Überlegungen gelten lassen wollen 1 5 . I n derart gemäßigter Gestalt kann der Gesetzespositivismus als eine Konzeption von dauerndem Wert, d. h. als eine solche betrachtet werden, die sich immer wieder von Neuem geltend macht und niemals als gänzlich überwunden angesehen werden darf. Bei einer solchen Neuadjustierung des Rechtsfindungsmodells handelt es sich nicht etwa u m eine Angelegenheit von nur dekorativer Bedeutung, die vor allem ästhetische Rücksichten befriedigen soll. Es steht auch nicht lediglich der architektonisch korrekte Aufbau des juristischen Denksystems i n Frage. Vielmehr geht es u m nicht weniger als das Fortschreiten zu einem stichhaltigeren Leitbild für den Rechtsgewinnungsvorgang. Da derartige Rahmenvorstellungen eine beträchtliche Richtkraft besitzen, ist ihnen große praktische Bedeutung beizumessen. Wer sich einem eindeutig antiquierten Auffassungsschema verschreibt, bekommt die von i h m ausgehende Mißweisung dauernd zu spüren, insbesondere dort, wo er des richtigen Weges nicht ganz gewiß ist. E i n entschiedener Vorzug des gesetzespositivistischen Ansatzes, der die Bedeutung außergesetzlicher Orientierungsmittel weder leugnet 15
F ü r die Strafrechtsanwendung formuliert Naucke (1975) S. 59 nach Erwägung des F ü r u n d Wider seine Stellungnahme dahin: „Das Beste scheint eine A r t Neu-Positivismus zu sein, der eine Absage ist sowohl an den Positivismus des 19. Jahrhunderts als auch an übertriebene Freirechtsvorstellungen."
Schlußbetrachtung
noch bagatellisiert, liegt darin, daß er das Verantwortungsbewußtsein festigt, m i t dem der rechtanwendende Jurist i n der gesetzesfreien Region an die Arbeit geht. Der klassische Legalismus hingegen w i r k t sich dadurch ungünstig aus, daß er dem Bearbeiter oftmals ungerechtfertigterweise die Chance gibt, die Verantwortlichkeit für sachlich unbefriedigende Lösungen von sich abzuwälzen. I h m steht hier vielfach die Ausrede zur Verfügung, daß er für die Gerechtigkeit seines Urteils nicht aufzukommen habe, daß vielmehr für etwaige Ungereimtheiten, die sich bei strikter Gesetzeshandhabung ergeben, der Gesetzgeber gerade stehen müsse. Dies verleitet i h n dann nicht selten zu leichtfertigem und rücksichtslosem Vorgehen. Er w i r d ermutigt, „kräftig das Schwert zu schwingen" (Ad. Arndt), ohne daß es i h m nötig erscheint, über die innere Berechtigung seines Tuns nachzudenken. Seine volle Gewissenhaftigkeit w i r d der Rechtsanwender i n gesetzlich nicht definitiv geregelten Fragen häufig nur dann entwickeln, wenn i h m ständig gegenwärtig ist, daß er sich dabei nicht nur als bloßes Ausführungsorgan des Gesetzgebers ansehen kann, sondern vieles aus sich heraus t u n muß; wenn i h m der Sinn dafür niemals abhanden kommt, daß er i n diesem Bereich oftmals der eigentlich Handelnde ist und demgemäß für die von i h m erarbeitete juristische Lösung selbst einzustehen hat. N u r wo für den Bearbeiter das Bewußtsein seiner unmittelbaren Beteiligung zu einem i h n bewegenden Erlebnis geworden ist, kann man leidlich sicher sein, daß er i n der gesetzesfreien Zone m i t der Umsicht zu Werke geht, die angesichts der Ungedecktheit seiner Erwägungen durch die gesetzliche Weisung erforderlich ist. Gewiß w i r d mancher auch vom überlieferten legalistischen Grundschema her den rechten Weg finden; doch steht dieses bei den meisten einer zutreffenden Vorstellung vom Ausmaß ihrer Mitarbeit an der Rechtsfindung und der sich für sie daraus ergebenden Verantwortlichkeit sehr i m Wege. Auch i n anderer Hinsicht könnte sich die nicht nur formal vollzogene Anpassung des Dogmas von der Alleinherrschaft des Gesetzes an die gegenwärtige Lage günstig auswirken. Die Erkenntnis, daß die außergesetzliche Sphäre ein besonderes, i n sich abgerundetes und noch weitgehend unerschlossenes Gebiet darstellt, würde voraussichtlich den i m Gange befindlichen Bemühungen u m diesen Bereich neuen Auftrieb geben. Sie wäre geeignet, seine Erschließung durch den Aufbau eines umfassenden Koordinatensystems zu fördern, das den Fallbearbeiter zu leiten und besser als bisher vor Fehlgriffen zu bewahren vermag 1 6 . 16 Grundsätzliche Erwägungen dieser A r t finden sich, wenngleich i m einzelnen unterschiedlich nuanciert, auch bei Schmidhäuser (1964) S. 12 ff., Wieacker, Gesetz u n d Richterkunst (1958) u n d Hans J. Wolff, Rechtsgrundsätze u n d verfassungsgestaltende Grundentscheidungen als Rechtsquelle (1955) sowie i n den zahlreichen Arbeiten Josef Essers.
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Schlußbetrachtung
Bei konzentrierten Anstrengungen dieser A r t könnte es dann i n einiger Zeit durchaus dahin kommen, daß auch für die gesetzesfreie Region ein ihrer Eigenart angepaßtes Netz methodischer Grundsätze geschaffen wird, dem soviel Positivität zukommt, daß der Rechtsanwender auf diesem Fundament fußen kann, ohne sich gewagten Spekulationen hingeben zu müssen. Zugleich eröffnen sich durch die Abstandnahme vom uneingeschränkten Gesetzesdenken neue Möglichkeiten zur Bewältigung von Einzelproblemen, denen vorher nicht beizukommen war; so w i r d ζ. B. das immer wieder geäußerte Verlangen nach Offenlegung der maßgebend gewesenen Entscheidungsgründe durch den Rechtsanwender erst unter dieser Voraussetzung wirklich durchführbar. Der Bearbeiter kann i h m begreiflicherweise nur insoweit Rechnung tragen, als er sich die bei der Rechtsfindung benutzten nichtpositivierten Momente bewußt gemacht hat. Dazu kommt es jedoch unter dem Einfluß der überlieferten gesetzespositivistischen Rahmenvorstellung oft gar nicht. Diese w i r k t sich vielmehr dadurch, daß sie keine außergesetzlichen Bestimmungsfaktoren gelten läßt, dahin aus, daß der Rechtsanwender, wo er auf diese angewiesen ist, keinen Sinn darin sieht, sie ins Bewußtsein zu heben. Die außerlegalen Gesichtspunkte werden infolgedessen häufig i m Bereich des rein Emotionalen belassen, was ihre Offenlegung von vornherein unmöglich macht. Wer ständig davon ausgeht, daß die für erforderlich gehaltenen präpositiven Ausgangsmaterialien bei der Urteilsbegründung nur insoweit verwendbar sind, als sie m i t dem Gesetz verknüpft werden können oder sich doch wenigstens pro forma als Gesetzesinhalt deklarieren lassen, w i r d keine Neigung haben, sich außergesetzliche Maßstäbe bewußt zu machen, die diese Bedingung nicht erfüllen. Teilweise w i r k t die hier befürwortete Milderung des schrankenlosen Gesetzespositivismus bis i n die technischen Probleme des Urteilsaufbaus hinein. Dieser erhält unter dem Einfluß der gemäßigten Auffassung insofern ein anderes Gepräge, als nunmehr auch gesetzesexterne Bezugspunkte, die m i t dem positiven Recht nicht i n engerer Beziehung stehen, bei der Urteilsbegründung angemessen zur Geltung kommen. Nach dem streng legalistischen Verständnismodell können außergesetzliche Kriterien höchstens hilfsweise i n aller Kürze zur Geltung kommen; etwa dadurch, daß gesagt wird, die unter Berufung auf die Gesetzeslage begründete Entscheidung entspreche „auch" der Billigkeit bzw. dem praktischen Bedürfnis, den Interessen des Rechtsverkehrs usw. Selbst das wurde jedoch jahrzehntelang als Inkonsequenz betrachtet und entsprechend bemängelt.
Schlußbetrachtung
Vom Standpunkt eines eingeschränkten Gesetzespositivismus werden dagegen außerlegale Bezugspunkte, die sich nicht oder lediglich zum Schein m i t dem Gesetz i n Verbindung bringen lassen, von ihrem Aschenbrödel-Dasein, zu dem sie allzu lange verdammt gewesen sind, erlöst. Sie treten ebenbürtig neben die aus dem Gesetz zu entnehmenden Bestimmungsgründe. Der Rechtsanwender ist nicht mehr genötigt, sie — wie es bisher unter dem Zwang des überlieferten Auffassungsmusters oftmals geschah — m i t einem Satz abzutun. Er hat vielmehr die Möglichkeit, sie eingehender zu erörtern, falls dies aus sachlichen Erwägungen geboten oder wenn dies erforderlich ist, u m eine Anerkennung der getroffenen Entscheidung auf breiterer Grundlage zu erreichen. I n manchen Fällen w i r d dadurch i m Vergleich zu dem bisher vielfach Üblichen der Aufbau der Urteilsgründe ins gerade Gegenteil verkehrt, indem Gesichtspunkte, die nach der klassischen Rahmenvorstellung verschwiegen oder m i t einem knappen Hinweis abgetan werden mußten, jetzt stärker hervortreten oder sogar i n den Mittelpunkt der Urteilsbegründung rücken. Die höchstrichterliche Rechtsprechung ist während der letzten Jahre auf diesem Wege bereits kräftig vorangeschritten, was nicht nur die Transparenz des Rechtsfindungsvorgangs erhöht hat, sondern der Justizpflege auch sachlich zugute gekommen ist. Doch würde es die Bereitschaft zur Aufdeckung der wahren Entscheidungsgründe (vor allem auch bei den Instanzgerichten) weiter stärken, wenn man sich dazu entschließen könnte, das überkommene unduldsame Gesetzesdenken aufzugeben und allgemein ein toleranteres Auffassungsschema zugrunde zu legen. Angesichts dieser positiv zu bewertenden Momente des gemäßigten Gesetzespositivismus kann dem pädagogischen Einwand keine entscheidende Bedeutung beigemesen werden, der besagt, daß der Jungjurist nur beim Ausgehen von einem strikt gesetzesgläubigen Denkmuster zu korrekter Auswertung der Gesetzesnorm zu bringen sei und daß dieses allein auch den Praktiker vor einem allzu schnellen Übergang von der Gesetzesarbeit zu außergesetzlichen Erwägungen bewahren könne. Warum sollte es für den rechtanwendenden Juristen nicht möglich sein, die gewissenhafte Befolgung gesetzgeberischer Weisungen m i t einem echten Verständnis für das Gewicht vorpositiver Bestimmungsgründe zu verbinden, zumal er doch durch die Entwicklung der letzten Jahrzehnte weitgehend darauf vorbereitet ist? Wenn nach alledem trotz der Risiken, die m i t jedem Fortschritt verbunden sind, der Ubergang vom strengen Legalismus zu einem solchen wünschenswert ist, der die ständige M i t w i r k u n g gesetzesexterner Maßstäbe bei der Rechtsfindung als unvermeidlich und sachentsprechend anerkennt, so läßt sich doch schwer voraussagen, wann er von der
206
Schlußbetrachtung
großen Mehrheit unserer Juristen nicht nur i n Form von Lippenbekenntnissen, sondern effektiv vollzogen werden wird. Manchmal hat es den Anschein, als ob dem keine wesentlichen Hindernisse mehr entgegenstünden und die Umstellung nahe bevorstehe. Aber das Leitbild des klassischen Gesetzespositivismus, das lange Zeit maßgebend war und bis zur Gegenwart sorgsam gepflegt und gehütet worden ist, stellt eine Bastion dar, i n die nicht leicht eine Bresche gelegt werden kann. Die zu i h m i n Widerspruch stehende Erkenntnis von der grundlegenden Wichtigkeit nichtpositivierter Richtpunkte für eine sachgemäße Rechtsfindung führt daher allein den Wandel noch nicht herbei. Sie ist wie vieles andere, was immer wieder verbal als richtig anerkannt wird, bisher nicht so ins allgemeine Bewußtsein eingedrungen, daß sie auf das Denken und Handeln jedes einzelnen Juristen Einfluß nehmen könnte. Möglicherweise w i r d daher noch einige Zeit vergehen, ehe das Gros der Rechtsanwender den längst fälligen Anpassungsvorgang zu vollziehen vermag. Mitunter ergeben sich zudem aus dem Lauf der Dinge neue Hindernisse, die den Umschwung verzögern. Andererseits können aber auch unerwartete Umstände binnen kurzem das vollenden, was sich vorher durch konzentrierte Willensanstrengungen und durch noch so triftige Argumente nicht erreichen ließ. Gerade diese Unwägbarkeiten machen es nötig, die weitere Entwicklung aufmerksam zu verfolgen, damit die Chancen nicht verpaßt werden, die sich für die Durchsetzung einer zeitangemessenen Rechtsfindungskonzeption bieten.
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Berufsgruppen (Vertreter bestimmter — als Rechtskonsumenten) 157 ff. Berufsphilosophie des Rechtsanwenders 61, 63, 151 Besonderheiten des Falles (Tendenz zur Rücksicht auf die —) 20 ff., 180 ff. Bestandskräftigkeit als Erfordernis vorpositiver K r i t e r i e n 39, 114, 116 Bestechung des Richters 155 Beweishunger mancher Gerichte 184 Beweiswürdigung als M i t t e l der Rechtsfindung) 193 f. Billigkeit (Verhältnis von — u n d Gerechtigkeit) 76; (Geringschätzung des Billigkeitsstrebens i m 19. Jahrh.) 21 Chancengleichheit als Gerechtigkeitsmerkmal 73 Charaktereigenschaften (Obacht auf typische — der Bevölkerung) 48 Char akterv er anlagung des Rechtsanwenders (ihr Einfluß auf die juristische Arbeit) 150, 163, 184 DDR (Rechtsanschauungen i n der —) 14, 66, 72 Denkgebäude (juristisches — ; Gefährdung seiner Stabilität) 127 Denkgewohnheiten des Bearbeiters (Einfluß von — auf die Rechtsgewinnung) 131 Denkwelt des einzelnen Rechtsanwenders (Notwendigkeit, daß dieser sich über ihren A u f b a u v e r gewissert) 60 f. Dezisionismus 122 Dogmatik (Aufbereitung vorpositiver Materialien durch die juristische —) 42, 49 Eigenständigkeit der Jurisprudenz (Vorstellung von der —) 10, 48, 195 ff.
222
Sachregister
Eigenverantwortliche Aktivität des Rechtsanwenders 38 ff., 43, 50, 74, 92 f., 99, 106 f., 199 Einflußmöglichkeiten des Bearbeiters (auf das Rechtsfindungsergebnis> 44 ff. Emotionale Regungen i m Rechtsanwender (ihre kritische Überwachung) 166 Entscheidungsgründe (Inhalt der gerichtlichen —) 104, 124, 134, 205; (ihre Offenlegung) 204 f. Ererbte Grundhaltungen des Rechtsanwenders (ihre Begradigung) 166 Erfahrungsmaterial (Beschaffung von verläßlichem —) 142 ff.; ( M i t t e l zur Schließung der Erfahrungslücken) 144 f.; (Zurückgreifen auf Erfahrungsanalogien) 145; (unbefangene Prüfung von Erfahrungssätzen 144 f., 146 Ergebnisbeurteilung durch den F a l l bearbeiter 26, 28 ff. Erprobung präpositiver Regelungsfaktoren 101 ff. Erwerbsstreben (Widerstand des Rechts gegen rücksichtsloses —) 44 Ethische Bezugspunkte als Entscheidungsmaßstab 80 ff.; (größere oder geringere Häufigkeit ihrer V e r wendung) 83 ff. Ethisch einwandfreies Verhalten der Rechtsgenossen (seine Durchsetzung m i t rechtlichen Mitteln) 86 Evidenzerlebnis des Rechtsanwenders 114, 133, 163 Existenzsicherung kleiner Bevölkerungsgruppen durch das Recht 157 Falleigentümlichkeiten (Tendenz zur Rücksicht auf —) 20 ff., 180 ff. Fernwirkungen der Gesetzeslage 47, 102 Förderungswürdigkeit bestimmter Anliegen (rechtliche —) 190 ff. Folgenerwägung durch den Rechtsanwender 35 ff., 146 f., 186, 191 f.; s. auch unter „Nebenwirkungen" Formale Rechtshandhabung 14, 16, 19, 73, 197, 200 Formwahrung (Grundsatz der —, von der Gerechtigkeitserwägung m i t umfaßt) 75
Französische Rechtspflege 14, 26, 53, 107 Freigeistige Anschauungen der Prozeßpartei (ihre angemessene W ü r digung) 177 Freiheit (Schutz der individuellen — durch das Recht) 45, 192 Freirechtsschule 29, 54, 199 Fremdbeobachtung als H i l f s m i t t e l des Rechtsanwenders 57 Funktionale Betrachtungsweise in der Jurisprudenz 200 Funktionsfähigkeit (der gesetzlichen Regelung) 34, 41, 52; (eines v o r positiven Bezugspunktes) 105, 117, 121 Geistesströmungen (neu aufkommende — ; ihre Würdigung v o m Standp u n k t des Rechts) 172 ff. Gegenwartsanschauungen (Einfluß der — auf die Rechtsgewinnung) 17 ff., 171 ff. Gelassenheit des Rechtsanwenders 63, 151 Generalklauseln 23, 44, 58, 92, 106 Gerechtigkeit (keine bloße Leerformel) 70; (ihre weltweite A k t u a l i tät) 69, 72; (ihre beachtliche Richtkraft) 71; (Unzulänglichkeit des individualistischen Gerechtigkeitsbegriffs) 74; (— als L e i t b i l d der juristischen Arbeit) 16, 29, 40, 71; (die von i h r umfaßten Elemente) 75 ff.; s. auch unter „Materielle Gerechtigkeit" Gerechtigkeitsanschauungen (Wichtigkeit der jeweils gültigen —) 10, 20, 21, 34, 71, 105, 108, 120, 125, 138, 183, 185, 192 Gesamtsituation (ihr Einfluß auf die Rechtsgewinnung) 51 f., 73, 106,125, 132, 146; (Entscheidung aus der — heraus) 12; (Anpassung der j u ristischen Stellungnahme an die veränderte —) 46, 103 Gesellschaftliche Sphäre 14, 49, 109, 118, 127, 162, 198 Gesetz (Bindung der rechtlichen A r beit an — u n d Recht) 39, 48 ff., 100; (neuer Begriff der Gesetzestreue) 48 f., 52; (loyale H a l t u n g gegenüber dem —) 21, 54; (— n u r als Regelungsvorschlag?) 56, 101, 202
Sachregister Gesetzesallmacht (Idee der —) 9 f., 13 f., 28, 48 f., 198 Gesetzesauslegung (eng aufgefaßte —) 19, 30, 34, 43, 46, 101, 103, 104, 195; (objektive —) 52 f.; (verfassungskonforme —) 53 Gesetzespositivismus (der klassische —) 9 ff., 57, 99 f., 149; (seine H a u p t merkmale) 9 ff., 195 ff.; (Absperrung des Rechts v o n der Gesamtentwicklung) 10; (Fernhaltung des Richters von eigenverantwortlicher Tätigkeit) 197; (Verleugnung außergesetzlicher Orientierungshilfen) 10,195 f.; (—als politische W a f fe) 198; (— als M i t t e l zur Bekämpfung unmetaphysischer Rechtsauffassungen) 198; (der strenge — als Hindernis für die Wahrnehmung moderner Rechtspflegeaufgaben) 99 f., 199 f.; (Anpassung des extremen — an die Gegenwartslage) 202 ff. Gesetzeszweck 31, 52 f. Gesunder Menschenverstand als Orientierungsmittel 146, 163 f. Gewaltenteilung (Grundsatz der —) 24 Gewissenhaftigkeit (bei der A r b e i t i m gesetzesfreien Bereich) 203 Gewissenserforschung des Rechtsanwenders 130 ff.; (— als Behelf f ü r verinnerlichte u n d f ü r außengeleitete Naturen) 131 Gleichbehandlung sprinzip als Bestandteil der Gerechtigkeitsidee 72 ff., 121, 123 Grundausrüstung (geistige — des Normaljuristen) 59 ff., 62 ff. Grundrechtsbestimmungen der V e r fassung 41, 172; (ihre Aktualisierung durch das Grundgesetz) 54, 84; (ihre große Abstraktheit) 41 f., 186 Grundüberzeugungen (abgeleitete H e r k u n f t vieler —) 66 Hearing (des Gerichts zur Informationsbeschaffung) 141 Hippiebewegung 159 Ideologien (ihre Gestaltungsformen) 167 f.; (Hindernisse, die ihrer Überprüfung entgegenstehen) 168;
(ihre Erprobung i m Rahmen der Rechtsfindung) 169 ff. Individuum 190, 192; (seine Stellung i m Gesamtgefüge) 89 ff.; (seine Eingebundenheit i n die Gemeinschaft) 83 f., 90 Informationsdichte (unzulängliche —) 139 Innenwelt (die — des Rechtsanwenders als Gefahrenquelle) 154 f., 163 f. Interessenjurisprudenz 28, 29 ff., 199 Interess'enverbände (Einfluß der —) 157 Intransigente Haltung (des Rechtsanwenders) 19 Italienische Jurisprudenz 14, 92, 196/ 97 (Anm.4) „Jedem das Seine" keitsgebot 73
als
Gerechtig-
Kanalisierung von Auseinandersetzungen zwischen starken Interessengruppen 45 Kasuistische Arbeitsweise der Rechtsprechung 121 f., 123 Kollektivistische Rechtsauffassung 90 f., 111 Konflikte (Wert u n d U n w e r t heftiger — innerhalb der Rechtsgemeinschaft) 64 Konsens (über die Rechtserheblichkeit eines vorpositiven Bezugspunkts) 117 ff.; (die Bemühung des Bearbeiters u m — als T e i l der Suche nach Gerechtigkeit) 75; (— als Indiz f ü r die Brauchbarkeit eines Ordnungsgedankens) 117, 120; (Ausnutzung der zur Herstell u n g v o n — gegebenen Möglichkeiten) 118; (Ermittlung, ob K o n sens i n Z u k u n f t zu erwarten ist) 119; ( I r r t u m über die insoweit vorhandenen Aussichten) 120 Konstruktionen (kühne juristische—) 108, 113 Kurzlebigkeit mancher vor j u r i s t i scher Gesichtspunkte 58, 114 Lebensphilosophische Grundannahmen des Rechtsanwenders 61 Lebensstandard (allg. Streben nach höherem —) 66
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Sachregister
Mammutparteien als Prozeßbeteiligte 156 Materielle Gerechtigkeit 15, 17, 26, 29, 40, 50, 53, 106, 168, 180, 199, 200 Mathematisierung des Rechtsfindungsvorgangs (Tendenz zur —)
86 f., 200
Meinungsbildende Kraft der Rechtsprechung 45/46 Menschlichkeit (Eintreten der Gerichte f ü r mehr —) 44 Mentalität der Rechtsgenossen (Notwendigkeit v o n Kenntnissen des Fallbearbeiters über sie) 138, 148 Metaphysisch gebundene Rechtsanschauung 75 f., 198 Methodenpluralismus (oder Methodeneinheit bei der Rechtsfindung?) 168 Methodische Grundsätze 13, 47, 65, 73, 81, 98, 113, 164 Mohammedanisches Recht 76, 96 !Nachbarwissenschaften (das Verhältnis der Jurisprudenz zu ihren —) 10, 141 f., 1471, 180, 187, 191 Nah- und Fernziele bei der Rechtsgewinnung 65 Natur der Sache 75, 108, 199 Naturwissenschaften (unterschiedliche Wertung des Fortschritts der —) 65 Nebenwirkungen (unbeabsichtigte — der juristischen Entscheidung) 35 ( A r n ) , 37, 191 f. „Neminem laedere" als Gerechtigk e i t s k r i t e r i u m 74, 90 Nonkonformisten als Prozeßpartei (angemessene Einstellung gegenüber —) 158 f. Normexterne und norminterne Bestimmung smoment e (Wichtigkeit ihrer Unterscheidung f ü r die j u ristische Arbeit) 104 Objektivierung des Rechtsfindungsvorgangs 153 ff. Opportunistische Haltung 65, 174 „Parteilichkeit" (des Richters i n der sowjetischen Justiz) 153 Personelle Einflüsse auf die Rechtsgewinnung 128, 137, 145, 153, 155
Phantasie (kognitive — des Rechtsanwenders) 39, 113, 116, 122 Planung (Teilnahme der Gerichte an der —) 45, 47, 93 Pluralistisches Prinzip 27, 132, 187 Politik (Beziehungen zwischen — u n d Recht) 78 ff. Praktikabilität der juristischen L ö sung (Rücksicht auf sie i m Rahmen der Gerechtigkeitserwägungen) 75 Praxis (die gesellschaftliche — als Reservoir f ü r sachdienliche E n t scheidungsgesichtspunkte) 10, 45, 63, 100, 127 Prognoseurteile 137, 142 Progressive Einstellung (des Rechtsanwenders) 47, 55, 127 Realisierbarkeit v o n Regelungszielen (Obacht auf die —) 36 Realistische Grundströmungen 15,181 Recht (Anschauung v o m — als einer endgültig feststehenden Ordnung höherer A r t ) 18; (seine Auffassung als Ausschnitt aus dem Gesamtgeschehen) 9, 14, 17; (Verhältnis von — u n d gesellschaftlicher U m welt) 95 Rechtsanwälte (ihr Scharfblick i n bezug auf sich vollziehende Wandlungen) 18 Rechtsanwender (seine Legitimation zu Eingriffen i n das Gemeinschaftsleben) 39 f. ; (seine M i t a r b e i t an der Entwicklung des allg. Rechtsbewußtseins) 45; (zunehmendes soziales Engagement?) 91 f., 94, 95 f.; (Umfang seiner Einflußmöglichkeiten) 26 ff.; (Bindung an das Gesetz) 48 ff.; (sonstige Einschränkungen seiner Gestaltungsfreiheit) 47; (selbstkritische Grundhaltung) 127 ff.; (Streben nach Offenheit des Geistes) 132 ff.; (Steigerung der E r lebnisfähigkeit) 136; (Abstandnahme von kleingeistigen Einstellungen) 135; (Analyse der eigenen Vor-Urteile) 135, 176 ff.; (Befragung des Gewissens als Orientierungshilfe) 130 ff. Rechtsfindung sauf trag (seine unterschiedliche Deutung durch die J u risten) 168
Sachregister Rechtsfortbildung (Begriff der richterlichen —) 43; (Grenzen der —) 101 Rechtsfremde Einflüsse auf die j u ristische Erwägung (ihre Erscheinungsformen) 155 ff. Rechtsgebiet (das jeweils betroffene — ; seine Eigenart w i r k t determinierend) 24, 25, 47, 103, 192 Rechtsfindungskonzeption (die — als Wegweiser für die juristische A r beit) 100, 141, 202 Rechtssicherheit (Rücksicht auf die — als Teil der Gerechtigkeitsüberlegungen) 24, 75 Rechtsstaatsprinzip 75, 97 Rechtssysteme (starr bzw. flexibel konzipierte —) 126 Rechtstheorie (Pionierleistungen der —) 32, 49, 110 ff., 116; (gegenwärtige Aufgaben der —) 60, 98, 99, 128, 148, 163, 180, 183, 189, 203 f.; (Warnung der — v o r Mißbräuchen) 55, 123, 184 Redlichkeit (größere intellektuelle — durch Gewissensbefragung) 131 Relationstechnik (als Schutz gegen subjektive Einflüsse) 154 Richter (Vorstellung v o m — als dem M u n d des Gesetzes) 55; (— als Zweitgesetzgeber) 43, 108 Richtermacht (Zunahme der —) 26, 106 Richtigkeitserwägung des Rechtsanwenders 26, 42, 55, 75, 104 ff., 107, 172 Routineentscheidungen 107, 180 Rücksichtslosigkeiten (rechtliche Wertung i m Leben vorkommender —) 63 Schutz der Schwachen 89, 95 Schwächen der juristischen Lösung (Vermeidung von inneren —) 153 ff. Selbstbildungsbemühungen des Rechtsanwenders 130 Selbstgefühl (leichtverletzliches — des Juristen) 129, 168 Selbstkontrolle des Fallbearbeiters 60 f., 168; (unterschiedliche Position bei der —) 130 Selbstkritische Haltung bei der A r beit i m gesetzesfreien Raum 127 ff.
Selbstregelung (Gedanke einer — von Mißständen durch die Gesellschaft) 74, 83, 86, 95 Sensibilitätstraining des Fallbearbeiters 130 Skandinavische Jurisprudenz 25 f., 70, 76 Sowjetrustsische Rechtsauffassung 14, 76, 153 Soziale Idee (die — als normativer Gesichtspunkt) 88 ff., 185 ff.; (ihre weltweite Überzeugungskraft) 88, 96; (Schwierigkeit ihrer begrifflichen Präzisierung) 89; (Einfluß des sozialen Leitbildes auf die Rechtsgewinnung) 78, 186, 188; (die — als revolutionäres Prinzip) 94 Soziales Bedürfnis (als gesetzliches Merkmal) 92 Sozialingenieur (Charakterisierung des Juristen als —) 91 Soziale Phänomene (neuartige — ; ihre Beurteilung i m Rahmen der rechtlichen Arbeit) 146 Sozialmodell 78, 185 Sozialpsychologische Gegebenheiten (Vertrautheit m i t ihnen) 138 Sozialschädlichkeit (Begriff der — als Arbeitsbehelf) 86, 188 f. Sozialstaatsprinzip 88, 94, 186 Sozialtheorie (Beitrag der Jurisprudenz zur Erarbeitung einer —) 187 f. Sozialwissenschaften 141 f., 187, 191 Standfestigkeit (und Durchhaltekraft bestimmter Personengruppen in ungewissen Situationen) 179 Standort des einzelnen Rechtsanwenders (innerhalb der Vielfalt von Richtungen u n d Tendenzen) 60 f. Strafwürdigkeit bestimmter Verhaltensweisen 188 Südamerikanische Rechtspraxis 96 Syllogistisches Schlußverfahren 195 f. Systematisches Argument (Auffassungen über seine Bedeutung) 168 Τ ats'achenkenntnisse (Beschaffung der notwendigen —) 136 ff. Tatsachenurteile bei der rechtlichen A r b e i t 67
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Sachregister
Technischer Fortschritt 190; (seine Wertung durch den Rechtsanwender) 65; (sein Einfluß auf die Lage des Individuums) 173 Teleologisches Rechtsdenken 27, 29, 31-1, 33, 75, 761, 168 Topik u n d Jurisprudenz 23, 199 Transparenz des Rechtsfindungsvorgangs 101, 204 Umstände (das Joch der individuellen —) 184 Umweltverhältnisse (Sachkunde bezüglich der — ; ihre Unentbehrlichkeit) 137 Undurchsichtigkeit neuaufkommender Bewegungen 177 Unerträglichkeit des Rechtsfindungsergebnisses 191 Unproblematische rechtliche Entscheidungen 155 Unterwanderung der rationalen K o n trollen durch vor juristische Richtpunkte 1091 Unzulänglichkeiten (innere — der juristischen Arbeit) 153 ff. Verantwortung (erhöhte — des Rechtsanwenders für seine E n t scheidung) 97; (Tendenz, seine V e r antwortlichkeit zu bagatellisieren) 99; (Notwendigkeit, das Bewußtsein der — i m Fallbearbeiter zu stärken) 203; (— des Entscheidenden für die Durchsetzung von Freiheit u n d Gleichheit) 78/79 Verhaltensregeln v o n absoluter G ü l tigkeit 98 Verhältnismäßigkeit (Prinzip der — i m Rahmen der Gerechtigkeitserwägungen) 75 Verweltlichung des gesamten Denkens (ihr Einfluß auf die Jurisprudenz) 135, 198, 199 Voreingenommenheiten des Bearbeiters (Handhaben zur Abstandnahme von —) 165 ff. Vorfeld (juristisches — als U r sprungsbereich f ü r sachrichtige Bestimmungsmomente) 105, 110, 113, 114, 119 Vorpositive Orientierungspunkte (ihre begriffliche Abgrenzung ge-
genüber dem positiven Recht) 104, 113; (Häufigkeit des Rückgriffs auf sie) 40 ff.; (erster K o n t a k t des Rechtsanwenders m i t ihnen) 109 ff.; (ihre mannigfaltigen Erscheinungsformen) 111 ff.; (ihre teilweise A u f bereitung durch die Rechtslehre) 42; (substantielle Voraussetzungen für ihre Brauchbarkeit) 114 ff.; (das Erfordernis der Verallgemeinerungsfähigkeit) 120 ff. ; (öffentlicher Konsens i n bezug auf — als Tauglichkeitsindiz) 117 ff.; (Bewußtmachen verborgener vor juristischer Gesichtspunkte) 149 ff., 152 Vorurteilsforschung 156, 168 Vorwegnahmen (skeptische H a l t u n g des Juristen gegenüber seinen eigenen —) 164 ff. Wandel (rascher — der juristischen Orientierungspunkte als normales Element?) 64, 184 Wandlungen (Erkennen der sich i n der Gesellschaft vollziehenden —) 18, 174 Weite des Horizonts 135 ff. Weltbild u n d Menschenbild des Rechtsanwenders 62, 64 Weltplan (Auffassung von der E x i stenz eines solchen als Grundansicht) 63 Wertende Tätigkeit des Fallbearbeiters 39, 57 Wertphilosophie (gegenwärtiger E i n fluß der —) Wertungsjurisprudenz 28, 29 f., 32 Wertvorstellungen (Begradigung fragwürdiger — durch die Gerichte) 45 Wirtschaftliche Überlegungen (Zurückgreifen auf —) 65, 76 Wirtschaftlicher Ruin der Prozeßpartei (drohender — auf G r u n d des gerichtlichen Urteils) 192/3 Zeiterfordernisse (skeptische Betrachtung der sog. —) 175 Zeitgemäßes Rechtsdenken (festgefügte Traditionen als Hindernis f ü r —) 19 Zielvorstellungen (Klärung der i m gesetzesfreien Raum maßgebenden
Sachregister —) 34, 143, 185; (Prüfung p o l i t i scher — unter rechtlichen B l i c k punkten) 79 Zukunft (Beziehung des Rechtsanwenders zur —) 93, 137 Zurechnungsprobleme (juristische — ; ihre Lösung an H a n d von ethischen Bezugspunkten) 81
Zustand innerer Sammlung (als V o r aussetzung für eine durchgreifende Selbstkontrolle des Bearbeiters) 152, 166 f. Zweckerwägung: s. unter „Teleologisches Rechtsdenken" Zwischenfragen (Zweifel i n bezug auf —) 13, 107, 113