Die Förderung edler Volkserholung durch Staat, Kirche und Schule, die beste Waffe gegen die wachsende Vergnügungssucht: Ein Vortrag gehalten auf der am 25. Oktober 1899 zu Angersbach tagenden Synode des evangelischen Dekants Lautersbach [Reprint 2019 ed.] 9783111650654, 9783111267111


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Vorwort
Leitsätze
I. Hochzuverehrende Herrn!
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
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Die Förderung edler Volkserholung durch Staat, Kirche und Schule, die beste Waffe gegen die wachsende Vergnügungssucht: Ein Vortrag gehalten auf der am 25. Oktober 1899 zu Angersbach tagenden Synode des evangelischen Dekants Lautersbach [Reprint 2019 ed.]
 9783111650654, 9783111267111

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D i eFörderung edler Volkserholung durch

Staat, Kirche und Schule die beste Waffe gegen dir wachsende Vergnügungssucht.

Ein Vorkrag, gehalten auf der am 25. Oktober 1899 zu Angersbach tagenden Synode des evangelischen Dekanats Lauterbach

von

I. H. K. KullmauN) Pfarrer zu Altenschlirf.

Gießen I. Ricker'sche Verlagsbuchhandlung Alfred Töpelniann 1900.

Vorwort. Die vorliegende Arbeit war nrsprünglich nicht für den Druck bestimmt.

Daraus, wie auch aus dem Umstande, daß ich auf der

Synode wegen der vorgerückten Zeit eilen mußte und deshalb zuweilen gekürzt habe, erklärt es sich, daß denen, welche an den

Verhandlungen der Synode teilnahmen, der Vortrag in dieser Gestalt vielleicht vielfach als eine Änderung der ursprünglichen Niederschrift erscheint.

Die Form giebt indes nicht den Aus­

schlag; inhaltlich wurde nichts geändert. Alle, welche den Vortrag

hörten

und jetzt lesen,

werden allenthalben die

eine

Grund­

stimmung finden: Keinem zuliebe, absr auch keinem zuleide.

Schließlich glaube ich, die Bemerkung nicht unterdrücken zu dürfen, daß der Beschluß der Synode, meine Arbeit auf Kosten der Dekanatskasse in Druck zu geben, ein Anerbieten, von dem

ich

jedoch

keinen

Gebrauch

»nachte,

keineswegs als eine Zu­

stimmung der einzelnen Herrn Synodalen zu meinen Ausführungen zu deuten ist.

Der Berfaffer.

Leitsätze.*) I.

Das zeitgemäße Thema lenkt heute mehr denn je die

Aufmerksamkeit aller Volksfreunde auf sich und stellt Staat, Kirche

und Schule in der That ernste Aufgaben, deren Lösung die Ge­ sundung des Volkskörpers wesentlich fördert.

Die Vergnügungssucht ist leider eine Thatsache und

II.

ihre Bekämpfung in den oberen und unteren Schichten des Volkes eine Forderung der Gerechtigkeit. Sie stammt: 1. unmittelbar aus zwei an sich unschuldigen Ursachen: a. aus dem allen Menschen angeborenen Trieb der Ge­ selligkeit und b. aus dem nach treuer Arbeit berechtigten Bedürfnis nach

Erholung; 2. mittelbar sind von nicht zu unterschätzendem Einflüsse: a. besondere Erscheinungen des modernen Lebens, so der regere Austausch zwischen Stadt und Land durch Er­ findung der Maschine, allgemeine Wehrpflicht, Presse,

Freizügigkeit u. a. m. und

b. soziale Mißstände

des modernen

Lebens: die ver­

minderte sittliche Kraft der Familie, schlechte Wohnungs­

verhältnisse, schlechtes Beispiel der oberen Volksschichten. III.

Der Vorwurf ist in Erwägung zu ziehen, weil viel­

leicht berechtigt, daß Staat, Kirche und Schule in der vorliegenden Frage auf Ursache und Wirkung zu spät ihr Augenmerk richteten

und bent modernen Leben mit seinen besonderen Bedürfnissen zu wenig Rechnung trugen. *) Das Thema lautete ursprünglich: „Was sollten der wachsenden Vergnügungssucht gegenüber Staat, Kirche und Schule, als für das Volkswohl verantwortlich, für edle Volkserholung thun?"

VI

IV. Für das Land kommen in Betracht: 1. als Vergnügungszeit die Sonntage und Winterabende und

2. als Vergnügungsgelegenheit Jahrmarkt, Kirchweih, Spinn­ stube, Vereinsfeste, Wahlzeiten, Hochzeiten u. s. w.

Hier wird das Maß des Erlaubten in Wort und That, in Lied und Tanz oft überschritten, wobei die beobachtete Teilnahme

der schulpflichtigen Jugend am Tiefsten zu beklagen ist, und am Sonntag ist oft weder von Sonntagsruhe noch von Sonntags­

heiligung die Rede.

Aufgabe der Schule:

V.

1. Im Unterricht: Gelegentliches Hinweisen auf Freude und Nutzen edler Erholung, wie auch auf das Verderben und

Elend, in welches die Vergnügungssucht stürzt, und 2. Außerhalb des Unterrichts: Eifrigere Ausbildung und Betreibung

des Spieles und

Gesanges;

diese beiden

Mittel werden: a. im Frühjahr und Sommer bei gemeinsamen Spazier­ gängen durch Feld und Wald und bei Schülerfesten

an nationalen oder lokalen Feiertagen, b. im Winter bei munterer Bewegung auf dem Eis rechte Freude hervorrufen und sind c. geeignet, als liebes Erbe aus der Schulzeit in das

Leben mitgenommen zu werden.

VI.

Aufgabe des Staates:

1. Wirkliche Durchführung der diesbezüglichen bestehenden

Gesetze, 2. Erweiterung dieser

immerhin

verbesserungsbedürftigen

Gesetze und

3. Förderung aller Bestrebungen, welche in dieser Richtung dem Volke dienen wollen.

VII.

Aufgabe der Kirche:

1. Allgemein: Ihr steht das freundlich-ernste (nie polternde)

Wort der Mahnung und Warnung in Predigt, Seelsorge und Unterricht zu Gebote, 2. Sie kann, wo es angeht, die Sonntagsheiligung praktisch fördern durch Einrichtung von Sonntagsschulen (Laien-

VII thätigkeit) und durch Einführung von Abendgottesdiensten statt der Nachmittagsgottesdienste,

3. Sie kann manchen kirchlichen Festen, wie Gustav-Adolfs­ und Mlssionsfesten, einen volkstümlichen Charakter ver­ leihen, indem sie die sogenannten Nachversammlungen mit ihren Ansprachen und Liedern ins Freie verlegt, 4. Sie sollte sich die Gründung kirchlicher Vereine, bes. von Kirchengesangvereinen, und die Unterstützung von christ­

lichen Vereinen, wie z. B. von christlichen Jünglings-, Jungfrauen-

und

Arbeitervereinen

(Vorbild

für

edle

Erholung), angelegen sein lassen, und

5. Wo besonders begabte Männer (Pfarrer, Lehrer u. a.) zur Verfügung stehen, dürfte der Versuch lohnen:

a. christliche Volksfeste im Freien zu feiern (Spiel der

Kinder, Ansprachen, Gesang der Vereine

oder der

ganzen Versammlung) und b. im Winter sogenannte Familienabende in einem ge­ eigneten Lokale zu veranstalten mit belehrenden und

unterhaltenden Ansprachen, mit

Gesang, Musikoor-

trägen, Vorlesen, Deklamieren.

VIII. Die Frage der Volkserholung ist nicht zu überschätze«, denn sie bildet für Staat, Kirche und Schule in der That nur ein außenliegendes Fort an der großen Festung, aber ebensowenig ist sie zu «uterschätzen, sofern auch ein einziges fernliegendes Fort der ganzen Festung Halt und Schutz bietet.

I. Hochzuverehrende Herrn!

^^as Thema, über das ich zu Ihnen zu reden habe, ist Ihnen

Ar

aus den vorliegenden Leitsätzen bekannt.

viele

ältere,

Wenn ich hier so

reichere Herrn Kollegen um mich

an Erfahrung

sehe, so drängt sich mir unwillkürlich der Wunsch auf, diese Frage

von einem dieser älteren Herrn behandelt zu sehen, und Sie werden gewiß meine Bitte um Ihre gütige Nachsicht mit Wohlwollen

aufnehmen. Man muß, um das gleich vorauszuschicken, unserer obersten

Kirchenbehörde aufrichtig 'Dank wissen, eine so zeitgemäße Frage einzelnen Dekanatssynoden

auf die Tagesordnung der

Hessenlandes gesetzt zu haben.

unseres

Denn die große Frage, um die es

sich handelt, lautet: Edle Volkserholung oder rohe Vergnügungs­

sucht, Freudenstunden,

die in Wahrheit

Freude bereiten,

Freudenstunden, die im tiefsten Grunde eitel Elend

oder

sind, ein

Zusanlmensein der einzelnen Volksgenossen, über dessen Unschuld

und Reinheit der Vater im Himmel sich freut, oder ein Zusammen­ sein, über dessen Zügellosigkeit die Hölle lacht.

Wir fühlen es

alle: Bei dieser Frage handelt es sich um ein klein wenig mehr als um gleichgültiges Vorübergehen an den Vergnügungen und Erholungen unseres Volkes, um mehr auch als um ein nur stolzes,

strenges Verurteilen von Bedürfnissen, welche nun einmal in der

Natur und

in dem Wesen des Menschengeschlechtes begründet

sind — unsere Frage trifft vielmehr einen Lebensnerv unseres

Volkskörpers, sie dringt bis auf sein Mark, da unser Volk aus

wahrhaft edler Erholung ebenso gewiß neue sittliche Kraft schöpft, wie es in der heute geradezu fieberhaften Hast nach unreinen Freuden verkommen muß.

Es ist unumstrittene Thatsache, daß

2 die Zahl derer in erschreckendem Maße wächst, die über nichts­ würdige Rede

und That, über all die befleckten Bilder ihrer

Phantasie nicht mehr schanirot werden, und daß ganze Kreise der Gesellschaft Gefallen daran finden,

mälzen.

sich im Kote der Gasse zu

Cs ist schlechterdings nicht zu leugnen, daß die Ver-

gnügungssucht ihre tiefen Schatten auf unser Volksleben wirft und nicht nur in der vielgeschäftigen Großstadt, sondern auch im stillen

Dorfe am waldigen Bergeshang ihre Unheilssaat ausstreut.

Es

dürfte außer Frage sein, daß Staat, Schule und Kirche, welche die Verantwortung für das Volkswohl tragen, dieser immer mehr drohenden Gefahr je nach Gabe und Beruf git begegnen haben,

und ebensowenig kann es eine Frage sein, daß nur das verständ­ nisvolle, von aufrichtiger Liebe zum Volk getragene Zusammenwirken dieser drei Faktoren einen sicheren Erfolg verbürgt.

Keiner,

der noch ein Herz für sein Volk hat, darf an dieser Frage teilnahm­ los und lau vorübergehen, sondern jeder Volksfreund muß gerade hier seine Person und Kraft in den Dienst stellen; denn es gilt

ein Heiligtum, die Volksseele, zu hüten.

Es ist sicher nicht zu viel

gesagt, daß die Förderung edler Volkserholung so viel wie Selbst­ erhaltung bedeutet.

Durch jene wird so viel köstliche Kraft, so

viel guter, treuer, keuscher Sinn dem Ganzen erhalten, was jebem Einzelnen notwendig wieder zu gute kommen muß. Es muß der daß der Same des

Kirche ein ernstes, heiliges Anliegen sein,

Gotteswortes nicht durch den bösen Feind der wilden, rohen Leiden­ schaft in den Herzen erstickt wird, und daß sich der Glaube ihrer Glieder gerade in den Stunden der Anfechtung und Versuchung

bewährt, ebenso sehr aber auch, daß alle die Brüder und Schwestern,

welche draußen in der Wüste dieses Crdenlebens in Weltlust und Weltseligkeit sterben und verderben, durch das Evangelium der Liebe zu dem Vater des verlorenen Sohnes zurückgeführt werden

und es lernen, ihres Lebens Glück und Freude nicht auf die Eitel­

keit dieser Welt zu gründen, sondern auf das Bewußtsein von unserem Leben als einer verhältnismäßig kurzen Pilgerfahrt vor den Thoren der Ewigkeit.

Es muß der Schule berechtigter Stolz

sein, Menschen heranzubilden, die bis ins höchste Alter kindliche

Freude an dem Guten, Wahren und Schönen haben können und in dieser Freude bewußt oder unbewußt der Schule den besten und

3 schönsten Dank abstatten.

Denn nur solche Männer und Frauen

sind im stände, der Volksschule als dem Fundament der Volks­ bildung Verständnis und Liebe entgegenzubringen und für ihre großen Aufgaben die Opfer nicht zu scheuen, sodaß es endlich der

Vergangenheit angehören muß, die Volksschule als Aschenbrödel zu behandeln.

Für den Staat ist es vollends eine Existenzfrage.

Denn was will er mit Männern, welche ihre körperliche und sitt­ liche Kraft im Wirtshaus oder in noch viel unheimlicheren Häusern

vergeudet haben?

Was will er mit Müttern, die in lauter Putz-,

Klatsch- und Vergnügungssucht aufgehen und keine Zeit mehr finden, ihre Kinder mit Ernst zu erziehen? Was will er mit

Jünglingen und Jungfrauen, die, in ihrer Blüte gebrochen, kein Mut mehr beseelt und keine Opferfreudigkeit mehr zu edler, hoch­ herziger That begeistert?

Der Staat braucht kräftige, freie, unge­

brochene Menschen, entschlossen und bereit, die Landesmark mit Leib und Leben zu schützen — kann er wirklich auf Menschen

rechnen, in deren Antlitz die durchschwärmten Nächte oft eine so richtende Sprache reden?

Der Staat braucht auch steuerkräftige

Unterthanen — kann er sich derer getrösten, die einst wohl ein großes

Vermögen besaßen, aber durch den Satan der Weltlust der Ge-

meinde oder dem Lande als unterstützungsbedürftig anheimgefallen sind?

Allenthalben muß das lieblose Vorurteil der Selbstsucht

fallen, als ob es in der Menschheit ein gewisses Straßenkehricht gebe, um das man sich nicht kümmern könne, ohne sich die zarten,

verwöhnten Hände schmutzig zu machen.

Wir müssen uns erst

wieder daran gewöhnen, auch die, welche die wertlosen Trebern

der Weltlust gierig verschlingen, als unsere Brüder und Schwestern anzusehen, für deren Heil oder Unheil uns einst der Allvater mit­

verantwortlich machen wird.

zufriedenen;

wir hören's,

O wir hören die Stimmen der Un­

wie die Armen

und

unsere Thüre klopfen'— und wie viele, ach

Enterbten an

leider wie viele

mögen darunter sein, welche die Freude einer einzigen bestricken­ den Nacht den ersten Schritt auf der abschüssigen Bahn thun ließ!

Es mag sein, daß auch bei dem treusten, hingebendsten Eifer und

Fleiß doch der eine oder andere nicht besser wird und verkommt,

wie er sonst auch verkommen wäre — soll oder darf dies Staat,

Schule und Kirche entlasten?

Ich glaube, daß auch hier wie

4 überall die Ausnahmen nur die Regel bestätigen müssen, und die Pflicht fragt jedenfalls zunächst nicht nach dem äußeren, greifbaren

Erfolg.

Gerade unseres Heilandes Leben mit seinen: äußerlich

nur so geringen Erfolg — denken Sie nur an die kleine Jünger­

schar trotz dieser Liebesmühe — ruft uns ermutigend und zugleich verheißend

so trägen Herzen: Jeder glücklich, der an

in die oft

seinen Brüdern und Schwestern, an seinem Volke in Liebe und Treue seine Pflicht gethan hat!

II. Die Vergnügungssucht ist,

ich

wie

schon kurz andeutete,

leider eine Thatsache, mit der zu rechnen ist.

Davon kann sich

leicht jeder überzeugen, wenn er eine Zeitung oder auch nur ein bescheidenes Kreis- und Wochenblatt in die Hand nimmt und den

Anzeigeteil darauf prüft; ja jeder weiß es, der in Stadt und

Land die Unmasse von Vereinen mit ihren teils notwendigen, teils

auch höchst überflüssigen Zwecken und feierlichen Veranstaltungen kennt, jeder, welcher die zahllosen Festlichkeiten beobachtet, die sich

so eingebürgert haben, daß sie in einem Blatte nicht niehr sonderlich Der Klage und Entrüstung gegen

angezeigt zu werden brauchen.

die Vergnügungssucht soll gewiß die Berechtigung nicht abgesprochen

werden; aber man sollte ehrlich ebenso

sein

den heiligen Kampf

und

denen ansagen, welchen Geld und Muße die Reise nach

den ausgesuchtesten Vergnügungsorten gestattet, wie denen, welche in

der einfachsten Kneipe sich vergnügen.

Die,

welche im ab­

geschlossenen Kreise und in eigenen, glänzenden Sälen ihre Opfer

an den Götzen der Sinnenlust für Erholung halten, sind wahrlich

nicht besser

als die, welche eine öffentliche, schmucklose Spelunke

zu gemeinsamer Freude anlockt.

Denn

nur der Sache selbst,

des Zusannnenseins, ist unsere

der

Art

nicht

dem Ort, sondern

Aufinerksamkeit gewidmet und gilt, wo es erforderlich ist, unser

Kampf. von

Wie überall in unserer Zeit, so ist auch hier das Urteil

Ungerechtigkeit

frei

zu

halten,

denn

nichts

lähmt

Thätigkeit zum Besten der Volksgesnndung mehr als

äugeln nach oben und ein strenges Verurteilen nach unten. müssen nns auch, um einen festen und sicheren,

unsere

ein Lieb­

Wir

weil gerechten

5 Standpunkt einzunehmen, dessen stets bewußt bleiben, daß die Verwirklichung von Anschauungen und Bedürfnissen je nach Bildung und Besitz in den einzelnen Volksschichten recht verschieden zum Ausdruck kommt. Lassen Sie mich zum Beleg dafür nur ein

Beispiel anftthren: Wenn zwei Offiziere oder sonst Leute von Rang

in vorgerückter Stunde hinter einander kommen, dann greifen sie zum Zweikampf, und wenn einer der Kämpfenden seinem Götzen,

dem falschen Ehrbegriff, Blut und Leben dabei opfert, dann heißt es so vielfach im Brusttöne der Überzeugung: Er ist für seine Ehre, das Höchste und Heiligste» was der Mann hat und kennt,

gestorben.

Wenn aber zwei gewöhnliche Arbeiter, die doch wohl

auch eine Ehre zu schützen haben, aus ganz gleicher Ursache in Streit geraten iint> statt zum Säbel oder zur Pistole in der Auf­ regung zum Messer oder Prügel greifen, dann braucht's nur blutige Köpfe zu geben, und ganz dieselben Leute sagen in gering­ schätzigem, entrüstetem Tone: Das ist eine Roheit sondergleichen! Dort findet man einige Monate Festung, die fast regelmäßig zum

Teil erlassen werden, als genügende Sühne, und hier sind einige

Monate Gefängnis oder Zuchthaus eine noch zu geringe Strafe. Meine Herrn, ein solches Urteil, das Sie in den höheren Kreisen fast durchweg antreffen, schlägt jeder Vernunft und Sittlichkeit in das Gesicht und ist eines wahren, aufrichtigen Volksfreundes und vollends erst eines ernsten Christenmenschen unwürdig. Genau ebenso tritt auch die Vergnügungssucht je nach Bildung und Besitz

in den verschiedenen Kreisen verschieden zu Tage, aber sie ist und

bleibt verwerflich, ob sie nun im feinen Ballanzug oder int rauhen

Arbeitergewand uns entgegentritt.

Was unten Sünde ist, das

mttß auch obeit Sünde bleiben, und wie es einem Menschen er­ gehen kann, der sich dafür die Augen nicht offen hält, des bin ich selber Zeuge gewesen: Ein Kreisamtmann begegnete auf einem

mit mir gemachten Spaziergange einem ihm bekannten, stark an­ getrunkenen Manne.

„Aber, ich möchte doch einmal wissen, wie

viel Geld Sie schon an Schnaps vertrunken haben", redete der Amtmann ihn an. „Herr Amtmann", erwiderte dieser kurz und bündig, „das will ich Ihnen genau sagen — ich habe an Schnaps noch lange nicht den zehnten Teil von dent vertrunken, was Sie

an Wein vertrunken haben."

6 Aber woher kommt denn die Vergnügungssucht? Wir müssen doch das Übel genau kennen, wenn wir an seiner Heilung mit­ wirken wollen.

Sie stammt im letzten und tiefsten Grunde aus

zwei an sich recht unschuldigen Ursachen.

Es ist einmal der allen

Menschen angeborene Trieb der Geselligkeit, der sich weit über den kleinen Kreis der Familie hinaus geltend macht.

Wenn der

Mensch in seiner Berufspflicht des Tages Last und Hitze getragen hat, dann sucht er Menschen auf, ja selbst in Ausübung der

Berufspflicht ist uns, so weit es nur angeht, Gesellschaft von hohem Werte.

Wer von uns hätte nicht schon Umwege gemacht,

um einem anderen Gesellschaft zu leisten?

Wie unsäglich lang­

weilig wird z. B. eine Eisenbahnfahrt, wenn man allein ist und

seinen Gedanken gleichsam Audienz geben kann, und wie schnell und angenehm fliegen auf der Fahrt ganze Stunden dahin, wenn

wir -gute Reisegesellschaft treffen.

Der Mensch hat eben von Natur

den Trieb des Mitteilens und Jnsichaufnehmens, und nur die Sonderlinge sind sich selbst genug.

Der einzelne Mensch ist ein

Glied seiner Gemeinde und seines Volkes, deren Wohl und Wehe

ihm am Herzen liegen — er sucht und braucht Aussprache, um seine Gedanken zu klären und sich ein festes Urteil zu bilden. Belehren und belehrt werden, Gemeinsinn suchen und pflegen, sich

freuen mit den Fröhlichen und weinen mit den Weinenden — das ist der edle, Gott geweihte Grundton der Geselligkeit, welcher

hebend und veredelnd, tröstend und stärkend in das Leben der

Menschheit hineinklingt.

Und wer den Schmerz und das Un­

behagen der Einsamkeit,

jenes Alleinseins, wo die Freude nicht

mehr recht Freude bleibt, während das Leid doppelt schwer auf das Herz drückt, auch nur für kurze Zeit durchkostet hat, der kennt

die Macht dieses Naturtriebes der Geselligkeit.

Andrerseits ist

das nach treuer Arbeit berechtigte Bedürfnis nach Erholung nicht zu übersehen.

Ich sehe natürlich von solchen Menschen ab, deren

ganzes Leben ohne rechte Berufsarbeit dahinfließt und eine einzige

lange oder kurze Kette von Vergnügungen und Erholungen dar­ stellt. Auf sie dürfen -wir sicher das Schriftwort anwenden: „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen" und — fügen wir hinzu —

auch keine Erholung haben. Auch sehe ich ab von einzelnen Menschen

von geradezu eiserner Arbeitskraft, denen nicht wohl ist, wenn sie

7 nicht von morgens bis abends der Maschine gleich thätig sind, und

die zwischen Schlaf und Berufsarbeit nicht noch ein Drittes kennen, die Erholung, die weder Ruhe noch Mühe ist.

Genug, der Mensch

braucht in der Regel nach dringenden Forderungen der Natur Erholung, jenen holden Zwischenzustand, wo Zerstreuung und Unterhaltung zu ihrem Rechte kommen, wo die eiserne Pflicht der Willkür und der strenge Ernst der Freude weicht, wo Körper und

Geist thätig sind, ohne sich anzustrengen und zu ermüden, und wo die heitere Kunst der rauhen Wirklichkeit ein freundlicheres

Gesicht giebt.

Sehen Sie hin auf den Fleiß und die Mühe

unseres Bauern zur Erntezeit, wo vom frühsten Morgen bis in die sinkende Nacht gearbeitet und nichts wie gearbeitet wird —

und wie den einen Tag so geht es den andern, ja so geht es die ganze Woche durch — und es muß so unaufhaltsam emsig ge­ schafft werden, weil nun einmal die Arbeitskräfte auf dem Lande

mangeln — hat er am Sonntag nicht ein Anrecht auf Erholung,

um Kraft und Milt zu sammeln für die kommende Woche? Oder

nehmen Sie den Arbeiter im Fabrikbetrieb, der da Tag für Tag seine bestimmte Zeit in dem betäubenden Sausen und Ächzen der

Maschine steht — muß nicht am Feierabend die Sehnsucht mit Macht hervorbrechen, wieder Menschen, ja redende, denkende und

fühlende Menschen zu sehen? Das Erholungsbedürfnis sollte niemand leugnen, denn jeder fleißige, berufstreue Mensch, er sei, wer er rooHer bedarf der Erholung nach angestrengter, aufreibender Arbeit, und wer im Ernste von Arbeit redet, der kann auch der Frage der Erholung mit gutem Gewissen nicht ausweichen.

Aus

diesen beiden Quellen entspringen in Stadt und Land die zahllosen

Vereine mit allen möglichen Namen und oft fast kaum glaublichen

Zwecken; aber darin sind sie sich alle gleich: Sie wollen ihren

Mitgliedern etwas bieten, was außerhalb des eigentlichen Berufes

liegt.

Sie wollen, soweit sie überhaupt ernst zu nehmen sind,

nicht nur unterhalten und Lust verschaffen, sondern auch belehren

und Fähigkeiten wecken.

Aber wie überall, so stehen auch hier

bei den Rosen gleich die Dornen.

Geselligkeit und Erholung sind

an sich gut und unschuldig, ja nützlich und notwendig, und doch

steckt in ihnen eine ernste Gefahr der Versuchung.

Es ist hier

eine scharfe Grenze gezogen, und wer sie überschreitet, für den

8 taucht aus seinen Freudenstunden das finstere Gespenst der Ver­

gnügungssucht auf, das ihn immer tiefer in sein Netz lockt und immer fester umschlingt, bis er schwach und willenlos in seinen Fesseln untergeht.

Wir alle wissen vielleicht aus eigener Erfahrung,

daß auch in Vereinen mit den besten nnd schönsten Zielen so oft die Freude ausartet.

Cs ist das sicher zu beklagen, aber doch

aucki wieder zu begreifen, sofern sich meist die Jugend begeisterungs­

voll zu Vereinen zusammenschließt, und das jugendliche Kraft­ gefühl nur zu leicht überschäumt. Einige besondere Erscheinungen des modernen Lebens müssen

noch der Berücksichtigung gewürdigt werden, auch wenn sie unsere Es steht zweifellos fest, daß in

Frage nur indirekt berühren.

den Jndustriegegenden und großen Städten der Durst nach Aus­ spannung und Zerstreuung, nach Lust und Vergnügen viel gewalfiger und anhaltender ist als in den weltentlegenen Dörfern, wo

Haus und Hof heute nicht viel anders aussehen als vor grauer Zeit. Aber wir dürfen uns nicht täuschen: Auch dieses Verhält­ nis fängt an, sich zu verschieben durch den regeren Austausch

zwischen Stadt und Land.

In der Stadt selber haben die Innungen

der Maschine Platz gemacht, und wenn heute ein Geselle oder

Lehrling dort ankommt, um seine Kenntnisse und Fähigkeiten zu vervollkommnen, er weiß nicht mehr wie früher, wo er Belehrung

und Vergnügen finden kann.

Und seltsam genug — gerade da

fühlt er sich einsam und verlassen, wo ihn die meisten Menschen umgeben, und so wirft er sich allem in die Arme, was den Schmerz der Einsamkeit lindert.

Und kehrt er heim, so hat er

ein Stück der Welt mit ihrer Lust kennen gelernt. Stadt und Land sind heute nicht mehr so getrennt wie früher. Jeder Eisen­ bahnzug führt für wenig Geld in kurzer Zeit Dorfbewohner zur Stadt, wo die Gewinnsucht der Gast- und Schankwirte alles Mögliche ersinnt, um die Leute anzulocken und ihnen möglichst

viel Vergnügen zu bieten.

Jeder kräftige Jüngling unseres Vater­

landes ist durch die allgemeine Wehrpflicht gezwungen, gerade in den Jahren, wo der Mensch für das Gute, wie auch leider das Schlechte

besonders empfänglich ist, Stadtluft zu athmen, und die Freizügig­

keit, welche das neue Deutsche Reich zum Gesetz erhoben hat, ver­ wischt die Grenzen der einzelnen Landesteile und hat es dem

9 Dorfbewohner wesentlich

Scholle loszureißen.

erleichtert,

sich von

seiner

ländlichen

Es ist ein wohl zu verstehender Zug unserer

Zeit, daß die niedrige ländliche Bevölkerung nach den Städten rind

Industriezentren wandert, weil dort mehr verdient wird als auf der ländlichen Flur; manche verlassen sie für immer,- aber viele, wie gerade hier in unserem Vogelsberge, nur auf kürzere Zeit,

um wieder in das Heimatdorf zurückzukehren. Alle diese Er­ scheinungen der Jetztzeit haben die Bevölkerung gleichsam in

lebendigen Fluß gebracht und auch das Landvolk in Lebenshaltung und Lebensgenuß anspruchsvoller gemacht.

Und wer auch keine

Wanderlust verspürt, dem bietet sich die Presse als treue Gehilfin

an, die oft ihren zweifelhaften Ehrgeiz darin sucht, die Belustigungen und Vergnügungen der Stadt bis ins Einzelne breit zu treten und alle pikanten Ereignisse und Abenteuer in leichtfertiger, ver­

führerischer Sprache unter das Volk zu bringen.

Man darf sich

in der That nicht wundern, daß dies alles einen oft auch bedauer­ lichen Rückschlag auf die Landbevölkerung ausübt und auch hier

das Verlangen nach Freude und Lust steigert.

Dieser modernen

Entwicklung sind nicht nur die Volkstrachten zum Opfer gefallen, sondern leider vielfach auch die unbefangene, natürliche Art, mit der man sich früher bewegte.

auf unsere

Die Einwirkung des Stadtlebens

ländliche Bevölkerung in unserer Zeit, welche nach

unseres Kaisers Ausspruch im Zeichen des Verkehrs steht, zeigt sich am deutlichsten in dem Lied, das von unserem Volke gesungen

wird. Heute wird in Berlin ein Lied mit leichtfertigem Text und leichtsinniger Melodie unter die Masse geschleudert, und in wenigen Wochen singt es die liebe Dorfjugend auch iin entlegensten Thal.

Jetzt ist es das „Bienenhaus", das mit Begeisterung, ja fast mit Andacht gesungen wird, aber wir wissen's, ohne Propheten zu sein, daß in einem Jahre etwa wieder ein anderes, womöglich

noch seichteres Lied seinen Siegeseinzug hält. Es ist nicht zu leugnen, daß die Großstadt auf diesem Wege das sittliche Bewußt­ sein auch auf denl Lande lockert und seiner Bevölkerung zur Ver­ führerin wird. Man tarnt diese Entwicklung, welche sicher noch lange nicht ihren Höhepunkt

erreicht hat,

in mancher Hinsicht

beklagen, aber aufhalten läßt sie sich nicht, und es gilt, sich zu schicken in die Zeit mit ihren besonderen Verhältnissen und Be­

dürfnissen.

10 Auch gewisse soziale Mißstände sind für unsere Frage von

hoher Bedeutung.

Leider hat die Familie, die ja doch in erster

Linie berufen ist, die Stätte der Erholung und Freude zu sein, ihre sittliche Kraft sehr stark eingebttßt.

Die Familie, deren Glieder

an einem Sommersonntag nach dem Besuche des Gottesdienstes in Garten, Wald und Feld sich ergehen und an Winterabenden sich um der Lampe Schein zu Gesang und Spiel, zu gemeinsamer Lektüre und traulichem Gespräche schart, gehört fast schon zu den

Ausnahmen. Die schlechten, eines Menschen unwürdigen Wohnungs­

verhältnisse schneiden hier tief ein.

Ein einziger Raum, welcher

Wohnzimmer, Schlafraum und Küche zugleich sein muß, er kann Unmöglich echte Freude aufkommen lassen; hier, wo Geburt und

Sterben sich vor aller Augen vollzieht, muß das sittliche Empfinden der zarten Jugend und die kindliche Unschuld und Reinheit un­

erbittlich und erbarnmngslos im Keime erstickt werden.

Sagen

Sie nicht, daß bte Wohnungsfrage nur für die Städte eine wichtige

Rolle spiele; gewiß, hier zumeist; aber gehen Sie doch nur auf

dem Lande einmal in die Wohnung eines Taglöhners, betreten Sie hier nur einmal eine sogenannte „Mietskaserne", die keines­

wegs nur ein dunkler, wunder Punkt der Stadt ist, besichtigen

Sie nur die Armenhäuser, und Sie werden zugeben, daß das Gesagte nur zu oft auch für das Land zutrifft. Dieser Übelstand

ist in Wahrheit so groß, daß man sich im stillen wundern muß, daß die aus solchen Wohnungen hervorgehenden Menschen nicht noch weit schlechter und sittlich verwahrloster und verkommener

sind, als es in Wirklichkeit der Fall ist.

In einem solchen Raum

Freude und Erholung in glücklichem, trautem Zusammensein — ach, es klingt fast wie ein Hohn!

Statt hier länger zu weilen,

als Essen und Nachtruhe es erheischen, geht man nach Feierabend lieber zum Wirtshaus, und die Jugend treibt sich lieber noch auf

der Straße umher. Noch Eins dürfen wir nicht vergessen: Das schlechte Beispiel der oberen Volksschichten, jener Kreise unseres Volkes, in denen

man sich nicht langweilt. Ich hörte einen Hofprediger in seiner Hofkirche das mutige, mir unvergeßliche Wort aussprechen: „Das Gift sickert aus den hohen und höheren Kreisen langsam, aber sicher in das niedere Volk herab", ein Wort, das ihm natürlich

11 einen anderen, und wie ich weiß, angenehmeren Wirkungskreis ver­

schaffte.

Ich glaube, dieser unerschrockene Mann hat nicht unrecht

gehabt.

In der letzten Zeit hat der Prozeß gegen drei Mitglieder

des „Klubs der Harmlosen" in Berlin ein finsteres Bild von dem Leben und Treiben gewisser Leute vom hohen und höchsten Adel entworfen.

Mit Glücksspiel, Sekt und Mädchen haben sie oft in

einer einzigen Nacht ganze Vermögen durchgebracht und

damit

bewiesen, daß sie keine Ahnung haben, wie Geld unter gewöhn­

lichen Umständen, unter Fleiß und Schweiß des Angesichts, er­ worben wird, und daß ihre Erholungsstunden, wenn man sie so nennen darf, einen mehr als bedauerlichen Tiefstand erlangt haben.

Als ich eine achtwöchentliche Reserveübung machte, wußte die ganze Kompanie, der ich zugeteilt war, daß ein Leutnant, welcher

in der Kaserne seine Wohnung hatte, ein Mädchen wochenlang in seinem Zimmer beherbergte. Mit Erwähnung dieser Thatsache muß ich mich mit Rücksicht auf die Stätte, wo wir weilen, be­ gnügen ; aber wir alle fühlen es, wie vergiftend und entsittlichend solche Vorkommnisse auf vielleicht noch unverdorbene Söhne unsere s Volkes wirken müssen. Ein Mann von hohem Adel äußerte einst in Gegenwart seiner Kinder und verschiedener Diener: „Ja, wenn

es im Himmel keine Jagd und kein Theater giebt, dann will ich überhaupt nicht hinein", und seine Frau fügte hinzu: „Und wenn

im Himmel mein Kutscher ebenso viel sein soll wie ich, dann verzichte ich auch auf diese Seligkeit".

Hoffen wir, daß Gott den

Wunsch beider Menschenkinder nicht erfüllt, aber das Herz blutet

einem doch bei solchen Anschauungen und bei der stillen Frage, was wohl die Dienerschaft darüber denken und sagen mag. Gewisse Kreise der feinen, hohen Gesellschaft wahren bei ihrem Land­

aufenthalt, soweit es äußerlich festzustellen ist, alle kirchlichen und christlichen Sitten und machen in der That den Eindruck frommer, ernster Christen. Aber beim beliebten Winteraufenthalt in der Stadt, da, wo man weniger mit einem ehrerbietigen, vielleicht

noch gut christlichen Volke zu rechnen hat — ja, da ist es doch etwas ganz anders. Da scheut man sich nicht, in der ernsten

Fastenzeit, die uns an das Leiden unseres Heilandes erinnert, in der ausgelassensten Weise Theaterstücke aufzuführen, zu spielen und zu tollen, sodaß man fast glauben könnte, andere Menschen vor

12 sich zu haben.

Sagen Sie selbst: Welchen Eindruck muß dies

auf die still beobachtende Umgebung machen!

In einer in Berlin

erscheinenden Zeitung, welche das Christentum auf ihr Panier

schreibt, las ich vor einigen Jahren die Schilderung von einer Berliner Hoffestlichkeit: Alle Speisen und Getränke waren sorg­

fältigst angeführt, und bei der Schilderung der Anzüge der hohen

Damen fehlte nicht die Zahl und genaue Größe der Diamanten und Edelsteine im Haarschmuck.

Ich legte das Blatt trotz seiner

christlichen Haltung unwillig hin und fragte mich selbst: Muß denn eine solche Schilderung vor: Glanz und Pracht, von aus­

gesuchtester Freude und Lust nicht in Tausenden und Abertausenden

außer finsterem Haß und Neid auch die Begehrlichkeit wecken? Denn die Menschen, welche über diese Äußerlichkeiten wie über etwas Nebensächliches und völlig Belangloses zur Tagesordnung

übergehen, sind doch dünn gesät.

Wer an der Spitze des Volkes

marschieren und mit hoher, edler Gesinnung hervorragen will,

wer mit einem äßotte eine führende Stellung einnehmen will, der darf sich nicht wundern, daß das nachfolgende Volk unentwegt

scharf auf ihn blickt und entweder getreulich nachahmt oder aber

gehässig verachtet.

Von beidem ist aber das eine so schlimm und

verhängnisvoll wie das andere.

Es ist eine alte Erfahrung, die

sich in jeder Zeit erneuert, daß die Laster des Adels auf die bürgerlichen Kreise abfärben.

Der Nachahmungstrieb ist um so

stärker, je mehr der Nachahmende überzeugt ist, etwas besonders Vornehmes nachzuahmen. Lassen Sie mich meiner persönlichen Überzeugung dahin Ausdruck geben: In den oberen Kreisen wird

das Verlangen nach Abwechselung und Lust in überaus feiner, oft widernatürlicher Weise befriedigt, und

die Mittel mögen es

erlauben oder nicht, was heute noch voll und ganz ergötzt und morgen seinen Zauberreiz verliert, das wird unfehlbar durch einen

neuen, noch feineren Genuß ersetzt.

Es ist fast, als ob die Ab­

wehr der Langeweile schor: zu einem besonderen Berufszweig er­

hoben wäre. von

oben

Mag auch das schlechte Beispiel, das hin und wieder

gegeben

wird,

vielfach

schon

seine verhängnisvolle

Wirkung gehabt haben, das eine ist gewiß: In den eigentlichen Volkskreisen, da, wo man mit ernster Berufsarbeit wirklich zu rechnen hat, kommt bislang in der Freude und Lust, selbst wo sie

13 zur Sünde wird, doch noch etwas Ursprüngliches und Natürliches zum Ausdruck, und gerade das ist es, was in uns den Glauben an unser Volk stärkt und befestigt.

Wer diesen Glauben verloren

hat, für den giebt es keine Pflicht mehr gegen sein Volk und keine Aufgabe mehr an seinen Brüdern und Schwestern, dein

bleibt uur noch

die angstvolle Erwartung des nahenden Ver­

derbens übrig.

III. Wir sind auf der abschüssigen Bahn schon weit vorgeschritten,

so weit,

daß man heute schon von einer „Erholungsindustrie"

spricht, welche dem wachsenden Erholungsbedürfnis der Bevölkerung in jeder Hinsicht gerecht zu werden sucht.

Erst wenn wir einmal

im Ernste annähernd uns ausrechnen, welcher verhältnismäßig große Prozentsatz der Bevölkerung ausschließlich davon lebt, das Verlangen der Volksgenossen nach Erholung unb Vergnügen zu

befriedigen, erst dann wird uns die ganze Tragweite der Erholungs­ frage klar.

Im Lauterbacher Anzeiger las ich vor einigen Wochen,

daß die Stadt Hanau bei der Versteigerung der Plätze auf dem Juxplatze für die diesjährige Herbstmesse von den verschiedenen Budenbesitzern die schöne Summe von 1745 Mark eingenommen hat.

Es ist das freilich eine kalte Zahl, die vielleicht viele zum

Nachdenken nicht erwärmen kann,

und

doch redet sie eine so

bedeutsame Sprache von der Vergnügungssucht unseres Volkes.

Die Budenbesitzer wissen nur zu gut mit der Schwäche unseres Volkes zu rechnen und sie in ihrem Interesse auszubellten.

Denn

das ist klar, daß nicht mlr dieser Pachtpreis für den Platz, solldern auch lloch ein schöner Verdienst herausspringen muß.

Wie viel

sauer verdientes Geld mag bei dieser Herbstmesse für das Ver­ gnügen daraufgegangen sein, und wie manche Unheilsgabe, wie

viel Leichtsinn und Leichtfertigkeit mag dabei so manches junge

Herz dagegen empfangen haben!

Wir sehen mit eigenen Augen

das Anwachsen und den steigenden Luxus der Gast- und Schanklvirtschaften und wir übersehen so oft dabei, daß das Kapital, mit welcheln neue Vergnügungsstätten gebaut und alte, überlebte Ein­

richtungen verschönert werden, das Volk aufzubringen hat, wir

übersehen so ost, daß dies Alles Erholungsgelegenheiten für die

14 breite Masse sind und von dem wachsenden Erholungsbedürfnis

des Volkes zeugen.

Wie hat es nur so weit kommen können?

Es kann meines Erachtens auf diese Frage nur die eine Antwort

geben:

Man ist vor etwa 50 Jahren, bei uns in Deutschland

insonderheit vor etwa 30 Jahren, jubelnd und frohlockend, abervielfach unbewußt in eine neue Zeit mit ihren besonderen Auf­

gaben und Bedürfnissen eingetreten und glaubte stillvergnügt, außer

der Durchführung der paar neuen Gesetze werde sonst so ziemlich

alles beinr alten bleiben.

Man faßte die Bedürfnisse des modernen

Lebens nicht scharf genug ins Auge und vernwchte auch nicht das Verhältnis von Ursache und Wirkung streng abzuwägen; so sind die Thatsachen

der Gesetzgebung

und

Durchschnittsmenschen weit vorausgeeilt.

den

Anschaunngen

des

In diesem verhängnis­

vollen Irrtum hatte man an maßgebenden und einflußreichen Stellxn den Zusammenhang mit dem Volksleben verloren und

fühlte nicht mehr seinen Pulsschlag.

Man gab sich nicht recht

die Mühe, einzusehen, daß die moderne Arbeit, die im Zeichen der Maschine steht, weit anstrengender und aufreibender, viel ver­ antwortungsvoller und dabei doch

geisttötender ist als früher.

Was früher der Meister mit Lehrling und Gesellen aus den Roh­ stoffen schaffte, wobei jeder einen Einblick in das Ganze bekam

und das Ganze vor seinen Augen entstehen sah, dessen einzelne Teile stellt heute die Maschine her, welche der Arbeiter mechanisch

bedient.

Seine Arbeit ist eintönig und ohne Abwechselung, während

früher die Arbeit mehr Abwechselung und Freude bot und darunr weniger ermüdete.

Auch im landwirtschaftlichen Kleinbetrieb muß

heute intensiver und anhaltender, auch mit niehr Kenntnissen und Fähigkeiten gearbeitet werden

wegen

des Arbeitermangels,

als früher und zwar nicht bloß sondern vor allem auch um die

Konkurrenz der Betriebe auszuhalten, welche mit allerlei Maschinen arbeiten, dadurch Arbeitskraft sparen und deshalb billiger produ­

zieren, ganz abgesehen davon, daß diese Betriebe in der Regel auch mit mehr Kapital arbeiten.

Es mag diese

Entwicklung

der

Arbeitsteilung, die immer noch im Fortschreiten begriffen ist, den Handwerker und zum Teil auch den Kleinbauer vielfach in einen Todeskampf stürzen — die Erfindung der Maschine, welche der

Menschheit zum Segen gereichen müßte, wirft immer noch ihre

16 Unheilsschatten auf die moderne Welt und macht die moderne Arbeit strapaziöser und aufreibender als früher.

Die furchtbare

Konkurrenz, welche auf allen Gebieten zu Tage tritt, hat die ganze zivilisierte Welt in eine Hast und Unruhe gestürzt, wie sie die Kulturgeschichte nicht zum zweiten Male zu verzeichnen hat.

Das

eine nmß uns klar sein: Je anstrengender und einförmiger die Arbeit, um so gewaltiger und anhaltender das Verlangen nach

Ich fürchte, daß Staat, Schule und Kirche dieses intensivere Erholungsbedürfnis der breiten Masse

Ausspannung und Zerstreuung.

nicht früh genug gewürdigt und das mit der Erholung einher­

schreitende Gespenst, die Vergnügungssucht, die am Marke des Volkes zehrt, zu spät erkannt haben.

Wenn man die Zerstörungs­

kraft dieses Volksfeindes im wahren Sinne des Wortes oberfläch­ lich vor Augen sieht, so glaubt man selbst heute noch, mit ein paar Verfügungen vom grünen Tisch und mit strenger Einschärfung der

bestehenden Gesetze sei das Heil des Volkes

gerettet.

Meines

Erachtens gilt es vielmehr, zu dem Volke herunterzusteigen und sein Bedürfniß nach Erholung gegen seine Arbeitsleistung wahrhaft

gerecht abzuwägen; es gilt, gegen alles, was die Vergnügungssucht begünstigt, mit ehrlichem Ernste zu kämpfen und an die Stelle sittenverderbender Freuden edle Volkserholung zu setzen. In

dieser Liebesarbeit an unserem Volke sind wir nicht zu früh auf

dem Plane, sondern weit eher zu spät, ein Umstand, der uns heute

schon wirkliche Erfolge so schwer und sauer macht.

Bedenken Sie

nur, daß es noch keine zwanzig Jahre her sind, daß man diese Crholungsfrage einiger weiteren Aufmerksamkeit gewürdigt hat,

und wahrlich, Staat, Schule und Kirche haben hier ein großes Feld vor sich, auf dem manches Versäumnis wieder gut gemacht werden kann und muß.

IV. Was haben wir auf dein Lande, das uns zumeist interessiert,

iin Durchschnitt an Volkserholungen?

Oder ich will gleich fragen:

Was treibt unser Volk am Sonntag?

Neben der Sonntags­

heiligung, der Befriedigung der religiösen Bedürfnisse und der Erfüllung der kirchlichen Pflichten, steht die Sonntagsruhe, die Befreiung von jeder irdischen Berufspflicht, neben dem Sabbat der

16 Seele hat auch der Sabbat des Leibes seinen berechtigten Platz. Gewiß, wir freuen uns von ganzem Herzen, wenn wir in manchen

Gegenden unseres Vaterlandes eine Bevölkerung antreffen, die bei

kirchlichem Sinn auch den Naturgenuß, das Aufatmen in Gottes freier Natur, in Feld rind Wald als Erholung zu schätzen weiß. Aber leider wandert man doch großenteils am Sonntag zum Wirtshaus oder Tanzboden, zu Stätten, welche der Sinnenlust in

feinerer oder gröberer Weise dienen und somit Gelegenheiten bieten, unserem Volke sein irdisches und himmlisches Kapital zu entreißen. Es ist richtig, der Mensch als ein Glied der Gemeinschaft kann

und darf sich nicht bloß auf sich und seine Familie beschränken, denn dadurch entsteht nicht selten Einseitigkeit und dann schließlich

die in jeder Gestalt zu bekämpfende Selbstsucht.

Dieses Einsiedler­

leben hemmt vor allem jeden gesunden, segensreichen Fortschritt.

Der Sonntagsverkehr ist mit das Hauptmittel, die in der Woche durch die Arbeit Getrennten zu vereinigen,

Gedanken und Er­

fahrungen auszutauschen und neue Belehrung und Anregung zu

empfangen.

Gerade die falsche Sonntagsfreude liefert den Beweis

für das Vorhandensein des

überhaupt.

Bedürfnisses nach Sonntagsfreude

Die Leute, welche mit zäher Beharrlichkeit an jedem

Sonn- und Feiertag an demselben Platze ihres Biertisches sitzen und immer dieselbe Unterhaltung pflegen und immer dieselben abgeschmackten Witze als geistreich ausgeben, sie sagen uns doch:

„Der Mensch braucht Verkehr und Aussprache, und mir suchen beides, wo und so gut wir es eben finden." Das Rollen der Kugeln auf der Kegelbahn verkündet uns deutlich, daß die jugend­ liche Kraft nach etwas verlangt, woran sie sich messen kann.

Das

Lied, welches die Dorfjugend in den Straßen singt, beweist doch,

daß das Volk am Gesang feim Freude hat, und inuß allen Volks­ freunden durch die Herzen klingen wie eine Bitte: „Gebt uns bessere, schönere Lieder, denn hört nur, wir singen gern unser Lied!"

Die Kartenbrüder mit ihrem schier endlosen Spiel sagen

uns: „Der Mensch braucht eine Beschäftigung, die interessiert und unterhält, ohne anzustrengen, und wir kennen keine bessere als unser Spiel." Ja, auch die Frau sehnt sich am Sonntag nach Erholung und kommt mit Verwandten und Bekannten des Mittags

beim Kaffee zusammen, wobei leider nicht selten die Dienstboten

17 springen und laufen müssen, ohne ihres Sonntags wirklich froh

zu werden, und was das Schlimmste und Bedenklichste ist, wobei die Unterhaltung oft kein höheres Ziel kennt, als das Klatschen

und Verleumden, jenes leichtfertige Spielen mit des Nächsten Ehre.

Die Handwerker, so oft von ihren Kunden gedrängt, fangen

des Sonntags in aller Frühe ihre Arbeit an, und Bauern wickeln am Sonntag ihr Geschäft mit dem Juden ab, der tags zuvor

seinen Sabbat streng eingehalten hat; die Filialisten, welche zur Kirche wandern, benutzen die Gelegenheit und besorgen vor ober nach dem Gottesdienste ihre Geschäfte in den Kaufläden, was man zur Zeit der Ernte allenfalls noch entschuldigen kann, was aber bei einigermaßen gutem, ernstem Willen doch auch anders sein könnte. Meist am Sonntag wird die Pflichtfeuerwehr von den

Behörden besichtigt, woran sich stets eine mehr oder weniger lange Sitzung int Wirthshaus«

anschließt.

Der Sonntag ist in der

Regel der Tag, an welchem die verschiedenen Vereine ihre Feste feiern. Der Briefbote geht des Sonntags seinen altgewohnten

Gang, und der Postillon fährt seine Strecke ab.

Schaffner, Zug-

und Lokomotivführer bedienen den dahinsausenden Zug, und wenn die Glocken von den Kirchen und Kirchlein rings um sie her zum

Frieden in Gott rufen, sie haben nur selten Ruhe am Tage des Herrn.

Im Gegenteil,

gerade an den Somt- und Feiertagen

werben aus den Städten sogenannte Vergnügungszüge abgelassen, um die Stadtbewohner aus der Straßen dumpfer, quetschender Enge in Gottes freie Natur zu befördern, während die Bahn­

beamten vermehrte Arbeit haben.

Man sagt oft, es sei dies ein

notwendiges Bedürfnis für den Städter; aber wenn wir auch

seine Sehnsucht voll und ganz verstehen, so ist doch wahrlich die Befriedigung dieses Bedürfnisses um diesen Vreis zu teuer erkauft. Und zudem könnte man mit demselben Rechte sagen: Dem Dorf­ bewohner wäre ein Besuch der Stadt tvillkommene Erholung,

indem er einmal aus dem ländlichen Einerlei herauskontme —

aber wer giebt ihm, dem sechstägig Abgearbeiteten, einen Extrazug? Will er sich diese Erholung gönnen, so macht er dabei zugleich

seinen Spaziergang — warum sollte das der Stadtbewohner nicht auch fertig bringen in dem Bewußtsein, dadurch so manchem seiner Brüder den Sonntag zum Teil wieder zu geben und gar

18 viele Familien zu beglücken-

Wer die falschen Sonntagsfreuden

unseres Volkes recht würdigen und kennen lernen will, der nmß

einmal der Frage nachspüren, wie viele „blauen Montag" machen

oder, wenn sie sich dennoch zur Arbeit zwingen, diese nur halb zu bewältigen vermögen. Davon kann jeder Meister oder Dienst­

herr ein Liedchen

singen.

Kurz, um die Sonntagsruhe ist es

trotz der bestehenden gesetzlichen Bestimmungen oft ein recht frag­ liches Ding, und auch die Sonntagsheiligung läßt an vielen Orten

immerhin zu wünschen übrig, obgleich sie hier in unserem Vogels­ berge nach meiner Beobachtung im allgemeinen noch gut ist, was

uns aber ganz gewiß nicht stolz und selbstgerecht machen soll.

Die

Sonntagsvergnügungen

unseres Volkes

haben bei vielen

Volksfreunden einen derart schlechten Klang, daß sie vor jeder

Erweiterung der Sonntagsruhe ernstlich warnen, weil dann die Vergnügungssucht nur noch mehr Nahrung empfange.

Wenn

auch Gelegenheit Diebe macht, und wenn ich auch diese Warnung

ganz und gar verstehen kann, so möchte ich sie für meine Person unter keinen Umständen unterschreiben. Wenn der Feiertag wirklich,

wie es sich für Christen geziemt, geheiligt werden soll, dann muß in erster Linie die irdische Arbeit ruhen, für welche in den sechs

Wochentagen Zeit genug ist, und jedem muß Gelegenheit geboten sein, den Sabbat des Herrn seinem Gott und seiner Kirche auch

wirklich weihen zu können.

Es muß in einem christlichen Volke

jenes Wort zur seligen Wahrheit werden: „Gedenke des Sabbat­

tages, daß Du ihn heiligst.

Sechs Tage sollst Du arbeiten und

alle Deine Dinge beschicken; aber am siebenten Tag ist der Sabbat

des Herrn Deines Gottes, da sollst Du kein Werk thun."

Ich

denke doch, das ist ein freundliches Gebot der Liebe und Weis­ heit unseres Gottes, welches dem Leib und der Seele des Menschen in der Vielgeschäftigkeit des modernen Lebens den so notwendigen Ruhetag vorschreibt, und dessen völlige Durchführung uns allen

ein ernstes Anliegen sein muß. Das höchste Fest für ein Dorf ist die Kirchweih, und wenn

auch hier zu Lande die kirchliche Bedeutung des Festes noch nicht ganz verblaßt ist, indem noch Gottesdienste abgehalten werden, so kommt doch auch die irdische Freude nicht zu kurz.

Wir sind

gewiß alle nicht so engherzig, um dem jungen Volke einen Tanz



19

-

und ein Lied, frohes Hachen und unschuldiges Scherzen zu miß­ gönnen und alle Jugendfreude als Sünde zu verurteilen. Auch unsere Vorfahren haben auf ihren Festen gern gesungen und ge­ tanzt, offen unter der Dorflinde, und Luther sagt: „Der Glauben und die Liebe läßt sich nicht austanzen noch aussitzen, so du

züchtig und mäßig darinnen bist.

Die jungen Kinder tanzen ja

ohne Sünde, das thue auch und werde ein Kind, so schadet dir

der Tanz nicht.

Sonst wo Tanzen an ihm selbst Sünde wäre,

müßte man es auch den Kindern nicht zulassen".

Das Lied, wie

überhaupt die Musik hat keinen wärmeren Verteidiger und Verehrer als eben unseren großen Reformator.

Er widmet der „Fraw

Musika" die bezeichnenden Verse: „Für allen freuden auf erden" „kann niemand kein feiner werden", „denn die ich geb mit meim singen"

„und mit manchem süßen klingen". „Hie kann nicht sein ein böser mut",

„wo da singen gesellen gut"; „hie bleibt kein zorn, zank, haß noch neid"

„weichen muß alles Herzeleid"; „geiz, sorg und was sonst hart anleit", „färt hin mit aller traurigkeit".

„Auch ist ein jeder des wohl frei",

„daß solche freud kein Sünde sei" u. s. tu.

Aber es fragt sich doch, ob gewisse Gebräuche nicht eine schwere, ernste Gefahr in sich bergen und deshalb der Abstellung driitgend bedürftig sind.

Wenn am Kirchweihfest vom Mittag bis zum

Sonnenaufgang

des

nächsten Morgens

getanzt,

gesungen und

getrunken wird, so ist das doch entschieden des Guten zu viel.

Es muß weiter stark befremden, wenn in den Pausen zwischen

den Tänzen die Mädchen den Burschen auf dem Schoße sitzen, und man muß unwillkürlich an die sechste Bitte denken: „Und führe uns nicht in Versuchung". Das so vielfach mißhandelte Wort:

„Dem Reinen ist alles rein" hat doch seine Grenzen; denn das Fleisch und Blut, das wir alle an uns tragen, ist gar leicht und

schnell versucht, und wer sich selber mutwillig in die Gefahr der

20 Versuchung begiebt, der kommt rettungslos darin um. Es mag ja sein, daß der Raunmrangel mit dazu veranlaßt, indes es ist von den Jünglingen und Jungfrauen gewiß nicht zu viel gefor­

dert, sich für ihr Vergnügen und in ihrem Vergnügen auch ein­ mal zu stellen.

Gleichwohl finden Eltern und Erwachsene diese

Sitte oder besser Unsitte nicht anstößig.

Es bewegt sich

dieser

Gebrauch — das sei der Gerechtigkeit halber gesagt — ganz auf derselben Linie, wie die in den höheren Kreisen übliche Unsitte,

daß die Frauenwelt nicht nur zu Tanzvergnügungen, sondern auch zu Festessen und Theater in derart ausgeschnittenen Anzügen erscheint, daß kindliche, unverdorbene Menschenkinder bei ihrem

Anblick in der That erröten müssen. Und nun gar der Gesang! Militärlieder mit teilweis anstößigem Inhalt und das unvermeid­

liche, unsinnige „Bienenhaus" — das ist's, was mit Begeisterung von Burschen und Mädchen gesungen wird.

Man könnte fast

meinen, wir gehörten einem Volke an, das bestenfalls alle hundert Jahre einen Dichter und Tonkünstler hervorbrächte und auch diese

noch von recht untergeordnetem, zweifelhaftem Werte. Denn seltsam genug ist es, daß unser Volk die köstlichsten Perlen des deutschen Volksliedes nicht kennt oder ihnen doch keinen rechten Geschmack abfinden kann. Es ist selbstverständlich, daß der jetzige

Gesang unseres Volkes nicht veredelt, sondern sittlich lähmt.

Wir

würden und könnten auf diese Wunde unseres Volkslebens nicht mahnend und warnend den Finger legen, wenn nicht gerade das deutsche Volk einen so reichen Schatz an wirklichen Volksliedern

und sonstigen guten Gesängen besäße, um den uns andere Völker Nicht viel anders verläuft das Familienfest

mit Recht beneiden.

der Hochzeit, nur mit dem Unterschiede, daß hier die Räume, in denen getanzt und gesungen, geraucht und getrunken wird, noch

viel kleiner und enger sind. Eins ist auf's Tiefste zu beklagen, daß bei solchen Festlichkeiten die Schuljugend bis in die Nacht hinein sich bei den Erwachsenen herumtreibt und wegen der hinund her-, ein- und auswogenden Menschenmenge ohne jede Auf­

sicht sich selber über lassen ist. Ich frage: Können es die Eltern vor Gott und Menschen verantworten, daß ihre Kinder schon in der zartesten Jugend Dinge sehen und hören, welche ihre Seele

mit unreinen Bildern erfüllen und schon im Kindesherzen das

21 Wohlgefallen an der lauten Freude großziehen?

Kein Wunder,

wenn sich auch hier das Sprichwort immer wieder bewahrheitet: „Jung gewohnt, alt gethan", und der Kampf gegen die schädlichen, verderblichen Erscheinungen so schwer und oft erfolglos ist.

Wenn

sich gegen diesen himmelschreienden Unfug eine Stimme warnend

erhebt, dann heißt es: „Die Eltern dürfen ihre Kinder mitnehmen, und diese sind unter ihrer Aufsicht gar wohl 'geborgen." Den

wahren Grund verschweigt nian wohlweislich; er ist ein ganz

anderer: Die Eltern sind sich einmal bewußt, daß es in ihrer Jugend mit ihnen selber nicht anders gehalten wurde, und sind ihren Kindern viel zu „gut", um ihnen dieses Vergnügen zu ent­

ziehen.

Sodann aber wollen sie an Kirchweih oder irgend einem

anderen Fest auch ihr Vergnügen haben, und da sie ihre Kleinen nicht allein zu Hause lassen können, so werden sie einfach mit­ genommen, auch auf die Gefahr hin, daß die armen Wesen auf

der Bank in einer Ecke oder auf dem Schoße der Mutter ein­ schlafen.

Für eine rechte, christliche Mutter müßte es doch wahrlich

höhere, köstlichere Freude sein, beim Cinbrechen der Nacht mit

ihren Kindern, die tagsüber der Freude genug genießen durften,

nach Hause zu gehen und sie, die Hoffnung des ewigen Lebens, die Kinder heiliger Mutterthränen, in wahrer Muttertreue zu be­

hüten und zu bewachen.

So geht es von Geschlecht zu Geschlecht

in den alten Bahnen fort, und man muß an das Goethe'sche Wort denken: „Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er sie beim Kragen hätte!" Wenn Eltern ihre Kinder ohne Gewissens­ bisse in solch lautem Thun und Treiben wissen können, ich glaube,

sie können sie dann auch ohne großen Schmerz in dem Abgrunde

des Verderbens versinken sehen; denn sie haben jener geweihten, für Eltern so verantwortungsvollen Stunde der heiligen Taufe so

bald vergessen, in welcher der Heiland, dieser göttliche Kinderfreund,

auch zu ihnen und ihren Kindern in herzgewinnender Liebe sprach: „Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solcher ist das Reich Gottes." Da ist in einem Dorfe oder Landstädtchen Jahrmarkt, und

allerlei Schaubuden stellen sich ein. Es ist doch oft ein Jammer, wie in diesen Buden das Rohe und Gemeine verherrlicht wird in

schamlosen

Bildern

und

ebenso

schanilosen,

oft

geradezu

22 unflätigen Witzen.

Oder es bricht der für jeden Ort kritische Tag

der Wahl zu irgend einem Gemeindeamt an. daten werden aufgestellt,

Parteien.

Verschiedene Kandi­

und hinter ihnen stehen die einzelnen

Die Wahlvorbereitung wird schon einige Wochen vor­

her von jeder Partei getroffen und in den Wirtshäusern bei dem unvermeidlichen Freibier beraten, bis dann der große Entscheidungs­

tag kommt, wo der Sieger aus Freude und die Unterlegenen aus Trotz das Bier und sonstige Getränke in Strömen fließen lassen.

In einem preußischen Dorfe in der Nähe von Gelnhausen war vor mehreren Jahren Bürgermeisterwahl; der unterlegene Kandi­ dat geriet, als er sich bei seiner Niederlage allzu vereinsamt sah, derart in Wut, daß er ganze Fässer voll Bier in die Straßen­ gosse laufen ließ. Man gewinnt den Eindruck, daß bei den meisten Wahlen nicht die innere Überzeugung, sondern die Menge des

Freibieres den Ausschlag giebt — und das ist eines Volkes, dem man das allgemeine direkte Wahlrecht zum Reichstage gegeben hat,

einfach unwürdig.

Wenn man hört, wie viel Geld für Speise

und Trank eine so erstandene „Ehre" kostet, und wenn man es nut eigenen Augen sieht, wie viel Haß und Zwietracht eine solche Wahlzeit in einer Gemeinde entfacht, und wie oft sie höchst uner­

freuliche Nachspiele im Gefolge hat, wer es mit seinem Volke wirklich gut meint, er muß hier sagen: In diesem Punkte muß

es notwendig besser werden. Nicht als ob der Pfarrer oder sonst ein Beamter sich in die Wahlangelegenheiten seiner Gemeinde mischen sollte; er steht auf einer höheren Warte als auf den Zinnen der Partei und würde, falls er sich nicht strenge Zurück­

haltung auferlegt, sicher die unliebsamsten Erfahrungen machen. Nur wer diese und ähnliche Vorgänge scharf in's Auge faßt,

wird bei gründlicher und genauer Sachkenntnis auch die rechten Mittel finden, um diesem Übel einigermaßen zu steuern. Und nun noch ein Wort über das Hauptwintervergnügen der ländlichen Jugend, die Spinnstube.

Die Spinnstube früher

und jetzt — es ist ein Gegensatz wie Tag und Nacht.

Früher

kamen — es ist an manchen Orten heute noch so — die jungen Mädchen und Burschen an den Winterabenden abwechselnd in den Häusern der betreffenden Eltern zusammen, um bei leichter Hand­

arbeit in Gegenwart der Eltern sich zu unterhalten, sich etwas

23

vorzulesen oder auch der Abwechselung halber zusammen ein Lied ernsten oder mehr heiteren Inhalts zu singen.

Man wußte das

Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, und über diesen

Zusammenkünften lag nicht nur ein Hauch von Gemütlichkeit, sondern auch von Zucht und Ordnung.

Die Spinnstube von

heute dagegen dient fast ausschließlich dem Vergnügen, mag auch dabei hin und wieder nützliche Arbeit verrichtet werden. die Jugend ihren sogenannten „Spinnherrn"

Heute hat

d. h. sie hat für

ihre Zusammenkünfte ein festes Haus, dessen Besitzer gegen Schluß

des Winters für seine Gastfreundschaft mit einem Geschenk bedacht wird. Dieser „Spinnherr" bleibt jedoch in den seltensten Fällen bei der Jugend, sei es, daß ihm der Lärm zu groß ist, sei es,

daß die männliche Jugend einen für ältere Lungen unerträglichen Tabpksrauch in die Stube macht. Cs ist und bleibt immer sehr bedenklich, wenn die Jugend es auf irgend eine Weise anzulegen

weiß, Erwachsene wegzutreiben.

An einem Orte giebt es je nach

seiner Größe verschiedene Spinnstuben, von denen jede ihren eigenen „Spinnherrn" hat und auch jede von Zeit zu Zeit die behördliche

Erlaubnis des Tanzens erhält.

Aber was geschieht?

Wenn

Spinnstube 1 Tanzerlaubnis hat, dann kommen Spinnstube 2,

3 u. s. w. ruhig dazu, und so wird es umgekehrt gehalten, ganz

abgesehen davon, daß auch ohne Erlaubnis sehr oft getanzt wird. Und in welchen engen, oft nur spärlich beleuchteten Stuben wird getanzt!

Es wäre in der That besser, wenn die Jugend sich zum

Tanzen wenigstens einen geräumigen Saal wählte, einen Raum mit mehr Luft und Licht, in welchem sich auch verheiratete Leute

einfinden könnten. Sie hätte dann selber auch nicht immer das drückende Bewußtsein, eine behördliche Erlaubnis in Unehrlichkeit zu mißbrauchen.

In der Spinnstube selber mag vielleicht noch

nichts sittlich Anstößiges vorfallen, aber der Keim zu so mancher Sünde wird hier sicher gelegt. Nach Schluß der Spinnstube ver­ schwinden die jungen Leute zu Paaren im Dunkel der Nacht, und nur die Sterne am Firmament sind die stummen Zeugen ihrer Schuld. O wenn so manches Mädchen aus achtbarer, ange­ sehener Faniilie den wahren Grund seines Unglücks und des

Kummers seiner Angehörigen ehrlich angeben wollte, es

würde

uns vielleicht doch auf die Spinnstube Hinweisen und allen Eltern

24 die ernste Mahnung in das Gewissen rufen, ihre Kinder in der Zucht und Vermahnung zum Herrn zu erziehen.

V. Wer die heutigen Volksvergnügungen mit ihren oft so be­ denklichen Auswüchsen und traurigen Folgen wirklich kennt und

ernstlich in Erwägung zieht, der entdeckt hier Aufgaben von höchster

Bedeutung. Es fragt sich, was kann die Schule thun, um edle Volkserholung zu fördern? Es ist klar, daß die Schule, welche es mit der unmündigen Jugend zu thun hat, hier nur vorbereitend

wirken kann.

Was die Schulbehörde amtlich für unser Volk thun

könnte, ja zu thun verpflichtet wäre, das wären strengere Maß­

regeln gegen die Unsitte, daß Schulkinder bis in die sinkende Nacht hinein bei den Festen der Erwachsenen verweilen. Sie würde

voraussichtlich anfangs nicht sehr gelobt werden, aber die Eltern

lernten es doch mit der Zeit, sich einzurichten zu ihrer und der Kinder Heil und Segen und sich auf ihre Elternpflichten ernstlich zu besinnen.

Sind Kinder für den Christen wirklich eine Gabe

Gottes, nun gut, dann soll und muß er auch wissen, daß jede Gabe Gottes für ihn eine Aufgabe enthält, welcher er sich mit

der rechten Treue und Hingebung und nicht zum wenigsten mit christlichem Ernste zu widmen hat. Hier können Christen. von

dem Weltkinde Goethe lernen, der so schön sagt: „Beglückt, wer Treue rein im Busen trägt", „Kein Opfer wird ihn je gereuen!" Im Unterricht selber sollte jeder Lehrer jede Gelegenheit benutzen,

um auf Freude und Nutzen edler Erholung hinzuweisen, wie auch

durch ernste Mahnung vor dem Verderben zu warnen, in welches

die Vergnüngungssucht, der Mangel an Selbst- und Weltbeherrschung, unerbittlich stürzt. Dazu bietet nicht nur die Religionsstunde, sondern auch der Geschichtsunterricht willkommenen Anlaß. Die Heranbildung eines Menschenkindes zu einer sittlichen Persönlich­ keit ist und bleibt die Hauptaufgabe der Schule, und unsere Schul­

männer haben es richtig erkannt, daß es weniger auf das bloße Wissen, mit dem oft nur das Gedächtnis des Kindes belastet wird,

26 ohne im Kampfe des Lebens die Probe zu bestehen, als vielmehr

auf die Herzens- und Gemütsbildung ankommt.

Es hieße Eulen

nach Athen tragen, wollten wir unserer heutigen Schule diese

hohe Aufgabe hier besonders noch an das Herz legen; wir müssen es dankbar anerkennen, daß unsere Kinder heute in unserem Vater­

lands weit besser unterrichtet werden, als in früheren Zeiten und

in den meisten anderen Ländern. Der früher allenthalben beliebte Drill ist glücklicherweise der Einwirkung auf Wille und Gesinnung gewichen, und wir freuen uns, daß die Heimatkunde außer dem

eigentlichen Zweck auch unvergleichlich viel mehr die Liebe zur

Natur weckt als der ehemalige Geographieunterricht, in welchem

Flüsse und Gebirge, Dörfer und Städte der allernächsten Um­ gebung nach dem Lehrbuche einfach auswendig gelernt wurden.

Die Lösung dieser hohen Aufgabe, welche sich die Schule gestellt hat, ist auch mit die beste Bürgschaft für die glückliche Über­ windung der Vergnügungssucht, aber wir dürfen für das An­ wachsen dieses Übels wahrlich nicht die Schule allein verantwortlich machen, wie es doch zuweilen leider geschieht.

Jeder einsichtige

Mensch, der sich die Mühe gemacht hat, unser Volksleben kennen

zu lernen, sollte wissen, wie sehr die gute Aussaat auch des ernstesten, gewissenhaftesten Unterrichtes durch die schlechte, häus­

liche Erziehung und durch das verführerische Beispiel geschädigt wird, und daß auch der beste Unterricht ohne die verständnisvolle Unterstützung der betreffenden Familien seinen herrlichen Zweck nicht ganz erreichen kann.

Gar mancher Lehrer wird vielleicht

bei einem Rückblick auf sein amtliches Wirken in eigenartigem Schmerze klagen, daß er sein ganzes Leben lang gegen eine be­ stimmte, besonders verbreitete Unsitte mit allem Ernst und Eifer gekämpft hat und kein Mittel unversucht ließ, ohne auch nur einen

nennenswerten Erfolg erlebt zu haben, und ich glaube, daß gerade wir Pfarrer hierin am Lebhaftesten mit dem Lehrerstande fühlen und empfinden können. Indessen — und das sei zur Ermutigung gesagt — auch hier gilt es für die Schule, unentwegt die Pflicht

um ihrer selbst willen zu thun. Die Förderung edler Volkserholung durch die Schule liegt zumeist außerhalb des eigentlichen Unterrichts. Hier ist in erster Linie die dringende Bitte an die Schule zu richten, die Kinder

26 wirklich spielen zu lehren, damit sie auch nach der Schulentlassung

spielen

können und an dem Spiele Freude und Unterhaltung

finden.

Das

Spiel bildet den Grundstock der jugendlichen Er­

holung, und wir erwähnten schon und wissend auch aus Erfahrung,

daß nicht nur die kleinen, sondern auch die großen Kinder im

Spiele Zeitvertreib und Unterhaltung suchen und finden. Was will man in aller Welt mit jungen Menschen anfangen, welche keine Ahnung

vom Spiel haben und gar nicht einmal wissen,

was sie mit einander anfangen sollen?

Dabei giebt es eine solche

Menge und. Mannigfaltigkeit in den Spielen, daß man nur zu­ zugreifen

braucht.

Wie gut könnte die Turnstunde mehr

bisher zu wirklichem Spielen benutzt werden!

als

England ist uns

hierin ein leuchtendes Borbild; dort spielt der Lehrer mit seinen Schülern, und ein Lehrer, der mit seinen Kindern nicht zu spielen versteht, chat keine rechte Achtung. Wir wollen keineswegs die in

England

übliche sportmäßige Ausbildung

und Betreibung des

Spiels für uns herbeisehnen, aber wir rufen doch unserer Schule

zu: Prüfet alles — und seien es auch Verhältnisse über dem Kanal — und das Beste behaltet, ja gebt den Kindern Spiele

für das Lebet: mit!

Die Herrn Lehrer sollten

deshalb, gerade

irrt Hinblick auf die angeregte Frage, entschieden dafür eintreten, daß Bewegungsspiele im Freien von Amts wegen eingeführt werden,

und sie werden damit entschieden eine goldene Brücke zu echter

Volkserholung schlagen.

Hier auf dem Land fehlt es ja doch

wahrlich an großen, geeigneten Plätzen nicht, wo sich die Jugend

in fröhlichem Spiele tummeln kann, und in den Städten und Städtchen dürfte man pekuniär so gestellt sein, um leicht größere

Plätze für diesen Zweck zu mieten.

Die erfreuliche Thatsache soll

nicht verschwiegen werden, daß die Schulmänner der Gegenwart dieser Frage mehr und mehr ihre Aufmerksamkeit zuwenden, und

wir dürfen zuversichtlich hoffen, daß deutscher Fleiß und deutsche

Gründlichkeit auch hierin, wie in so vielem aus alter und neuer Zeit, das Richtige treffen.

Nicht minder ist der Gesang zu pflegen.

Es ist zu bedauern,

daß so oft in höheren und niederen Schulen — dort meist mehr wie hier — Turn- und Gesangstunden das fünfte Rad am Wagen

sind.

Mit diesem kurzsichtigen, ungerechten Vorurteil muß auf-

27 geräumt werden.

Denn guter Gesang veredelt und erhebt, er

begeistert und erfreut immer das Menschenherz in den unzähligen

Plagen und Widerwärtigkeiten dieser Welt.

Was wäre z. B.

unser Gottesdienst ohne den Gesang unserer großen, herrlichen Choräle mit ihren kräftigen, keuschen Melodien, die in Freud und Leid den rechten Ton zu treffen wissen?

Ein schönes Lied, wie

es nach der inhaltlichen Vorbereitung in der Schule Eigentum des Kindes geworden ist, nur singen zu lernen, ist an sich schon Freude und Erholung, und der Mensch darf alt und schwach werden, so

klingt doch immer noch

ein

altes Lied aus der Jugendzeit in

seinem Herzen wieder. Kann die Schuljugend wirklich singen und spielen, welche eü:

anderes Gesicht bekommt dann im Frühjahr, Sommer und Herbst

ein gemeinsamer Spaziergang durch Feld und Wald.

Hier wird

das Leben der Tiere und Pflanzen selbst beobachtet, dort wird bei einer Rast nach längerem Gange ein frohes Lied gesungen und dort, wo die abgeerntete Wiese oder die Einöde sich ausbreitet, ein

Spiel gespielt — o wie muß da die Langeweile mit den oft so

altkluger: Unterhaltungen aus Kindes Mund schwinden und echte,

wahre Jugendfreude Platz greifen!

Mit Spiel und Gesang lassen

sich Kinderfeste veranstalten, ar: denen die Eltern und alle auf­ richtigen Jugendfreunde sicher gern teilnehmen, zumal der Kinder Freude ihre eigene Freude ist.

Veranlassung zu solchen Schüler­

festen bietet sich ja nicht selten, so die nationalen Gedenktage und die lokalen Feiertage.

Selbst der Winter mit seinem Schnee und

Eis hat seiner: Reiz.

Wem hätte es in seiner Jugend nicht große

Freude gernacht, auf den Schlittschuhen über die glatte Fläche dahinzueilen oder aus einem Schlitten den Abhang eines Berges hinabzufahren?

Wern wäre es nicht in Erinnerung, daß er sich

mit seinen Freunden auch einmal gehörig mit Schneeballen geworfen hat? Wo sich hierzu Gelegenheit bietet, sollte meines Erachtens auch die Schule diese Gelegenheit ergreifen und benutzen, denn in der freien Natur, wo die Kraft sich mißt, und die Ge­

schicklichkeit wächst, giebt es freie, mutige Merrschen, die sich auch später in Lagen der Not zu helfen wissen. Das sind in der Jugend gelernte und geübte Dinge, an denen der reife Mann noch bis

in's Alter seine Freude hat.

Sinniges Spiel,

guter Gesang —

28 glücklich, wer sie als liebes, teures Erbe aus seiner Schulzeit mit

in das Leben hinübernimmt!

Da braucht es nie langweilig zu

werden, denn hier hat man eine sichere Zufluchtsstätte, die Unter­ haltung und Zerstreuung bietet.

Wenn die Schule mehr Gewicht

und Wert auf Spiel nnd Gesang legt, ich bin fest überzeugt, es

Vor allem werden sich die Kinder persönlich enger und fester an ihren Lehrer anschließen, und er wird sich reichlich lohnen.

bleibt ihnen auch über die Schuljahre hinaus eine Vertrauens­ person.

An der Schule ist es, des Sprichwortes zu gedenken:

„Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr" ; die Jugend

für edle Erholungsstunden mit vorzubilden, dazu muß die uner­

schütterliche Wahrheit jenes Wortes anspornen: „Wer die Jugend

hat, der hat die Zukunft."

VI. Aber kann nicht der Staat Wandel schaffen und vermöge

seiner Macht das Heil bringen?

Wir müßten blind und thöricht

sein, um nicht sofort einzusehen, daß das Gebiet der Volkserholung,

auf dem die Volkssitte und die persönliche Freiheit des einzelnen

eine so hervorragende Rolle spielt,

auf keinen Fall durch den

starren Buchstaben des Gesetzes mit Erfolg bearbeitet werden kann. Anders liegt die Sache, wenn der Staat sich gegen gewisse Aus­

schreitungen wenden muß, um die Ruhe und Sicherheit seiner

Unterchanen zu schützen, und nur in dieser Hinsicht ist er für

unsere Frage ein nicht zu unterschätzender Faktor.

Von der

Bedeutling des Staates für Volkserholung hat man recht wider­ sprechende Anschauungen, die sich auch mit den: besten Willen

nicht vereinigen lassen.

Einmal glaubt man, der Staat komme

überhaupt nicht in Betracht, weil er für Christen und Nicht­ christen da sei und deshalb nicht nach rein christlchem Maßstabe

verfahren

könne oder weil er

gar

christlich

indifferent d.

h.

gleichgültig sei, und man deshalb von ihm schwerlich be­ friedigende Maßnahmen erwarten dürfe. Andererseits erwartet man vom Staate

alles Heil, weil er allein die Macht und

habe. Beide Anschauungen schießen indes über das Ziel hinaus, die erstere infolge ihres unberechtigten Pessimismus Gewalt

29 (Schwarzseherei) und die letztere infolge des ebenso unberechtigten Optimismus (Hellseherei), der nicht selten aus eigner Behaglichkeit seine Nahrung schöpfen dürfte.

Die Wahrheit liegt auch hier wie

so oft in der Mitte: Der Staat kann unmöglich alles leisten, am

wenigsten durch viele Gesetze, die erfahrungsmäßig mehr erbittern als erfreuen, wohl aber segensreich unterstützen. Ist der Staat allerdings tyrannisch oder sittlich gleichgültig, ist er derart, daß er nur zwei Klassen kennt und duldet, die unterdrückende und die unterdrückte, dann ist an ihn nicht mehr die Forderung zu stellen,

für wahre Volkserholung mitsorgen zu helfen; denn hier wird er

die bescheidene Erholung als überflüssigen und gefährlichen Luxus verdammen und dort nichts dagegen haben, wenn aus Erholungs­ stunden, mit reichem Schmuck und glänzender Pracht ausgestattet,

das Gespenst der Vergnügungssucht geboren wird.

So weit sind

wir aber doch noch nicht; wir dürfen uns, Gott Lob, im Hinblick auf unseren Staat und unsere Volksvertretung eines Besseren ver­

Vielfach wird in bester Absicht an den Staat die Forderung

sehen.

gestellt, zu

die

herkömmlichen Vergnügungen

des Volkes

einfach

verbieten und jede nachgesuchte Tanzerlaubnis kurzer Hand

zu verweigern.

Ganz abgesehen davon, daß ein solches Vor­

gehen zu Ungerechtigkeiten führen müßte, diese Forderung rechnet auch

nicht

mit

dem

vorhandenen,

nach treuer Arbeit berech­

tigten Erholungsbedürfnis und ist endlich auch kurzsichtig; denn

wo wir etwas Schädliches wie hier mit dem Guten so bedingungs­

los wegnehmen, da müssen wir notwendig an seine Stelle etwas anderes und zwar Gutes setzen. Wir können uns doch nicht leicht darüber täuschen, daß auch die Unsitte tief im Volksleben wurzelt, ja leider vielleicht tiefer als die gute Sitte, und nicht so im Hand­

umdrehen mit der Wünschelrute des Gesetzes sich beseitigen läßt. Aber fragen wir doch einmal, welche gesetzliche Maßregeln hat der Staat bis jetzt in dieser Richtung hier in Hessen ge­

troffen?

Sie bestehen lediglich in der Einschränkung der öffentlichen

Tanzvergnügungen und der Feierabendstunde, sowie darin, daß

einheimische Gäste am Vormittag des Sonntags die Wirtshäuser nicht besuchen dürfen, und daß vor Beendigung des Nachmittags­ gottesdienstes nicht gekegelt werden darf. Die Kreisämter haben

außerdem sogenannte Spinnstubenreglements erlassen.

Darnach

so darf sich die Spinnstube nicht über die Polizeistunde ausdehnen, und

zum Tanz in der Spinnstube ist kreisamtliche Genehmigung

In einzelnen, nicht in allen Kreisen unseres Hessen­

erforderlich.

landes, ist der Besuch der öffentlichen Tanzbelustigungen weiter dahin eingeschränkt, daß den betreffenden Wirten bei Erteilung

von Tanzerlaubnis verboten wird, die konfirmierte Jugend im fortbildungsschulpflichtigen Alter zum Tanzboden zuzulassen.

Als

Strafe für die Nichtbeachtung dieser Anordnung wird zugleich die

künftige Verweigerung jedes Gesuches um Tanzerlaubnis auf längere Zeit in Aussicht gestellt.

gut,

Alle diese Gesetze sind ohne Zweifel

aber sie werden leider fast nirgends streng beobachtet, und

es wird zuweilen auch ungerecht verfahren, indem z. B. in den kleineren Wirtschaften pflichtgetreu Feierabend geboten wird, während

in dem Hotel oder ersten Gasthaus, wo

auch die Spitzen der

gesellschaftliches Bedürfnis

befriedigen, die Feier­

Behörden ihr

abendstunde überhaupt keine Berücksichtigung findet, weil ja der Untergebene den Vorgesetzten zur Anzeige bringen müßte.

In der

That, lieber gar keine Gesetze als solche, welche fast durchweg um­ gangen werden.

Denn diese Gepflogenheit untergräbt und er­

schüttert das Ansehen des Staates.

Wir dürfen daher billig vom

Staate verlangen, daß er die vorhandenen Gesetze auch wirklich zur Durchführung bringt. Allein diese gesetzlichen Bestimmungen genügen nicht, weil

sie selbst bei voller Beachtung den vorschwebenden Zweck nicht

erreichen.

Wir

haben ein Gesetz über die Sonntagsruhe, und

jede Gemeinde kann nach diesem Gesetz je nach Bedürfnis die allgemein vorgeschriebene Zeit der Ruhe im öffentlichen Handel

und Wandel festsetzen, wie sie es für gut findet.

Bei aller guten

Absicht, die wir dankbar anerkennen, ist dieses Gesetz nicht gehauen noch gestochen und hat sieben Hinterthüren, durch die man bequem

ein- und auskommt.

Meines Erachtens kann es hier nur heißen:

Entweder ganze Arbeit oder gar nichts!

Was gerade die Frage

der Sonntagsruhe betrifft, so muß der Staat in erster Linie in

allen seinen Betrieben selber mit gutem Beispiel vorangehen, und er darf dann sicher sein, daß er auch Nachfolger findet.

Er darf

durch seine Beamten am Sonntage nicht die Pflichtfeuerwehren besichtigen lassen; vielleicht gehen viele, ohne Anstoß zu nehmen,

31 an einer solchen Übung vorüber, aber manches christliche Gewissen Ein einziger Blick in das Post- und Eisen­

wird dadurch verletzt.

bahnwesen sagt uns, daß hier mehr Sonntagsruhe für die Beamten und Unterbeamten herrschen sollte, denn die staatlichen Betriebe

sollen Musterbetriebe sein.

Das Austragen der Briefe und Packete

in Stadt und Land, wo sie nicht als besonders dringlich bezeichnet

sind, sollte ganz unterbleiben, und auch der Verkehr auf Post und Eisenbahn bedarf einer gründlichen Reform, zumal andere Länder

uns darin weit überflügelt haben, und wir doch auch mit Fug und Recht in dem großen Reiche der Menschheit an der Spitze

großen,

der Zivilisation marschieren wollen.

Und

weltumfassenden Ziele offenbaren sich

immer im Kleinen.

gerade die

In

Belgien werden die Briefmarken nicht anders ausgegeben als mit dem ausdrücklichen, gedruckten Vermerkens pas livrer le dimanche“ d. h. am Sonntag nicht austragen, und dieser Vermerk kann, je

nachdem die Bestellung dringlich erscheint oder nicht, abgetrennt oder auch an der eigentlichen Marke gelassen werden.

Sagen Sie

selbst, warum könnte das bei uns nicht ebenso gut und leicht ein­ geführt werden, damit auch der Briefbote am Sonntage einiger­

maßen Ruhe bekommt?

Auch der Post- und Bahnverkehr sollte

und könnte am Sonntag eher eingeschränkt, als vermehrt werden. Meine Herrn, der deutsche Staat kann sich in dieser Hinsicht mit Nichts entschuldigen; England, Schottland und Nordamerika erbringen den schlagenden Beweis, daß bei fast völliger Sonntagsruhe in

den staatlichen, wie auch privaten Betrieben der Nationalreichtum

sich nicht vermindert, sondern ganz im Gegenteil zunimmt, sicher ein handgreiflicher Beweis, daß Gott der Herr auf das strenge Beobachten seines

seinen Segen legt.

Gebotes vom Heiligen des

Feiertages auch

Man sagt, die Regelung dieser Frage sei

eine internationale Frage, eine Frage für den Kontinent Europas, und sie sei in unserem Sinne nur dann zu lösen, wenn sich die

übrigen Staaten des Kontinents den gemachten Vorschlägen an­

schlössen.

Ich gebe das bis zu einem gewissen Grade unum-

wunden zu



aber man muß doch, wenn einem etwas auf

der Seele brennt, zur Lösung dieser Frage auch einmal einen

kräftigen Anstoß geben in dem allen Staatsmännern innewohnen­ den Gefühle, daß auch die Staaten und Völker durch die Maschine

32 und das durch sie bedingte Aufblühen von Handel und Industrie sich lange nicht mehr so fern und fremd gegenüberstehen, als wir es vor Zeiten mit Recht annahmen. Was die vermeint­

lich notwendige Vermehrung des Personenverkehrs am Sonntage auf den Bahnen anbelangt, so erlaube ich mir nur die bescheidene Behauptung, daß es sich hier fast durchweg um den örtlichen Ver­ kehr und nicht um den Weltverkehr handelt, unb daß also hier unser Staat recht wohl in der Lage ist, Wandel zu schaffen, was ohne Zweifel allenthalben als eine große Wohlthat dankbar empfunden und unserem großen, geeinten Vaterlande sicher mehr

Heil als Unheil bringen würde.

Kurz, enthält sich der Staat

selber nicht jeder einstellbaren Sonntagsarbeit, so machen alle seine Gesetze über Sonntagsruhe im Volk keinen rechten Eindruck;

äußerlich hält man sie vielleicht, weil man muß, während sich innerlich das Herz empört — und das ist kein wünschenswerter

Zustand.

Der

Staat hegt sich dadurch auch nur im eigenen

Walde, denn er nimmt vielen unserer Brüder den Sonntag und

entfremdet sie ihrer Kirche und schließlich auch dem Christentnme,

und wer keinen Sonntag hat, der hat auch keinen rechten Werktag mehr, an dem er mit Lust und Siebe, mit neuer Kraft und Zuver­

sicht arbeitet.

Die Folge ist: das Heer von unzufriedenen, miß­

mutigen Beamten giebt seinem Arbeitgeber, dem Staate, an: Tage der Reichstagswahl die entsprechende Quittung, eine Thatsache, die wir zugleich begreifen und bedauern müssen.

Es läge ganz

gewiß auch in der Machtbefugniß des Staates, die Bestimmung zu treffen, daß die Schank- und Gastwirtschaften während des

Vor- und Nachmittagsgottesdienstes immer auf mindestens zwei

Stunden ganz geschlossen sind.

Denn man muß doch auch einmal

an die Wirte selber, an Kellner und Laufburschen, an Zimmerund Hausmädchen denken; ihnen allen würde dann doch auch eine Erholung in Gestalt einer theilweisen Sonntagsruhe zu teil und zum Besuch des Gottesdienstes wenigstens die Gelegenheit und Möglichkeit gegeben. — Die Bedürfnisfrage bei Gesuchen um Erlaubniserteilung, eine Wirtschaft aufzuthun, ist in unserer Gesetz­

gebung sicher recht gut gemeint, aber sie ist doch völlig ungenügend. Eben kommen auf dem Lande auf etwa 100 bis höchstens 150 Menschen (Weiber und Kinder miteingerechnetj je eine Wirtschaft —

33 wo ist

der

welcher bei diesem Ver­

scharfsinnige Philosoph,

hältnis das Bedürfnis der immer neu auftauchenden Wirtschaften klipp und klar nachweist? Ach nein, man muß nur wissen, wie

alles zugeht.

Wenn der Bittsteller einen Verwandten oder wohl­

meinenden Bekannten zum Fürsprecher hat, oder wenn gar örtliche Parteiverhältnisse mitsprechen, sodaß man an maßgebender Stelle schlechterdings nicht kann, wie man nach besserer Überzeugung wohl möchte, dann fällt's ihm in der Regel nur zu leicht, die nach­

gesuchte Genehmigung zu erhalten.

Wie wäre es, wenn man

diese Crlaubniserteilung von einer gewissen Seelenzahl abhängig machte? Dann wäre ein fester Maßstab gegeben, an dem alle Verwandtschaft und alles freundschaftliche Wohlwollen nicht rütteln

könnte.

Bei der Forderung solcher Gesetze haben wir nicht mehr

nötig, besonders ängstlich oder schüchtern zu sein, seitdem Holland

zum Segen seines

Volkes, wie

von

durchaus

glaubwürdigen

Zeugen versichert wird, diese Bestimmung schon längst zum Staats­

gesetz erhoben hat, ein Beweis, daß bei gutem Willen viel Segens­ reiches zur That werden kann. — Bei den Schaustellungen auf

den Jahrmärkten und bei anderen Gelegenheiten ist eine strengere

Aufsicht seitens des Staates zu fordern, damit alles Rohe und

Gemeine ferngehalten, beziehungsweise sofort unterdrückt und dann empfindlich bestraft werde. Den umherziehenden Budenbcsitzern ist eben nicht auf das Wort zu glauben, denn sie haben in ihrer

Bude vielfach noch ein sogenanntes „Geheimkabinett", das bei höherem Eintrittsgeld nur der Sinnenlust Vorschub leistet und der Neugierde halber gerade von der Jugend besonders besucht

wird. — Auch auf das Kolportagewesen, auf das Vertreiben von Büchern und Schriften, sollte der Staat ein schärferes Auge richten. Wenn wir auch damit keineswegs die guten und dem Staate als solche bekannten Kolportagevereine schädigen wollen, so müssen wir

doch offen sagen: Es ist ein Jammer, zu sehen, wie die Schauerromane, die Mord- und Räubergeschichten, die Liebesabenteuer und sittlichen Schandflecken der Großstädte nicht etwa in ernster,

sondern in leichtfertiger, verlockender Sprache und Darstellung

unserem Volke gereicht werden und ihm tödliches Gift geben. Der Staat sollte endlich überall da, wo gesetzliche Bestim­

mungen unmöglich zum Ziele führen

können,

alle die

kräftig

-

34

-

unterstützen, welche in dieser Richtung ihrem Volke ehrlich dienen

wollen.

Diese Forderung berührt allerdings einen heiklen Punkt,

der aber gerade aus Liebe zu unserem Volke nicht unerwähnt

bleiben soll.

Solange das Staatsschiff äußerlich ruhig seine Bahn

dahinzieht, solange versteht außer den Vertretern des Staates in der Regel keiner auch nur etwas von irgend etwas, solange stehen sie zum Teil hoch und erhaben über der übrigen Menschheit und ver­ stehen es oft meisterhaft, ihrem Kraftgefühle Ausdruck zu verleihen in

so manchem Hiebe, von dem Kirche und Schule doch ein Liedchen zu singen wissen. Peiffcht aber ein wilder Dämon das weite Meer, und

schwankt das Staatsschiff in den brausenden Wogen, vielleicht nur, weil die Bemannung in dieser oder jener wichtigen Maßnahme einen Fehlgriff gethan hat, dann wird man zwar nicht liebenswürdig, sondern wie im heiligen Zorne klingt es uns aus den brandenden

Wogen entgegen:

„Die Schule und die Kirche haben nicht ihre

vollz, ganze Schuldigkeit gethan; es muß ganz anders, natürlich besser werden — darum Schul- und Kirchenbehörde, wecke die Schlummernden vom trägen Schlafe auf!"

Und, meine Herrn,

seltsam genug: Je nach Windstille oder Sturm draußen auf dem Meere komnien denn auch verschiedene Erlasse, die leider mitunter das Schicksal haben, sich zu widersprechen. Ich freue mich indes,

was ich ausdrücklich betone, daß wir in Hessen dank der besonnenen Haltung unserer Kirchen- und Schulbehörde, wie auch des Staates nicht in dieser unberechenbar wechselvollen Weise von Sturm und Wetter abhängig sind und um des Gewissens willen darunter zu

leiden haben.

Ich gestehe offen, daß ich rnir von dieser staat­

lichen Unterstützung wenig oder gar nichts verspreche, aber wir wollen nicht müde werden, um der Pflicht willen immer wieder anzuklopfen und mit unerschrockenem Ehristenmute auch das staat­ liche Gewissen zu schärfen, einerlei, ob man uns hört oder nicht. Da steht z. B. der Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke

im Kampfe, im Kampfe für unseres Volkes Heil und gegen seinen Todfeind, den Alkohol.

Er fordert, die Jugend unter 16 Jahren

vom Wirtshausbesuch auszuschließen und an Gewohnheitstrinker nichts zu verabfolgen; er hält cs ferner für erforderlich und wünschenswert, daß Trinkschulden nicht einklagbar sind und Ärgernis

erregende Trunkenheit bestraft wird.

Da stehen auf dem Plane

35 die Männer der inneren Mission; sie legen beispielsweise warnend den Finger auf die ernste Gefahr, welche die Worte „weibliche Bedienung" auf dem Schilde so mancher Gastwirtschaft und in

den Zeitungsinseraten enthalten, und reden herzandringende Worte von den schlechten Wohnungsverhältnissen als dem Nährboden der Sie halten die

Vergnügungssucht, die wir bekämpfen wollen.

Anlage von sogenannten Volksparks, wie sie in England schon

eingeführt sind,

längst

für

notwendig

oder

doch

wenigstens

wünschenswert, damit jeder sich je nach Bedürfnis durch Spiel

oder

Lesen

unterhalten

kann,

wie

es

ihm

beliebt,

ohne

dem Alkohol sein sauer verdientes Geld in entsetzlichem Opfer darbringen zu müssen. Ja man macht selbst den Vorschlag» die Wirte möchten Eintrittsgeld erheben, damit die Gäste ihre Zeitung

lesen und ihre Unterhaltung pflegen können, ohne etwas trinken zu müssen. Es wäre ein Leichtes, noch viele andere Wünsche und Bitten wahrer Volksfreunde anzuführen, aber genug, wir

fühlen's alle deutlich, daß solche Wünsche aus treuem, deutschem

Herzen hervorbrechen, ohne Falsch und ohne Selbstsucht, sondern lediglich in mannesmutiger Aufopferung für unser liebes Volk,

dem wir doch alle mit allem, was wir sind und haben, ja, will's Gott, mit jedem Pulsschlage unseres Herzens angehören. Niemand kann in dieser ernsten Zeit so bethört sein und leugnen,

daß unseres Volkes Wohl unser eigenes Wohl und unseres Volkes Weh unser eigenes Weh ist.

Es mag sein, daß nicht alle Vor­

schläge, welche gilt Gesundung unseres Volkes gemacht werden und

insbesondere der Vergnügungssucht wehren wollen, praktisch durch­

führbar sind, aber ein Körnchen guten Wollens und ungeschminkter Wahrheit enthalten sie doch alle, und wer den Mut hat, schwere

Schäden aufzudecken unb solche Wünsche offen auszusprechen, er kennt das Leben viel gu gut, als daß er je damit rechnete, auf

Rosen gebettet zu werden.

Es fehlt nicht an Eingaben, die von

echten Freunden unseres Volkes an die Regierungen und an den Reichstag gemacht worden sind, aber sie haben leider fast in den meisten Fällen das gleiche Geschick: Man zieht sie in wohlwollende Erwägung,

Schlaf.

und

dann

schlummern

sie

einen tiefen,

langen

Dazu können und müssen wir nur in ehrlich gefühltem

Schmerze sagen: Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.

Was

36





könnte für den Staat näher liegen, als solche Männer, welche

mitten im Volke stehen und Land imb Leute gut keimen, bei Be­

ratung solcher Dinge vor den Volksvertretungen zuin Wort kommen zu lassen?

Fassen wir alles zusammen, so steht meines Erachtens

fest, daß das staatliche Eingreifen auf dem Wege der Gesetz­ gebung

keineswegs alles Heil

schafft, weil der kalte Gesetzes­

buchstabe das Volksleben in seiner ganzen Tiefe nicht zu durch­ dringen vermag und auch hier eher tötet, als lebendig macht, aber ebenso sicher ist mit auch, daß wir die staatliche Unterstützung

und Beihilfe im Kampfe gegen die wachsende Vergnügungssucht durchaus nicht entbehren können, zumal auch dieses ideale Ziel nicht ohne die höchst prosaische Forderung der nötigen Geldmittel zu erreichen ist, und die private Wohlthätigkeit, die gegenwärtig

sehr stark in Anspruch genommen wird, auch bei der größten

Opferwilligkeit nicht genügt.

VII. Weit höher als die staatliche Gesetzgebung ist der moralische Einfluß der Kirche zu werten, unb ihre Vertreter sollten den Ernst

der Zeit und ihrer besonderen Aufgaben nicht verkennen.

Der

bekannte Konsistorialrat Ahlfeld sagte einst: „Ich möchte die Geist­ lichen bitten, nicht, wie es so manche thun, iit jeder lauten Äußerung der Volksfreude, in jedem Überschänmen der Kraft gleich etwas

Sündhaftes zu sehen. Wir haben un§ wohl zu sehr daran ge­ wöhnt, wegen der Überschreitungen der Lust diese selbst zu ver­ urteilen".

Diese herrlichen» weitherzigen Worte aus dem Munde

eines solchen Mannes geben uns die Richtung an, die wir zur Lösung unserer Aufgabe einschlagen müssen.

Es kann sich daher

auch nicht darum handeln, darauf hinzuwirken, daß alle weltlichen

Volksfeste einfach aufgehoben werden, und als zweckentsprechendes Mittel etwa die Einführung einer strengen Kirchenzucht anzu­

streben, der man auch auf diesem Gebiete doch zuweilen eine heilsame Kraft zuschreibt.

Unser Volk hat immer seine Volksfeste

gehabt und wird sie sich auch jetzt so leicht nicht nehmen lassen. Auch ist das Verlangen nach Erholung keineswegs ein schlechtes,

sondern weit eher ein gutes Zeichen, denn unser Volk liefert dadurch

37 den Beweis, daß es außer saurer Arbeit auch noch etwas anderes

kennt und Sinn für Höheres hat.

Ob endlich unsere Zeit für

Einführung strenger Kirchenzucht besonders

geeignet ist, möchte

doch stark zu bezweifeln sein. Ich für meine Person kann mich nie des Eindruckes erwehren, als ob die Sehnsucht nach strenger

Kirchenzucht fast durchweg aus einem gewissen Gefühle eigner Schwäche geboren werde; ich halte auch dafür, daß die Kirche

des Evangeliums auf der Basis der Freiwilligkeit und innersten Überzeugung und nicht des äußeren Zwanges ruht. In dem

gewaltigen Kampfe der Geister, der rings um uns her entbrannt ist und seine Sturmfluten auch gegen die Mauern unserer Kirche

wirft, gilt es, mit den Waffen des Lichtes und des Geistes jit kämpfen und das Böse durch Gutes zu überwinden in der festen,

fröhlichen Zuversicht, daß der Herr uns jenes große Wort seiner Verheißung hält, daß auch die Pforten der Hölle seine Gemeine nicht sollen überwältigen.

Es kann sich daher meines Erachtens

nur darum drehen, in Anerkennung des Crholungsbedürfnisses die Erholungszeit und Erholungsgelegenheit in solche Bahnen zu

lenken, daß beides sich mit wahrem Christentum verträgt, also daruni, den Festlichkeiten und Crholungsstunden unseres Volkes

einen besseren, edleren Inhalt zu geben.

Hierin liegt für die

Kirche schon die Aufgabe beschlossen, gegen alle Ausschreitungen

und Schäden nach oben ivie unten mutig nach Väter Art zu protestieren.

Wird diese Frage auf der Kanzel angeschnitten, so

ist große Vorsicht, die jedes Wort abwägt, entschieden ratsam. Denn man kann von dieser Stätte aus, wo niemand berichtigen oder gar entgegnen kann, nur zu leicht dem einen oder anderen

Unrecht

thun

und richtet

dann in der Regel statt Heil mehr

Schaden an. Wir wissen ja doch alle, wie leider nur zu oft ein chatsächlich kleinlicher Vorfall durch Feindschaft, Neid und Miß­ gunst ausgebeutet und vergrößert wird. Auch fehlen wohl in keiner Gemeinde solche Leute, die gleichsam als Ortschronik den inneren Trieb verspüren, jedes Ereignis brühheiß, aber in ihrer

besonderen Beleuchtung ihrem Pfarrer zu melden.

Vor solchen

Menschenkindern, bei denen Wahrheit und Dichtung so nahe bei

einander liegen, daß sie meist nur schwer von einander zu trennen sind, und noch mehr vor der Verwertung ihrer Mitteilungen in

38 Predigt und Seelsorge kann nicht ernst und dringend genug ge­ warnt werden. Die Mahnungen und Warnungen der Predigt seien

freundlich und doch ernst und nur ganz allgemein.

Denn mit

Poltern und Schimpfen von der Kanzel herab ist noch nie etwas gut gemacht worden; im Gegenteil, die Kirchen sind dadurch fast

noch immer ihres schönsten Schmuckes, der feiernden Gemeinde, die sich erbauen will, beraubt worden. Sind offenbare Übelstände zu rügen, so verspricht die Behandlung solcher Fälle auf dem

Wege der Seelsorge meist mehr Erfolg.

Dem Pfarrer bietet sich

gleich dem Lehrer im Religionsunterricht Gelegenheit, der Jugend

den Segen edler Erholung und das Verderben der Vergnügungs­ sucht an das Herz zu legen. Bei Behandlung des dritten und sechsten Gebotes ergiebt sich beispielsweise dieser Hinweis ganz von

selbst.

Vor allem hat der Pfarrer jährlich in seinen Konfir­

manden die jungen Leute, denen gar bald die Sitten und Gebräuche ihres Ortes als Versuchung nahen.

Hier können und sollen die

Tanzvergnügungen und die Spinnstube mit ihrem Treiben und Gesänge Erwähnung finden; hier kann und muß sitllicher Ernst

alle diese vermeintlichen Freudenstunden entlarven und die Jugend stärken, mit alten Unsitten zu brechen und den Spott der Alters­ genossen füll und getrost zu tragen im Glauben an unseren Herrn, der von seinen Zeitgenossen verachtet und verhöhnt wurde, weil er das Herkömmliche, soweit es verkehrt und sündlich war, bekämpfte,

ohne jedoch Herz und Blick für wahre, unschuldige Freude zu verlieren.

Die Beschäftigung des Volkes am Sonntag ist scharf im Auge zu behalten.

Tausende und Abertausende aus allen Ständen

finden am Sonntag keine äußere Ruhe, wie viel weniger erst innere Ruhe und

Sammlung,

und wir

sollten uns vor der

Ungerechtigkeit und Einseittgkeit hüten, hier immer nur den Staat

wegen mangelhafter Sonntagsgesetzgebung anzuklagen.

Die Wahr­

nehmung so vieler Schäden sollte sich vielmehr für die Kirche zu

einem Bußruf gestalten; sie hatte es doch immer in der Hand,

chre Glieder mehr an sich zu fesseln und auch den Sonntag mehr zu ihrem Vorteile auszunutzen, sie durfte neben der Erbauung die christliche Erholung nicht vergessen und konnte vielleicht so mehr

Fühlung mit dem Volke behalten.

Wie wäre es, wenn die Kirche

SS darin zu ihrein eigenen Schaden zu wenig gechan hätte?

Ist

der Nachmittagsgottesdienst zu Ende, dann beginnt das Leben und Treiben im Wirtshaus, auf der Kegelbahn oder im Tanz­ lokale. Die Kinder scharen sich zusammen und ziehen durch Wald und Feld; die rotwangigen Äpfel winken zu verführerisch

aus dem grünen Laubwerk, um sich nicht in ihren Besitz zu setzen zum Verdruß des Eigentümers, die Zigarre wird heimlich

hinter

Busch

und

Strauch

geraucht,

und

wo

beide

oft wohl noch Schlimmeres So geht bei alt und jung leider

Geschlechter zusaminen sind, mag getrieben und geredet werden.

so oft am Nachmittag des Sonntages dreifach verloren, was am Morgen im

Gottesdienste gewonnen wurde.

Zum Segen der

Jugend wäre vielleicht Abhilfe zu schaffen durch Einrichtung von

Sonntagsschulen,

zu denen

natürlich

auch

erwachsene Laien,

Jünglinge und Jungfrauen, Männer und Frauen herangezogen werden müssen, damit sie sehen, daß die kirchliche Liebesarbeit wohl auch für sie noch Pflichten hat. Wer hiermit Ernst machen will, der wähle das sogenannte Gruppensystem; ein Erwachsener

hat etwa 10 bis 12 Kinder in seiner Gruppe während des Gottes­

dienstes zu überwachen und nach vorausgegangener Vorbereitung zu unterrichten. Ein solcher Kindergottesdienst mit Gesang, Belehrung, Abfragen des Gelernten und kurzer Ansprache des Geistlichen macht auf jung und alt Eindruck und wird, wo er einmal eingeführt ist, nicht so

Behandlung biblischer

leicht wieder aufgegeben.

Stoffe mit steter Beziehung

und

Die Nutz-

anwendung auf das wirkliche Leben, soweit es dem Kinde vertraut ist,

und

der Umgang mit den Kleinen selbst giebt den dabei

thätigen Laien, wie auch den Zuhörern oft einen tieferen Einblick

in die allumfassende Kraft des Evangeliums, als chn die Predigt des

gewöhnlichen Gottesdienstes vielleicht geben kann, und weckt allent­ halben nicht nur echt kirchlichen, sondern besonders auch echt christlichen Sinn. Oder man verlege, wo es irgendwie durch­ zuführen ist, den Nachmittagsgottesdienst in eine Abendstunde. Cs

ist nun einmal erfahrungsmäßige Thatsache, daß die Abendgottes­ dienste besser besucht werden als die Gottesdienste am Tage. Das hat man in allen größeren Städten, wo die Entkirchlichung sich

früher imb schneller als auf dem Lande vollzogen hat, auch sehr

40 richtig erkannt und gewürdigt. Man mag hier von einem mehr ästhetischen Genusse als dem geheimnisvollen Magneten sprechen — uns sollte es genügen, daß Abendgottesdienste geeigneter sind,

weiteren Kreisen das Evangelium, welches aus Wort und Lied redet, an das Herz gtt legen.

Eine Gemeinde, im Gotteshaus«

versammelt unter dem milden Schein der Kerzen oder Lampen,

der feierliche Klang der Orgel, der feste Gesang eines Chorals,

das Wort Gottes aus

Predigers

Mund



es

macht

einen

wundersamen, unbeschreiblichen Eindruck selbst auf den, der sich dem Gottesdienste längst entfremdet hatte. Gewiß, es handelt sich hier zunächst um Erbauung, aber sie ist und bleibt doch

schließlich für den Christenmenschen die beste Erholung, und zudem ist statt der zweifelhaften Zerstreuungen doch wenigstens

eine Gelegenheit geboten, sich zu sammeln und zu stärken für den

Kampf des Lebens, in den uns jeder anbrechende Tag hineinstellt.

Ein Vorbild echter Erholung haben wir in den verschiedenen

kirchlichen und christlichen Vereinen, welche die innere Mission als Gegengewicht zu den bloßen Vergnügungsvereinen in das Leben gerufen hat.

Die innere Mission unterstützen heißt daher zum

Teil nichts anderes, als viele seiner Brüder und Schwestern vor

dem Verderben der Vergnügungssucht bewahren helfen, und wenn der einzelne Vertreter der Kirche weiter nichts zu thun im stände wäre, als opferfreudigen Sinn und inniges Verständnis für diesen Liebeszweig der Kirche zu wecken, so wäre damit immerhin schon

etwas erreicht.

Die innere Mission sammelt in den Jünglings­

und Jungfrauen-, in den Arbeiter- und Lehrlingsvereinen, in den fast

zahllosen, von ihr gegründeten Anstalten die Jugend um sich und bietet ihnen echte, christliche Erholung.

Sie versteht es recht wohl, diesen

Zusammenkünften den streng erbaulichen Charakter zu nehmen

und sie mehr unterhaltend zu gestalten, denn sie weiß es nur zu

gut, daß sie nur auf diese Weise auf weitere Kreise Einfluß ge­

winnen kann.

Die einen spielen, die anderen lesen; hier wird

ein Posaunenchor gebildet, welcher die Feste und Sommerausflüge

des Vereins verschönert, und dort wird der Gesang gepflegt. Wenn ein solcher Verein sein Fest feiert, da sind es mancherlei Gaben, die zu unschuldigem, veredelndem Genusse beitragen. Wir sehen hier Laienkräfte mit Lust und Liebe ihre Thätigkeit ent-

41 falten,

und

so manches Talent, das im Busen still verborgen

schluminerte, wird geweckt und entfaltet sich zu der Menschen Freude, und wahrlich, durch die Pforte eines solchen Vereins ist schon so mancher wieder in den Schoß seiner Kirche zurückgekehrt. Von diesen Vereinen müssen wir lernen.

Sie sorgen allerdings

nur für die Erholung ihrer Mitglieder, währerid wir für Volks­

erholung sorgen wollen; wir müssen daher das, was jene in ihrem

begrenzten Kreise leisten und bieten, für die breite Masse, für jung und alt, für Mann und Weib cinzuführen bestrebt sein. Wir müssen die Mittel beschaffen, die es uns ermöglichen, eine

größere Versammlung für einige Stunden wirklich zu unterhalten, ohne daß die Langeweile die Augen zum Schlafe zudrückt. Die lautere Liebe zum Volk ist und macht erfinderisch.

Ohne Zweifel

arbeiten wir dem vorgesteckten Ziele entgegen, indem wir alle solche kirchlichen und christlichen Vereine unterstützen oder, wo es

angeht, selber gründen.

Ich kann indes hier die Bemerkung nicht

unterdrücken, daß zur Gründung und Leitung eines christlichen

Vereins eben auch nur eine durch und durch christliche Persönlich­

keit fähig ist.

Wo ein derartiger Verein ernt Orte selbst oder in

der Nähe ist, er wird aus Dankbarkeit für unser Wohlwollen uns seine Kräfte zur Verfügung stellen, wann und wo wir ihn zu

christlicher Volkserholung rufen.

Was vielleicht in jeder Gemeinde

möglich ist, das ist die Gründung eines Kirchengesangvereins.

Hier unser Vogelsberg verfügt in Wahrheit über wunderbar klare, kräftige Stimmen — warum sollen sie in dem abgedroschenen Gassenhauer oder in dem sittlich anstößigen Soldatenliede, das sich

zumal aus Mädchenmund gar komisch anhört, verkümmern? Nein, solche gute, Helle Stimmen, wie wir sie hier zu Lande hören, sind wirklich viel zu wertvoll für seichte, schlechte Lieder, welche den Menschen in den Schlamm herabziehen, statt ihn aus dem niederen Erdenstaube, der unsere Schuhe bedeckt, zu lichten, reinen

Höhen emporzuheben. Ein Kirchengesangverein, der außer Chorälen auch geistliche und weltliche Volkslieder einübt, müßte mindestens der Stolz jeder Gemeinde sein; er ist in der Lage, nicht nur den Gottesdienst an besonderen Feiertagen, nicht nur jedes außerhalb

des Gotteshauses gefeierte Fest, sondern auch jede weltliche Freuden­ stunde zu adeln.

Und wenn vielleicht viele Pfarrer dagegen ein-

42 wenden:

„Wir

sind

völlig unmusikalisch und verstehen nichts

davon", so wollen wir ihnen ermutigend zurufen: „Suchet euch

nur die rechten Musikanten, ihr glaubt!"

und

es

wird

besser gehen,

als

Auch gegen rein weltliche Vereine darf sich der Geistliche

nicht von vorn herein ablehnend verhalten, weil er sich selber dadurch jedes möglichen Einflusses beraubt.

Turn- und Gesang­

vereinen, ob auch der letzteren Liederschatz, auf dem Lande wenigstens,

oft sehr dürftig ist, sollten wir vielleicht mehr Wohlwollen ent­ gegenbringen als seither. Dies haben die Sozialdemokraten sehr

klug auszunutzen gewußt; sie haben sich vielfach solcher Vereine,

besonders der Turnvereine, mit Eifer angenommen und es ver­ standen, nach und nach auch ihre Ideen dorthin zu verpflanzen. Das ist unzweifelhaft ein Wink für uns,

den wir im eigenen

Interesse verstehen müßten. Manche kirchliche Feste, wie Gustav-Adolfs- oder Missions­ fest können für die Kirche hinüberleiten zu Volksfesten, die keinen kirchlichen Charakter haben und doch der edlen Erholung und der

reinen Freude dienen. liches

Gepräge

Diesen Festen kann ein mehr volkstüm­

ausgedrückt

werden

durch die

Verlegung

der

Nachversammlungen ins Freie, wo bei Ansprachen und Gesang

auch ein Glas Bier getrunken wird.

Das ist ja hier in unserem

Dekanat erfreulicherweise stehende Sitte geworden, und die Be­

völkerung möchte sie, wie ich selber schon vielfach gehört habe,

nicht mehr missen. Die Ansprachen sollten nur den ausgesprochen kirchlichen Charakter abstreifen; sie müssen sich durch mehr als

nur durch die Kürze von der Predigt unterscheiden und mehr in Form schlichter Erzählung, unter Umständen gemischt mit frischem,

gesundem Humor, den Volkston treffen.

Wie man gerade bei

solchen Gelegenheiten das Volk durch wahrhaft volkstümliche Ge­ staltung an sich fesseln kann, das zeigt uns die Kirche Roms.

Wer eine Prozession oder ein Frohnleichnarnsfest als Augen- und

Ohrenzeuge in katholischen Landen je erlebt hat, der hat einen

Begriff davon, wie die breiten Massen gefesselt und angezogen werden. Nicht, als ob wir die katholische Kirche in diesem Punkte nachahmen wollten — aber lernen können wir doch auch von ihr

etwas und zwar uns zum Vorteil und Segen, wenn wir, ein-

43 gedenk des uns anvertrauten, köstlichen Schatzes, des Evangeliums, uns vor der Gefahr hüten, unser Christentum zu veräußerlichen

und in dieser Veräußerlichung auf- und dann mit Recht unter­

zugehen.

Es ist sicher: Geschick und Takt sind hier die Meister.

Meine Herrn, ich erlaube mir nun, einige Vorschläge zu machen, die zu dem Versuche ermutigen sollen, auch einmal aus

den: Rahmen des rein Kirchlichen herauszutreten und mitten in und unter dem Volke ohne Ansehen der Person edle Erholung zu hegen und zu pflegen.

Vor Augen schweben mir christliche Volksfeste

und sogenannte Familienabende.

Wenn diese Veranstaltungen in

den rechten Grenzen gehalten und rnit der Sünde nicht vermischt werden, dann dürfen wir uns auch als Christen an Volkserholungen

beteiligen.

Jesus, unser Meister, auf den wir in allem blicken,

was uns das Herz bewegt, nahm es in dieser Beziehung hin,

wie es die Gelegenheit mit sich brachte; er saß am Tische des armen Mannes, aber er scheute sich auch nicht, am Mahle des Reichen teilzunehmcn, denn Seelen konnte er hier wie dort für seine ewige, unsichtbare Welt gewinnen. Und wie der Meister,

so die Jünger: Paulus hat uns Christen das große Wort hinterlassen: „Alles ist euer, ihr aber seid Christi". Nicht, als ob

wir uns Jesus oder auch nur seinen Jüngern gleichstellen dürften, Jesu Vorbild und jenes Paulinische Wort können und wollen uns Christen von heute doch nichts anderes sagen als: Das

Christentum ist nicht weltflüchtig und außerweltlich, sondern cs gehört mitten in die Welt hinein, um sie mit seinem Geiste zu

durchdringen; wir sollen und dürfen der Welt und ihrer Gaben

froh werden, wenn wir Christi d. h. sein Eigentum sind

und

dieser Erde Freuden nicht in den Dienst der Sünde stellen; denn die Erde ist des Herrn, und was darinnen ist. Die Freude

an sich

kann

denn das

unser

Christentum

nicht

zu

Schanden

machen,

recht verstandene Christentum ist weit entfernt, aus

seinen Anhängern scheinheilige Kopfhänger zu machen, sondern es will freie und frohe, glückliche und doch ernste Menschen haben.

Wenn

auch die fröhlichsten Menschen nicht immer die besten

Christen sind, so können und dürfen doch die besten Christen die

fröhlichsten Menschen von der Welt sein. Wenn vom Eise befreit sind Strom und Bäche durch des

Frühlings holden, belebenden Blick, wenn der Wald im jungen

Grün prangt, und die Blume ihr duftiges Blütenhaupt bei Zephyrs Wehen bewegt, wenn die Vöglein lustig singen in Feld und Hain,

und die Biene von Blüte

zu Blüte geschäftig

und summend

fliegt — ach, dann wird es auch in des Menschen Brust Frühling, dann bemächtigt sich auch dieses kleinen Herzens die gewaltig

drängende Sehnsucht: Hinaus in Gottes freie Natur aus all den Mühen und Plagen des Lebens, hinaus in den großen Gottes­

tempel, über dem sich das hochragende Firmament majestätisch wölbt!

Dann fühlt der Mensch tief innen in seiner Brust etwas

von jener Stimmung, von der Goethe sagt:

„Zufrieden jauchzet groß und klein:"

„Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein!"

Ja, dann fühlen wir alle etwas von dem Reichtum des ewigen, rinerforschlichen Gottes, der um uns her alles so wunderbar und herrlich bereitet hat, damit Menschenkinder über seiner Größe auch einmal

ihre kleinen Sorgen vergessen sollen und sich von ganzem Herzen freuen dürfen an seiner Macht und Herrlichkeit.

Weshalb sollten wir

uns dieser eigenartigen Stimmung, welche den Menschen von der

Jugend bis in's Alter begleitet, nicht annehmen und sie festhalten in einem christlichen Volksfeste?

O, wahrlich besser, als wenn sich die

Menschen in größereil oder kleineren Gruppen vereinigen und sich auf eigene Faust ihr Vergnügen verschaffen, wobei jene gehobene

Stimmung nur zu leicht itnb bald als ein gar mattes, arrnseliges

Ding zu Boden sinkt!

Es gilt nur, alle Mittel und Kräfte, die

vorhanden sind, aufzubieten, und wo sie fehlen, solche zu schaffen.

Können die Kinder sinnig spielen, so mögen sie in rechter Jugend­

lust spielen; sind sie des Gesanges kundig, sie mögen singen aus

ihren jungen Kehlen dem zunr Preise, der uns auch die Gabe des Gesanges gegeben hat; ist ein Redner da, er vergrabe sein Pfund

nicht und rede! Programm

Nlir ist dafür Sorge zu tragen, daß ein festes

aufgestellt wird, daß die Pausen nicht allzu lange

werden, und daß ein solches Fest zu einer gewissen Stunde endigt.

Für Ansprachen sind bei solchen Gelegenheiten

außer Pfarrern

auch Lehrer, Beamte, und wer sich sonst der freien Rede mächtig fühlt, zu gewinnen.

Nur zwei Gegenstände dürften geflissentlich

46 zu vermeiden sein, einmal rein kirchlich-theologische und politische denn alles zu

Themata; Beamten

Die Gewinnung

seiner Zeit.

von

zu Ansprachen auf solchen Festen wird freilich seine

Schwierigkeit haben; denn hier wird sofort die ängstliche Frage aufgeworfen: „Ist denn diese Gesellschaft auch standesgemäß, imb

vergeben wir uns

nichts durch unsere Teilnahme?"

Das ist

eben die alte Unart, welche im Angesichte einer ernsten, schweren Zeit abgelegt werden muß, denn sie hat leider unser Volk mit in

Wer heute noch so fragen mag, dem wollen wir frisch und frei antworten: „Gewiß, den furchtbaren Klassenhaß hineingestürzt.

auch ihr gehört zum Volke, genau so gut wie der schlichte Bauers­ mann und der gewöhnliche Taglöhner," und wollen dem noch

ernst hinzufügen, daß es in unseren Tagen nicht etwa mit einigen

liebenswürdigen Worten, sondern nur mit vollem Verständnis für die verschiedenen Anliegen unseres Volkes gethan ist.

Welche Fülle von Stoff steht uns zu Gebote, von dem das

Volk entweder noch gar nichts weiß oder doch höchstens nur unklare oder gar unrichtige Vorstellungen hat!

Bei dieser Unterhaltungs­

und Belehrungsarbeit brauchen wir auch nichts für unsere Kirche zu fürchten.

Denn wir wollen nicht nach dem Muster der Kirche

Roms das Volk in der Dummheit erhalten, um es für unsere

Wünsche etwa nur williger und gefügiger zu machen.

Nein, das

evangelische Volk darf und soll in die Wahrheit, in den Zusammen­

hang der Dinge eindringen, um in anbetender Ehrfurcht still zu stehen

vor dem wunderbaren Schöpfergott, dessen Werke so groß und so viel sind.

Denn die Wahrheit, ob auch ihre Noten oft nicht gern ge­

lesen werden, ob auch die Zertrümmerung alter, liebgewonnener Vor­

stellungen durch sie anfangs schmerzt, ist und bleibt ein wesentliches Stück des wahren Christentums, denn sie macht uns innerlich

wahrhaft frei. — Nehmen Sie als Stoff für solche Volksfeste und Familienabende nur Reisebeschreibungen, Lebensbilder großer Männer wie Luther, Gustav Adolf, Francke, Wichern, Goethe, Schiller,

hervorragende Fürsten und Staatsmänner u. a.

Wie belehrend

könnten die Herrn Juristen wirken, wenn sie z. B. das bürger­

liche Gesetzbuch in seiner Tragweite für die ländliche Bevölkerung beleuchteten, die Herrn Ärzte, welche Anweisungen und Verhaltungs­ maßregeln bei ansteckenden Krankheiten gäben, die Herrn Forst»

46 beamten, die über Nutzen und Bedeutung von Anpflanzung des

noch unbenutzten Grund und Bodens redeten, die Herren Schul­

männer, wenn sie z. B. nur die Elektrizität, wie sie im Gewitter und modernen Verkehr in die Erscheinung tritt, zum Gegenstand ihrer Ansprache machten! Es sind das nur kurze, flüchtige Winke, aber sie zeigen doch, daß es an Stoff wahrlich nicht fehlt.

Bei den Familienabenden im Winter käme zu dem vor­ erwähnten Stoff noch etwa hinzu: Das Deklamieren guter Gedichte mit kurzer, anschließender Erklärung, die sich auch an den Gesang der Volkslieder reihen könnte, und das Vorlesen guter Bücher und

Schriften.

Die christlichen Volksbibliottzeken, wie mir sie hin und

wieder antreffen, mögen segensreich sein und in mancher Familie Unterhaltung schaffen.

Allein wer gut vorzulesen versteht, bereitet

vielen einen wahren Genuß; auch treten hier die Schönheiten mehr zu Tage,

als wenn

die Bücher

von lesehungrigen Gemütern

geradezu verschlungen und vielleicht doch nicht recht verdaut werden. Es mag sein, daß mancher Pfarrer zur Veranstaltung von

Volksfesten und Familienabenden zu wenig Geschick zu haben glaubt

und die Furcht verspürt,

es möchte ihm nach dem bekannten

Goethe'schen Worte ergehen: „Die ich rief, die Geister, werd ich

nun nicht los."

Wir müssen allerdings darauf Hinweisen, daß der

Pfarrer, wenn er diesen Schritt thut, notwendig das Ganze in seiner Hand haben und auch behalten muß, damit ihm die gut gemeinte Sache nicht über den Kopf wächst uitb schließlich doch vom Übel wird. Es

soll auch zugegeben werden, daß vielen in Wahrheit das Geschick fehlt, und doch möchte ich den ängstlichen Gemütern zurufen: „Probieren geht über Studieren". Weit größer und bedauerlicher

ist eine andere Schwierigkeit, die sich nicht so leicht heben läßt,

die Thatsache, daß sehr viele Pfarrer mit ihrem Amte schon fast überbürdet sind und zu dieser freiwilligen Liebesarbeit schlechter­ dings keine Zeit finden. Man sagt ja freilich und hört es oft,

der Pfarrer habe sechs Ruhetage und nur einen Arbeitstag.

Wer

so redet, soll einmal ehrlich sein und nur vielleicht das Geringste

des Pfarramts sich zur Aufgabe stellen; er nehme sich das Evangelium oder die Epistel des nächsten Sonntags vor, um dar­ über eine Predigt zu machen.

Ich bin gewiß, wir würden diese

Predigt vielleicht nie zu lesen, geschweige denn zu hören bekommen,

47 und

daß wir die Predigten, wie es oft Volksglaube ist, schon

gleichsam fix und fertig von der Hochschule mitbrächten, das ist ein schwerer Irrtum. Die Aufgaben und Pflichten des Pfarr­ amtes wachsen in unserer Zeit thatsächlich so, daß es mit Freuden zu begrüßen ist, daß unsere oberste Kirchenbehörde, soweit sie es vermag, neue Pfarrstellen errichtet.

Wem aber Zeit zur Ver­

fügung steht, er mache den Versuch und er wird es erfahren, daß das Volk diese Erholungsstunden mit

ihrer Unterhaltung und

Belehrung gern und dankbar aufnehmen wird.

VIII. Wenn diese oder ähnliche Vorschläge zur Bekämpfung der Vergnügungssucht gemacht werden, dann sagen viele Vertreter von Staat, Schule und Kirche: „Uns ist nicht die Aufgabe gestellt,

dem gewöhnlichen Manne Anstand beizubringen.

Unsere Pflichten

sind ganz anderer Art; hier heißt es, das Staatsschiff auf Grund

der Gesetze zu lenken, dort gilt es, das Evangelium von Christus zu verkündigen und die heiligen Sakramente zu verwalten, und

dort, die Jugend mit Kenntnissen auszurüsten.

Das ist unsere

Festung, deren Schutz uns anbefohlen und anvertraut ist, und wenn unsere Vorgesetzten unsere Thätigkeit einer Prüfung unter­

ziehen, dann müssen die Mauern dieser Feste unversehrt dastehen. Was ihr aber von uns betreffs der Volkserholung verlangt, das

liegt völlig außerhalb unseres

eigentlichen Berufes."

Die so

sprechen, haben ganz gewiß zunächst nicht unrecht, imb auch wir geben bereitwilligst zu, daß die Frage der Volkserholung in der

That gleichsam nur ein außenliegendes Fort an der Festung ist, die sich Staat, Schule und Kirche nennt.

Wir sind die letzten,

welche die Lösung der angeregten Frage als das alleinige, aus­ schließliche Heilmittel anpreisen und die ganze Frage überschätzen. Aber meine Herrn, es giebt noch eine Prüfung, die nicht etwa ein Vorgesetzter, sondern das rauhe Leben mit seinen tausend Gefahren und Versuchungen anstellt. Bei dieser Prüfung, die oft über Leben oder Tod entscheidet, steht so mancher Bruder und so manche Schwester draußen auf Vorposten im weitentlegenen Fort; ein

wunderlicher Feind mit freundlich lächelnder Miene,

die Ver­

gnügungssucht, zieht heran, und die Vorposten kämpfen und ringen

48 mit der Munition, die sie aus der Festung mitbrachten.

Aber sie

geht aus, das Kriegsglück schwankt hin und her, der Kampf wird

matt und immer matter geführt — kann es denen in der Festung wirklich gleichgültig sein, ob jenes Fort in die Hände des Feindes fällt, ob sich die Vorposten an diesem teuflischen Gegner verbluten? Ach, nicht lange, und dieser Feind schleicht, nachdem er die Vor­ posten niedergeworfen hat, listig und tückisch zur Mauer heran

und klopft in fürchterlicher Stunde auch an das beste, festeste Thor, und die stolze, so sicher gewähnte Festung muß rettungs- und erbarmungslos fallen.

Wer so lange wartet, versteht die rechte

Kriegskunst schlecht, denn wer rastet, der muß rosten.

Wer sein

Volk und Vaterland wirklich liebt, der muß zur Zeit der Gefahr diesein Vorpostendienste sich mit Treue und Hingebung, aber auch mit Ernst und Wachsamkeit widmen und in der Entscheidungs­ stunde bereit sein, den Außenstehenden und Angefochtenen Hilfe und Rettung zu bringen. Denn ihnen helfen heißt sich selber retten

und vor allem eine heilige Christenpflicht erfüllen.

Das deutsche

Volk, in welchem das Evangelium eine sichere Heimstätte gefunden

hat, ist, Gott Lob, noch nicht so arm und schwach, daß es diesen Zweig der Liebe nicht pflegen könnte, ohne seine nächsten Pflichten zu vernachlässigen.

Wenn unsere Liebe nicht erkaltet, dann muß

es doch noch einmal wonniger Frühling werden, wo auch dieser junge Zweig mit seinem frischen Grün den großen Baum unseres Volkslebens schmückt und schützt. Gehen wir, soweit unsere Kraft reicht, getrost auch an diese Arbeit im Vertrauen auf den, der auf

unverfälschte Bruderliebe eine so herrliche Verheißung gelegt hat. Wenn wir

so lange von Freude und Lust sprechen,

so

wollen wir ganz gewiß den Ernst des Lebens nicht verwischen.

Durch edle Volkserholung den Höllengeist der Vergnügungssucht zu bannen, in rechter Freude den wahren Ernst int Herzen zu

bewahren — das sehen wir an als eine Aufgabe am Vorhof, der zum Heiligtum führt, eine Aufgabe, wahrlich des Schweißes der Edlen wert, und wer uns hierzu die treue Bruderhand reicht, dem

rufen wir ein herzliches „Glückauf" zu.

I. Ricker'fchr Verlagsbuchhandlung in Grrßrn. Das Christentum als Religion des Fortschritts. Zwei Abhandlungert: „Das sociale Programm des Apostels Paulus", „Die Inspiration der heiligen Schrift".

Von Dr. theol. Chr. K. Buggr.

wegischen übersetzt von O. v. Harling.

Aus dem Nor­

1900.

M. 1.40.

Die Herrlichkeit Gottes. Eine biblisch-theologische Untersuchung, aus­ gedehnt über das Alte Testament, die Targume, Apokryphen, Apokalypsen

und das Neue Testament von Lic. Dr. Aug. Frrihrrrn von Gall in Mainz. 1900. M. 3.20.

Dir Entstehung des Volkes Israel. Von v. Bernhard Slade, Geh. Kirchenrate u. ord. Professor der Theologie zu Gießen. 1899.

M. —.60.

Ist dir Hoffnung auf rin Wiedersehen nach dem Tode christlich? Ein Friedhofsgespräch oon Lic. Johannes Jüngst, Pfarrer. 1899. M.—.80.

Vorträge der theologischen Konferenz in Gießen. Katienbusch (Professor in Gießen): Von Schleiermpcher zu Ritschl. Zur Orientierung üb. d. gegenw. Stand d. Dogmatik. 1893. (7. Vortr.). M. 1.20. Krischlr (Professor in Halle): Sohms Kirchenrech t und der S tr eit über das Verhältnis von Recht und Kirche. 1895. (8. Vortr.). M. 1.—. Flöring (Professor in Friedberg): Das Alte Testament im evan­ gelischen Religionsunterricht. 1895. (9. Vortrag). M. 1.—♦

Wal; (Oberkonsistorialratin Darmstadt): Veräußerlichung, eine Haupt­ gefahr für die Ausübung des geistlichen Berufes in der Gegenwart. 1896. (10. Vortrag). M. —.80. Wirbt (Professor in Marburg): Der deutsche Protestantismus und die Heidenmission im 19. Jahrh. 1896. (114 Vortr.). M. 1.20.

Dritzrnann (Professor in Heidelberg): Die sprachliche Erforschung der griechischen Bibel, ihr gegenwärtiger Stand und ihre Aufgaben. 1898. (12. Vortrag). M. —L0. Lade (Privatdozent in Marburg): Religion und Moral. Streitsätze für Theologen. 1898. (13. Vortrag). M. —.60. Lrügrr (Professor in Gießen): Die neuen Funde auf dem Gebiete der ältesten Kirchengeschichte. (18 8 9 — 18 9 8). 1898. (14. Vor­ trag). M. —.60.

I. Nicker'sche Verlagsbuchhandlung in Gießen.

Zur Geschichte des Gottesdienstes und der gottesdienstlichen Handlungen in Hessen

von Pfarrer Lic. Dr. Wilhelm Diehl in Hirschhorn a. N.

Kr. 8°. XII u. 375 Setten. (S)c()eftet 5 Biark. Webnnbcn 6 Mark.

Aber Choralrhylhmus. Eine Betrachtung uiiserer Melodieen uon der metrischen Sette mit dem Versuch einer ratiaiiclleren TaktieriNig derselben

van Pfarrer G. Weimar m VHiiizenberg.

tor. 8°. 'Mark 1.60.

Der Apostel Paulus. Eür Lebensbild

vor: Walther Wolff, Pfarrer. wehester Nlark 1.20.

(Slcgcmt gclnmbcii Mark 2.25.

Sören Kierkegaard, der Klassiker unter den Erbauilngsschrlftstetlern des neunzehntel: Jahrhunderts

von ^derkonslstormtrat D. K. Wal; m DarmUadr.

Gr. 8°. 80 Pfenlllq.

Zur Geschichte der Konfirmation. Beitrage am» der Hessischen Uirchengeschichte von Pfarrer Lic. Dr. Wilhelm Diehl m Hirschhorn a. ’JL

Gr. 8°. IV li. 134 Seiten. Geheftet Mark 2.60. Getmnden Mark 3.50.