Die Figurenkonzeption in den Dialogen Ciceros: Zwischen Vergangenheitskonstruktion und Gegenwartskommunikation 3825347907, 9783825347901

Cicero verfasste sein philosophisches Œuvre überwiegend in der Form des Dialogs. Der römische Autor schloss dabei nicht

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Die Figurenkonzeption in den Dialogen Ciceros: Zwischen Vergangenheitskonstruktion und Gegenwartskommunikation
 3825347907, 9783825347901

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johannes sedlmeyr

Die Figurenkonzeption in den Dialogen Ciceros

Zwischen Vergangenheitskonstruktion und Gegenwartskommunikation

sedlmeyr Die Figurenkonzeption in den Dialogen Ciceros

Das Buch widmet sich mit der Analyse der einzelnen Figuren einem konstitutiven Element der durch den Dialog entworfenen Gesprächsräume. Eine zentrale These der Arbeit besteht darin, dass die Dialogfiguren nicht nur eine wichtige Funktion in der auktorialen Selbstdarstellung, sondern auch für die von Cicero beabsichtigte Implementierung griechischer Theorie­ diskurse in Rom innehaben. Dies manifestiert sich insbesondere in der Interaktion und den historischen Biographien der jeweiligen Figuren.

PhR

2

philosophia romana

band 2

Die Figurenkonzeption in den Dialogen Ciceros

icero verfasste sein philosophisches Œuvre über­ wiegend in der Form des Dialogs. Der römische Autor schloss dabei nicht nur an eine bedeutende und durch Platon begründete Gattungstradition an, sondern entwickelte diese darüber hinaus kreativ weiter. Die literarische Form erlaubte es ihm, mittels fiktiver Gespräche sowohl römische Vorfahren als auch Zeitgenossen über die Plausibilität und den Wert unterschiedlicher Theorien reflektieren zu lassen.

sedlmeyr

EBSCO Publishing : eBook Academic Collection (EBSCOhost) - printed on 1/11/2023 11:14 AM via ST PETERSBURG STATE UNIV AN: 2962603 ; Johannes Sedlmeyr.; Die Figurenkonzeption in den Dialogen Ciceros : Zwischen Vergangenheitskonstruktion und Gegenwartskommunikation Account: s6390570

p h i lo soph ia rom a na Studien, Editionen und Kommentare zur römischen Philosophie und ihrem Fortleben Herausgegeben von Gernot Michael Müller (Bonn) Jörn Müller (Würzburg)

ba n d 2

joh a n n e s s e d l m e y r

Die Figurenkonzeption in den Dialogen Ciceros Zwischen Vergangenheitskonstruktion und Gegenwartskommunikation

Universitätsverlag

wi n ter

Heidelberg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dissertation an der Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt im Sommersemester 2017 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

u m s c h lagb il d Titelseite einer mittelalterlichen Laelius-Handschrift: Augur Quintus Mucius (Scavola) und Quintus Pompeius als Freunde im Gespräch; Zierinitiale: Q(uintus), aus: Marcus Tullius Cicero: De amicitia; Handschrift, Frankreich ca. 1410, Biblioteca Apostolica Vaticana – Pal. lat. 1523, fol. 1r; Digitalisat Universitätsbibliothek Heidelberg: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/bav_pal_lat_1523/0011

i s b n 978-3-8253-4790-1 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2o21 Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg Imprimé en Allemagne · Printed in Germany Umschlaggestaltung: Klaus Brecht GmbH, Heidelberg Druck: Memminger MedienCentrum, 87700 Memmingen Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier Den Verlag erreichen Sie im Internet unter: www.winter-verlag.de

IM GEDENKEN AN MEINE MUTTER CHRISTINE SEDLMEYR (geb. WELL) 1947–2019

Vorwort Die vorliegende Studie ist die überarbeitete Fassung meiner gleichnamigen Dissertation, die im März 2017 an der Sprach- und literaturwissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt angenommen und im Juli 2017 verteidigt wurde. Der Prozess zwischen Entstehung bis hin zur Publikation des fertigen Buches wurde dabei von einem regen Austausch mit Wissenschaftlern, Kollegen und Freunden gefördert, von denen ich einigen an dieser Stelle ausdrücklich meine Dankbarkeit mitteilen möchte. An erster Stelle gilt es hierbei meinem Betreuer Professor Dr. Gernot Michael Müller zu danken, der mich als Doktorand an der Katholischen Universität Eichstätt Ingolstadt angenommen und mein Interesse für den literarischen Dialog geweckt hat. Als Betreuer hat er den Entstehungs- und Reifungsprozess von der Themenfindungsphase bis hin zur Publikation mit hoher Aufmerksamkeit, fachkundigen inhaltlichen Impulsen und notwendiger konstruktiver Kritik begleitet. Der fruchtbare Austausch in zahlreichen gemeinsamen Gesprächen, sein Vertrauen und aktive Förderung hatten einen maßgeblichen Anteil an dem Gelingen meines Dissertationsprojekts und daran, dass die Studie zu der hier nun vorliegenden Gestalt gefunden hat. Weiterhin gilt mein Dank dem Althistoriker Professor Dr. Gregor Weber, der bereits in meiner Studienzeit an der Universität Augsburg mein Interesse für die Sozial- und Kulturgeschichte der späten römischen Republik geweckt hat und sich bereit erklärt hat, mein Dissertationsprojekt als Zweitgutachter zu begleiten. Den persönlichen Gesprächen mit ihm, zu denen er mir stets die Gelegenheit geboten hat, sowie seinem ausführlichen Gutachten verdanke ich eine Vielzahl hilfreicher Hinweise und Impulse, die in meine Arbeit eingeflossen sind. Des Weiteren gilt der Philosophiehistorikerin Dr. Laura Corso de Estrada mein Dank, die als sachverständige Kennerin der hellenistischen Philosophie meine akademische Zeit an der Universidad Católica de Argentina förderte. Ihr verdanke ich zahlreiche Denkanstöße zum philosophischen Denken Ciceros, die mir nicht nur zu einem besseren Verständnis seiner Rolle in der Geschichte der Philosophie, sondern auch zu seinem ethischen Denken überhaupt verhalfen. Weiterhin blicke ich dankbar auf mein akademisches Umfeld an der sprachund literaturwissenschaftlichen Fakultät, insbesondere der klassischen Philologie der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt zurück, in dem die Arbeit entstanden ist. Namentlich hervorheben möchte ich an dieser Stelle insbesondere Professor Dr. Bardo Gauly, Dr. Anna Ginestì Rosell, Dr. Gregor Bitto, Tobias Goldhahn, Sabine Retsch, Johanna Schenk, Isabella Brummer, Jonas Ludäscher und Karin Strobl, denen ich nicht nur eine wissenschaftlich anregende, sondern auch angenehme, von freundschaftlichem Umgang geprägte Zeit verdanke.

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Vorwort

Dass ich über längere Zeiträume hinweg ohne weitere Verpflichtungen an meiner Studie arbeiten konnte, ist der großzügigen finanziellen Förderung des Graduiertenkollegs „Persönlichkeitsbildung zwischen Individuum und Institution“ sowie dem Deutschen Akademischen Austauschdienst zu verdanken, der mir einen einjährigen Forschungsaufenthalt in Buenos Aires finanziert hat. Für die Möglichkeit der Publikation des Bandes in der Reihe Philosophia Romana des Universitätsverlags Winter möchte ich Dr. Andreas Barth sowie seinen überaus freundlichen und kompetenten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danken, die bei Nachfragen stets schnell reagierten und mir hilfreich zur Seite standen. Für die sehr großzügige finanzielle Förderung der Druckkosten bedanke ich mich bei der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften. Des Weiteren gilt es meinem Bruder Thomas Sedlmeyr M. A. sowie Christiane Kühn M. A. zu danken, welche sich bereit erklärt haben, die zeitaufwendige Lektorierung meiner Arbeit zu übernehmen. Für die Erstellung des Registers bedanke ich mich bei Bastian Wagner, Dennis Pfefferkorn und Lara Turtur. Last but not least möchte ich mich bei meiner Lebensgefährtin Chiara Marie Schürch, meiner Familie und allen namentlich nicht erwähnten Freunden und Kollegen bedanken, die mir in einer nicht immer einfachen Promotionszeit beigestanden sind. Augsburg, im November 2020

Johannes Sedlmeyr

Inhaltsverzeichnis Vorwort................................................................................................................. 7 Inhaltsverzeichnis ................................................................................................. 9

I

Einleitung ............................................................................................. 13

II

Die Dialogliteratur Ciceros ............................................................. 27

1 2

Historischer und sozialer Kontext ........................................................... 27 Ciceros literarische Intentionen ............................................................... 32

III

Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur ......................... 37

1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.3 1.3.1 1.3.2

De Oratore .............................................................................................. 39 Die Hauptredner Crassus und Antonius .................................................. 43 L. Licinius Crassus .................................................................................. 44 M. Antonius ............................................................................................. 69 Die jüngeren Gesprächsteilnehmer Cotta, Sulpicius und Caesar Strabo . 90 C. Aurelius Cotta ..................................................................................... 92 P. Sulpicius Rufus ................................................................................... 98 C. Iulius Caesar Strabo (Vopiscus)........................................................ 105 Die ältere Generation: Scaevola und Catulus ....................................... 112 Q. Mucius Scaevola Augur ................................................................... 113 Q. Lutatius Catulus ............................................................................... 123

2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.3 2.3.1 2.3.2

De re publica ......................................................................................... 134 Die Hauptredner: Scipio, Laelius und Philus......................................... 138 P. Cornelius Scipio Aemilianus Africanus ............................................ 141 C. Laelius Sapiens ................................................................................. 162 L. Furius Philus ..................................................................................... 176 Die jüngeren Gesprächsteilnehmer ........................................................ 182 Q. Aelius Tubero ................................................................................... 183 P. Rutilius Rufus .................................................................................... 188 C. Fannius M. f. ..................................................................................... 195 Q. Mucius Scaevola Augur.................................................................... 198 Weitere Dialogfiguren ........................................................................... 199 Sp. Mummius ........................................................................................ 199 M’. Manilius .......................................................................................... 203

10

Inhaltsverzeichnis

3 3.1 3.2

Cato maior ............................................................................................. 208 M, Porcius Cato Censorius .................................................................... 210 C. Laelius Sapiens und P. Cornelius Scipio Aemilianus Africanus....... 227

4 4.1 4.2

Laelius ................................................................................................... 231 C. Laelius Sapiens ................................................................................. 235 C. Fannius M. f. und Q. Mucius Scaevola Augur.................................. 250

5

Conclusio ............................................................................................... 255

IV

Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero .............. 259

1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

De finibus bonorum et malorum 5 ......................................................... 259 M. Pupius Piso Frugi Calpurnianus ....................................................... 261 M. Tullius Cicero................................................................................... 275 Q. Tullius Cicero ................................................................................... 280 T. Pomponius Atticus ............................................................................ 285 L. Tullius Cicero .................................................................................... 292

2 2.1 2.2 2.3 2.4

De natura deorum.................................................................................. 296 C. Aurelius Cotta ................................................................................... 298 C. Velleius ............................................................................................. 309 Q. Lucilius Balbus ................................................................................. 318 M. Tullius Cicero................................................................................... 325

3

Conclusio ............................................................................................... 332

V

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten.... 335

1 1.1 1.2 1.3 1.4

Hortensius ............................................................................................. 335 Q. Hortalus Hortensius .......................................................................... 337 M. Tullius Cicero................................................................................... 343 L. Licinius Lucullus............................................................................... 347 Q. Lutatius Catulus ................................................................................ 352

2 2.1 2.2 2.3 2.4

Academici libri priores .......................................................................... 355 L. Licinius Lucullus............................................................................... 359 M. Tullius Cicero................................................................................... 367 Q. Lutatius Catulus ................................................................................ 372 Q. Hortalus Hortensius .......................................................................... 376

3 3.1 3.2

De legibus .............................................................................................. 378 M. Tullius Cicero................................................................................... 381 T. Pomponius Atticus ............................................................................ 408

Inhaltsverzeichnis

11

3.3

Q. Tullius Cicero ................................................................................... 422

4 4.1 4.2 4.3

De finibus bonorum et malorum 1 und 2 ............................................... 433 M. Tullius Cicero................................................................................... 434 L. Manilius Torquatus ........................................................................... 446 C. Valerius Triarius ............................................................................... 456

5 5.1 5.2

De finibus bonorum et malorum 3 und 4 ............................................... 461 M. Porcius Cato Uticensis ..................................................................... 462 M. Tullius Cicero................................................................................... 480

6 6.1 6.2 6.3

Brutus .................................................................................................... 489 M. Tullius Cicero................................................................................... 492 M. Iunius Brutus .................................................................................... 505 T. Pomponius Atticus ............................................................................ 526

7 7.1 7.2 7.3

Academici libri posteriores ................................................................... 532 M. Terentius Varro ................................................................................ 533 M. Tullius Cicero................................................................................... 540 T. Pomponius Atticus ............................................................................ 546

8 8.1 8.2

De divinatione ....................................................................................... 548 Q. Tullius Cicero ................................................................................... 549 M. Tullius Cicero................................................................................... 556

9 9.1 9.2

De fato ................................................................................................... 565 A. Hirtius ............................................................................................... 567 M. Tullius Cicero................................................................................... 575

10 10.1 10.2

Partitiones Oratoriae ............................................................................ 579 M. Tullius Cicero, M. f. ......................................................................... 581 M. Tullius Cicero................................................................................... 587

11

Conclusio ............................................................................................... 590

VI

Zusammenfassung ........................................................................... 593

1 2

Typologie der Dialogfiguren ................................................................. 593 Ideale Diskursgemeinschaften im sozialen und kommunikativen Kontext ................................................................................................. 595

Zur Zitierweise und verwendeten Siglen ............................................. 601

12

Inhaltsverzeichnis

Literaturverzeichnis .................................................................................... 605 1 2 3 4

Textausgaben ......................................................................................... 605 Übersetzungen ....................................................................................... 607 Kommentare .......................................................................................... 611 Wissenschaftliche Sekundärliteratur ..................................................... 613

Orts- und Personenregister ....................................................................... 641 Stellenregister............................................................................................... 653

I

Einleitung

Die Schwierigkeit des seit dem Ende des 18. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum gebräuchlichen Begriffs „Dialog“ besteht darin, dass er aus literaturwissenschaftlicher Sicht zwei unterschiedliche Phänomene beschreibt, welche das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft in zwei separaten Artikeln aufführt. Hess-Lüttich definiert den Begriff aus einer linguistisch-kommunikationswissenschaftlichen Perspektive als eine Verständigungshandlung von mindestens zwei realen oder fiktiven Teilnehmern, die als solche von den Formen des „Gesprächs“, der „Konversation“ und des „Diskurs“ unterschieden wird.1 Indem der Dialog dahingehend gleichermaßen „Interaktion“ und „Kommunikation“ bezeichnet, steht er bereits seit der Antike stellvertretend für eine Methodik des geistigen Austausches, der auch jenseits der Literaturwissenschaft eine breite wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteilwird, wie etwa seitens der Philosophie, der Anthropologie und der Kommunikationswissenschaften.2 Nach der Definition von Fries und Weimar bezeichnet der bereits seit der Antike gebräuchliche Begriff dagegen einen „eigenständige[n] Text“, der sich dem Leser in „Gesprächsform“ präsentiert und von ebenfalls als Wechselrede abgefassten Dramentexten unterschieden wird.3 Aus literaturhistorischer Sicht wird der Sokratiker Platon als Archeget dieser Dialogform genannt, der sich spätestens ab Xenophon thematisch nicht mehr auf rein philosophische Fragestellungen beschränkte. 4 Eine genauere Bestimmung dieser thematisch offenen und verschiedene 1

2

3

4

Zur Abgrenzung des Dialogbegriffs und seiner Geschichte: Hess-Lüttich 1997, S. 350f. Vgl. ebd., 352f.; ausführlicher in: Hess-Lüttich 1994, Sp. 608–620. Als ein zentrales Ergebnis dieser jüngeren linguistischen Untersuchungen kann auf die genauere Gattungsbestimmung des Dialogs verwiesen werden, die diesen als Form fingierter Mündlichkeit in Schriftform vom mündlichen Gespräch unterscheidet. Einen Überblick über die linguistische Dialoganalyse liefern etwa: Hess-Lüttich 1997, S. 352f.; Hundsnurscher/Fritz 1994. Zur Abgrenzung des literarischen Dialogs vom mündlichen Gespräch s.: Westermann 2002, S. 10–15; Hösle 2006, S. 38–41. Vgl. Fries/Weimar 1997, S. 354. Zur Definition des Genres s.: Hempfer u.a. 2001, S. 73; Häsner 2004; Föllinger/Müller 2013, S. 2–3. Zur Geschichte des abendländischen Dialogs nach wie vor grundlegend: Hirzel 1895; in kürzerer Form: Guellouz 1992, S. 165–250. Einen Abriss der Wirkungsgeschichte mit Verweisen auf die jüngere Forschung liefern: Föllinger/Müller 2013, S. 3–8. Der literarische Dialog ist dabei keine Erfindung der Griechen, vielmehr finden sich dialogische Texte bereits in verschiedenen früheren Hochkulturen. Ihre umfassende wissenschaftliche Sondierung und Auswertung stellen jedoch nach wie vor ein Desiderat

14

Einleitung

Funktionen übernehmenden Darstellungsform erfolgt daher in der literaturwissenschaftlichen Forschung regelmäßig ex negativo durch den Vergleich mit anderen gängigen Texten der Wissensvermittlung, wie der Disputation, dem Lehrgedicht, dem Katechismus und dem Traktat. 5 Unabhängig davon, ob sich der Dialog in rein dramatischer oder – meist mittels paratextueller Rahmung – in narrativer Form präsentiert, konstituiert sich sein singulärer Charakter gegenüber anderen Arten des theoretischen Diskurses insbesondere dadurch, dass durch die Darstellung einer fiktionalen Welt auch eine eine fiktionale Kommunikationsebene zwischen dem Autor und dem Leser entworfen wird. 6 Die Vermittlung eines Wissensinhaltes an den potentiellen Rezipienten erfolgt somit stets in indirekter Form, indem er zum Leser-Zuhörer einer fiktionalen kommunikativen Interaktion zweier (oder mehrerer) vom Autor modellierter Sprechinstanzen wird, welche für den Dialog als Gattung konstitutiv ist. Beide vom eingangs zitierten Lexikon beschriebenen Dialogbegriffe stehen stellvertretend für zwei unterschiedliche Arten der Dialogforschung: einer linguistischen Dialoganalyse, in der die literarische Gesprächshandlung selbst Gegenstand der Untersuchung ist und vom mündlichen Gespräch getrennt wird, sowie einer literaturwissenschaftlichen Dialogforschung, welche sich dem Wesen und der Geschichte des Dialogs als literarischer Gattung widmet.7 Die vorliegende Arbeit, die sich mit Ciceros literarischen Dialogen auseinandersetzt, knüpft hierbei an den Dialogbegriff des zweiten Typus an, indem sie exemplarisch anhand der Figurengestaltung deren Wirkmechanismen untersucht und sich somit auch darum bemüht, das Bild des ciceronischen Dialogs innerhalb der Literatur- und Gattungsgeschichte zu präzisieren. Für eine Konkretisierung des hier verwendeten wissenschaftlichen Ansatzes ist es jedoch zunächst erforderlich, auf zentrale Tendenzen der jüngeren Dialogforschung einzugehen, um daran den im Folgenden verwendeten methodischen Ansatz zu verdeutlichen. Mit Blick auf die Erforschung des Dialogs als eigenständiger literarischer Gattung muss es verwundern, dass er trotz seines frühen Erscheinens im Athen des vierten vorchristlichen Jahrhunderts und trotz seiner Popularität, die sich in einer über zwei Jahrtausende andauernden Erfolgsgeschichte zeigt, erst verhältnismäßig spät das Interesse der modernen literaturwissenschaftlichen Reflexion fand. Noch immer stellt Hirzels zweibändiges Werk Der Dialog die einzige monographische Abhandlung dar, welche erstmals den Versuch einer systemati-

5 6 7

dar. Eine Skizze über nichtgriechische Dialogtraditionen bietet etwa: Hösle 2006, S. 79–81. Vgl. Hempfer u.a. 2001; Häsner 2004; Föllinger 2005, S. 221f. Vgl. Häsner 2004, S. 19–21. Der Begriff der bachtinischen Dialogizität wird in diesem Kontext ausgenommen, da er die Spezifität des Dialogs als literarischer Gattung, wenn überhaupt, nur bedingt erfassen kann. Zur Unterscheidung des Dialogbegriffs von der Dialogizität Bachtins sei verwiesen auf: Hempfer 2002, S. 10–19; Huss/Müller 2002, S. 225–231; Möllendorff 2013.

Einleitung

15

schen Gesamtdarstellung der Gattung unternahm und die eine erhöhte Aufmerksamkeit für diese seitens der modernen Literaturwissenschaft zur Folge hatte.8 Seit Hirzels Monographie, die sich in sehr ausführlicher Form mit der Dialogproduktion der Antike befasst, erschien eine Reihe zentraler wissenschaftlicher Beiträge, die sich in Auseinandersetzung mit spät- oder nachantiker, insbesondere rinascimentaler Dialogliteratur den generischen Spezifika der Gattung widmen.9 Im Rahmen dieser vermehrt einsetzenden Erforschung der rinascimentalen und frühneuzeitlichen Werke erfolgte eine genauere Bestimmung der Charakteristika und Wirkmechanismen des Dialogs, die für ein Verständnis der Gattung unerlässlich sind: So wurde in jüngerer Zeit und in Abgrenzung zu der lange vorherrschenden Konzeption, wonach unter einer einzelnen Figur des Dialogs die direkte Stimme des Autors zu suchen sei, ein stärkeres Gewicht auf die Ebene der Gesprächsfiktion als potentielle Aussageebene gelegt. 10 In diesem Zusammenhang wurde insbesondere die Rolle der „Performativität“ literarischer Dialoge diskutiert, welche sich bereits darin zeigt, dass jegliche Theoriebildung im Rahmen eines Handlungs- bzw. Geschehenszusammenhangs präsentiert wird.11 Dabei erfolgt die Inszenierung der fiktionalen Welt im Dialog stets in einer argumentativen Funktionalität, wodurch sie sich von der Fiktionalität in Dramentexten maßgeblich unterscheidet. 12 Diesbezüglich besteht ein weiteres Charakteristikum des Dialogs, das bisher vor allem am Beispiel rinascimentaler Texte wie Brunis Libro Ad Petrum Paulum Histrum oder Castigliones Libro del Cortegiano verdeutlicht wurde, darin, dass er durch die Konstituierung einer fiktionalen Welt als binnenpragmatische Aussageebene im Sinne eines self- und community-fashioning kollektive Identitäten inszenieren und dadurch über diese auch kritisch reflektieren kann.13 Dialoge liefern dahingehend, wie Häsner feststellt, nicht nur innerhalb des erschaffenen Dialoguniversums „Aussagen über die Welt“, sondern „sie machen auch dadurch Aussagen über die Welt, indem sie eine Welt darstellen“.14 Der Libro del Cortegiano nutzt diesbezüglich die dem Dialog konstitutive fiktionale Ebene, um dem Leser anhand des dargestellten

8 9

10 11

12 13 14

Hirzel 1895. Zum rinascimentalen Dialog s. etwa: Marsh 1980; Cox 1992; Hempfer 2004. Zum spätantiken, frühchristlichen und mittelalterlichen Dialog sei verwiesen auf Schmidt 1977; Moos 1989; Cardelle de Hartmann 2007; Cameron 2014. Vgl. Häsner 2004, S. 16–18. Zur Performativität als genuinem Strukturelement des Dialogs s. etwa: Hempfer 2002, 19–22; Häsner 2004, S. 52–59. Einen aktuellen Überblick über die Performativitätsforschung liefern etwa: Hempfer/Volbers 2011. Zu dem ursprünglich von Austin und Searle geprägten Begriff der Performanz im Kontext der jüngeren Dialogforschung selbst s. auch: Hempfer 2011. Vgl. Hempfer 2002, S. 22; Müller 2004, S. 19. S. hierzu Häsner 2004, S. 48–52. Ebd. 48.

16

Einleitung

Gesprächsgeschehens Modelle für ein soziales Verhalten vorzuführen. 15 Die Anwendung dieser und anderer Bewertungsmaßstäbe aus der Forschung zu rinascimentalen und neuzeitlichen Dialogen ermöglicht nicht nur ein besseres Verständnis einer komplexen literarischen Gattung, sondern auch der einzelnen Dialogautoren und ihrer Werke. Neben den literaturwissenschaftlichen Studien zum nachantiken Dialog bildet die philosophiegeschichtliche Auseinandersetzung mit dem platonischen Œuvre traditionell einen Schwerpunkt der Forschung. Bereits seit Schleiermacher wird hierbei überaus kontrovers über die Bedeutung der dialogischen Darstellungsform und ihr Verhältnis zum propositionalen Gehalt der einzelnen Werke diskutiert.16 So entwickelten sich neben den etablierten Lesarten Platons, die den Dialog als bloßen Zusatz zu einer entweder in sich konsistenten und geschlossenen philosophischen Lehre oder einer sich über die Lebenszeit des Autors wandelnden Philosophie erkannten, neue Interpretationsansätze, in deren Rahmen der literarischen Form eine wichtigere Funktion für Platons Denken beigemessen wird.17 So erkannten etwa Dirlmeier und Gadamer im platonischen Dialog eine schriftliche Projektion des inneren Logos, ein „in sich abgeschlossenes Gespräch der philosophischen Seele mit sich selbst“, das mit Platons Konzept der Dialektik und des Denkens (διάνοια) verbunden sei.18 Dagegen wurde insbesondere von Gaiser und Szlezák eine „esoterische“ Interpretation vorgeschlagen, wonach dem schriftlichen Dialog in Bezug auf seinen Leser eine protreptische Funktion für eine nur mündlich unterrichtete platonische Lehre zukomme.19 Das Beispiel des platonischen Dialogs zeigt dabei mustergültig, dass dieser als Medium einer von seinem Autor intendierten indirekten Vermittlung eine besonders geeignete Darstellungsform bietet, in der philosophische Probleme durch die Vermeidung einer „wissenden“ auktorialen Figur zur Disposition gestellt und die Leser zu einer weiterführenden Reflexion angeregt werden können. 20 In der jüngeren Forschung werden zunehmend einzelne Elemente des Dialogs und die durch die literarische Form bedingte Interaktion zwischen Autor und Leser Gegenstand der 15 16

17

18 19

20

Vgl. Müller 2004, S. 21f. Dass der literarische Dialog Platons nicht bloß als Vehikel zur Verkündung einer in sich konsistenten Lehre fungiert, sondern eine besonders angemessene Ausdrucksform für den philosophischen Inhalt der Werke darstellt, betont bereits Schleiermacher in seiner Einleitungsschrift für die Gesamtausgabe: S. Krentz 1983, S. 44f. Anm. 3; vgl. Vigo 2015, S. 9f. Anm. 2. Zur Forschungsgeschichte des platonischen Dialogs und ihrer Tendenzen s.: Gill 2006, S. 137–140; Vigo 2015, S. 9–13. Dirlmeier 1960, S. 34f.; Gadamer 2007, S. 368–384. Zur „esoterischen“ Lektüre s.: Gaiser 1959; Szlezák 1993. Auch Koyré hat in seiner Einführung auf die Bedeutung der Dialogform des platonischen Dialogs hingewiesen, der eine besondere Aufmerksamkeit seines „Leser-Hörers“ benötige, dem die sokratische Lehre eben nicht leicht zugänglich gemacht werden sollte: Koyré 1997, S. 9–16. Krentz 1983; Heitsch 1988; Frede 1992; Rutherford 1995, S. 7–10.

Einleitung

17

Analyse, mit denen neuen Perspektiven auf den Charakter und die Wirkung von Platons Gesamtwerk erschlossen werden sollen.21 Während die platonischen und rinascimentalen Dialoge unzweifelhaft im Fokus der modernen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dieser Gattung stehen, muss attestiert werden, dass der antike Dialog nach Platon lange Zeit nur wenig Beachtung seitens der Forschung fand. Dieser Umstand scheint mit Blick auf Cicero umso erstaunlicher, als dieser nach der vollständigen Entdeckung seines De oratore bekanntermaßen einen zentralen Einfluss auf die Dialogliteratur der Frühen Neuzeit ausübte.22 Eine Ursache für die lange Zeit fehlende Anerkennung des Arpinaten als Autor literarischer Dialoge kann in der historischen Sonderstellung des platonischen Dialogs gesehen werden, der von Hirzel zum künstlerischen Maßstab par excellence für alle folgenden Dialogproduktionen erhoben wurde. Grosse Schriftsteller, denen das Schicksal ein langes Leben gönnte, werden dadurch zu Spiegeln, in denen wir die Geschichte einer ganzen Zeit und Literatur schauen. So ergeht es uns Deutschen mit Goethe, in dessen Werken fast alle die mannichfachen Wandelungen unserer neueren Literatur ihre Spur hinterlassen haben. Und eine ähnliche repräsentative Bedeutung darf, wie schon früher bemerkt wurde, Platon beanspruchen, insofern in der Reihe seiner Dialoge in der Hauptsache der Entwicklungsgang der gesammten dialogischen Literatur vorgezeichnet ist. […] Wir sehen die Blüthe dieser Kunst sich entfalten, aber wir sehen sie auch welken und allmählich abfallen.23

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Wie Vigo darlegte, stehen auch verschiedene Arten der Dialogführung selbst im Zentrum einer breiteren Reflexion, indem die Inszenierung einem nicht-kooperativen, eristischen Diskussionsverhalten ein kooperatives, auf Wahrheitssuche gerichtetes Modell entgegensetzt und präferiert: Vigo 2015. Mit Blick auf die Chronologiedebatte verwies zuletzt Zuckert auf die Bedeutung der Gesprächszeitpunkte und argumentierte für eine sich über die einzelnen Werke erstreckende Chronologie, welche eine Entwicklung der platonischen Philosophie abbilde: Zuckert 2009. Neben dem dramatischen Datum stehen zunehmend die einzelnen Figuren und ihre sich aus der Gesprächsinteraktion ergebende Charakterisierung im Blickfeld der jüngeren Forschung. Ihnen kommt eine entscheidende Rolle in der Kommunikation zwischen Autor beziehungsweise Text und Leser zu, sei es, dass durch sie – wie im Fall des Sokrates – das öffentliche Bild einer historischen Persönlichkeit verteidigt werden soll oder dass sie – wie im Fall der Gesprächspartner des Sokrates – dem Rezipienten positive oder negative „role models“ vor Augen führen. Zur Rolle des durch den Dialog evozierten Sokratesbildes s. etwa: Meyer 2006a; zur Rolle der Gesprächsinteraktion einzelner Figuren s.: Cotton 2014; Humar 2017. Zur Cicero-Imitatio im Cinquecento s. etwa: Cox 1992, S. 14–16; Häsner 2004, S. 25, 39 u. 48f. Hirzel 1895, S. 273.

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Einleitung

Nach dem Ende der sokratischen „Blüthe“, die Hirzel als Produkt einer „geistigen Gärung“ des 5. Jahrhunderts betrachtete, setze ihm zufolge der „Verfall“ bereits mit dem aristotelischen Dialog ein, in dem er ebenfalls ein „Abbild der wirklichen Gespräche“ ihrer Zeit erkannte. 24 Zwar kann an der rezeptionsgeschichtlichen Bedeutung der platonischen Dialoge als Archetypus für spätere Produktionen grundsätzlich nicht gezweifelt werden, doch birgt Hirzels Idealisierung des platonischen Dialogs zu einem überzeitlichen Maßstab die Gefahr einer zu einseitigen Betrachtung späterer Dialogautoren. Eine vergleichbare Einstufung nahm Koyré vor, der die sokratischen Dialoge Platons aufgrund spezifischer, einen aktiven Leser voraussetzender textinterner Kommunikationsmerkmale als „wahre Dialoge“ gegenüber „unechten Dialogen“ abgrenzte. 25 Diese Einengung träfe neben zahlreichen christlichen und rinascimentalen Dialogen insbesondere jene Ciceros, die im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen. Nach dem Urteil Hirzels – und dem zahlreicher späterer Forscher – würden diese einem platonischen Ideal nacheifern, aber einem Vergleich mit Platon nicht standhalten, obschon sie gattungsgeschichtlich Teil einer römischen „Wiederbelebung des Dialogs“ nach der mit Aristoteles beginnenden Verfallsperiode seien.26 Die Anfänge der durch Hirzel eingeleiteten modernen Erforschung der Gattung, die im Falle Ciceros auch von einem Wandel des Urteils über den Autor begleitet wurde, verwiesen zunächst auf die unterschiedlichen Entstehungskontexte und den damit korrespondierenden spezifisch römischen Charakter der ciceronischen Dialogliteratur.27 Die ersten Studien, die sich mit diesem Wesenszug auseinandersetzten und darin bereits auf deren Eigenständigkeit gegenüber dem platonischen Ideal hinwiesen, richteten – wie im Falle der wichtigen Beiträge von Becker oder Zoll – ihr Augenmerk im Wesentlichen auf den Dialog De oratore, der mit Blick auf Ciceros spätere Werke nur bedingt als repräsentativ gelten kann. 28 Als zentrales durch den historischen Kontext bedingtes Unterscheidungsmerkmal zum platonischen Standard wird auf ein spezifisches Gesprächsklima innerhalb der Dialogfiktion verwiesen, in dem sich nach Zoll ein dezidiert römisches Menschenbild artikuliert, das sich ähnlich bereits in den Sermones des Lucilius findet und eine „Triebkraft“ ciceronischer Dialogkunst darstellt.29 Ebenfalls wurde in der Forschung angemerkt, dass die römische Dialogliteratur gegenüber der griechischen die generell hierarchischere Gesellschaft der res publica reflektiert als dies bei den Dialogen Platons in Bezug auf die umgebende Poliswelt der Fall ist. Das wird insbesondere an der Rolle der aucto-

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Hirzel 1895, S. 274. Koyré 1997, S. 13–16; vgl. Häsner 2004, S. 14f. Zum Dialog bei den Römern s. Hirzel 1895, S. 421–564. Bereits Hirzel hatte den Dialogen Ciceros einen „national römischen Charakter“ attestiert: Hirzel 1895, S. 551f. Becker 1938; Zoll 1962. Zoll 1962, bes. S. 137–139.

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ritas ersichtlich, die in letzteren keine Entsprechung findet. 30 Einen anderen Ansatz verfolgte dabei Süß, der Ciceros Dialogliteratur als dramatische Kunstform untersuchte und auf die „Lebendigkeit“ innerhalb der Dialoggespräche aufmerksam machte, deren Ziel darin bestünde, den Leser zu weiteren Denkprozessen anzuregen.31 Trotz dieser respektvollen Annäherung blieb das Bild des ciceronischen Dialogs durch den Vergleich mit Platon lange getrübt, wie auch die Studie MacKendricks zeigt, die ihn als „dialogue treatise“ dem platonischen gegenüberstellte. 32 Des Weiteren evozierte die Tatsache, dass Cicero stets auf reale Persönlichkeiten rekurrierte, bereits früh und insbesondere seitens der historischen Forschung ein Interesse, das Ausmaß der Fiktionalität und Plausibilität seiner Szenerien genauer zu bestimmen.33 Unabhängig von der Frage, inwieweit sich aufgrund fehlender Parallelquellen der historische Gehalt ciceronischer Szenerien überhaupt adäquat ermitteln lässt, kann aufgrund der paratextuellen Rahmung und aus der rezeptionsgeschichtlichen Perspektive konstatiert werden, dass die verisimilitudo des mündlich dargestellten Gesprächs eine ästhetische Kategorie der ciceronischen Dialogfiktion darstellt, welche den Autoren der Renaissance nicht verborgen blieb.34 Indem die jüngere Forschung sowohl die von Hirzel und der Platonexegese geerbte Verabsolutierung eines einzelnen Dialogtyps als auch ein Lektüremodell der Sprachrohrthese, das den Dialog als einen in ein Gespräch gekleideten Traktat rezipiert, weitestgehend überwunden hat, wurde ein breites Spektrum neuer Perspektiven für die Erforschung jener Gattung eröffnet, von dem insbesondere die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Dialogen Ciceros profitiert. Einen wichtigen Impuls für die jüngere Erforschung des römischen Dialogs gaben Ansätze, die in den Sozial- und Kulturwissenschaften ihren Ursprung haben und die auf die spezifischen Bedingungen römisch-republikanischer Literatur aufmerksam machten. Hierbei verdient unter anderem die Studie von Habinek, der sich als „cultural-materialist“ verortet, Beachtung. Sie erkennt in der Produktion literarischer Werke durch die römischen Autoren eine kulturelle und 30

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Vgl. Grimal 1955, S. 196; Levine 1958; ferner: Cox 1992, S. 13. Demgegenüber widmete sich Ruch einer umfassenden Analyse der Proömien und den konkreten Vorlagen und Ursprüngen der ciceronischen Dialogform: Ruch 1958. Süß 1971. MacKendrick 1989, S. 25; dagegen kritisch: Schofield 2008, S. 64–70; Steel 2013, S. 221f. Hierbei ging Jones von einem relativ hohen Authentizitätsgrad der Charakterdarstellungen in den Frühdialogen aus: Jones 1939. Dieser wurde seitens des Althistorikers Strasburger in einer einflussreichen Studie über den Scipionenkreis grundlegend angezweifelt: Strasburger 1966; zur Historizität des Scipionenkreises s. unten III.2. Vgl. Häsner 2004, S. 27. Treffend hob zuvor bereits Dyck Ciceros dramaturgisches Operieren mit den Kategorien der Wahrscheinlichkeit und der Konsistenz hervor: Dyck 1998, S. 162f.: „Like a stage dramatist, Cicero is evidently counting on a convincing overall effect mitigating any problems of consistency in detail.“

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performative Praxis, die stets dem self-fashioning und der soziopolitischen Rollenkonstruktion des jeweiligen Autors diene und dahingehend immanent politisch sei.35 Habinek selbst exemplifiziert seine Beobachtungen zwar am Beispiel von Lyrik und Reden, doch bietet sich eine Übertragung auf die Gattung des literarischen Dialogs durchaus an, da insbesondere die römische Variante zu Ciceros Zeit fiktionale Räume entwirft, die sich als nicht-fiktiv präsentieren und damit einer auf die Umwelt des Autors bedachten Modellierung seiner persona Vorschub leisten. Auf die Bedeutung der dialogischen Inszenierungs in den von der Forschung bis dato stiefmütterlich behandelten Partitiones Oratoriae machte erstmals Arweiler aufmerksam, der darin einen Selbstentwurf ihres Verfassers als universeller Gelehrter erkannte. 36 Mit Blick auf die Wechselwirkung zwischen dem fiktionalen Kosmos und seiner realen Außenwelt zeigte Hösle insbesondere am Beispiel von De re publica auf, inwiefern durch einzelne Gesprächsmomente der Autor seine Person in das dialogische Universum transzendiert, um sich dem Leser zu empfehlen.37 Wie jüngere Studien zeigen, trägt das Spannungsfeld aus literarischer Fiktion und soziokultureller Kontextualisierung des Dialogs nicht nur der Inszenierung der Autorpersona Rechnung, sondern ermöglicht darüber hinaus auch den Entwurf sozialer Gemeinschaften im Sinne eines community-fashioning. Diese präsentieren sich in den philosophischen Dialogen nach Steel als „intellectual communities“, welche dem homo novus Cicero zu einem intellektuellen Stammbaum verhelfen.38 Der Entwurf diskursiver Gemeinschaften rekurriert jedoch nicht nur auf die Selbstinszenierung des Autors, sondern muss, wie Müller und Steel zeigen, im Spiegel des größeren kulturellen Transferprozesses im spätrepublikanischen Rom betrachtet werden.39 Durch seine strukturelle Beschaffenheit präsentiert sich der ciceronische Dialog somit als eine Darstellungsform, die dem Autor ein breites Spektrum an Möglichkeiten liefert, mit seinem Leser in Kommunikation zu treten. Einen vielversprechenden Ansatz verfolgte diesbezüglich Sauer, der sich vor allem den Frühdialogen (De re publica, De legibus) widmet und die durch die darin auftretenden Dialogfiguren zur Geltung kommenden Haltungen analysiert. Diese tragen nach Sauer nicht nur zur Schaffung verschiedener Identifikationspunkte, sondern auch zur Glaubwürdigkeit des fiktionalen Gesprächs bei.40 Weitere Untersuchungsgegenstände der jüngeren Forschung stellen das Verhältnis des ciceronischen Dialogs zur philosophischen Grundhaltung des Autors und seine Beziehungen zu anderen literarischen Gattungen dar. Hinsichtlich des 35 36 37 38 39 40

Habinek 1998, bes. S. 5 u. S. 137–150; vgl. Fuhrer 2018, S. 99f. Arweiler 2003, S. 80–84. Hösle 2004, S. 152–166. Steel 2005, bes. S. 106–114 u. 2013, S. 228. Müller 2011 u. 2015; Steel 2013. Sauer 2013; in Bezug auf das erste Buch von De legibus bereits in: Sauer 2007, S. 270–274.

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ersten Aspekts haben insbesondere Fox und Schofield auf Ciceros karneadischskeptischen Standpunkt hingewiesen, der durch die literarische Form artikuliert werde.41 Dabei machte Schofield auf den explorativen Charakter sowie die Form der Autorpräsenz in den späteren Dialogen als Spezifika aufmerksam, durch die der ciceronische Dialog sich gegenüber dem „Platonic gold standard“ emanzipiere.42 Dieser Ansatz impliziert jedoch eine Abwertung des zwar fiktionalen, sich aber historisch gebenden dramatischen Rahmens, der nach Fox zur Schaffung einer ironischen Qualität beitrage, die von einem Teil der Leserschaft erkannt werden sollte. 43 Diese Interpretation birgt ein nicht geringes Konfliktpotential hinsichtlich der Beobachtungen Feldherrs und insbesondere Gildenhards, die am Beispiel der Vergangenheitsdialoge auf gattungsgeschichtliche Ähnlichkeiten von Ciceros Dialogliteratur mit der römischen Geschichtsschreibung hingewiesen haben.44 Der Dialog des Arpinaten präsentiert sich demzufolge nach Gildenhard einerseits als Alternative zu der aus stilistischen Gesichtspunkten kritisierten römischen Historiographie, andererseits stellt er auch eine Matrix zur Funktionsbestimmung adaptierter griechisch-philosophischer Diskurse innerhalb der römischen Kultur dar.45 Der dargelegte Überblick über die Forschungstendenzen der letzten Jahrzehnte zeigt neben dem anfangs attestierten zunehmenden Interesse am Dialog als Gattung auch eines am Dialog ciceronischer Prägung. Gleichzeitig wird deutlich, dass eine umfassende Monographie, die sich dem ciceronischen Dialog als Ganzem zuwendet, nach wie vor ein Desiderat darstellt, was nicht nur durch die Komplexität des Genres selbst, sondern auch die des ciceronischen Dialogwerks in seinen verschiedenen Erscheinungsformen bedingt ist. Darüber hinaus wurde ersichtlich, dass insbesondere die Bedeutung der Figurengestaltung bisher nur vereinzelt und noch nicht aus einer werkübergreifenden Perspektive behandelt wurde.46 Dieser Umstand scheint auch insofern verwunderlich, als die Dialogfiguren ein zentrales Element der binnenpragmatischen Ebene darstellen, indem sie sowohl für den fiktionalen Handlungs- und Geschehenszusammenhang als auch den propositionalen Gehalt der Dialoginszenierung eine tragende Rolle 41

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Fox 2007; Schofield 2008; vgl. Long 2015, S. 188–190; kritisch gegenüber Ersterem: Gildenhard 2013, S. 268f. Schofield 2008, bes. S. 83: „If the point of dialogue is to explore and to invite to exploration through debate, the form of the Academic dialogue looks better constructed to achieve this than the Platonic.“ Fox 2007, S. 77. Feldherr 2003; Gildenhard 2013. Gildenhard 2013, S. 270. Die bis heute einzigen Studien, die sich dezidiert um eine Untersuchung der ciceronischen Dialogfiguren bemühten, stellen die bereits erwähnten Arbeiten von Jones und Dyck dar, welche zwar die Frage nach der Historizität der Figurenkonzeption untersuchten, dabei jedoch den Aspekt der Figureninteraktion nicht beziehungsweise im Fall Dycks noch nicht systematisch berücksichtigten: Jones 1939; Dyck 1998.

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spielen. Die zugleich stets performative Interaktion der Dialogfiguren bietet dem Autor dahingehend eine weitere Ebene zur Darstellung ihm wichtiger Aspekte, die über das im Dialoggespräch behandelte Thema hinausreichen.47 Gerade hierin offenbart sich mitunter das eigentliche Potential der Gattung, da sie es dem Autor ermöglicht, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern Wissen und Wissensvermittlung selbst thematisch aufzugreifen, worin einer der zentralen Unterschiede zur Traktatform besteht.48 Die Dialogfiguren agieren dabei stets als „Personen“, indem sie innerhalb des literarischen Universums Rationalitäten darstellen, auch dann, wenn es sich bei ihnen statt um Menschen um Tiere, Fabelwesen, Götter oder – wie im Fall der Consolatio philosophiae des Boethius – um Personifikationen handelt.49 Die vorliegende Arbeit widmet sich mit der Konzeption der Dialogfigur einem konstitutiven Element der Gattung, das anhand aller Dialoge des Arpinaten untersucht werden soll, in denen als Sprechinstanzen Figuren auftreten, die anhand ihrer Namen als historische Persönlichkeiten ausgewiesen sind. Dadurch erstreckt sich der Untersuchungsgegenstand auf insgesamt 16 verschiedene Dialoggespräche, von denen lediglich die Tusculanae disputationes, die Paradoxa Stoicorum und der Timaeus ausgeschlossen werden. Der Ausschluss der Tusculanae disputationes lässt sich dahingehend rechtfertigen, dass sie trotz ihrer Dialogform keine Interaktion zwischen zwei Sprechinstanzen aufweisen, die sich beide als reale Persönlichkeiten identifizieren lassen. 50 Im Fall der Paradoxa Stoicorum ist mit M. Porcius Cato Uticensis eine solche zwar namentlich vorhanden, doch tritt diese aufgrund der Struktur des Werkes nicht selbst als Person in Erscheinung, weshalb die Paradoxa der Gattung der Diatribe zugewiesen werden.51 Von Ciceros Übersetzung des Timaios muss aufgrund ihres problematischen Überlieferungszustands abgesehen werden, dem sämtliche dialogischen

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Zu den Möglichkeiten inhaltlicher Vielschichtigkeit durch die Dialogfiguren s. auch Hempfer u.a. 2001, S. 73–75. S. hierzu Föllinger/Müller 2013. Zum Begriff der „Person“ s.: Gill 2000, Sp. 621. Zum stark divergierenden Grad der Körperlichkeit der jeweiligen Dialogfiguren s. auch Häsner 2004, S. 36–37. Cic. Tusc. 1,7f.; die Exposition des Dialogs lässt dabei nur den Schluss zu, dass es sich bei der Hauptstimme der fünf scholae um die des Autors im Beisein mehrerer Freunde handelt (cum essent complures mecum familiares), die auf seine Aufforderung ein gewünschtes Thema nennen sollten (ponere iubebam, de quo quis audire vellet). Die vorgebrachte Meinung wird anschließend in „sokratischer Methode“ (vetus et Socratica ratio) von der auktorialen Stimme erörtert. Die Identität von Ciceros jeweiligem Gesprächspartner wird dem Leser absichtlich vorenthalten. Wenn nicht anders vermerkt, folgt der lateinische Text bei Zitaten aus den Tusculanen stets der Ausgabe von Giusta. Vgl. Hirzel 1895, S. 496–497; Hirzel erkannte in der Form der Diatribe zwar „Zuckungen eines dialogischen Geistes“, grenzt sie jedoch vom eigentlichen Dialog ab, worin ihm Hösle folgt: Hirzel 1895, S. 369–371; Hösle 2006, S. 55.

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Partien zum Opfer gefallen sind.52 Die Beschränkung auf die Komponente „Figur“ ermöglicht es, ein mit 16 Dialoggesprächen aus 14 verschiedenen Werken recht umfassendes Untersuchungsterrain in den Blick zu nehmen und dabei Entwicklungslinien in Ciceros literarischer Technik aufzuzeigen. Gleichzeitig scheint die Untersuchung dieses Einzelaspekts angesichts der dargelegten Bedeutung der Komponente „Figurengestaltung“, die ein entscheidendes Kriterium für die Qualität eines literarischen Erzeugnisses liefert, selbst geboten. Eine umfassende Untersuchung der Figuren Ciceros, der ohne Zweifel als Hauptvertreter der Gattung Dialog in der römischen Literaturgeschichte gelten kann,53 verfolgt dabei mehrere Ziele: Einerseits sollen durch eine gleichzeitige biographische Durchleuchtung der Vorlagen, also der historischen Persönlichkeiten hinter den Dialogfiguren, Kriterien ersichtlich werden, die für die Verwendung bestimmter Figuren ausschlaggebend waren. Andererseits soll durch die Klärung unterschiedlicher Funktionen und Rollen, welche die Dialogfiguren in dem fiktiven Gespräch ausüben beziehungsweise einnehmen, ein deutlicheres Bild davon gewonnen werden, was man als ciceronischen Dialog bezeichnet. Der grundsätzlich politische Charakter der lateinischen Literatur im Kontext ihres sozialen Milieus, der – wie oben erwähnt – seit einigen Jahrzehnten zunehmend im Interesse altphilologischer Forschung steht, spiegelt sich umso mehr in einem literarischen Genre, das eine fiktive Kommunikation zwischen realhistorischen Persönlichkeiten der eigenen Gegenwart oder der jüngeren Vergangenheit beinhaltet. Der Dialog stellt dabei stets eine Form des self-fashioning dar, welches in jüngeren Studien eine intensive Erforschung bezüglich der Reden und der rhetorischen Schriften Ciceros erfahren hat, 54 und zeigt dabei eine in der Realität mögliche soziale Praxis.55 Die Untersuchung des Auftretens und der Kommunikation der Einzelfiguren vermittelt einerseits eine genauere Vorstellung davon, auf welche Weise der Autor seine eigene soziale Rolle durch das Medium des Dialogs formuliert, andererseits davon, in welchem Verhältnis das vom Autor entworfene Kollektiv zu seinen literarischen und politischen Intentionen steht.56 Die hier vorgenommene Analyse der einzelnen Dialogfiguren soll in diesem Sinn einen Beitrag zur Erforschung des ciceronischen Dialogs leisten. Die Untersuchung der Dialoge wird entlang der unterschiedlichen Gesprächszeitpunkte und der etwaigen Beteiligung des Autors in drei Schritten 52

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Dies ist nicht zuletzt auch deswegen bedauernswert, da Cicero darin Dialogpersonal und Szenerie nicht unwesentlich modifiziert hat. Der im Proömium noch erwähnte Peripatetiker Kratippos stellt dabei die einzige griechische Persönlichkeit dar, die in einem von Cicero verfassten Dialog als Dialogfigur auftritt: Cic. Tim. 2. So etwa: Görgemanns 1997, Sp. 519. S. etwa: Dugan 2005; Van der Blom 2010. Zu den Begriffen self- und community-fashioning im Kontext der Dialogform s. auch: Häsner 2004, S. 48–52 u. 2006, S. 150; Möllendorff 2013, bes. S. 390f. Zur Bedeutung der Rollenmodellierung Ciceros in den Dialogen s. auch: Fuhrer 2018, S. 102–104.

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vollzogen: Zunächst werden die Dialoge untersucht, die in einer weiter zurückliegenden Vergangenheit spielen und in denen Cicero selbst nicht als Dialogfigur auftritt (III). In einem zweiten Schritt werden jene untersucht, in denen Cicero als junger Mann an dem Gespräch teilnimmt, jedoch auf die Rolle als zentrale Hauptfigur verzichtet (IV). Als letzte und größte Gruppe fungieren jene Dialoge, die in einer noch sehr jungen Vergangenheit des Autors spielen und in denen sich der Autor selbst als zentrale Gestalt des fiktiven Gesprächs situiert (V). Die Untersuchung der Figurenkonzeption in den ciceronischen Dialogen geschieht dabei nach dem folgenden Schema: In einem ersten Schritt wird jeweils ein Einblick in die historische Persönlichkeit gegeben. Dieser beinhaltet neben einer kurzen Biographie eine Herausarbeitung dessen, was man als „intellektuelles Profil“ bezeichnen könnte, worunter die Beschäftigung mit verschiedenen literarischen Metiers, vor allem aber der Philosophie und der Rhetorik, fällt. Darüber hinaus widmet sich die historische Einführung der Frage nach dem persönlichen Verhältnis zwischen der historischen Persönlichkeit und dem Autor, wodurch Rückschlüsse auf die Motive der Personenwahl ermöglicht werden sollen. In einem weiteren Schritt erfolgt die Untersuchung der Figur und ihrer Funktion im Dialog. Hierbei gilt es zu prüfen, welche hierarchische Position die jeweilige Figur einnimmt, ob sie als Gesprächsführer die Konversation leitet, als gleichberechtigter Gesprächspartner Impulse gibt oder als schülerähnlicher Zuhörer die Konversation eher passiv verfolgt. Des Weiteren wird untersucht, welche Funktionen sich aus den jeweiligen hierarchischen Positionen ergeben: inwiefern die Gesprächsführer die Stimme des Autors wiedergeben und auf welche Weise der Autor durch die Präsenz von „Beisitzern“ und „Schülern“ ein Personengefüge entwirft, das als eine „ideale“ Diskursgemeinschaft für die Auseinandersetzung mit philosophischer oder rhetorischer Theorie gelten kann. In diesem Zusammenhang soll aufgezeigt werden, dass die Dialogfiguren nicht nur über spezifisch römische Persönlichkeitsmerkmale verfügen, die sich etwa in ihrem Umgangston niederschlagen, sondern auch auf den im Dialoggespräch erörterten Gegenstand oder auf das ciceronische (Bildungs-)Denken Bezug nehmen. Die ciceronische Dialogfigur, so soll gezeigt werden, bildet hierbei nicht selten eben eine Synthese aus griechischer Theorie und römischer Praxis ab, die dem in De oratore und De re publica angestrebten Ideal auffallend nahekommt.57 Die Vergangenheitsfiktion in den Dialogen Ciceros bildet nicht nur eine – wie Gildenhard herausstellte58 – ideale Matrix zur Erkundung griechischer Methoden, sondern entwirft auch das Bild einer seit Cato Censorius philosophierenden römischen Aristokratie und präsentiert dadurch zugleich römisches Philosophieren als integralen Bestandteil römischen Lebens.

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Zum ciceronischen Bildungsideal s. etwa: Barwick 1973; Pöschl 1995; Bittner 1999 u. 2001; zum Konzept des idealen Redners als Teil einer politisch-kulturellen selffashioning-Strategie: Dugan 2005, S. 75–171. Gildenhard 2013, S. 270.

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Mit der Präsenz des Autors und seiner Zeitgenossen in den Dialogen, die in einer jüngeren Vergangenheit und einer gegenwartsnahen Zeit (IV und V) angesiedelt sind, rückt die Frage nach der Relation von Text und realer Welt in den Fokus. Im Fall der Zeitgenossen muss daher untersucht werden, inwiefern der Autor durch die Verwendung bestimmter Personen in der fiktiven Welt des Dialogs Aussagen treffen möchte, die primär für die textexterne Welt bestimmt sind. So ist zu fragen, warum Cicero einen Staatsmann wie Cotta oder Lucullus mit seiner Person interagieren lässt und in welcher Rolle er dabei sich selbst sieht. Die Untersuchung soll diesbezüglich deutlich machen, inwiefern bestimmte Dialogfiguren in der Interaktion mit der Cicero-Figur einer Form des selffashioning und damit einem vom Autor entworfenen Selbstbild entgegenkommen. Darüber hinaus soll anhand bestimmter Figuren, deren Vorlagen während der Abfassungszeit noch lebten, aufgezeigt werden, dass der fiktionale Kommunikationsraum des Dialogs bei Cicero in einem engen Kontext mit der realen Kommunikation des Autors gesehen werden muss, auf die der Dialog Bezug nimmt oder die er sogar fortführt. Der im Hauptteil der Arbeit unternommenen Analyse der Einzelpersonen wird ein kurzes hinführendes Kapitel vorangestellt, das das Verständnis der Funktions- und Rollenbestimmungen erleichtern soll. In diesem wird zunächst ein Blick auf das historische und soziokulturelle Umfeld der Dialogwelten geworfen. Anschließend sollen die literarischen Intentionen des Autors bestimmt werden. Aufgrund der Komplexität der Gattung Dialog und des Strukturelements Dialogfigur kann die Arbeit nicht den Anspruch erheben, eine völlige Klärung zu erbringen. Die Untersuchung der Figurenkonzeptionen hinsichtlich ihrer Funktion der Konstituierung idealer Diskursgemeinschaften und ihres kommunikativen Aspektes kann lediglich einen weiteren Schritt in der Erforschung des ciceronischen Dialogs darstellen. Dabei soll anhand der hier vorgestellten Erkenntnisse die Art und Weise deutlich werden, wie Cicero sich dieser Gattung bedient, die sich bei ihm als ein Medium präsentiert, das die zwei zeitlichen Ebenen Vergangenheit und Gegenwart in überaus kunstvoller Weise verbindet. Der sehr reflektierte Einsatz dieses Mediums, der sich vor allem in der Verwendung der Dialogfiguren spiegelt, ist dabei keineswegs Ausdruck eines „Verfalls“, sondern der einer erneuten „Blüthe“ 59, für die der Vergleich mit dem platonischen Dialog nur bedingt sinnvoll ist.

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Hirzel 1895, S. 273.

II

Die Dialogliteratur Ciceros

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Die Lebenszeit des Autors fällt in eine Epoche der römischen Geschichte, die starken politischen wie auch kulturellen Transformationen unterlag, deren politische Konsequenz das von Cicero nicht mehr erlebte Prinzipat bildete. Der sich über einen Zeitraum von 100 Jahren erstreckende Zerfallsprozess der römischen Republik begleitete das Leben des Arpinaten von seiner Geburt bis zu seinem Tod im Dezember des Jahres 43.1 Während die politische Welt der res publica seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts durch Krisen geprägt war, führte die Expansion des römischen Reichs zu einer zunehmenden geistigen und kulturellen Auseinandersetzung mit der hellenistischen Welt, die das Entstehen eines komplexen Philhellenismus und der lateinischen Literatur zur Folge hatte.2 Bereits seit der Mitte des dritten und verstärkt durch die militärischen Siege des zweiten Jahrhunderts kam es zu einem zunehmenden Kontakt zwischen einzelnen Vertretern der römischen Elite mit griechischen Intellektuellen, die anfangs nicht selten als Beute mit nach Italien geführt und von Teilen der römischen Nobilität für die private Erziehung ihrer Söhne requiriert wurden.3 Die Berührung der republikanischen Gesellschaft mit der griechischen παιδεία erfolgte dabei, wie die jüngere Forschung betont, nicht durch die Einrichtung spezifischer Bildungsinstitutionen, sondern vor allem im privaten Rahmen einzelner Eliten, für die der Besitz prominenter griechischer Pädagogen ein teures Statussymbol darstellte, während der Ruf griechischer Bildung in Rom insgesamt ambivalent blieb.4 Der dadurch angestoßene und sich bis auf das Prinzipat erstreckende Aneignungsprozess, den Christes treffend als einen „Gärungsprozess“ bezeichnete, evozierte bereits früh eine Reihe von anekdotenhaft überlieferten Konflikten, die einen Einblick in das geistige Milieu gewähren.5 Das bekannteste Beispiel stellt 1

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Zur Krise der römischen Republik sei verwiesen auf: Bringmann 2003b; Blösel 2015, S. 249; zur politischen Biographie des Autors s. etwa: Gelzer 2014; Habicht 1990; Fuhrmann 2007; Stroh 2008; Bringmann 2010. Eine umfassende Studie zum Phänomen des römischen Philhellenismus vom Anfang des zweiten bis Mitte des ersten Jahrhunderts liefert: Ferrary 1988; allgemein zum intellektuellen Leben innerhalb der römischen Republik und der Philosophie auch: Rawson 1989, bes. S. 282–297; Grilli 1990. Vgl. Corbeill 2001, S. 268f.; Scholz 2011, S. 129–131. Vgl. Corbeill 2001, S. 268–270. Christes 1975, S. 152–166.

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Die Dialogliteratur Ciceros

hierbei die Episode der Philosophengesandtschaft von 155 dar, welche einen symbolträchtigen Auftakt für diesen kulturellen Austauschprozess bietet: Nachdem sich viele junge Hörer von den Reden der griechischen Philosophen beeindruckt gezeigt hätten, habe der Senat unter der Führung des alten Cato deren Ausweisung beschlossen.6 Diese Episode spiegelt einerseits den Konflikt zwischen einem römischen Konservativismus und der zunehmenden Anziehungskraft der griechischer Theorie wider. Darüber hinaus belegt sie, dass – obschon es auch in der Folgezeit immer wieder vereinzelt zu Ausweisungen griechischer Gelehrter kam – Philosophen in der ersten Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts keine ungern gesehenen Gäste mehr im Rom dieser Jahre waren und dass viele der jungen römischen nobiles und nicht zuletzt auch Cato selbst bereits über griechische Sprachkenntnisse verfügten.7 Einen weiteren, insbesondere für Cicero bedeutenden Etappenpunkt stellt das Jahr 88 dar, als sich infolge des Krieges mit Mithridates eine Reihe prominenter akademischer Gelehrter in Rom niederließ, worunter sich auch der damalige Scholarch der Akademie Philon von Larissa befand, der nach Aussage seines römischen Schülers dort sowohl Rhetorik als auch Philosophie gelehrt habe. 8 Der Kontakt zwischen einzelnen römischen nobiles und griechischen φιλόσοφοι ist somit bereits ein halbes Jahrhundert vor der Geburt des Arpinaten bezeugt, doch eine philosophische Literatur in lateinischer Sprache etablierte sich erst hundert Jahre später durch Cicero und Lukrez. 9 Wie groß das Interesse der Römer des zweiten Jahrhunderts an griechischer Philosophie tatsächlich war, lässt sich nur schwer bestimmen. So wurde in der Forschung bereits des öfteren hervorgehoben, dass es sich bei nicht wenigen der persönlichen Beziehungen zwischen römischen Aristokraten und griechischen Gelehrten um Zweckbündnisse handelte.10 Es lässt sich zwar feststellen, dass im Laufe der Zeit eine zunehmende Aneignung griechischer Kultur

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Plut. Cato maior 22,5; Paus. 7,11,4–8; zur Philosophengesandtschaft s. auch: Gruen 1990, S. 174–176; Jehne 1999, S. 119–126; Guérin 2007, S. 210. Zur Präsenz griechischer Philosophen in Rom und weiteren Ausweisungen s.: Gruen 1990, S. 171–179; Scholz 2011, S. 131. Cic. Tusc. 2,9; zum Aufenthalt Philons in Rom auch: Grilli 1990, S. 45-47; Lévy 1992, S. 87–90. Zwar finden sich viele einzelne römische Aristokraten, die mit verschiedenen Philosophenschulen in Verbindung gebracht werden, von Verfassern philosophischer Werke in lateinischer Sprache vor Cicero und Lukrez erfahren wir jedoch in den Quellen wenig. Eine Ausnahme- und vielleicht auch Vorreiterrolle nehmen dabei römische Epikureer ein: Als früheste Verfasser epikureischer Werke in lateinischer Sprache sind uns C. Amafinius und Rabirius bekannt, die im frühen ersten Jahrhundert vor Christus auftraten und deren Bücher Cicero inhaltlich und stilistisch angriff: Cic. Tusc. 5,6f; vgl. ac. 1,2; zur Entwicklung der philosophischen Literatur in Rom s. auch Albrecht 2012, S. 422–425. S. hierzu etwa die immer noch wichtige Studie von Jocelyn 1977; Rawson 1989; Powell 1999, S. 14–16.

Historischer und sozialer Kontext

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in der römischen Oberschicht stattfand, doch handelte es sich dabei keineswegs um einen linearen Prozess, wie Flaig betont, sondern um einen Aneignungsprozess, der eher „widerspruchsvoll ablief und zeitweise abnahm oder fast zum Erliegen kam“.11 Dass die Philosophie auch zu Ciceros Zeiten im Gros der herrschenden Schicht keine Beliebtheit genoss, obwohl sich bereits einzelne römische Redner wie der jüngere Cato ihrer argumentativen Techniken bedienten, zeigt nicht zuletzt die uns erhaltene Rede Pro Murena, in der Cicero diesen wegen seiner stoischen Argumentation angriff. 12 Im Proömium von De finibus bonorum et malorum zeigt sich, dass Cicero mit sehr unterschiedlichen Typen von Kritikern rechnete, von denen einige die Beschäftigung mit Philosophie grundsätzlich als unvereinbar mit der römischen dignitas ansehen würden, während eine andere Gruppe von Lesern zwar nicht die Philosophie an sich, jedoch ihre Darstellung in lateinischer Sprache entschieden ablehnen würde.13 Auch die Eröffnung der nach De finibus entstandenen Tusculanae Disputationes lässt erkennen, dass der literarischen Produktion philosophischer und lyrischer Texte innerhalb der römischen Aristokratie generell nur eine geringe Akzeptanz entgegengebracht wurde und ein Autor solcher Literatur unter Legitimierungsdruck stand.14 Während die Beschäftigung mit oder das Verfassen von literarischen Werken von vielen Vertretern der römischen Nobilität noch skeptisch betrachtet wurden, lässt sich gleichzeitig feststellen, dass die Anforderungen an die römischen nobiles, sich in mündlicher und schriftlicher Kommunikation adäquat und geistreich auszudrücken, stetig stiegen.15 Diese Gemengelage aus ersten Anzeichen eines Philhellenismus und entschiedener Ablehnung bildet den Hintergrund, vor dem Cicero seinen Zeitgenossen Philosophie näherbringen möchte und der in die Gestaltung seiner Dialogfiguren mit einfließt. Der Adressatenbezug erfordert vom Autor eine besondere Rücksicht gegenüber diesem soziokulturellen Kontext. Die Ge-

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Flaig 1999, S. 105; dagegen nahm Rawson an, dass zwischen 80 und 30 v. Chr. bereits ein enger Kontakt der römischen Elite mit griechischer Kultur bestand: Rawson 1985, S. 317–318. Cic. Mur. 61; vgl. Flaig 1999, S. 103: „Philosophie war in Rom nur übernehmbar ohne ihren agonalen, dialektischen Charakter; und damit wurde aus einer hochdifferenzierten und als kulturelle Tätigkeit autonomisierten Episteme wieder Weisheitslehre und Ethik.“ Cic. fin. 1,1; die dignitas stellt bekanntermaßen einen zentralen Wertbegriff in der Gesellschaft der späten Republik dar, der als in der Tradition verankerte „Hochwertvokabel“ einen verpflichtenden Charakter beinhaltet und in den politischen Auseinandersetzungen der Zeit allgegenwärtig ist. Zu seiner Semantik und Anwendung in der politischen Sprache Sallusts und Ciceros unter Caesars Diktatur s.: Panagl 2014, bes. S. 217–219; grundlegend: Hellegouarc'h 1972, S. 388–415. Zum Legitimierungsdruck Ciceros s. auch: André 1977, S. 55–67. Cic. Tusc. 1,3; s. hierzu: Eigler 2000, S. 627f. S. hierzu Scholz 2011, bes. S. 127–129.

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Die Dialogliteratur Ciceros

staltung des Dialogs muss daher bemüht sein, den Eindruck einer schulmäßigen Belehrung zu vermeiden sowie der dignitas von Verfasser und Leser gerecht zu werden.16 Die Veröffentlichung philosophischer Dialoge erfolgte dabei nicht nur aus einer spezifischen historischen Situation heraus, die durch politische und kulturelle Transferprozesse geprägt war, sondern sie entsprang auch einem von Konsens und Konkurrenz geprägten soziokulturellen Milieu, das sich stark von jenem der griechischen Literatur unterschied. Die Erforschung der römischen Nobilität hat nicht zuletzt durch Luhmanns Theorie der „Sozialen Systeme“ neue Impulse erhalten, die erst seit jüngerer Zeit für die Altertumswissenschaften nutzbar gemacht werden. 17 Aufbauend auf die Luhmannsche Unterscheidung zwischen sozialer „Rolle“ und „Person“ im Kontext der Identifikation von Erwartungshorizonten18 widmete sich zuletzt Beck einer ausführlichen Betrachtung des aristokratischen Rollenverhaltens in der späten römischen Republik, deren politischen Betrieb er durch dieses maßgeblich geprägt sah.19 Bereits aus dem Tagesablauf eines stereotypen nobilis lassen sich hierbei drei primäre Rollen als Patron (Morgen), Senator (Tagesmitte) und Priester (Abend) herausstellen, wozu noch die des Inhabers eines politischen Amts treten konnte.20 Die Rolle eines philosophus war zumindest im öffentlichen Auftreten des Aristokraten nicht vorgesehen, weshalb es nicht verwundert, dass diesbezügliche Selbstbezeichnungen Ciceros stets in einem privaten Ambiente fallen und meist ironischer Natur sind.21 Die Übernahme einer solchen Rolle war – wenn überhaupt – nur in gesonderten sozialen Räumen und Zeiten möglich: nicht zufällig wurde bereits der lateinische Dialog vor Cicero im privaten Raum der aristokratischen Villa angesiedelt.22 Die Inszenierung einzelner Personen und Personengruppen innerhalb einer abgeschiedenen literarischen Welt bietet dem Autor eines Dialogs die 16

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Vgl. Zoll 1962, S. 127. Dass eine griechische Lehrsituation auch noch in der frühen Kaiserzeit eine Schwierigkeit darstellte, erläutert Flaig an dem Beispiel des Tiberius: Flaig 1999, S. 106–107. Luhmann 1987. Vgl. ebd., S. 429–432. Beck 2009. Ebd., S. 58f. So artikuliert Cicero 59 seinen Missmut über den Konsul Piso mit den Worten, dass diesen niemand „außer wir Philosophen ohne Stöhnen ertragen könnte“ (praeter nos philosophos adspicere sine suspiritu posset): Cic. Att. 1,18 = 18 Sh. B., 3; vgl. 2,13 = 33 Sh. B., 2: Dort erscheint φιλοσοφῶμεν zur Beschreibung der eigenen Gelassenheit hinsichtlich der politischen Situation. Zu einer ironischen Inversion kommt es auch am Ende eines weiteren Briefes von 59: Att. 2,12 = 30 Sh. B., 4: καὶ Κικέρων ὁ φιλόσοφος τὸν πολιτικὸν Τίτον ἀσπάζεται. Wenn nicht anders vermerkt, folgt der Text zu den Briefen ad Atticum und ad familiares stets den Editionen von Shackleton Bailey, die Übersetzungen stammen von Kasten. Zur römischen Szenerie der Villa als Zentrum des intellektuellen Lebens s. auch: Corbeill 2013, S. 17–19.

Historischer und sozialer Kontext

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Möglichkeit, diese Personen als Träger innovativer, nicht-öffentlicher Rollenmodelle darzustellen und die traditionellen vorübergehend aufzuheben. Dies geschieht jedoch im Rahmen eines Mediums, das für eine bestimmte Öffentlichkeit vorgesehen ist. Ein solches Verfahren birgt somit eine gewisse Spannung, da das als privat Beschriebene publik werden musste und dahingehend bereits im Vorfeld für die Publikation angelegt wurde. Die Analyse der einzelnen Dialogfiguren wird zeigen, inwieweit Ciceros Figurengestaltung bewusst auf konventionell-römische Rollenmodelle rekurriert, um diese mit innovativeren harmonisieren zu lassen. Das zu untersuchende philosophische und rhetorische Dialogwerk, das durch seine Figuren auf den skizzierten Zeitraum Bezug nimmt, entstammt aus zwei unterschiedlichen Schaffensperioden des Autors: einem ersten Zeitraum zwischen 56 und 51, dem die Werke De oratore, De re publica, De legibus und möglicherweise die Partitiones Oratoriae entspringen, sowie einem zweiten zwischen den Jahren 46 und 44, in dem das Gros des theoretischen Werks Ciceros entstand.23 Unter Berücksichtigung der politischen Zeitumstände lässt sich letzterer erneut unterteilen in die Zeit vor und nach Caesars Ermordung im März 44, so dass sich uns folgendes Bild bietet: 56–51 De oratore De re publica De legibus Partitiones Oratoriae(?)

46–44 Brutus Hortensius Academici libri De finibus bonorum et malorum De natura deorum Cato maior

44 De divinatione De fato Laelius

Mit Blick auf den soziokulturellen Rahmen der ciceronischen Philosophica und Rhetorica stellt es ein wichtiges Detail dar, dass vor allem in den ersten beiden Phasen Ciceros politische Gestaltungsmöglichkeiten stark eingeschränkt waren: während Cicero in den 50er Jahren durch den Dreibund zwischen Caesar, Pompeius und Crassus nur wenig Gestaltungsmöglichkeiten blieben, war er unter der Diktatur Caesars vom politischen Betrieb der res publica völlig ausgeschlossen.24 Vor allem in den drei Dialogen der ersten Phase zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen dem Inhalt und der politischen Realität, indem der Autor darin versucht, ideale, aus der Vergangenheit der res publica entwickelte Gegenmodelle zur politischen Gegenwart zu entwickeln. 25 Dass auch die unter

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Auf die Datierungen der einzelnen Werke wird jeweils zu Beginn der Einzeluntersuchungen eingegangen. Vgl. Powell 1999, S. 4f. Vgl. Bringmann 2010, S. 145.

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Die Dialogliteratur Ciceros

Caesar geschriebenen Werke einen politischen Charakter aufweisen, der Ciceros Anliegen einer moralischen Erneuerung des römischen Gemeinwesens dienen sollte, lässt sich seit der Studie Strasburgers nicht mehr bezweifeln, doch nimmt die politische Zielsetzung keinen primären Rang in ihnen ein.26 Die Hinwendung des Politikers Cicero zur philosophischen Schriftstellerei ab den 50er Jahren wurde in der Forschung lange Zeit als ein Rückzug aus der Politik gewertet, dies wird jedoch als alleiniges Erklärungsmuster dem Autor nicht gerecht.27 Diese Perspektive berücksichtigt weder den politischen Kontext der literarischen Produktion und Verbreitung noch die persönlichen und politisch konkreten Ziele des Autors,28 auf die unter II 2 eingegangen werden soll. Die politische Kontextualisierung der Autorsituation und dessen Selbstverständnis als Staatsmann stellen ebenfalls einen zentralen Faktor dar, der bei der Untersuchung der Figurengestaltung in den Blick genommen werden muss.

2

Ciceros literarische Intentionen

Im Folgenden sollen einige der zentralen Intentionen dargelegt und erläutert werden, die Ciceros literarischem Schaffen und insbesondere seinen Dialogen zugrunde lagen und welche – so die These der vorliegenden Arbeit – auf die Gestaltung derselben einen markanten Einfluss genommen haben. Die zahlreichen Beweggründe für seine literarische Tätigkeit und seine Hingabe zur Philosophie lassen sich in die drei Kategorien praktisch-soziopolitisch, persönlichreflektierend und ästhetisch-literarisch fassen: praktisch-soziopolitisch

persönlich-reflektierend

Ästhetisch-literarisch



 



 

Bildungsabsicht als Dienst an der res publica Selbstinszenierung individuelle Ehrung

Ersatz für Politik Überwindung von Lebenskrise, Trost



imitatio und aemulatio literarischer Vorbilder Dialogästhetik

Dass Ciceros Schaffen eine Bildungsintention zugrunde liegt und es als Dienst am römischen Staat interpretiert (munus rei publicae) werden muss, lässt sich

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Strasburger sah in dem Spätwerk einen offenen Angriff auf die Person des Diktators Caesar: Strasburger 1990; s. auch Wassmann 1996. Zu Recht macht Bringmann auf die Gefahr einer Verabsolutierung dieser Intention aufmerksam, welche die Vernachlässigung anderer Zielsetzungen zur Folge haben kann: Bringmann 2010, S. 294. Diese Ansicht vertreten: Kroll 1939, Sp. 1095; Habicht 1990, S. 10–11; Zetzel 1995, S. 97. Gegen diese Auffassung sprechen sich aus: Leeman/Pinkster 1981, S. 17–21, Gildenhard 2007, S. 45–51; Morkel 2012, S. 24f.; Gildenhard 2013, S. 238. Vgl. Gildenhard 2013, S. 238f.

Ciceros literarische Intentionen

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anhand verschiedener Proömien seiner Werke klar belegen.29 Einen integralen Bestandteil jener Bildungsintention stellt die Vermittlung des ethischen Bildungswertes dar, der seit dem frühen 1. Jahrhundert mit humanitas umschrieben wird und aus einer spezifisch römischen Rezeption griechischer Vorlagen entstanden ist. 30 Eben diese Art der humanitas steht, wie bereits die ältere Forschung zeigte, in einem engen Zusammenhang mit der Figurengestaltung der Dialoge, indem sie die dignitas des aristokratischen Kollektivs unterstreicht und zur Unterscheidung von dem als schulisch empfundenen griechischen Lehrbetrieb beiträgt.31 Der Begriff steht dabei nach Zoll sowohl für ethische Verhaltensnormen (Zugänglichkeit, Freundlichkeit, Wohlwollen) als auch für eine Form umfassender geistiger Bildung. 32 Die nachfolgende Untersuchung der Dialogfiguren wird zeigen, inwiefern sich das ciceronische Bildungsdenken, das der Autor am ausführlichsten in seinem ersten Dialog De oratore darstellt, in der Gestaltung der Figuren artikuliert.33 Indem der Autor bereits im Vorfeld der eigentlichen Dialoghandlung gegenüber dem Widmungsträger des jeweiligen Werkes vorgibt, seinen römischen Mitbürgern rhetorische beziehungsweise philosophische Inhalte näherbringen zu wollen, gestaltet er aktiv das Bild seiner eigenen Person, das sich der Leser von ihm machen soll. Die Selbstinszenierung des Autors stellt zweifelsfrei kein Spezifikum des literarischen Dialogs dar, sondern ein allgemeines Charakteristikum jedweder literarischen Form, in der sich eine mit dem Autor identische Erzählerstimme dem Rezipienten zuwendet. Im soziokulturellen Kontext der römischen Literatur in der Zeit der späten Republik muss dieses stets auch in einem politischen Licht betrachtet werden, da Verfasser und Publikum der politischen Oberschicht entstammen und die Publikation literarischer Werke stets aus einer sozialen Rolle heraus vorgenommen wird, die durch das Schreiben und die Verbreitung von Texten selbst konkretisiert wird. Indem Ciceros Stimme im Proömium der Tusculanae dispuationes erklärt, dass die Philosophie bis zu seiner eigenen Zeit vernachlässigt worden sei und keine angemessene literarische Darstellung erhalten habe (iacuit usque ad hanc aetatem nec ullum habuit lumen litterarum Latinarum),34 rechtfertigt er sein Schreiben dadurch, dass er vorgibt, selbst die notwendige literarische und philosophische Kompetenz zu besitzen, den ange29

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Cic. div. 2,4; ähnlich: ac. 2,6; Tusc. 1,3; s. hierzu auch: Bringmann 2003, S. 160; Morkel 2012, S. 31–35. Zum Begriff und dessen Genese s.: Harder 1971, S. 20f.; Hellegouarc’h 1972, S. 267– 271; Wehrli 1978, S. 74–78. Vgl. Becker 1938; Zoll 1962, S. 127f. Vgl. Zoll 1962, S. 118 u. S. 128; Aufgrund des breiten Spektrums der Bedeutungsmöglichkeiten sowie ihrer gezielten Darstellungen im Dialog De oratore nennt Zoll sie als die entscheidende Triebkraft des dort dargestellten Gesprächs. Zum ciceronischen Bildungsideal s. grundlegend: Barwick 1973; Pöschl 1995; Bittner 1999 u. 2001. Cic. Tusc. 1,5.

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Die Dialogliteratur Ciceros

sprochenen Missstand zu beheben.35 Während das self-fashioning Ciceros in den Vergangenheitsdialogen ohne Cicerofigur primär in den Proömien und damit vor der eigenen Gesprächshandlung situiert wird, begegnet es in denen mit Cicerofigur innerhalb derselben mittels seines Alter Egos, das sich im philosophischen Austausch mit Zeitgenossen befindet. Diese Variante des Dialogs, derer sich der Autor am meisten bedient hat, ermöglichte ihm eine doppelte Inszenierung seiner eigenen Person, indem seine direkte Stimme im Proömium den Widmungsträger, seine durch eine Figur gebrochene in der Dialoghandlung die jeweiligen Gesprächspartner anspricht. Die literarische Selbstinszenierung im Rahmen der römischen Nobilität ist mit Blick auf Cicero nicht zuletzt dahingehend von besonderer Bedeutung, dass dieser als homo novus den politischen Wettbewerb mit einem Defizit an sozialem Prestige bestreiten und seine fehlende auctoritas auf andere Weise gestalten musste. 36 Die novitas der zahlenmäßig kleinen, jedoch sozial allgemein anerkannten Gruppe der „neuen Männer“ bot ihm dabei, wie Dugan insbesondere am Beispiel der Reden überzeugend darlegt, zugleich auch ein Repertoire an Tropen und Gemeinplätzen, seine individuellen politischen Ziele trotz des Fehlens eines prestigeträchtigen Stammbaums zu verfolgen.37 Eine weitere Intention des Autors, die für die Wahl der Dialogfiguren eine wichtige Rolle spielt, besteht darin, bestimmten Personen durch ihre Präsenz in seinem Dialog eine Form der Ehrung zukommen zu lassen. Im Fall von lebenden Personen greift der Autor dabei meist auf Personen aus seinem engsten Umfeld zurück. Der Autor wendet diese Ehrerweisung allerdings auch auf bereits verstorbene Persönlichkeiten an, wobei er auf das kollektive Gedächtnis Roms zurückgreift und selbst eine Art Erinnerungsarbeit (memoria) verrichtet. 38 Die Figurengestaltung bietet diesbezüglich nicht nur die Möglichkeit, den Leser mit dem Verstorbenen als sprechende, wenn auch fiktive Person in Kontakt treten zu lassen, sondern sie ermöglicht es darüber hinaus, den auf diese Weise Geehrten für die eigenen Intentionen zu vereinnahmen. Gerade die Dialoge, die in einer ferneren Vergangenheit spielen, bieten Raum für eine an den eigenen moralischen Grundmaßstäben orientierte Interpretation der Gegenwart, worin sich eine unbestreitbare Ähnlichkeit des Genres mit den Grundmustern römischer Geschichtsschreibung erkennen lässt. 39 Dass Cicero durch seine Dialogfiguren philosophische Porträts erschafft, muss dabei im Kontext der spezifisch römischen memoria-Kultur gesehen werden, in deren Rahmen bedeutende Familien 35 36 37 38

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Vgl. Eigler 2000, S. 628f. Vgl. Dugan 2005, S. 5–8; Ndiaye 2016, S. 196–199. S. Dugan 2005, S. 8–11 u. S. 21–74. Zur Memorialkultur innerhalb der Gesellschaft des republikanischen Roms am Beispiel der Ahnenparade und zur Bedeutung der exempla s. Flaig 2003, bes. S. 69–92. Zum moralischen Gegenwartsbezug der römischen Geschichtsauffassung sei verwiesen auf: Pöschl 1956. Zentrale Analogien zwischen den Dialogen Ciceros und der Geschichtsschreibung heben vor allem hervor: Feldherr 2003; Gildenhard 2013.

Ciceros literarische Intentionen

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ihr soziales Prestige durch Rituale wie die Pompa funebris und den dabei öffentlich präsentierten Totenmasken (imagines) zur Schau stellen konnten. 40 Die Verwendung realer historischer Persönlichkeiten als Dialogfiguren geschieht bei Cicero somit in einem kulturellen Raum, in dem nach Blösel „Geschichte“ durch die „res gestae der Individuen erfahrbar“ werde und sich dem Römer nicht als „abstrakt verstrichene Zeit oder von überpersönlichen Entwicklungsprozessen geprägt“ präsentiere.41 Als persönlich reflektierende Intention wurde bereits der Aspekt einer Ersatzfunktion im Hinblick auf die von Cicero eigentlich präferierte politische Tätigkeit genannt. Dass das Verfassen philosophischer Literatur auch einen therapeutischen Selbstzweck erfüllt, indem der Autor damit versucht, persönliche Schicksalsschläge oder seine Enttäuschung einer als krisenhaft empfundenen Gegenwart zu überwinden, belegt die nicht erhaltene Consolatio, mit der der Autor versuchte, den Tod der eigenen Tochter zu verarbeiten.42 Das Schreiben philosophischer Arbeiten steht dahingehend im Zeichen eines vor allem seit der hellenistischen Zeit gedeihenden Philosophieverständnisses einer philosophia medicans; es stellt diesbezüglich nicht nur eine soziale, sondern auch eine meditativ therapeutische Praxis dar, welche in der jüngeren Forschung verstärkt bei der Interpretation einzelner Werke berücksichtigt wird.43 Es würde jedoch zu kurz greifen, Ciceros Motivation nur mit pragmatischen und selbstreflektierenden Intentionen zu begründen. Darüber hinaus lassen sich literarisch-ästhetische Motive ausfindig machen, die ihn zum Schreiben philosophischer Literatur bewegten und seine Entscheidung für die Dialogform begünstigten. Der Rückgriff auf diese Gattung erlaubte dem Arpinaten nicht nur die imitatio der mit ihr verbundenen prägenden Genregrößen, sondern auch sich mit jenen zu messen. Bewusst bedient sich Cicero eben jener philosophischen Darstellungsform, der sich zuvor Platon und Aristoteles bedient hatten. Diese verfügte darüber hinaus bereits über eine gewisse Tradition in der römischen Literatur, die durch den Vater-Sohn- und Villendialog begründet wurde.44 Der Reiz der Dialogform bestand aber nicht nur in der Möglichkeit, mit ihren berühmtesten Archegeten in einen Wettbewerb zu treten, sondern auch in einer ihr zukommenden Ästhetik, auf die sich mitunter das Kunstprinzip der „Indirektheit der Mitteilung“ anwenden lässt.45 Im Fall von Werken wie De re publica oder De legibus, 40 41 42

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S. auch Flaig 1995, S. 128f. u. 2003, S. 49–68. Blösel 2003, S. 58. Vgl. Plasberg 1962, S. 157–159; eine tröstende Funktion der stoischen Lehrsätze vermutete bereits Kumaniecki bzgl. der Paradoxa Stoicorum, s.: Kumaniecki 1957, S. 121. Mit Blick auf Cicero sei hierbei auf die zwei Studien von Schofield und Koch zu den Tusculanae disputationes verwiesen: Schofield 2002, bes. S. 103–105; Koch 2006. Zu den vorciceronischen Dialogen in der lateinischen Literatur s. etwa Hirzel 1895, S. 428–432. Hierzu und zur Ästhetik literarischer Dialoge s. Hösle 2006, S. 411–420.

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Die Dialogliteratur Ciceros

die konkrete politische Inhalte thematisieren, erscheinen diese gegenüber dem Leser als zur Disposition stehende Vorschläge. Dem ästhetischen Vorzug der Gattung schließt sich auch ein technischer Aspekt an: Zwar greift Cicero im Rahmen seiner philosophischen Wahrheitssuche nur selten auf den sokratischen Elenchos zurück, doch bedient er sich bereits in früheren Dialogen dezidiert diskursiver Momente, in denen mittels verschiedener Gesprächsinstanzen unterschiedliche Positionen vorgetragen werden.46 Während seine frühen Werke nur punktuell hierauf zurückgreifen, dominiert dieses Schema in seiner peripatetischakademischen Ausformung des in utramque partem disserere seine philosophischen Dialoge der Jahre 45 bis 44.47 Die Gegenüberstellung diverser philosophischer Lehrmeinungen, die sich im Gegensatz zum platonisch-sokratischen Elenchos durch die Abfolge von Vorträgen präsentiert, stellt dabei die grundlegende Methodik der Untersuchung dar. Cicero verleiht ihr mittels verschiedener Sprechinstanzen, welche zugleich suggerieren, dass ihre historischen Vorlagen für die jeweilige Position bürgen, eine ästhetische Einkleidung, die ihm die literarische Form des Traktats nicht bieten würde.

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Zur Verwendung der sokratischen Methode bei Cicero s. Gorman 2005. Hiervon ausgenommen sind lediglich Cato maior und Laelius. Zum in utramque partem disserere in Ciceros Spätwerk s. auch André 1977, S. 67–70.

III

Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

In einem ersten Schritt sollen jene Dialoge untersucht werden, in denen Cicero nicht mit einer gleichnamigen Dialogfigur selbst auftritt, was für die frühen Dialoge De oratore und De re publica in gleichem Maße zutrifft wie auf die recht spät publizierten, kleineren Schriften Laelius und Cato maior. Bevor eine Untersuchung der einzelnen Dialoge vorgenommen wird, sollen äußere Faktoren in den Blick genommen werden, die den ciceronischen Dialog beeinflusst haben. Aus der Entstehungszeit von De re publica erfahren wir, dass Cicero hinsichtlich der Frage nach einer eigenen Präsenz im Dialog durchaus gespalten war. In einem Brief an Quintus vom Herbst 54 legt er seine diesbezüglichen Überlegungen dar:1 ii libri cum in Tusculano mihi legerentur audiente Sallustio, admonitus sum ab illo multo maiore auctoritate illis rebus dici posse si ipse loquerer de re publica, praesertim cum essem non Heraclides Ponticus sed consularis et is qui in maximis versatus in re publica rebus essem; quae tam antiquis hominibus attribuerem, ea visum iri ficta esse. oratorum sermonem in illis nostris libris, quod esset de ratione dicendi, belle a me removisse, ad eos tamen retullisse quos ipse vidissem; Aristotelem denique quae de re publica et praestanti viro scribat ipsum loqui. Als ich mir auf dem Tusculanum diese Bücher im Beisein Sallusts vorlesen ließ, wurde ich von ihm darauf aufmerksam gemacht, dass über diese Fragen mit sehr viel größerem Nachdruck geredet werden könne, wenn ich selber über den Staat spräche, zumal ich nicht Herakleides von Pontos, sondern ein ehemaliger Konsul sei, und zwar einer, der unter höchst bedeutenden Umständen politisch tätig war; es würde sonst der Eindruck enstehen, als sei das, was ich Männer in den Mund legte, die vor so langer Zeit gelebt haben, frei erfunden; ich hätte in meinen früheren Büchern über die Theorie der Beredsamkeit passenderweise darauf verzichtet, an dem Gespräch teilzunehmen, sondern hätte es Männern führen lassen, die ich selbst noch gekannt habe; schließlich spreche auch Aristoteles in seiner Schrift über den Staat und den herausragenden Staatsmann in eigener Person.

Der zitierte Passus ist auch dahingehend aufschlussreich, dass der Verzicht auf die Präsenz des Autors zugunsten des historischen Charakters des Dialogs mit

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Cic. ad Q. fr. 3,5 = 25 Sh. B., 1; der Text der Quintus-Korrespondenz folgt der Ausgabe von Shakleton Bailey, die Übersetzung, wenn nicht anders vermerkt, BlankSangmeister.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

Herakleides von Pontos assoziiert wird.2 Dem wird der Dialogtypus des Aristoteles gegenübergestellt, welcher in seinen Werken selbst aufgetreten sei. Dieses Verfahren, welches den Autor als Sprecher vorsieht und das in den späteren Dialogen bevorzugt verwendet wird, wird darauf von Cicero mit der Begründung abgelehnt, dass er keinen Zeitgenossen verletzen wolle (ne […] offenderem quempiam).3 Angesichts der vermutlich tatsächlich nicht geringen Gefahr, sich im Jahr 54 politisch zu kompromittieren, lässt sich erkennen, dass ein Reiz der Vergangenheitsszenerie für Cicero darin bestand, dass sie einen politisch neutralen Raum offerierte, von dem aus Überlegungen über den Staat nicht zwangsläufig als Polemik gegen Zeitgenossen verstanden werden mussten.4 Die erwähnte Briefstelle bezeugt zudem, wie sehr der Autor mit seinem Konzept kämpfte und wie wichtig ihm die Frage war, wer als Sprecher geeignet sei. So verwundert es auch nicht, dass Cicero, der im zitierten Brief bereits von Sallustius überzeugt schien, sich letztlich doch für den ursprünglich geplanten Vergangenheitsdialog enschied.5 Auch in späterer Zeit, als Cicero bereits zur aristotelischen Dialogform (Ἀριστοτέλειον morem) gewechselt war, für das er De finibus als Beispiel nennt, schien ihm der herakleidische Dialog immer noch attraktiv, wie aus einem Brief an Atticus Ende Juni 45 hervorgeht (hoc in antiquis personis suaviter fit).6 Die antiqua persona stellte ohne Zweifel einen besonderen Reiz für den Autor dar, der bald darauf im Cato maior und im Laelius wieder zu jener Form zurückkehrte. Während Cicero sich durch diese vom aristotelischen Dialog unterschied, orientiert er sich in der Art der Gesprächsführung von Anfang an stark an diesem, indem die inhaltliche Auseinandersetzung sich durch längere Vorträge statt durch das sokratische Wechselgespräch vollzieht.7 Einen weiteren Einfluss des Aristoteles stellt die Verwendung von dialogexternen Proömien dar, in denen sich der Autor an den Leser wendet.8 Wenden wir uns erneut dem zitierten Brief des Jahres 54 zu, so können wir feststellen, dass die dignitas der Sprecher ein zentrales Kriterium darstellte, um einen geeigneten römischen Rahmen zu bilden, innerhalb dessen eine theoreti2

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Zum Stil des heraklidischen Dialogs allgemein s. auch: Hirzel 1895, S. 321f.; Ruch 1958, S. 50–52; Gottschalk 1980, S. 8; Fox 2009. Wie Guérin zeigte, handelt es sich bei den sog. „heraklidischen“ Dialogen Ciceros und Varros um eine spezifisch römische Spielart, welche nur bestimmte Elemente von Heraklides’ Werken aufweist, andere, wie etwa die Verwendung mythischer Sujets, jedoch außen vorlässt: Guérin 2016, S. 67–69. Cic. ad Q. fr. 3,5 = 25 Sh. B.,2. Im selben Brief beklagt sich Cicero sehr eindringlich über den Zustand des Staates und seine eigene politische Situation: Cic. ad Q. fr. 3,5 = 25 Sh. B., 4. Vgl. Hösle 2006, S. 249. Cic. Att. 13,19 = 326 Sh. B.,4. Cic. fam. 1,9 = 20 Sh. B.,23; vgl. Hirzel 1895, S. 276f. Cic. Att. 4,16 = Sh. B. 89,2; vgl. Hösle 2006, S. 90, Anm. 40; zum aristotelischen Dialog s. auch: Flashar 2002 u. 2004.

De oratore

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sche Erörterung philosophischer Fragestellungen erst ermöglicht wird. 9 Dass Sallust sich ausdrücklich Cicero selbst als Sprecher wünscht und dabei auf seinen Rang als ehemaliger Konsul (consularis) verweist, wohl um diesem zu schmeicheln, verrät uns, dass es sich hierbei um eine sich durch das politische Amt konstituierende dignitas handelt.10 Obwohl Cicero über dieses Kriterium verfügte, verzichtet er in vier Dialogen darauf, selbst aufzutreten und spricht den Leser dieser Werke nur in den jeweiligen Proömien an. Dies stellt den Leser dieser Werke vor ein hermeneutisches Problem, da die Position des Autors nicht von diesem selbst vorgetragen wird.11 Die Autorposition offenbart sich jedoch, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, nicht nur durch die Aussagen einer einzelnen, dem Autor ähnelnden Dialogfigur, sondern auch durch das Zusammenwirken verschiedener Sprechinstanzen in bestimmten Gesprächssituationen. Zudem soll gezeigt werden, inwiefern die Dialogfiguren durch ihr Auftreten im Dialog selbst Ausdruck ciceronischen Denkens sind. Anders als in Kapitel V erfolgt die Untersuchung in diesem Kapitel chronologisch nach der Entstehungszeit der Werke und nicht nach der Chronologie der fiktiven Gesprächszeitpunkte. Die Reihenfolge ist somit De oratore, De re publica, Cato maior und Laelius statt Cato maior, De re publica, Laelius und De oratore. Dass der Beginn mit De oratore gemacht wird, sei mit Verweis auf den grundlegenden Charakter des im Gegensatz zu De re publica sehr gut erhaltenen Werkes begründet. Die Beobachtungen zu De oratore lassen sich somit bei der Untersuchung der anderen Dialoge heranziehen.

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De oratore

Das Dialogwerk Ciceros beginnt mit dem aus drei Büchern bestehenden und an seinen Bruder Quintus adressierten Dialog De oratore, der spätestens im November 55 fertiggestellt war.12 Die Entstehung fällt damit in eine Zeit, in welcher der euphorisch aus dem Exil zurückgekehrte Staatsmann seine Hoffnungen auf ein breites konservatives Bündnis gegen die Triumviri Caesar, Pompeius und 9

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Levine geht davon aus, dass römisches Philosophieren nur innerhalb eines „respectable Roman setting“ möglich war: Levine 1958, S. 146. Vgl. Dyck 1998, S. 154. Vgl. Hösle 2006, S. 15. Die Datierung erfolgt nach einem Brief aus dem November desselben Jahres, der zwar nicht genau erkennen lässt, wann genau genau die Arbeit an diesem Werk angefangen bzw. abgeschlossen wurde, doch lässt die darin geäußerte Bitte um eine Vervielfältigung (describas licet) den Schluss zu, dass sie spätestens zu diesem Zeitpunkt beendet war: Cic. Att. 4,13 = 87 Sh. B.,2; zur Datierung s. Ruch 1958, S. 106; Leeman/Pinkster 1981, S. 17–21; Fuhrmann 2005, S. 215; Bringmann 2010, S. 160. Zitate aus De oratore folgen der Ausgabe von Kumaniecki, Übersetzungen stammen, wenn nicht anders vermerkt, von Merklin.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

Crassus spätestens nach dem Treffen in Lucca begraben hatte. De oratore fällt nicht, wie die späteren philosophica, auf eine Zeit politischer Untätigkeit und eines aufgezwungenen otium, doch ohne Zweifel auf einen Lebensabschnitt, in dem er mit der eigenen politischen Situation unzufrieden war und in der Defensive verharren musste.13 Dieser persönliche Kontext spiegelt sich gleich in den ersten Sätzen des Werkes, indem der Autor an die Menschen früherer Zeit erinnert, denen es im besten Staat (in optima re publica) noch möglich war, sich nach einer erfolgreichen und verdienstvollen Karriere ohne Gefahr der Politik oder ihrer Muße zu widmen (in otio cum dignitate esse).14 Unmissverständlich präsentiert sich der Autor nicht nur als Opfer seiner Zeit, die ihn um jenen Vorzug der Alten beraubt habe, sondern auch als Staatsmann, der sich stets gegen jene Fluten gestellt habe (obiecimus eis fluctibus).15 Die eigene schriftstellerische Tätigkeit, dessen Ergebnis mit De oratore nun vorliege, habe er dabei nur in dem begrenzten Rahmen des otium erfüllen können, das ihm die Tagespolitik gelassen habe, wodurch er gleichzeitig zum Ausdruck bringt, dass das politische negotium den geistigen Interessen (studiis nostris) übergeordnet ist. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, indem er deutlich zu erkennen gibt, dass er mit dem Verfassen von De oratore der ausdrücklichen Bitte seines Bruders nachgekommen sei. 16 Dabei wird an eine Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Brüdern erinnert, welche die Thematik des Werkes antizipiert: Während Marcus eine umfassende Bildung zur Voraussetzung der Redekunst macht (eruditissimorum hominum artibus eloquentia continere statuam), würde Quintus diese von der Theorie trennen und sie lediglich auf Begabung (ingenium) und praktische Übung (exercitatio) zurückführen. Der in den drei Büchern dargelegte Dialog, in dem Ciceros rednerisches Bildungsideal durch das Ideal des orator perfectus artikuliert wird, präsentiert sich somit im Proömium als die Fortsetzung eines Gesprächs zwischen dem Autor und dem Adressaten.17

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Dass De temporibus suis und die Bestellung eines Geschichtswerkes bei Lucceius in diese Zeit fallen, zeigt sein Bemühen, sein politisches Profil durch literarische Werke zu verteidigen; vgl. Leeman/Pinkster 1981, 18. Cic. de orat. 1,1. Die Formulierung in otio cum dignitate esse erinnert unverkennbar an Ciceros programmatische Formel cum dignitate otium seiner Sestiusrede, die er im Jahre 56 nach seiner triumphalen Rückkehr aus dem Exil anstimmte. S. hierzu: Cic. Sest. 98; einen ersten Forschungsüberblick zum Verständnis des Passus liefert Christes 1988, S. 303–306; grundlegend: Fuhrmann 1960 und Ruch 1958, S. 83–85; Perelli 1990, S. 62–68; ferner: Radford 2002, S. 40f. Cic. de orat. 1,3. Ebd., 1,5. Zum Bildungsideal Ciceros s.: Schulte 1935; Barwick 1973; Pöschl 1995; Bittner 1999 u. 2001; zum Einfluss griechischer Philosophenschulen auf das ciceronische Bildungskonzept: Bees 2010; eine Kontextualisierung des von Cicero präsentierten idealen Redners hinsichtlich der politischen und sozialen Geschichte der späten Republik lieferte zuletzt Guérin, der die bis dato noch zu wenig berücksichtigten verhal-

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Mit Blick auf die politische Situation in der Entstehungszeit verwundert es nicht, dass Cicero ein dramatisches Datum wählt, das zwar fern seiner eigenen Gegenwart liegt, doch mahnende Anspielungen und Assoziationen auf diese ermöglicht: So trennen ihn 36 Jahre von dem fiktiven Gespräch, das in den feriae Latinae des Jahres 91 stattgefunden habe und von dem er über den Teilnehmer C. Aurelius Cotta erfahren habe.18 Die Kulisse des Gesprächs bildet dabei das Landgut des L. Crassus in Tusculum außerhalb der Stadt Rom. Die Wahl der ländlichen Villa als Gesprächsort, die sich frei an dem Vorbild des platonischen Phaidros orientiert, 19 stellt einen Bezug zur sich in dem Spannungsfeld von Natur und menschlicher Kultur bildenden humanitas her.20 Sie verweist zugleich auf einen Raum, in dem sich der ambivalente Einfluss der griechischhellenistischen Kultur auf die römische Nobilität besonders deutlich manifestierte und sowohl geistig – etwa durch Lektüre oder das Sammeln griechischer Plastiken – als auch materiell zeigte.21 Innerhalb dieses Raumes platziert Cicero ein dreitägiges Gespräch, an dessen erstem Tag fünf, an den folgenden beiden sechs Personen teilnehmen. Obgleich das otium der Protagonisten Crassus und Antonius durch die Erwähnung der ludi Romani einen standesgemäßen Freiraum bietet, um unpolitischen Tätigkeiten nachzugehen, liegt von Anfang an ein dunkler Schatten über dem Gespräch, indem der schwelende Konflikt zwischen dem Konsul Philippus und dem auf Seiten des Senats stehenden Volkstribunen Drusus im Übergang vom Proömium zum Dialog explizit erwähnt wird.22 Der für den Autor wichtige theoretische Diskurs über die Rhetorik wird folglich nicht in die ideale Vorzeit projiziert, welche im ersten Satz des Werkes beschworen wurde, sondern in eine Zeit innenpolitischer Spannungen, die – wie der Leser wusste – in der Katastrophe der Bundesgenossenkriege und den blutigen Auseinandersetzungen zwischen Cinna und Sulla münden sollte. Von der blutigen Folgezeit waren bis auf Q. Mucius Scaevola alle Teilnehmer persönlich betroffen. An das von Tod und Verbannung geprägte Schicksal der Einzelpersonen

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tenstheoretischen Komponenten der Konzeption herausstellt und ihr eine Schlüsselfunktion für die von Cicero angestrebte Erneuerung der res publica zuweist: Guérin 2007, bes. S. 219 u. 221–225. Cic. de orat. 1,24, 26. Zu den Unterschieden zwischen der platonischen und der ciceronischen Szenerie sei verwiesen auf: Görler 1988, S. 216–223. S. Zoll 1962, S. 99. Ciceros innere Sehnsucht nach einem humaniter vivere zu dieser Zeit kommt auch in dem Briefverkehr mit seinem Freund Marius zum Ausdruck, der aufgrund seiner schwachen Gesundheit von den Strapazen der öffentlichen Laufbahn befreit ist: Cic. fam. 7,1 = 24 Sh. B. Unter dem Eindruck der aufwendigen und kostspieligen öffentlichen Spiele des Pompeius musste eine „kontemplative Muße“ umso reizvoller erscheinen, wie auch Grimal nahelegt: Grimal 1988, S. 293. Vgl. Leeman/Pinkster 1981, S. 77. Cic. de orat. 1,24; zum Reformversuch des Drusus s.: Bringmann 2003b, S. 58f.; Blösel 2015, S. 179–183.

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sowie das Unglück des Staates erinnert Cicero explizit im dritten Buch, wodurch eine kollektive Phaidon-Stimmung erzeugt wird.23 Das Treffen des Kreises aus sieben verschiedenen Personen, die allesamt in der Politik ihrer Gegenwart involviert sind, trägt diesem Kontext Rechnung: Noch ehe die Dialoghandlung beginnt, erfährt man vom Erzähler, dass bis zum Abend ein Gespräch über die Zeitumstände und die politische Gesamtsituation (de temporibus deque universa re publica) geführt worden sei, welches den eigentlichen Grund der Zusammenkunft (ob causam venerant) bildete. 24 Der Zweck des Treffens ist somit zunächst rein politischer Natur. Cicero zeichnet bewusst das Bild eines Kollektivs römischer Politiker gleicher Gesinnung, die sich auch in ihrem otium primär um den Fortbestand der res publica bemühen.25 Aus dieser auswegslos erscheinenden Lagebesprechung heraus lässt er den theoretischen Diskurs über die eloquentia entstehen. Indem die Unterhaltung über das Studium der Redekunst als Erholung für das Gespräch des Vortags (ut ex pristino sermone relaxarentur animi omnium) erst stattfindet 26 , nachdem die politische Unterredung abgeschlossen wurde, wird erneut der Vorrang der vita activa gegenüber der vita contemplativa zum Ausdruck gebracht, mit dem der Autor sein schriftstellerisches Schaffen im Proöm gerechtfertigt hat. Betrachtet man die Darstellung der Gesprächsteilnehmer von De oratore im Brutus, mit dem Cicero eine Geschichte der Rhetorik unternimmt, so lässt sich feststellen, dass die insgesamt sieben Dialogfiguren drei verschiedene Generationen (aetates) von Rednern repräsentieren.27 Das Personengefüge verfügt somit über eine differenzierte Altersstruktur, die sich wie folgt graphisch veranschaulichen lässt: Generation I Q. Mucius Scaevola Q. Lucius Catulus

Generation II L. Licinius Crassus M. Antonius

Generation III C. Aurelius Cotta P. Sulpicius Rufus C. Iulius Caesar Strabo

Während die Kategorie der aetas im Brutus für den schematischen Aufbau bestimmend ist, spielt sie in De oratore und späteren Dialogen eine entscheidende Rolle für die Zusammensetzung des Personenkreises. Das Personengefüge lässt sich in drei unterschiedliche Altersklassen einteilen: die etwa gleichaltrigen Redner Antonius und Crassus bilden die mittlere Gruppe, Catulus und Scaevola 23 24 25 26 27

Cic. de orat. 3,1–12. Ebd., 1,26. Vgl. Becker 1938, S. 15. Cic. de orat. 1,29. Am deutlichsten wird dies bei der Beschreibung der Zeit nach 87, wenn beim Tod von Catulus, Antonius und Caesar Strabo explizit von drei Rednern aus drei Generationen (tresque […] trium aetatum oratores […] erant interfecti) spricht: Cic. Brut. 307.

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verkörpern die alte Generation, Cotta, Sulpicius und Caesar Strabo stellen die Gruppe der jungen Redner. Die mittlere Gruppe lässt sich darüber hinaus als Gruppe der beiden Hauptredner identifizieren, da Crassus und Antonius über alle drei Bücher hinweg den größten Redeanteil im Gespräch innehaben. Die jungen Gesprächsteilnehmer stehen am Anfang ihrer politischen Karriere. 28 Die sich gegenseitig ablösenden Personen Scaevola und Catulus treten einzeln auf und sind die ältesten Teilnehmer des Kreises. Im Folgenden werden die drei sich aus der Altersstruktur ergebenden Gruppierungen und die ihnen zugeordneten Einzelpersonen der Reihe nach untersucht. Auf die jeweilige Funktion der Gruppen wird im weiteren Verlauf der Arbeit ausführlicher eingegangen.

1.1

Die Hauptredner Crassus und Antonius

Die Dialogfiguren Lucius Crassus und Marcus Antonius stellen die zentralen Gestalten des Dialogs über die Redekunst dar und werden zusammen mit Q. Mucius Scaevola bereits vor Dialogbeginn exponiert. 29 Die Autorstimme der Proömien präsentiert beide als emblematische Figuren für die einleitend genannte Meinungsverschiedenheit zwischen Marcus und Quintus Cicero hinsichtlich der Voraussetzungen für einen Redner. Die Exposition des Crassus als Vertreter einer auf ars, des Antonius als einer auf natura beruhenden Redekunst übt, wie zu zeigen sein wird, einen zentralen Einfluss auf die Gestaltung der Dialogfiguren aus.30 Ihre prominente Rolle innerhalb von De oratore wird auch aus Ciceros Urteil über die historischen Persönlichkeiten im Brutus verständlich: Darin werden beide mit den Griechen Demosthenes und Hypereides gleichstellt, wodurch die lateinische Ausdruckskraft erstmals mit der griechischen gleichgezogen sei (in his primum cum Graecorum gloria Latine dicendi copiam aequatum).31 Als herausragenden Rednern der Geschichte der eloquentia Romana kommt ihnen aus der Sicht des Autors eine natürliche Autorität zu, die sie für einen Dialog über den Redner prädestiniert erscheinen lassen musste. Als zentrale Charakteristik attestiert ihnen Cicero sowohl praktische Erfahrung als auch ein fundiertes theoretisches Wissen, wodurch sie sich von griechischen Theoretikern und zeitgenössischen Rednern gleichermaßen absetzen würden. 32 Ihre Darstellung als umfassend gebildete Redner erfährt im Proömium des zweiten Buchs eine umfassende Rechtfertigung: da Antonius und Crassus selbst nach außen hin eine solche Bildung bestritten, hätten sie ein falsches Bild von sich verbreitet.33 Eben jene vorherrschende Auffassung solle durch das von Cicero gezeigte Gespräch 28 29 30 31 32 33

Vgl. Steidle 1952, S. 11. Cic. de orat. 1,24. Vgl. Dugan 2005, S. 79f. Cic. Brut. 138. Cic. de orat. 2,10f. Ebd., 2,1–7.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

widerlegt werden (ut illa opinio, quae semper fuisset, tolleretur).34 Inwiefern das Anliegen des Autors, eine Korrektur einer historischen Auffassung vorzunehmen, ernst gemeint ist oder er sich einer Ironie bedient, ist in der Forschung umstritten.35

1.1.1 L. Licinius Crassus a)

Historische Persönlichkeit

Lucius Licinius Crassus, der aus der berühmten gens der Licinii stammte, wurde im Jahr 140 geboren, so dass er zum von Cicero gewählten Zeitpunkt des Gesprächs etwa 49 Jahre alt war.36 Bereits im frühen Erwachsenenalter widmete er sich einer rednerischen Karriere, seinen ersten bedeutenden Sieg errang er im Jahr 119 in einem aufsehenerregenden Prozess gegen den Konsularen C. Papirius Carbo, der im Vorjahr den Gracchenmörder Opimius verteidigt hatte.37 Zu diesem Zeitpunkt war er bereits mit der Tochter des Q. Mucius Scaevola Augur verheiratet, so dass zwischen den beiden Gesprächspartnern in De oratore 1 eine familiäre Verbindung besteht.38 In der bald darauf folgenden heftigen Auseinandersetzung mit dem popularen Volkstribun C. Memmius vertrat er die Interessen der Optimaten.39 Seine Quaestur übte er spätestens im Jahr 109 in der Provinz Asia, wobei er nach Cicero die Zeit für einen Aufenthalt in Athen genutzt habe.40 Ein Jahr nach seinem Volkstribunat von 107 hielt er seine berühmte Rede für das Richtergesetz des amtierenden Konsuls Servilius Caepio, das vorsah, die seit den 34 35

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Cic. de orat. 2,7. Für ersteres sprachen sich aus: Kennedy 1972, S. 215; Ruch 1958, S. 192. Dagegen sehen Leeman und Pinkster hierin ein „literarisches Spiel“, da der Leser über die tatsächliche Bildung des Antonius in Kenntnis wäre: Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 187. Einen ausführlicheren Überblick liefert: Hall 1994, S. 211–213. Eine hermeneutische Schwierigkeit, die sich bei ihm, aber auch bei vielen anderen ciceronischen Dialogfiguren ergibt, besteht in der Tatsache, dass wir hinsichtlich Angaben zu seinem Leben im Wesentlichen von Ciceros Werken abhängig sind. Einen ausführlichen Überblick über die Quellen zu Crassus liefert nach wie vor: Häpke 1926, Sp. 253f. Zur Geburt s. auch: Meyer 1970, S. 24; Walde 1999, Sp. 158. ORF4 S. 240, fr. 13–14; vgl. Häpke 1926, Sp. 254–255; TLRR 30; Fantham 2004, S. 28. Cic. de orat. 1,24; 2,22; 3,68 ; 3,133 ; 3,177; Brut. 211; vgl. Häpke 1926, Sp. 255. Vgl. Fantham 2004, S. 32. Weitere wichtige Auftritte als Redner vor seinem ersten Amt stellten eine im Jahr 118 gehaltene Rede anlässlich der Gründung von Narbo Martius, die er auch schriftlich in Umlauf brachte, sowie die Verteidigung der Licinia Ende 114 oder Anfang 113 dar, s.: ORF4 S. 241–243, fr. 15–17 u. 20–21; vgl. Häpke 1926, Sp. 255–256.; Fantham 2004, S. 31f. Zur Datierung der Quaestur: Häpke 1926, Sp. 256; MRR 1, S. 546; zum Athenaufenthalt: Cic. de orat. 3,75.

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Gracchen bei den Rittern liegende Gerichtsbarkeit wieder dem Senat zu übertragen.41 Während der innenpolitisch schwierigen, durch die Ermordung des Saturninus und den Senatsnotstand geprägten Zeit um das Jahr 100 scheint sich Crassus politisch zurückgehalten zu haben.42 Die nächsten beiden Ämter lassen sich nicht genau datieren; für die kurulische Aedilität kommt ein Zeitraum zwischen 105 und 100 in Frage,43 die Praetur wird auf das Jahr 98 geschätzt.44 Das höchste Staatsamt übte er im Jahr 95 mit Q. Mucius Scaevola Pontifex aus, dem Sohn des Cousins seines Schwiegervaters.45 Die von den beiden Konsuln erlassene Lex Licinia Mucia, welche Nicht-Römer aus dem römischen Bürgerverband auswies, stellte einen Höhepunkt der innenpolitischen Auseinandersetzungen in der Bürgerrechtsfrage dar, welche in den Bundesgenossenkrieg münden sollten.46 Im Jahr 93 erhielt er nach einem Prokonsulat in Gallien die Zensur, mittels derer er im folgenden Jahr die lateinischen Rhetorikschulen in Rom schloss, welche als Bedrohung der senatorischen Macht wahrgenommen wurden.47 Für die kommenden Jahre rechnet Christ Crassus und Antonius zusammen mit M. Aemilius Scaurus und M. Livius Drusus zu einer „aristokratischen Reformgruppe“, welche die „Missstände auf dem Weg friedlicher Evolution beseitigen wollte“.48 Seine gemäßigt optimatische Gesinnung ließ ihn im Jahre 91 zu einem wichtigen Unterstützer des Livius Drusus werden, der von dem amtierenden Konsul L. Marcius Philippus attackiert wurde.49 Am 13. September, kurz vor Ausbruch des Bürgerkrieges, kam es zu seinem letzten politischen Auftritt, auf den das Proömium des dritten Buches explizit Bezug nimmt.50 Am 19. September 91 starb er, nach

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ORF4 S. 243–245, fr. 22–26; vgl. Häpke 1926, Sp. 257; Fantham 2004, S. 32f. Vgl. Fantham 2004, S. 34. So MRR 1, S. 575; dagegen für eine Zeit zwischen 105 und 103: Häpke 1926, Sp. 258. Vgl. MRR 2, S. 4; Häpke 1926, Sp. 258. Vgl. MRR 2, S. 11. Sein Mitkonsul war im selben Jahr auch sein Gegner in der sog. causa Curiana, welche seine berühmteste Rede darstellte und sich als Bezugspunkt bereits in Ciceros Frühwerk fassen lässt, s.: ORF4 S. 245–248, fr. 28–33; Cic. inv. 2,122; vgl. Fantham 2004, S. 40. Vgl. Fantham 2004, S. 36; Bringmann 2003b, S. 57. Nach Christ war jene Lex zwar vom römischen Standpunkt aus nachvollziehbar und legal, doch wurden die praktischen Auswirkung auf die Italiker nicht bedacht: „Jeder Neubürger wurde überprüft, viele verdächtigt, alle Italiker irritiert, kurzum, es wurden wegen einiger Schuldiger sämtliche Bundesgenossen beleidigt“, Christ 1979, S. 173. Vgl. Fantham 2004, S. 36f. Zur politischen und kulturgeschichtlichen Bedeutung seines Edikts s. auch: Gruen 1990, S. 179f.; Corbeill 2001, S. 272–274; Guérin 2007, S. 213. Christ 1979, S. 174. Vgl. ebd., S. 177. Cic. de orat. 3,1–6; vgl. Fantham 2004, S. 44f.

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Ciceros Zeugnis infolge einer Krankheit, die bereits sein letztes Engagement gegen Philippus beeinträchtigt habe.51 Mit Crassus wählt Cicero eine Person, die in den letzten Jahrzehnten vor dem Dialogzeitpunkt eine tragende Rolle in der Politik gespielt hatte. 52 Anders als Antonius publizierte er einzelne Reden, wodurch er versuchte, wie etwa im Fall der Koloniegründung, für seine Position zu werben.53 Hinsichtlich seiner politischen Linie lässt er sich als eher moderater Optimat einstufen, was ihn möglicherweise zu einem Vorbild für Ciceros Konzept der concordia omnium machte.54 Insgesamt kann man der historischen Persönlichkeit eine Art Vorbildfunktion für den Autor attestieren: Cicero nennt ihn und Antonius im Brutus als größte Redner ihres Zeitalters,55 erklärt jedoch, ihn sogar persönlich etwas mehr zu schätzen als Antonius, wofür er seine summa gravitas, den damit verbundenen Humor und Esprit (iunctus facietarum et urbanitatis), seine sprachliche Eleganz (Latine loquendi […] elegantia), seine Darstellungsweise (in disserendo mira explicatio) und seine Kenntnisse des Zivilrechts als Kriterien geltend macht. 56 Für seine Einschätzung konnte Cicero nicht nur auf die publizierten Reden zurückgreifen, sondern auch auf eigenen Erinnerungen als junger Zuhörer beim Caepio-Prozess, auf die er im Brutus zu sprechen kommt.57 Er betont an dieser Stelle den persönlichen Wert jener Musterrede für sein eigenes Studium der Rhetorik, woraus sich eine frühere Vorbildfunktion schließen lässt, die zu seiner Entscheidung, die Persönlichkeit des Crassus als Dialogfigur zu bestimmen, beigetragen haben dürfte. Ein weiterer Aspekt, der hierfür maßgeblich gewesen sein dürfte, liegt in der familiären Verbindung: So betont er im Proömium des zweiten Buches, dass C. Visellius Aculeo, der Gatte seiner Tante, dafür gesorgt hätte, dass die beiden Brüder bei Crassus in Unterricht gehen konnten, und er ein sehr enger Freund desselben gewesen sei (quem Crassus dilexit ex omnibus plurimum).58 Bewusst wird somit auf die Verbindung zwischen der bis dahin unbedeutenden gens Tullia und der gens Licinia aufmerksam gemacht, um bereits im Vorfeld des Dialogs auf eine Verbundenheit zwischen Autor und Dialogfigur zu verweisen.59 Im Dialog selbst wird Aculeo von der Crassus-Figur als römischer Ritter von überaus scharfem Verstand (hominem acutissimum omnium ingenio) und herausragender Kenner des ius civile bezeichnet, zu dem sie einen engen persönlichen

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Cic. de orat. 3,6. Vgl. Fantham 2004, S. 30f. Ebd., S. 32. Rawson 1971, S. 85 erkannte in ihm einen Optimaten, „who sometimes talked like a popularis and who often acted as a moderate“. Cic. Brut. 138. Ebd., 143. Ebd., 164. Cic. de orat. 2,2; vgl. Fantham 2004, S. 27. Zu Aculeo und der Verbindung der gentes s. auch: Rawson 1971, S. 83.

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Kontakt pflege (qui mecum vivit semperque vixit).60 Die enge Familienverbindung, auf die der Autor sowohl im Proömium als auch im Dialog explizit anspielt, war für die politische Prägung des jungen Cicero nicht unbedeutend, dessen zur Entstehungszeit von De oratore geführte concordia omnium-Politik auffällig an die Politik von Drusus und Crassus erinnert.61 Die vom Autor herausgestellte Nähe der beiden gentes verleiht dem Gespräch darüber hinaus eine scheinbare historische Authentizität, für die der im Proömium angesprochene Widmungsträger Quintus Cicero zu bürgen scheint.62 Hinsichtlich der Historizität der Crassusfigur steht das Maß ihrer philosophischen Bildung am stärksten im Verdacht, auf eine Idealisierung des Autors zurückzugehen. Sicher ist, dass die historische Persönlichkeit auf ihren Reisen in die Provinzen Athen passierte, worauf Einleitung und Dialog explizit anspielen.63 Zwar besteht keinen Grund, an der Historizität der Begegnungen mit griechischen Intellektuellen, welche nicht selten zu den Honoratioren der griechischen Städte zählten, zu zweifeln, doch lässt sich aus diesen Treffen und persönlichen Verbindungen nicht zwangsläufig auf ein dezidiertes Interesse an philosophischen oder rhetorischen Theorien schließen.64 Während sich diesbezügliches Wissen nicht belegen lässt, sind Ciceros Angaben zu seinen Griechischkenntnissen im Proömium des zweiten Buches zumindest bemerkenswert, wofür sich der Autor auf gemeinsame Kindheitserinnerungen mit Quintus beruft. 65 Für seine juristische und literarische Versiertheit sprechen seine familiäre Verbindung zu den Mucii und seine Freundschaft mit dem Dichter A. Licinius Archias.66 Dass er aber tatsächlich über jene dezidierten Kenntnisse auf dem Gebiet der Rhetorik verfügte, welche er in De oratore äußert, erscheint angesichts der Tatsache, dass Sulpicius und Cotta sehr überrascht sind, als sie von dem Thema des Gesprächs erfahren, unwahrscheinlich. 67 Im Zusammenhang mit der Bildung der historischen Persönlichkeit gibt Cicero selbst einen wichtigen Hinweis, der für das Auftreten der Dialogfigur entscheidend sein wird: 68 sed fuit hoc in utroque eorum, ut Crassus non tam existiman vellet non didicisse quam illa despicere et nostrorum hominum in omni genere prudentiam Graecis anteferre; […].

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Cic. de orat. 1,191. Strasburger sah darin sogar einen Vorläufer dieser: Strasburger 1956, S. 9–11; zum politischen Einfluss des Crassus auf Cicero s. Rawson 1971, S. 82f. Vgl. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 188. Cic. de orat. 1,11, 45; 2,88, 360; 3,20, 75. Vgl. Meyer 1970, S. 37f. Cic. de orat. 2,2. Vgl. Meyer 1970, S. 38. Ebd., S. 38f. Cic. de orat. 2,4.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur Indessen hatte jeder von beiden eine Eigenart: Es war der Wunsch des Crassus, nicht so sehr den Eindruck zu erwecken, nicht studiert zu haben, wie jene Studien zu verachten und das Wissen unserer Landsleute in jeder Hinsicht dem der Griechen vorzuziehen.

Der Hinweis, dass die historische Person bemüht gewesen sei, nach außen den Eindruck zu erwecken, nichts von philosophischen und rhetorischen Studien zu halten, verweist auf eine reservierte Haltung gegenüber griechischer Theorie, mit der die römische Aristokratie zunehmend in Berührung kam. Das vom Autor in den Proömien entworfene Porträt der Persönlichkeit des Crassus bildet dabei den Ansatzpunkt für die Modellierung einer Dialogfigur, mittels derer die Geburt eines lateinischen Theoriediskurses in kunstvoller Weise skizziert wird. Inwiefern das in De oratore vertretene Bildungsideal Teil dieser Modellierung ist oder zumindest in Teilen auf die historische Persönlichkeit und einstigen Lehrer des Autors zurückgeht, lässt sich aufgrund fehlender Quellen nur erahnen.69 b)

Crassus als universal gebildeter Hauptredner und Vertreter der Autorposition

Die Figur des Crassus stellt die zentrale Person innerhalb des Dialogs dar, wie nicht allein aus dem hohen Anteil im Gespräch hervorgeht, der sich vor allem im ersten und im dritten Buch zeigt. Als Gastgeber bildet Crassus das Zentrum der Konversation, deren Verlauf maßgeblich durch sein Verhalten bestimmt wird. Dass die Figur die Position des Autors hinsichtlich des universellen Anspruchs der Rhetorik teilt, 70 wird bereits unmittelbar zu Beginn des Dialogs in einem kurzen Enkomion auf die Redekunst deutlich. 71 Der von Crassus dargelegte Anspruch an den Redner stellt die Initialzündung für eine kontroverse Diskussion der Autorthese dar, auf die Scaevola sogleich mit einer deutlichen Kritik antwortet.72 Schnell wird dabei deutlich, dass die Figur nicht nur in der Wertung der Beredsamkeit, sondern auch in der Frage nach den Voraussetzungen für dieselbe mit Cicero übereinstimmt, die dieser im Proömium des zweiten Buchs

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Am ausführlichsten widmete sich Meyer dieser Frage, der dabei dem historischen Crassus die Fähigkeit abspricht, sich auf die in De oratore dargestellte Weise über den Schulstreit zwischen Philosophie und Rhetorik zu äußern: Meyer 1970, S. 32–34. Vor einer Betrachtung des Hauptredners „als bloße Projektion von Ciceros Selbstverständnis“ warnen dagegen Leeman und Pinkster mit Verweis auf das einstige LehrerSchüler-Verhältnis zwischen Cicero und Crassus: Leeman/Pinkster 1981, S. 87. Cicero legt seine eigene Position ausführlich im Proömium des ersten Buchs gegenüber seinem Bruder dar: Cic. de orat. 1,7–23. Cic. de orat. 1,30–34; zur persuasiven Gesamtanlage s. auch: Hall 1994, S. 211. Cic. de orat. 1,35–44.

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in der Beherrschung der Theorie und einer umfassenden Bildung erkennt:73 Nach dem Enkomion auf die Redekunst plädiert Crassus unisono für ebendiese umfassende Bildung eines idealen Redners, welche ihm erst die Möglichkeit gäbe, zu allen Gebieten sprechen zu können.74 Dass die Crassus-Figur über solche Voraussetzungen verfügt, zeigt sich nicht allein in ihren fachkundigen Ausführungen im ersten und dritten Buch, sondern auch darin, dass ihm von dem Gesprächspartner Scaevola eine hohe Expertise in Psychologie, Ethik, Geschichte, Staatsrecht und Zivilrecht attestiert wird (in tua prudentia sciebam inesse). 75 Hinsichtlich der Rechtskenntnisse deutet Scaevola nicht nur die eigene Beschäftigung auf diesem Gebiet an (nostro ipso iure civili), sondern verweist darüber hinaus auf Crassus’ Studium des Zivilrechts im Haus der Mucier.76 In De oratore wird die Frage nach dem Wert des Rechtsstudiums durch die Personen Crassus und Antonius thematisiert. Der auf diesem Gebiet versierte Crassus plädiert für eine intensive Beschäftigung mit dem Recht und stellt dessen Notwendigkeit heraus. 77 Sein diesbezügliches Interesse erinnert dabei an das des Autors, der selbst ab 90 bei Scaevola intensiv das Recht studierte.78 Im Kontext seiner Darlegungen fungiert die Dialogfigur Crassus nicht zuletzt als „Wortführer“ des Autors, indem er eine systematischen Darstellung des ius civile verspricht.79 Neben Geschichts- und Rechtskenntnissen zeigt die Crassus-Figur auch ein starkes philosophisches Profil, das im Verlauf des Dialogs zunehmend hervortritt und sie dem Rednerideal annähert. Auf Kenntnisse in der philosophischen Literatur lässt bereits der unmittelbare Dialogbeginn schließen, indem Scaevola ihr gegenüber auf die Szenerie des Phaidros anspielt.80 Noch deutlicher zeigt sich Crassus’ philosophische Bildung im dritten Buch. Durch den Hinweis, dass alle doctrina durch ein bestimmtes, die edlen und die dem Menschen eigenen Wissenschaften verbindendes Band zusammengehalten werden (harum ingenuarum

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Cic. de orat. 2,5: neminem eloquentia non modo sine dicendi doctrina, sed ne sine omni quidem sapientia florere umquam et praestare potuisse. – „Niemand vermochte jemals nicht nur ohne die Beherrschung der Theorie der Rede, sondern sogar ohne ein universales Wissen eine glänzende, hervorragende Rolle in der Redekunst zu spielen.“ Cic. de orat. 1,45–73. Cic. de orat. 1,165; vgl. Leeman/Pinkster 1981, S. 267. Dass der historische Redner wohl tatsächlich über ein nicht geringes juristisches Fachwissen verfügt hat, geht auch aus seiner Charakteristik im Brutus hervor (cum de iure civili […] disputetur), wo Cicero ihn als besten Redner seiner Zeit beschreibt: Cic. Brut. 143. Cic. de orat. 1,166–203. Zu Ciceros Haltung zum Recht s. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 22–29. Cic. de orat. 1,190; an das Versprechen wird Crassus im zweiten Buch von Antonius explizit erinnert: 2,142. Hirzel erkannte an dem in De legibus nicht eingelösten Versprechen einen Verweis auf das spätere Werk De legibus, in dem Cicero selbst das Versprechen einlösen sollte. Vgl. Hirzel 1895, S. 477, Anm. 3. Cic. de orat. 1,29.

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et humanarum artium uno quodam societatis vinculo contineri), zeigt sich Crassus gegenüber dem ebenfalls philosophisch gebildeten Catulus als belesen. 81 Durch die Aufzählung griechischer Bildhauer und Maler, griechischer und römischer Maler sowie Redner beider Kulturen gibt er nicht nur einen Überblick, sondern indirekt auch ein Bild seiner umfassenden Bildung in verschiedensten Wissensbereichen. 82 Sein geistesgeschichtlicher Überblick der Geschichte der sapientia, welche in früherer Zeit mit der Redekunst vereint gewesen sei, endet mit der folgenschweren Trennung beider Disziplinen.83 Als Sprecher des Autors identifiziert er Sokrates als Urheber (quorum princeps Socrates fuit) dieses Schismas: 84 is, qui, omnium eruditorum testimonio totiusque iudicio Graeciae, cum prudentia et acumine et venustate et subtilitate, tum vero eloquentia, varietate, copia quam se cumque in partem dedidisset, omnium fuit facile princeps iis, qui haec, quae nunc nos quaerimus, tractarent, agerent, docerent, cum nomine appellarentur uno, quod omnis rerum optimarum cognitio atque in iis exercitatio philosophia nominaretur, hoc commune nomen eripuit sapienterque sentiendi et ornate dicendi scientiam, re cohaerentes, disputationibus suis seperavit; cuius ingenium variosque sermones immortalitati scriptis suis Plato tradidit, cum ipse litteram Socrates nullam reliquisset. (61) hinc discidium illud extitit quasi linguae atque cordis, absurdum sane et inutile et reprehendendum, ut alii nos sapere, alii dicere docerent. Er überragte nach dem Zeugnis sämtlicher Gelehrten und dem Urteil ganz Griechenlands wohl alle sowohl an Klugheit, Scharfsinn, Liebenswürdigkeit und Gründlichkeit, wie auch an Gewandtheit, Mannigfaltigkeit und Unerschöpflichkeit des Ausdrucks, welchem Thema er sich auch zuwenden mochte. Und er entriss den Männern, die das, was wir untersuchen, betrieben, behandelten und lehrten, obwohl sie einen Namen trugen, da jegliche Erkenntnis höchster Werte und die praktische Beschäftigung mit ihnen Philosophie hieß, diesen allgemeinen Titel und trennte in seinen Unterredungen die Wissenschaft des philosophischen Erkennens von der des wirkungsvollen Ausdrucks, obwohl sie in der Sache doch zusammenhingen. Sein Genie und seine mannigfaltigen Gespräche hat Platon in seinen Schriften der Nachwelt überliefert, während Sokrates selbst nicht eine Zeile hinterlassen hatte. (61) Daher stammt jene so unsinnige, nutzlose und tadelnswerte Trennung zwischen Zunge und Gehirn, die dazu führte, dass uns die einen denken und die anderen reden lehrten.

Indem Crassus als universell gebildeter Redner die Trennung von Redekunst und Wissen moniert, artikuliert sich in seiner Figur der Anspruch des Autors, das von 81

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Cic. de orat. 3,21; der Ausspruch stammt aus Ps.-Platon epin. 991e–992a; zur Herkunft und Verwendung s. Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 134–136. Cic. de orat. 3,25–28. Ebd., 3,59f. Ebd., 3,60f.

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Sokrates verursachte discidium aufzuheben und sich innerhalb einer vorsokratischen Tradition zu verordnen.85 Die Tatsache, dass Cicero in seinem Jugendwerk De inventione die Schuld an der Spaltung von sapientia und eloquentia noch den zeitgenössischen Rednern und nicht den athenischen Philosophen gab, zeigt darüber hinaus, dass er seine frühere Auffassung inzwischen deutlich zuungunsten letzterer verändert hat.86 Der Verweis auf den Umstand, dass Sokrates selbst nichts Schriftliches hinterlassen habe (nullam […] litteram reliquisset), lässt den Autor durchschimmern, der mit Crassus eine Person auftreten lässt, die ebenfalls keine Literatur produziert hatte, und der für diesen – wie Platon für Sokrates – Erinnerungsarbeit betreibt.87 Der daran anschließende Abriss der Philosophiegeschichte, in der Crassus die Entwicklung der athenischen Philosophenschulen beschreibt, veranschaulicht die Folge der Trennung für die Gegenwart der Gesprächspartner.88 Die Behandlung der unterschiedlichen philosophischen Systeme suggeriert eine detaillierte Vertrautheit mit den jeweiligen Lehrmeinungen.89 Anders als die Hauptredner späterer Dialoge spricht er dabei nicht als Vertreter einer bestimmten philosophischen Schule, sondern gibt deren Lehren mit Blick auf eine potenzielle Eignung innerhalb der Rednerausbildung wieder, wie er einführend klarstellt (ego non quaero nunc, quae sit philosophia verissima, sed quae oratori coniuncta maxime). 90 Während er im Kontext der Suche nach dem perfectus orator das Kriterium der Wahrheitsnähe unterordnet, signalisiert er mit Blick auf die Epikureer eine grundsätzliche Toleranz, wenn sie ihre unpolitische Philosophie zurückgezogen ausüben und in ihrem eigenen Interesse nicht auf die leitenden Personen einwirken (ut illud […] tacitum tamen tamquam mysterium teneant, quod negant versari in re publica esse sapientis).91 Indem erklärt wird, dass ihre apolitische Lebensweise unter einer schlechten staatlichen Führung nicht möglich wäre, wird die Wichtigkeit der politischen Betätigung postuliert.92 Dabei bedient sich Crassus einer deutlichen Ironie (ego […] sine ulla contumelia dimittamus […] si

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Nach Hösle übersieht der Vorwurf des Crassus bzw. Ciceros an dieser Stelle, dass „die explizite Entgegensetzung beider Disziplinen eine unvermeidliche Reaktion auf die sophistische Loslösung überzeugender Rede und ihrer Theorie von dem Wahrheitsbezug“ sei, worauf die Philosophie nicht ohne Verrat an sich selbst verzichten könne, und dass bereits Platon eine „Überwindung dieser Trennung, wenn auch unter Primat der Philosophie“ angestrebt habe: Hösle 2006, S. 68f.; ähnlich: Blößner 2001, S. 10, Anm. 17. Cic. inv. 1,1; s. hierzu: Stroh 2008, S. 57. Vgl. Zoll 1962, S. 26 u. 104; Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 236. Cic. de orat. 3,61–68; vgl. Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 220–223. Vgl. Meyer 1970, S. 27. Cic. de orat. 3,64. In dieser Haltung gleicht Crassus der Cicero-Figur in De legibus: Cic. leg. 1,39. Zum Paradox der epikureischen Lebensweise s. Leemann/Pinkster/Wisse 1996, S. 247.

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est […]), die einerseits an dieser Stelle den Vortrag auflockert, andererseits eine Distanz zwischen dem Sprechenden und dem von ihm dargelegten Thema schafft.93 Diese findet sich auch in seiner Wertung der Stoiker: Zwar gibt Crassus zu, dass er diese am wenigsten missbillige (quos minime improbo), da sie als einzige die Beredsamkeit mit einer Tugend und Weisheit gleichgesetzt hätten (soli ex omnibus eloquentiam virtutem ac sapientiam esse dixerunt), doch kritisiert er deren Ideal des Weisen als zu hochgestochen sowie deren Rhetorik als ungeeignet für die Realität des Forums.94 Nachdem Kepos und Stoa somit als ungeeignet ausgeschlossen wurden, bleiben Akademie und Peripatos übrig, über deren historische Entwicklung Crassus referiert. 95 Während er einerseits seine Kritik an der Aufspaltung der Weisheit gegenüber diesen Schulen erneuert, 96 betont er zugleich, dass eine Beredsamkeit nach dem Ideal des orator perfectus nur durch das Studium von Aristoteles oder Karneades erreichbar wäre (aut vobis haec Carneadia aut illa Aristotelia vis comprehenda est).97 c)

Crassus zwischen dem Ideal des orator perfectus und Sokrates-Bezug

Das gebildete Auftreten der Crassus-Figur im ersten und dritten Buch wirft nicht nur die Frage auf, inwieweit der Sprecher als Sprachrohr des Autors gesehen werden muss,98 sondern auch jene nach dem Verhältnis der Figur zu dem von ihm proklamierten Ideal. Dabei fällt auf, dass Cicero die Dialogform dafür nutzt, um auf letztere Frage einzugehen, indem die Antonius-Figur beiläufig erklärt, dass seiner Meinung nach niemals ein Redner Crassus’ Qualität erreicht habe (tibi par mea sententia nemo umquam fuit).99 Dieser äußert zwar anschließend, von dem Ideal (absolutionem perfectionemque) weit entfernt zu sein (a qua longe absum), doch ist das Thema damit nicht aus der Welt.100 Ein ähnliches Spannungsfeld wie das zwischen Ideal und Figur finden wir in dem Verhältnis zwischen der Figur des Crassus und ihrem literarischen Vorbild, dem Sokrates aus den Dialogen Platons. Die Gemeinsamkeiten beschränken sich dabei nicht auf die durch die Szenerie aufgeworfene Phaidon-Stimmung, an die

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Zur Ironie s.: Leemann/Pinkster/Wisse 1996, S. 246f. Cic. de orat. 3,65f. Ebd., 3,67–71. Ebd., 3,69. Ebd., 3,71. S. Meyer 1970, S. 25: „In diesen Partien dürfen wir am wenigsten hoffen, den historischen Crassus vor Augen zu haben, und müssen uns bereits fragen, wie groß der Abstand seiner Bildung zu derjenigen Ciceros gewesen sein mag.“ Cic. de orat. 1,122. Ebd., 1,130.

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vor allem im Proömium des dritten Buchs erneut erinnert wird.101 In der Schilderung der dramatischen Ereignisse seiner letzten Tage wird das Schicksal des Römers zum „politischen“ Martyrium stilisiert, welches darüber hinaus an Platons Apologie erinnert.102 Crassus’ Auftreten als römischer Sokrates zeigt sich hier auch darin, dass Ciceros Ideal des Redners, welches das zentrale Thema von De oratore darstellt, sowohl im ersten als auch im dritten Buch durch ihn verkündet wird. Die Forderung umfassender Kenntnisse in allen artes sowie die Abhängigkeit wahrer Beredsamkeit von der Philosophie erscheinen dabei erst im dritten Buch aus einer historischen Perspektive.103 So wird die Forderung nach der Einheit von Denken und Reden innerhalb eines kurzen historischen Abrisses 104 laut, demzufolge die Trennung beider erst durch Sokrates erfolgt sei. 105 Die Folgen der Trennung von Philosophie und Redekunst erscheinen dort als widernatürliches discidium […] linguae atque cordis und stehen für eine Aufhebung des als natürlich empfundenen Idealzustands.106 Indem Crassus neben persönlichen auch rednerische Qualitäten, die „Gewandtheit, Mannigfaltigkeit und Unerschöpflichkeit des Ausdrucks“ (eloquentia, varietate, copia) des Sokrates herausstellt, wird das Paradoxon, dass ausgerechnet jener der Urheber der Trennung war, deutlich. 107 Die Ähnlichkeit der dem Sokrates zugeschriebenen menschlichen und rednerischen Qualitäten mit denen, welche Cicero seinem Protagonisten zuschreibt, verdeutlicht die grundsätzlichen Parallelen der beiden Dialogfiguren. Dass der römische Redner daraufhin erklärt, dass das Bild des Sokrates maßgeblich durch dessen Schüler Platon beeinflusst wurde, da jener selbst nichts geschrieben habe, verweist dabei nicht nur auf die Konstellation zwischen der Dialogfigur Sokrates und dem Dialogautor Platon, sondern darüber hinaus auf jene zwischen der Dialogfigur Crassus und dem Dialogautor Cicero.108 Indem dieser die Persönlichkeit des Crassus zum Hauptredner und Vertreter seiner eigenen Thesen macht, tritt er mit Platon in eine imitatio, die ihm in der Rezeption der Kaiserzeit den Ruf des Platonis aemulus einbrachte.109 Die Tatsache, dass die Figur einerseits in ihrem literarischen Setting der Sokrates-Figur angeglichen wird, während andererseits an diese der fundamentale Vorwurf herangetragen wird, für die Trennung von Philosophie und Redekunst 101

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Zur Phaidon-Stimmung im dritten Buch s. auch: Görler 1988, S. 228–234. Bereits Zoll hatte auf die nicht unwichtige Ähnlichkeit von Ciceros memoria in De oratore mit der römischen Praxis der laudatio funebris hingewiesen: Zoll 1962, S. 83f. Cic. de orat. 3,1–14; vgl. Wehrli 1978, S. 85; Görler 1988, S. 229. Vgl. Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 88. Cic. de orat. 3,56–73. Ebd., 3,60f. Zum Hintergrund des auf Isokrates zurückgehenden Bildes s. Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 218. Vgl. Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 234. Vgl. Zoll 1962, S. 136; Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 87. Quint. inst. 10,1,123.

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verantwortlich zu sein, offenbart den Anspruch des Werks, die Einheit wiederherzustellen. 110 Cicero lässt mit der Figur des Crassus somit einen römischen Sokrates die Forderung nach Einheit durch den Typus des philosophischen Redners stellen, der dabei sogar dem Philosophen vorzuziehen sei:111 si quaerimus quid unum excellat ex omnibus, docto oratori palma danda est; quem si patiuntur eundem esse philosophum, sublata controversia est. sin eos diiungent, hoc erunt inderiores, quod in oratore perfecto inest illorum omnis scientia, in philosophorum autem cognitione non continuo inest eloquentia; quae quandam contemnatur ab eis, necesse est tamen aliquem cumulum illorum artibus adferre videatur. Doch falls wir fragen, was allein alles überragt, gebührt die Palme dem Redner, der gebildet ist. Wenn man ihn auch zugleich als Philosoph gelten lässt, so ist der Streit behoben. Wenn man die Philosophen aber von den Rednern unterscheidet, so werden sie insofern unterlegen sein, als deren gesamtes Wissen dem idealen Redner zur Verfügung steht, die philosophische Erkenntnis aber nicht notwendig die Beredsamkeit enthält. Sie wird von ihnen zwar verachtet, doch bedeutet sie notwendig eine Krönung ihrer Disziplin.

Der doctus orator, der auf das Wissen des Philosophen zurückgreifen könne, sei demnach dem Philosophen überlegen, der die Disziplin der Redner verachte, obwohl sie die Vollendung (cumulum illorum artibus adferre) der eigenen darstelle. Das Ideal, wonach der ideale Redner die Trennung von Denken und Wort aufzulösen habe, enthält dabei einen stark protreptischen Charakter, indem es an eine jüngere Generation von Rednern herangetragen wird.112 Es spricht für den Reiz der Gesprächsgestaltung, dass die Reaktionen von Cotta, Sulpicius und Caesar Strabo nicht einheitlich, sondern geradezu ostentativ unterschiedlich ausfallen.113 d)

Crassus’ Bildungskontakt und Haltung zum griechischen Schulbetrieb

Hinsichtlich der Personengestaltung in De oratore fällt auf, dass die Einzelpersonen nicht nur über ein großes Wissen verfügen, sondern auch angedeutet wird, auf welche Weise die Redner dieses erlangt haben.114 Dabei zeigt sich ein gewisses Interesse des Autors, die Form des Bildungskontaktes zum Ausdruck zu bringen, im Falle des Crassus durch einen direkten Kontakt während eines Auf-

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Vgl. Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 90 u. 212f. Cic. de orat. 3,143. Vgl. Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 91. Cic. de orat. 3,144f. (Cotta); 3,146 (Caesar Strabo); 3,147 (Sulpicius). Im ersten Buch geschieht dies der Reihe nach erst durch Crassus, Cic. de orat. 1,45– 48, dann durch Scaevola, Cic. de orat. 1,75 und zuletzt durch Antonius, 1,82–95.

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enthalts in Athen. So beginnt Crassus seine Antwort auf Scaevolas Kritik gegen die Redekunst mit dem Bericht seiner Bildungsreise:115 audivi enim summos homines, cum quaestor ex Macedonia venissem Athenas florente Academia, ut temporibus illis ferebatur, cum eam Charamadas et Clitomachus et Aeschines obstinebat. erat etiam Metrodorus, qui cum illis una ipsum illum Carneadem diligentius audierat, hominem omnium in dicendo, ut ferebant, acerrimum et copiosissimum; vigebatque auditor Panaeti illius tui Mnesarchus et Peripatetici Critolai Diodorus. (46) multi erant praeterea clari in philosophia et nobiles, a quibus omnibus una paene voce repelli oratorem a gubernaculis civitatum, excludi ab omni doctrina rerumque maiorum scientia ac tantum in iudicia et contiunculas tamquam in aliquod pistrinum detrudi et compingi videbam. Ich habe ihre führenden Vertreter ja gehört, als ich von Makedonien als Quaestor nach Athen kam, wo die Akademie unter der Leitung eines Charmadas, Kleitomachos und Aischines, wie es damals hieß, eine Blütezeit erlebte. Da war auch Metrodor, der mit den Genannten noch Karneades persönlich eifrig hatte hören können, den Mann, der, wie es hieß, der feurigste und wortgewaltigste von allen Rednern war. In hohem Ansehen stand auch der Hörer deines großen Panaitios, Mnesarch, sowie Diodor aus der Schule des Peripatetikers Kritolaos. (46) Von ihnen abgesehen gab es noch viele glänzende, berühmte Philosophen, und sie alle suchten fast einstimmig, wie ich sah, den Redner vom Steuerruder der Staaten zurückzustoßen, ihn von jeder theoretischen Beherrschung wichtiger Gebiete auszuschließen und nur in eine Tretmühle zu verstoßen und einzusperren.

Indem er berichtet, als Quaestor nach Athen gekommen zu sein, wird deutlich, dass der Kontakt zu den griechischen Gelehrten im Rahmen der Ausübung der römischen Herrschaft stattfand. Da er dort die führenden Vertreter von Akademie, Stoa und Peripatos selbst gehört habe (audivi enim summos homines), wirkt sein Bericht vom Streit zwischen Philosophen- und Rhetorenschulen als autobiographische Notiz.116 Sein Aufenthalt erinnert dadurch eher an eine Studienreise, die tatsächlich erst die jungen Römer der Generation des Autors und des Widmungsträgers praktizierten.117 Während der junge Cicero jedoch die Reise nach Athen hauptsächlich aus dem Grund auf sich genommen hatte, sich von griechischen Gelehrten rhetorisch schulen zu lassen, erscheint Crassus’ Begegnung den Zeitumständen geschuldet.118

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Cic. de orat. 1,45f. Vgl. Leeman/Pinkster 1981, S. 135. Vgl. ebd., S. 137. Vgl. ebd., S. 137; ferner: Hirzel 1895, S. 480.

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Die Rhetorenkritik der athenischen Philosophen, der sich die Scaevola-Figur darauf bedienen wird, wird von Crassus entschieden abgelehnt, der als den Urheber dieses Streits Platon ausmacht:119 sed ego neque illis adsentiebar neque harum disputationum inventori et principi longe omnium in dicendo gravissimo et eloquentissimo Platoni, cuius tum Athenis cum Charmada dilligentius legi Gorgiam; quo in libro in hoc maxime admirabar Platonem, quod mihi in oratoribus inridendis ipse esse orator summus videbatur. verbi enim controversia iam diu torquet Graeculos homines contentionis cupidiores quam veritatis. Ich stimme freilich weder ihnen zu noch dem Erfinder und Urheber dieser Auseinandersetzungen, dem weitaus wirkungsvollsten und gewandtesten aller Redner, Platon; seinen ‚Gorgias‘ habe ich damals in Athen gemeinsam mit Charmadas recht aufmerksam gelesen, und ich bewunderte Platon bei diesem Buch besonders darin, dass er sich – so schien es mir – mit seinem Spott über die Redner selbst als ein Meister der Beredsamkeit erwies. Wortklauberei ist ja schon lange eine Sucht der Griechen, denen mehr am Streit als an der Wahrheit liegt.

Der Kontakt des Römers Crassus mit griechischer Philosophie wird von diesem anschaulich dargestellt. Seine sorgfältige Lektüre (diligentius legi) des Gorgias mündet nicht in einer unkritischen Adaptation, sondern im Erkennen des performativen Widerspruchs, dass ein „Meister der Beredsamkeit“ (ipse esse orator summus) die Redner verspotte (inridendis). 120 Als Römer des späten zweiten Jahrhunderts gehört Crassus zwar nicht mehr zu denen, die, wie etwa der als Hörer der Philosophengesandtschaft dargestellte Scaevola, als erste mit Philosophen in Verbindung traten, dennoch befindet er sich noch in einem frühen Stadium eines kulturellen Transferprozesses. Mit Charmadas lernt er dabei einen Schüler des damals schon verstorbenen Karneades kennen, der als Philosoph die Rhetorik bekämpfte.121 Sein abschätziger Seitenhieb auf die Graeculos homines zeigt seine ambivalente Haltung, die dieser Kontakt evozierte.122 Jene abschätzige Haltung gegenüber den zeitgenössischen Griechen, welche generell das Verhalten der Dialogfigur Crassus in De oratore kennzeichnet,123 passt sich der im Proömium des zweiten Buchs dargestellten Charakteristik der historischen Persönlichkeit an, welche zwar Griechisch wie seine Muttersprache beherrschte, jedoch nach außen hin den Eindruck erwecken wollte, sich niemals mit griechischen Studien beschäftigt zu haben, diese sogar zu verachten und stets den Landsleuten den Vorrang gegenüber den Griechen zu geben (existimari vellet non didicisse quam illa despicere et nostrorum hominum in omni genere 119 120 121 122 123

Cic. de orat. 1,47. Zum Charakter dieses performativen Widerspruchs s. Hösle 2006, S. 67f. Vgl. Leeman/Pinkster 1981, S. 138. Vgl. ebd., S. 141. S. auch: Cic. de orat. 1,105; 2,19, 77; 3,93, 131.

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prudentiam Graecis anteferre).124 Unabhängig von der Frage nach der Historizität jener Charakteristika fällt auf, dass der Autor sich bemüht, jene Haltung durch die Figur im Dialog zu inszenieren. Dies lässt sich unmittelbar zu Gesprächsbeginn des zweiten Buchs feststellen, der für das Verständnis jener Haltung aufschlussreich ist: Nach dem überraschenden Erscheinen der beiden neuen Dialogfiguren Caesar Strabo und Catulus äußert ersterer die Befürchtung, dass ihr Besuch dem Gastgeber ineptus erscheinen könnte.125 Jener beruhigt Caesar Strabo, indem er den Begriff zunächst selbst genauer als Sitte definiert, über unnötige Dinge, zu lang oder ohne Rücksicht auf Rang und Interesse (vel dignitatis vel commodi) der Zuhörer zu sprechen126, und darauf folgendes Beispiel wählt:127 hoc vitio cumulata est eruditissima illa Graecorum natio. itaque quod vim huius mali Graeci non vident, ne nomen quidem ei vitio imposuerunt. ut enim quaeras omnia, quomodo Graeci ineptum appellent, non repieres. omnium autem ineptiarum quae, sunt innumerabiles, haud sciam an nulla sit maior quam, ut illi solent, quocumque in loco quoscumque inter homines visum est, de rebus aut difficillimis aut non necessariis argutissime disputare. hoc nos ab istis adulescentibus facere inviti et recusantes heri coacti sumus. Besonders ausgeprägt ist dieser Fehler bei dem so gelehrten Volk der Griechen, und weil die Griechen die Bedeutung dieses Übels nicht erkennen, haben sie ihm auch nicht einmal einen Namen beigelegt. Denn mag man alles untersuchen, einen griechischen Ausdruck für Unfug wird man nicht entdecken. Von sämtlichen Spielarten des Unfugs – und sie sind nicht zu zählen – ist aber schwerlich eine schlimmer als die, die bei ihnen üblich ist, an jeder Stelle und in jedem Kreise, wo es ihnen passt, über besonders knifflige oder unwesentliche Fragen überaus geistreich zu diskutieren. Das ist es, wozu ich mich gestern gegen meinen Willen und voll Widerstreben von diesen jungen Leuten zwingen ließ.

Crassus’ Kritik gegenüber den Griechen zeigt seine dezidiert römische Sozialisation, indem er ihnen als Pragmatiker vorwirft, sich geistreich mit schweren, aber völlig unnötigen Fragen auseinanderzusetzen (de rebus aut difficillimis aut non necessariis argutissime disputare). Die Rücksicht auf dignitas und commodum erscheint dabei als zentrale Gesprächstugend, der die eruditissima illa Graecorum natio nicht gerecht würde, da dort das argumentisse disputare den Ton bestimme. 128 Während einerseits ein Bewusstsein der Dialogfigur für die wissenschaftliche Überlegenheit des griechischen Raums (eruditissima) gegen124 125 126 127 128

Cic. de orat. 2,4. Ebd., 2,16. Ebd., 2,17. Ebd., 2,18. Zu der Doppeldeutigkeit des Begriffs argutissime und seiner Interpretation als Verletzung des decorum s. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 212.

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über Rom deutlich wird, wird diesem zugleich Taktlosigkeit und Theorielastigkeit vorgeworfen.129 Dieses gespaltene Verhältnis des Crassus prägt maßgeblich den Gesprächsverlauf von De oratore. Angesichts des Drängens von Scaevola, Cotta und Sulpicius, er solle einen Vortrag über die Rhetorik halten, versucht er sich zunächst herauszureden, indem er erklärt, dass er nicht über das notwendige Wissen für einen solchen Vortrag verfügen würde.130 Auf Sulpicius’ Bitte, darüber zu sprechen, ob es ein System der Redekunst gäbe (existimes artem aliquam esse dicendi), zeigt er sich besonders abschätzig: 131 Quid? mihi nunc vos, inquit Crassus, tamquam alicui Graeculo otioso et loquaci et fortasse docto atqe erudito quaestiunculam, de qua meo arbitratu loquar, ponitis? quando enim me ista curasse aut cogitasse arbitramini et non semper inrisisse potius eorum hominum impudentiam, qui cum in schola adsedissent ex magna hominum frequentia dicere iuberent si quis quid quaeret? „Wie?“ antwortete Crassus, „legt ihr mir jetzt wie irgendeinem windigen Griechen, der viel Zeit hat und gerne redet, vielleicht auch gelehrt und gebildet ist, eine belanglose Frage vor, über die ich nach Belieben reden soll? Wann, glaubt ihr denn, hätte ich mein Augenmerk und meine Gedanken auf so etwas gerichtet, statt mich immer über die Unverschämtheit der Leute lustig zu machen, die, wenn sie in einem Auditorium auftraten, vor einer großen Menschenmenge dazu aufforderten, sich zu melden, wenn jemand etwas wisse?“

Nachdem er sich mit seinem wenig glaubwürdigen Hinweis auf sein fehlendes Wissen nicht den Bitten entziehen konnte, signalisiert Crassus, dass er als Römer den geforderten Lehrvortrag nicht leisten könne.132 In der Ablehnung zeigt sich dabei eine einfache Aufgabenzuweisung, wonach es Sache der Graeculi sei, sich um theoretische Fragestellungen zu kümmern, nicht aber Sache eines römischen Politikers und Redners. Bei den Schilderungen jener griechischen Wissenskultur spricht die Dialogfigur, die selbst in Athen mit dieser in Kontakt geraten war, offenbar aus eigener Erfahrung. Aufgrund dieser Negativerfahrung legt Crassus eine Scheu an den Tag, durch einen grundlegenden Vortrag über die ars rhetorica gegenüber seinen Gesprächspartnern als Graeculus und damit ineptus zu erscheinen, woraus ein sich über Buch 1 und 2 ziehendes Zögern resultiert.133 Seine Abneigung gegenüber Philosophie- und Rhetoriklehrern, denen er „Unverschämtheit“ (impudentiam) unterstellt, richtet sich darüber hinaus auch gegen einen generell als verschult dargestellten Lehrbetrieb der Griechen.134 129 130 131 132 133 134

Zum Vorwurf der Unangemessenheit (ineptus) s. ferner Christes 1975, S. 159. Cic. de orat. 1,99. Ebd., 1,102. Vgl. Leeman/Pinkster 1981, S. 190. S. hierzu: Müller 2011, S. 42f. Vgl. Christes 1975, S. 159.

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Crassus im Kontext der Bildungsszenerie und Gesprächsethik

Zu diesem von der römischen Aristokratie als ineptus empfundenen Lehrbetrieb scheint das ciceronische Personengefüge eine Art Gegenentwurf zu bilden, der sich von dem griechischen Lehrbetrieb bewusst abzusetzen versucht, indem die dignitas der älteren Gesprächspartner gewahrt bleibt und die den Griechen vorgeworfene loquacitas keinen Platz hat. Dass es sich jedoch auch bei diesem Kollektiv um ein didaktisches handelt, wird durch das Wort des greisen Scaevola deutlich, der Crassus schließlich zu einem teilweisen Einlenken bewegen kann, indem er ihn an seine Verantwortung gegenüber den anwesenden jungen Gesprächsteilnehmern erinnert (gerendus est tibi mos adulescentibus), welche nicht nach der alltäglichen Geschwätzigkeit irgendeines Griechen oder dem praxisfernen Singsang der Schulen verlangen (non Graeci alicuius cotidianam loquacitatem sine usu neque es scholis cantilenam requirunt), sondern nach der Expertise eines eloquenten und an der Praxis geschulten Redners, den sie nacheifern können (cuius vestigia persequi cupiunt). 135 Crassus’ vorangegangener Vorschlag, dass man doch den griechischen Philosophen Staseas aus der Villa des Piso holen könnte, 136 wird von Scaevola mit Verweis auf den spezifischen Wunsch der adulescentes und durch einen Appell an seine humanitas pariert.137 Die Erfüllung des humanitas-Ideals findet in De oratore – wie Zoll herausstellt – vor allem dadurch statt, dass die Hauptredner ihrer erzieherischen Aufgabe gegenüber den jungen Nachwuchsrednern nachkommen.138 Das Verhältnis zwischen Crassus und den jüngeren Gesprächspartnern Cotta und Sulpicius erinnert dabei nicht zufällig an ein Lehrer-Schüler-Verhältnis. Für den schon erfahrenen Redner und Konsular bringt die Anwesenheit der adulescentes die Aufgabe mit sich, sie bei ihrer Entscheidung, Redner zu werden, zu bestätigen und ihnen sein Wissen zur Verfügung zu stellen. Sulpicius und Cotta nehmen allerdings nicht den Rang gewöhnlicher Rhetorikschüler ein, sondern verfügen bereits über ein außergewöhnliches Maß an Begabung (egregiam quandam ac praeclaram indolem), welches Crassus erkennt (cognovi), der darauf erklärt, sie durch seine Rede nicht abschrecken, sondern weiter anspornen zu wollen (ad vos […] exacuendos accommodavi orationem meam). 139 Diese hatten zuvor auf die Beschreibung des Ideals reserviert mit der Frage reagiert, ob sie sich dem bürgerlichen Recht oder dem Kriegswesen zuwenden sollten, worin eine zu erwartende Reaktion des Lesers zum Ausdruck kommt. 140 Indem die Crassus-Figur in einer einem Mentor ähnlichen Rolle die persönlichen Talente des Sulpicius herausstellt, artikuliert sich hierin nicht zuletzt der Anspruch von 135 136 137 138 139 140

Cic. de orat. 1,105. Ebd., 1,104. Vgl. Leeman/Pinkster 1981, S. 201. Zoll 1962, S. 129f. Cic. de orat. 1,131. Ebd.; zur didaktischen Situation s. auch: Leeman/Pinkster 1981, S. 214.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

Ciceros Bildungsprogramm, das sich an bereits fortgeschrittene Redner wendet.141 Der Dialog greift in dieser Lehrer-Schüler-Konstellation auf eine imitatio der historischen Persönlichkeiten Sulpicius und Cotta zurück, von denen ersterer Crassus, zweiterer Antonius nachgeeifert haben soll, wie im Brutus berichtet wird.142 Eine deutliche Anspielung auf jenes Verhältnis lässt sich auch aus Sulpicius’ Wortmeldung entnehmen, zwar um beide Hauptredner bemüht (studio utriusque vestrum), für Crassus jedoch mit „Liebe erfüllt“ (incesus […] amore) zu sein.143 Auf jene an ein Lehrer-Schüler-Verhältnis erinnernde Konstellation zwischen ihm und Sulpicius scheint auch ein Wechselgespräch im dritten Buch hinzuweisen.144 Nachdem Crassus seinen Schützling wegen seiner Aussprache gerügt hat, reagiert dieser betont gelassen (hic cum adrisisset ipse Sulpicius).145 Anschließend erklärt Crassus aufgrund der ihm von Antonius nachgesagten Ähnlichkeit mit ihm (mihi te simillimum dixit sibi videri) einen Vorbehalt, ihn zu kritisieren (te reprehendere). 146 Da Sulpicius’ Mängel in der Aussprache auf Crassus selbst zurückgehen, bleibt es bei der Ermahnung, die möglicherweise Ciceros Sorgen um seine eigene latinitas zum Ausdruck bringt.147 Das „Zulächeln“ des Sulpicius und die Selbstironie des Crassus verweisen dabei auf die humorvolle Haltung der Figuren sowie die lockere Form des Gesprächs.148 Dass der Humor des Hauptredners, auf den im Folgenden noch eingegangen werden wird, im Kontext einer didaktischen Situation erscheint, verleiht der Lehrerrolle, die ihm angetragen wurde, eine selbstironische Note, die mit dem römischen Selbstverständnis des Protagonisten erklärt werden kann, das ihn an anderer Stelle den verschulten Betrieb griechischer Lehrstätten kritisieren lässt. Das didaktische Gefüge von De oratore, in dem Crassus und – wie weiter unten zu zeigen sein wird – auch Antonius die Rolle der Wissensvermittler einnehmen, bildet dabei einen adäquaten Rahmen für die Forderung des Autors an die Leserschaft, sich um universelle Bildung zugunsten der eigenen rhetorischen Fähigkeiten zu bemühen. Besonders deutlich zeigt sich dieser Aspekt am Ende des Enkomions auf die Redekunst:149 sic enim statuo, perfecti oratoris moderatione et sapientia non solum ipsius dignitatem sed et privatorum plurimorum et universae rei publicae salutem maxime

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Cic. de orat. 1,131f. Cic. Brut. 203f.; Eine noch dezidiertere Referenz hierauf findet sich zu Beginn des zweiten Buches, als die jeweiligen Schüler mit ihren Lehrern zusammen sind: Cic. de orat. 2,12; vgl. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 206. Cic. de orat. 1,97. Cic. de orat. 3,46f. Ebd., 3,46. Ebd., 3,47. Vgl. Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 181. Vgl. Zoll 1962, S. 107f. Cic. de orat. 1,34.

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contineri. quam ob rem pergite ut facitis, adulescentes, atque in id studium utilitati et rei publicae emolumento esse possitis. Ich stehe nämlich auf dem Standpunkt, dass sich auf das Walten und die Klugheit des wahren Redners nicht nur ein eigener Rang, sondern auch das Wohl der meisten Privatpersonen und des gesamten Staats gründet. Setzt darum fort, ihr jungen Leute, was ihr tut, und konzentriert euch auf das Studium, in dem ihr steht, damit ihr etwas sein könnt, was euch Ehre, den Freunden Nutzen und dem Staate Vorteil bringt.

Das Idealbild des wahren Redners (perfecti oratoris) wird in einen engen Zusammenhang mit dem Wohl der Staates gesetzt. 150 Die Aufforderung an die junge Generation (pergite ut facitis, adulescentes), sich auf das Studium zu konzentrieren, transzendiert die didaktische Absicht des Autors in die literarische Welt des Vergangenheitsdialogs. Dass die Dialogfigur Crassus zum Einsatz für das Gemeinwohl aufruft, verleiht dem Appell einen Charakter, der durch eine Dialogfigur Cicero nicht möglich wäre: Vor dem Hintergrund des anstehenden Todes des Crassus und des bevorstehenden Unheils für das Gemeinwesen in der Zeit zwischen dem Bundesgenossenkrieg und der sullanischen Restauration, welche den zeitgenössischen Leser noch gut im Gedächtnis waren, wird die Dringlichkeit des Anliegens noch deutlicher. Darüber hinaus verringert die Indirektheit der Dialogsituation, dass der für den Leser zeitlos wirkende Aufruf zum politischen Engagement aus dem Mund des Crassus und im Jahr 91 erfolgt, für den Autor im Jahr 55 die Gefahr einer möglichen Kompromittierung. In engem Zusammenhang mit der Bildungsszenerie und Crassus’ Rolle als Lehrer steht sein dezidiert humanes Auftreten. Die humanitas erscheint als das zentrale Wesensmerkmal seiner Persönlichkeit, das gemeinsam mit seiner iucunditas und seinem lepos bereits für die Konstituierung des Gesprächs von entscheidender Bedeutung ist, da sie die getrübte Stimmung des angedeuteten vorherigen Gesprächs gelöst habe (tantam in Crasso humanitatem fuisse, ut […] tolleretur omnis illa superioris tristitia sermonis). 151 Erst die Vorzüge seines Charakters ermöglichen einen Übergang von der als drückend empfundenen politischen Lagebesprechung in das freie, dem otium gewidmete Gespräch, indem sie die notwendige Voraussetzung für dieses schafft. 152 Der für das Ge-

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Vgl. Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 88. Cic. de orat. 1,27. Der Begriff bezeichnet hier neben der „menschlichen Natur“ sowohl die „verfeinerte menschliche Bildung“ als auch die „verfeinerten sozialen Umgangsformen“, als deren Musterbeispiel Crassus auftritt. Anders als der griechische Begriff der παιδεία verweist humanitas zu Ciceros Zeit somit nicht mehr auf die menschliche Ambivalenz, welche auch negative charakterliche Eigenschaften beinhalten würde. Zur Bedeutung und Verwendung im Gesamtwerk s.: Leeman/Pinkster 1981, S. 81; ferner: Heuer 1941, S. 8–12; Wehrli 1978, S. 78–84. Zur Rolle der humanitas als Form der Selbstbeherrschung s. Wehrli 1978, S. 85.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

sprächsklima essentielle Charakter wird erneut im Dialog durch Crassus selbst deutlich, indem er den sermo facetus als die für otium und humanitas angemessenste Form des Zusammenseins proklamiert (quid esse potest in otio aut iucundius aut magis proprium humanitatis quam sermo facetus ac nulla in re rudis?), 153 wodurch er als Sprachrohr für den Autor fungiert, der den Dialog durch seine Figur als literarisch adäquate Form rechtfertigt.154 Die Wirkung und Bedeutung der humanitas für das Gespräch zeigt sich besonders dadurch, dass Crassus zunehmend von seiner Verweigerungshaltung Abstand nimmt und den von seinen Gästen geforderten Vortrag leistet. 155 Sie steht dabei der den Griechen vorgeworfenen loquacitas kontrastiv gegenüber und trägt dazu bei, Hochmut und Unhöflichkeit zu vermeiden.156 Aus dialogtechnischer Sicht fordert sie die für Cicero charakteristische Symmetrie innerhalb des Personengefüges. 157 Die offenkundige Überlegenheit des Hauptredners wird durch dessen Liebenswürdigkeit nie zu einem Objekt der Missgunst. Während er zu Beginn des dritten Buchs die unterschiedlichen rednerischen Stile seiner Gesprächspartner vorstellt und lobt158, stellt er sich ostentativ auf eine Stufe mit Antonius und nicht über ihn, wodurch ein hierarchisches Gleichgewicht beider Figuren erzeugt wird und das Gespräch selbst als „symmetrisch“ gelten kann.159 Ein weiteres individuelles Charakteristikum der Figur stellt ihr Humor dar. Dass hierbei auf einen Wesenszug der historischen Persönlichkeit rekurriert wird, suggeriert Antonius’ Erinnerung an Crassus’ „geistvollen und geschliffenen Witz und Humor“ (sale tuo et lepore et poltissimis facetiis) in der causa Curiana, in der er sich mit jenen Waffen gegen den Rechtsgelehrten Scaevola durchgesetzt habe.160 Cicero lässt Caesar im Vorfeld seines Vortrags über den Witz Verwunderung darüber äußern, dass er nicht auch in diesem Bereich „Crassus die Siegespalme zuerkannt“ habe (palmam […] Crasso detulisse).161 Antonius’ Eingeständnis, dass er aufgrund des hervorragenden Charakters von Crassus’ Humor leicht neidisch gewesen sei, stellt die Frage in den Raum, warum statt Caesar nicht jener einen Vortrag über den Humor hält.162 Von dem Gespräch amüsiert 153

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Cic. de orat. 1,32. Nach Zoll erscheint dabei der Begriff humanitas an dieser Stelle in seiner „umfassendsten und programmatischen Bedeutung“, indem sie sowohl auf die „gesellige Menschlichkeit“ als auch auf Ciceros „Bildungs- und Menschenideal“ hindeute: Zoll 1962, S. 130. Vgl. Zoll 1962, S. 130. So Cic. de orat. 1,99 u. 1,106; s. Leeman/Pinkster 1981, S. 190. Vgl. Wehrli 1978, S. 84. Die Symmetrie trägt nach Hösle dazu bei, dass der ciceronische Dialog anders als der platonische sich als ein „Dialog unter Gleichen“ präsentiere: Hösle 2006, S. 100. Cic. de orat. 3,29–34. Cic. de orat. 3,32–34.; vgl. Hösle 2006, S. 99 u. S. 297. Cic. de orat. 1,243. Ebd., 2,227. Ebd., 2,228.

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(cum adrisisset ipse Crassus)163 ermutigt Crassus daraufhin Caesar, den Vortrag zu beginnen, auch wenn es sich bei dem lepor nicht um eine ars handeln sollte, da die observatio schon genüge. 164 Hierbei nimmt er gegenüber Caesar eine ähnliche Rolle ein wie Scaevola ihm gegenüber im ersten Buch.165 f)

Crassus als an der römischen Praxis geschulter Redner

Trotz der fachkundigen Ausführungen zur ars rhetorica, die umfassende Kenntnisse in der griechischen Rhetoriktheorie voraussetzen, bemüht sich der Autor, die Figur des Crassus als Rednerpersönlichkeit zu zeigen, die weniger durch theoretische Studien als vielmehr durch praktische Erfahrung geschult wurde. Besonders deutlich zeigt sich dieser Aspekt an folgendem Passus aus dem dritten Buch: 166 Quae cum ita sint, paululum equidem de me deprecabor et petam a vobis, ut ea, quae dicam, non de memet ipso, sed de oratore dicere putetis. ego enim sum is, qui cum summo studio patris in pueritia doctus essem et in forum ingenii tantum quantum ipse sentio, non tantum, quantum [ipse] forsitan vobis videar, detulissem, non possim dicere me haec, quae nunc complector, perinde ut dicam discenda esse, didicisse, quippe qui omnium maturrime ad publicas causas accesserim annosque natus unum et viginti nobilissimum hominem et eloquentissimum in iudicium vocarim; cui disciplina fuerit forum, magister usus et leges et instituta populi Romani mosque maiorum. Unter diesen Umständen muss ich ein wenig um Verständnis für mich bitten und euch ersuchen, meine Worte nicht auf mich selbst, sondern nur auf den Redner schlechthin zu beziehen. Obwohl ich nämlich dank dem außerordentlichen Eifer meines Vaters in jungen Jahren Unterricht erhielt und so viel an Talent, wie ich selbst merke, nicht wie ihr vielleicht vermutet, mit auf das Forum brachte, kann ich nicht behaupten, das, was nun mein Programm umfasst, so intensiv studiert zu haben, wie es nach meinen Worten zu studieren wäre. Denn schon zum allerfrühsten Zeitpunkt bin ich in Strafprozessen aufgetreten, und im Alter von einundzwanzig Jahren brachte ich den vornehmsten und beredtesten Mann vor Gericht. So war das Forum meine Schule, die praktische Erfahrung, die Gesetze, die Einrichtungen des römischen Volkes und die Sitte der Vorfahren waren meine Lehrer.

Während Crassus von Cicero einerseits als Verkünder des Ideals der Verbindung von Rhetorik und Philosophie dargestellt wird, äußert er andererseits deutlich,

163 164 165 166

Cic. de orat. 2,229. Ebd., 2,232f. Vgl. Leeman/Pinkster/Rabbie 1989, S. 233. Cic. de orat. 3,74.

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dass er dabei nicht von sich selbst sprechen würde.167 Dagegen wird seine praktische Bildung durch seine Anwaltstätigkeit betont, indem das römische Forum, die Gesetze und der mos maiorum als Gegenentwurf zum Schulbetrieb angeführt werden, wodurch erneut sein römisches Profil sichtbar wird. Indem er darauf hinweist, dass er selbst dem Anspruch nicht gerecht werde, zeigt sich die Kontextualisierung des Ideals in der römischen Gesellschaft, bei der auf die Ansprüche der römischen Praxis verwiesen wird. 168 Gegenüber seiner pragmatischrömischen Ausbildung betont er seine Dankbarkeit, wodurch deren Rolle bestätigt und die eigentliche Konkurrenz zum griechischen Unterricht abgemildert wird.169 Als Römer hat Crassus darüber hinaus die Funktion inne, bestimmte Wissensgebiete mit Blick auf ihren praktischen Nutzen für den Redner zu evaluieren.170 Die Diskussion der Philosophenschulen offenbart dahingehend nicht nur Wissen und Expertise auf diesen Gebieten, sondern wird auch für klare Empfehlungen bzw. Warnungen genutzt. 171 Ein generell nur den Wissenschaften gewidmeter Lebensentwurf wird mit den exempla der Philosophen Pythagoras, Demokrit und Anaxagoras abgelehnt, welche sich von der staatlichen Verantwortung ganz in die Welterkenntnis zurückgezogen hätten (a regendis civitatibus totos se ad cognitionem rerum transtulerunt). 172 Als Negativbeispiele hätten sie im Gegensatz zu Lykurg, Pittakos und Solon oder zu den Römern Coruncanius, Fabricius, Cato und Scipio ihre prudentia allein der Wissenschaft und nicht dem Staat zur Verfügung gestellt.173 Der römische Charakter der Hauptfigur zeigt sich neben der Betonung ihres praktischen Bildungsweges und ihrer humanitas auch in der zeitlichen Kontextualisierung der disputatio, welche selbst zum Gesprächsgegenstand wird. 174 So wird das otium, welches das Treffen in Crassus’ Landhaus erst ermöglicht, von jenem selbst zu Beginn des zweiten Buches thematisiert.175 Nachdem Catulus die Eignung von Ort und Zeit für eine disputatio herausgestellt hat176, antwortet ihm Crassus: 177 167 168 169

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S. auch: Cic. de orat. 1,78; 3,85–90, 143; vgl. Häpke 1926, Sp. 253. Vgl. Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 89. Wehrli weist zu Recht darauf hin, dass Crassus durch die Versicherung, das Beste der römischen Ausbildung zu verdanken, zum „Träger seiner sittlichen Werte“ werde: Wehrli 1978, S. 88f. Vgl. Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 88. Cic. de orat. 3,63–68. Ebd., 3,56. Zu den als Theoretiker charaktisierten Philosophen Pythagoras, Demokrit und Anaxagoras s. auch: Cic. Tusc. 5,66; vgl. Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 225. Cic. de orat. 2,12–28. Vgl. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 202. Cic. de orat. 2,19f. Ebd., 2,22.

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otium autem quod dicis esse, adsentior; verum otii fructus est non contentio animi sed relaxatio. saepe ex socero meo audivi, cum is diceret socerum suum Laelium semper fere cum Scipione solitum rusticari eosque incredibiliter repuerascere esse solitos, cum rus ex urbe tamquam e vinclis evolavissent. non audeo dicere de talibus viris, sed tamen ita solet narrare Scaevola conchas eos et umbilicos ad Caietam et ad Laurentum legere consuesse et ad omnem animi remissionem ludumque descendere. Was aber deine Worte über unsere Muße angeht, stimme ich dir zu. Jedoch die Frucht der Muße ist nicht geistige Anspannung. Ich habe meinen Schwiegervater häufig sagen hören, sein Schwiegervater Laelius habe sich oft und fast immer in Begleitung Scipios auf dem Lande aufgehalten, und es sei nicht zu glauben, wie sie da gewöhnlich, wenn sie aus der Stadt wie aus der Haft entflohen waren, wieder Kinder wurden. Ich wage es von solchen Männern nicht zu sagen, und doch pflegt es Scaevola so zu erzählen: Sie hätten bei Caieta und Laurentum Muscheln und Meerschnecken aufgesammelt und sich zu jeder Ausgelassenheit und Spielerei verstanden.

Crassus kontrastiert die Zusammenkunft in seinem Haus mit der früheren Begegnung der beiden maiores Scipio und Laelius. Es schwingt ein leichter Hauch von Ironie mit (non audeo dicere), als er deren Ausgelassenheit beschreibt, die mit ihrer Autorität (talibus viribus) unvereinbar scheint.178 Für die Episode, welche möglicherweise aus einer Lucilius-Satire stammt, wird Scaevola als Gewährsmann genannt, der dadurch zum „Bindeglied“ zwischen Crassus und dem Scipionenkreis wird.179 Das sinnfreie Sammeln von Muscheln, das mit dem Beispiel der Vorfahren belegt wird, dient der Funktionsbestimmung der Ruhezeit, die mit „Ausgelassenheit und Spiel“ (ad […] animi remissionem et ludum) ausgefüllt werden müsse und nicht mit negotia, was durch eine disputatio jedoch geschehen würde.180 Die Ironie zeigt sich besonders in der Reaktion des Catulus, der Crassus antwortet, dass bereits seine disputatio gegen die disputatio „sehr angenehm“ (periucunda) gewesen sei und sich dahingehend das Kommen schon gelohnt habe.181 Der Gesprächsraum der villa suburbana zeigt sich hier als Feld, auf dem unterschiedliche kulturelle Identifikationspunkte zusammenfallen: die nicht einfach zu vereinenden Pole des mos maiorum auf der einen und des nur von den Griechen bekannten theoretischen Diskurses auf der anderen Seite werden durch den Humor und die Ironie des Crassus zusammengeführt.182 Der Blick auf Laelius und Scipio signalisiert zugleich die eigene römische Verwurzelung der Sprecher, ihre Autorität und Vorbildfunktion bleiben unangefochten. Auf 178 179 180

181 182

Zur Funktion der Ironie am Anfang des zweiten Buchs s. Leeman 1983, S. 354f. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 214f. Vgl. Leeman 1983, S. 355: „L’otium doit être consacré à la détente et nullement à d’autres sortes de negotia fatigantes.“ Cic. de orat. 2,26. Vgl. Leeman 1983, S. 355.

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dieselbe Weise betont Crassus im dritten Buch, M’. Manilius, die Dialogfigur aus De re publica, noch selbst als Redner erlebt zu haben, der damit einen weiteren Anknüpfungspunkt zum Scipionenkreis darstellt.183 g)

Crassus als Künder und Wegbereiter Ciceros?

Wenden wir uns zuletzt erneut der Relation zwischen Figur, Autor und Ideal zu, so lässt sich konstatieren, dass der Autor hinsichtlich der Frage, ob Crassus selbst dem Anspruch des idealen Redners genügt, ein Spannungsfeld erzeugt: Während die Dialogfigur wiederholt erklärt, dem Anspruch des Ideals nicht genügen zu können,184 attestieren die Gesprächspartner Crassus, dass er diesem am ehesten gerecht werden würde und ein künftiger Redner ihm ähnlich sein müsse.185 Im dritten Buch lässt der Autor den Catulus die philosophischen Studien (illa […], quae ad sapientiam spectarent) als eigentliches Fundament von Crassus’ Beredsamkeit erkennen und ihn seine Verwunderung darüber äußern, wie jener diese trotz der Beanspruchungen des Forums eingehend studieren konnte (potuisse in tantis tuis occupationibus perdiscere) oder, falls er sie nicht studiert habe, sich so äußern konnte.186 Die Verwunderung der zeitgenössischen Gesprächspartner verweist dabei nicht zuletzt auf die Leistung des Autors, dessen intellektualisierender Beitrag zur Person des Crassus hier am deutlichsten hervorsticht.187 Doch beschränkt sich die Funktion der Figur in diesem Spannungsverhältnis nicht auf die eines Empfängers für Lorbeeren, die eigentlich dem Verfasser des Dialogs zukommen. Im Kontext des römischen Aneignungsprozesses griechischer Philosophie verdeutlicht die Überraschung über den Inhalt von Crassus’ Vortrag die außergewöhnliche Neuartigkeit von Ciceros Projekt, griechische Theorie in die römische res publica zu integrieren. Die Rolle der Figur in Ciceros Kalkül zeigt sich noch deutlicher in einem Passus, der sich auf die durch ihn veranlasste Schließung der lateinischen Rhetoren bezieht: 188 quamquam non haec ita statuo atque decerno, ut desperem Latine ea, de quibus disputavimus, tradi ac perpoliri; patitur enim et lingua nostra et natura veterem illam excellentemque prudentiam Graecorum ad nostrum usum moremque transferri; sed hominibus opus est eruditis, qui adhuc in hoc quidem genere nostri nulli fuerunt; sin quando extiterint, etiam Graecis erunt anteponendi.

183 184 185 186 187

188

Cic. de orat. 3,133; zu M’. Manilius s. unten III 2.3.2. Ebd., 1,71, 78; 3,74, 83f., 90. Ebd., 1,76 (Scaevola), 95 (Antonius); 3,82, 90 (Catulus). Ebd., 3,82. Zum Aspekt der Selbsttranszendierung durch das Lob einzelner Gesprächspartner an den Hauptredner sei in diesem Zusammenhang auf die Untersuchung von Hösle verwiesen, welcher diesem Phänomen in De re publica nachgeht: Hösle 2004. Cic. de orat. 3,95.

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Wenn ich das mit Entschiedenheit behaupte, heißt das freilich nicht, dass ich an der Vermittlung und Verfeinerung unseres Gegenstandes im Lateinischen verzweifle; sowohl unsere Sprache als auch die Natur der Sache erlaubt es nämlich, jene alte, ausgezeichnete Einsicht der Griechen auf unsere Verhältnisse zu übertragen. Doch dazu braucht es Menschen, die gebildet sind, und sie hat es bis jetzt auf dem Gebiet bei uns noch nicht gegeben. Wenn sie jedoch einmal auftreten, wird man sie auch den Griechen vorzuziehen haben.

Die als ehrwürdig und herausragend beschriebene prudentia spielt dabei auf die in seiner Zeit verlorene Einheit von Theorie und Praxis an, die bei den Griechen vor Sokrates geherrscht habe.189 Indem Crassus als Symbolfigur, durch die aus Ciceros Sicht die lateinische Beredsamkeit erstmals mit der griechischen vergleichbar geworden sei,190 die Eignung der lateinischen Sprache betont, legt er eine Grundintention ciceronischen Schaffens dar, die auf die Etablierung der Philosophie in Rom und auf eine Ermutigung zu philosophischen Studien abzielt.191 Die Feststellung, wonach bisher noch niemand in ihr gebildet (eruditis […] in hoc genere) gewesen sei, verweist dabei auf eine Zukunft der Theorie in Rom, die erst durch Cicero selbst geschaffen wird.192 Mit der Figur seines ehemaligen Lehrers Crassus platziert der Autor den Beginn eines römischen Diskurses in der Vergangenheit, wodurch ihr die Rolle eines Archegeten und Wegbereiters zukommt. Die kulturgeschichtliche Perspektive des Crassus, der in seiner Gegenwart noch keinen orator perfectus beobachten kann, zeigt sich im Schlusswort in einem prophetischen Gewand,193 indem auf die Karriere seines Schwiegersohnes Hortensius verwiesen wird und die anwesenden adulescentes Cotta und Sulpicius zu Fleiß und Wachsamkeit mahnt (vigilandum ac laborandum). 194 Durch die Wendung an die jungen Redner Cotta und Sulpicius wird erneut der protreptische Charakter des Werks deutlich.195 Die römische Beredsamkeit scheint durch ihren kommenden Redner Hortensius, der über Begabung und Bildung (neque a natura neque a doctrina deesse) verfüge, weiter auf einem guten Weg. Dieser musste aus dem Blickwinkel des Lesers von De oratore weiter zum Autor Cicero führen, auf den selbst nach seinem Sieg über Hortensius im Verresprozess der Rang des ersten Redners von Rom zufiel. 196 Das prophetische Auftreten des Crassus dient dabei stets einer doppelten Funktion: Einerseits verweist sie auf

189 190 191 192 193 194 195 196

Vgl. Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 313. Cic. Brut. 138; vgl. Steidle 1952, S. 37. Cic. Tusc. 1,1–8; bzgl. römischer Kritiker der lateinischen Sprache s. Cic. fin. 1,4. Vgl. Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 314. Zum prophetischen Charakter der Crassus-Figur s. auch: Meyer 1970, S. 42. Cic. de orat. 3,229f. Vgl. Wisse/Winterbottom/Fantham 2008, S. 383. Vgl. Hösle 2006, S. 97, Anm. 59; Zoll 1962, S. 86; in der jüngeren Forschung auch: Dugan 2005, S. 170f.

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den Autor selbst, andererseits soll sie die Zeitgenossen zum Studium anspornen, um die verlorene Einheit von res und verba wiederherzustellen und die militärisch besiegten Graeculi auch in jenem Gebiet zu übertreffen. In der Rolle des Verkünders eines kommenden Redners ähnelt er nicht zufällig an die Figur des Sokrates in Platons Phaidros, der auf Isokrates als kommenden Redner hinweist.197 h)

Zusammenfassung

Mit der Figur des Crassus setzt Cicero einem Römer ein Denkmal, der in einer Zeit des zunehmenden kulturellen Austausches lebte und diese Zeit symbolisiert. Die Dialogfigur stellt dahingehend die Verbindung des römischen Redners mit dem griechischen Rhetoriklehrer dar. Als Römer ist er zudem an seine Rolle als Staatsmann gebunden, an die in den Proömien und Einleitungsgesprächen erinnert wird. Auf seine politische Karriere wird durch Verweise auf frühere gerichtliche Auseinandersetzungen häufig Bezug genommen, wodurch der Figur ein authentischer Anstrich verliehen wird.198 Dass sie nicht nur ein entpersonalisiertes Sprachrohr Ciceros ist, sondern die Persönlichkeit des L. Licinius Crassus zumindest partiell widerspiegeln soll, zeigt sich nicht zuletzt in ihrer skeptischen Haltung gegenüber den griechischen Rhetoriklehrern, die mit der Charakterisierung der historischen Persönlichkeit im Proömium des zweiten Buchs korreliert. Der literarische Crassus artikuliert dabei nicht nur ein ciceronisches Bildungsprogramm, sondern ist darüber hinaus essentieller Bestandteil einer kunstvollen Bildungsszenerie, die mit diesem einhergeht. Durch seine persönliche Erfahrung und sein explizit humanes Auftreten nimmt er eine Lehrer-Rolle ein, ohne in dieser je schulmeisterlich zu wirken. In seinem sowohl staatsmännischen als auch von der humanitas geprägten Erscheinungsbild verbindet er dabei durchaus unterschiedliche individuelle Qualitäten.199 Des Weiteren zeichnet ihn eine ostentative Zurückhaltung aus, die er hinsichtlich der Identifikation mit dem Ideal oder in Form seiner reservierten Attitüde gegenüber griechischer Theorie einnimmt und durch die er seine römische dignitas bewahrt. Die Figur fungiert dabei nicht nur als Kritiker des historischen Sokrates, sondern verdeutlicht auch einen Anspruch, die durch diesen hervorgerufene Spaltung von Herz und Zunge rückgängig zu machen. Geradezu prophetisch verweist sie auf die Gegenwart des Autors und die Zukunft der Philosophie in Rom. Die Figur des Crassus, die sich explizit kritisch gegenüber den als zu geschwätzig empfundenen Graeculi äußert, während sie zugleich in rhetorischer Theorie versiert und in der Praxis römischer Gerichtsprozesse erfahren ist, trägt wesentlich zu der vom Autor intendierten

197 198 199

Plat. Phaidr. 279a; zur Parallelität mit Sokrates s. auch: Dugan 2005, S. 170. Vgl. Leeman/Pinkster 1981, S. 87. So auch: Wehrli 1978, S. 85.

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Schaffung eines Raums bei, in dessen Rahmen eine Einbürgerung eines theoretischen Diskurses denkbar wird.200

1.1.2 M. Antonius a)

Historische Persönlichkeit

Der Redner M. Antonius wurde im Jahr 143 geboren und war damit drei Jahre älter als sein Gesprächspartner Crassus.201 Er stammte aus einer bis dato unbedeutenden gens, die erst aufgrund seiner rhetorischen Fähigkeiten in die Nobilität aufstieg. 202 Da der letzte Amtsträger der Familie, ein Tribun des Jahres 167, zudem schon etliche Zeit zurücklag, lässt er sich wie Cicero als homo novus bezeichnen.203 Seine erste überlieferte öffentliche Rede hielt Antonius um das Jahr 116 als Verteidiger des Q. Marcius Rex, einem Vertreter der plebejischen Nobilität, welcher Antonius damals möglicherweise nahestand.204 Im Jahr 113 erlangte er die Quaestur und musste sich in einem skandalträchtigen Prozess wegen Vorwurfs des Inzests mit vestalischen Jungfrauen verantworten. 205 Im Jahr 102 hatte er die Praetur inne, der die prokonsularische Amtsgewalt über die Provinz Kilikien folgte, wobei es sich nach seiner Quaestur um seinen zweiten Verwaltungsaufenthalt in Asien handelte. 206 Zu dieser Zeit begleitete Ciceros Onkel Lucius Tullius Cicero ihn bei militärischen Expeditionen gegen die dortigen Piraten, wodurch sich erstmals ein Kontakt zwischen beiden Familien belegen lässt.207 Der Feldzug brachte ihm einen Triumph ein, den er jedoch aufgrund der instabilen politischen Verhältnisse in Rom, die durch die Ermordung des 200

201 202

203 204

205

206 207

Vgl. Guérin 2016, S. 73: „il souligne indirectement que la disputatio dans laquelle il est engagé ne sera pas du même type: posée, longuement argumentée, motivée, répondant aux principes du decorum, il s’agit d’une disputatio latine observant les formes légitimes de l’échange aristocratique, et non d’un bavardage grec.“ Cic. Brut. 161; vgl. Klebs 1894, Sp. 2590; ausführlicher: Scholz 1962, S. 6. Vgl. Scholz 1962, S. 5; zur Datierung des Geburtsjahres: Klebs 1894, Sp. 2590; Scholz 1962, S. 6. Vgl. Fantham 2004, S. 29. Vgl. ORF4 S. 233, fr. 31; TLRR 33; zur Überlieferung und den politischen Intentionen des Antonius, der nach Scholz durch den Prozess die Politik seines Großvaters wieder aufnahm und sich auf die Seite der „plebejischen Nobilität“ schlug: Scholz 1962, 7–9, 15. Vgl. ORF4 S. 224–225, fr. 13–14; Vgl. TLRR 43; Scholz 1962, S. 9f. Der Prozess wird nur von Valerius Maximus, nicht von Cicero überliefert, was nach Fantham durch seinen heiklen Charakter bedingt gewesen sein könnte: Val. Max. 3,7,9; Fantham 2004, S. 29. Zur Datierung der Quaestur: Scholz 1962, S. 10; MRR 1, S. 536–537. S. Klebs 1894, Sp. 2590f.; Scholz 1962, S. 16–17; ferner: MRR 1, S. 539. Cic. de orat. 2,3; vgl. Rawson 1971, S. 78.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

Saturninus im Jahr 100 hervorgerufen wurden, nicht verwirklichen konnte. 208 Sein Konsulat im Jahr 99 war von der Auseinandersetzung mit dem Volkstribun Sextus Titius geprägt, auf welche in De oratore gezielt angespielt wird.209 Stellvertretend für die Sache der Optimaten, die den an die Gracchen erinnernden tribunizischen Gesetzesentwurf scharf ablehnten, setzte sich Antonius mittels seiner wohl persönlich diskreditierenden Reden gegen den popularen Politiker durch.210 Im selben Jahr hielt er seine bedeutendste Rede im Rahmen der Verteidigung des Manius Aquilius, eines wegen Erpressung angeklagten Gefolgsmanns des Marius.211 Zwei Jahre darauf wurde er gemeinsam mit L. Valerius Flaccus Zensor, woraufhin er den aufrührerischen Volkstribunen M. Duronius aus der Senatsliste strich. 212 Im Kontext von De oratore nimmt der nach 96 geführte Prozess gegen den ehemaligen popularen Volkstribun C. Norbanus eine nicht unwichtige Rolle ein, da die causa als häufiger Bezugspunkt im Dialoggespräch herangezogen wird und die Anklage von dem Gesprächspartner Sulpicius geführt wurde.213 Dass Antonius Norbanus verteidigte, der zehn Jahre gegen den von ihm unterstützten Caepio vorging, erschwert seine politische Zuordnung in den Jahren zunehmender Auseinandersetzungen zwischen Rittern und Senatoren kurz vor Beginn des Bundesgenossen- und Bürgerkriegs. 214 Vor dem dramatischen Datum des Dialogs trat er mindestens in zwei Prozessen vor Gericht auf: So verteidigte er zum einen sich selbst in einer Anklage des C. Scribonius Curio,215 zum anderen kurz vor dem Dialoggespräch (nuper) den M. Marius Gratidianus gegen Sergius Orata und L. Licinius Crassus, worauf Cicero jenen Bezug nehmen lässt.216 In der Zeit während des Bürgerkriegs versuchte er mittels seines Prestiges als ehemaliger Zensor und amtierender Augur erfolglos eine allgemeine Waffenruhe zu erreichen, konnte jedoch den Einmarsch der Truppen des Marius nicht verhindern und fand daraufhin jenes gewaltsame Ende, an das Cicero im Proömium des dritten Buchs erinnert.217 Hinsichtlich der Bildung der historischen Persönlichkeit des Antonius sind wir erneut stark von dem Urteil Ciceros abhängig. Im Dialog Brutus zählt Cicero 208 209 210 211

212 213

214 215 216 217

S. hierzu: Fantham 2004, S. 34. Cic. de orat. 2,48; vgl. Klebs 1894, Sp. 2591; Fantham 2004, S. 35. Vgl. Scholz 1962, S. 32; ORF4 S. 227, fr. 18. Fantham und Malcovatti setzen die Rede auf das Jahr 98 an, wogegen Scholz überzeugende Gründe für eine Datierung auf das Jahr 99 lieferte: Scholz 1962, 34–37; Fantham 2004, S. 35; ORF4 S. 227, fr. 18. Val. Max. 2,9,5; vgl. Klebs 1894, Sp. 2591; MRR 2, S. 6f.; Scholz 1962, 37–39. Cic. de orat. 2,89, 107, 124, 164, 167, 197–204 = ORF4 S. 229–233, fr. 22–30; vgl. Scholz 1962, S. 40–43; TLRR 86; Fantham 2004, S. 38. Zur historischen Einordnung: vgl. Scholz 1962, S. 43; Heuss 2007, S. 163. Vgl. ORF4 S. 234, fr. 32; Scholz 1962, S. 43; Cic. de orat. 1,178; vgl. ORF4 S. 234f., fr. 33; Scholz 1962, S. 43–45; Cic. de orat. 3,10; zur letzten Rede und seinem Tod s. Scholz 1962, S. 48–50; Fantham 2004, S. 46f.

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den Redner zusammen mit Crassus zwar zu den besten Rednern der damaligen Zeit, in welcher die römische Rhetorik erstmals mit der griechischen vergleichbar geworden sei,218 doch konstatiert er ihm hinsichtlich der Bildung, dass er sich weder der Lektüre von Dichtern und anderer Redner noch der Geschichtsschreibung bediente (nullum ille poetam noverat, nullum legerat oratorem, nullam memoriam antiquitatis conlegerat) und darüber hinaus weder Kenntnisse vom öffentlichen, privaten noch zivilen Recht gehabt habe (non publicum ius, non privatum et civile cognoverat).219 Nach dem Urteil Ciceros in dem späteren Werk handelt es sich bei Antonius um einen Redner, der seine Meisterschaft somit nicht dem eingehenden, geschweige denn universellen Studium verschiedener artes verdankte, sondern praktischer Erfahrung, Talent und Intuition.220 Dass er zumindest ein gewisses Interesse für die Theorie der Rhetorik besaß, beweist die von ihm verfasste kurze Abhandlung De ratione dicendi, mit der er sich vielleicht als erster Römer überhaupt in ein bis dahin von griechischen Lehrern dominiertes Terrain vorwagte. 221 Die zentrale Sentenz des verlorenen Werkes, wonach Antonius einige Redner kenne, die man als disserti bezeichnen könne, jedoch keinen, der wahrhaft eloquens sei, stellt einen Bezugspunkt des Dialoggesprächs dar, auf den weiter unten einzugehen sein wird.222 Im Proömium des zweiten Buchs attestiert der Autor seinem einstigen Lehrer, dass jener noch mehr als Crassus darauf aus war, einen gebildeten Eindruck in der Öffentlichkeit zu vermeiden:223 Antonius autem probabiliorem hoc populo orationem fore censebat suam, si omnino didicisse numquam putaretur; atque ita se uterque graviorem fore, si alter contemnere, alter ne nosse quidem Graecos videretur. Antonius aber meinte, seine Rede werde das Volk umso eher überzeugen, wenn man von ihm glaube, er habe überhaupt niemals studiert. So dachten beide, mehr Eindruck zu machen, der eine dann, wenn er die Griechen zu verachten, der andere, wenn er sie nicht einmal zu kennen schien.

Da die Aussage über Antonius an dieser Stelle die Ursache der falsa opinio erläutern soll, scheint sie – unabhängig von der kaum bestimmbaren Frage, inwieweit die Dialogfigur einer Verklärung des Autors unterliegt – einen durchaus

218 219 220 221

222 223

Cic. Brut. 138. Ebd., 214. Zur Charakterisierung des Redners Antonius: Cic. Brut. 139–142. Cic. de orat. 1,94, 208; 3,54, 189; Brut. 163; orat. 18, 33, 69, 100, 105; Quint. inst. 3,1,19; zu Inhalt, Kontextualisierung und Datierung s.: Scholz 1962, S. 96–98; Fantham 2004, S. 39f.; Cic. de orat. 1,94, 208; 3,54, 189. Ebd., 1,94, 208; 3,122, 189; vgl. Scholz 1962, S. 98. Cic. de orat. 2,4.

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historischen Charakterzug der Persönlichkeit zu beleuchten, der dabei jedoch der fiktionalen Dialogfigur einen glaubhaften Anstrich verleiht.224 Cicero nutzt diese von Leeman und Pinkster als „literarisches Spiel“225 bezeichnete Technik auch dafür, die persönliche Ehrerbietung zwischen der gens Tullia und der gens Antonia hervorzuheben. So nennt er ebenfalls im Proömium des zweiten Buchs gegenüber dem Bruder ihren gemeinsamen Onkel und sich selbst als Zeugen (saepe ex humanissimo homine patruo nostro acceperamus), der das in De oratore entworfene Porträt des Antonius bestätigen könnte. 226 Anders als Ciceros Verbindung zu Crassus bestand jene zu Antonius nicht nur über einen dritten Vermittler, sondern auch auf der Ebene des persönlichen Kontakts. Trotz der sich für ihn als adulescentulus gebührenden pudor habe er nach eigener Aussage viel von ihm in Erfahrung bringen können.227 An den Onkel M. Gratidius, der Antonius im Jahr 102 nach Kilikien begleitet hatte, dürfte sich der Autor aufgrund von dessen Tod kurz nach der Rückkehr aus der Provinz kaum mehr erinnert haben, so dass seine Erwähnung einer Konstruktion von Historizität nur wenig dienlich ist.228 Dass er den Redner nicht nur selbst erlebt hatte, sondern ihn auch nach seinem Tod weiter schätzte, zeigen die Erwähnungen in späteren Werken, in denen er ihn unter anderem als vir eloquentissimus und prudentissimus bezeichnet. 229 Stärker als bei Crassus, der starb, als der Autor gerade einmal 16 Jahre alt war, kann Cicero im Falle des Antonius auf das eigene Erleben zurückgreifen.230 In Teilen scheint dieser auch ein politisches Vorbild gewesen zu sein, wie das dramatische Setting von De oratore nahelegt.231 b)

Antonius als Hauptredner und seine Haltung zur Theorie im ersten Buch

Als zweiter Hauptredner nimmt die Antonius-Figur einen wichtigen Platz in der Gesprächsrunde ein, die jedoch ihre Fokussierung auf Crassus überwiegend beibehält. Im ersten Buch greift er erst in die Diskussion ein, als diese bereits im Gange ist, wobei er sich von der These des Crassus, wonach der Redner, der das Wesen und die Natur aller Bereiche und Wissenschaften begreife (quis omnium 224

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Vgl. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 186f. Eine Absicht zur „Überhöhung und Verklärung des Antoniusbildes“ sieht Scholz sowohl in De oratore als auch im Brutus durch Ciceros literarische Intentionen begründet: Scholz 1962, S. 7. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 187. Cic. de orat. 2,3. Fantham geht aufgrund der Scheu von einer eher distanzierten Beziehung aus: Fantham 2004, S. 28: „His talk of bashfulness confirms that he was on less intimate terms with Antonius […].“ Zur familiären Verbindung s.: Fuhrmann 2004, S. 28 u. 2007, S. 17. Cic. Tusc. 5,55; fam. 6,2 = 245 Sh. B.,2. Vgl. Fantham 2004, S. 27f. Zur politischen Position des Antonius sei auf Scholz verwiesen, der in dem homo novus einen konservativen Optimaten sieht: Scholz 1962, S. 50–54.

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rerum atque artium rationem naturamque comprehenderit), ausdrucksreicher reden werde (multo locupletior in dicendo futurum sit), überzeugt gibt, aber zugleich die Schwierigkeit betont, diesem Ideal trotz der Belastungen auf dem Forum gerecht zu werden.232 Im weiteren Verlauf des ersten Buches zeigt sich die Figur als Gegenpol zu Crassus und Scaevola, indem er eine Rede gegen das von Crassus und Scaevola verteidigte Rechtsstudium vorträgt. 233 Im zweiten Buch überwiegt der Gesprächsanteil der Antonius-Figur, die darin die Behandlung der inventio, dispositio und memoria übernimmt. Im dritten Buch verhält er sich auffällig zurückhaltend und äußert sich lediglich noch zweimal, wobei er erneut Zustimmung und Bewunderung gegenüber Crassus erkennen lässt.234 Mit diesem teilt er nicht nur seine rhetorische Meisterschaft, sondern auch politische Überzeugungen, wie der Übergang von Proömium zum Dialog exponiert. Bei der Ankunft auf dem Landgut bei Tusculum wird er Crassus gegenüber als politisch nahestehende (consiliorum in re publica socius) und freundschaftlich eng verbundene (summa cum Crasso familiaritate coniunctus) Person charakterisiert. 235 Vor dem Hintergrund der politischen Situation, dem drohenden Zerfall der res publica, erhält die politische Nähe von Antonius und Crassus, die auf der gemeinsamen Gegnerschaft zum amtierenden Konsul Philippus gründet, ein besonderes Gewicht.236 Das Hervorheben der familiaritas trägt dazu bei,237 dass der Personenkreis den Charakter eines harmonischen und vertraulichen Zirkels erhält, der sich durch gegenseitige Freundschaft und Verwandtschaft konstituiert.238 Ein zentrales Merkmal der Antonius-Figur stellt ihr Verhältnis zu der von Crassus geforderten theoretischen Bildung dar: Von Anfang an erklärt sie, zu spät und nur oberflächlich (sero ac leviter) mit griechischer Literatur in Verbindung gekommen zu sein. 239 Hinsichtlich ihrer Haltung zur Theorie erfüllt die Figur somit jenes Charaktermerkmal, an das Cicero seinen Bruder im Proömium des zweiten Buches erinnert.240 Wie sehr diese persona das Auftreten prägt, wird

232 233 234 235 236 237

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Cic. de orat. 1,80f. Ebd., 1,209–262. Ebd., 3,51, 189. Ebd., 1,24. Vgl. Meyer 1970, S. 23. Hinsichtlich der Historizität der Freundschaftsbeziehung zwischen Antonius und Crassus stellt der Dialog De oratore die einzige Quelle dar, wodurch nicht geklärt werden kann, inwieweit die Darstellung jener amicitia literarischer Fiktion unterlegen haben könnte. S. hierzu: Klebs 1894, Sp. 2594. Zur Bedeutung der Freundschaft in den Dialogen Ciceros s. Becker 1938, S. 14. Anders als Crassus, Scaevola, Caesar Strabo und Catulus verfügt Antonius über keine familiäre Verbindung zu einer der anderen Persönlichkeiten. Cic. de orat. 1,82. Ebd., 2,4. In jener Attitüde erkannte bereits Quintilian eine „Rolle“ (persona) als dissimulator artis. Quint. inst. 2,17,6. Quintilian liefert auch ein Indiz, dass diese

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in Buch 1 erstmals in jenem Moment deutlich, in dem Crassus im Namen von Cotta und Sulpicius an Antonius die Bitte heranträgt, über die Redekunst zu referieren:241 deprehensum equidem me, […] plane video atque sentio, non solum quod ea requiruntur a me quorum sum ignarus atque insolens, sed quia, quod in causis valde fugere soleo, ne tibi, Crasse, succedam, id nunc me isti vitare non sinunt. (208) verum hoc ingrediar ad ea quae vultis audacius, quod idem mihi spero usu esse venturum in hac disputatione, quod in dicendo solet, ut nulla expectetur ornata oratio. neque enim sum de arte dicturus, quam numquam didici, sed de mea consuetudine; ipsaque illa, quae in commentarium meum rettuli, sunt eius modi, non aliqua mihi doctrina tradita, sed in rerum usu causisque tractata; […]. Da sitze ich ja offensichtlich gründlich in der Patsche, […] denn man will nicht nur von mir Dinge wissen, die ich nicht kenne und an die ich nicht gewöhnt bin, sondern diese jungen Leute da gestatten mir nicht einmal, einen Nachteil zu vermeiden, dem ich in Prozessen tunlichst auszuweichen pflege, nämlich nach dir, Crassus, aufzutreten. (208) Ich gehe aber um so mutiger an die Erfüllung eures Wunsches, als mir hoffentlich bei dieser Diskussion derselbe Umstand wie gewöhnlich, wenn ich rede, zustatten kommen wird, der Umstand nämlich, dass man nicht mit einer schönen herausgeputzten Rede rechnet. Ich werde ja nicht die Theorie behandeln, mit der ich mich niemals beschäftigt habe, sondern meine Praxis. Selbst die Bemerkungen, die ich in meiner kleinen Schrift notierte, entsprechen dieser Art. Sie sind mir nicht von einer Theorie vermittelt, sondern in der Wirklichkeit und Praxis der Prozesse angewandt.

Antonius übernimmt in seiner Antwort den durch Crassus eingeschlagenen ironischen Ton (deprehensum equidem me)242 und gibt sich als ignarus atque insolens gegenüber jeglichen theoretischen Diskussionen zu erkennen. 243 Die auf ihn befremdlich wirkende Situation, dass ausgerechnet er einen theoretischen Diskurs führen soll, obwohl er selbst ein Mann sei, der seine rhetorischen Fähigkeiten der „Wirklichkeit und Praxis der Prozesse“ (in rerum usu causisque) schulde und nicht der „Theorie“ (doctrina), lässt ihn parallel zu Crassus als widerwilligen Lehrer gegenüber den „Schülern“ Cotta und Sulpicius erscheinen. 244 Die skizzierte Haltung schließt dabei – wie der Verweis des Redners auf sein von

241 242 243

244

Aussage der von Antonius veröffentlichten Schrift zuzuschreiben ist: Quint. inst. 12,9,5: veteribus quidem dissimulare eloquentiam fuit moris, idque M. Antonius praecipit, […]. – „Bei den Alten gehörte es sogar zur guten Sitte, die Beredsamkeit zu verstecken, und so schreibt es Antonius vor, […].“ Cic. de orat. 1,207f. Vgl. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 127. In dieser Haltung scheint er Crassus fast zu imitieren, da dieser zuvor mit dem gleichen Bekenntnis die Bitte an ihn weitergegeben hatte: Cic. de orat. 1,99; vgl. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 127. Zur didaktischen Situation s. auch: Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 123.

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ihm verfasstes Buch (commentarium meum) es vermuten lässt – an jene nicht erhaltene, Cicero aber bekannte Schrift an, wodurch die Dialogfigur erneut auf die historische Persönlichkeit rekurriert. 245 Die Tatsache, dass Antonius ein Werk über Rhetorik geschrieben hat, stellt sich jedoch für die anderen Gesprächsteilnehmer und wohl auch für den Leser als widersprüchlich zum vorgetragenen Selbstbild dar. Dieser Widerspruch, der im zweiten Buch aufgelöst wird, wird im Folgenden durch den Verweis darauf, dass das Buch ohne sein Wissen und gegen seinen Willen (me imprudente et invito) veröffentlicht wurde, geschmälert.246 Das Bild eines durch die Praxis statt durch Studien verschiedener Fächer gebildeten Redners zeigt sich im ersten Buch vor allem hinsichtlich der Frage nach dem Wert des Rechtsstudiums.247 Die Haltung der Antonius-Figur zum Studium des ius civile nimmt dabei eine für die Diskussion des Themas begünstigende Funktion ein: Indem sie eine geringschätzende, den Gesprächspartnern im Vorfeld bereits bekannte Meinung hierzu einnimmt, steht sie in einer Opposition zu dem in diesem Fach versierten Crassus. Während seiner Erläuterungen zur Wichtigkeit von Rechtskenntnissen im ersten Buch sieht sich jener aufgrund der bloßen Anwesenheit des Antonius veranlasst, ihn bereits vor einer zu erwartenden Gegendarstellung als Negativbeispiel herauszustellen:248 verecundius hac de re iam dudum loquor, quod adest vir in dicendo summus, quem ego unum oratorem maxime admiror; sed tamen idem hoc semper ius civile cotempsit (172) […] Antoni incredibilis quaedam et prope singularis et divina vis ingenii videtur, etiam si hac scientia iuris nudata sit, posse se facile ceteris armis prudentiae tueri atqe defendere. quam ob rem hic nobis sit exceptus; ceteros vero non dubitabo prium inertiae condemnare sentendia mea, post etiam impudentiae. Ich äußere mich in diesem Punkt schon längst mit größerer Zurückhaltung, weil ein vorzüglicher Vertreter der Redekunst zugegen ist, den ich als Redner außerordentlich bewundere, der aber dieses bürgerliche Recht verachtet (172) […] Antonius kann sich, wie es scheint, in seiner ganz unglaublichen, fast einzigartigen, genialen Geisteskraft, auch wenn ihm diese Rechtskenntnisse fehlen, leicht durch die anderen Waffen seines Wissens schützen und verteidigen; ihn wollen wir darum ausnehmen. Die anderen aber werde ich mit meiner Stimme ohne Zögern zuerst der Trägheit, dann sogar der Unverschämtheit schuldig sprechen. 245

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Zum Buch des Antonius s. Scholz 1962, S. 96 u. 98f.; nach Quintilian ist es das einzige von ihm erhaltene Werk und nur „unvollendet“ erhalten (inperfectum manet): Quint. inst. 3,1,19; im Dialog Brutus wird es von Brutus als „kümmerliche Abhandlung“ (exilem libellum) bemängelt: Cic. Brut. 163; Scholz schließt aus jener Kritik, dass „sich die formende Kraft seiner Redepraxis nicht stark ausgewirkt hat“: Scholz 1962, S. 100. Cic. de orat. 1,94. Cic. Brut. 213f. Cic. de orat. 1,171f.

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Crassus hält an der Wichtigkeit des Rechtsstudiums als Bestandteil des Bildungsprogramms fest, obwohl mit Antonius ein begnadeter Redner (vir in dicendo summus) anwesend ist, der dieses aufgrund seiner hohen Beredsamkeit gar nicht nötig habe. Indem höflich auf dieses Paradoxon Bezug genommen wird, wird die anschließende Gegenrede vorbereitet.249 Da eine solche Begabung nicht von allen Rednern erwartet werden kann, bleibt das Studium für angehende Redner geboten. In seiner Gegenrede bestätigt Antonius zwar, dass der Rechtswissenschaft ein hoher Rang zukomme (et summo in honore semper fuit), wirft Crassus allerdings vor, sie trotz seines Lobes zu einer Hilfswissenschaft der ars der Redekunst zu degradieren.250 Die unterschiedlichen artes, deren grundsätzlich nützlichen Charakter er nicht bestreitet, seien jedoch alle gleichrangig. Um die Notwendigkeit eines Fachstudiums der Rechtskenntnisse, wie es Crassus selbst bei Scaevola praktiziert hatte, zu widerlegen, argumentiert Antonius mit seiner eigenen Biographie, wonach er das bürgerliche Recht nicht nur nie studiert habe (neque me umquam ius civile didicisse), sondern es auch bei seinen Prozessen vor dem Praetor niemals vermisst habe (neque […] umquam istam scientiam desiderasse). 251 Indem er auf seine eigene beispielhafte Vita verweist, wird sowohl die Sinnhaftigkeit von Crassus’ Forderung nach einer umfassenden Beschäftigung mit dem ius civile als auch ein vertieftes Studium bei einem Experten wie Scaevola in Frage gestellt.252 Die Diskussion des Studiums der Rechtswissenschaft hat dabei einen exemplarischen Charakter, wie das Ende von Antonius’ Behandlung zeigt: Darin stellt er die für den Redner wichtigen Wissensgebiete „Geschichte“ (historiam), „Beherrschung des öffentlichen Rechts“ (prudentiam iuris publici), die „Kunde von der alten Zeit“ (antiquitatis memoriam) und das „Material der Präzedenzfälle“ (exemplorum copiam) zwar nicht grundsätzlich in Frage, doch lässt die angedeutete Möglichkeit, sich bei einem Experten wie seinem familiaris Congus zu erkundigen, die dem Crassus vorschwebende dezidierte Fachbildung, die außerdem viel zu zeitaufwendig sei, unnötig erscheinen. 253 Die Beschäftigung mit ihnen wird zwar nicht gänzlich abgelehnt, doch weist er ihnen den Raum des Alters und des otium zu.254 Solange der Redner jedoch aktiv tätig sei, solle er, um Zeit zu sparen, spezialisierte Fachleute konsultieren. Seine Gegenrede wird ihm am Ende des ersten Buches vom philosophisch gebildeten Rechtskenner Scaevola nicht verübelt, dem Antonius’ Eingeständnis, sich im römischen Recht nicht auszukennen, sogar angenehm

249 250 251 252 253

254

Vgl. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 43. Cic. de orat. 1,235f. Ebd., 1,248. Vgl. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 156. Cic. de orat. 1,255; vgl. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 158: „Antonius hält somit Allgemeinbildung und Fachbildung weit auseinander. Crassus läßt beim orator perfectus beides miteinander identisch sein.“ Cic. de orat. 1,255.

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ist.255 In der Diskussion des Rechtsstudiums in De oratore 1 stehen sich trotz der versöhnlichen Worte des Kritikers Antonius zwei entgegengesetzte Pole gegenüber, die dabei zwei verschiedene Wege zur rhetorischen Meisterschaft abbilden. Mit Crassus und Antonius lässt der Autor beide Positionen durch die schillerndsten Rednerpersonen ihrer Zeit vertreten. Dabei zeigt sich gerade an der AntoniusFigur, wie geschickt der Autor auf historische Elemente zurückgreift und sie in der umfassenden Behandlung der Rhetorik verwertet. c)

Antonius’ Bildungskontakt und dezidiert römisches Persönlichkeitsprofil

Die Figur bestreitet zwar einerseits nicht grundsätzlich den Wert des Studiums unterschiedlicher artes, doch spricht sie andererseits als Redner, der solche Studien nie betrieben habe und seine Kompetenz keiner griechischen Schule, sondern allein dem Forum verdanke.256 Als pragmatischer Römer der Generation zwischen den Gracchen und Hortensius bleibt ihm jedoch der hellenistische Rhetorik- und Philosophiebetrieb nicht verborgen. Wie Crassus und Scaevola, so kommt auch Antonius auf seine Begegnung mit den Griechen zu sprechen:257 namque egomet, qui sero ac leviter Graecas litteras attigissem, tamen cum pro consule in Ciliciam proficiscens venissem Athenas, complures tum tibi dies sum propter navigandi difficultatem commoratus; sed, cum cotidie mecum haberem homines doctissimos – eos fere ipsos qui abs te modo sunt nominati, - cum hoc nescio quo modo apud eos increbruisset me in causis maioribus sicuti te solere versari, pro se quisque eorum quantum quisque poterat de officio et de ratione oratoris disputabat. Ich bin zwar zu spät und nur flüchtig mit griechischer Bildung in Berührung gekommen; doch als ich auf meiner Reise nach Kilikien als Prokonsul nach Athen kam, hielt ich mich wegen schwerer See einige Tage dort auf. Aber da ich täglich mit den größten Gelehrten zusammen war – zumeist gerade mit denen, die du soeben nanntest –, und da es sich bei ihnen irgendwie herumgesprochen hatte, dass ich, wie du, gewöhnlich in größeren Prozessen zu tun hätte, sprach jeder für seine Person, so gut er konnte, über die Aufgabe und das Wesen des Redners.

Durch den Hinweis auf seine prokonsularische Amtsgewalt wird die Begegnung mit den griechischen Experten in einen engen Zusammenhang mit der Ausübung römischer Herrschaft gestellt.258 Zur Zeit (zwischen 102 und 100) des angeblichen Kontaktes ist Antonius Anfang 40, was seiner Behauptung, erst spät (sero) mit griechischer Bildung in Kontakt gekommen zu sein, entspricht. Anders als 255 256 257 258

Cic. de orat. 1,265. Ebd., 1,81; 2,106, 122. Ebd., 1,82. Zum Hintergrund von Antonius’ Prokonsulat mit Verweis auf weitere Literatur s.: Leeman/Pinkster 1981, S. 175f.

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Crassus betont er dabei die Zufälligkeit seines Treffens: Sein Aufenthalt in Athen sei gar nicht intendiert gewesen, sondern aufgrund schlechter Reisebedingungen (propter navigandi difficultatem) zustande gekommen, als er auf dem Weg nach Kilikien war. Durch die autobiographische Notiz macht Cicero seine Figur zum Gewährsmann eines Streites zwischen griechischen Philosophen und Rhetoren, über den er in den folgenden Kapiteln referiert.259 Das von ihm dargelegte Gespräch über die Redekunst unter den Griechen verweist dabei indirekt auf das von De oratore. Die von Antonius und Crassus vorgetragenen Rückblicke zeigen einerseits die soziokulturelle Perspektive der Sprecher, andererseits lassen sie die Intention des Autors erkennen, die als schulmäßig empfundenen Ausbildungsprogramme der hellenistischen Griechen zu überbieten.260 Die römische Wesensart und Sichtweise des Antonius stellt hinsichtlich der didaktischen Intention des Autors ein wichtiges Merkmal dar. Dies zeigte sich bereits in seiner Kritik an einem universalistischen Bildungskonzept, dem er die römische Lebenswirklichkeit entgegenhält.261 Gegenüber den eigenen Landsleuten, die bereits von „den Anforderungen des Wahlkampfes und des Forums überschüttet“ (obruimur ambitione et foro) würden, äußert er sich dabei apologetisch:262 ego enim, quantum auguror coniectura quantaque ingenia in nostris hominibus esse video, non despero fore aliquem aliquando, qui et studio acriore, quam nos sumus atque fuimus, et otio ac facultate discendi maiore ac maturiore et labore atque industria superiore, cum se ad audiendum legendum scribendumque dederit, existat talis orator, qualem quaerimus, qui iure non solum disertus, sed etiam eloquens dici potest. Denn die Ahnungen, die mich erfüllen, und die Anlagen, die ich bei unseren Landsleuten beobachte, lassen mich hoffen, dass sich einmal ein Mann finden wird, in dem ein solcher Redner, den wir suchen, erscheinen könnte, wenn er mit größerem Eifer, als wir ihn haben und hatten, mit mehr Muße und besser entwickelter Fähigkeit zum Lernen, mit überlegener Arbeitskraft und Ausdauer dem Hören, Lesen und Schreiben hingegeben ist; ihn könnte man mit Recht nicht nur als wortgewandt, sondern als Meister der Rede bezeichnen.

Indem Antonius die grundsätzliche Fähigkeit seiner Landsleute für die eloquentia herausstellt, schimmert deutlich die Perspektive des Autors durch, der die grundsätzliche Eignung der Römer für die wissenschaftlichen Gebiete, in denen zu seiner Zeit die Griechen dominierten, betont.263 Der prophetische Unterton richtet den Blick auf eine der Gegenwart des Autors näheren Zukunft. Der er259 260 261 262 263

Cic. de orat. 1,83–92. Vgl. Wehrli 1978, S. 78. Zu Antonius’ theoriekritischer Haltung s. o. S. 72–75. Cic. de orat. 1,95. Ebd., 1,13.

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hoffte kommende Redner (existat talis orator, qualem quaerimus) kann dabei aus der Perspektive der Entstehungszeit von De oratore in Cicero selbst gesehen werden,264 doch geht es diesem dabei wohl nicht allein um die Befriedigung der eigenen Eitelkeit, sondern auch um einen Appell an die Zeitgenossen, über die Rolle der artes für die Ausbildung des Redners zu reflektieren. Indem der dezidiert aus der Praxis geschulte Antonius die Eignung der Römer für die verschiedenen artes hervorhebt, erfolgt durch den Dialog eine Aufforderung zu einer Beschäftigung mit denselben. Eine solche Haltung zeigt sich erneut im zweiten Buch hinsichtlich der Geschichtsschreibung, als er die römischen Historiker vor der Kritik des Catulus in Schutz nimmt (ne nostros contemnas) und darauf verweist, dass auch die griechische Geschichtsschreibung sich entwickeln musste.265 d)

Antonius’ vera opinio

Eine Besonderheit hinsichtlich der Antonius-Figur stellt sein Meinungsumschwung dar: Gegen Ende des ersten Buchs gelangt sie zu der provozierenden Feststellung, dass der Redner sich auf eine Tätigkeit für die Politik und die Gerichte beschränken solle (concludatur in ea, quae sunt in usu civitatum vulgari ac forensi), andere Studien seien dagegen zu vernachlässigen (remotis ceteris studiis).266 Dabei erkennt Crassus, dass Antonius, indem er den Redner als „Tagelöhner“ (operarium) vorstelle, nicht seine eigentliche Meinung vorträgt, sondern eine Kostprobe seiner dialektischen Kunst gibt, des aus der Philosophie entlehnten in utramque partem disserere. 267 Folglich stellt Antonius’ Feststellung, in welcher sein Pragmatismus gipfelt, kein Abweichen von seinem grundsätzlichen Einverständnis zur Kernthese von De oratore dar, sondern dient unter kompositorischen Gesichtspunkten der Überleitung zum zweiten Buch.268 Nachdem der radikale Standpunkt gegen Ende des ersten vorgetragen wurde, wird er gleich zu Beginn des zweiten Buchs durch Antonius’ Lob auf den Redner wieder revidiert.269 Nach dem Zuspruch durch Catulus270 stellt Crassus fest:271 nox te […] nobis, Antoni, expolivit hominemque reddidit. nam hesterno sermone unius cuiusdam, ‚operis’ ut ait Caecilius ‚remigem aliquem aut baiulum’ nobis oratorem descripseras, inopem quendam humanitatis atque inurbanum.

264 265 266 267 268 269 270 271

So etwa: Hösle 2006, S. 97. Cic. de orat. 2,51. Ebd., 2,260. Ebd., 2,263. Vgl. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 179. Cic. de orat. 2,28–30 u. 2,32–38. Ebd., 2,39. Ebd., 2,40.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur Die Nacht, Antonius, […] hat deine Kanten abgeschliffen und dich zu einem Menschen werden lassen. Du hattest uns den Redner ja in deinem gestrigen Vortrag als eine Art Handlanger, wie Caecilius sagt, als Ruderknecht und Lastträger beschrieben, ganz ohne Bildung und Gesittung.

Die Abkehr von der Position wird als Menschwerdung beschrieben (hominemque reddidit), was auf die humanitas und urbanitas des Antonius anspielt.272 Dieser erklärt den Positionswechsel im Folgenden mit dem Wechsel der Gesprächspartner, dem Wegfall des Scaevola und dem Hinzukommen von Catulus und Caesar.273 Gestern sei es ihm darum gegangen, „Schüler abspenstig zu machen“ (ut […] hos a te discipulos abducerem), die Anwesenheit von Catulus und Caesar lasse ihn heute seine tatsächliche Meinung sagen (quid ipse sentiam dicere), wodurch sich das Gespräch von der Polemik entfernt.274 Im Verlauf des zweiten Buches wird deutlich, dass nicht nur seine Haltung gegenüber Crassus’ Idealismus, sondern auch sein Selbstbild als Redner bar jeglicher theoretischer Bildung nicht der Realität entsprechen kann. Während seines Vortrags zur Geschichtsschreibung ist es Caesar, der auf diesen Umstand aufmerksam macht, indem er rhetorisch nach den Leuten fragt, die Antonius Griechischkenntnisse absprechen (ubi sunt, qui Antonium Graece negant scire), und nicht nur auf die Zahl der von ihm genannten Historiker aufmerksam macht, sondern auch auf die sachverständige Art, in der jener über diese vorgetragen habe (quam scienter, quam proprie de uno quoque dixit).275 Indem Catulus nicht weniger überrascht auf den unerwartet detaillierten Vortrag reagiert (id me hercule […] admirans), wird die in der Einleitung des zweiten Buchs von Cicero als falsa opinio beschriebene Meinung der Zeitgenossen über Antonius im Dialog widerlegt.276 Hinsichtlich seiner persönlichen Bildung lassen sich in De oratore zwei Masken erkennen: einerseits die des Pragmatikers, der behauptet, die Griechen nicht einmal zu kennen, andererseits die des aufgeschlossenen Römers, der sein otium mit dem Studium griechischer Literatur verbringt, zu diesen Studien aber erst spät gelangte. Die Maske des Pragmatikers korresponiert demnach mit dem Bild, welches Antonius selbst von sich in die Welt gesetzt habe und das Cicero als die falsa opinio durch eine Dialogfigur relativieren möchte, die gegenüber der Philosophie und Theorie an sich aufgeschlossen ist, wenn sie im richtigen Maß praktiziert würden.277 Wie Görler verdeutlichte, stellt der Meinungsumschwung des Antonius auch eine literarische Anspielung auf die Palinodie der Sokrates-Figur im Phaidros

272 273 274 275 276 277

Zum Begriff der humanitas s. oben S. 33. Cic. de orat. 2,40. Vgl. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 233. Cic. de orat. 2,59. Ebd., 2,1 u. 2,4. Vgl. Meyer 1970, S. 100.

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dar, die von der gleichnamigen Figur Lob erhält. 278 Eine weitere Ähnlichkeit zwischen dem platonischen Sokrates und dem ciceronischen Antonius findet sich in der Phaidon-Stimmung des Dialogs: Diese zielt zwar primär auf Crassus, der nur wenige Tage nach dem dramatischen Datum von De oratore verstarb, doch wurde auch Antonius nur vier Jahre später Opfer eines gewaltsamen Todes, an den Cicero im Proömium des dritten Buchs explizit erinnert.279 Der Autor stellt somit nicht allein Crassus als römisches Äquivalent zu Sokrates dar, sondern liefert mit dem zweiten Hauptredner einen weiteren Archegeten des lateinischen Theorie-Diskurses, der als kollektive Leistung aus dem Gespräch erwächst. Der Wandel von Antonius’ Haltung im zweiten Buch wird besonders an den sich dort zeigenden Geschichtskenntnissen deutlich. Während die Figur hinsichtlich ihrer fehlenden Rechtskenntnisse dem Bild entspricht, das auch der Brutus vermittelte, stellt die von ihr im zweiten Buch vorgenommene Behandlung der Geschichtsschreibung einen deutlichen Widerspruch zu diesem dar.280 Dass Cicero in dieser Darstellung von der historischen Persönlichkeit abweicht, lässt sich aus der überraschten Reaktion der Gesprächspartner schließen. Als Catulus sich darüber wundert, dass er trotz fehlenden Studiums hierüber so wortgewandt sprechen kann (mirabar […] hunc dicendo posse tantum), gesteht ihm Antonius, sich mit den von ihm erwähnten und auch anderen Büchern (horum libros et nonnullos alios) tatsächlich zu beschäftigen, allerdings rein aus Vergnügen (sed delectationis causa).281 Das Eingeständnis macht erneut den römischen Charakter des Antonius deutlich, indem er auf den dafür angemessenen Raum, das otium, verweist, für das ihm fern von Rom seine Villa in Misenum diene.282 Durch seine Beteuerung, dass es ihm hierbei nicht um einen konkreten Nutzen, sondern um das Vergnügen gehe, zeigt sich die Figur als offen gegenüber der Literatur. Dass die Lektüre eine indirekte Wirkung auf seine Redekunst hat, wird jedoch als beiläufiger Nebeneffekt mit dem Vergleich der Bräunung bei einem Spaziergang unter der Sonne (sentio illorum tactu orationem meam quasi colorari), nicht als eigentliches Ziel ausgegeben. Die Geschichtsschreibung wird im Folgenden von Antonius als erste Aufgabe des Redners interpretiert (munus oratoris sit historia).283 Mit seiner kritischen Haltung gegenüber den Rhetorikhandbüchern284 greift er die Haltung des Autors auf, wodurch er zu dessen Sprachrohr wird.285 Gleichzeitig wird der Anspruch des Werks deutlich, die vorhandenen Rhetorikhandbücher zu übertreffen. Die Diskussion über die Geschichtsschreibung zwischen Antonius und Catulus steht 278 279 280 281 282 283 284 285

Görler 1988, S. 223; Plat. Phaidr. 257c. Cic. de orat. 3,10. Ebd., 2,51–64. Ebd., 2,59. Ebd., 2,60; vgl. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 264. Cic. de orat. 2,62. Ebd., 2,62 u. 2,64. Vgl. Gildenhard 2013, S. 244.

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dabei in einem engen Zusammenhang mit Ciceros eigener Haltung zu jener Wissenschaft, wie die jüngere Forschung hervorhebt.286 Die Verknüpfung der Geschichtsschreibung mit der sprachlichen Kompetenz, zu der nur ein Redner im Stande sei, stellt dabei eine Uminterpretation der klassischen Anforderungen des Geschichtsschreibers – Familie, religiöses Prestige oder militärischer Ruhm – zugunsten von Cicero dar.287 Zugleich bekundet Antonius in der Diskussion der Geschichtsschreibung, dass er zwar gerne griechische Historiker und Redner lese, ihm jedoch für Philosophie das Verständnis fehle.288 Auch dieses Selbstbild erfährt im weiteren Verlauf des Gesprächs eine Korrektur. Dabei ist es erneut der philosophisch versierte Gesprächspartner Catulus, der in Antonius’ Vortrag Passagen des Aristoteles wiedererkennt und ihm gegenüber feststellt, dass er offensichtlich mehr Mühe für griechische Bildung aufgewendet hat, als man von ihm vermutet habe (plus enim te operae Graecis dedisse rebus video quam putaramus).289 Darauf angesprochen legt Antonius schließlich ein Geständnis ab:290 verum […] ex me audies, Catule. semper ego existimavi iucundiorem et probabiliorem huic populo oratorem foro, qui primum quam minimam artificii alicuius, deinde nullam Graecarum rerum significationem daret. atque ego idem existimavi pecudis esse, non hominis, cum tantas res Graeci susciperent, profiterentur, agerent seque et videndi res obscurissimas et bene vivendi et copiose dicendi rationem daturos hominibus pollicerentur, non admovere aurem, et si palam audire eos non auderes, ne minueres apud tuos civis auctoritatem tuam, subauscultando tamen excipere voces eorum et procul quid narrarent attendere. itaque feci, Catule, et istorum omnium summatim causas et genera ipsa gustavi. Du sollst von mir die Wahrheit hören, Catulus. […] Ich glaubte immer, auf unser Publikum wirke ein Redner sympathischer und überzeugender, der erstens möglichst wenig an Kunstfertigkeit und zweitens keinerlei griechische Bildung zu erkennen gebe. Dabei war ich zugleich der Überzeugung, bei solchen Unternehmungen, Ankündigungen und Aktionen der Griechen und bei ihren Versicherungen, sie vermittelten den Menschen eine Methode, das Verborgenste zu sehen, recht zu leben und wortreich zu reden, da müsse man ein Vieh sein und kein

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S. etwa Gildenhard 2013, S. 235–274, bes. S. 242–245; einen Forschungsüberblick liefern: Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 249–252. Vgl. Gildenhard 2013, S. 245; Feldherr 2003, S. 203; Die Wichtigkeit der von Antonius und Catulus betriebenen Auseinandersetzung mit der römischen Historie für den Autor wird auch mit Blick auf dessen weiteres Werk deutlich: so wird jener diesen Diskurs im Einleitungsgespräch des späteren De legibus rezipieren und, so Krebs, von seinem Leser voraussetzen: Krebs 2009, S. 98–101. Cic. de orat. 2,61. Ebd., 2,152. Ebd., 2,153.

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Mensch, um sein Ohr zu verschließen, und wenn man schon nicht wage, sie öffentlich zu hören, um sein Ansehen bei den eigenen Mitbürgern nicht herabzusetzen, solle man doch heimlich lauschend ihre Worte zu erhaschen suchen und von ferne darauf achten, was sie zu erzählen hätten. So habe ich es denn gehalten, Catulus, und habe bei ihnen einen oberflächlichen Eindruck von ihren Gegenständen und von den Prinzipien selbst gewonnen.

Der Wortwechsel zeigt erneut, wie Cicero sich bei der Darstellung der Dialogfiguren im Verlauf des zweiten Buchs an der in der Einleitung geschilderten persona orientiert.291 Erst jetzt spricht Antonius offen (verum) und erklärt im Sinne von Ciceros Personengestaltung, dass seine Verschmähung der griechischen Bildung dem römischen Publikum geschuldet sei und er sich dadurch mehr Überzeugungskraft erhoffe (probabiliorem huic populo).292 Aufgrund seiner ihn von Tieren unterscheidenden humanitas kann sich Antonius jedoch dem Reiz der griechischer Werke nicht entziehen. Gemäß der im Proömium des zweiten Buchs genannten Intention, sich um die rechte memoria der beiden Hauptredner zu bemühen, weist der Autor seiner Dialogfigur eine ambivalente Haltung gegenüber griechischer Bildung zu.293 In der Antonius-Figur verbindet Cicero somit das Bild eines nach außen hin jeglicher Theorie abgeneigten Römers mit dem eines Menschen, der in dem Umfeld des otium seine wahre Natur zeigt, die ein ehrliches und nicht an bloßem Nutzen orientiertes Interesse an den verschiedenen artes hegt. Dass hierunter nicht nur die Geschichtsschreibung, sondern auch Philosophie und Dichtung fallen, wird im weiteren Gesprächsverlauf mit dem der Philosophie betont positiv gegenüberstehenden Catulus deutlich: Als dieser ihn fragt, weshalb er der Philosophie „beinahe den Krieg erklärt“ (prope bellum indixeris) habe,294 erklärt jener:295 minime […] ac sic decrevi philosophari potius, ut Neoptolemus apud Ennium: ‚paucis nam omnino haud placet.’ sed tamen haec est mea sententia, quam videbar exposuisse: ego ista studia non improbo, moderata modo sint; opinionem istorum studiorum et suscipionem artificii apud eos, qui res iudicent, oratori adversariam esse arbitror. inminuit enim et oratoris auctoritatem et orationis fidem. O nein, […] vielmehr habe ich beschlossen, gerade so wie Neoptolemos bei Ennius zu philosophieren: „Ein wenig nur, denn völlig mag ich nicht.“ Trotzdem ist das mein Standpunkt, was ich dargelegt zu haben glaubte. Ich habe gar nichts gegen diese Studien, wenn sie sich nur in Grenzen halten. Der Anschein solcher Studien und der Argwohn der Kunstfertigkeit sind, wie ich glaube, für den Redner 291 292 293 294 295

Cic. de orat. 2,4. Vgl. Leeman/Pinkster/Rabbie 1989, S. 92. Cic. de orat. 2,7; vgl. Meyer 1970, S. 100. Cic. de orat. 2,155. Ebd., 2,156.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur bei denen, die zu entscheiden haben, schädlich. Sie mindern nämlich das Ansehen und die Glaubwürdigkeit des Redners.

Indem Antonius auf die sich stellende Frage nach dem rechten Maß philosophischer Beschäftigung mit einem Ennius-Zitat reagiert, wird das Bild des Redners, der dem Brutus zufolge keinen Dichter gekannt habe, weiter modifiziert.296 Zwar bekundet er, dass er grundsätzlich den Studien nicht feindlich gegenüberstehe (ista studia […] non improbo), doch wird eine übertriebene Beschäftigung abgelehnt, wie sie mit der Profession „Philosoph“ einhergehen würde. Dabei stellen nicht die Studien selbst, sondern ihre Außenwirkung (opinionem istorum studiorum) das eigentliche Problem dar,297 was Antonius im ersten Buch am Fall des P. Rutilius Rufus exemplifizierte.298 Erneut wird das Ideal universalistischer Bildung durch Antonius mit der römischen Realität konfrontiert. Der ideale Raum für Philosophie, Geschichte und andere Studien bleibt das otium.299 Da dieses in der Szenerie von De oratore gegeben ist, zeigt die Figur im weiteren Verlauf durch einen kurzen Exkurs zu den Lehren der Philosophenschulen, welche infolge der Philosophengesandtschaft nach Rom gekommen waren, dass ihm die Materie alles andere als fremd ist.300 Eine besonders hohe Meinung hat Antonius, dessen Positionswechsel zwischen Buch 1 und 2 selbst das Prinzip des in utramque partem disserere illustriert hat, von dem Akademiker Karneades.301 Das intellektuelle Profil eines in Geschichte, Dichtung und Philosophie gebildeten Redners, worin Meyer eine „Maske des Autors“ erkannte,302 stärkt dabei Antonius’ Position als Referent im zweiten Buch. Im dritten Buch, in dem sich seine Rolle fast ausschließlich auf die des Zuhörers beschränkt, erfährt es nochmals eine Steigerung: So zeigt die Dialogfigur gegen Ende der Unterhaltung eine weitere Palinodie, welche das Spannungsfeld hinsichtlich der Frage, inwieweit Crassus bereits dem Ideal des orator perfectus entspricht, erhöht: Indem Antonius durch seine Feststellung, nun den wahrhaft eloquenten Mann gefunden zu haben, von dem er in seinem Buch behauptete, ihn nicht finden zu können (inveni iam, quem negarem in eo […] libello), erreicht die Idealisierung der Figur gegenüber der historischen Vorlage ihren Höhepunkt.303 Die Feststellung, den Redner in Crassus gefunden zu haben, zeigt zudem, dass Antonius das Ideal des Redners nun uneingeschränkt teilt, das er zuvor als Pragmatiker zwar nicht abgelehnt, jedoch bewusst mit der Realität des Forums konfrontiert hatte.304 Das in 296 297 298 299 300 301 302 303 304

Vgl. Leeman/Pinkster/Rabbie 1989, S. 95. Vgl. ebd., S. 96. Cic. de orat. 2,227–230. S. auch Antonius’ Äußerung im ersten Buch: Cic. de orat. 1,224. Cic. de orat. 2,158–161. Ebd., 2,161. Meyer 1970, S. 104 u. 106. Cic. de orat. 3,189. Vgl. Hösle 2006, S. 99; Wisse/Winterbottom/Fantham 2008, S. 283.

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De oratore 2 bereits aufgeweichte Profil des bloßen Pragmatikers präsentiert sich an dieser Stelle als gänzlich überwunden. e)

Antonius’ Auftreten und Lehrer-Rolle

Dass die Interaktion der Dialogfigur Antonius ebenso wie des Crassus von humanitas geprägt ist, wird bereits im Vorfeld seines Vortrags im ersten Buchs deutlich, indem er aus Gefälligkeit (facilitas) dem bedrängten Hauptredner zur Hilfe kommt.305 Noch klarer tritt sie während seines Gesprächs mit Catulus im zweiten Buch hervor, in dessen Verlauf sich die von Cicero behauptete vera opinio offenbart und Antonius, wie oben dargelegt gesteht, aufgrund seiner humanitas nicht den Studien nicht gänzlich der Philosophie enthalten könne. Mit ihr einher geht eine Gesprächsetikette, deren Wichtigkeit für die Figur insbesondere in dem Moment zum Tragen kommt, als sie am Ende ihres langen Redebeitrags im zweiten Buch fürchtet, gegen sie verstoßen zu haben und sie fürchtet, durch ungewohnte Geschwätzigkeit (insolitam loquacitatem) schamlos (impudientem) gewesen zu sein.306 Er fühlt sich dabei seinen römischen Gesprächspartnern verpflichtet, und sein idealtypisches Verhalten zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er diese Befürchtung artikuliert. Von dieser Furcht befreit ihn anschließend Catulus, der ihm nicht nur seine humane und zuvorkommende Wesensart (humanitatem et facilitatem) bestätigt, sondern auch die Wissensfülle (istam scientiam et copiam) seines Vortrags lobt, die den Hörern nicht verborgen geblieben wäre.307 Eine ähnliche Furcht, sich gegenüber den Gesprächspartnern als zu aufdringlich zu erweisen, spricht auch aus der oben zitierten letzten Wortmeldung des Antonius, in der er erklärt, mit seinem Lob nicht die Redezeit des Crassus verkürzen zu wollen.308 Indem die Figur stets auf ihr eigenes Auftreten bedacht ist, bildet sie einen starken Kontrast zu den von den Gesprächspartnern als inepti wahrgenommenen griechischen Gelehrten. Antonius’ Erfüllen jener für das Gespräch zentralen Verhaltensnormen zeigt sich insbesondere in seinem Auftreten gegenüber den jüngeren Rednern. Sein Engagement für die Ausbildung der Nachwuchsredner stellt dahingehend eine weitere Form der Verwirklichung der humanitas dar.309 Wie bereits im Fall des Crassus erwähnt, spielt die Szeneriebeschreibung des zweiten Buches besonders

305 306 307

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Cic. de orat. 1,208; vgl. Zoll 1962, S. 129. Cic. de orat. 2,361. Ebd., 2,362. Wehrli erkennt in dem Kompliment das Verhindern einer „einseitigen Charakterisierung“ der humanitas: Wehrli 1978, S. 84. Die humanitas in Form wissenschaftlicher Neugier bezeugt auch Antonius’ Forderung nach dem rechten Maßhalten, bei der er sich auf ein Ennius-Zitat stützt: Cic. de orat. 2,156. Ebd., 3,189. Vgl. Zoll 1962, S. 129f.

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deutlich auf Lehrer-Schüler-Konstellationen zwischen Crassus und Sulpicius auf der einen sowie Antonius und Cotta auf der anderen Seite an.310 Der Dialog von De oratore lässt jedoch auch zwischen Antonius und Sulpicius eine solche Relation erkennen, wie ein Ausschnitt aus dem zweiten Buch zeigt:311 Atque ut a familiari nostro exordiar, hunc ego, Catule, Sulpicium primum in causa parvola adulescentulum audivi voce et forma et motu corporis et reliquis rebus aptis ad hoc munus, de quo quaerimus, oratione autem celeri et concitata, quod erat ingenii, sed verbis effervescentibus et paulo nimium redundantibus, quod erat aetatis. […] (89) vidi statim indolem neque dimisi tempus et eum sum cohortatus ut forum sibi ludum putaret esse ad discendum, magistrum vellet eligeret; me quidem si audiret, L. Crassum. Und um mit unserem Freund zu beginnen, Catulus: Ich habe den Sulpicius hier noch als ganz jungen Mann in einem recht unbedeutenden Prozess gehört; die Stimme, die Erscheinung, die Bewegung und die anderen Voraussetzungen waren der Aufgabe gemessen, die wir untersuchen, doch redete er schnell und heftig, was seiner Art entsprach, und war im Ausdruck überschwänglich und etwas zu üppig, was an seinem Alter lag. […] (89) Sofort erkannte ich seine Begabung und forderte ihn unverzüglich auf, zum Lernen das Forum als seine Schule zu betrachten, als Lehrer aber auszuwählen, wen er wolle, – sollte er freilich auf mich hören, den L. Crassus.

Indem Antonius die Stärken (voce et forma et motu corporis et reliquis rebus) des Sulpicius lobend herausstellt – wie dies auch Crassus im ersten Buch getan hat312 –, wird auf eine ehemalige Mentorenrolle gegenüber dem jungen Redner angespielt.313 Durch die Empfehlung, auf dem Forum die Praxis zu üben (forum sibi ludum esse ad discendum) und Crassus als Lehrer auszuwählen (magistrum […] eligeret), erfolgt die Thematisierung der exercitatio und imitatio anhand der Gesprächspartner selbst, was die didaktische Gesamtsituation des Gesprächs verdeutlicht.314 An die einstige Lehrerrolle wird auch während der Behandlung von Pathos und Ethos rekurriert, indem sich die Dialogfigur an die beiden jüngsten Gesprächsteilnehmer wendet, wobei er nur Sulpicius mit Namen erwähnt.315 Antonius’ Empfehlung, sich der pathoi in der Rede zu bedienen, erscheint in einem selbstironischen Unterton hinsichtlich des eigenen lehrerhaften Auftretens (vos doceo […] bonus ego videlicet atque eruditus magister), wodurch die Notwen310 311 312 313 314 315

Cic. de orat. 2,12. Ebd., 2,88. Cic. de orat. 1,132. Vgl. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 298. Vgl. ebd., S. 283. Cic. de orat. 2,196.

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digkeit einer ars in diesen Bereichen bestritten wird.316 Der Versuch, Sulpicius zu belehren, wird jedoch kurz darauf als unnütz herausgestellt, da jener diese Fähigkeiten bereits im Prozess gegen Norbanus bewiesen habe.317 Dieser zeigt sich im Gespräch frei von invidia gegenüber seinem einstigen Lehrer und erkennt nach einer Zusammenfassung Antonius’ damaligen juristischen Sieg, den er nicht durch Argumente, sondern durch den mustergültigen Einsatz von Ethos und Pathos errungen hatte, als Lehrstück für sich selbst an (istam demonstrationem defensionum tuarum doctrinam esse non mediocrem puto).318 Seine bereits von Becker attestierte Lehrerrolle gegenüber den jüngeren Gesprächspartnern319 zeigt sich im weiteren Gesprächsverlauf erneut gegenüber Sulpicius, als er ihn zum Schreiben auffordert, was dieser als willkommene Mahnung (me […] recte mones) dankbar annimmt.320 Durch die Charakterisierung des Antonius als nach Regeln der humanitas auftretender, praktisch und theoretisch erfahrener Redner, der mit dem griechischen Schulbetrieb während seiner Magistratur in Berührung gekommen sei, erscheint die Dialogfigur in ihrer dozierenden Rolle innerhalb der römischen Bildungsszenerie als ein Gegenentwurf zu einer als verschult wahrgenommenen Lehrpraxis. Eine gezielte Polemik gegen diese äußert Antonius hinsichtlich der Durchführung der inventio im zweiten Buch, wo er anhand eines selektiven Unterrichtsbeispiels (in ludo) die hohen Anforderungen auf dem Forum (in foro) herausstellt.321 Bereits im Vorfeld erteilte er Sulpicius den Rat, einen rein praxisorientierten Weg einzuschlagen und das Forum selbst als Schule zu betrachten (ut forum sibi ludum putaret esse ad discendum).322 Aufgrund der vorgeworfenen Realitätsferne äußert sich Antonius gegenüber den in den Schulen lehrenden „Theoretikern“ (isti quidem qui docent) in dezidiert herablassendem Ton.323 Die deutliche Kritik gegenüber den zeitgenössischen Redeschulen wirkt hinsichtlich der von ihm selbst im zweiten Buch bearbeiteten Themenfelder bisweilen paradox. Dass diese Widersprüchlichkeit vom Autor intendiert war, wird auch dadurch deutlich, dass er seiner Figur bereits zu Beginn ihres Vortrags ein Bewusstsein für ihre Rolle als Lehrmeister zuweist:324 316 317

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Vgl. Leeman/Pinkster/Rabbie 1989, S. 153. Cic. de orat. 2,197. Der nur vier Jahre vor dem dramatischen Datum verhandelte Prozess, in dem beide vor Gericht gegeneinander antraten, fungiert dabei als Musterbeispiel für den Einsatz von Pathos und Ethos in der Praxis des römischen Gerichtswesens. Zum rekonstruierten Ablauf der von Antonius gehaltenen Verteidigungsrede s. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 131. Cic. de orat. 2,202–204. Vgl. Becker 1938, S. 17. Cic. de orat. 2,96f. Ebd., 2,100; vgl. Leeman/Pinkster/Rabbie 1989, S. 36. Cic. de orat. 2,89. Ebd., 2,117, vgl. 2,133. Ebd., 2,28f.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur audite vero, audite, […] hominum enim audietis de schola atque a magistro et Graecis litteris eruditum. et eo quidem loquae confidentius, quod Catulus auditor accessit, cui non solum nos Latini sermonis sed etiam Graeci ipsi solent suae linguae subtilitatem elegantiamque concedere. (29) sed quia tamen hoc totum quicquid est, sive artificium sive studium dicendi, nisi accessit os, nullum potest esse, docebo vos, discipuli, id quod ipse non didici quid de omni genere dicendi sentiam. Höret nur gut zu! Ihr werdet nämlich einem Mann vom Fach, dem Schüler eines Meisters und Vertreter griechischer Gelehrsamkeit zuhören. Ich werde auch insofern selbstbewusster sprechen, als mit Catulus ein Zuhörer erschienen ist, dem nicht nur in unserer lateinischen, sondern sogar die Griechen selbst in ihrer Sprache Geschmack und Eleganz zuzuerkennen pflegen. (29) Weil aber trotzdem diese ganze Technik oder Wissenschaft der Rede, was immer auch sie sei, nur dann bestehen kann, wenn sie mit frecher Stirn auftritt, will ich euch, meine Schüler, etwas lehren, was ich selbst nicht lernen konnte, und euch meine Meinung über die gesamte Redekunst erklären.

Indem sich Antonius selbst als ein „Mann vom Fach“ (de schola) und Schüler „eines (Schul-) Meisters“ (a magistro) darstellt und die von ihm gering geschätzten griechischen Rhetoren sprachlich imitiert (audite vero, audite!) und parodiert, führt er den dadurch amüsierten Gesprächsteilnehmern das Verhalten jener Theoretiker vor.325 Das betont scherzhafte Auftreten, das sich an dieser Stelle als Rollenspiel präsentiert, verweist nicht nur auf den neuartigen Charakter eines solchen Diskurses innerhalb des römischen Ambientes, sondern trägt darüber hinaus zur Atmosphäre in der Gesamtszenerie bei.326 Die eigene Überlegenheit gegenüber praxisfernen griechischen Theoretikern der Rede beweist die Dialogfigur nicht zuletzt darin, dass sie immer wieder auf historische Beispiele zurückgreift, wie etwa den bereits erwähnten Norbanusprozess. 327 Die Beispiele aus dem Alltag des Forums wirken an sein Auditorium angepasst, da meist einer aus diesem an den angeführten Prozessen mit beteiligt war. Sein Vortrag soll dabei eine Verbindung zwischen der rhetorischen Theorie und dem Alltag der Redner darstellen. Dass ihm diese in seinem Vortrag gelungen sei, wird ihm von dem Gesprächspartner Catulus am Ende des zweiten 325 326 327

Vgl. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 223. Vgl. Zoll 1962, S. 108. Als weitere historische Beispiele nennt Antonius etwa den Fall der lex Sempronia de capite civium von 120: Cic. de orat. 2,106, 132, 165, 169, 170; die Lex Acilia de repetundis von 119: 2,170; den von ihm selbst geführten Prozess gegen Q. Marcius Rex und seine Anklage aus dem Jahr 103 gegen Cn. Mallius Maximus wegen der Niederlage von Arausio: 2,125; den Prozess gegen Sex. Titius: 2,48; einen um 97 von ihm geführten Prozess wegen der Lex Servilia (Glauciae) de repetundis: 2,124, 188, 194– 196; zwei Prozesse des Sulpicius um das Jahr 96 und 95: 2,88; seinen aus dem Jahr 91 stammenden Fall gegen die von C. Scribonius Curio verteidigten Cossi: 2,98.

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Buchs bestätigt, indem dieser hervorhebt, dass Antonius schulisches Wissen „mit größter Sorgfalt untersucht“ und „von überall gesammelt“ habe (diligentissime cognosse […] undique collegisse). 328 Als sein Verdienst erscheint es dabei, „durch praktische Erfahrung gelehrt“ (usuque doctum) jenes verbessert zu haben (conrexisse). Das dialoginterne Lob, welches die Dialogfigur erfährt, verweist an dieser Stelle nicht unbeabsichtigt auf den Dialogautor, wodurch es gleichzeitig als dialogextern gelesen werden kann. 329 Die Dialogfigur verkörpert dahingehend den Anspruch Ciceros, die vorhandene Literatur – partim conrexisse […] partim comprobasse – zu überbieten. Auch die Bemerkung des Crassus, wonach keiner der Gelehrten, die er in Athen gehört habe, „mit größerer Ausführlichkeit und Gründlichkeit“ (neque […] copiosius […] neque subtilius) über diese Themen gesprochen habe als Antonius heute, verweist erneut auf den Überbietungsanspruch, den der Autor mit De oratore hegt.330 f)

Zusammenfassung

Mit der Figur des Antonius zeichnet Cicero nicht nur das Bild eines pragmatischen Redners, der seine praktische Erfahrung dem Alltag des Forums verdankt, sondern auch das eines Römers, der erst in der vertraulichen Atmosphäre des otium sein wahres Naturell verrät und dabei sein Interesse an verschiedenen Wissenschaften wie Geschichtsschreibung und Philosophie gesteht. Dass das intellektuelle Profil der Dialogfigur zu einem nicht geringen Teil auf die Fiktion des Autors zurückgehen dürfte, scheint mit Blick auf das Antonius-Bild im Brutus naheliegend. Allerdings zeigt sich, dass die Figurengestaltung immer wieder auf historische Aspekte zurückgreift, um dem Leser ein in sich stimmiges und glaubwürdiges Bild der Person zu vermitteln. Antonius’ Pragmatismus harmoniert mit dem Gesprächsverlauf, indem er an den Alltag des Redners und somit an die Lebenswirklichkeit aller Gesprächsteilnehmer erinnert. Durch diese römische Perspektivität wird sowohl das Publikum als auch der Wirkungsbereich von Ciceros Bildungsprogramm klar auf die res publica fokussiert. Der auf Platons Phaidros rekurrierende Meinungsumschwung offenbart für den aufmerksamen Leser in Antonius eine zweite an den platonischen Sokrates angelehnte Figur. Durch den komplementären Charakter ihrer Vorträge wird dieser Eindruck noch verstärkt, so dass der Beginn eines römischen Rhetorikdiskurses, den Cicero mittels des Dialogs De oratore in das Jahr 91 projiziert, als Produkt einer kollektiven Leistung erscheint. Innerhalb dieser Bildungsszenerie verkörpern die Dialogfiguren Crassus und Antonius dadurch, dass sie theoretisches Wissen mit praktischer Erfahrung verbinden, die Überwindung des Schismas zwischen Philosophie und Rhetorik, wodurch sie mit höherer Berechtigung als zeitgenössi-

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Cic. de orat. 2,362; vgl. Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 80. So Hösle 2006, S. 70. Cic. de orat. 2,365.

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sche griechische Rhetoriklehrer eine Lehrerrolle einnehmen: dialogintern für die jüngeren Gesprächspartner, dialogextern für den Leser.

1.2

Die jüngeren Gesprächsteilnehmer Sulpicius, Cotta und Caesar Strabo

Mit Cotta und Sulpicius treten in De oratore zwei etwa gleichaltrige junge Redner auf, die bereits in der Eröffnung als adulescentes beschrieben werden.331 In ihnen sah Cicero, wie aus dem Brutus hervorgeht, nicht nur herausragende Redner ihrer Generation, sondern auch ein Gegensatzpaar, das den unterschiedlichen Stil ihrer Lehrer weiterführte: so habe Cotta Antonius, Sulpicius dagegen Crassus nachgeahmt (imitari), jedoch ohne dass sie ihre Vorbilder erreicht hätten.332 Diese Charakterisierung findet sich ebenfalls in De oratore: beide noch am Anfang ihrer politischen Karriere stehenden Redner werden nicht nur als enge Vertraute des optimatischen Volkstribunen Drusus,333 sondern auch als die Hoffnung der Älteren exponiert (in quibus magnam tum spem maiores natu dignitatis suae conlocarent).334 Ihr tragisches Schicksal in der Zeit nach den ludi Romani des Jahres 91, das dem zeitgenössischen Leser durchaus bekannt war und an das im Proömium des dritten Buchs nochmals explizit erinnert wird, erhöht von Anfang an die dramatische Grundstimmung des Gesprächs.335 Ihr Ruhm als erste Redner der jungen Generation ist dem erfahrenen Protagonisten Crassus nicht entgangen, der noch vor seinem einleitenden Enkomion auf die Redekunst ihre bereits vorhandene Fertigkeit (tantam […] facultatem adepti) auf diesem Gebiet lobt, aufgrund derer man sie bereits ihren Altersgenossen vorziehen und mit der älteren Generation von Rednern vergleichen würde.336 In ihrer Funktion als künftige Redner und jüngste Teilnehmer des Gesprächs spiegeln sie gleichzeitig den Adressaten von De oratore und des darin angelegten Bildungsprogrammes wider: Dieses richtet sich in seiner Forderung, Praxis und Theorie der Rhetorik zu ver-

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Cic. de orat. 1,25. Der Begriff des adulescens wird von Cicero, wie Mankin herausstellt, generell für römische Männer zwischen Mitte 20 bis Anfang 40 verwendet, s.: Mankin 2011, S. 110. Cic. Brut. 203f. Zur politischen Gesinnung der Gesprächsteilnehmer ciceronischer Dialoge s. auch: Becker 1938, S. 15. Meyer zufolge besteht das „eigentliche Band der Einigkeit“ aus der gemeinsamen Gegnerschaft des Gesprächskreises zum Konsul Philippus und in der Unterstützung seines Kontrahenten Drusus: Meyer 1970, S. 23. Cic. de orat. 1,25. Inwieweit in ihrer Stilisierung eine „Übertreibung“ des Autors liegt, wie Leeman und Pinkster annehmen, lässt sich schwer bestimmen, obschon eine solche aufgrund des dramatischen Charakters des Dialogs wahrscheinlich ist: vgl. Leeman/Pinkster 1981, S. 90; zur Biographie des Cotta und Sulpicius s. unten S. 92–94 u. 98–100. Cic. de orat. 1,30.

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binden, vor allem an Redner, die bereits über eine bestimmte Vorerfahrung auf diesem Gebiet verfügen. Trotz theoretischer und praktischer Vorkenntnisse treten sie in einer hierarchisch untergeordneten Position auf, was vor allem daraus ersichtlich ist, dass sie während des Gesprächsverlaufs keine wichtigen thematischen Impulse setzen. Ihre Bedeutung ist vielmehr in einem pädagogischen Kontext angesiedelt, der durch ihre Rolle als Vertreter der Jugend erst ermöglicht wird. 337 Als solche zeigen sie sich gegenüber der älteren Generation in vorbildlicher Weise aufgeschlossen und wissbegierig. Diese Vorbildlichkeit bringen sie nicht nur in ihrem Talent, sondern auch in ihrem Betragen zum Ausdruck, wie etwa in der Mitte des ersten Buchs deutlich wird, als Cotta eine Frage an Crassus richten möchte, sich aber dafür an den Mittler Scaevola (a te peto, Scaevola) wendet, da die Scham ihn und seinen Altersgenossen daran hindere (me enim et hunc Sulpicium impedit pudor), selbst Crassus zu fragen.338 Die von Cotta geübte Zurückhaltung bringt eine sittsame Scheu (pudor) der jungen Gesprächspartner zum Ausdruck, die von der Jugend gegenüber den maiores erwartet wurde.339 Als dem Werk immanente Adressaten repräsentieren sie die Schicht junger Römer, die Cicero als Rezipienten seines Bildungsprogramms betrachtete.340 Beide bilden innerhalb des Dialogs eine feste Gruppe, in der eine Person stets für die andere zu sprechen scheint.341 Gleichzeitig erhalten sie kollektiv Aufmunterung durch die älteren Gesprächspartner, die damit selbst ihrer Aufgabe nachkommen, sich um die junge Generation zu kümmern.342 Betrachtet man diese Gruppierung mit Blick auf das Gesamtgefüge, so scheint es plausibel, dass Cicero, wie Steidle vermerkt, durch jene Konstellation eine „feste, altrömische Institution“ nachbilden wollte, nach der sich die jungen Mitglieder der Führungsschicht am Beginn ihrer Laufbahn führenden und erfahrenen Rednern anschlossen oder ihnen durch deductio auf Veranlassung ihrer Väter zugeführt wurden.343 Die Figur des C. Iulius Caesar Strabo passt sich dieser Struktur nur teilweise an, wie im späteren Verlauf der Untersuchung deutlich werden wird. Sie fällt hinsichtlich ihres Lebensalters und politischen Rangs genau zwischen die beiden

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Vgl. Leeman/Pinkster 1981, S. 89. Cic. de orat. 1,163. So auch bereits: Becker 1938, S. 17. S. hierzu: Steidle 1952, S. 13; Leeman/Pinkster 1981, S. 24. Einen bzgl. der Hierarchie der unterschiedlichen Lebensalter aufschlussreichen Passus liefert Cicero in seinem letzten uns erhaltenen philosophischen Werk De officiis, in dem das ideale Auftreten der adulescens gegenüber den maiores klar definiert wird: Cic. off. 1,122; vgl. Steidle 1952, S. 12. So beispielsweise auch Sulpicius für Cotta: Cic. de orat. 1,96, 131 u.a. Häufiger spricht einer der beiden in der ersten Person Plural, z.B.: Cic. de orat. 1,133, 148, 161. Ebd., 1,30, 106, 131, 134; 2,88f., 197; 3,31, 230. Steidle 1952, S. 11.

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Gruppen der Hauptredner und der adulescentes und soll daher nach der Untersuchung von Cotta und Sulpicius genauer beleuchtet werden.

1.2.1 C. Aurelius Cotta a)

Historische Persönlichkeit

Cotta erscheint zehn Jahre nach De oratore erneut in De natura deorum als Figur in einem ciceronischen Dialog. Als Sohn der Rutilia, der Schwester des uns aus De re publica bekannten P. Rutilius Rufus, wurde er um das Jahr 124 geboren, wodurch sich für den früheren Dialog ein Alter von 33 ergibt, für den späteren ein Alter von etwa 47 Jahren.344 Der historische Cotta bewarb sich im Jahr 91, möglicherweise bereits als einer der Pontifices, für das Volkstribunat, so dass er zum dramatischen Datum von De oratore kurz vor der Übernahme erster politischer Verantwortung steht.345 Kurze Zeit nach dem Tod des mit ihm befreundeten Volkstribunen M. Livius Drusus wurde er aufgrund der Lex Varia de maiestate im Jahr 90 verurteilt und zum Gang ins Exil gezwungen, wodurch sich der eigentliche Beginn seiner politischen Karriere bis zur Rückkehr Sullas im Jahr 82 verzögerte.346 Die einzelnen Stationen seiner Ämterlaufbahn bis zum Konsulat lassen sich wie folgt rekonstruieren: Während die Quaestur und das Aedilat unklar sind, gilt es als wahrscheinlich, dass er im Jahr 81 Praetor und anschließend Propraetor war, als der er mit dem Kampf gegen den Popularen Sertorius in Spanien betraut wurde.347 Erst im Jahr 75 erreichte er das Konsulat, in dem er mittels der Lex Aurelia zur Aufhebung der von Sulla eingeführten rechtlichen Restriktionen für das Volkstribunat beitrug.348 Im Jahr 74 erhielt er Gallien als konsularische Provinz und erlangte – wohl nicht zuletzt aufgrund seiner guten

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Hinsichtlich des Geburtsjahres s. Sumner 1973, S. 109f.; ihm folgen Ducos 1994e, S. 481 und Elvers 1997a, Sp. 320; die ältere Forschung ging vom Jahr 120 aus: vgl. Klebs 1896, Sp. 2482f. Zum Pontifkat s. MRR 2, S. 23. u. 25; vgl. Klebs 1896, Sp. 2483. Cic. de orat. 3,11; Brut. 305; App. civ. 1,37; vgl. Klebs 1896, Sp. 2483; Elvers 1997a, Sp. 320. Malitz äußert die Vermutung, dass er sich in seinem achtjährigen Exil bei seinem Onkel Rutilius mit der Philosophie beschäftigt haben könnte: Malitz 1972, S. 365. Zu der Annahme der Praetur und Propraetur in der Forschung s. MRR 3, S. 31. S. hierzu: MRR 2, S. 96; ferner: Klebs 1896, Sp. 2483. Als Grund für das späte Erlangen des Konsulats wird ein mögliches Scheitern gegen Sertorius vermutet: Ducos 1994e, S. 481. Zu der in diese Zeit fallenden Rede Cottas in den Fragmenten von Sallusts Historien s. Malitz 1972, S. 374–386.

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Beziehungen zur Nobilität – die Bewilligung eines Triumphzugs, welchen er jedoch aufgrund seines plötzlichen Todes nicht mehr durchführen konnte.349 Hinsichtlich der Bildung der historischen Persönlichkeit sind wir fast vollständig auf die Angaben Ciceros angewiesen. Hinsichtlich der Philosophie sind all diese Angaben der gleichnamigen Dialogfigur zugeschrieben, so dass sich nicht zweifelsfrei bestimmen lässt, inwieweit es sich dabei um Fiktion handelt. Fest steht, dass er der Sohn der Schwester des stoischen Redners Rutilius war, den Cicero im Exil besuchte,350 jedoch listet ihn der Arpinate nicht als einen der von der Stoa beeinflussten Redner auf.351 Zusammen mit Sulpicius wird er im Brutus zu den wichtigsten Rednern seiner Generation gezählt, wobei er sich durch seine scharfsinnige inventio, ungekünstelte Sprache (dicebat pure et solute) und einen ausgewogenen Einsatz rhetorischer Mittel von seinem gleichaltrigen Zeitgenossen unterschieden habe.352 Betrachtet man das persönliche Verhältnis zwischen Cotta und dem Autor, so lässt sich zunächst konstatieren, dass der erste gesicherte historische Kontakt zwischen beiden im Jahr 80/79, kurz vor Ciceros Griechenlandreise, vor Gericht stattfand.353 Über das Verhältnis zu ihm in dieser und in späterer Zeit lässt sich nur mutmaßen, doch suggeriert die Tatsache, dass Cotta als Gewährsmann (Cotta […] narrabat) für das Gespräch in De oratore fungiert,354 dass dieses von Anerkennung geprägt war. Hierfür spricht auch das Setting des späteren Werks De natura deorum, in dem der junge Cicero als willkommener Gast bei Cotta auftritt.355 Noch deutlicher kommt die Verbundenheit im Brutus zum Ausdruck, wo Cicero in der Rückschau auf seine Jugendjahre von seiner persönlichen Erschütterung (me […] primus dolor percussit) in Folge der Verbannung des Cotta spricht.356 An das Unglück der Verbannung, welches Cicero selbst wenige Jahre vor De oratore erfahren musste, wird explizit am Beginn des dritten Buchs erinnert.357 Dort beklagt der Autor Cottas Vertreibung aus dem Staat (eiectus est e civitate), die diesen um die Aussicht auf das Tribunat beraubt hätte, in nicht geringerem Ausmaß als den Tod der anderen Dialogfiguren, was möglicherweise 349

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Zur Wertung des Triumphs im Spiegel der innenpolitischen Situation sei verwiesen auf: Malitz 1972, S. 374. Cic. Att. 12,20 = 258 Sh. B.,2; zur Person des Rutilius s. unter III 2.2.2. Cic. Brut. 114–118. Ebd., 202. Cicero weist auch in seiner Verteidigungsrede für Caecina explizit auf den hohen Rang des Cotta als Redner hin, indem er ihn als „den gewandtesten Redner unseres Staates“ (hominem disertissimum nostrae civitatis) anspricht: Cic. Caecin. 97. Nachdem sich Cicero damals gegen ihn in einem Prozess gegen eine Arretinerin durchsetzen konnte, trat er bei der Verteidigung der Titinia mit ihm zusammen auf. S. hierzu: Bringmann 2010, S. 43. Cic. de orat. 1,26: Cotta […] narrabat. Cic. nat. deor. 1,15. Cic. Brut. 305. Cic. de orat. 3,11.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

durch seine eigene, als überaus bitter empfundene Erfahrung der Verbannung bedingt ist. Festzuhalten bleibt, dass Cotta ohne Zweifel die Person aus dem Personenkreis von De oratore ist, welche der Autor selbst am besten kennengelernt hatte. b)

Cotta als Gewährsmann und junger Redner

Eben diese persönliche Verbindung zwischen der historischen Persönlichkeit und dem Autor prädestiniert die Figur des Cotta als Gewährsmann für das Gespräch. In dieser Zeugenfunktion kommt ihr selbst der geringste Gesprächsanteil zu.358 Sein Auftreten ist dabei stark von der ihm oben skizzierten Rolle des adulescens geprägt. Bereits seine erste Wortmeldung verrät vorbildliche Wissbegierde und ein Interesse an der Konversation, indem er Sulpicius bei dem Versuch, Crassus zu einem Vortrag über die Redekunst zu bewegen, zur Hilfe kommt:359 quoniam id quod difficillimum nobis videbatur, ut omnino de iis rebus, Crasse, loquerere, adsecuti sumus, de reliquo iam nostra culpa fuerit, si te, nisi omnia quae percontati erimus explicaris, dimiserimus. Da wir das, was uns am schwierigsten erschien, erreicht haben, nämlich dass du überhaupt über diese Fragen sprichst, Crassus, sind wir im Übrigen wohl selbst schuld, wenn wir dich entlassen, ohne dass du uns auf alle Fragen eine Erklärung gegeben hast.

Stellvertretend für Sulpicius beharrt die Cotta-Figur in vorsichtiger Bescheidenheit darauf, dass er nun das Gespräch fortsetze. Mit dem Verweis auf ein angeblich eigenes Fehlverhalten (nostra culpa) wird die Bitte an Crassus dem humanen Umgangston des Gesprächs angepasst.360 Als vorbildlicher adulescens ordnet sie sich von Anfang an den älteren Dialogfiguren durch dezidierte Zurückhaltung unter. Diese zeigt sich erneut darin, dass sich die Figur erst dann lobend über Crassus’ Vortrag äußert, nachdem sie von Scaevola explizit um ihre Meinung gebeten wurde.361 Als jener ihn in seiner Funktion als Alterspräsident auffordert, er solle Crassus bitten, seinen Vortrag fortzusetzen, reagiert Cotta mit Verweis auf seine jugendliche „Scheu“ (pudor) und der höflichen Bitte, doch selbst in ihrem Namen Crassus zu fragen, demonstrativ zurückhaltend.362 Sein Verhalten gegenüber dem Hauptredner veranschaulicht dabei die für den Rheto358

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Während er im ersten Buch fünfmal das Wort ergreift, äußert er sich in den Büchern 2 und 3 gerade noch jeweils zweimal: Cic. de orat. 1,100, 101, 133, 161, 163; 2,366, 367; 3,144f., 208. Cic. de orat. 1,100. S. Leeman/Pinkster 1981, S. 198. Cic. de orat. 1,160f. Ebd., 1,163.

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rikschüler wichtigen Grundvoraussetzungen des studium und der „leidenschaftliche Begierde“ (ardorem amoris), die Crassus in ihm und Sulpicius erkennt.363 Auf die bereits angesprochene imitatio der historischen Person gegenüber Antonius, von der Cicero im Brutus berichtet364 wird erstmals zu Beginn des zweiten Buchs durch die Szeneriebeschreibung angespielt: so seien beide vor der Ankunft von Catulus und Caesar Strabo in der Säulenhalle auf und ab spaziert (cum […] Antonius […] cum Cotta in porticu inambularet). 365 Das LehrerSchüler-Verhältnis zwischen Antonius und Cotta findet dabei seine Parallele in dem zwischen Crassus und Sulpicius, die zur selben Zeit zusammen sind, wodurch der didaktische Kontext zu Beginn des zweiten Buchs heraussticht. Diese Schülerrolle des adulescens Cotta wird noch genauer bestimmt hinsichtlich der Frage nach den notwendigen Voraussetzungen. Wie Sulpicius erscheint er als ein Römer, der bereits erste Erfahrungen vor Gericht gesammelt hat. Dies zeigt auch die Behandlung des Skandalprozesses um den mit Cotta verwandten Rutilius, bei dessen erfolgloser Verteidigung er einen Redepart übernommen habe. 366 In dem Fall, der Antonius als Negativbeispiel par excellence für eine zu philosophische Rhetorik gilt, konnte der offensichtlich Unschuldige zwar nicht vor der Verurteilung und dem Exil bewahrt werden, doch offenbart die Stelle auch eine apologetische Tendenz zugunsten des bereits äußerst „beredten jungen Mannes“ (disertissimo adulescenti), indem darauf verwiesen wird, dass man ihm nur einen kleinen Redepart zugeteilt habe (paulum […] tribuit).367 Dass der Autor mit den beiden adulescentes Cotta und Sulpicius zwei unterschiedliche Typen von Rednern abbildet, wird vor allem im dritten Buch bei einem Vergleich des Crassus deutlich:368 ecce praesentes duo prope aequales Sulpicis et Cotta. quid tam inter se dissimile? quid tam in suo genere praestans? limitatus alter et subtilis, rem explicans propriis aptisque verbis. haeret in causa semper et quid iudici probandum sit cum acutissime vidit, omissis ceteris argumentis, in eo mentem orationemque defigit. Da haben wir mit Cotta und Sulpicius zwei fast Gleichaltrige vor Augen. Was könnte so verschieden voneinander sein? Und was in seiner Art so ausgezeichnet? Geschliffen und präzise wirkt der eine, der seine Sache mit treffendem und angemessenem Ausdruck erklärt. Er hält sich immer an die Sache, und wenn sein

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368

Cic. de orat. 1,134. Cic. Brut. 203f. Cic. de orat. 2,12; vgl. Leeman/Pinkster 1981, S. 89. Cic. de orat. 1,227–233. Ebd., 1,229; vgl. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 150f. Neben dem Rutilius-Prozess wird auch an seine Erfahrungen im Norbanusprozess erinnert, in dem Sulpicius die Gegenseite vertrat: Cic. de orat. 2,107, 124, 201f. Ebd., 3,31.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur scharfer Blick erkannt hat, wovon man den Richter überzeugen muss, lässt er die anderen Argumente außer Acht und richtet seinen Sinn und seine Rede ganz auf einen Punkt.

Cotta wird von Crassus als Redner mit „geschliffener“ (limatus) und „präziser“ (subtilis) Ausdrucksweise von Sulpicius unterschieden.369 Für Crassus als Stellvertreter des Autors gelten die beiden jungen Redner als Musterbeispiel dafür, dass herausragende Redekunst auf völlig unterschiedlichen Qualitäten beruhen könne.370 Die von Cicero im Brutus erneut thematisierte Unterschiedlichkeit der prope aequales ist für den Autor auch mit Blick auf den durch die personelle Zusammensetzung des Dialogs intendierten Leserbezug von Interesse: Als Vertreter der Jugend und als werkinterne Adressaten von De oratore werden mit Cotta und Sulpicius explizit zwei unterschiedliche Typen von Lesern angesprochen, auf die der Diskurs eine anspornende Wirkung erzielen sollte.371 Als junger Redner, der seine Fertigkeit noch nicht zur Vollendung gebracht hat, erfährt Cotta dabei nicht nur Lob: so kritisiert Crassus humorvoll Cottas breiten Sprachgebrauch, mit dem er ihm weniger „die alten Redner als vielmehr Schnitter nachzuahmen“ scheine (non […] oratores antiquos, sed messores videtur imitare). 372 Als seine individuelle Stärke wird dagegen – von Antonius – seine „pointierte Ausdrucksweise“ (acutissimum et subtilissimum dicendi genus) gelobt und Cotta dahingehend dem durch seinen Witz brillierenden Caesar Strabo gegenübergestellt.373 c)

Cotta und die Philosophie der Akademie

Ein weiterer Kontrast zwischen ihm und seinen gleichaltrigen Gesprächspartnern kommt im dritten Buch zum Ausdruck. Nachdem Crassus in seinem Vortrag die Notwendigkeit universeller Bildung beschworen und darin auch einen Überblick über die verschiedenen philosophischen Systeme hinsichtlich ihrer Nützlichkeit für den Redner gegeben hat,374 zeigt die Cotta-Figur folgende Reaktion: 375

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Die Unterscheidung zwischen den beiden Rednern korrespondiert mit jener, die Cicero im Brutus vornimmt, wonach es zwei Typen guter Redner gäbe (oratorum bonorum […] duo genera sunt), nämlich einen mit „schlichter“ (attenuate presseque) und einen anderen mit „erhabener und eindrucksvoller Sprache“ (sublate ampleque dicentium): Cic. Brut. 201–204. Vgl. Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 164. Zur Integration verschiedener Lesergruppen durch von verschiedenen Dialogfiguren artikulierte gegensätzliche Positionen s. auch: Sauer 2013. Cic. de orat. 3,46. Ebd., 2,98. Ebd., 3,56–80. Ebd., 3,145.

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[…] omnem enim rerum scientiam complexus non tu quidem eam nobis tradidisti, neque enim fuit tam exigui temporis, sed apud hos quid profeceris, nescio, me quidem in Academiam totum compulisti. in qua velim sit illud, quod saepe posuisti, ut non necesse sit consumere aetatem atque ut possit is illa omnia cernere, qui tantummodo aspexerit; sed etiam si est aliquando spissius aut si ego sum tardior, profecto numquam conquiescam neque defetigabor ante quam illorum ancipites vias rationesque et pro omnibus et contra omnia disputandi percepero. Indem du die gesamte Wissenschaft umfassend dargestellt hast, konntest du sie uns zwar nicht vermitteln, das wäre ja nicht das Werk so kurzer Zeit gewesen, aber wenn ich auch nicht weiß, was du bei diesen hier erreicht hast, so hast du mich doch jedenfalls ganz auf die Seite der Akademie getrieben. Ich wünschte zwar, dass das, was du so oft festgestellt hast, in ihrem Fall nicht nötig wäre, nämlich sein Leben auf sie zu verwenden, und dass der, der nur einen Blick darauf geworfen hat, das alles sehen könnte. Doch wenn es auch zuweilen verwickelter ist und ich zu schwerfällig bin, so will ich doch gewiss nie ruhen und nicht müde werden, bis ich ihre doppelte Methode begriffen habe, sich zu allem positiv wie negativ zu äußern.

Anders als nach ihm Sulpicius reagiert Cotta geradezu enthusiastisch auf Crassus’ Vortrag.376 Dass er bereits an dieser Stelle eine erste Faszination für das System der skeptischen Akademie und ihrer diskursiven Praxis zu erkennen gibt, kann hinsichtlich seiner späteren Rolle in De natura deorum als gewichtiges Indiz für eine tatsächliche Neigung Cottas zu dieser Philosophie gewertet werden.377 Im Kontext des personalen Gefüges spiegelt sich in der jungen Dialogfigur eine klar philosophiefreundliche Haltung wider, die von der ablehnenden Haltung des Sulpicius flankiert wird, wodurch dem Leser zwei konträre Identifikationspunkte geboten werden. 378 Darüber hinaus geht der Autor noch einen Schritt weiter, indem die Hinwendung der Cotta-Figur zur Philosophie nicht durch einen griechischen Philosophen, sondern durch den beidseitig gebildeten Crassus erfolgt (me quidem in Academiam totum compulisti).379 Zwar ist sich die 376

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378 379

Zur Reaktion des Sulpicius: Cic. de orat. 3,147. Zur enthusiastischen Reaktion des Cotta vgl. Wisse/Winterbottom/Fantham 2008, S. 165f. Vgl. Mankin 2011, S. 232. Nach Wisse/Winterbottom/Fantham sei die Neigung des historischen Cotta durch seine spätere Rolle in De natura deorum und den Brief Cic. Att. 13,19 = 326 Sh. B.,3–5 belegt, in dem Cicero auf Atticus’ Vorschlag, Cotta und Varro als Sprecher für die Academici libri auftreten zu lassen, reagiert: Wisse/Winterbottom/Fantham 2008, S. 169. Zur Konstellation s. auch: Fantham 2004, S. 265. Dass tatsächlich eine Bekehrung des historischen Cotta zur akademischen Skepsis durch die Person des Crassus erfolgte, wie Malitz annahm, lässt sich aufgrund fehlender weiterer Quellen nicht belegen. Aufgrund der Tatsache, dass wir über Crassus’ Haltung zur Akademie ebenfalls keine nichtdialogischen Quellen haben und Cicero ihm eine solche im Brutus nicht attestiert, während die Affinität anderer Redner zur

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Figur bewusst, dass es sich aufgrund des zeitlichen Rahmens nur um einen ersten Einblick und keine Vermittlung handelt (non tu quidem eam nobis tradidisti), doch gibt sie sich bereits als künftiger Schüler zu erkennen, der unermüdlich auf die Methode der Akademie hinarbeiten würde (profecto numquam conquiescam neque defetigabor). d)

Zusammenfassung

Es lässt sich zusammenfassen, dass die Figur des Cotta als Vertreter der Jugend angelegt ist, dabei jedoch über markante individuelle Züge verfügt. Während er wie Sulpicius ein idealtypisches, sich den älteren Gesprächspartnern unterordnendes und von regem Interesse geleitetes Verhalten offenbart, unterscheidet er sich von diesem durch seine Ausdrucksstärke und akkurate Rhetorik, welche im Dialog rezipiert wird und stark von der Idealisierung der Jugend geprägt ist. Darüber hinaus inszeniert der Autor anhand seiner Figur eine Hinwendung zur Philosophie mittels eines lateinischen Redners. Im Kontrast zu den Bildungserfahrungen der älteren Dialogfiguren Crassus und Antonius erfolgt – zumindest in der Fiktion – der Kontakt des Römers mit der Philosophie auf dem römischen Terrain der Villenanlage bei Tusculum. Die individuellen Züge, die wir auch bei Sulpicius und Caesar Strabo finden werden, zeigen, wie akribisch das personale Setting in De oratore gestaltet ist. Die jeweiligen Eigenheiten der Figuren spiegeln nicht nur Redner mit unterschiedlichen Stärken wider, sondern sprechen auch verschiedene Leser an. Darüber hinaus zeigt sich in dem Bild, das Cicero von der Figur entwirft, die respektvolle Erinnerung an eine mit ihm vertraute Persönlichkeit, an die er zehn Jahre später mit einem weiteren Dialog anschließen wird.

1.2.2 P. Sulpicius Rufus a)

Historische Persönlichkeit

Publius Sulpicius Rufus wurde um 124/123 als Sohn einer patrizischen Familie geboren, so dass er zum Zeitpunkt des untersuchten Gesprächs von De oratore ungefähr 33 Jahre alt war.380 Noch öfter als Cotta war er bereits vor der Dialoghandlung als Prozessredner aufgetreten: Sein frühestes Wirken vor Gericht, ein nur als causa parvula bezeichneter Prozess, bei dem er schon Antonius aufgefallen sei, wird um das Jahr 96 vermutet.381 Zwischen 96 und 94 war er Kläger

380 381

Stoa exlizit herausgestellt wird, muss eher von Fiktion statt von Historizität ausgegangen werden. Vgl. Malitz 1972, S. 364. Zu Abstammung und Geburtsjahr s. Münzer 1931, Sp. 843f. Cic. de orat. 2,88; s. hierzu TLRR 85.

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gegen den des Majestätsverbrechens nach der Lex Appuleia de maiestate beschuldigten C. Norbanus, der jedoch durch die Verteidigung des Antonius freigesprochen wurde.382 Als Verbündeter von Livius Drusus, C. Cotta und Pompeius Rufus trat er spätestens ab 91 politisch für die Verleihung des römischen Bürgerrechts an die italischen Bundesgenossen ein.383 Im Jahr 88 hatte Sulpicius das Volkstribunat inne, wodurch er zu einem der Hauptakteure innerhalb der politischen Auseinandersetzungen zwischen Sullanern und Marianern wurde. 384 Zu einem frühen Zeitpunkt seines Tribunats ging er dabei zusammen mit seinem Kollegen P. Antistius gegen die widerrechtliche Kandidatur des Caesar Strabo vor.385 Nutznießer seiner Agitation waren die späteren Konsuln Sulla und Pompeius Rufus, von denen er sich anfangs keine allzu große Opposition gegen seine Bestrebungen der Integration der italischen Bevölkerung erwartete.386 Während Sulpicius Rufus zum Zeitpunkt des Gesprächs dieselbe politische Orientierung wie die übrigen Dialogfiguren aufweist, schlug er sich im Jahr seines Volkstribunats als einziger auf die Seite des Marius. Dass es sich dabei um einen radikalen Kurswechsel handelte, zeigt sich auch an der Tatsache, dass er zu Beginn des Jahres 88 noch im Sinne Sullas agierte, indem er ein Veto gegen die Rückberufung der verbannten Anhänger des Livius Drusus einlegte, was den Gesprächspartner Cotta direkt betraf. 387 Der unerwartete Widerstand Sullas gegen sein Eingliederungsgesetz von Italiern und Freigelassenen brachte Sulpicius jedoch auf die Seite des Marius. Spätestens seit seiner Agitation gegen Caesar Strabo griff er auf bewaffnete Banden zurück, mit deren Hilfe er sich gegen die Konsuln durchzusetzen hoffte.388 Dieser politische Stil musste bei Cicero sowie dem Gros der Nobilität Assoziationen an die Gracchen und an Saturninus wecken. Nach einem vorübergehenden Ausweichen Sullas nach Nola marschierte dieser mit seinen Soldaten nach Rom, worauf Sulpicius den Tod fand und seine Gesetze revidiert wurden.389 Durch seinen gewaltsamen Tod gilt er als eines der ersten Opfer der sullanischen Proskriptionslisten. Cicero, der seine Informationen zu Sulpicius neben 382

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Vgl. Münzer 1931, Sp. 844; TLRR 86. Leeman/Pinkster äußerten die Vermutung, dass Sulpicius bereits in diesem Prozess anfing, sich von den Optimaten zu distanzieren: Leeman/Pinkster 1981, S. 90. Vgl. Seager 1994, S. 167. Die genaue Abfolge der Ereignisse von 89 und 88 ist in der Forschung umstritten, Heftner plädierte zuletzt für einen Amtsantritt des Sulpicius zum 11. Dezember 89 und einen Beginn der Auseinandersetzung zwischen den Volkstribunen und Caesar Strabo noch im Jahr 89, s.: Heftner 2008, S. 99f.; ebenso Seager 1994, S. 166. Inwiefern Sulpicius’ Opposition gegen Caesar Strabo optimatisch intendiert war, ist umstritten. S. hierzu: Powell 1990b, S. 457f. Vgl. Seager 1994, S. 167. Vgl. ebd., S. 167. Vgl. ebd., S. 168f. Vgl. ebd., S. 171.

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dem eigenen Erleben390 auch von Atticus, der mit dem Volkstribun verschwägert war, 391 beziehen konnte, beurteilt dessen Zeit nach 91 im Proömium von De oratore III mit folgenden Worten:392 Sulpicius autem, qui in eadem invidiae flamma fuisset, quibuscum privatus coniunctissime vixerat, hos in tribunatu spoliare instituit omni dignitate; cui quidem ad summam gloriam eloquentiae florescenti ferro erepta vita est et poena temeritatis non sine magno rei publicae malo constituta. Sulpicius aber, im brennenden Zustand allgemeinen Hasses, fing im Laufe seines Tribunates an, diejenigen, mit denen er persönlich eng verbunden war, all ihrer Würde zu berauben. Als sich jedoch der Ruhm seiner Beredsamkeit zu höchstem Glanz entfaltete, verlor er durch das Schwert sein Leben und büßte seine Unbesonnenheit nicht ohne schweren Schaden für den Staat.

Die vorgeworfene temeritas zeigt Ciceros Vorbehalte gegenüber dem popularen Politikstil des Sulpicius, welcher ihn an den Bandenterror von Clodius und Milo während der Entstehungszeit von De oratore erinnern musste.393 Jener Moment der Radikalisierung wird vom Autor als tragischer Wendepunkt der politischen Biographie seiner Dialogfigur angesehen.394 Der Leser wird zu Beginn des letzten Buches explizit an den politischen Seitenwechsel und das Ableben des Sulpicius erinnert. Indem er auf die allgemeine Radikalisierung der Zeit verweist, vermeidet er es jedoch bewusst, Sulpicius persönlich anzuprangern. Das von Cicero beklagte Vorgehen gegen die einstigen Freunde kann dabei sowohl auf seinen Widerstand gegen die Rückberufung der Verbannten (Cotta) als auch auf jenen gegen die widerrechtliche Kandidatur (Caesar Strabo) verweisen.395 Der „brennende Zustand allgemeinen Hasses“ (in eadem invidiae flamma), der drei Jahre nach dem Gespräch in Crassus’ Villa das Unglück über viele Dialogpersonen bringen wird, stellt die Besonderheit des Dialogmoments noch deutlicher heraus.396 390 391 392

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Cic. Brut. 203; 306. Nep. Att. 2,1; vgl. Münzer 1931, Sp. 844f.; Powell 1990b, S. 447. Cic. de orat. 3,11; die hier zitierte Übersetzung von Merklin folgt bzgl. in eadem invidiae flamma dem Verbesserungsvorschlag des Kommentars von Leeman, Pinkster und Wisse, die statt „gegen den derselbe Hass entbrannt war“ mit „brennenden Zustand allgemeinen Hasses“ übersetzen, wodurch die Betonung dieser Textstelle weniger auf dem Charakter des Sulpicius als vielmehr auf dem allgemeinen Unglück jener Jahre liegt: Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 120. Vgl. Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 121. Vgl. Cic. Lael. 2; Brut. 203, 306; zu seinem Erscheinen am Anfang des Laelius s. auch: Drijepondt 1963, S. 80. Vgl. Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 121; Mankin 2011, S. 110. Dass Cicero Sulpicius trotz seines späteren Verhaltens als Figur auftreten lässt, ist in Anbetracht des Umgangs mit anderen im popularen Stil agierenden Politikern durch-

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b)

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Sulpicius als junger Redner und Schüler

Wie die Figur des Cotta nimmt auch die des Sulpicius eine untergeordnete Rolle im Gespräch ein.397 Im ersten Buch ist dabei das Auftreten stärker von der mit Cotta gemeinsamen Rolle als Stellvertreter der jungen Rednergeneration geprägt, so dass er auch für seinen Altersgenossen das Wort ergreift und ihn durch die erste Person Plural einschließt.398 In der idealisierten Rolle äußert er im ersten Buch Beifall für das sich ereignende Gespräch, im zweiten ermutigt er Caesar Strabo zu seinem Vortrag über den Witz.399 Im Verlauf des dritten Buchs wird seine Person auch hinsichtlich ihres Auftretens deutlicher von der des Cotta unterschieden, worauf im Folgenden ausführlicher eingegangen wird.400 Die Individualität drückt sich auch bei ihm zunächst durch sein Profil als Redner aus. Während Crassus beiden gleichermaßen hohes Talent und Eifer attestiert (in utroque vestrum summum esse ingenium studiumque perspexi), stellt er bei Sulpicius die Voraussetzungen der äußeren Erscheinung (haec quae sunt in specie posita) als Alleinstellungsmerkmale heraus, die sich in seiner Gestik (motu corporis), Haltung (habitu), Gestalt (forma) und Stimme (voce) artikuliere. 401 Jene äußeren Qualitäten werden im zweiten Buch erneut von Antonius hervorgehoben, der sie bei ihm während eines Prozesses beobachten konnte, als er noch ein adulescentulus gewesen sei, und bereits damals erkannt habe, dass sein zu schnelles und heftiges Sprechen nur durch das Alter bedingt waren (quod erat aetatis).402 Hinzu kommt nach Crassus auch ein energisches Temperament (fortissimo quodam animi impetu).403 Durch diese Naturanlagen steht er in einem deutlichen Kontrast zu dem sich in seiner Ausdruckskraft auszeichnenden Altersgenossen Cotta. Nach Ciceros Aussage im Brutus sei Cotta dabei Antonius als Vorbild gefolgt, während Sulpicius Crassus nachgeeifert hätte. 404 In De oratore betont jedoch die SulpiciusFigur, dass sie in ihrer Jugend beiden Rednern stark nachgeeifert habe (incensus essem studio utriusque vestrum), und gegenüber Crassus sogar innerer Zunei-

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aus beachtenswert, umso mehr, als er dabei keine Antipathie für seine Figur zeigt. S. hierzu: Chapman 1979. Während sie im ersten Buch noch auf acht Wortmeldungen kommt, hat sie im zweiten noch vier, im dritten drei: Cic. de orat. 1,96–98, 102, 131, 136, 148, 203, 205, 206; 2,97, 202–204, 231, 336; 3,46f., 147. S. hierzu: Cic. de orat. 1,96–98, 131, 148, 203, 205. Cic. de orat. 1,96; 2,231. Vgl. Leeman/Pinkster 1981, S. 90. Cic. de orat. 1,131f. Eben jene Vorzüge lobt Cicero auch im Brutus, wo die Dialogfigur des Brutus das rednerische Auftreten mit dem eines Schauspielers vergleicht: Cic. Brut. 203. Cic. de orat. 2,88. Ebd., 3,31. Cic. Brut. 203f.

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gung (amore) verspürt habe, diesem aber nie ein Wort über die Redekunst entlocken konnte (verbum ex eo numquam elicere potui de vi ac ratione dicendi).405 Demgegenüber stellt er darauf explizit die frühere Lehrerrolle heraus, die Antonius für ihn eingenommen habe (tu, Antoni […] numquam mihi percontanti aut quaerenti aliquid defuisti et persaepe me, quae soleres in dicendo observare, docuisti). Die Erinnerung an seine eigene Schülerrolle gegenüber Antonius in seiner Zeit als adulescentulus dient nicht zuletzt dazu, die Figur des Crassus dazu zu motivieren, selbst über die Theorie der eloquentia zu referieren. Das Anknüpfen an das biographische Lehrer-Schüler-Verhältnis transferiert das im Dialog gezeigte auf eine höhere Ebene. In jener früheren Zeit sei es Antonius gewesen, der nicht nur sein Talent entdeckt hätte, sondern ihm auch das Forum als praktische Schule und Crassus als Lehrer empfohlen habe. Sulpicius habe sich darauf als vorbildlicher Schüler gezeigt, dessen imitatio bald Früchte trug, wie Antonius berichtet:406 quod iste adripuit et ita sese facturum confirmavit atque etiam addidit, gratiae scilicet causa, me quoque sibi magistrum futurum. vix annus intercesserat ab hoc sermone cohortationis meae, cum iste accusavit C. Norbanum, defendete me. non est credibile quid iteresse mihi sit visum inter eum, qui tum erat et qui anno ante fuerat. omnino in illud genus eum Crassi magnificum atque praeclarum natura ipsa ducebat, sed ea non satis proficere potuisset, nisi eodem studio atque imitatione intendisset atque ita dicere consuesset, ut tota mente Crassum atque omni animo intueretur. Er griff den Rat begierig auf, versicherte, es so zu halten, und fügte noch hinzu, natürlich nur aus Liebenswürdigkeit, auch ich würde ein Lehrer für ihn sein. Kaum war ein Jahr vergangen, seit ich ihm so zugeredet hatte, da klagte er C. Norbanus an, den ich verteidigte. Man sollte es nicht glauben, was für ein Unterschied nach meinem Eindruck zwischen dem, der er zu diesem Zeitpunkt war, und dem, der er ein Jahr zuvor gewesen war, bestand. Zwar führte ihn gewiss sein eigenes Talent zu jenem prächtigen, glanzvollen Stil des Crassus, doch das hätte nicht genug ausrichten können, wenn er nicht mit geflissentlicher Nachahmung dasselbe Ziel verfolgt und die Gewohnheit angenommen hätte, so zu reden, dass er sich mit ganzer Seele und aus vollem Herzen auf Crassus hin orientierte.

Anhand der Figur des Sulpicius wird die Sinnhaftigkeit von Antonius’ Konzeption einer praktischen Schulung durch das Forum belegt. Durch seine eifrige imitatio habe er unter Crassus große Fortschritte gemacht, welche bereits nach einem Jahr beim Norbanus-Prozess sichtbar geworden seien. 407 Dass er jenen Prozess gegen Antonius, der die Verteidigung übernommen hatte, verloren hat, scheint an dieser Stelle nicht relevant. Als Schüler verband Sulpicius insgesamt 405 406 407

Cic. de orat. 1,97. Ebd., 2,89. Vgl. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 300.

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Talent und Fleiß, welche sich in der Gegenwart des Dialogs durch seine Neugierde und Bereitschaft, von Crassus einen Vortrag über die Theorie der Beredsamkeit hören, erneut artikulieren. Indem der Dialog das alte Lehrer-Schüler-Verhältnis rezipiert, ist auch Sulpicius Empfänger von Kritik. In Anlehnung an diese frühere Beziehung wird dabei von Crassus Sulpicius’ Aussprache karikiert, welche bei seiner imitatio des Cotta zum Vorschein kommen würde.408 Auf diese reagiert Sulpicius humorvoll (hic cum adrisisset ipse) und zeigt sich gegenüber weiterer angekündigter Kritik ostentativ offen (utinam quidem […] id enim volumus) in der positiven Lernerwartung, dadurch eigene Mängel ablegen zu können (hic hodie vitia ponemos).409 Zwischen Crassus, der als ältere Person das Vorrecht auf Belehrung der Jungen für sich beanspruchen kann,410 und dem Schüler Sulpicius zeichnet sich dabei eine asymmetrische Hierarchie ab. Diese hierarchische Komponente der wieder aufgegriffenen Lehrer-Schüler-Beziehung wird dabei durch den Humor deutlich entschärft, der einen ungezwungenen gegenseitigen Umgang unter den Gesprächspartnern impliziert. Dies zeigt sich erneut während der theoretischen Behandlung der imitatio im zweiten Buch: Auf die an Sulpicius gerichtete Empfehlung des Antonius, man solle sich der Schriftlichkeit bedienen, um bestimmte Auswüchse in der Rede „mit dem Griffel zurückzustutzen“ (luxuries quaedam, quae stilo depascenda est), reagiert er sowohl mit Verständnis für die Ermahnung (me quidem […] recte mones) als auch mit Humor, indem er die Vermutung äußert, dass auch Antonius nicht viel geschrieben habe (sed ne te quidem, Antoni, multum scriptitasse arbitror).411 c)

Sulpicius’ Bildung und Ablehnung der Philosophie

Ein weiteres Charakteristikum des Sulpicius stellen seine Bildung und seine Haltung zur Philosophie dar. Bereits im Brutus wurde Sulpicius als Redner gerühmt, der wie Gaius Scribonius Curio trotz fehlender Kenntnisse von Dichtern, Recht und Geschichte zu einer bestimmten Meisterschaft in der Redekunst (unum illum […] dicendi opus elaboratum) gelangt sei.412 Dass die Dialogfigur mit der Beschreibung in Ciceros Geschichte der Redner korrespondiert, zeigt sich im dritten Buch bei der Frage nach dem Nutzen der Philosophie. Nach Crassus’ Vorstellung der verschiedenen Systeme äußert Sulpicius eine exakt konträre Auffassung zu der des Cotta:413 408 409 410 411

412 413

Cic. de orat. 3,46. Ebd. Zum Recht der Älteren, die Jungen zu verbessern, s. Becker 1938, S. 17. Cic. de orat. 2,96f. Der kurze Wortwechsel zwischen Antonius und Sulpicius, die beide kaum bzw. nichts verfasst haben, spielt möglicherweise auf die Person des Autors an, der in seiner Jugend bereits ein De inventione verfasst hatte. Cic. Brut. 214. Cic. de orat. 3,147.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur ego vero, […] Crasse, neque Aristotelem istum neque Carneadem nec philosophorum quemquam desidero, vel me licet existimes desperare ista posse perdiscere, vel, id, quod facio, contemnere. mihi rerum forensium et communium volgaris haec cognitio satis magna est ad eam quam specto eloquentiam; ex qua ipsa tamen permulta nescio, quae tum denique, cum causa aliqua, quae a me dicenda est, desiderat, quaero. Wahrhaftig, Crassus, […] ich habe kein Bedürfnis weder nach Aristoteles noch nach Karneades, noch irgendeinem Philosophen, magst du auch glauben, dass ich an der Möglichkeit verzweifle, so etwas zu lernen, oder dass ich es verachte, wie ich es ja tue. Mir ist unsere ganz gewöhnliche Kenntnis in öffentlichen und allgemeinen Angelegenheiten anspruchsvoll genug für die Beredsamkeit, die ich im Auge habe. Doch weiß ich schon in ihrem Rahmen über vieles nicht Bescheid, wonach ich mich erst erkundige, wenn es ein Fall, den ich behandeln muss, erfordert.

Während Cotta offenen Enthusiasmus und ein erstes Interesse an der Akademie zeigte, reagiert Sulpicius fast schon emotional (ego vero) mit einer generellen Ablehnung der Philosophie.414 Trotz seiner abschätzigen Meinung von Philosophen zeigt er sich betont höflich bei seiner anschließenden Bitte (si tibi non graves sumus), sich auf das für ihn notwendige Rüstzeug für den Einsatz auf dem Forum zu beschränken.415 Das Bild des Sulpicius bleibt somit das eines durch Praxis und Talent geschulten Redners ohne jegliches theoretische Wissen, während das des Antonius durch den Dialog revidiert wird. Indem die Sulpicius-Figur durch ihren Pragmatismus einen deutlichen Kontrast zu der des gleichaltrigen Cotta bildet, entwirft der Autor ein heterogenes Publikum innerhalb seines Dialogs für die Darstellung der Theorie der universellen Beredsamkeit. Dass Sulpicius hierbei einen Typus von Leser verkörpert, der eine spezifisch römische Perspektive einnimmt, zeigt sich bei seiner Bitte nach einem Vortrag über das gesamte Gebiet der Redekunst (de omni genere) auch in der Wortwahl:416 quod quidem si erit a vobis impetratum, magnam habeo, Crasse, huic palaestrae et Tusculano tuo gratiam et longe Academiae illi ac Lycio tuum hoc suburbanum gymnasium anteponam. Wenn wir das bei euch erwirken, will ich dieser Schule und deinem Tusculanum, Crassus, herzlich dankbar sein und deinem Gymnasium vor den Toren Roms bei weitem den Vorzug vor der berühmten Akademie und dem Lykeion geben.

414 415 416

Vgl. Wisse/Winterbottom/Fantham 2008, S. 170. Cic. de orat. 3,147. Ebd., 1,98.

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Indem Sulpicius erklärt, einer „Schule“ (palaestrae) des Crassus den Vorrang gegenüber der Akademie und des Peripatos einzuräumen würde, wird deutlich, dass er eine Theorie der eloquentia nicht grundsätzlich ablehnt, sich jedoch als Referenten die Römer Crassus und Antonius wünscht. Durch das Erwähnen der Szenerie wird nicht nur an den dramatischen Kontext der Gesprächssituation erinnert,417 sondern darüber hinaus der Raum der römischen Villa als Bildungsort identifiziert und den griechischen Institutionen des Gymnasion und Lykeion als besserer Entwurf gegenübergestellt, die dem Anspruch des Römers Sulpicius, der die Schule des Forums durchlaufen hat, aufgrund der konstatierten Praxisferne nicht gerecht werden. Sein Anspruch korrespondiert mit der Absicht des Autors, mit der von ihm entworfenen literarischen Dialogwelt einen Raum zu entwickeln, der auch einem römischen Rezipienten wie Sulpicius anspricht. Die Haltung der Dialogfigur kommt ihm dahingehend entgegen, dass sie zwar eine Unterweisung durch Philosophen ablehnt, gegenüber der eines praktisch und theoretisch geschulten Römers jedoch aufgeschlossen ist. d)

Zusammenfassung

Die Dialogfigur des Sulpicius, die wie die des Cotta für eine jüngere Generation steht, präsentiert sich in ihrer Beschaffenheit als Redner, der anders als dieser durch seine Naturanlagen zu einer Meisterschaft gelangte. Der Kontrast zwischen beiden wird durch due dezidiert unterschiedliche Haltung zur Philosophie noch gesteigert. Als von der Praxis der Gerichtshöfe geschulter Redner lässt sich ihm eine große Skepsis gegenüber griechischen Theoretikern attestieren, die fern der Realität des Forums über die Theorie der Redekunst debattieren. Dagegen zeigt er sich aufgeschlossen und wissbegierig gegenüber seinen einstigen Lehrern Crassus und Antonius, auf die der Makel der Praxisferne nicht zutrifft. In dieser Anlage korrespondiert die Dialogfigur auf eine von Cicero erwartete Leserschaft, von der er eine vergleichbare Skepsis erwartete.

1.2.3 C. Iulius Caesar Strabo (Vopiscus) a)

Historische Persönlichkeit

Das Geburtsjahr Caesar Strabos wird anhand seiner Ämterlaufbahn um das Jahr 131 datiert, so dass er zum Zeitpunkt des Dialogs bereits 40 Jahre alt ist.418 Bereits vor dem Beginn der Ämterlaufbahn trat er politisch in Erscheinung, indem

417 418

Vgl. Becker 1938, S. 27. Zum Geburtsjahr s. Sumner 1973, S. 104–105; Diehl, Bickel und Meyer vermuteten dagegen einen Zeitraum um 130: Diehl 1918, Sp. 429, Bickel 1957, S. 1; Meyer 1970, S. 170; zum cognomen s. Bickel 1957, S. 4–15.

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er 103 als Mitglied eines Zehnmännerkollegiums Decemviri agris dandis attribuendis iudicalis fungierte, das mit der Umsetzung des Ackergesetzes des L. Apuleius Saturninus betraut war. 419 Zur selben Zeit war er bereits als Redner aktiv, wie aus der noch in der Kaiserzeit bekannten Rede Pro Sardis Contra T. Albucium von ca. 103 hervorgeht, welche sowohl Cicero als auch dem Diktator Caesar als Vorbild diente.420 Nach einer Tätigkeit als Militärtribun in den Jahren 102 und 101 erfolgte mit der Übernahme der Quaestur zwischen 100 und 96 der Einstieg in den Cursus honorum.421 Zum Zeitpunkt des Dialoggesprächs hat er durch die Ausübung des niedrigsten Amtes der Ämterlaufbahn bereits einen senatorischem Rang. Nachdem er 90 kurulischer Aedil gewesen war, bewarb er sich, ohne zuvor die Praetur innegehabt zu haben, für das Jahr 88 oder 87 als Konsul.422 Auf die unrechtmäßige Bewerbung um das höchste Amt folgte der Konflikt mit den Tribunen P. Sulpicius Rufus und P. Antistius, die rechtlich gegen sein Vorhaben vorgingen. 423 Eine klare politische Linie, die über die Durchsetzung eigener Interessen hinausgeht, wie sie etwa Sulpicius hinsichtlich der Eingliederung der italischen Bevölkerung in den römischen Bürgerrechtskorpus vertrat, lässt sich bei ihm nicht feststellen.424 Im Jahr 87 fand er nach dem Verrat seines ehemaligen Klienten Sextilius bei der Einnahme Roms durch die Marianer den Tod.425 Mit Caesar Strabo tritt ein Redner auf, den Cicero für seine urbanitas, seinen lepos und seine suavitas im Brutus lobt und der darüber hinaus als Verfasser von Tragödien bekannt war.426 Als erstem Tragödiendichter der Nobilität lassen sich ihm die Titel dreier Werke zuordnen (Adrastus, Tecmessa, Teuthras), die vermuten lassen, dass er in der Wahl seines Stoffes durchaus innovativ war.427 Von

419 420

421 422

423 424 425 426

427

Vgl. Sumner 1973, S. 105; MRR 1, S. 577. Cic. off. 2,50; div. in Caec. 63; Suet. Iul. 55,2; Apul. apol. 66,4 = ORF4 S. 273f., fr. 7–10; vgl. Diehl 1918, Sp. 429; vgl. Suerbaum 2002, S. 167. Vgl. Sumner 1973, S. 105. Das genaue Jahr für die Bewerbung um das Konsulat ist in der Forschung umstritten, die Mehrheit der Forscher spricht sich für 88 aus: Diehl 1918, Sp. 429; Badian 1969, S. 482; Luce 1970, S. 190–192; Sumner 1973, S. 105f.; Katz 1977; Seager 1994, S. 166; dagegen argumentiert Lintott für eine Bewerbung um das Konsulat des Jahres 87: Lintott 1971, S. 446–449. Cic. Brut. 226; vgl. Diehl 1918, Sp. 429. Vgl. Seager 1994, S. 169f. Vgl. Diehl 1918, Sp. 429. Cic. Brut. 177. In ähnlicher Weise nennt Cicero ihn in den 45 veröffentlichten Tuskulanen als ein persönliches Vorbild in Hinsicht auf Menschlichkeit, Witz, Milde und Anmut (specimen fuisse humanitatis salis suavitatis leporis): Cic. Tusc. 5,55; ähnlich: Cic. off. 1,108, 103. Vgl. Suerbaum 2002, S. 168; Liebermann vermutet aufgrund der Fragmente eine „gräzisierende Tendenz“: Liebermann 1999, Sp. 21; vgl. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 206. Dugan erkannte in Strabos Tätigkeit als Tragödiendichter einen wesent-

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dem Humor seiner Reden hatte sich Cicero als junger Mann noch selbst überzeugen können, wie er im Brutus anmerkt.428 Mit der Figur des Caesar Strabo lässt der Autor zudem einen Freund seines Vaters auftreten, auf den er diesen während des Dialoges auch explizit Bezug nehmen lässt.429 Durch die Anspielung auf M. Cicero senex als eine mit ihnen allen befreundete Person (nostri familiaris) macht der Autor – wie bereits im Proömium des zweiten Buches430 – auf die Verbindung seiner Familie mit dem in De oratore auftretenden Personenkreis aufmerksam. 431 Es ist nicht auszuschließen, dass Ciceros Entscheidung für Caesar Strabo als Dialogfigur in De oratore auch von der Überlegung bedingt war, auf die Verbindung der beiden Geschlechter der Tullier und der Julier zu verweisen. Das Urteil des Autors über die Persönlichkeit des Caesar Strabo fällt dabei durchaus ambivalent aus: Während er ihn bezüglich seines Humors und seiner humanitas stets im positiven Licht darstellte, deutete er im Brutus die Widerrechtlichkeit seines Konsulats an.432 Im Februar des Jahres 43 scheute er sogar nicht davor zurück, ihn diesbezüglich als mahnendes Negativbeispiel zu gebrauchen, das er in der elften Philippischen Rede dem L. Calpurnius Bestia entgegenhält, welcher zuvor in das Lager des Marc Anton gewechselt war.433 Hierbei wird die Kontextbezogenheit von Ciceros memoria deutlich: Während er den Redner Caesar Strabo im Brutus und in den Tusculanae Disputationes als Vorbild für sein eigenes Auftreten als Redner bezeichnet, distanziert er sich in der öffentlichen Rede von einem Politiker, der offen gegen das Gesetz verstoßen hatte. b)

Caesar Strabos Auftreten als Redner mit humanitas und lepor

Caesar Strabo erscheint erst im zweiten Buch von De oratore zusammen mit seinem Halbbruder Catulus. Dass die Initiative für den Besuch von Caesar Strabo ausging, wird durch den Hinweis herausgestellt, dass er Catulus dringend gebeten habe (exoravit), mit ihm Crassus’ Villa aufzusuchen.434 Getreu der im

428 429 430

431

432 433 434

lichen, auch seinen rhetorischen Stil beeinflussenden Teil der Persönlichkeit: Dugan 2005, S. 114–117. Cic. Brut. 305. Cic. de orat. 2,265. Vgl. ebd., 2,2. Inwiefern hierbei eine Übertreibung zugunsten des Autors vorliegt, ist umstritten; eine „liebevolle Übertreibung“ des Autors sah Münzer 1939, Sp. 825; dagegen: Mitchell 1979, S. 4; vgl. Leeman/Pinkster/Rabbie 1989, Sp. 294. Bei dem älteren Tullier handelt es sich um den Großvater, dessen Meinung über Griechisch sprechende Landsleute wohl der vieler Zeitgenossen des älteren Cato entsprochen haben dürfte. S. hierzu auch: Leeman/Pinkster/Rabbie 1989, S. 293f. u. 294; Münzer 1939, Sp. 824. Cic. Brut. 226; vgl. Meyer 1970, S. 174. Cic. Phil. 11,11. Cic. de orat. 2,14.

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Brutus gezeichneten Charakteristik als humorvoller Redner präsentiert ihn De oratore 2 als Fachmann für Humor: In dieser Funktion kommt der Figur darin ein recht großer Gesprächsanteil zu, indem sie bei den Erörterungen über die Rolle des Witzes für die Beredsamkeit selbst einen Vortrag über das Thema hält.435 Im dritten Buch nimmt er dagegen eine eher untergeordnete Rolle ein.436 Innerhalb des Dialoggesprächs wird seine Person am markantesten durch Crassus zu Beginn des dritten Buchs charakterisiert:437 quid noster hic Caesar nonne novam quandam rationem attulit orationis et dicendi genus induxit prope singulare? quis umquam res, praeter hunc, tragicas paene comice, tristis remisse, severas hilare, forenses scaenica prope venustate tractavit atque ita, ut neque iocus magnitudine rerum excluderetur nec gravitas facetiis minueretur? Was ferner unseren Caesar hier betrifft, hat er denn nicht eine ganz neue Art der Rede hervorgebracht und einen wohl fast einzigartigen Stil eingeführt? Wer außer ihm hat jemals Tragisches fast komisch, Betrübliches gelassen, Ernstes heiter, Staats- und Gerichtsaffären mit beinahe schauspielerischer Eleganz behandelt, und das in einer Weise, dass weder der Humor durch die Bedeutung des Gegenstandes ausgeschlossen noch die Würde durch geistvollen Witz gemindert wurde?

Während Catulus humanitas und lepos mit seiner dignitas verbinde, vereine Caesar Strabo bei seinem Auftreten auf dem Forum Würde durch geistvollen Witz (gravitas facetiis minueretur). 438 Indem er als Erfinder eines derartigen Stils vorgestellt wird (novam quandam rationem attulit), wird dieser eng an seine historische Persönlickeit verknüpft, welche ihn auf diese Weise zu einem glaubwürdigen, das Thema der Rede verkörpernden Referenten im zweiten Buch macht.439 Mit seinem Vortrag über den Witz liefert Caesar Strabo einen zentralen inhaltlichen Beitrag, durch den er den Hauptreferenten des zweiten Buchs, Antonius, entlastet.440 Dass der Humor nicht nur ein Kennzeichen seines Stils darstellt, sondern auch Teil seines Charakters ist, spiegelt sich in dem Auftreten der Dialogfigur. 435 436

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440

Cic. de orat. 2,216–290, davon durchgehende tractatio 235–290. Neben dem anfänglichen Zwischengespräch äußert er sich noch zwei Mal: Cic. de orat. 3,17f., 146, 226. Ebd., 3,30. Cic. de orat. 3,29; zur Bedeutung des Witzes in der Beredsamkeit der späten Republik s. Leeman/Pinkster/Rabbie 1989, S. 172–174. Auf einen tatsächlich humorvollen und sarkastischen Charakter verweist auch die von ihm autobiographisch vorgetragene Anekdote, wie er sich aufgrund einer angeblichen Augenkrankheit vom Militärdienst befreien lassen wollte: Cic. de orat. 2,275f.; vgl. Meyer 1970, S. 175. Auf die Bedeutung des Humors für die Beredsamkeit deutete bereits das erste Buch von De oratore hin: Cic. de orat. 1,17f., 159.

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Bereits bei seinem Erscheinen zu Beginn des zweiten Buchs zeigt sich ein ironisches Gemüt, als er auf Crassus’ Weigerung, einen Vortrag zu halten, gegenüber Catulus anmerkt:441 equidem, […] Catule, iam mihi videor navasse operam quod huc venerim. nam haec ipsa recusatio disputationis disputatio quaedam fuit mihi quidem periucunda. Was mich angeht, Catulus, […] so finde ich, es war bereits der Mühe wert, hierher zu kommen. Denn selbst die Weigerung, uns etwas vorzutragen, war eine, jedenfalls für mich, sehr angenehme Art von Vortrag.

Der von Caesar Strabo vorgebrachte Witz stellt hier keine bloße Situationskomik dar, sondern verweist auf eine Ebene, die dem zeitgenössischen Kenner aristotelischer Literatur nicht entgangen sein dürfte: Indem die recusatio disputationis bereits als disputatio bezeichnet wird, wird auf den Protreptikos des Aristoteles angespielt und somit auf die griechischen Ursprünge der in Buch 2 behandelten Themenfelder verwiesen.442 c)

Caesar Strabo als Römer zwischen Theorie und Praxis

Während die Figur durch ihre Biographie und ihr Auftreten eine persönliche Eignung suggeriert, über das Thema des Witzes einen theoretischen Vortrag zu halten, fällt gleichzeitig auf, dass sie wie die Figur des Crassus bisweilen demonstrativ zurückhaltend auftritt. Nachdem Antonius sowohl die praktische Nützlichkeit von Witz und Humor (saepe utilis iocus et facetiae) als auch die persönliche Eignung, über den Witz zu referieren (in quibus tu longe aliis mea sententia, Caesar, excellis) herausgestellt hat, 443 lässt Caesar seine begonnene Rede vorzeitig mit dem Hinweis enden, dass jener mit der Behauptung, dass es keine systematische Lehre des Humors geben könne, recht habe, und Crassus die eigentlich geeignetere Person hierfür wäre. 444 Als Antonius und Sulpicius daraufhin intervenieren und um die Fortführung seines Vortrags bitten,445 verharrt er in seiner Zurückhaltung, wobei er durchschimmern lässt, selbst nicht von der Existenz einer Theorie des Witzes auszugehen (nullam esse artem salis).446 Erst auf das Wort des Crassus hin, der die Frage, ob es sich um eine ars handele, für zweitrangig einstuft und stattdessen erklärt, dass ein solcher Vortrag dennoch Bestätigung für das liefern könnte, was man aus Begabung, Fleiß und Übung ohnehin schon erreichen würde (quae natura, quae studio, quae exercitatione 441 442 443 444 445 446

Cic. de orat. 2,26. Zum Ursprung des Witzes s. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 218. Cic. de orat. 2,216. Ebd., 2,227. Ebd., 2,230f. Ebd., 2,231.

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consequimur), löst sich der Widerstand Caesar Strabos nach neuerlicher Aufforderung (ego quoque hoc a te peto).447 Durch einen anfänglichen Selbstvergleich mit einem den Redner belehrenden Schwein (docebo sus … oratorem eum) erinnert er zuvor noch an den Niveauunterschied, der zwischen ihm und Crassus bestünde.448 Ein ähnlich zwiespältiges Verhältnis zur Theorie kommt im dritten Buch zum Ausdruck. Nachdem Cotta seine offene Begeisterung für die Akademie zum Ausdruck gebracht hat, nimmt die Figur des Caesar Strabo eine Mittelstellung zwischen ihm und Sulpicius ein:449 unum […] me ex tuo sermone maxime, Crasse, commovit, quod eum negasti, qui non cito quid didicisset, umquam omnino posse perdiscere; ut mihi non sit difficile periclitari et aut statim percipere ista, quae tu verbis ad caelum extulisti, aut, si non potuerim, tempus non perdere, cum tamen his nostris possim esse contentus. Eines an deiner Rede, Crassus, […] hat mich besonders tief beeindruckt, und zwar deine Behauptung, dass jemand, der etwas nicht schnell erlernt hat, es überhaupt nicht richtig lernen könne; das ist für mich nicht schwer auszuprobieren, und entweder kann ich das, was du mit deinen Worten in den Himmel gehoben hast, sofort begreifen, oder ich will, wenn ich nicht dazu imstande bin, auch keine Zeit damit verlieren, da ich doch mit unserer Praxis zufrieden sein kann.

Die Dialogfigur zeigt zwar einerseits eine grundsätzliche Bereitschaft für die Beschäftigung mit Theorie, doch reiche ihr in dem Fall, dass sie die Theorien nicht begreifen sollte, die römische Praxis (his nostris […] possim esse contentus) aus.450 Nachdem sie im zweiten Buch breite Kenntnisse hinsichtlich theoretischer Studien bzgl. des Witzes vorweisen konnte, scheint die Philosophie an dieser Stelle noch Neuland für sie zu sein.451 Hinsichtlich des Ursprungs des eigenen rednerischen Könnens lässt der Dialog darüber hinaus keine Zweifel, dass es sich auch bei Caesar Strabo um eine Persönlichkeit handelt, die nicht durch Nachahmung (qui […] neminem imitentur), sondern durch „eigene Begabung“ (suapte natura) ihre Meisterschaft erreicht habe.452 In dem Vortrag zeigt sich dagegen immer wieder das Profil eines Römers, der sich intensiv mit der vorhandenen griechischen Literatur auseinandergesetzt hat: So verweist er hinsichtlich der Theorie der Entstehung des Lachens fach447 448 449 450

451 452

Cic. de orat. 2,232f. Ebd., 2,233. Ebd., 3,146. Zur auf dem humorvollen Charakter Strabos verweisenden Dilemma-Form ut mihi non sit difficile […] et aut […] aut […]: Wisse/Winterbottom/Fantham 2008, S. 169. Vgl. Meyer 1970, S. 177. Cic. de orat. 2,98. Eben diese praktische Veranlagung befähigt ihn auch nach Einschätzung des Antonius als als Referenten: ebd., 2,216.

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männisch auf den Philosophen Demokrit,453 während er die vorhandene Literatur der Griechen, die er gut zu kennen scheint, als misslungen abqualifiziert.454 Der lange und systematische Vortrag über die Entstehung und die Natur des Lächerlichen nimmt dabei einen nicht geringen Teil des zweiten Buchs ein.455 Inwiefern der Vortrag an den historischen Caesar Strabo angepasst wurde und dieser in den Ausführungen durchschimmert, bleibt letztlich unklar.456 Durch die Einbindung römischer Beispiele, welche Antonius ausdrücklich lobt,457 wird ohne Zweifel das Kalkül des Autors deutlich, die griechische Theorie an die Lebenswirklichkeit der res publica anzugleichen. Dabei bestätigt Antonius in seinem Lob den Nutzen seiner Darstellung: Zwar habe sich an seiner anfänglichen Skepsis hinsichtlich einer ars des Humors nichts geändert, doch sehe er sich für künftige Auftritte nun noch mehr gerüstet.458 d)

Hierarchische Position im Gespräch und Auftreten

Neben seinem langen Vortrag im zweiten Buch ist die Rolle des Caesar Strabo auf jene des interessierten Zuhörers beschränkt. Seine Neugier wurde bereits in der Eröffnung des Dialogs im zweiten Buch deutlich, als Catulus herausstellte, dass sein Bruder ihn dazu angestiftet habe, zur Villa des Crassus zu kommen.459 Er steht dem Gesprächsthema wohlwollend gegenüber und versucht zusammen mit den anderen Dialogfiguren, den Hauptredner zu einem Vortrag zu überreden.460 Dabei bleibt er stets in einem respektvollen Ton und versucht jedes Anzeichen der Aufdringlichkeit zu vermeiden, wie auch im Dialogbeginn des zweiten Buchs deutlich wird, indem er sofort zu erkennen gibt, dass er und Catulus gekommen seien, um ihn zu erinnern, nicht jedoch um etwas von ihm einzufordern (etsi admonitum venimus te, non flagitatum).461 Eine exponierte Rolle als Zuhörer zeigt sich auch darin, dass er für das Gespräch im dritten Buch den Ort vorschlägt.462 Indem er anregt, das Gespräch im Wald weiterzuführen, weist er möglicherweise auf die Akademie oder die im dritten Buch behandelte silva 453 454 455

456

457 458 459 460 461

462

Cic. de orat. 2,235. Ebd., 2,217; vgl. Meyer 1970, S. 176. Einen Forschungsüberblick zur Frage, inwieweit Cicero hierbei auf peripatetische Quellen zurückgreift, liefern: Leeman/Pinkster/Rabbie 1989, S. 190–206. Meyer vermutet, dass der historische Caesar „durchschimmern“ würde, wenn darauf verwiesen wird, „dass man aus denselben Topoi[,] auch Ernstes nehmen könne (II, 248)“: Meyer 1970, S. 177. Cic. de orat. 2,290. Vgl. Leeman/Pinkster/Rabbie 1989, S. 173. Cic. de orat. 2,14. Ebd., 2,367; 3,17. Ebd., 2,17f. Zu der Ähnlichkeit der hierbei verwendeten Supina zur Sprache des Plautus s. Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 129. Cic. de orat. 3,18.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

rerum hin.463 Anders als Sulpicius und Cotta erscheint die Figur in keinem Schüler-Lehrer-Verhältnis zu einem der Hauptredner. e)

Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Figur des Caesar Strabo eine mittlere Rolle im aufgezeigten Rollengefüge einnimmt. Mit Blick auf sein Auftreten innerhalb des Gesprächskreises wird deutlich, dass er trotz des großen Altersunterschiedes dem Catulus näher zu stehen scheint als den fast gleichaltrigen Figuren Sulpicius und Cotta. Im Gegensatz zu diesen hat er den cursus honorum schon begonnen und erwartet zum Zeitpunkt des Gesprächs bereits das Aedilsamt, worauf Crassus anspielt. 464 Seine Position wird einerseits dadurch bestätigt, dass ihm im Gegensatz zu den beiden jüngsten Gesprächspartnern zugestanden wird, die Runde mit einem langen Vortrag zu bereichern, andererseits dadurch, dass er stellvertretend für Catulus das Wort ergreift.465 Allerdings fehlt ihm jene dignitas, die Catulus als senex innerhalb der Runde zukommt. Seine Neugier, die beide erst dazu veranlasst habe, das Haus des Crassus aufzusuchen, erinnert an den vorbildlichen Wissensdurst des Sulpicius und Cotta. Wie diese scheint er zum Zeitpunkt des Dialogs noch nicht über größere theoretische Kenntnisse verfügt zu haben. Alle drei zeigen dabei eine jeweils unterschiedliche Reaktion auf die von Crassus vorgetragene These der Vereinigung von Rhetorik und Philosophie, wobei er gegenüber Cotta und Sulpicius eine mittlere Position einnimmt. Dass auch er, wie Crassus und Antonius, einen gewissen Vorbehalt gegenüber einem Theoriediskurs hegt, wird im Vorfeld seines eigenen Vortrags deutlich: erst nach Bitten der anderen Gesprächsteilnehmer und wiederholtem Herausstellen der Nützlichkeit eines solchen Unterfangens erklärt er sich hierzu vollends bereit. Die Dialogfigur verkörpert diesbezüglich eine natürliche Skepsis des römischen Redners, der sein Können nicht einer Theorie über die Redekunst verdankt, sondern seiner praktischen Erfahrung und seinem Talent.

1.3

Die ältere Generation: Scaevola und Catulus

Die Personen Scaevola und Catulus werden beide als senex angesprochen und stellen die jeweils älteste Person innerhalb des Gesprächskreises dar, da sich Scaevola am Ende des ersten Buchs verabschiedet und Catulus erst zu Beginn des zweiten erscheint. Ähnlich den adulescentes lassen sich auch den senes Elemente attestieren, die als idealtypisch gelten können. Die Schablone für diese

463 464 465

Vgl. Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 127 u. 130. Cic. de orat. 3,92. Ebd., 2,27.

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Idealisierung bietet auch in diesem Fall Ciceros Spätwerk De officiis, worin eine aktive Anteilnahme an der Gesellschaft gefordert wird:466 senibus autem labores corporis minuendi, exercitationes animi etiam augendae videntur, danda vero opera, ut et amicos et iuventutem et maxime rem publicam consilio et prudentia quam plurimum adiuvent. nihil autem magis cavendum est senectuti quam ne lanuori se desidiaeque dedat. Alte Menschen aber sollten, so scheint es, körperliche Strapazen herabsetzen, geistige Anstrengungen sogar erhöhen, sich ferner Mühe geben, Freunde, die Jugend und am meisten das Gemeinwesen durch ihre Einsicht und praktische Lebenserfahrung möglichst weitgehend zu unterstützen. Vor nichts aber muss sich das Alter mehr in Acht nehmen, als sich untätigem Herumsitzen zu überlassen.

Nach Ciceros Anschauung, die in dieser Angelegenheit wahrscheinlich Postulate der Moralphilosophie mit römisch-republikanischem Konservativismus kombiniert, ist das Alter dem Gemeinwesen nicht weniger verpflichtet als die Jugend.467 Den senes kommt dabei eine besondere Verpflichtung gegenüber der kommenden Generation zu, in der die Zukunft des Staates liegt. Das Alter drückt sich nicht nur in einem größeren Gesprächsanteil gegenüber den adulescentes Cotta und Sulpicius aus, sondern auch generell in einer höheren hierarchischen Position, welche vor allem dann sichtbar wird, wenn Fragen an Crassus erst an sie statt direkt an diesen herangetragen werden.468

1.3.1 Q. Mucius Scaevola Augur a)

Historische Persönlichkeit

Die Figur des Scaevola erscheint insgesamt dreimal in den Dialogen Ciceros. Neben ihrem Auftritt in De oratore tritt sie in De re publica und im Laelius als junger Mann in Erscheinung. Seine Lebensdaten sind in der Forschung umstritten: Münzer schätzt seine Geburt auf einige Jahre nach dem Konsulat seines gleichnamigen Vaters von 174, womit er zum Zeitpunkt des Gesprächs um die 80 Jahre alt gewesen sein müsste.469 Sumner rechnet dagegen frühestens mit dem Jahr 168, was die Eignung seiner Person als Alterspräsident in De oratore nicht

466

467 468 469

Cic. off. 1,123. Wenn nicht anders vermerkt, folgt der lateinische Text aus De officiis stets der Ausgabe von Atzert, die Übersetzung stammt von Gunermann. Zur Rollenbeschreibung des Alters in philosophischen Texten, s. Dyck 1996, S. 296. Cic. de orat. 1,163. Münzer 1933a, Sp. 430f.; Goulet geht ohne Begründung von einer Geburt um das Jahr 177 aus: Goulet 2016, S. 25.

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schmälern würde.470 Dass er im Jahr 155 Augenzeuge der Philosophengesandtschaft in Rom wurde, wird nur von Cicero bezeugt, der daraus eine Begeisterung seiner Person für die Stoa ableitet, die er sich mit P. Rutilius Rufus und Q. Aelius Tubero teilt, mit denen er zur ersten Generation römischer Aristokraten, die sich der Philosophie der Stoa zuwandten, gerechnet wurde und deren Gesetzestreue und Lebensführung noch lange als vorbildlich galt.471 Wie sein Schwiegervater Laelius stand er mit dem Philosophen Panaitios in Kontakt, wofür sein Engagement im griechischen Osten des Imperiums ursächlich gewesen sein könnte. Erstmals historisch fassen können wir dieses nach seiner Praetur von 120, welche ihm für das Folgejahr die Verwaltung über die Provinz Rhodos einbrachte. 472 Daran anschließend verteidigte er sich vor Gericht erfolgreich gegen den von Albucius vorgetragenen Vorwurf der Erpressung, der in die Satiren des Lucilius aufgenommen wurde.473 Nur drei Jahre später erlangte er 117 das Konsulat.474 In der Folgezeit scheint er eine senatstreue politische Linie vertreten zu haben, wie Ciceros Lob auf sein vorbildliches Verhalten gegenüber dem Volkstribun Saturninus (100) nahelegt.475 Nach Zeugnis des Valerius Maximus stimmte er als einziger gegen die von Sulla geforderten Proskriptionen.476 Das Augurenamt scheint Scaevola über vier Jahrzehnte ausgeübt zu haben, in seiner letzten Lebensphase zusammen mit Crassus.477 Sein Tod fiel in das Jahr 87 und ist – anders als der aller anderen Gesprächsteilnehmer mit Ausnahme des Cotta – wohl nicht den Bürgerkriegswirren geschuldet gewesen, sondern seinem Alter.478 Die Tatsache, dass Scaevola in insgesamt drei Dialogen auftritt, lässt sich unter anderem mit der persönlichen Verbindung zu Cicero erklären. Im Gegensatz zu den meisten Dialogfiguren aus De oratore, De re publica und dem Laelius war der Autor mit seiner Vorlage persönlich recht gut vertraut. Als früherer Schüler Scaevolas479 ehrt er seinen einstigen Lehrer, indem er ihn in De oratore in dem aristokratischen Kreis um Crassus, in De re publica und Laelius in dem

470

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Dabei präferiert er den Zeitraum zwischen 165 und 160: Sumner 1973, S. 56; ihm folgend schätzen ihn Leeman/Pinkster als „fast Siebzigjährigen“ ein: Leeman/Pinkster 1981, S. 88. Cic. de orat. 3,68. Der in der späten Kaiserzeit lebende Athenaios verweist in den Deipnosophistai auf den beispielhaften Gerechtigkeitssinn der drei Römer, welche sich streng an die Grundsätze der Stoa orientiert hätten (ἀντείχοντο τῶν ἐκ τῆς στοᾶς δογμάτων): Athen. 6,108,274e; vgl. Münzer 1933a, Sp. 431. Vgl. Münzer 1933a, Sp. 432; MRR 1, S. 523f. Lucil. 86–92 Chr. Gbg. = 84–85 Marx; vgl. Münzer 1933a, Sp. 432f. S. MRR 1, S. 528; Münzer 1933a, Sp. 433. Cic. Rab. perd. 21; s. Münzer 1933a, Sp. 434. Val. Max. 3,8,5; vgl. Münzer 1933a, Sp. 435. Vgl. Münzer 1933a, Sp. 431. Vgl. ebd., Sp. 435. Cic. Lael. 1; Brut. 306; leg. 1,13.

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um Scipio als Dialogfigur auftreten lässt. Er setzt ihm dadurch nicht nur ein literarisches Denkmal, sondern erzeugt damit auch eine indirekte Verbindungslinie zwischen ihm selbst und den jeweiligen Figuren seiner Vergangenheitsdialoge.480 b)

Scaevolas Position im Gespräch und Rolle als Sprecher der adulescentes

Wie alle Dialogfiguren in De oratore steht auch Scaevola in einem besonderen Verhältnis zum Hauptprotagonisten: Er tritt direkt nach Crassus’ Freund Antonius auf und wird explizit als Schwiegervater (socer) genannt.481 Neben jener verwandtschaftlichen Verbindung zum Hauptredner macht der Text auf Scaevolas eigenen Schwiegervater Laelius aufmerksam, der später eine führende Rolle in Ciceros Staatswerk einnehmen wird.482 Durch sein Alter sowie seine Verwandtschaft zu Laelius und Crassus fungiert er als ein die Generationen überwindendes Bindeglied zwischen den beiden von Cicero idealisierten Rednern. Diese Brückenfunktion zeigt sich ferner zu Beginn des zweiten Dialogs: Nachdem Scaevola selbst das Landgut schon verlassen hat, bezieht sich Crassus auf seinen Schwiegervater, als er von Scipio und Laelius berichtet.483 Er besitzt damit innerhalb des Gesprächskreises für den Hauptredner eine ähnliche Funktion, wie sie Cotta als Gewährsmann für Cicero einnimmt. Unmittelbar nach seiner Abreise wird zu Beginn des zweiten Buchs nochmal an ihn erinnert, indem der frisch eingetroffene Catulus erklärt, Scaevola auf dem Weg begegnet zu sein, der ihm von den Ereignissen in Crassus’ Haus berichtet hätte.484 Dass eine Dialogfigur nur im ersten Buch auftritt und sich anschließend vom Gespräch verabschiedet, stellt in Ciceros Dialogen einen Einzelfall dar. Scaevolas Redeanteil in De oratore 1 fällt zwar deutlich geringer aus als jener der beiden Hauptredner, doch hebt er sich mit mehreren Wortmeldungen und einem kurzer Vortrag deutlich von den jungen Gesprächsteilnehmern Cotta und Sulpicius ab.485 Trotz seines geringeren Gesprächsanteils gegenüber Crassus und Antonius nimmt er innerhalb des Kreises eine zentrale Stellung ein, was sich auch daran zeigt, dass ihm das erste und letzte Wort zufällt.486 Indem er sich kritisch gegenüber Crassus’ Enkomion auf die Redekunst äußert oder versucht, jenen zu einem längeren Vortrag zu bewegen, trägt er maßgeblich zum Gesprächsablauf bei.487

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Vgl. Leeman/Pinkster 1981, S. 88. Cic. de orat. 1,24. Ebd., 1,35, 58. Ebd., 2,22. Ebd., 2,13. Ebd., 1,28, 35–44, 74–77, 105, 113, 160, 162, 164, 165, 167, 204, 265. Ebd., 1,28, 265. Ebd., 1,35f.; vgl. Leeman/Pinkster 1981, S. 78f. u. 88f.

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Jener besondere Rang innerhalb des Kreises konstituiert sich dabei zunächst durch sein Alter. Eine wichtige Facette seiner Persönlichkeit besteht darin, dass ihm als senex die jüngeren Gesprächsteilnehmer besonders am Herzen liegen, die sich ihrerseits – wie oben gezeigt – aufgrund ihrer vorbildlichen Zurückhaltung zuerst an ihn und nicht an Crassus wenden.488 Während er versucht, Crassus von seiner Verweigerung eines Vortrags abzubringen, fungiert er als Sprachrohr der Jugend par excellence, welche eben nicht die „alltägliche Geschwätzigkeit irgendeines Griechen“ (Graeci alicuius cotidianam loquacitatem) oder die „alte Leier aus den Schulen“ (ex scholis cantilenam) suchen würden, sondern Rat von Männern der Praxis, denen sie nacheifern könnten (adulescentes cupiunt accedere).489 Einem Mentor ähnelnd versucht er Cotta und Sulpicius in das Gespräch mit einzubeziehen, indem er sie selbst nach dem Grund ihres Schweigens fragt.490 c)

Scaevolas Rhetorikkritik und Auftreten im Kontext der Gesprächsethik

Neben jener Funktion als Mittler lässt sich ihm ein dezentes römisches Wesen attestieren, wenn er die Bedeutung der römischen Institutionen gegen die Redekunst ins Feld führt.491 In seinen despektierlichen Äußerungen gegenüber griechischen Lehrmeistern zeigt sich nach Meyer eine „typisch römische Abneigung gegen alle Griechelei und alles Theoretisieren“.492 Jene kritische Haltung steht dabei nicht im Widerspruch zu seiner philosophischen Bildung und seiner Sympathie für die Stoa, sondern signalisiert den Anspruch des Autors, einen römischen Diskurs zu initiieren, für den die persönliche Anwesenheit des Peripatetikers Staseas nicht nötig sei, den Crassus herbeizuholen erwägt.493 Das Auftreten Scaevolas wird zudem deutlich von charakterlichen Qualitäten bestimmt, die im Gesprächsverlauf immer wieder sichtbar werden. Seinen Widerspruch gegen Crassus’ Kerngedanken, wonach die Staaten von Rednern gegründet worden seien und der Redner in allen Gebieten „kompetent“ (perfectum) sei, wird mit einer ihm charakteristischen Freundlichkeit (comiter ut solebat) eröffnet. 494 Indem er dabei zunächst seine Zustimmung betont (cetera […] adsentior), wird sein dezidiert vorsichtig eingeleiteter Widerspruch (vereor ut tibi possim concedere) abgeschwächt. Nachdem Crassus ihm auf seine Kritik ausführlich geantwortet hat, zeigt sich die Dialogfigur amüsiert und bringt mit einem Lachen (ridens Scaevola) nicht nur seine Zustimmung für das weitere

488 489 490 491 492 493 494

Zu Scaevolas Rolle gegenüber den adulescentes s. oben S. 59 u. 94. Cic. de orat. 1,105f. Vgl. ebd., 1,160, 163. Ebd., 1,39; vgl. Meyer 1970, S. 141. Meyer 1970, S. 141. Cic. de orat. 1,104. Ebd., 1,35.

De oratore

117

Gespräch, sondern seine comitas zum Ausdruck.495 Dass es sich dabei um einen typischen Wesenszug der Person des Scaevola gehandelt hat, wird durch Antonius suggeriert, der berichtet, Crassus sei einst durch seine „herausragende Liebenswürdigkeit“ (eximia suavitate) dazu verleitet worden, sein Fach – die Rechtslehre –, dem es „an Mitgift und an Schmuck gebrach“ (artem […] indotam et […] incomptam), stilistisch auszuschmücken.496 Seine einen Rückzug andeutende Reaktion ist dabei zwar für die inhaltliche Erörterung von De oratore irrelevant, da im Folgenden Antonius ausführlich gegen Crassus’ Standpunkt spricht, doch ist sie für das von humanitas geprägte Gesprächsklima von zentraler Bedeutung.497 Scaevola, dessen Kritik auf das Enkomion von seinem Schwiegersohn entkräftet wurde, erscheint nicht einen Moment als Verlierer eines erbitterten Streitgesprächs, sondern wahrt sein Gesicht. d)

Scaevolas Bildungsprofil

Neben einer vorbildlichen und dem Gespräch fördernden comitas ist seine Person auch durch besondere Rechtskenntnisse im Bereich des ius civile charakterisiert, was ein Markenzeichen der Familie der Mucii darstellte.498 Als Vertreter jener Familie und durch seine Versiertheit in diesem Gebiet (prudentissimum et peritissimum) wird er zu einem Bezugspunkt für Crassus’ These, wonach der von ihm gesuchte Redner durch seine Allgemeinbildung sogar den durch Scaevola exemplifizierten Fachmann stets übertreffen würde. 499 Während Crassus und Antonius als die führenden Redner ihrer Generation erscheinen, fungiert Scaevola als führender Rechtskenner der damaligen Zeit, was ihm beide auch bestätigen. 500 Seine wissenschaftliche Autorität in diesem Gebiet ergänzt den Gesprächskreis auch deswegen, weil die Meinungen über die Wichtigkeit dieser ars bei den Hauptrednern auseinandergehen, wie Antonius’ Vortrag über das Verhältnis von Redekunst und Rechtswissenschaft zeigt.501 Dabei stellt Antonius während seines Angriffs auf die Rechtslehre erneut den Bezug zu Scaevola her und erinnert daran, dass jener Crassus einst für dieses Fach ermuntert habe und sein Lehrer gewesen sei (cum eius studii tibi et hortator et magister esset domi).502 Crassus wirft er vor, er habe die Rechtswissenschaft durch seine Rede bedeutender erscheinen lassen als diese tatsächlich sei, damit ihr Studium nicht 495 496 497

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Cic. de orat. 1,74; vgl. Leeman/Pinkster 1981, S. 165. Cic. de orat. 1,234. S. Leeman/Pinkster 1981, S. 165: „[…] er (Scaevola) hatte also gewissermaßen in ehrenvoller und würder Weise zu ‚kapitulieren’. Das ist es, was hier tatsächlich geschieht mit Takt, Humor und humanitas“. Cic. de orat. 1,39; vgl. Meyer 1970, S. 136. Cic. de orat. 1,66. Ebd., 1,191, 234. Ebd., 1,234–256. Ebd., 1,234.

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umsonst erscheine.503 Scaevolas Reaktion auf diesen Angriff erfolgt bei seiner Verabschiedung:504 sane […] vellem non constituissem in Tusculanum me hodie venturum esse L. Aelio; libenter audirem Antonium. et cum exsurgeret simul adridens, neque enim, inquit, tam mihi molestus fuit, quod ius nostrum civile pervellit, quam iucundus, quod se id nescire confessus est. „Ich wünschte wohl […] ich hätte nicht mit L. Aelius vereinbart, heute noch mein Tusculanum aufzusuchen; so gerne würde ich Antonius hören.“ Und lachend sagte er, indem er sich erhob: „Es hat mich nämlich nicht so sehr geärgert, dass er unser bürgerliches Recht zerpflückte, wie es mich freute, dass er zugab, er verstehe nichts davon.“

Auch sein Schlusswort steht im Zeichen seiner comitas, die ihn nicht als Verlierer gegenüber einem der beiden Redner erscheinen lässt, die er gerne weiter gehört hätte. Mit Lachen (adridens) und Ironie antwortet er Antonius, ohne diesen dabei zu beleidigen.505 In Verbindung mit seiner Stellung als Ältester erlaubt ihm seine Expertise auch Kritik gegenüber der Generation des Crassus (haec aetate), welche – mit Ausnahme des Hauptredners selbst – das Studium des Rechts vernachlässigen würde. 506 Neben der rechtlichen Versiertheit lässt sich Scaevola auch historische Bildung attestieren, wenn er innerhalb seiner Replik auf Crassus’ maximalistische Auffassung der Redekunst auf die Rolle historischer Persönlichkeiten der römischen Geschichte anspielt.507 Die Komplexität der Dialogfigur Scaevola beschränkt sich nicht auf seine juristischen und historischen Kenntnisse. Darüber hinaus wird deutlich, dass er auch auf dem Gebiet der Philosophie über ein breites Wissen verfügt und über diese als Autorität sprechen darf. Dies zeigt sich gleich zu Beginn des Dialogs, indem er den Bezug der Szenerie zu Platons Dialog Phaidros herstellt:508 Cur non imitamur Crasse Socratem illum, qui est in Phaedro Platonis? nam me haec tua platanus admonuit quae non minus ad opacandum hunc locum patulis est diffusa ramis quam illa cuius umbram secutus est Socrates, quae mihi videtur non tam ipsa acula quae describitur quam Platonis oratione crevisse, et quod ille durissimis pedibus fecit, ut se abiceret in herba atque ita illa, quae philosophi divinitus ferunt esse dicta, loqueretur, id meis pedibus certe concedi aequius.

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Zum humorvollen Charakter von Antonius’ Antwort: Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 156. Cic. de orat. 1,265. Leeman/Pinkster 1981, S. 89. Cic. de orat. 1,40. Ebd., 1,37f.; vgl. Meyer 1970, S. 139. Cic. de orat. 1,28; vgl. Meyer 1970, S. 139.

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Warum, Crassus, halten wir es nicht mit Sokrates in Platons Phaidros? Daran hat mich nämlich deine Platane hier erinnert; sie breitet ihre Zweige ja so schattenspendend über diesen Ort wie jene, deren Schatten Sokrates aufsuchte, und die wohl weniger durch das Rinnsal, das dort beschrieben wird, als durch Platons Darstellung groß geworden ist. Wenn Sokrates sich dort trotz der Abhärtung seiner Füße im Gras ausstreckte und Dinge sagte, die die Philosophen göttlicher Inspiration zuschreiben, so ist das meinen Füßen gewiss mit größerer Berechtigung zu gönnen.

Das Scaevola in den Mund gelegte Wort stellt dabei nicht nur dessen philosophische Bildung heraus, sondern dient auch dazu, durch Intertextualität an das platonische Vorbild anzuknüpfen.509 Indem er darauf verweist, dass „seinen Füßen“ (meis pedibus) dies noch mehr zuzugestehen sei (concedi aequius), verweist er nicht nur auf den Phaidros und die Barfüßigkeit des Sokrates, sondern formuliert auch den vom Autor intendierten Anspruch des Werkes, der nicht auf Nachahmung, sondern auf Überbietung des Originals abzielt. 510 Die durch Scaevola gesetzte Referenz auf den Phaidros lässt, wie Hösle anmerkt, auch die „fiktionale Natur“ von De oratore durchschimmern, das als „als römisches Gegenstück zum griechischen Original“ konzipiert sei.511 Sein philosophisches Wissen zeigt sich erneut, indem er in seiner Antwort auf Crassus’ Enkomion auf die zu erwartende Kritik der verschiedenen Philosophenschulen, die jenem bevorstünde, eingeht und einen Referenzrahmen für den Diskurs liefert:512 instaret Academia, quae, quicquid dixisses, id te ipsum negare cogeret; Stoici vero nostri disputationem suarum atque interrogationum laqueis te inretitum tenerent. Peripatetici autem etiam haec ipsa, quae propria oratorum putas esse adiumenta atque ornamenta dicendi, ab se peti vincerent oportere, ac non solum meliora, sed etiam multo plura Aristotelem Theophrastumque de istis rebus quam omnis dicendi magistros scripsisse ostenderent. Dir würden die Akademiker zusetzen und dich zwingen, selbst alles zu bestreiten, was du behauptet hättest. Unsere Stoiker gar würden dich mit den Fallstricken ihrer Streitgespräche und Fragestellungen umgarnen. Was aber die Peripatetiker betrifft, so würden sie beweisen, dass man sogar die Stützen und den Schmuck der Rede, die du für das Spezialgebiet der Redner hältst, bei ihnen holen müsse, und würden zeigen, dass Aristoteles und Theophrast zu diesem Thema nicht nur Besseres, sondern sogar weit mehr geschrieben haben als sämtliche Lehrer der Redekunst.

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510 511 512

Zum Phänomen der „dialoginternen Intertextualität“ und dessen Verbreitung in der philosophischen Dialogliteratur s. Hösle 2006, S. 425f. Vgl. Plat. Phaidr. 229a; zum Anspruch der Überbietung s. Müller 2011, S. 46. Vgl. Hösle 2006, S. 222. Cic. de orat. 1,43.

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Scaevola ist dabei die einzige Figur in De oratore I, die ihre Vertrautheit mit der Philosophie – in seinem Fall mit der Stoa (Stoici […] nostri) – nicht zu verbergen sucht, sondern offen zu erkennen gibt.513 Sie lässt erkennen, dass er neben den stoischen Positionen auch die der Akademie und des Peripatos kennt. Jenes philosophische Wissen stellt neben seinen Rechtskenntnissen ein weiteres Alleinstellungsmerkmal seiner Person dar, das für seine Rolle im Gesamtgefüge von Bedeutung ist.514 Mit Scaevola lässt der Autor zudem eine Persönlichkeit auftreten, die für ihn zu den ersten Römern zählte, die mit Philosophie in Berührung kamen. Dies wird an einer Stelle im dritten Buch deutlich, als die Figur dem Gespräch schon nicht mehr beiwohnt. Dort rechnet Crassus während seines Vortrags über die Philosophenschulen seinen Schwiegervater zu den wichtigsten Gewährsmännern (auctores certissimos laudare possum) für den akademischen Skeptiker Karneades, der ihn als Zeitzeuge in Rom erlebt habe (qui eum Romae audivit adulescens).515 Ob Scaevola wirklich Karneades gehört hat, muss zwar aus historischer Sicht bezweifelt werden,516 als Dialogfigur mit philosophischem Hintergrund jedoch dient er dem Autor dazu, eine Traditionskette zu generieren, die bis auf die Anfänge der Philosophie in Rom zurückverweist. Während Scaevola in De oratore 1 als philosophisch interessierter Römer mit besonderer Vorliebe für die Stoa das Personengefüge bereichert, findet sich in anderen antiken Zeugnissen kein Beleg für dieses Charakteristikum.517 In seiner Funktion als Zeitzeuge und Hörer der Philosophengesandtschaft zählt er für den Autor zu den ersten Römern überhaupt, die sich mit den griechischen Theorien zur Rhetorik und Philosophie beschäftigten. Wie bei Antonius und Crassus spiegelt sich in seiner Person ein zentraler Moment der römischen Geschichte wider: der zunehmende kulturelle Kontakt der römischen Elite mit griechischen Intellektuellen und ein einsetzender kultureller Transformationsprozess, der bis in Ciceros Zeit andauert.518 Der Absicht der Illustration jenes Prozesses durch die Personengestaltung trägt auch die Figur des Scaevola Rechnung, wenn sie ein einstiges Gespräch mit dem Redner Apollonios von Alabanda erwähnt:519 atque, cum ego praetor Rhodum venissem et cum summo illo doctore istius disciplinae Apollonio ea, quae a Panaetio acceperam, contulissem, inrisit ille 513 514

515 516 517 518

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Vgl. Meyer 1970, S. 138. So wird er erneut Bezugspunkt für Crassus’ Ausführungen, der auf ihn als PanaitiosSchüler (Panaeti illius tui) rekurriert: Cic. de orat. 1,45. Cic. de orat. 3,68. Vgl. Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 256. Vgl. Meyer 1970, S. 139f. Zur Rolle des ciceronischen Dialogs bei der kulturellen Kontextualisierung eines römischen Theoriediskurses s. Müller 2011, S. 45–48. Cic. de orat. 1,75.

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quidem, ut solebat, philosophiam atque contempsit multaque non tam graviter dixit quam facete. tua autem fuit oratio eius modi, non ut ullam artem doctrinamve contemneres, sed ut omnis comites ac ministratrices oratoris esse diceres. Was diesen Punkt betrifft, so äußerte sich Apollonios, als ich als Praetor nach Rhodos kam und diesem führenden Lehrmeister deines Fachs erzählte, was ich bei Panaitios gehört hatte, seiner Art entsprechend spöttisch und verächtlich über die Philosophie und machte weniger würdige als witzige Bemerkungen; deine Rede war dagegen von der Art, dass du nicht irgendeine Disziplin oder Wissenschaft gering schätzest, sondern alle als Begleiterin und Dienerin des Redners darstellst.

Seine Praetur in der Provinz Asia im Jahr 120 bringt ihn in Kontakt mit dem bedeutendsten Gelehrten (cum summo illo doctore) der Redekunst, die er mit istius disciplina leicht abschätzig umschreibt.520 Dabei scheint sich Scaevola vor allem an der Art des Disputs zu stören, wenn er Apollonios’ spöttischer Polemik (inrisit ille quidem, ut solebat) gegen Panaitios die oratio des Crassus gegenüberstellt. Da seine Sympathie für die Stoa immer wieder durchschimmert und er sich generell als Römer zeigt, welcher der Philosophie offen gegenübersteht, wirkt der Streit zwischen Rhetoren und Philosophen nicht zuletzt wegen der fehlenden humanitas auf ihn befremdlich. Als Gegenentwurf zu diesen erscheint die Person des Crassus, der in seiner Rede beide Disziplinen als comites ac ministratrices oratoris verbunden habe und der damit das Ideal des Autors zum Ausdruck bringt.521 Auch Scaevolas eigenes Verhalten gegenüber dem Angriff des Antonius auf die Rechtslehre oder seine eigene Kritik an der Rhetorik, um die es im Folgenden gehen soll, lassen die ciceronische Diskursgemeinschaft insgesamt als einen Gegenentwurf zur als ineptus empfundenen Streitkultur der Griechen erscheinen. Gegenüber der Redekunst oder einer Theorie derselben scheint Scaevola, wie bereits angesprochen, zunächst wenig interessiert, doch rückt er von seiner Skepsis mit zunehmender Gesprächsdauer ab.522 Als er von Cotta gebeten wird, Crassus dazu zu bringen, seinen Vortrag fortzusetzen, revidiert Scaevola bewegt (ego mehercule) seine anfangs auf das Enkomion vorgebrachten Bedenken und bittet explizit auch in seinem Namen um die Fortsetzung der begonnen Untersuchung (nunc vero […] mea quoque te iam causa rogo).523 Indem er bei seinem Meinungsumschwung bekennt, dass Crassus’ Unternehmen größer und bedeutender 520

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Zu Scaevolas Kontakt mit Panaitios und dessen Aufenthalten in Rom: Leeman/Pinkster 1981, S. 166. Zum Zusammenhang der Formulierung mit dem Ideal Ciceros: vgl. Gilson 1971, S. 198f. Für ein eher geringeres Interesse des Scaevola an Rhetorik sprechen Ciceros Überlegungen hinsichtlich seines Rückzugs aus dem Dialog: Cic. Att. 4,16 = 89 Sh. B.,2f.; vgl. Meyer 1970, S. 143; Leeman/Pinkster 1981, S. 88. Cic. de orat. 1,164.

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sei, als ursprünglich von ihm erwartet wurde (formam enim totius negotii opinione maiorem melioremque video), legitimiert er dessen Rolle als Referenten. Zudem verweist er in diesem Kontext auf die vorhandene freie Zeit (quoniam tantum habemus otii), die einen Exkurs erlauben würde. Nachdem Scaevola angedeutet hat, keine weiteren Einwände gegen Crassus vorzubringen, äußert er sich hinsichtlich einer Beherrschung aller Künste skeptisch, wodurch bereits recht früh der Idealcharakter des orator perfectus angedeutet wird.524 Dabei warnt er explizit davor, dem Redner zu viel aufzubürden (ne plus ei tribuamus), wodurch er einen möglichen Lesereinwand in das Gespräch einbringt und dem Ideal die Praxis gegenüberstellt.525 e)

Rückzug Scaevolas aus dem Gespräch

Während der Charakter der Figur stark durch ihre comitas, ihre rechtliche und philosophische Bildung sowie durch ihr Alter definiert ist, wodurch sie den Gesprächskreis bereichert und das Gesprächsklima auflockert, spielt bei der Begründung seines Rückzugs das literarische Vorbild eine nicht geringe Rolle. In einem Brief an Atticus aus dem Jahre 54 geht Cicero gegenüber seinem Freund auf das Verschwinden der Scaevola-Figur in De oratore ein und rechtfertigt es mit seinem literarischen Vorbild Platon (deus ille noster).526 Dieser habe seiner Politeia den begüterten und drolligen Greis (locupletem et festivum senem) Kephalos ebenfalls vor Ende des Dialogs gut gelaunt (γελάσας) verabschiedet, allerdings um zu den Opfern zu gehen (ᾔει πρὸς τὰ ἱερα).527 Cicero nimmt an, dass es Platon dabei um die Schonung des alten Herren ging, und äußert gegenüber Atticus, dies bei Scaevola aufgrund dessen schlechter Gesundheit noch weit mehr berücksichtigen zu müssen (multo ego magis hoc mihi cavendum esse putavi). Indem der Autor mit ihm einen alten Spaßmacher (ioculatorem senem) auftreten lässt, für dessen Humor Atticus als Zeuge dienen könnte (ut scis), erscheint es plausibel, dass er bei der Dialogfigur auf jenen Charakterzug besonders geachtet hat, um einen würdigen Cephalus Romanus in den Dialog aufzunehmen. Scaevolas Verschwinden in Analogie zu seinem literarischen Vorbild kann als Beleg für „Ciceros wohlüberlegten Gebrauch der dramatis personae“ angesehen werden.528 Der Brief verrät darüber hinaus, dass der einstige Schüler viel Sympathie für den Rechtsgelehrten übrig hatte.

524 525 526 527 528

Cic. de orat. 1,76f. S. hierzu: Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 284. Cic. Att. 4,16 = 89 Sh. B.,3. Plat. rep. 1,331d; vgl. Hösle 2006, S. 387f. So: Leeman/Pinkster 1981, S. 89.

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f)

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Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass der Autor in der Figur des Scaevola, nicht zuletzt aus seiner eigenen Verbundenheit mit seinem alten Lehrer, das Bild eines liebenswerten und gebildeten Greises entwirft. In enger Anlehnung an die historische Persönlichkeit vervollständigt sie den Personenkreis besonders in der Funktion des stoisch gebildeten Rechtsgelehrten.529 Als Alterspräsident hat sie eine Ehrenstellung inne und zeigt sich um die nächste Generation idealtypisch bemüht. Darüber hinaus verweisen ihr Erscheinen und ihr Rückzug auf das Modell der aus der Politeia bekannten Figur des Kephalos, wobei sich in der imitatio Platonis gleichzeitig der Anspruch des Autors artikuliert. Ebenfalls im Sinne Ciceros äußert die Figur Kritik an dem als zu schulisch empfundenen griechischen Schulbetrieb, dem das Personensetting eine römisch geprägte Bildungszenerie als Gegenentwurf gegenüberstellt. In seiner Ablehnung der Rhetorik zeigt er sich wohl in Anlehnung an die realhistorische Vorlage skeptisch, wodurch er für einen bestimmten Grad an Meinungspluralismus im Gesprächskreis beiträgt. In mehreren Hinsichten übt er durch sein Alter eine verbindende, vermittelnde Rolle innerhalb des Dialogs aus, indem er die unterschiedlichen Altersgruppen zusammenführt und als Zeitzeuge eine Verbindung zu Laelius und Karneades herstellt.

1.3.2 Q. Lutatius Catulus a)

Historische Persönlichkeit

Quintus Lutatius Catulus, der Stiefbruder des mit ihm erscheinenden C. Iulius Caesar Strabo, wurde spätestens im Jahr 149 geboren.530 Von den Stationen vor seinem Konsulat ist wenig bekannt. Sicher ist eine Praetur um das Jahr 109 für eine getreidereiche Provinz, bei der es sich um Sizilien gehandelt haben dürfte.531 Nachdem er dreimal in den Konsulatswahlen unterlegen war, erlangte er das Amt im vierten Anlauf für das Jahr 102 zusammen mit C. Marius. 532 Im Kontext der kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Kimbern gelang ihm während seines Prokonsultats im Jahr 101 zusammen mit seinem ehemaligen Amtskollegen der entscheidende Sieg bei Vercellae, auf den er in einer Lob-

529 530

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532

S. hierzu auch: Cic. Brut. 102, 212; leg. 2,48–51; vgl. Meyer 1970, S. 137. Zum Geburtsjahr s.: Cic. Planc. 12; Sumner 1973, S. 78; Ducos 1994c, S. 245; für eine Geburt im Jahr 150 sprach sich Münzer aus: Münzer 1927b, Sp. 2072f. Zur Praetur im Jahre 109 s.: Cic. Verr. 2,3,209; Münzer 1927b, Sp. 2074; MRR 1, S. 545. So scheiterte er fristgerecht im Jahr 106, 105 und 104. S. hierzu: Cic. Planc. 12; Münzer 1927b, Sp. 2074.

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schrift auf sein Konsulat ausführlich Bezug nahm.533 Infolge des Sieges kam es zu einem starken Zerwürfnis zwischen Catulus und Marius hinsichtlich der Frage, wem von beiden der größere Ruhm gebühre.534 Politisch wird Catulus innerhalb der „gemäßigten Senatsaristokratie“ verordnet, wofür seine Gegnerschaft zum popularen Volkstribun L. Appuleius Saturninus im Jahr 100 sowie sein Widerstand gegen den Konsul L. Marcius Philippus geltend gemacht werden.535 Im darauffolgenden Konflikt zwischen Popularen und Optimaten ging er durch die Verteidigung des Cn. Octavius gegen Cornelius Cinna weiter auf Konfrontationskurs mit Marius. Als jener im Jahr 87 während der Abwesenheit Sullas Rom besetzte, verweigerte er ihm den Schutz bei der Anklage des M. Marius Gratidianus, so dass sich Catulus gezwungen sah, durch Freitod der Rache der Marianer zu entgehen.536 Es handelt sich bei Catulus um ein führendes Mitglied der römischen Nobilität, welches neben der politischen Laufbahn auch literarischen Interessen nachging. Durch seine im Jahr 100 erschienene, nicht erhaltene Schrift Liber de consulatu et de rebus gestis suis zählt er mit M. Aemilius Scaurus und P. Rutilius Rufus zu den Begründern der lateinischen Autobiographie, die in Rom gleichsam als Mittel der Politik instrumentalisiert wurde.537 Er stand mit bedeutenden Dichtern seiner Zeit, wie dem lateinischen Epiker A. Furius Antias, dem er seine Biographie widmete, und den Griechen Archias von Antiochia und Antipatros von Sidon, in engem Kontakt und verfasste selbst Epigramme, von denen nur zwei erhalten blieben, die ihn als sog. Praeneoteriker ausweisen.538 Seine Erwähnung in der Rede für Archias lässt darauf schließen, dass es sich bei ihm um einen aktiven Unterstützer griechischer Dichter handelte.539 Erstaunlicherweise wird auf seine Dichtung, die von der griechischen Lyrik seiner Zeit beeinflusst war, in De oratore nicht angespielt.540 Darüber hinaus ist er der Verfasser der mindestens vier Bücher umfassenden Communes historiae.541

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Diese war nach Cicero im Stil Xenophons gehalten und für eine weitere Ausarbeitung durch den Dichter Aulus Furius bestimmt: Cic. Brut. 132f.; vgl. Münzer 1927b, Sp. 2074f. Vgl. Münzer 1927b, Sp. 2079. So Kierdorf 1999, Sp. 525. Zu Catulus’ Selbstmord s.: Vell. 2,22,4; Val. Max. 9,12,4.; vgl. Münzer 1927b, Sp. 2079. Vgl. Suerbaum 2002, S. 449f.; Schanz/Hosius 1979, S. 203f. u. 206. Im Brutus wird durch die gleichnamige Dialogfigur angemerkt, dass dieses Werk zu Ciceros Zeit kaum mehr bekannt war: Cic. Brut. 133; zur Verbreitung des Werks in der Antike: Meyer 1970, S. 152f. Vgl. Suerbaum 2002, S. 450 u. 452f.; Schanz/Hosius 1979, S. 167f. Cic. Arch. 6; vgl. Suerbaum 2002, S. 452. Vgl. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 205. Diese behandelten die römische Frühgeschichte von Aeneas’ Landung in Lavinium bis zur Stadtgründung durch Romulus, s.: Suerbaum 2002, S. 451.

De oratore

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Hinsichtlich seiner Qualitäten als Redner, dessen Reden dem Autor wohl zum Teil vorlagen, stellt die Cicerofigur im Brutus seine Bildung heraus, die eher mit seiner als mit der traditionellen zu vergleichen sei (non antiquo more sed hoc nostro eruditus), was auf eine philosophische Unterweisung schließen lässt, und lobt seine Freundlichkeit (comitas) und Reinheit der Sprache (quaedam Latini sermonis integritas), die auch seine literarischen Werke auszeichne.542 Sein Philhellenismus zeigt sich auch durch die Errichtung eines FortunaTempels auf dem Marsfeld, den er mit einer Athena-Statue des Phidias ausstattete.543 Inwiefern es sich bei ihm um einen Anhänger oder Interessenten der Akademie handelte, lässt sich quellentechnisch kaum belegen. Dass er im späteren Lucullus als Vertreter der Lehre des Karneades genannt wird, stellt einen problematischen Beleg dar, da die Zuweisung innerhalb der dialogischen Welt getroffen wird und durch diese das philosophische Profil des Sohnes gestärkt wird.544 Cicero, der ihn noch als Redner erlebt hatte und bei dessen gewaltsamem Tod bereits 19 Jahre alt war, war mit Catulus’ gleichnamigem Sohn später politisch eng verbunden.545 Ob er mit dem Vater selbst einen vertraulichen Umgang hatte, lässt sich nicht belegen; für den Kontext von De oratore ist nicht auszuschließen, dass er sein positives Urteil über ihn aus Rücksicht auf den Sohn fällt. Dass er im Jahr 56 eine Villa bei Tusculum erwarb, die zuvor Catulus gehört hatte, erfüllte ihn jedenfalls mit großem Stolz.546 b)

Catulus’ Position und Auftreten im Gespräch

Die Dialogfigur Catulus erscheint zusammen mit seinem Bruder Caesar Strabo in der Villa des Crassus. Er hat im Gespräch eine zentrale Rolle inne, was sich auch an einem sehr hohen Redeanteil zeigt.547 Die hierarchische Stellung konstituiert sich zunächst durch das Alter. Gleich zu Dialogbeginn wird er als senex gekennzeichnet, wodurch ihm eine vergleichbare Ehrenstellung innerhalb des Gesprächskreises zukommt wie Scaevola im ersten Buch.548

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Cic. Brut. 132; vgl. Suerbaum 2002, S. 449. Seine besondere Latinität wird auch in De officiis als ein Markenzeichen von Catulus und seinem gleichnamigen Sohn, der in der ersten Fassung der Academici libri als Sprecher auftreten wird, hervorgehoben: Cic. off. 1,133: hi autem optime uti lingua Latina putabantur – „Diese aber, so glaubte man, beherrschten die lateinische Sprache am besten.“ Cic. Verr. 2,4,126; vgl. Suerbaum 2002, S. 449; Ferrary 1988, S. 604. Cic. ac. 2,12, 148; vgl. Reid 1984, S. 42; Ferrary 1988, S. 604f., Anm. 64. Vgl. Büttner 1974, S. 124f.; zum Sohn s. unter VI1.4 und V 2.3. Cic. Att. 4,5 = 80 Sh. B.,2. Im zweiten Buch kommt die Dialogfigur auf 26 Wortmeldungen, womit sie nur von Antonius übertroffen wird, im vom Vortrag des Crassus dominierten dritten Buch auf immerhin acht, s. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 205. Cic. de orat. 2,12; vgl. Zoll 1962, S. 126; Münzer 1927b, Sp. 2072.

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Das Erscheinen des Catulus zusammen mit Caesar Strabo wirkt auf die übrigen Dialogfiguren, vor allem auf Crassus, zunächst überraschend (commotus), die nach der herzlichen Begrüßung (amicissime consulassent) gestellte Frage nach dem Grund ihres Erscheinens und nach Neuigkeiten (quid vos tandem? […] numquidnam […] novi?) verdeutlicht den Kontext des Gesprächs, die brisante politische Lage der res publica. 549 Indem die Brüchigkeit des otiums entlarvt wird, wird zugleich die Kostbarkeit des Moments, in dem Cicero das Gespräch situiert, hervorgehoben. Die schlimmen Befürchtungen werden kurz darauf von Catulus als unbegründet abgetan, der darauf die Umstände ihres Besuchs schildert:550 […] sed – vel tu nos ineptos licet […] vel molestos putes – cum ad me in Tusculanum […] heri vesperi venisset Caesar de Tusculano suo, dixit mihi a se Scaevola hinc euntem esse conventum ex quo mira quaedam se audisse dicebat; te, quem ego totiens omni ratione temptans ad disputandum elicere non potuissem, permulta de eloquentia cum Antonio disseruisse et tamquam in schola prope ad Graecorum consuetudinem disputasse. Doch – magst du uns auch für unhöflich oder für aufdringlich halten – als Caesar gestern Abend von seinem Tusculanum in mein Landhaus kam, berichtete er mir, er habe Scaevola getroffen, wie er von hier kam, und er behauptete, etwas Erstaunliches gehört zu haben. Du, den ich doch so oft auf jede Weise zu einem Vortrag zu verlocken suchte, ohne dass es mir gelungen wäre, habest mit Antonius ein ausführliches Gespräch über die Redekunst geführt und wie in einer Vorlesung nach der Art der Griechen eine wissenschaftliche Vorlesung gehalten.

In seiner Sorge, dass er und sein Bruder Crassus ungelegen oder lästig (vel […] ineptos […] vel molestos) kommen könnten, verweist die Figur auf die als aufdringlich empfundenen griechischen Bildungsgesellschaften. Im Hinblick auf diese stellt das sich dezidiert zurückhaltend gebende Verhalten der Dialogfigur einen typisch römischen, sich aus der humanitas konstituierenden Gegenentwurf dar.551 Dass das von Scaevola aufgeschnappte Gerücht, Crassus würde mit Antonius nach griechischer Sitte disputieren (tamquam in schola prope ad Graecorum consuetudinem disputasse), sie hierher geführt habe, hebt die Besonderheit des von Cicero entworfenen Kreises hervor. 552 Das unerhörte „Neue“ (numquidnam novi) geht in dieser Situation folglich nicht von den Neuankömmlingen, sondern von dem Hauptredner aus. Da der unerwartete Besuch bei Crassus dennoch gegen die familiaritas verstößt, betont Catulus anschließend, dass sein Bruder ihn dazu gedrängt habe (me frater exoravit) und dass ihnen ihre

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Cic. de orat. 2,13; vgl. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 207. Cic. de orat. 2,13. Vgl. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 207f. Vgl. ebd., 208.

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Anwesenheit nur in dem Fall angenehm sei, wenn sie den Hausherren nicht stören würden (nisi forte molesti intervenimus).553 Ihr Erscheinen auf das Gerücht eines wissenschaftlichen Vortrags präsentiert sich dahigehend als ein unpolitisches, das durch Wissbegier motiviert scheint. 554 Crassus’ Antwort stellt die persönliche Verbindung der Neuankömmlinge zum ihm heraus, indem jener sie zu seinem engsten Umfeld (homines mihi carissimos et amicissimos) rechnet.555 Der Verweis auf die persönliche Vertrautheit befreit dabei die Gäste von der Angst, inepti oder molesti aufzutreten. c)

Catulus als gebildeter Gesprächsteilnehmer

Die Dialogfigur Catulus erscheint in De oratore als ein Redner, dessen Markenzeichen seine sprachliche Brillanz und Bildung darstellen. Nach Catulus’ Eintreffen verweist Antonius noch vor der Fortführung seines Vortrags nicht ohne Selbstironie auf ebendiese Qualitäten:556 et quidem loquar confidentius, quod Catulus auditor accessit, cui non solum nos Latini sermonis sed etiam Graeci ipsi solent suae linguae subtilitatem elegantiamque concedere. Ich werde auch insofern selbstbewusster sprechen, als mit Catulus ein Zuhörer erschienen ist, dem nicht nur wir in unserer lateinischen, sondern sogar die Griechen selbst in ihrer Sprache Geschmack und Eleganz zuzuerkennen pflegen.

Trotz des ironischen Untertons fällt im folgenden Dialogverlauf auf, dass mit dem Erscheinen von Catulus und seinem Bruder die Bereitschaft der anderen Gesprächspartner, auf die Philosophie Bezug zu nehmen, steigt. 557 Zu einem ähnlichen Urteil über seinen rednerischen Stil kommt auch Crassus zu Beginn des dritten Buchs, indem er Catulus als Positivbeispiel in seinen Ausführungen herausstellt, das neben latinitas auch eine Synthese aus seiner einzigartigen dignitas, humanitas und lepos verkörpere.558 Der Verweis auf seine Liebenswürdigkeit und seinen Humor erinnert dabei sehr an die Charakterisierung Scaevolas, dessen Platz Catulus nun einnimmt.559 Während mit jenem ein Meister des römischen Rechts die Szenerie verlassen hat, tritt mit Catulus erneut ein Experte in den Kreis des Crassus, dessen Expertise sich schwerpunktmäßig auf die lateinische Sprache bezieht. 553 554 555 556 557 558 559

Cic. de orat. 2,14. So Zetzel 1972, S. 175. Cic. de orat. 2,15. Ebd., 2,28. S. Meyer 1970, S. 158f. Cic. de orat. 3,29. Zu Scaevolas Charakterisierung s. oben S. 116f.

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Darüber hinaus verfügt Catulus wie Scaevola über philosophische Bildung, die für sein Auftreten innerhalb des Gesprächs prägend ist.560 Diese zeigt sich auch, als Antonius ihn als Experte über die Ausdrucksfülle der Philosophen (sed tu haec, Catule, melius)561 in seinen Vortrag einbezieht:562 est […] ut dicis, Antoni, ut plerique philosophi nulla tradant praecepta dicendi et habeant paratum tamen quid de quaque re dicant. sed Aristoteles, is quem ego maxime admiror, posuit quosdam locos ex quibus argumentatio non modo ad philosophorum disputationem, sed etiam ad hanc orationem, qua in causis utimur, inveniretur. Es ist so, wie du sagst, Antonius, […] die meisten Philosophen geben keine Anweisungen für die Rede und sind trotzdem für die Behandlung jedes Themas vorbereitet. Doch Aristoteles, den ich besonders bewundere, führte ganz bestimmte Fundstellen an, wo jede Argumentation nicht nur für die philosophische Erörterung, sondern auch für die Art der Rede, die wir bei Prozessen halten, zu finden sei.

Als Experte von Antonius herangezogen, schränkt Catulus zunächst dessen maximalistische Auffassung ein, wonach Philosophen generell keine Anweisungen für die Rede erteilen würden.563 Als Gegenbeispiel führt er Aristoteles an, der mit den topoi ein Werk verfasst habe, das sowohl der philosophischen als auch der Rede des Forums dienlich sei. Dabei signalisiert er seine eigene Hochachtung gegenüber jenem Philosophen (ego maxime admiror), worin sich ein Kontrast zum stoisch gebildeten Scaevola bildet. Im Folgenden verweist Catulus auf die Ähnlichkeit zwischen Antonius’ Ausführungen und jenen des Aristoteles selbst, wodurch dieser hinsichtlich seiner Behauptung, sich nie mit griechischer Theorie auseinandergesetzt zu haben, überführt wird.564 Nachdem jener einräumt, dass er gegenüber den Mitbürgern gar nicht erst den Verdacht aufkommen zu lassen wolle, sich mit griechischer Bildung zu beschäftigen, hält Catulus ihm entgegen, dass die philosophia selbst in Rom nie offen abgelehnt wurde (haec civitas aspernata numquam est).565 Der Gedanke einer grundsätzlichen Eignung von Römern für diese, auf die der Autor selbst in den Einleitungen seiner philosophischen Werke aufmerksam macht, 566 wird

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Vgl. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 205. Cic. de orat. 2,151. Ebd., 2,152. Vgl. Leeman/Pinkster/Rabbie 1989, S. 91. Cic. de orat. 2,152f. Ebd., 2,154. Eine besonders ausführliche Kategorisierung verschiedener Kritikertypen findet bekanntermaßen im Proömium von De finibus 1 statt: Cic. fin. 1,1–5.

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darauf von Catulus mittels eines kulturgeschichtlichen Überblicks untermauert:567 nam et referta quondam Italia Pythagoreorum fuit, tum cum erat in hac gente magna illa Graecia; ex quo etiam quidam Numan Pompilium regem nostrum fuisse Pythagoreum ferunt, qui annis ante permultis fuit quam ipse Pythagoras; quo etiam maior vir habendus est, cum illam sapientiam constituendae civitatis duobus prope saeculis ante cognovit, quam eam Graeci natam esse senserunt; – et certe non tulit ullos haec civitas aut gloria clariores aut auctoritate graviores aut humanitate politiores P. Africano, C. Laelio, L. Furio, qui secum eruditissimos homines Graecia palam semper haberunt. (155) atque ego hoc ex iis saepe audivi, cum dicerent pergratum Atheniensis et sibi fecisse legatos de suis rebus maximis mitterent, tris illius aetatis nobilissimos philosophos misissent Carneadem et Critolaum et Diogenem. itaque eos, dum Romae essent, et a se et ab aliis freqeunter auditos; quos tu cum haberes auctores, Antoni, miror cur philosophae sicut Zethus ille Pacuvianus prope bellum indixeris. Einst war Italien ja voll von Pythagoreern, als unser Volksstamm zu Großgriechenland gehörte. Daher behaupten manche Leute auch, dass unser König Numa Pompilius ein Pythagoreer gewesen sei, obwohl er ja vor Pythagoras lebte. Doch umso höher muss man ihn schätzen, da er beinahe zwei Jahrhunderte, bevor die Griechen sie entdeckten, über die Weisheit der Staatsgründung verfügte. Gewiss hat unser Land auch keine Männer von strahlenderem Ruhm, von größerer Bedeutung oder höherer Bildung hervorgebracht als P. Africanus, C. Laelius oder L. Furius, die immer öffentlich mit den Gebildetsten Griechenlands verkehrten. (155) Ich habe sie oft sagen hören, die Athener hätten ihnen und vielen führenden Persönlichkeiten im Staate eine große Gefälligkeit damit erwiesen, dass sie damals, als sie in Angelegenheiten von besonderer Bedeutung eine Gesandtschaft an den Senat entsandten, die drei berühmtesten Vertreter der damaligen Philosophie, nämlich Karneades, Diogenes und Kritolaos schickten. Sie selbst und andere hätten diese Männer während ihres Aufenthalts in Rom häufig gehört. Da du dich doch auf sie berufen kannst, Antonius, staune ich darüber, dass du wie der bekannte Zethos des Pacuvius der Philosophie beinahe den Krieg erklärst.

Der erste Funken der Philosophie in Rom werde schon bei König Numa deutlich, der – obgleich er kein Pythagoreer gewesen sein könnte – bereits über jene Art von Weisheit verfügt habe, welche sich im Akt der Staatsgründung zeige.568 Die nächste Stufe der Entwicklung der Philosophie verortet er bei Scipio Africanus, Laelius und Furius, die erstmals öffentlich (palam) ihren Umgang mit griechi-

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Cic. de orat. 2,154f. Ob der altrömische König Numa bereits Pythagoreer gewesen sein kann, beschäftigt in De re publica den Hauptredner Scipio Aemilianus, der die Frage dort verneint: Cic. rep. 2,28f.; s. hierzu unten S. 151 u. 203f.

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schen Gelehrten (erudissimos homines ex Graecia) gezeigt hätten.569 Wie zuvor Scaevola, so fungiert Catulus durch sein Alter als Bindeglied zwischen den Generationen, das selbst jenen berühmten Bildungskontakt des Kreises um Scipio mit der Philosophengesandschaft des Karneades indirekt bezeugen kann (atque ego […] ex eis saepe audivi).570 Die kurze Entwicklungsgeschichte der Philosophie in Rom endet in der Verwunderung der Figur über Antonius’ feindselige Haltung, die mit der Zitation des Pacuvius unterstrichen wird. Mit seiner dezidiert philosophiefreundlichen Haltung bildet Catulus nicht nur einen Gegenpol zum schüchternen (timide) Antonius, sondern er verkörpert darüber hinaus Ciceros Gedanken, dass in Rom ein der philosophischen Bildung positiv gesinnter Rezeptionskreis besteht, innerhalb des fiktionalen Raums des Dialogs. Obschon die philosophische Bildung des Catulus in De oratore ein wichtiges Charakteristikum darstellt, lässt sich keine besondere Neigung zur akademischen Skepsis erkennen, die ihm der Dialog Lucullus attestiert. Indem Crassus ihm gegenüber von Aristoteles […] vester spricht 571 und dieser sowie Theophrast indirekt als von ihm besonders geschätzte Philosophen (quos tu maxime dilligis) bezeichnet werden, wird dagegen eine Affinität zum Peripatos angedeutet.572 Auf sein generell hohes Wissen über Philosophie verweist auch Crassus’ Zitation einer Sentenz Platons, die Catulus schon kennen würde.573 Durch ihre umfassende Bildung hat die Dialogfigur im Verlauf des Gesprächs eine zentrale Position als höhere Instanz inne, an die sich die beiden Hauptredner richten. Diese zeigt sich während des zweiten Buchs, indem Antonius sich bei seinen Darlegungen über die materia artis574 der Redekunst primär an ihn wendet, was Niveau und Anspruch derselben unterstreicht.575 Durch häufige Unterbrechungen, in denen Catulus Antonius’ Ausführung bestätigt, zusammenfasst oder nochmals nachfragt, erinnert sein Auftreten an das einer platonischen Dialogfigur.576

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Hierbei spielt er offensichtlich auf deren Umgang mit dem stoischen Philosophen Panaitios und dem Historiker Polybios an. Vgl. Leeman/Pinkster/Rabbie 1989, S. 94. Möglicherweise kam Catulus als zwanzigjähriger Rekrut in Spanien mit Aemilianus Scipio erstmals in Kontakt: Leeman/Pinkster/Rabbie 1989, S. 94. Zur Funktion der Verbindung der Generationen s. auch Bardon 1952, S. 124: „Catulus est censé faire allusion à Scipion Emilien, à Laelius, à L. Furius: ceux-ci lui auraient souvent parlé de conclure de l’ambassade de Carnéade.“ Cic. de orat. 3,182. Ebd., 3,187; vgl. auch 2,152. Als römischer Vertreter des Peripatos ist im ersten Buch von Piso und nicht von Catulus die Rede: Cic. de orat. 1,104. Ebd., 3,21. Ebd., 2,41–73. Vgl. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 238. Cic. de orat. 2,43, 47, 48, 49, 50, 51, 54, 59, 71.

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In seiner Funktion als philosophisch gebildeter Experte kommt ihm im dritten Buch erneut ein wichtiger Gesprächsbeitrag zu. Im Anschluss an Crassus’ Rede über den idealen Redner ist er es, der als erstes das Wort ergreift:577 haudquaquam hercle, […] Crasse, mirandum est esse in te tantam dicendi vel vim vel suavitatem vel copiam; quem quidem antea natura rebar ita dicere, ut mihi non solum orator summus, sed etiam sapientissimus homo videre; nunc intellego illa te semper etiam potiora duxisse, quae ad sapientiam spectarent, atque ex his hanc dicendi copiam fluxisse. sed tamen cum omnis gradus aetatis recordor tuae cumque vitam tuam ac studia considero, neque, quo tempore ista didiceris, video nec magno opere te istis studiis, hominibus, libris intellego deditum. Es ist wahrhaftig gar nicht zu verwundern, Crassus, […] dass deine Rede eine solche Wirkung, Anziehungskraft und Unerschöpflichkeit besitzt. Während ich früher glaubte, du könntest dank natürlicher Begabung so reden, dass ich dich nicht nur für den besten Redner, sondern auch für den größten Denker halten musste, erkenne ich jetzt, dass dir jene philosophischen Aspekte immer mehr bedeutet haben und der Strom deiner Redegabe aus solchen Quellen floss. Doch wenn ich alle Stufen deines Werdegangs bedenke und dein Leben und deine Neigungen betrachte, dann weiß ich weder, wann du so etwas studiert hast, noch sehe ich, dass du dich solchen Studien, Menschen oder Büchern besonders hingegeben hättest.

Nachdem Catulus in Crassus selbst jenen Typus von Redner erkannt hat, den Crassus zuvor beschrieben hat, macht er stellvertretend für Ciceros Leser auf die Problematik aufmerksam, als römischer nobilis die für die Entwicklung hoher Beredsamkeit notwendige Zeit zu finden.578 In ähnlicher Weise hatte bereits im ersten Buch Scaevola davor gewarnt, zu hohe Anforderungen an den Redner zu stellen.579 Die zentrale These des Crassus, welche auch die Ciceros ist, erfährt dabei durch ihn als einen „vernünftigen Außenstehenden“ dennoch eine Bestätigung.580 Catulus’ Staunen über Crassus’ Bildung und der Vermerk, dass er weder mitbekommen habe, wann er jemals dieses Wissen gelernt habe (quo tempore ista didiceris), geschweige denn, dass er sich im besonderem Ausmaß damit beschäftigt habe (nec video magno opere te istis studiis, hominibus, libris […] deditum), lenken die Aufmerksamkeit auf die Frage nach der historischen Bildung des Crassus.581 Zu dieser umfassenden Bildung zählen dabei nicht nur seine Sprachgewalt und Kenntnisse in der Philosophie: Der Verfasser der Communes historiae offenbart sich auch als Kenner der Geschichtsschreibung, der eine überaus kritische Haltung gegenüber der von Antonius in Schutz genommenen römischen 577 578 579 580 581

Cic. de orat. 3,82. Vgl. Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 283f. Cic. de orat. 1,76f. Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 284. Vgl. ebd., S. 284.

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Historie vertritt.582 Dabei zeigt sich, dass eine lateinische Geschichtsschreibung, welche stilistisch mit jener der Griechen mithalten könnte, weiterhin ein Desiderat darstellt, worin sich auch die Auffassung des Autors artikuliert, wonach die Historiographie der Beredsamkeit untergeordnet sein müsse.583 Durch ihre ausgeprägten Kenntnisse gibt die Dialogfigur immer wieder Anregungen, die auf den Gesprächsverlauf eine strukturierende Wirkung haben584 oder ihn ergänzen, wie etwa der Exkurs im dritten Buch über die Sophisten von Hippias bis Gorgias, der in einem Lob auf Crassus’ Vortrag mündet.585 In ihrer Funktion als in den griechischen Wissenschaften gebildeter Gesprächsteilnehmer erkennt die Figur die Besonderheit des Ortes und der Szenerie des Dialogs. Nachdem im ersten Buch Scaevola den Bezug zum Gesprächsort herausgestellt hat 586 , übernimmt dies im zweiten Buch Catulus, um die Figur des Crassus zu einem Vortrag zu motivieren. Nach einer Differenzierung zwischen den alten und den heutigen Griechen, welche die römischen Ohren strapazieren würden (qui se inculcant auribus nostris)587, versucht er durch seinen Verweis auf Ort und Zeit Crassus von seinem Widerstand abzubringen, indem er auf dessen griechische Villenausstattung aufmerksam macht.588 Trotz seiner griechischen Bildung spiegelt sich in der Figur somit die dem Gesprächskreis immanente Skepsis gegenüber Theoretikern, die zwar Vorschriften geben würden, jedoch selbst niemals ein Forum oder einen Gerichtssaal gesehen hätten (Graeco aliquo doctore, qui mihi pervulgata praecepta decantent, cum ipse numquam forum, numquam ullum iudicium aspexerit).589 Obschon Catulus vom Autor nicht zu den ersten Rednern seiner Zeit gezählt wird, zeigt sich auch in ihm, dass es Cicero mit seinem Werk nicht um eine imitatio der bestehenden Literatur, sondern um deren Überbietung geht. d)

Catulus im Spannungsfeld von Vergangenheit und Gegenwart

Bereits Münzer erkannte, dass durch Catulus in der Funktion des Alterspräsidenten eine „Brücke zu dem Zeitalter des Scipio Aemilius […] und des C. Gracchus“ geschlagen wird.590 Als Schwiegervater des aufstrebenden jungen Redners 582 583

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Cic. de orat. 2,51; vgl. Meyer 1970, S. 160. Das Fehlen einer angemessenen römischen Geschichtsschreibung bestimmt auch die Einleitungsgespräche von De legibus und Brutus, wo die Gelegenheit für ein Lob von Atticus’ Liber annalis genutzt wird: Cic. leg. 1,5–7; Cic. Brut. 15f. S. hierzu auch: Gildenhard 2013, S. 241–243. Besonders deutlich zeigt sich dies in der Mitte des zweiten Buchs, als Catulus Antonius an die noch ausstehende dispositio der Rede erinnert: Cic. de orat. 2,179. Ebd., 3,126–131. Ebd., 1,28. Ebd., 2,19. Ebd., 2,20. Ebd., 2,75. Münzer 1927b, Sp. 2072.

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Hortensius verweist sein Auftreten nicht nur auf die Vergangenheit der Dialogzeit, sondern auch auf die Zeit nach dem Gespräch, indem er bei der Verabschiedung explizit seinen Schwiegersohn erwähnt:591 me quidem istius sermonis participem factum esse gaudeo; ac vellem, ut meus gener, sodalis tuus, Hortensius adfuisset; quem quidem ego confido omnibus istis laudibus, quas tu oratione complexus es, exellentem fore. Was mich betrifft, so freue ich mich jedenfalls, dass ich an dieser Unterredung teilgenommen habe. Ich wünschte auch, mein Schwiegersohn Hortensius, der zu deinem Kreis gehört, wäre dabeigewesen. Ihm traue ich es jedenfalls zu, dass er sich in all den Tugenden, die du in deiner Rede dargestellt hast, auszeichnen wird.

Nachdem er seine Freude über seine Teilnahme am Gespräch (istius sermonis participem factum esse) bekundet hat, nennt er den zur Abfassungszeit von De oratore noch lebendigen Redner und Zeitgenossen des Autors als sodalis des Crassus, was auf eine Bekanntschaft zwischen Hortensius und Crassus in einem religiös-rituellen Kontext verweist.592 Indem Catulus auf dessen künftige Rolle aufgrund seiner Vorzüge (laudibus) verweist (excellentem fore), erteilt Cicero ein extradialogisches Kompliment an den Redner, der zur Entstehungszeit von De oratore in einem guten Verhältnis mit ihm stand. Die Erwähnung des zukünftigen Redners richtet den Blick zudem auf die Gegenwart des Autors und dessen Leserschaft. Dass mit Hortensius indirekt auch auf den künftigen Redner Cicero, der diesen als ersten Redner Roms ablösen wird, angespielt und somit das dialogische Universum durchbrochen wird, folgt dabei – wie Hösle herausstellt – erneut dem literarischen Vorbild des Phaidros, in welchem Sokrates auf Isokrates anspielt.593 e)

Zusammenfassung

Es lässt sich zusammenfassend konstatieren, dass Cicero mit Catulus eine Figur auftreten lässt, die als senex gestaltend in das Gespräch eingreift und dabei einen dezidiert humorvollen und freundlichen Umgangston anschlägt. Anders als im Fall des Scaevola wird durch sie jedoch nicht auf ein früheres Lehrer-SchülerVerhältnis angespielt. Anders als jener verkörpert die Figur des Catulus stärker

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Cic. de orat. 3,228. Die Übersetzung Merklins zu me […] participem factum esse verbirgt an dieser Stelle, dass Catulus wörtlich „zum Teilnehmer gemacht wurde“; seine Freude gilt somit nicht allein der Tatsache, dass er an dem Gespräch teilnahm, sie bezieht sich auch darauf, dass er in das Gespräch miteinbezogen wurde. S. auch: Wisse/Winterbottom/Fantham 2008, S. 380. Als wahrscheinlich gilt hierbei das Augurenkollegium, s. hierzu: Mankin 2011, S. 323; Wisse/Winterbottom/Fantham 2008, S. 380. S. Hösle 2006, S. 96f., Anm. 59; Plat. Phaidr. 278e–279b.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

einen an Philosophie und Geschichte interessierten Römer, der sich in der griechischen Literatur versiert zeigt, während ihm die juristische Expertise seines Vorgängers fehlt. Neben seiner literarischen Bildung stellt seine latinitas seine herausragende Qualität dar, auf der sein rednerisches Können basiert. Als gebildeter Zuhörer nimmt er im Gespräch eine flankierende Stellung ein, die an jene des Atticus in späteren Dialogen erinnert. Wie Crassus und Antonius steht er dabei griechischen Rhetoriklehrern aufgrund ihrer mangelnden praktischen Erfahrung skeptisch gegenüber und empfindet sie als anmaßend. In seiner zwiespältigen Haltung zwischen Verehrung der alten griechischen Meister wie Aristoteles und seiner offenen Ablehnung der aufdringlichen Rhetoriklehrer seiner Zeit artikuliert sich nicht zuletzt der reformorientierte Ansatz Ciceros, die seit Sokrates gespaltene Einheit von Wort und Vernunft wieder zu vereinen. Diese Reform wird nicht in der Akademie oder dem Lykaion von Athen angedacht, sondern in der mit philhellenischen Gebäudeelementen ausgestatteten Villa des Crassus, welche der Dialogfigur nicht entgehen.

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De re publica

Der nur fragmentarisch erhaltene zweite Dialog De re publica wurde offenbar in der Zeit zwischen Ciceros spätestens im November 55 fertiggestellten Erstling De oratore und dem Antreten seines Prokonsulats in Kilikien ab 51 verfasst.594 Die politische Situation Ciceros in der Entstehungszeit von De re publica entspricht im Wesentlichen jener von De oratore. Anders als in den späteren philosophischen Dialogen, die unter der Diktatur Caesars entstanden, nahm der Autor trotz einer tiefen Unzufriedenheit angesichts seiner durch das sogenannte Triumvirat untergeordneten Rolle aktiv am politischen Leben teil, was die Fertigstellung zusätzlich verzögerte. 595 Der durch Straßenkämpfe gestörte Ablauf des politischen Betriebs in Rom und die ihm abverlangte Anerkennung einer faktischen Vorrangstellung der Triumvirn Caesar, Pompeius und Crassus verhinderten nicht nur die gewünschte concordia ordinum, sondern beschränkten auch die

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Eine Zusammenstellung der Testimonien und eine ausführliche Forschungsdiskussion der Datierung von De re publica liefert Büchner 1984, S. 23–27; vgl. Bringmann 2010, S. 163. Die lange Abfassungszeit wurde dabei unter anderem durch mehrere Umgestaltungen des Dialogs bedingt, die im oben zitierten Brief an Quintus angesprochen werden, s. oben S. 37f. Vgl. Powell 1996, S. 15. Cicero selbst erwähnt zehn Jahre später die Entstehungssituation seines Staatswerkes im Proömium des zweiten Buches von De divinatione mit dem Beisatz cum gubernacula rei publicae tenebamus – „als ich noch an der Lenkung des Staats beteiligt war“: Cic. div. 2,3; vgl. Fuhrmann 1998, S. 265.

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Bewegungsfreiheit, die sich Cicero aufgrund seines Status als Konsular erwartet haben dürfte.596 Den Zeitpunkt des fiktiven Dialoggespräches legte er dabei auf das Jahr 129, 38 Jahre vor das angebliche Gespräch des Crassus. Erneut wird das Treffen der Dialogfiguren durch den nahen Tod der zentralen Dialoggestalt überschattet, erneut bieten religiöse Feiertage, diesmal die feriae Latinae, einen angemessenen äußeren Rahmen für eine theoretische Auseinandersetzung der Dialogfiguren.597 Die durch die Reformen des Tiberius Gracchus ausgelösten innenpolitischen Spannungen zur Zeit des dramatischen Datums bilden nach Fuhrmann ein Chiffre für die nicht weniger turbulente Entstehungszeit des Werks, in der der Autor für eine gewisse Zeit überlegte, das heraklidische Prinzip aufzugeben und selbst als Protagonist aufzutreten.598 Das Gespräch ist als späterer Bericht des Teilnehmers P. Rutilius Rufus angelegt, den der Autor während seiner Griechenlandreise 78 auf Smyrna getroffen habe, so dass sich insgesamt drei verschiedene Gesprächsebenen ergeben, wenn man die Anrede an Quintus miteinbezieht.599 An diesen wendet er sich in insgesamt drei Proömien, die jeweils den Dialogen der Bücher 1, 3 und 6 vorangestellt werden. Die insgesamt sechs Bücher bilden drei jeweils zwei Bücher umfassende Einheiten, von denen stets das erste Buch die theoretischen Grundlagen behandelt, während das zweite diese auf die römische Geschichte projiziert.600 In den Proömien wird der Bezug zur eigenen Zeit hergestellt und mittels auktorialer Stimme Auskunft über die Anliegen der Schrift gegeben. Zwar ist keines der drei Vorwörter vollständig überliefert, doch lässt bereits das durch das Palimpsest weitgehend erhaltene erste Proömium einige konkrete Rückschlüsse auf Charakter und Zielsetzung von De re publica zu. In diesem wird mittels eines Vergleichs von Philosoph und Staatsmann der Vorrang der politischen Betätigung herausgestellt und zum Einsatz für die bedrohte römische res publica aufgerufen.601 Dieser Gedanke wird im nur durch vereinzelte Fragmente überlieferten dritten Proömium aufgegriffen, in dem die Stimme des Autors mittels eines Enniusverses erneut an die eigene Gegenwart anknüpft und die Vorstel-

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Zur Programmatik und Geschichte der concordia ordinum s. Strasburger 1956, S. 59– 70. Cic. rep. 1,14. Fuhrmann 1998, S. 265. Cic. rep. 1,13. Zum Aufbau s.: Zetzel 1995, S. 16f.; Zetzel 2001, S. 84. Cic. rep. 1,1–13. Blößner, der sich bisher am umfassendsten mit dem ersten Proömium und seiner argumentativen Struktur auseinandersetzte, attestiert Ciceros Staatswerk dahingehend einen primär protreptischen: Blößner 2001, bes. S. 19–21. Eine weniger politische Interpretation des Werks lieferte zuletzt Fox, der in seiner Untersuchung des Staatswerkes für eine Lektüre plädiert, welche eine Kohärenz zwischen De re publica und dem akademischen Bekenntnis berücksichtigt: Fox 2007, S. 80–110.

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lung, dass sich der römische Staat auf seine Männer und Sitten gründet, unterstreicht:602 Nostra vero aetas, cum rem publicam sicut picturam accepisset egregiam sed iam evanescentem vetustate, non modo eam coloribus eisdem quibus fuerat renovare neglexit, sed ne id quidem curavit ut formam saltem eius et extrema tamquam lineamenta servaret. Quid enim manet ex antiquis moribus, quibus ille dixit rem stare Romanam? quos ita oblivione obsoletos videmus, ut non modo non colantur, sed iam ignorentur. Nam de vivis quid dicam? mores enim ipsi interierunt virorum penuria. Cuius tanti mali non modo reddenda ratio nobis sed etiam tamquam reis capitis quodam modo dicenda causa est; nostris enim vitiis, non casu aliquo, rem publicam verbo retinemus, re ipsa vero iam pridem amisimus. Unsere Zeit aber hat, als sie das Gemeinwesen wie ein kostbares, aber infolge des Alters verblassendes Gemälde empfangen hatte, nicht nur versäumt, es in den Farben, wie es gewesen, zu erneuern, sondern hat sich nicht einmal darum gekümmert, wenigstens seine Form und die Linien der Umrisse sozusagen zu erhalten. Was bleibt denn noch von den alten Sitten, auf denen, wie jener sagte, die römische Sache stehe? Wir sehen, dass sie so durch Vergessen abgekommen sind, dass sie nicht nur nicht mehr in Ehren gehalten, sondern überhaupt nicht mehr gewusst werden. Denn was soll ich von den Männern sagen? Sind doch die Sitten selber aus Mangel an Männern zugrunde gegangen. Für dieses so schlimme Übel müssen wir nicht nur die Rechenschaft ablegen, sondern uns auch wie Angeklagte auf Tod und Leben in gewisser Weise verteidigen. Durch unsere Fehler nämlich, nicht durch irgendein Unglück halten wir das Gemeinwesen zwar dem Wort nach fest, haben es in Wirklichkeit aber längst verloren

Das negative Urteil über die eigene Zeit, die Cicero mit der in De re publica beschriebenen idealen Ordnung in Bezug setzt, unterstreicht dabei den im ersten Proömium geäußerten Appell, der sich an die Leser aus der römischen Oberschicht richtete.603 Die Verankerung des Gesprächs in die Zeit der nach dem Tod des Tiberius Gracchus ausgelösten Wirren und der letzten Tage des Protagonisten Scipio Aemilianus zeigt jedoch, dass Cicero das Gespräch in eine Zeit legen wollte, die dem Gespräch einen der Gegenwart ähnelnden historischen Rahmen verleiht.604 Das Fehlen der für das Funktionieren des Staates notwendigen guten Staatsbürger stellt dabei nicht nur ein Problem der eigenen Zeit dar, sondern kündigt sich bereits in den letzten Lebensjahren Scipios an: Der Zeitpunkt des

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Cic. rep. 5,2 (Aug. civ. 2,21). Der deutsche Text zu De re publica folgt hier wie auch im Folgenden, wenn nicht anders vermerkt, der Übersetzung von Büchner. So auch: Büchner 1984, S. 393f.; Powell 1996, S. 22f. Vgl. Powell 1996, S. 22. Wie sehr der Autor über die Frage der Gesprächspartner während der Abfassung reflektierte, zeigt erneut die bereits angeführte Korrespondenz mit Quintus: Cic. ad Q. fr. 3,5 = 25 Sh. B.

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Todes des Protagonisten erscheint aus der Retrospektive als Wendepunkt.605 Der zitierte Passus zeigt darüber hinaus, dass die sich aus den einzelnen Individuen zusammensetzende Vergangenheit als Bezugspunkt zur eigenen Zeit zu verstehen ist und mit der politischen Zielsetzung des Autors, einer Reform des Staates der Gegenwart cum dignitate otium, im Einklang steht.606 In der politischen Instrumentalisierung der Vergangenheit stellt Cicero dabei keine Ausnahme dar, sondern folgt der gängigen Praxis seiner Zeit.607 Diesbezüglich dient der politisch-protreptische Charakter, der das erste und dritte Proömium bestimmt, nicht nur der Eigenwerbung um die Person des Autors, sondern auch dazu, die im Dialog behandelten Themen der idealen Staatsverfassung und des idealen Politikers mit dem Wesen der römischen res publica abzustimmen.608 Die Frage nach dem Grad der Historizität beziehungsweise der Fiktionalität dieses Kreises ist im Kontext einer Arbeit, die sich mit der Dialogtechnik Ciceros beschäftigt, von Relevanz, auch wenn sie sich aufgrund der Quellensituation nicht eindeutig klären lässt.609 In der Forschung wird sie nach wie vor unterschiedlich beantwortet, obschon eine Historizität des dargestellten Gesprächs ausgeschlossen wird. 610 Die Feststellung Strasburgers, wonach es sich beim Scipionenkreis primär um einen Verband politischer Männer handelte, wird grundsätzlich nicht bestritten, bedarf jedoch der Ergänzung. 611 Dahingehend verweist Büchner auf das reale geistige Interesse der historischen Personen, die „geeint [sind] im Streben nach einer neuen Lebensform, in der die Weisheit der maiores und ihr Beispiel das Gute aus den griechischen Schriften aufnimmt und nicht mehr heimlich […], sondern frei zu etwas Neuem“ verschmelze.612 Bei den Hauptrednern Scipio, Laelius und Philus dürfte es sich zudem um die ersten 605

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S. Powell 1996, S. 22: „The ‚good‘ statesmen were always in a minority, and the longer-term outlook was disturbing.“ Einen direkten Vergleich der politischen Thematik und Zielsetzung von De re publica und Pro Sestio liefert: Fuhrmann 1960, v. a. S. 498–500; zum Begriff des cum dignitate otium s. oben S. 40, Anm. 14. Vgl. Beutel 2000, S. 14f. Vgl. Blößner 2001, S. 29–31. Nach Blößner wird das Anliegen von Platons Politeia, die Sorge um die menschliche Seele, von Cicero in De re publica zur Sorge um den römischen Staat abgeändert: Blößner 2001, S. 24. Hinsichtlich der Forschungsfrage nach der Historizität des Dialoggesprächs vertrat Strasburger am entschiedensten die Annahme eines hohen Grades an Fiktionalität. In der Briefkorrespondenz aus der Entstehungszeit des Staatswerkes sah Strasburger den ausschlaggebenden Hinweis darauf, dass das dargestellte Gespräch und der sog. Scipionenkreis der Fiktion des Autors entsprang: Strasburger 1966, S. 63; Cic. ad Q. fr. 2,13 = Sh. B. 17; Att. 4,16 = 89 Sh. B.,2f. Neben Strasburger s. hierzu: Ruch 1958, S. 23–30; Astin 1967, S. 294–302; Zetzel 1972; in der jüngeren Forschung äußerte sich zuletzt zugunsten eines höheren Grades an Historizität: Powell 1996, S. 18f. Vgl. Strasburger 1966, S. 63f. Büchner 1984, S. 29f.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

römischen Politiker gehandelt haben, die mit Philosophen in engerer Verbindung standen und deren Lektionen in griechischer Sprache folgen konnten.613 Ohne Zweifel kann jedoch die Präsentation des Dialogs als ein sich tatsächlich so zugetragenes Gespräch als grundlegende Fiktion des ciceronischen Dialogs bezeichnet werden.614 Wie sehr der Autor um den Anschein der Authentizität bemüht war, zeigt sich nicht zuletzt in den von den Dialogfiguren zitierten Werken, die alle vor 129 erschienen sind.615 Nicht minder wichtig als die Frage nach der Historizität der einzelnen Figuren ist jedoch die Frage, was der Autor in den Figuren selbst erkannte oder erkennen wollte. Die Untersuchung der einzelnen Figuren soll daher mit einem Blick auf die Trias der Hauptgesprächsführer ihren Anfang nehmen.

2.1

Die Hauptredner: Scipio, Laelius und Philus

Die Gruppe der Hauptredner des Dialogs De re publica besteht aus Scipio, Laelius und Philus, die im Folgenden einzeln untersucht werden sollen. Mit Blick auf den philosophiegeschichtlichen Kontext der historischen Vorlagen lässt sich konstatieren, dass alle drei in einer Zeit lebten, die neben der Herausbildung Roms als dominante Macht in der hellenistischen Welt des Mittelmeers von einem kulturellen Transferprozess geprägt war, der erst die Grundlage für Ciceros literarisches Werk schaffen sollte.616 In jener Dreierkonstellation erkannte der Autor eine Generation von Römern, die anders als M. Porcius Cato die Nähe zu griechischen Philosophen suchten. Als entscheidendes Moment dieser Begegnung wird von dem senex Catulus in De oratore 2 die Philosophengesandtschaft von 155 genannt.617 Dieser nennt die Gruppe als historisches Beispiel sich in gloria, auctoritas und humanitas auszeichnender Römer, die sich offen (palam) mit griechischen Gelehrten umgeben hätten.618 Catulus zufolge seien sie nicht nur eifrige Hörer (frequenter auditos) der Philosophengesandtschaft in Rom gewesen, sondern auch ihren Absendern, der Stadt Athen, überaus dankbar (pergratum Atheniensis). 619 Die drei als Musterrömer ihrer Generation (illius aetatis) beschriebenen Personen, werden den drei herausragenden Philosophen 613

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Vgl. Jocelyn 1977, S. 330; zu den Griechischkenntnisse der römischen Oberschicht in den 150er Jahren: Scholz 2011, S. 134. Vgl. Gildenhard 2013, S. 253: „The basic fictions that sustains Cicero’s dialogues is that they are not fictions, but the record of historical events.“ Eine Auflistung der in De re publica behandelten Werke, worunter Cato Censorius, Ennius, Polybios, die Zwölftafeln und die Annales Maximi gerechnet werden müssen, liefert: Cornell 2001, S. 41, Anm. 3. S. hierzu etwa: Christes 1975, S. 150–166.; Marrou 1957, S. 355–372. Cic. de orat. 2,154f.; zur Stelle s. oben S. 129. Vgl. Leeman/Pinkster/Rabbie 1989, S. 94. Zur Gesandtschaft: Leeman/Pinkster/Rabbie 1989, S. 94f.

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(nobilissimos philosophos) Karneades, Kritolaos und Diogenes gegenübergestellt. Die Stelle lässt jedoch offen, inwieweit die drei Römer Scipio, Laelius und Philus untereinander einen intellektuellen „Kreis“ bildeten oder ein solcher von Cicero konstruiert wurde.620 In dem Werk über den Redner werden zwar alle drei Personen genannt, doch fehlen genauere Angaben dazu, inwiefern sie miteinander durch Freundschaft oder gemeinsame politische Interessen verbunden waren. Als „Kreis“ erscheint diese Trias erstmals in De re publica. Im Proömium des dritten Buches zeigt sich, dass sie nicht nur für die Dialogfigur Catulus, sondern auch für den Autor Cicero eine exponierte exemplarische Bedeutung einnehmen:621 Quin etiam potest esse praeclarius quam cum rerum magnarum tractatio atque usus cum illarum artium studiis et cognitione coniungitur? Aut quid Publio Scipione, quid Gaio Laelio, quid Lucio Philo perfectius cogitari potest, qui ne quid praetermitterent quod ad summam laudem clarorum virorum pertinerent, ad domesticum maiorumque morem etiam hanc a Socrate adventiciam doctrinam adhibuerunt? Was kann denn vortrefflicher sein, als wenn die Tätigkeit und der Umgang mit großen Dingen mit den Bemühungen um jene Künste und ihre Erkenntnis verknüpft wird? Und was kann Vollkommeneres gedacht werden als Publius Scipio, was Vollkommeneres als Gaius Laelius, was Vollkommeneres als Lucius Philus? Die haben, um nichts beiseite zu lassen, was zum höchsten Lobe berühmter Männer in Beziehung stünde, zu der heimischen Sitte und der der Vorfahren auch diese ausländische von Sokrates ausgehende Lehre hinzugenommen.

Wie Catulus präsentiert Cicero die drei Hauptredner als musterhafte Ausnahmeerscheinungen (quid […] perfectius cogitari potest?), deren Beispielcharakter dadurch begründet wird, dass sie die „heimische Sitte“ (domesticum maiorumque morem) mit der Lehre des Sokrates (hanc a Socrate adventiciam doctrinam) verbunden haben, wodurch sie die geforderte Verbindung von Theorie und Praxis durch sich selbst erfüllen.622 Die Erwähnung der drei Personen zusammen mit dem älteren Cato in der vor dem Senat gehaltenen Rede Pro A. Licinio Archia poeta, worin sie als Positivbeispiele für die Verbindung von Naturanlagen mit wissenschaftlicher Bildung fungieren (cum ad naturam eximiam et inlustrem accesserit ratio quaedam conformatioque doctrinae), beweist, dass die von Cicero gewählten Sprecher schon lange vor der Entstehung des Staatswerkes generell als gebildete Römer galten und ihre Bildung (doctrina) als etwas Besonderes 620

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Strasburger, der sich hinsichtlich der Frage einer möglichen Existenz eines „Scipionenkreises“ am kritischsten äußerte, sieht den Passus als ein Indiz dafür, dass Cicero während der Abfassung von De oratore bereits die Absicht hatte, ein Staatswerk mit jenen Persönlichkeiten als Protagonisten zu verfassen: Strasburger 1966, S. 63. Cic. rep. 3,5. Vgl. Büchner 1984, S. 275.

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wahrgenommen wurde.623 Die Archiasrede erwähnt zwar hierbei nicht die Philosophie, doch lässt sich bereits sehr genau der Gedanke einer Verbindung von praktisch orientierter Lebensführung und theoretischer Gelehrsamkeit erkennen, als deren Fürsprecher Cicero vorsichtig auftritt. Obschon spätestens seit der Studie von Jocelyn aus historischer Sicht durchaus angezweifelt werden muss, dass der Kontakt mit Philosophen automatisch ein echtes philosophisches Interesse bedeutete, so muss dennoch hervorgehoben werden, dass es sich bei den dreien um die ersten römischen nobiles handelt, die zusammen mit jenen Philosophen genannt werden. 624 Auch wenn es sich nur um Zweckgemeinschaften gehandelt haben sollte, so kamen jene wenig konkreten, aber historisch belegten Verweise auf die Kontakte sowie die in der Literatur bezeugte Tatsache, dass jene Personen über ein gewisses Maß an geistigen Interessen verfügten, dem Autor bei der Erschaffung jenes unter dem Namen Scipionenkreis bekannten Konstrukts zugute. Neben dem Aspekt der Verbindung von Theorie und Praxis trägt auch die amicitia zur Idealisierung des Scipionenkreises bei. Die Freundschaft zwischen Scipio und Laelius muss in der Zeit der Abfassung des Staatswerkes längst schon einen Beispielcharakter gehabt haben, wie anhand eines Briefes an Pompeius aus dem Jahr 62 deutlich wird, den Cicero an den gerade heimkehrenden Imperator schickte: so sollte durch das Vergleichen ihrer amicitia mit jener zwischen Scipio und Laelius der Appellcharakter unterstrichen werden, was voraussetzt, dass auch der Adressat mit jenem exemplum vertraut war.625 Ein vergleichbares Quellenzeugnis für ein Freundschaftsverhältnis zwischen Scipio und Furius Philus, dem dritten Hauptredner, fehlt. Zwar wird er oft an dritter Stelle hinter Scipio und Laelius genannt, wenn es um Beispiele für gebildete Römer geht, doch bleiben nähere Angaben zum Verhältnis der Personen untereinander aus. 626 Aufgrund der Tatsache, dass seine Person häufig mit Scipio und Laelius assoziiert wird, und der gemeinsamen intellektuellen und kulturellen Interessen, stellt Astin das von Cicero in De re publica präsentierte Freundschaftsverhältnis nicht in Frage. 627 Seine Rolle im Manciusprozess sieht Strasburger als Indiz für eine Verbindung von Philus zu den beiden anderen Hauptrednern und vermutet, dass Ciceros Bild von den drei befreundeten nobiles aus den Luciliussatiren entnommen sein könnte.628 Das Ende eines im Juli 59 an Atticus geschriebenen Briefes legt jedoch ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Philus und Laelius nahe, da Cicero ankündigt, sich in den nächsten Briefen zur Tarnung als Laelius und

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Cic. Arch. 15f.; Büchner geht weiter, indem er vermutet, dass die Konzeption des Staatswerkes bereits im Jahr 62 festgestanden habe: Büchner 1984, S. 275. Jocelyn 1977. Cic. fam. 5,7 = 3 Sh. B.,3; vgl. Strasburger 1966, S. 68; Bringmann 2010, S. 100. Cic. de orat. 2,154; Arch. 16; leg. agr. 2,64; Mur. 66; Brut. 258. Astin 1967, S. 81f. Strasburger 1966, S. 66.

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Atticus als Philus auszugeben (in iis epistulis me Laelium, te Furium faciam).629 Wie in dem Brief an Pompeius aus dem Jahr 62 parallelisiert sich der Arpinate mit Laelius, während er seinem engen Freund Atticus, dem er von den chaotischen Zuständen während Caesars Konsulat berichten möchte, die Rolle des dritten Protagonisten aus der Trias zuweist.630

2.1.1 P. Cornelius Scipio Aemilianus Africanus a)

Historische Persönlichkeit

Scipio fungiert sowohl in De re publica als auch in Cato maior de senectute als Dialogfigur, im Laelius wird ihr Tod Anlass zum Gespräch. Die historische Persönlichkeit wurde als zweiter Sohn des L. Aemilius Paulus Ende 185 oder Anfang 184 geboren und bald darauf von P. Cornelius Scipio, dem Sieger gegen Hannibal, adoptiert. 631 Den Grundstein seiner späteren politischen Laufbahn bildete neben der hohen Abstammung das Militär: nach griechischen und römischen Quellen bewährte er sich bereits mit 17 Jahren als Soldat in der Schlacht bei Pydna (168) und zeichnete sich durch seine Tapferkeit aus.632 In der Folgezeit zählte der griechische Historiker Polybios zu seinem Freundeskreis, welcher zunächst, wie viele andere griechische Intellektuelle, als Geisel nach Italien gekommen war.633 Im Jahr 147, während des letzten Punischen Krieges, wurde Scipio aufgrund seiner Beliebtheit beim Volk zum Konsul gewählt, obwohl er weder das dafür vorgesehene Alter besaß noch die dafür notwendigen niedrigeren Stufen der Ämterlaufbahn, Aedilität und Praetur, durchlaufen hatte.634 Durch den Sieg über Karthago im Folgejahr erhielt er neben einem Triumphzug den Ehrennamen Africanus. 635 In den Jahren 144 und 143 befand er sich mit Sp. Mummius, der ebenfalls als Dialogfigur auftritt, und dem stoischen Philosophen Panaitios auf einer Gesandtschaftsreise im Osten der Mittelmeerwelt, in deren Verlauf er nach Ägypten, Rhodos, Syrien, Babylon und Ekbatana gelangt sein soll.636 Von der Reise zurückgekehrt, wurde er 142 zusammen mit L. Mummius, 629 630 631 632

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Cic. Att. 2,19 = 39 Sh. B.,5. Vgl. Strasburger 1966, S. 66. Vgl. Münzer 1900, Sp. 1439f.; Astin 1967, S. 245–247. Cic. rep. 1,34; Liv. 44,44,1–3; Polyb. 29,18; Diod. 30,22; vgl. Münzer 1900, Sp. 1440f.; einen wertvollen Überblick über die antike Literatur zu Scipios Leben liefert: Goulet 2016, S. 148. Zur Freundschaft des jungen Scipio mit Polybios: Polyb. 32,9–16. Vgl. Münzer 1900, Sp. 1445f.; Büchner spricht hinsichtlich der beiden Konsulate von „ehrenvollen Ausnahmesituationen“: Büchner 1984, S. 30. Vgl. Münzer 1900, Sp. 1450f. Vgl. Elvers 1997b, Sp. 178; zur Datierung der Reise s. Mattingly 1986, S. 491–495. Jocelyn weist im Zusammenhang mit der Frage nach der Funktion des Panaitios da-

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dem Bruder der Dialogfigur, Zensor.637 Im Jahr 134 erlangte er aufgrund einer eigens für ihn entworfenen Ausnahmeregelung zum zweiten Mal das Konsulat, mit der Eroberung Numantias im Jahr 132 einen weiteren militärischen Erfolg sowie mit Numantinus einen weiteren Ehrennamen.638 In seinen letzten Lebensjahren ging er nach dem Tod des Tiberius Gracchus energisch gegen dessen Ackergesetzgebung vor, indem er die noch von jenem eingesetzte Agrarkommission politisch kaltstellte. 639 Sein Tod wird durch das dramatische Datum des Dialogs in De re publica, den feriae Latinae, auf einen Zeitpunkt bald nach diesen um den Mai 129 datiert.640 Bereits in der Antike löste er Spekulationen über eine Ermordung aus, da Scipio sich durch sein politisches Engagement gegen die gracchische Landreform zuletzt viele Feinde gemacht hatte.641 Mit der Figur des Scipio Aemilianus Africanus bedient sich Cicero einer Persönlichkeit, deren positives Bild noch in seine eigene Zeit hinein Strahlkraft besaß und dessen Autorität er in öffentlichen Reden häufig für historische exempla nutzte. 642 Im ersten Brief an seinen Bruder Quintus zeigt sich seine innere Verbundenheit zu ihm, indem er von ihm als noster ille Africanus spricht.643 Als schriftliche Quellen für sein Scipiobild standen ihm – neben angeblichen, mündlichen Berichten von Scaevola, Rufus und seinem Vater – die Geschichtsschreibungen des Fannius und Polybios, Redesammlungen von Laelius und Scipio selbst sowie die Schriften des Panaitios zur Verfügung.644 Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass die Persönlichkeit aufgrund ihrer Abkunft und militärischen Siege generell einen hohen Platz innerhalb der römischen Erinnerungskultur einnahm. Zwar lässt sich das genaue Ausmaß des Einflusses der innerhalb der in Schrifttum und Erinnerungskultur bewahrten Scipiobilder auf Ciceros Ausgestaltung nur schwer bemessen, doch lässt sich annehmen, dass die

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rauf hin, dass der stoische Philosoph der einzige Nicht-Sklave in seinem Gefolge und es darüber hinaus nicht die einzige Reise war, bei der er den römischen Politiker Scipio als Berater begleitete: Jocelyn 1977, S. 333; zu einer möglichen Beraterfunktion s. Rawson 1989, S. 237. Vgl. Münzer 1900, Sp. 1451. Vgl. Elvers 1997b, Sp. 181; Münzer 1900, Sp. 1453–1456. Vgl. Heuß 2007, 149; Elvers 1997b, Sp. 181; Münzer 1900, Sp. 1456f. Cic. rep. 1,14; Münzer 1900, Sp. 1440. Einen Überblick über die verschiedenen Theorien der antiken Autoren liefern: Münzer 1900, Sp. 1456–1460; Worthington 1989. Zum Scipiobild Ciceros in den Reden s. Werner 1950. Für den Kontext dieser Arbeit nicht uninteressant ist die Darstellung Scipios in den Verrinen, in denen Cicero ihn als Beispiel für humanitas und liberalitas hervorhebt und zum Anti-Verres stilisiert: Cic. div. in Caec 69; Verr. 2,2,28, 86; 2,4,73. Werner zufolge lasse sich in der Zeit vor Ciceros Exil vor allem eine Idealisierung als römischer Adliger erkennen, während nach 58 das „geistige Moment“ im Mittelpunkt stehe: Werner 1950, S. 49 u. 100f. Cic. ad Q. fr. 1,1 = 1 Sh. B.,23. Vgl. Werner 1950, S. 100 u. 156.

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künstlerische Freiheit des Autors diese nicht völlig unberücksichtigt lassen konnte. Das zentrale Profil der Dialogfigur stellt seine Rolle als Staatstheoretiker dar, der die Ursprünge der römischen res publica sowie ihren Charakter als Mischverfassung darlegt. Um diese Rolle einnehmen zu können, verfügt die Figur über eine Reihe bestimmter Voraussetzungen, die Aufschluss über ihre Funktion innerhalb des Dialogs geben und im Folgenden dargestellt werden. Das erste zentrale Charakteristikum, das eine Eignung Scipios als Staatstheoretiker rechtfertigt, stellt seine Bildung dar. Bevor jedoch eine Untersuchung derselben innerhalb des Dialogs De re publica vorgenommen wird, soll in knapper Form auf die Bildung der historischen Persönlichkeit eingegangen und der Versuch unternommen werden, diese genauer zu bestimmen. Nach dem Zeugnis Plutarchs scheint der Bildungsweg der historischen Persönlichkeit traditionell römisch verlaufen zu sein.645 Aufgrund der Tatsache, dass wir erst nach dem Sieg von Pydna von griechischen Intellektuellen in seiner Umgebung erfahren, scheint es plausibel, dass Scipio erst nach 168 mit jenen in engeren Kontakt kam.646 Über den Bildungseifer Scipios gibt der mit ihm befreundete Historiker Polybios ein wichtiges Zeugnis.647 Dieser attestiert ihm ein reges Interesse an der eigenen moralischen Erziehung.648 Dass sein Streben und sein „Wetteifer um alles Gute und Schöne“ (ὁρμὴ καὶ ζῆλος τῶν καλῶν) auf eine maßvolle und sittlich einwandfreie Lebensführung ausgelegt gewesen seien, spiegelt möglicherweise stoische Vorstellungen wider, doch wird der Name jener Schule nicht explizit genannt. 649 Der Bericht des Polybios entbehrt jeglicher Erwähnung eines dezidiert philosophischen Interesses, was zur Skepsis mahnt.650 Ein solches ergibt sich aufgrund der Tatsache, dass griechische Philosophen im Umfeld römischer Aristokraten sehr pragmatische Funktionen erfüllten, auch nicht notwendigerweise aus der historisch gut belegten Freundschaft zwischen Scipio und Panaitios.651 Folgt man der skeptischen Sicht der Forschung, wonach das Bild Scipios als Mensch mit umfangreichen intellektuellen Interessen primär auf die Fiktion Ciceros zurückgeht, so stellt es immerhin ein interessantes Detail dar, dass jene Intellektualisierung bereits in De oratore ihren Anfang nimmt, wenn Crassus auf ihn und seinen Neffen zu sprechen kommt:652

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Plut. Aem. 6,8–10. Vgl. Ferrary 1988, S. 536. Polyb. 32,8–15 (31,22–30). Ebd., 32,11 (31,25). Vgl. Walbank 1979, S. 499. Hieraus zog Strasburger den Schluss, dass der Bildungseifer „rein ethischer und nicht intellektueller Natur“ gewesen sei: Strasburger 1966, S. 61. S. hierzu: Strasburger 1966, S. 65f.; zum Verhältnis zwischen Scipio und Panaitios s. Astin 1967, S. 296–299. Cic. de orat. 3,87.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur eadem ratio est harum artium maximarum. dies et noctes virum summa virtute et prudentia videbamus, philosopho cum operam daret, Q. Tuberonem. at eius avunculum vix intellegeres id agere, cum ageret tamen, Africanum. Wir haben es erlebt, wie Tubero, ein Mann von außerordentlicher Tüchtigkeit und Klugheit, Tage und Nächte an den Lippen eines Philosophen hing. Bei seinem Onkel, Africanus, hätte man dagegen kaum bemerkt, dass er sich darum kümmerte, obwohl er es doch tat.

Tubero und Scipio erscheinen in dem unmittelbar vor De re publica entstandenem Werk als Symbolfiguren hinsichtlich des Umgangs mit Philosophie: Anders als sein Neffe habe Scipio sich seine Beschäftigung mit der Philosophie, an der Crassus keinen Zweifel hegt (cum ageret tamen), nicht anmerken lassen, wodurch er an Antonius aus De oratore erinnert.653 Auf diese Weise wird er – ob historisch korrekt oder vom Autor zugeschrieben – als Römer zwischen Aufgeschlossenheit und nach außen distanzierter Haltung beschrieben. Neben der philosophischen Affinität, die ihm Cicero hier attestiert, erfahren wir im Brutus, dass Scipio und Laelius neben L. Cotta die führenden Redner Roms darstellten und dass sie letzteren an Eloquenz (in primis eloquentes) sogar noch übertrafen.654 Beide erscheinen dabei als Musterbeispiele dafür, dass man auf unterschiedlichen Gebieten brillieren kann: Zwar habe auch Scipio in Begabung, literarischer Bildung, Beredsamkeit und Weisheit einen hohen Rang eingenommen (sic ingeni litterarum eloquentiae sapientiae), doch habe er darin Laelius nicht ganz erreicht, welcher ihm hingegen in Hinsicht auf Kriegsruhm (bellica laude) untergeordnet gewesen sei.655 Ungeachtet der Konflikte seiner letzten Lebensjahre kann somit festgehalten werden, dass Cicero mit Scipio einen Ausnahmepolitiker seiner Zeit, der Übergangszeit von der mittleren zur späten Republik, auftreten lässt. Über die zwei Konsulate und seine militärischen Siege hinausgehend konnte der Autor in dem Bild, das sich ihm aus der römischen memoria-Kultur ergab, eine Persönlichkeit identifizieren, die über ein kulturelles Interesse, welches sich durch die Förderung der Dichter Terenz und Lucilius bezeugen ließ, und darüber hinaus ein gewisses Maß an griechischer Bildung verfügte, wofür sich – aus Sicht Ciceros – Scipios Freundschaft zu Polybios und sein Kontakt zu Panaitios geltend machen ließen. 656 Jene Verbindung von Politik und geistig-kulturellem Interesse der historischen Persönlichkeit lieferte dabei den Rahmen für sein Auftreten als Dialogfigur.

653 654 655 656

Vgl. Leeman/Pinkster/Wisse 1996, S. 298. Cic. Brut. 82. Ebd., 84. Vgl. Strasburger 1966, S. 69; Elvers 1997b, Sp. 181.

De re publica

b)

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Scipio als philosophischer Gesprächsführer

Gleich zu Beginn des Dialogs wird über die Personengestaltung an die historische Bekanntschaft mit Panaitios angeknüpft. Als Scipio von Tubero während der feriae Latinae in seinem otium besucht und nach seiner Meinung über das Phänomen der Doppelsonne befragt wird, entgegnet er jenem:657 Quam vellem Panaetium nostrum nobiscum haberemus, qui cum cetera, tum haec caelestia vel studiosissime solet quaerere! Sed ego, Tubero – nam tecum aperte quod sentio loquar – non nimis assentior in omni isto genere nostro illi familiari; qui, quae vix coniectura qualia sint possumus suspicari, sic affirmat ut oculis ea cernere videatur, aut tractare plane manu. Quo etiam sapientiorem Socratem soleo iudicare, qui omnem eius modi curam deposuerit, eaque quae de natura quaerentur aut maiora quam hominum ratio consequi possit, aut nihil omnino ad vitam attinere dixerit. Wie wollte ich, wir hätten unseren Panaitios bei uns! Der pflegt sowohl das übrige, besonders aber diese Dinge aufs eifrigste zu untersuchen. Aber ich, Tubero – denn mit dir will ich offen reden, was ich denke, stimme auf diesem ganzen Gebiet nicht allzusehr mit jenem unserem Freunde überein, der das, was wir mit Mühe durch Vermutung in seiner Beschaffenheit ahnen können, so fest behauptet, dass er es mit Augen zu schauen scheint oder einfach mit der Hand zu betasten. Für noch weiser als ihn pflege ich Sokrates zu halten, der all die Beschäftigung dieser Art verworfen und gesagt hat, das, was über die Natur geforscht würde, sei entweder größer, als dass es die Vernunft der Menschen erreichen könnte, oder gehe das Leben der Menschen überhaupt nichts an.

Durch die Antwort wird die enge freundschaftliche Verknüpfung Scipios mit dem Stoiker hervorgehoben (Panaetium nostrum […] nostro illi familiari).658 In dem Wunsch, Panaitios wäre anwesend, wird zunächst deutlich, dass der griechische Philosoph eine besondere Autorität besäße, eine rationale Erklärung des Phänomens zu liefern.659 Im Kontext der vertraulichen Gesprächssituation zwischen ihm und dem belesenen Tubero wagt es Scipio jedoch, selbst offen zu reden (nam tecum aperte quod sentio loquar) und den Platz des fehlenden Philosophen einzunehmen. Der sich ankündigende philosophische Diskurs erscheint dabei durch Panaitios’ Abwesenheit als ein neues Projekt, das nur im Licht des otium und der Vertraulichkeit unternommen werden kann. Dass Scipio über das 657 658

659

Cic. rep. 1,15. Zur Freundschaft zwischen Scipio und Panaitios s.: Pohlenz 1949, S. 422f.; Cic. fin. 4,23; Mur. 66; Tusc. 1,81. Vgl. Büchner 1984, S. 97. Rawson 1989, S. 238 begründet die Tatsache, dass Panaitios nicht selbst im Dialog erscheint, mit Ciceros kulturellem Überlegenheitsgefühl: „he was too convinced of the essential superiority of the Roman moral and political tradition to visualize Scipio tamely accepting advice in that field from Panaetius.“

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

nötige theoretische Rüstzeug verfügt, zeigt sich darin, dass er als für ihn wichtigere Autorität Sokrates anführt und somit ein Urteil zwischen beiden Philosophen fällt (sapientorem […] soleo iudicare). Jener habe die philosophische Diskussion von Spekulationen über Naturphänomene befreit, wodurch Scipio seine Skepsis gegenüber den naturwissenschaftlichen Studien des Tubero, dem Schüler des Panaitios, indirekt zum Ausdruck bringt.660 Durch diesen Verweis wird ein Exkurs eingeleitet, in dem die beiden Gesprächspartner das überlieferte Sokratesbild besprechen. Dabei merkt Tubero an, dass jener bei Platon sich nach pythagoreischer Sitte um Wissen von Zahlen, Geometrie und Harmonie bemüht habe (numeros tamen et geometriam et harmoniam studeat Pythagorae more coniungere).661 Nachdem Scipio ihm zugestimmt und zusätzlich Platons Reisen und Studien bei pythagoreischen Gelehrten nach Sokrates’ Tod angefügt hat, kommt er hinsichtlich des platonischen Sokratesbildes zu folgendem Schluss:662 Itaque, cum Socratem unice dilexisset, eique omnia tribuere voluisset, leporem Socraticum subtilitatemque sermonis obscuritate Pythagorae et cum illa plurimarum artium gravitate contexuit. Daher hat er, weil er Sokrates in einzigartiger Weise geliebt hatte und ihm alles zuschreiben wollte, die sokratische Anmut des Gesprächs und seine Schärfe mit der Dunkelheit des Pythagoras und mit jenem Gewicht der meisten Künste verbunden.

Der Exkurs über das Sokratesbild Platons erinnert den Leser daran, dass er es nicht mit dem historischen Scipio, sondern mit einer persona zu tun hat, die Cicero ihm vorsetzt. Das angesprochene Sokratesbild sei dabei hinsichtlich ihres Wissenshorizonts erweitert worden, was die Scipio-Figur durch die persönliche Zuneigung Platons begründet (unice dilexit). Die hohe Meinung Ciceros gegenüber dem Gesprächskreis in De re publica war zuletzt im Übergang vom Proömium zum Dialog zum Vorschein gekommen, so dass die Parallele zwischen Sokrates-Platon und Scipio-Cicero offensichtlich ist.663 Das Gespräch über die Doppelsonne und die Sokratestradition zeigt somit einerseits einen philosophisch gebildeten Scipio, andererseits wird dem Leser kommuniziert, dass die Dialogfigur der Gestaltung des Autors unterliegt.664 Nachdem die Debatte um das Phänomen der Doppelsonne durch die Ankunft weiterer Gäste unterbrochen wurde, steigen Laelius und Philus in das Gespräch 660

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Vgl. Büchner 1984, S. 97; zur Deutung des Sokrates vgl. auch: Cic. Tusc. 5,10; zum skeptischen Charakter von Scipios Panaitioskritik s. Dyck 1998, S. 155. Cic. rep. 1,16. Ebd. Vgl. ebd., 1,13. Zur Identifikation Scipios mit Sokrates und des Verfassers mit Platon s. Sauer 2013, S. 182, Anm. 20.

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ein, wobei letzterer die sphaera des Archimedes ins Gespräch bringt.665 In Scipios Antwort auf Philus’ Rede erinnert (memini) er sich, wie er während des Krieges gegen die Makedonen im Jahr 168 Augenzeuge einer Mondfinsternis wurde, die das Heer in Furcht versetzte.666 Dabei sei es eben jener sphaera des Archimedes zu verdanken gewesen, dass den römischen Soldaten ihre abergläubische Furcht (religione et metu) genommen werden konnte. Nach einem weiteren Beispiel aus der griechischen Geschichte wird Scipio von Tubero darauf aufmerksam gemacht, dass seine anfängliche Skepsis gegenüber Naturwissenschaften unbegründet war, da ihr praktischer Nutzen nun deutlich sei. 667 Der Gesinnungswandel des Hauptredners spiegelt dabei die vom Autor erwartete Haltung der Leserschaft, so dass die Figur des Scipio als deren Vertreter oder zumindest eines Teils derselben fungiert.668 Das von ihm vorgetragene Enkomion auf die Philosophie erscheint nach Sauer als Bekenntnis zu einer Position, die mit Philus’ und Tuberos Auffassung harmoniere.669 Während Laelius und Philus philosophiedistante bzw. philosophieaffine Rezeptionshaltungen spiegeln würden, vertrete Scipio den „noch nicht sicher festgelegten Leser“, der sich schließlich überzeugen lässt.670 c)

Scipio als römischer Politiker: Verbindung von Philosophie und Praxis

Dass der Römer Scipio wie die Griechen Platon oder Aristoteles einen staatsphilosophischen Vortrag übernimmt, erfordert eine spezifischere Charakterisierung seiner Person, die über philosophisches Wissen hinausgeht. Noch bevor Scipio im ersten Buch seinen Vortrag beginnt, wird seine besondere Eignung für dieses Thema von seinem Freund Laelius herausgestellt:671 [***] non solum ab eam causam fieri volui, quod erat aequum de re publica potissimum principem rei publicae dicere, sed etiam quod memineram persaepe te cum Panaetio disserere solitum coram Polybio, duobus Graecis vel peritissimis rerum civilium, multaque colligere ac docere optimum longe statum civitatis esse eum quem maiores nostri nobis relinquissent. Quam in disputationem quoniam tu paratior es, feceris (ut etiam pro his dicam), si de re publica quid sentias explicaris, nobis gratum omnibus. Nicht alleine deshalb wollte ich, dass es geschehe, weil es billig war, dass über das Gemeinwesen am besten der erste Mann des Gemeinwesens spräche, sondern

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Cic. rep. 1,21–24. Ebd., 1,23; Büchner 1984, S. 106. Cic. rep. 1,26. Vgl. Sauer 2013, S. 181. Vgl. ebd. Ebd., S. 187. Cic. rep. 1,34.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur auch, weil ich mich erinnerte, dass du sehr oft mit Panaitios vor Polybios, den beiden wohl staatskundigsten Griechen, zu diskutieren pflegtest und vieles zu sammeln und aufzuweisen, dass bei weitem der beste Zustand des Staates der sei, den unsere Vorfahren uns hinterlassen hätten. Da du ja in dieser Beziehung gerüsteter bist, wirst du – um auch für diese zu sprechen –, wenn du darlegst, was du über das Gemeinwesen denkst, uns allen einen Gefallen tun.

Die Eignung, über den Staat zu sprechen, erwächst ihm nach Laelius somit einerseits aus seiner Stellung im selben (principem rei publicae), andererseits aus seinem Kontakt mit den Griechen Panaitios und Polybios, welche als die „staatskundigsten“ (peritissimis rerum civilium) bewertet werden. 672 Als Römer der Theorie und Praxis verbindet er dabei die vita activa mit der vita contemplativa, wodurch er zu einer ähnlichen Symbolfigur stilisiert wird wie Crassus, der in De oratore das Schisma zwischen Philosophie und Rhetorik überwindet. Durch den Hinweis auf seine Diskussionen mit Polybios und Panaitios gibt Laelius auch eine Erklärung, wie Scipio zu seinem philosophischen Sachverstand gekommen ist (persaepe te cum Panaetio disserere solitum coram Polybio). Scipio sei paratior als er, was den Schluss zulässt, dass möglicherweise Laelius selbst um eine disputatio gefragt wurde.673 Der Umgang mit Philosophen und damit auch philosophischem Wissen erscheint als ein erstes wichtiges Kriterium, dem sich die praktische Erfahrung als führender Staatsmann (potissimus princeps) ergänzend anschließt. Der spezifisch römische Charakter zeigt sich erneut durch Laelius’ Lob auf Scipio am Ende des ersten Buchs, in dem er dessen Eignung über die Einrichtungen der Vorfahren und den besten Zustand des Staates zu sprechen zunächst mit dem Verweis auf seine Abstammung herausstellt (quis enim te potius […] dixerit […], cum sis clarissimis ipse maioribus?).674 Indem Laelius anschließend mit der Erwähnung zweier durch Scipio überwundene Schrecken Roms (duobus huius urbis terroribus depulsis) auf seine historischen Leistungen als Politiker, die Eroberungen von Karthago und Numantia, anspielt, wird ein weiterer Vorzug seiner Person gegenüber einem Griechen wie Panaitios angeführt.675 Die sich hierin abzeichnende Ambivalenz zwischen griechischer Philosophie auf der einen und praktischer Politik auf der anderen Seite spiegelt sich auch in seinem Auftreten im Dialog wider. Sein sich in den Gesprächen offenbarendes Wissen verrät den griechischen Einfluss, gleichzeitig bringt er eine skeptische Haltung gegenüber seinen griechischen Lehrern und deren Argumentation zum Ausdruck, worin sich erneut sein römischer Pragmatismus verrät. Vor Beginn seiner Rede betont er:676 672 673 674 675 676

Zum historischen Charakter der Verbindung s. Strasburger 1967, S. 65f. Büchner 1984, S. 118. Cic. rep. 1,71. Vgl. Büchner 1984, S. 168. Cic. rep 1,36.

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Sed neque eis contentus sum, quae de ista consulatione scripta nobis summi ex Graecia sapientissimique homines reliquerunt, neque ea quae mihi videntur anteferre illis audeo. Quamobrem peto a vobis ut me sic audiatis: neque omnino expertem Graecarum rerum, neque ut eas nostris in hoc praesertim genere anteponentem; sed ut unum e togatis, patris diligentia non illiberaliter institutum, studioque discendi a pueritia incesum, usu tamen et domesticis praeceptis multo magis eruditum quam litteris. Ich bin aber nicht mit dem zufrieden, was uns über diese Frage die größten und weisesten Männer aus Griechenland geschrieben hinterlassen haben, und wage andererseits nicht, das, was mir gut scheint, jenem vorzuziehen. Deshalb bitte ich euch, dass ihr mich so hört: weder wie einen, der gänzlich ohne Teil an den griechischen Dingen, noch wie einen, der sie unseren zumal in dieser Gattung vorzöge, sondern wie einen von den Männern in Toga, der durch des Vaters Sorgfalt nicht unfrei unterrichtet und von Kindheit an von Lerneifer erfasst, viel mehr jedoch durch Umgang mit den Dingen und heimische Lehren als durch die Schriften gebildet ist.

Die Bitte ihn als unum e togatis wahrzunehmen, macht erneut deutlich, dass sich die Figur des Scipio im gleichen Spannungsfeld zwischen griechischer Theorie und römischer Praxis befindet wie die des Crassus in De oratore.677 Vor dem Beginn seiner Rede verweist er auf seine Erziehung, die einerseits von den artes liberales (non illiberaliter institutum), andererseits mehr durch „den Umgang mit den Dingen und den heimischen Lehren“ (et domesticis praeceptis) als durch Literatur geprägt war, wodurch sich der römische Charakter seiner Bildung zu erkennen gibt.678 Seine Bildung setzt sich damit wie jene des Crassus aus beiden Elementen zusammen, nämlich der nach Griechenland verorteten Theorie und der nach Rom verorteten Praxis. Dadurch überwindet er in seiner Person die Trennung und verkörpert die von Cicero präferierte Symbiose.679 Die Schwierigkeiten, die eine solche Symbiose für den Römer Scipio bedeutet, spiegeln sich in seiner Furcht, durch einen langen Vortrag unpässlich zu wirken, die gegen Ende des ersten Buches zum Vorschein kommt:680 Sed vereor, Laeli, vosque homines amicissimi ac prudentissimi, ne si diutius in hoc genere verser, quasi praecipientis cuiusdam et docentis, non vobiscum simul considerantis esse videatur oratio mea. Aber ich fürchte, Laelius und ihr Männer meiner engsten Freundschaft und von größter Klugheit, meine Rede, wofern ich länger in dieser Art verweile, scheint

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Vgl. Büchner 1984, S. 119. Vgl. ebd. Vgl. Müller 1965, S. 143. Cic. rep. 1,70.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur mehr die eines Unterweisenden und Lehrenden und nicht eines mit euch gemeinsam Überlegenden.

Die Befürchtung (sed vereor) gegenüber den geschätzten und gebildeten Zuhörern (homines amicissimi ac prudentissimi) weist Scipio als Römer aus, der der ein als schulmäßig und pedantisch empfundenes Auftreten vermeiden will. 681 Diese Bedenken illustrieren ein schon aus De oratore bekanntes Spannungsfeld des Aneignungsprozesses griechischen Wissens innerhalb der römischen Gesellschaft. Der Hauptredner artikuliert dabei auch die Bedenken des Autors, der versucht, seiner römischen Leserschaft auf möglichst angemessene Form Staatsphilosophie nahezubringen. In De oratore spiegelt jene Haltung vor allem Ciceros Ablehnung der als unpassend empfundenen Schulpraxis griechischer Rhetorikschulen wider, in De re publica verweist sie auf den Unterschied zwischen theoretischer Staatsphilosophie und tatsächlichem politischem Engagement. Der wichtigste, da für den Werkaufbau konstitutive Moment der Abgrenzung gegenüber griechischen Vorbildern findet zu Beginn des zweiten Buches statt, indem Scipio vor Beginn seiner Rede über das römische Gemeinwesen erklärt:682 Quamobrem, ut ille solebat, it nunc mea repetet oratio populi Romani originem (libenter enim etiam verbo utor Catonis); facilius autem quod est propositum consequar, si nostram rem publicam vobis et nascentem et crescentem et adultam iam et firmam atque robustam ostendero, quam si mihi aliquam, ut apud Platonem Socrates, ipse finxero. Deshalb wird meine Rede jetzt so, wie er es zu tun pflegte, den Ursprung des römischen Volkes aufsuchen. Gern nämlich gebrauche ich das Wort Catos. Leichter aber werde ich erreichen, was ich mir vorgesetzt, wenn ich euch unser Gemeinwesen bei der Geburt, im Wachsen, in der Reife und schon in Festigkeit und Stärke zeige, als wenn ich mir irgendeines selbst ausdenke, wie Sokrates bei Platon.

Mit dieser Aussage Scipios setzt sich Cicero deutlich vom literarischen Vorbild der platonischen Politeia ab, indem er dem dort von Sokrates entworfenen theoretischen Staat den römischen als einen starken und historisch gewachsenen (nascentem et crescentem et adultam iam et firmam atque robustam) Staatskörper gegenüberstellt.683 In der Ablehnung eines theoretischen Staatsentwurfs zeigt sich erneut der pragmatische Zugang der Dialogfigur zu staatsphilosophischen Überlegungen. 684 Während Platon mittels der Autorität des Sokrates ein rein fiktives System entworfen habe, beruft sich Scipio auf das Wort des konservati-

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Vgl. Büchner 1984, S. 167. Cic. rep. 2,3. Vgl. Büchner 1984, S. 173. Vgl. ebd.: „Darin spricht sich das Mißtrauen des Römers gegen den bloßen Gedanken aus.“

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ven Cato (verbo utor Catonis), der damit als „römischer Sokrates“ dem griechischen als bessere Alternative gegenübergestellt wird. Die Abgrenzung gegenüber griechischen Theoretikern dient dem Autor jedoch nicht zur Ablehnung der Theorien an sich, sondern sie begleitet die „eigene“ Theoriebildung, die sich im Dialog vollzieht. Die im zweiten Buch von Manilius aufgeworfene Frage, ob der altrömische König Numa Pompilius ein Schüler des Pythagoras gewesen sein könnte, lässt die Intention des Autors hinter jener Exklusivität erahnen.685 Nachdem Scipio die chronologische Unmöglichkeit jener These herausgestellt hat, freut sich Manilius darüber, dass das römische Volk über „angeborene und einheimische“ Tugenden verfügt.686 Dem fügt Scipio hinzu:687 Atqui multo id facilius cognosces inquit Africanus si progredientem rem publicam atque in optimum statum naturali quodam itinere et cursu venientum videris. Quin hoc ipso sapientiam maiorum statues esse laudandam, quod multa intelleges etiam aliunde sumpta meliora apud nos multo esse facta, quam ibi fuissent unde huc translata essent atque ubi primum exstitissent; intellegesque non fortuito populum Romanum, sed consilio et disciplina confirmatum esse, nec tamen adversante fortuna. Das wirst du jedoch noch viel leichter erkennen“, sagte Africanus, „wenn du siehst, wie das Gemeinwesen Fortschritte macht und in den besten Zustand sozusagen auf einem natürlichen Wege und Laufe kommt. Ja gerade deshalb, wirst du behaupten, ist die Weisheit der Vorfahren zu loben, weil du erkennen wirst, dass vieles, auch wenn es anderswoher genommen wurde, bei uns viel besser gemacht worden ist, als es dort gewesen ist, woher es hierher übertragen wurde und wo es zuerst entstanden war, und du wirst erkennen, dass das römische Volk nicht zufällig, sondern durch weisen Rat und durch Zucht festgefügt wurde, freilich nicht so, dass das Glück darwider gewesen wäre.

Indem Scipio es als besondere „Weisheit der Vorfahren“ (sapientiam maiorum) herausstellt, nicht nur Fremdes übernommen, sondern das Übernommene verbessert zu haben, wird die von Cicero wahrgenommene Konkurrenz von Griechischem und Römischem angedeutet. Gleichzeitig schimmert die Intention des Autors, die von den Griechen entdeckte Philosophie in Rom einzubürgern, durch, indem die Eignung des römischen Volks indirekt unterstrichen wird: Dieses sei durch „weisen Rat und Zucht festgefügt“ (consilio et disciplina confirmatum) verbunden, verfüge nicht über weniger, eher sogar über mehr Talent als die Erfinder.688 Es fällt auf, dass Scipio die ratio der Vorfahren im Gespräch auf

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Cic. rep. 2,28–30. Ebd., 2,29. Ebd., 2,30. Vgl. Büchner 1984, S. 199; Christes 1989, S. 45f.

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Manilius überträgt, indem er dessen Verständnis vorwegnimmt (cognosces […] statues […] intelleges […] intellegesque). d)

Scipios soziale Vernetzung und Bezugnahme auf Cato Censorius

Das Profil des römischen Staatsmanns wird ergänzt durch seine Rolle als römischer Aristokrat. Die mit ihr einhergehende gesellschaftliche Vernetzung wird innerhalb des Dialogs auf vielfältige Weise rezipiert. Wie aus der biographischen Einführung ersichtlich, gehört die Persönlichkeit des Scipio Aemilianus im dialogischen Universum Ciceros ohne Zweifel zu den Figuren mit den berühmtesten Vorfahren, seine Abstammung räumt ihm für die Rolle des Sprechers im Staatswerk zusätzliche Autorität ein.689 Gleich zu Beginn des Dialogs wird der Leser daran erinnert, dass es sich bei dem hier sprechenden Scipio um den Sohn des Paulus (hic Pauli filius) handle.690 Neben der verwandtschaftlichen Vernetzung mit berühmten römischen maiores besteht auch eine Verbindung zur Dialogfigur Tubero, der als Sohn von Scipios Schwester (sororis filius) genannt wird und als erster Gast bei ihm eintrifft, um das Gespräch zu initiieren. Wo eine direkte Verwandtschaft mit den Gästen fehlt, lässt sich ein amicitia-Verhältnis erkennen: Insbesondere wird die mustergültige Freundschaft zwischen ihm und den beiden anderen Hauptrednern Philus und Laelius herausgestellt.691 Im Fall des Philus, der nach Tubero erscheint, zeigt sich dies, indem er einen Platz neben Scipio in dessen Liege zugewiesen bekommt (in lecto suo conlocavit).692 Beim Empfang des Laelius wird das Freundschaftsideal und die gegenseitige Verbundenheit der beiden Dialogfiguren direkt angesprochen: 693 Quos cum omnes salutavisset, convertit se in porticu et coniecit in medium Laelium; fuit enim hoc in amicitia quasi quoddam ius inter illos, ut militiae, propter eximiam belli gloriam, Africanum ut deum coleret Laelius; domi vicissim Laelium, quod aetate antecedebat, observaret in parentis loco Scipio. Als er sie begrüßt hatte, drehte er sich in der Vorhalle um und nahm Laelius in die Mitte; es war nämlich in der Freundschaft dies eine Art Recht unter ihnen, dass im Felde wegen des außerordentlichen Kriegsruhmes Laelius den Africanus wie einen Gott achtete, daheim umgekehrt Scipio den Laelius, weil er an Alter voranging, wie einen Vater verehrte.

Trotz seiner in Kriegszeiten höheren Hierarchie ordnet sich der von Laelius wie ein Gott verehrte (ut deum coleret) Scipio seinem Freund aus Altersgründen 689 690 691 692 693

Vgl. Jones 1939, S. 313. Cic. rep. 1,14. Zu ihrer amicitia s. auch unten S. 235–237. Cic. rep. 1,17. Ebd., 1,18.

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unter, wodurch auch auf juristische Gleichrangigkeit angespielt wird. 694 Sein dezidiert zuvorkommendes Verhalten gegenüber seinen Gästen besitzt dabei einen Modellcharakter, der in einem scharfen Kontrast zu ähnlichen Szenen in der platonischen Literatur steht.695 Die umgekehrte Hierarchie, wonach Scipios Freund zu Hause die höhere Autorität innehabe, wird von der Dialoggestaltung sogleich aufgegriffen, indem es Laelius ist, der das Gespräch zunächst beendet und es durch höfliche Bitte auf den Staat lenkt.696 Neben der Verwandtschaft mit großen Vorfahren und der amicitia mit den anwesenden Gästen wird die Verbindung zu einer weiteren Person, zu der kein Verwandtschaftsverhältnis besteht und die aufgrund ihres Todes nicht anwesend sein kann, am Beginn des zweiten Buches herausgestellt: 697 Catonis hoc senis est, quem ut scitis unice dilexi maximeque sum admiratus, cuique vel patris utriusque iudicio vel etiam meo studio me totum ab adulescentia dedidi; cuius me numquam satiare potuit oratio, tantus erat in homine usus rei publicae, quam et domi et militiae cum optime tum etiam diutissime gesserat, et modus in dicendo et gravitate mixtus lepos, et summum vel admodum vel discendi studium vel docendi, et orationi vita admodum congruens […]. Das ist das Wort des greisen Cato, den ich, wie ihr wisst, einzig geliebt habe und am meisten bewundert und dem ich mich nach der Entscheidung meiner beiden Väter und auch aus eigener Leidenschaft seit meiner Jugend ganz ergeben habe; von dessen Rede konnte ich nie genug haben; eine solche Erfahrung wohnte in diesem Manne in Angelegenheiten des Staates, in dem er in der Heimat und im Felde hervorragend und besonders auch sehr lange sich betätigt hatte, ein solches Maß im Reden, eine solche mit Ernsthaftigkeit gepaarte Anmut, der höchste Eifer, zu lernen und zu lehren, und ein Leben, das mit der Rede vollauf übereinstimmt.

Cicero lässt die Figur des Scipio an zentraler Stelle die memoria an den älteren Cato vortragen. Die Betonung der persönlichen Wertschätzung (unice dilexi) und der eigenen Ergebenheit in der Jugend (me totum ab adulescentia dedidi) erinnert an ein Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen den beiden Personen.698 Neben seiner politischen Erfahrung sowie seinen Erfolgen im Krieg und Frieden lobt er die Person als Redner, der sich durch gravitas, lepos und „höchsten Eifer zu lernen und zu lehren“ (summum […] vel discendi studium vel docendi) auszeich694 695

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Vgl. Büchner 1984, S. 99. Als Beispiel sei hierbei auf die Szene im Protagoras verwiesen, auf die Cicero hier anspielt. Bei der Ankunft im Haus des Kallias begegnet Sokrates zunächst einem unfreundlichen Diener, der ihm nur widerwillig die Tür öffnen möchte (μόγις οὖν […] ἄνθρωπος ἀνέῳξεν τὴν θύραν): Plat. Prot. 314e; vgl. Büchner 1999, S. 99. Vgl. Sauer 2013, S. 187. Cic. rep. 2,1. Das historische Verhältnis zwischen Scipio und Cato scheint in der Tat gut gewesen zu sein, s. hierzu: Astin 1967, S. 280f.; Büchner 1984, S. 171.

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nen würde, wodurch er dem ciceronischen Ideal einer Verbindung von humanitas und Römertum, von Theorie und Praxis angeglichen wird. 699 Die enge persönliche Verbindung von Scipio und Cato wird dabei im Dialog als historische präsentiert, für den folgenden Ausspruch Catos erscheint Scipio als dialoginterner Gewährsmann. 700 Die Dialogfigur des Scipio besitzt somit – in vergleichbarer Weise wie Scaevola in De oratore 1 – eine Brückenfunktion, durch die nach Hösle eine „Traditionskette“ zur aetas des Cato Censorius hergestellt wird. 701 Diese Verbindungsfunktion hat eine doppelte Ausrichtung, indem sie dialogintern den Gesprächskreis von 129, dialogextern die Leser von De re publica um 51/50 anspricht.702 Der Bezug auf den älteren Cato unterstreicht, wie weiter oben gezeigt wurde, den spezifisch römischen Charakter der Dialogfigur Scipio und dessen Eignung, über den Staat als eine Person zu sprechen, die Theorie und Praxis vereint. Indem er sich auf diesen bezieht, um einen wachsenden, gereiften und schließlich robust gewordenen Staat zu zeigen, verstärkt sich der Kontrast zur Politeia, in der Platon Sokrates einen Staat erfinden habe lassen (ut apud Platonem Socrates, ipse finxero).703 Das spezifische Merkmal des römischen Staates, nicht das Produkt eines einzelnen Nomotheten oder griechischen Philosophen, sondern das eines fortbestehenden Kollektivs zu sein, kommt nicht zuletzt in der bewussten Bezugnahme Scipios auf Cato und damit auf den mos maiorum zum Ausdruck. Durch die soziale Vernetzung der historischen Persönlichkeit werden mittels der Dialogfigur Vergangenheit und Zukunft der republikanischen Führungsschicht illustriert, indem signalisiert wird, dass die Grundlage seines Vortrags bereits durch seinen Mentor Cato gelegt wurde und Scipio an diese anknüpft.704 Der folgende Diskurs erscheint folglich nicht als Neuerfindung des römischen Staatsdenkens, sondern als Fortführung der Tradition, die nun durch die Erörterungen im ersten Buch über ein breiteres theoretisches Fundament aus der griechischen Staatsphilosophie verfügt. Das Setting des Dialogs selbst reflektiert dabei jenes ‚catonische‘ Denken, indem der Diskurs als Produkt einer generationenübergreifenden Gemeinschaft erscheint, die sich auf den mos maiorum beruft. Dieser konstituiert sich nicht zuletzt durch die individuellen Charaktereigenschaften der Protagonisten. Diesbezüglich stellen die Ahnenreihe und der militärische Ruhm des Scipio Eigenschaften dar, durch welche er sich deutlich von seinen Gesprächspartnern abhebt. Im sechsten Buch, in dem Scipio von einem Traum berichtet, den er bei Verhandlungen mit König Massinissa zur Zeit des 699 700 701 702

703 704

Vgl. Büchner 1984, S, 172. Zur Frage der Historizität s. ebd. Hösle 2004, S. 165f. Vgl. ebd., S. 166: „Die […] Interpretation der römischen Verfassung wird also in der Kette Cato-Scipio-Rutilius-Cicero dem zeitgenössischen Publikum vermittelt.“ Cic. rep. 2,3. Zum Unterschied zwischen Catos Staatsdenken und dem des Polybios (4,10,12–14) s. Zetzel 2001, S. 84.

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Konsulats des Manilius gehabt habe,705 zeigt sich die Relation dieses Persönlichkeitsmerkmals zur inhaltlichen Gesamtkonzeption. Das Somnium Scipionis, das auf den Traum des Sokrates und den Mythos des Er anspielt, bildet dabei den Höhepunkt des Werks, in dem dessen Kernaussagen erneut artikuliert werden.706 Die Traumerzählung schildert ein Dialoggespräch innerhalb des eigentlichen Dialogs von 129, das Scipio mit seinen Ahnen Scipio Africanus und Paulus, beide zum Zeitpunkt des Traums schon verstorben, geführt habe. Beim Blick von den Sternen auf die Erde lässt Scipio Africanus seinen Nachfolger Scipio die Mahnung aussprechen, stets die himmlischen Dinge zu betrachten und die menschlichen gering zu achten (haec caelestia semper spectato, illa humana contemnito).707 Die Mahnung des alten an den jungen Scipio führt daraufhin zu einer Reflexion über die Rolle des Ruhmes, der aufgrund der Winzigkeit der Erde im Angesicht des Daseins fast nichtig wirken muss. Nach Powell steht dies jedoch nicht im Widerspruch zu der Kernaussage des Werkes, dem Aufruf zur vita activa, sondern dazu komplementär, indem gemahnt wird, bei der Erfüllung derselben nicht zu sehr auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein.708 Die Betrachtung des Ganzen liefert letztlich einen Maßstab für das menschliche Handeln, indem die Größe der Welt und die „Geringfügigkeit“ menschlicher Angelegenheiten (illa humana) gezeigt werden.709 Indem der sich aus dem Gespräch der Menschen konstituierende Ruhm entwertet werde, wird ein bereits im Vorgespräch angedeuteter Gedankengang 710 aufgegriffen und einer tieferen Untersuchung unterzogen.711 e)

Die Scipio-Figur im Kontext der Gesprächsethik

In Hinsicht auf seine politische und soziale Funktion kann das Auftreten der Hauptfigur als performativ bezeichnet werden, indem ihr Verhalten gegenüber anderen Gesprächspartnern dabei zunächst – wie das des Crassus in De oratore – zentrale Gesprächstugenden illustriert. Ihre comitas zeigt sich bei der Begrüßung des Neffen im ersten Buch (quem cum comiter appellavisset libenterque vidisset).712 Kurz darauf erfährt auch Philus eine besondere Form der Begrüßung, den Scipio „aufs freundlichste“ (amicissime) bei der Hand nimmt und dem er 705 706

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Cic. rep. 6,9. Zur Antizipation zentraler Motive des Somnium Scipionis im Vorgespräch des ersten Buches s.: Görgemanns 1968, S. 65f.; Büchner 1976, S. 35–37; Powell 1996, S. 15f.; Fuhrmann 1998, S. 256f. Cic. rep. 6,20. Powell 1996, S. 18: „On the other hand, they must be discouraged from seeking exclusively their own advantage when they do.“ Vgl. Büchner 1984, S. 484. Cic. rep. 1,26. Vgl. Büchner 1984, S. 485. Cic. rep. 1,13; vgl. Becker 1938, S. 18.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

einen Ehrenplatz neben seiner Liege gibt (in lecto suo collocavit).713 Indem ihm die Ankunft der Gäste „sehr angenehm und lieb“ (Scipionique eorum adventus periucundus et perfratus fuisset) ist, handelt es sich dabei nicht nur um bloße Gesten, sondern um eine Spiegelung seines eigentlichen Charakters. 714 Nicht einmal seine Bitte um Ruhe im Somnium Scipionis, die er ausspricht, nachdem seine Traumerzählung vom Schrecken der Dialogpartner über seinen dort angekündigten Tod unterbrochen wird, wirkt autoritär oder gebieterisch, sondern durch ein sanftes Lächeln (leniter adridens) empathisch und beruhigend.715 Der freundliche Umgangston zeigt sich zudem in der Reaktion auf Kritik. Nachdem Tubero angekündigt hat, ihm alle Punkte zu nennen, welche er in seiner Rede vermisst habe, signalisiert Scipio augenblicklich seine Bereitschaft und Aufgeschlossenheit (sane […] et libenter quidem), sich gegenüber seinem Neffen zu rechtfertigen. 716 Die Furcht gegenüber seinen Gesprächspartnern schulmeisterhaft zu wirken,717 zeigt nicht nur die bereits oben behandelte Ablehnung griechischer Schulpraxis, sondern auch sein Bemühen, sich trotz seiner Überlegenheit hinsichtlich seines Wissens nicht über die Standesgenossen zu erheben, wodurch symbolisch an der Gleichrangigkeit festgehalten wird.718 Die von ihm gelebte Scheu (verecundia, pudor), sich trotz seines Ruhmes nicht gegenüber Laelius zu erheben, korrespondiert darüber hinaus auf das vom optimus civis erwartete moralische Verhalten, das in den fast vollständig verlorenen Büchern 4 und 5 einen zentralen Gesprächsgegenstand bildete.719 Sie bildet somit eine Synthese römischen und stoischen Denkens, welche von der Scipio-Figur innerhalb des aristokratischen Kreises performativ veranschaulicht wird.720 Der Frage, inwiefern die historische Persönlichkeit des Scipio Aemilianus dem für Cicero so wichtigen Ideal der humanitas gerecht wurde, wurde von der älteren Forschung teils mit erheblicher Skepsis begegnet. 721 Die Quellenlage deutet nicht darauf hin, dass jener dem Ideal individueller Bildung und ambitionierter Aneignung hellenistischer Kultur in exponierter Weise entsprochen hat.722

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Cic. rep. 1,17. Ebd., 1,18. Ebd., 6,12. Ebd., 2,64. Ebd., 1,70. Vgl. Büchner 1984, S. 167. Cic. rep. 5,6. Zum Inhalt von Buch 4 s. Zetzel 2001. Zur Verbindung von verecundia und dem stoischen Begriff des αἰδώς s. Zetzel 2001, S. 91f. in Anlehnung an SVF 3,432; zum Verhältnis von pudor und Verantwortlichkeit: Kaster 1997, S. 6. Hervorzuheben sind hierbei: Astin 1967, S. 302–306; Strasburger 1966. Zur Frage hinsichtlich der Bildung Scipios: Strasburger 1966, 69: Demnach lässt sich lediglich feststellen, dass der Vater Aemilius Paulus ein besonderes Interesse an der Bildung seines Sohnes hatte und das Haus Dichtern wie Terenz und Lucilius offenstand, was hinsichtlich des Milieus und der Zeit keine Besonderheit darstellt.

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Hinsichtlich der humanitas im Sinne von Menschlichkeit kommt Strasburger zu einem abweichenden Bild, wenn er Scipio als „harten kampfesfreudigen Krieger und kalten Machtpolitiker“ beschreibt, wofür er vor allem die Behandlung von Kriegsgefangenen im Dritten Punischen und im Spanischen Krieg geltend macht.723 Der Begriff wird bei Cicero jenseits von De re publica nur selten mit dem Staatsmann des zweiten Jahrhunderts in Verbindung gebracht, bei Valerius Maximus – mit Ausnahme einer Verwechslung – nur im Kontext der Rückgabe von Statuen an eine sizilische Stadt.724 Unabhängig davon, wie weit man Strasburgers skeptischem Ansatz folgen will, muss nach Sinn und Zweck der „humanen“ Scipio-Darstellung gefragt werden. Die humanitas des Hauptredners bildet nicht nur ein Ornament des literarischen Genres, sondern sie steht darüber hinaus in einem engen inhaltlichen Zusammenhang mit dem übergeordneten Thema des Staatswerkes. Generell spiegelt der Umgang der Dialogfiguren Ciceros politische Konzeption eines „konsensual gelenkten Gemeinwesens“.725 Dies steht in keinem Widerspruch dazu, dass Scipio dennoch eine herausgehobene, nach Hösle eine „asymmetrische Position“ als primus inter pares im Dialogganzen einnimmt, wie die Zentralisierung des Gesprächs um seine Person und letztlich das Somnium Scipionis klar belegen.726 f)

Scipio als Rector rei publicae und innerer Rezipient

Die Figur des Scipio erscheint in De re publica analog zu der des Crassus in De oratore als Verkünder von Ciceros Ideal, das sich im Staatswerk stärker auf den Staatsmann als auf den Redner bezieht. Im überlieferten Text tritt das Ideal des Staatsmanns erstmals bei der Besprechung der Tyrannei des Tarquinius Superbus im zweiten Buch in Erscheinung, wo es dem Tyrannen entgegengesetzt wird:727 Sit huic oppositus alter, bonus et sapiens et peritus utilitatis dignitatisque civilis, quasi tutor et procurator rei publicae: sic enim appelletur quicumque erit rector et gubernator civitatis. Quem virum facite ut agnoscatis: est enim qui consilio et opera civitatem tueri potest; quod quoniam nomen minus est adhuc tritum sermone nostro, saepiusque genus eius hominis erit in reliqua nobis oratione trac [tandum ***]. Ihm sei entgegengestellt der andere, der Gute und Weise und sich auf den Nutzen und die Würde der Bürger Verstehende, gleichsam ein Beschützer und Betreuer

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Strasburger 1966, S. 70; vgl. Astin 1967, S. 306. Cic. de orat. 2,154; Verr. 2,4,86 u. 98; Val. Max. 5,1,6 u. 7; s. hierzu: Astin 1967, S. 303f. Zum Begriff s. Krasser 2006, S. 11. Hösle 2006, S. 297 vermutet, dass diese Haltung in den übrigen Büchern des Staatswerkes thematisiert wurde. Cic. rep. 2,51.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur des Gemeinwesens; so soll nämlich jeder genannt werden, der ein Lenker und Steuermann der Gemeinde ist. Sorgt, dass ihr diesen Mann erkennt; der ist’s nämlich, der durch Rat und tätige Bemühung die Bürgerschaft zu schützen vermag. Da dieser Name bisher in unserer Sprache weniger gebräuchlich ist und wir häufiger die Art dieses Mannes in dem übrigen Gespräch behandeln müssen […].

Als Gegenentwurf zum Tyrannen, dem schlechtesten Typus des Herrschers, erscheint jener Staatsmann, der nicht nur über charakterliche und geistige Anlagen (bonus et sapiens) verfügt, sondern diese auch mit politischer Erfahrung und Praxis verbindet (peritus utilitatis dignitatisque civilis).728 Die Suche nach jenem rector et gubernator civitatis, der sich nur anhand seiner vernünftigen politischen Weisungen erkennen lässt, trägt Scipio seinen Gesprächspartnern auf (quem virum facite ut agnoscatis). Die Mahnung, die im Kontext des dramatischen Datums, des Jahres 129 – kurz vor dem Tod Scipios und nur wenige Jahre vor neuen politischen Auseinandersetzungen – erteilt wird, hat für den Leser des Staatswerks in den politisch chaotischen späten 50er Jahren dieselbe Aktualität, so dass der dialoginterne Appell sich auch an den dialogexternen Rezipienten richtet. Cicero lässt dabei Scipio mit dem rector rei publicae ein Konzept des idealen Staatsmannes vortragen, das für das Funktionieren des Staates, unabhängig davon, um welche Staatsform es sich handelt, essentiell ist.729 Der Verkünder des Ideals des besten Politikers wird in De re publica – ähnlich dem Verkünder des Ideals des besten Redners – dahingehend modelliert, dass er selbst diesem weitestgehend entspricht. Hierfür kommt der Philosophie erneut eine entscheidende Rolle zu. Das Somnium Scipionis, in dem Scipio an die Begrenztheit irdischen Ruhms erinnert wird, vollendet eine sich schon im Gespräch über die Doppelsonne andeutende Charakteristik, die durch seine Interaktion im Dialog aus dem Schatten tritt. Zum Bild des historischen Scipio, dem Römer höchsten Adels und einschlägiger militärischer Erfolge, entwirft Cicero das des Philosophen, der sich zum Wohl der Gemeinschaft politisch betätigt und somit dem Ideal des platonischen Philosophenherrschers entspricht. Diesem „man of action but also an idealist“ wird dabei in der Figur des Laelius der Repräsentant einer „down-to-earth Socratic attitude“ gegenüberstellt, der sich zu ihm komplementär verhält.730 Die Idealisierung Scipios führt zu der Frage, inwieweit Cicero durch ihn auf sich selbst verweisen möchte. Powells Ansatz, wonach der Autor mit Scipio und Laelius zwei komplementäre Aspekte seiner eigenen Persönlichkeit darstellt, verdient in diesem Kontext Beachtung.731 Scipi728 729

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Vgl. Büchner 1984, S. 226. Vgl. Powell 1994, S. 27. Die nähere Bestimmung des idealen Staatsmannes, der als moderator rei publicae einvernehmlich den Staat leitet, erfolgte nach Flores 2000, S. 29–32 im fünften Buch. Powell 1996, S. 20. Vgl. ebd., S. 20f.

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os Modellierung als Staatsmann, der dem Cicero vorschwebenden Ideal sehr nahekommt, birgt eine gewisse Spannung, da der Leser über seinen unerwarteten Tod und über die darauf folgenden schwierigen Zeiten des römischen Staats Bescheid weiß. Der optimus civis ist für das Funktionieren der res publica essentiell, aber kein Garant. Mit Blick auf das oben behandelte Proömium des fünften Buches und die daraus ersichtlich werdende historische Perspektive des Autors erscheint das Problem der Gegenwart und der Zeit nach Scipios Tod Powell zufolge als das eines „shortage of good men“.732 Die theoretische Behandlung der unterschiedlichen Regierungsformen führt zu dem Wechselgespräch zwischen Scipio und Laelius, in dem die Monarchie als bessere Verfassung betrachtet wird als die Aristokratie oder die Demokratie.733 Da das Ergebnis der Kontroverse einem sokratischen Elenchos ähnelt, muss nach Sauer dem römisch-aristokratischen Leser vor allem inakzeptabel erscheinen, dass Laelius zu einer Beinahe-Zustimmung gebracht werde. 734 Ein Ziel des Wortwechsels sei es, die These „auszuschalten, die Aristokratie sei die beste Staatsform unter den drei genannten“ und gleichzeitig „das Königtum aufzuwerten, das Teil der Mischverfassung sein soll“.735 Indem Scipio Laelius an einen Punkt bringt, an dem er ihm keine Argumente mehr entgegenbringen kann, schließt Sauer, könne die von Scipio präferierte Mischverfassung erst „ihre Überzeugungskraft“ entfalten.736 Im dritten Buch von De re publica spricht Scipio gegen die Philusrede, welche die Ungerechtigkeit als notwendiges Übel darstellt. Die erhaltenen Fragmente lassen darauf schließen, dass er dabei dialektisch argumentierte, dass ein auf Unrecht gegründeter Staat einen Widerspruch zur Definition des Gemeinwesens darstelle.737 Seine Rede scheint dabei die des Laelius, die sich ebenfalls gegen die Ungerechtigkeit wandte, argumentativ ausgestochen zu haben, was die Vermutung nahelegt, dass Laelius’ Rede möglicherweise absichtlich schwach konzipiert war. 738 Das entscheidende Argument, das durch die Staatsdefinition im ersten Buch bereits vorbereitet wurde, wertet Gotter als Instrument griechischer 732 733 734

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Powell 1996, S. 23. Cic. rep. 1,54–64. Vgl. Sauer 2013, S. 188. Zu Scipios Haltung zur Monarchie s. auch: Powell 1994, S. 26. Sauer 2013, S. 188. Ebd. Vgl. ebd., S. 190. So Gotter 2003, S. 167–169. Die Annahme Gotters, dass die Rede des Laelius, welche wie die des Scipio die Gerechtigkeit als Prinzip verteidigt, vom Autor möglicherweise absichtlich schwach gezeichnet wurde, um letztere als stärker erscheinen zu lassen, scheint mit Blick auf die Rezeption, die sie in der dialogischen Welt von De re publica und in der Rezeption der Spätantike erfährt, abwegig. Dagegen betont Sauer mit Blick auf Laktanz und den Verweis in De finibus 2 die Unterschiedlichkeit der beiden Reden, die einen Angriff „von zwei Seiten“ darstellen sollten: Sauer 2013, S. 190f.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

„theoria per excellence“739, was Scipio als Vertreter einer philosophieaffineren Rezipientenschaft ausweisen würde, den konservativ argumentierenden Laelius dagegen erneut als Vertreter einer traditionelleren Leserschaft.740 Aus Sicht einer breiten Leserschaft musste die Assoziierung der Dialogfigur mit dem Ideal des rector rei publicae spätestens im Somnium Scipionis einen tragisch-fatalistischen Eindruck erwecken: dort teilt Scipio dem Gesprächskreis mit, ihm sei in einem Traum vor 20 Jahre geweissagt worden, er würde das Gemeinwesen als Diktator erneuern, sofern er den ruchlosen Händen seiner Verwandten entrinne (dictator rem publicam constituas oportet, si impias propinquorum manus effugeris).741 Während die Nachricht des drohenden Anschlags durch die Verwandten von Laelius und den Gesprächspartnern innerhalb der literarischen Welt des Dialogs hoch emotional aufgenommen wird (exclamasset Laelius ingemuissentque vehementius ceteri), ist der Leser des Werks mit dem Lebensende des historischen Scipio vertraut. Aus der Sicht des zeitgenössischen Rezipienten zeigt sich eine doppelte Tragik in der Figur Scipios, da dieser nicht nur seinen Freunden, die sich 129 bei ihm einfanden, entrissen wird, sondern auch dem römischen Staat, der in der Folgezeit immer wieder an blutigen innenpolitischen Auseinandersetzungen zu leiden hatte und sich somit in einer nicht minder krisenhaften Situation befand wie der historische und der ciceronische Scipio. Mit der Dialogfigur bot Cicero dem zeitgenössischen Leser ein Vorbild, das ihn zu einem am Wohl der res publica orientierten Handeln motivieren sollte und das als eine Antithese zu den führenden Staatsmännern der 50er Jahre gelesen werden konnte.742 g)

Zusammenfassung

Die Figur des Scipio Aemilianus musste Cicero aus mehreren Gründen als besonders geeignet erscheinen: Scipio war kein Theoretiker, sondern ein durch

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Gotter 2003, S. 170. Sauer 2013, S. 191f. Cic. rep. 6,12; zur Mantik im Somnium Scipionis sowie der damit einhergehenden Problematik der Interpretation s. Hammerstaedt 2002, S. 151–161; zur syntaktischen Struktur der Prophezeiung s. auch: Fuhrmann 1998, S. 264. Hammerstaedt erkennt hinsichtlich der im Somnium Scipionis getroffenen doppelten Weissagung den Einfluss einer volkstümlichen Auffassung zur Mantik, welche sich von den Lehrmeinungen der Philosophen darin unterscheide, dass sie Änderungen des geweissagten Schicksals zulasse, welche durch Gewalttaten herbeigeführt werden könnten. Indem Cicero Scipios Großvater im Traum zwei verschiedene Schicksalsoptionen prognostizieren lässt anstatt nur jener, die sich tatsächlich verwirklichen sollte, trägt er der Sichtweise des Autors Rechnung, dass es Scipios eigentliches fatum gewesen sei, als rector rei publicae den Staat zu erneuern. Hierzu: Hammerstaedt 2002, S. 166–170. Zum politischen und paränetischen Charakter des Somnium Scipionis s. auch: Fuhrmann 1998, S. 263–266.

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Praxis erfahrener Politiker, der über berühmte Vorfahren verfügte, der höchste politische Erfolge erzielen konnte und somit selbst eine Eignung besaß, den besprochenen Staat als rector zu verwalten. 743 Dass er zudem wohl über ein gewisses Maß an Gelehrsamkeit zu verfügen schien, was sein auch in anderen Quellen gut bezeugter Kontakt zu griechischen Intellektuellen wie Panaitios und Polybios nahelegte, stellte für Cicero einen guten Anknüpfungspunkt dar, aus ihm eine Art Archetypen für einen philosophischen Diskurs zu machen. In der Synthese von Praxis und Theorie bildet seine Figur ein Muster, durch das die Tradition der res publica eine moralische Erneuerung durch den Einbezug griechischer Theorie erfahren soll. Der Autor eröffnet das Werk mit dem Gespräch über die Doppelsonne, das zunächst nur zwischen Scipio und dem belesenen Tubero stattfindet. Während sich Scipio anfangs noch Panaitios herbeisehnt, wächst er immer mehr in seine Rolle als Philosoph hinein und es kristallisiert sich zunehmend heraus, dass er bereits über dezidierte Kenntnisse über die Materie verfügt. Kollektiv und Einzelperson wirken dabei in einer sich gegenseitig befruchtenden Harmonie, in der der mos maiorum nie völlig aus dem Blickfeld gerät. Durch die Berufung auf M. Porcius Cato wird angedeutet, dass nicht nur die Grundlage des Staates, sondern auch die des theoretischen Diskurses in einer Traditionslinie aus der Vergangenheit zu suchen ist. Indem der griechische Philosoph Panaitios zwar erwähnt, aber letztlich nicht als Person in den Kreis hinzugezogen wird, vollzieht sich in dem Personenkreis ein Gründungsakt der lateinischen Philosophie, der an die sokratische Wende zur Ethik erinnert. Indem Scipio als „ciceronischer Sokrates“ durch die Referenzpunkte Cato und Scipio Africanus auf die römische Tradition verweist, geschieht der sokratische Gründungsakt einer auf die Ethik gerichteten Philosophie bei De re publica in enger Bindung an den mos maiorum. Darüber hinaus erzielt der Autor durch die Figur eine dramatische Spannung, die jene aus dem Phaidon weit übertrifft, da mit dem zu frühen Tod Scipios nicht nur ein tragisches individuelles Schicksal angekündigt wird, sondern eine allgemeine Krise des Staates. Wie der Tod des Crassus erweckt der des philosophisch gebildeten und moralisch einwandfreien Scipio den Eindruck einer verpassten Chance, wodurch die Leserschaft der 50er Jahre angesprochen wird. 744 Die Komplexität der Figurengestaltung zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die Figur sich in ihrem Auftreten auf den Rezipienten zu beziehen scheint, indem sie bisweilen im Gespräch zwischen den gegensätzlichen Haltungen von Philus und Tubero auf der einen sowie Laelius auf der anderen Seite passiv wirkt. Die Beobachtung, wonach die Figurenzeichnungen aller drei Hauptredner archetypische

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Vgl. Jones 1939, S. 313. Zu einem ähnlichen Schluss kommt Zetzel 2001, S. 97: „[…] it may not be coincidence that both Crassus in De Oratore and Scipio in De Re Publica die before archieving their goals. Cicero, of course, saw himself as yet another such figure […].“

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

Charaktereigenschaften aufweisen, 745 steht einer Interpretation der Einzelfigur als Alter Ego oder Sprachrohr des Autors entgegen. Doch gerade in Ciceros Staatswerk, dem der Glaube an eine Reform der republikanischen Ordnung wie kaum einem anderen Werk des Autors zugrundeliegt, harmoniert das Konzept eines Dialogs, das die Stimme des Autors nicht auf eine einzelne Person, sondern auf ein Kollektiv von Personen mit unterschiedlichen, einander ergänzenden Qualitäten verteilt.

2.1.2 C. Laelius Sapiens a)

Historische Persönlichkeit

Die dem C. Laelius Sapiens nachempfundene Figur erscheint später erneut in den kürzeren Dialogen Cato maior und in dem nach ihm benannten Laelius, so dass der Autor auf ihn insgesamt dreimal zurückgreift. Die Geburt der historischen Persönlichkeit wird um das Jahr 190 geschätzt, so dass er etwa fünf Jahre älter als sein Freund Scipio war.746 Über die Anfänge seiner politischen Karriere liegen keine Quellen vor. Gut bezeugt ist dagegen, dass er zwischen 147 und 146 als Legat unter Scipio im Dritten Punischen Krieg diente747 und anschließend im Jahr 145 die Praetur übernahm, während der er einen Gesetzesentwurf, der die Wahl der Mitglieder der Priesterkollegien vorsah, durch die berühmte und von Cicero öfters erwähnte Rede De collegiis verhinderte.748 144 errang er möglicherweise in Spanien einen Sieg gegen die aufständischen Lusitanier.749 Trotz der Unterstützung Scipios bewarb er sich 142 erfolglos für das Konsulat, setzte sich jedoch im folgenden Jahr durch und wurde für 140 zum Konsul gewählt.750 Während dieser Zeit, vielleicht auch schon 145, versuchte er – offensichtlich erfolglos – die Not der italischen Landbevölkerung zu lindern, welche sich bereits in der vorgracchischen Zeit als gravierendes strukturelles Problem der römischen Republik offenbarte.751 Im Jahr 138 verteidigte er in einem berühmt gewordenen 745 746 747

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So auch Powell 1996, S. 20. Münzer 1923, Sp. 404; Elvers 1999b, Sp. 1055; Ducos 2005a, S. 75. Cic. rep. 2,67; Lael. 103. Der Einstieg in die Politik erfolgte zwischen 160 und 147 über ein Tribunat, das sich nicht näher bestimmen lässt. Taylor vermutet einen Zeitraum um 151: Taylor 1962, S. 24. Cic. Brut. 83; Lael. 96; nat. deor. 3,5 u. 43; rep. 6,2 = ORF4 S. 117f., fr. 12–16. Vgl. Münzer 1923, Sp. 405; MRR 1, S. 469; Elvers 1999b, Sp. 1056; Ducos 2005a, S. 76. Cic. Brut. 84; off. 2,40. Aufgrund der Tatsache, dass nur Cicero über diesen Feldzug berichtet, Appian jedoch darüber schweigt, ist es möglich, dass sich Cicero hierbei auf eine familiäre Tradition berief. S.: Dyck 1996, S. 419f.; Ducos 2005a, S. 76. Cic. Brut. 161; MRR 1, S. 479; Elvers 1999b, Sp. 1056. Von Laelius’ Engagement um die italische Landbevölkerung berichtet lediglich Plutarch Ti. Gracchus 8,4f.; s. hierzu auch: Münzer 1923, Sp. 406f. Wie Blösel 2015,

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Prozess die römischen Steuerpächter vor Gericht, trat jedoch die Verteidigung bald an Servius Sulpicius Galba ab.752 Nach dem Reformversuch des Tiberius Gracchus setzte er sich für die Interessen der Senatspartei ein: So gehörte er 132 einem consilium an, das mit der gerichtlichen Verfolgung der Popularen beauftragt war, und ging im Jahr darauf zusammen mit Scipio gegen den Volkstribunen C. Papirius Carbo vor, der die Iteration und die Weiterführung des Volkstribunats ermöglichen wollte.753 Das Todesjahr des Laelius lässt sich nicht exakt bestimmen. Sicher ist nur, dass er älter als sein Freund Scipio wurde, für den er 129 die Leichenrede verfasst haben soll.754 Im Zusammenhang mit der historischen Bildung des Laelius ist zunächst auffallend, dass er das damals noch nicht mit der Philosophie assoziierte Kognomen sapiens trug,755 das durch ein Fragment aus der Rede Uti Lex Papiria Accipiatur des Gaius Gracchus (eum sapientem) und eine Satire des Lucilius (Laelius […] sophos ille) bezeugt ist.756 Unbestritten ist, dass Cicero die verschiedenen Nuancen des Begriff kannte und auf das Bild des Laelius als Römer, dessen sapientia auf Moral und Gelehrsamkeit beruhe, entscheidend prägte.757 Ein Markenzeichen scheint seine literarische Bildung gewesen zu sein: Im Brutus wird Laelius als gleichrangiger Zeitgenosse von Scipio dargestellt, der nach der Meinung der Leute jenem in Begabung, literarischer Beschäftigung, Beredsamkeit und Weisheit leicht überlegen sei, im Kriegsruhm jedoch nicht an ihn heranreichen wür-

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S. 156 andeutet, bestand der Unterschied von Laelius’ Vorgehen darin, dass er anders als bald darauf Tiberius Gracchus zuvor den Senat konsultiert hatte; vgl. ferner: Heuss 2007, S. 144. Gehrke, der von einem hohen Einfluss griechischer philosophischer Maxime auf das Denken der römischen Nobilität ausgeht, vermutet in dem Vorhaben des Laelius sowie den späteren Reformgesetzgebungen von C. Gracchus und Sulla eine Verbindung zur Praxis der griechischen Nomothesie: Gehrke 1994, S. 614–618. Cic. Brut. 85 = ORF4 S. 120, fr. 20; vgl. Münzer 1923, Sp. 407f. Cic. Lael. 96 = ORF4 S. 120, fr. 21; vgl. Münzer 1923, Sp. 408; Elvers 1999b, Sp. 1056. ORF4 S. 121f., fr. 22–23; vgl. Münzer 1923, Sp. 408. Der Titel sapiens wurde, wie die Forschung zeigte, bereits im dritten vorchristlichen Jahrhundert an verdiente Staatsbürger verliehen. Hinsichtlich der Begriffsgeschichte und Ciceros Anteil an dem Bedeutungswandel des Begriffs sei auf die grundlegende Studie von Homeyer verwiesen: Homeyer 1956, bes. S. 303f.; vgl. Luck 1964, S. 211–214. Wheelers Arbeit zeigte, dass das insgesamt nur selten verliehene cognomen nicht nur eine Referenz auf die juristische Expertise, die politischen Fähigkeiten oder den tugendhaften Charakter seines Trägers darstellen, sondern – zumindest im dritten vorchristlichen Jahrhundert – auch dessen militärische Qualität würdigen konnte. S. hierzu: Wheeler 1988. Häpke 1915, S. 44f. = ORF4 S. 119, fr. 18; Lucil. 1141–46 Chr. Gbg. = 1235–40 Marx. Cic. Lael. 6f.; s. hierzu: Luck 1964, S. 212; ferner: Münzer 1923, Sp. 406. Mit Blick auf Geschichte und Wandel des Begriffs sei verwiesen auf: Homeyer 1956; Luck 1964; Klima 1971, S. 85–139.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

de.758 Als Redner attestiert ihm Cicero in seiner Rede de collegiis eine „Neigung zur altertümlichen Sprache“ (delectari […] magis antiquitate videtur).759 Diese glich offenbar jener des Dichters Terenz, mit dem er befreundet war.760 Hinsichtlich seines Verhältnisses zur Philosophie lässt sich beobachten, dass ihn Cicero auch in De oratore und späteren Dialogen als historisches Beispiel auftreten lässt, dass er ein Interesse an den athenischen Philosophen der Gesandtschaft von 155 hatte und später ein Hörer des Panaitios war, zu dem er ein Freundschaftsverhältnis unterhielt (familiaritas).761 Die in De finibus 2 überlieferten Luciliusverse zeigen, dass Laelius in dessen Satiren wegen einer streng luxuskritischen Haltung als σοφός karikiert wurde.762 Eben jene Charakteristik des Lucilius stellt für Cicero einen Ausgangspunkt für die Darstellung des Laelius als philosophischer sapiens dar, die in De re publica ihren Anfang hat und im Laelius ihre Vollendung finden wird. b)

Laelius als philosophisch gebildeter Römer und Verteidiger der iustitia

In der Dialogfigur des Laelius zeigt sich bereits in De re publica das Bild eines umfassend gebildeten Römers. Dass es sich bei ihm um einen herausragenden Rechtskenner handelt, erfährt der Leser aus dem Mund des Manilius, der ihn nach einer humorvollen Anspielung bittet, diese Wissenschaft nicht zu verspotten, in der er selbst herausrage (in qua primum excellis ipse). 763 Im zweiten Buch, das die Geschichte der res publica in den Vordergrund stellt, erweist er sich durch seine Erläuterungen zu König Ancus Marcius auch als historisch versiert.764 Neben juristischen und historischen Kenntnissen, die einem erfolgreichen römischen Redner des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts durchaus zuzutrauen sind, verfügt die Figur, wie aus dem Gesprächsverlauf ersichtlich wird, über breite und detaillierte Kenntnisse der philosophischen Literatur. Dies zeigt sich unter anderem gegen Ende des ersten Buches, als eine von Scipio wiedergegebene Textstelle aus der Politeia ihm „sehr bekannt“ (notissima) erscheint.765 Er fungiert jedoch in De re publica nicht als Repräsentant einer bestimmten 758 759 760

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Cic. Brut. 84. Ebd., 83. Dass Stücke des Terenz Laelius zugeschrieben wurden, geht aus einer Korrespondenz Ciceros hervor: Cic. Att. 7,3 = 126 Sh. B.,10: cuius fabellae propter elegantiam sermonis putabantur a C. Laelio scribi […] – „dessen Stücke man wegen ihrer eleganten Diktion dem C. Laelius zuschrieb […].“ Im Laelius lässt Cicero die Figur Terenz als familiaris meus zitieren: Cic. Lael. 89. Cic. de orat. 2,154f.; fin. 2,24; 4,23; Tusc. 4,5; vgl. Münzer 1923, Sp. 405; Jones 1939, S. 315; Pohlenz 1949, S. 423. Cic. fin. 2,24. Cic. rep. 1,20. Ebd., 2,33. Ebd., 1,66 u. 68; vgl. Plat. rep. 8,562c–563c.

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philosophischen Lehrmeinung, wie dies bei Dialogfiguren der späteren Philosophica zu beobachten ist. Seine umfassende Bildung ermöglicht stattdessen eine gewisse Interaktion zwischen dem Autor und dem Leser, indem der zentralen Figur des Scipio ein kritischer Beobachter des Geschehens an die Seite gestellt wird. Durch diese Charakteristika kann sie innerhalb des Dialoggeschehens wichtige Funktion wahrnehmen, nämlich dem Hauptredner Vorlagen geben oder dessen Vorgehen kommentieren. Dies zeigt sich besonders deutlich in den Kapiteln 21 und 22 des zweiten Buchs, welche Büchner als die „Methodenkapitel“ bezeichnet.766 Nachdem Scipio seine Rede über die Gründung der Stadt und die Herrschaft des Romulus abgeschlossen hat, stellt Laelius die Besonderheit seiner Vorgehensweise heraus, welche sich „nirgends in den Büchern der Griechen“ fände (quae nusqam est in Graecorum libris).767 Die Eigenständigkeit der Vorgehensweise, die Scipio vor seiner Rede bereits selbst herausgestellt hatte 768 , wird von Laelius erneut hervorgehoben und erklärt: 769 Nam princeps ille, quo nemo in scribendo praestantior fuit, aream sibi sumpsit in qua civitatem extrueret arbitratu suo: praeclaram ille quidem fortasse, sed a vita hominum abhorrentem et moribus. (22) Reliqui disseruerunt sine ullo certo exemplari formaque rei publicae de generibus et de rationibus civitatum. Tu mihi videris utrumque facturus; es enim ita ingressus, ut quae ipse reperias tribuere aliis malis quam, ut facit apud Platonem Socrates, ipse fingere; et illa de urbis situ revoces ad rationem, quae a Romulo casu aut necessitate facta sunt, et disputes non vaganti oratione sed defixa in una re publica. Quare perge ut instituisti; prospicere enim iam videor te reliquos reges persequente quasi perfectum rem publicam. Denn jener Geistesfürst, den niemand im Schreiben übertraf, nahm sich einen Platz, um auf ihm einen Staat nach seinem Gutdünken aufzurichten, der vielleicht von seinem Standpunkt aus vorzüglich ist, aber dem Leben der Menschen entrückt, (22) die übrigen haben ohne jede feste Idee und Gestalt eines Gemeinwesens über die Arten und die Grundbegriffe der Staaten Erörterungen geführt; du bist dabei, scheint mir, beides zu tun: du hast es nämlich so angelegt, dass du lieber anderen zuschreiben willst, was du selber findest, als es selbst auszudenken, wie es Sokrates bei Platon macht, und jenes über die Lage der Stadt, was von Romulus durch Zufall oder Notwendigkeit getan worden ist, auf die Vernunft zurückführst und dass du nicht in einer im leeren Raum schweifenden Rede die Gedanken vorträgst, sondern in einer, die fest an ein bestimmtes Gemeinwesen verhaftet ist. Daher fahre fort, wie du begonnen; glaube ich doch schon, wenn du die

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Büchner 1984, S. 188. Cic. rep. 2,21. Ebd., 2,3. Ebd., 2,21f.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur übrigen Könige noch verfolgst, das Gemeinwesen gleichsam vollendet im voraus vor mir zu sehen.

Als Kenner griechischer Literatur unterscheidet Laelius zwei staatstheoretische Vorgehensweisen, von denen sich die des Scipios absetzen würde: das fingierende und an eine Idee gebundene Vorgehen von Platons Sokrates (ut facit apud Platonem Socrates ipse fingere) und das der reliqui, welche ohne eine Idee empirisch forschten (disseruerunt sine ullo certo).770 In letzteren sieht Büchner eine peripatetische Tradition, auf die sich Cicero bezieht, sowie den Historiker Polybios. 771 Als aufmerksamer Zuhörer erkennt Laelius, dass Scipio beide Ansätze vereint (tu mihi videris utrumque facturus), indem er seine Untersuchung mithilfe der ratio (revoces ad rationem) herleitet und am römischen Staat festmacht (defixa in una re publica), statt sie in einer „im leeren Raum schweifenden Rede“ (non vaganti oratione) zu verorten.772 Zugleich entgeht ihm in dieser Funktion nicht, dass sein Gesprächspartner hierbei Romulus’ Gründung des römischen Staates auf eine unglaubwürdige Weise rationalisiert, was durch den Hinweis auf Zufall und Notwendigkeiten (casu aut necessitate) konterkarriert wird.773 In der Idealisierung der Könige erkennt Fox eine offensichtliche Ironie, welche erst durch Laelius deutlich werde, und plädiert für eine ironische Lektüre der Passage, welche den Umstand abmildere, dass die Sichtweise, wonach die Könige Gelehrte waren, für die Zeitgenossen Ciceros untragbar gewesen sein musste.774 Dagegen sieht Hösle in der Tatsache, dass Laelius Scipio mit dem platonischen Sokrates vergleicht, aus dialogperspektischer Sicht eine Inkohärenz, da sich die Dialogfiguren ihrer „ontologischen Defizienz“ bewusst seien. 775 Die Funktion des Lobs auf Scipio bestünde demnach darin, den Leser dazu zu „ermuntern, eine dem Dialoguniversum externe Perspektive einzunehmen und anzuerkennen, dass diese Leistung letztlich auch nicht von Scipio, sondern von Cicero herrührt“, wodurch es sich durch den gegenwartsfernen Dialogzeitpunkt letztlich um eine „komplexere Form des Selbstlobs“ handle.776 Sowohl Hösle als auch Fox erkennen in Laelius’ Lob einen Dialogmoment, in dem die Stimme des Autors in den Dialog transzendiert wird und sich dem Leser offenbart. Während ersterer Ciceros Eitelkeit als entscheidende Triebkraft ausmacht, sieht letzterer hierin ein Indiz für das philosophische Bekenntnis zur Neuen Akademie, welches sich in 770 771 772

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Vgl. Büchner 1984, S. 188f. Ebd., S. 190. Vgl. ebd., S. 190f.; Pöschl 1976, S. 45. Johann 1981, S. 300f. sah in der Absage an eine vagans oratio einen Verzicht auf die „universalistische empirisch-induktive Methode“ des Peripatos. Vgl. hierzu auch Christes 1989, S. 41–43. Vgl. ebd., S. 42f. Fox 2007, S. 99–102. Hösle 2004, S. 157f. Hierzu und zur Herkunft dieses dialogtechnischen Mittels bei s. Hösle 2004, S. 159 u. 160–164.

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einer bewussten Brechung des historischen Settings artikuliere. Eine abschließende Wertung kann an dieser Stelle nicht vorgenommen werden. Die Dialogszene zeigt jedoch, dass durch das philosophische Profil der Figur und ihr Auftreten als kritischer Beiwohner des Gesprächs mehrere auktoriale Ziele begünstigt werden: während dialogintern die Position der Scipio-Figur gestärkt wird, indem ihr „eigenständiges“ Vorgehen herausgestellt wird, wird für den Leser die dialogexterne Person des Autors erkennbar, der durch die Wahl der Vergangenheitsszenerie eine artifizielle Trennlinie zwischen sich und dem philosophischen Diskurs schuf. Indem Laelius auf wichtige Bezüge aufmerksam macht, fungiert er als eine Art Mittler zwischen Scipio und verschiedenen Typen der Leserschaft, welche sich in den verschiedenen Teilnehmern des Scipionenkreises widerspiegeln. Im ersten Buch zeigt sich diese Funktion in seinem Auftreten im Gespräch um die Doppelsonne sowie in den Momenten, in denen er an die Eignung seines Freundes erinnert, über den Staat zu sprechen. 777 Im zweiten Buch, das Scipio mit Bezug auf einen Ausspruch Catos begonnen hatte, ist es Laelius, der den Vortrag des Hauptredners durch eine Interpretation unterbricht:778 Nunc fit illud Catonis certius, nec temporis unius nec hominis esse constitutionem rei publicae; perspicuum est enim quanta in singulos reges rerum bonarum et utilium fiat accessio. Sed sequitur is qui mihi videtur ex omnibus in re publica vidisse plurimum. Jetzt bekommt das Wort Catos Umriss, dass die Errichtung des Gemeinwesens nicht Werk einer einzigen Zeit noch eines einzelnen Mannes ist. Es ist nämlich offensichtlich, was für ein großer Zuwachs an guten und nützlichen Dingen auf die einzelnen Könige kommt. Es folgt aber der, der mir von allen im Gemeinwesen das meiste gesehen zu haben scheint.

Der Verweis auf den Zuwachs von Errungenschaften (bonarum et utilium fiat accessio) unter den einzelnen Königen lässt die Verfassung des römischen Staates als Produkt eines anhaltenden historischen Prozesses erscheinen. Der Einschub erfolgt im Moment des Übergangs von Ancus Marcius zu Servius Tullius, den Laelius dabei noch selbst ankündigt, wodurch er sich der Erzählstruktur anpasst. Sein hohes Verständnis lässt ihn an dieser wie an anderer Stelle das weitere Vorgehen Scipios vorausahnen.779 Dies erfüllt neben einer Mittlerfunktion zwischen Rezipienten und Autor auch den Zweck, den konsensualen Charakter des Gesprächsverlaufs zu unterstreichen. Indem er dem Vorgehen des Haupt-

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Cic. rep. 1,34, 71. Ebd., 2,37. Vgl. auch ebd., 2,69: Video iam […].

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redners seine Zustimmung ausspricht, erscheint dessen Rede innerhalb des Gesprächskreises als willkommen und angemessen.780 Die Dialogfigur beschränkt sich jedoch nicht auf eine bloß beobachtende und kommentierende Funktion. Im Rahmen der karneadischen Diskussion des dritten Buchs zeigt sich das philosophische Profil in ihrer aktiven Rolle als philosophischer Referent, der die Verteidigung der Gerechtigkeit übernimmt. Ein zentraler Aspekt ihrer Argumentation besteht dabei in der Annahme eines in der Natur verankerten Gesetzes, welches als recta ratio die Rechtschaffenen zur Pflichterfüllung veranlasse.781 Mit Blick auf Ciceros De legibus, welches als Nachfolgewerk von De re publica angedacht war, stellt es ein nicht unwichtiges Detail dar, dass die Laelius-Figur hierbei eine Grundlegung des Naturrechts liefert, an welche die Cicero-Figur in De legibus anknüpfen wird.782 Als Referent eines in der Natur verankterten, ewigen und unveränderbaren Gesetzes (omni tempore una lex et sempiterna et inmutabilis) präsentiert Laelius ein theoretisches Gerüst, das für Ciceros praktische Philosophie Grundlagencharakter besitzt. 783 Anhand der erhaltenen Teile der Laeliusrede lässt sich darüber hinaus feststellen, dass diese argumentativ und stilistisch einen deutlichen Kontrast zur karneadischen Rede des Philus bildete. 784 Der wohl „römische“ Charakter seiner Verteidigung der Gerechtigkeit, mit der er die delectatio der Zuhörer gewinnt, wird auch in der Aussage des „von Freude beschwingten“ Scipio (quasi quodam gaudio elatus) deutlich, dass er seine Rede nicht nur dem Kollegen Servius Galba, sondern auch jedem attischen Redner vorziehen würde.785 In dem Schema der disputatio trägt Laelius als römischer Sokrates einen dezidiert konservativ-römischen Standpunkt vor, der dem karneadischen Standpunkt des Philus entgegengesetzt wird und den Vortrag Scipios vorbereitet.786 Die doppelte Natur der Dialogfigur, die für das Funktionieren des Gesprächs einen konstitutiven Charakter einnimmt, wird an seiner inneren Haltung noch deutlicher.

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Cic. rep. 1,38: Cum approbavisset Laelius […]. Tum Laelius: Ego vero istud ipsum genus orationis, quod polliceris, exspecto. Inwieweit dieser Passus dabei von stoischen Vorlagen geprägt ist, ist in der Forschung umstritten. Von Armin hat Cic. rep. 3,33 als stoisches Fragment Chrysipps identifiziert (SVF 3,325), allerdings ohne seine Entscheidung zu begründen. Hinsichtlich der Quellenfrage sei an dieser Stelle auf Lisi verwiesen, der sich jüngst sehr ausführlich mit der Problematik dieser Zuweisung auseinandersetzte und selbst gute Gründe für einen platonischen Ursprung geltend macht: Lisi 2014. Zu der sich in Ciceros Werken als konsistentes Gedankengebäude erweisenden Naturrechtslehre sei mit Blick auf De re publica verwiesen auf: Radford 2002, S. 45–47; Corso 2008, S. 51–83. Cic. rep. 3,33. Zur Rede des Philus s. unten S. 178–181. Cic. rep. 3,42; s. hierzu auch: Vesperini 2012, S. 468. Vgl. Sauer 2013, S. 191f.; Gotter 2003, S. 171.

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Laelius’ kritisch-römische Haltung und Rolle als Lehrer

Denn während die Laelius-Figur einerseits das Bild eines literarisch und vor allem philosophisch gebildeten Römers entwirft, zeichnet sich in ihr gleichzeitig ein vorsichtiger römischer Vorbehalt ab, der uns in vergleichbarer Form schon in De oratore begegnet ist. Dieser zeigt sich nicht zuletzt im Vorfeld der eben angesprochenen disputatio des dritten Buchs: Wie aus der Inhaltszusammenfassung des Augustinus hervorgeht, hat er die Rolle des Referenten erst auf das Bitten aller anderen Dialogfiguren (rogantibus omnibus Laelius iustitiam defendere adgressus est) angenommen.787 Möglicherweise – so darf in Anbetracht seiner Haltung zum Gespräch über die Doppelsonne vermutet werden – musste dabei bei ihm eine ähnliche Verweigerungshaltung gelöst werden wie bei Crassus in De oratore. Noch deutlicher lässt sich diese Charakteristik zu Beginn des ersten Buchs beobachten. So ist sein Auftreten während des Eröffnungsgesprächs von einer erkennbar kritischen Haltung gegenüber theoretischer Gelehrsamkeit geprägt, sobald er von dem Gesprächsthema und Philus’ Vorhaben erfährt, die laufende Untersuchung der Doppelsonne accuratius weiterzuführen:788 Ain vero, Phile? Iam explorata nobis sunt ea quae ad domos nostras quaeque ad rem publicam pertinent, siquidem quid agitur in caelo caerimus? Ist’s möglich, Philus? Ist von uns schon das erforscht, was sich auf unsere Häuser und was sich auf das Gemeinwesen bezieht? Wofern wir wenigstens, was im Himmel vor sich geht, untersuchen.

Sofort zeigen sich Verwunderung und Missbilligung bei Laelius (ain vero).789 Seine Frage, ob schon hinreichend über das gesprochen wurde, was sich auf die „Häuser und was sich auf das Gemeinwesen bezieht“ (ad domos nostras quaeque ad rem publicam pertinent), lässt ein sokratisches Philosophieverständnis erkennen, über das in Laelius’ Abwesenheit gesprochen wurde. 790 Die scherzhafte Unterbrechung verrät dem Leser nicht nur seinen humorvollen Charakter, sondern nimmt auch eine sich ihm aufdrängende Frage vorweg, auf die die Debatte um die Doppelsonne eingehen muss, nämlich die nach dem konkreten Nutzen und ob es nicht sinnvoller wäre, zuerst über Dinge von höherer, praktischer Relevanz zu sprechen.791 Seine ironischen Vorbehalte bereiten Philus, der als sein 787 788 789 790 791

Aug. civ. 2,21. Cic. rep. 1,19. Vgl. Büchner 1984, S. 100. Cic. rep. 1,15f. Vgl. Büchner 1984, S. 100. Nach Hösle 2006, S. 247 übersieht Laelius an dieser Stelle, dass das Interesse an theoretischen Phänomenen erst jene Freiheit ermöglichen würde, „von der aus Politik betrieben werden könne“, und dass „die Kategorien Natur und Gesellschaft gleichermaßen übergreifen“.

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Gegenpart die vita activa vertritt, eine Vorlage, um den Zusammenhang beider Bereiche, die hier metaphorisch durch die Begriffe Haus (ad domos) und Himmel (in caelo) unterschieden werden, zu rechtfertigen.792 Sein Unwillen über das Themenfeld der Astronomie zu sprechen, lässt sich auch als Opposition zu den Hermeneutiken von Scipio und Tubero interpretieren.793 Diese Opposition wird jedoch bald aufgelöst und nach Philus’ Erklärung lässt Laelius doch noch Bereitschaft für das Gespräch erkennen, wobei er auf auf die zur Verfügung stehende freie Zeit verweist (non impedio, praesertim quoniam feriati sumus).794 Sauer zufolge, der auf die Ähnlichkeit der Haltung mit jener des Sokrates im Gorgias verweist,795 wird das Gespräch über die Doppelsonne dadurch „abwertend in die Nähe einer Vorführung rednerischer Kunst“ gerückt.796 Als Laelius erneut seine Ablehnung des Gesprächsthemas ironisch zum Ausdruck bringt, indem er auf eine juristische Entscheidung hinsichtlich der Besitzverhältnisse der beiden Sonnen pocht, wird er vom Rechtsexperten Manilius in die Schranken gewiesen.797 Sein anschließendes Schweigen sorgt zwar einerseits für einen ungestörten Ablauf des Gesprächs, doch generiert es nach Sauer eine „Spannung in der Luft“, welche den Diskurs begleitet.798 Die Figur des Laelius zeigt somit eine fast widersprüchliche Komplexität, indem sie einerseits über versierte Kenntnisse philosophischer Literatur verfügt, andererseits an die vita activa und damit an den praktischen Lebenshintergrund der römischen Aristokratie in der res publica erinnert. Dass Cicero hierin keinen Widerspruch sah, zeigt sich daran, dass gerade die Laelius-Figur eine unverkennbare Ähnlichkeit mit jenem Sokrates annimmt, der den Diskurs vom Himmel auf die Stadt führt, worauf im Folgenden nochmals genauer eingegangen werden muss.799 Sein pragmatischer Ansatz hinsichtlich theoretischer Bildung, die er selbst zur Genüge besitzt, räumt Laelius dabei eine besondere Stellung gegenüber der Jugend ein. Nachdem Scipio sein Wohlwollen gegenüber theoretischen Studien offen bekundet hat,800 wagt Laelius erneut einen vorsichtigen Einspruch, indem er zwar solchen Studien eine Berechtigung zugesteht, der Jugend jedoch, für die Tubero als Stellvertreter auftritt, davon abrät.801 Er erinnert jenen dabei an dessen Verwandten Sextus Aelius Paetus, der dem sich mit Astrologie beschäftigenden Gallus Verse aus der Iphigenie entgegenhielt. Die Anekdote lenkt das Ge-

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Vgl. Müller 1965, S. 149f. So Sauer 2013, S. 183. Cic. rep. 1,20. Plat. Gorg. 447a. Sauer 2013, S. 184. Cic. rep. 1,20. Sauer 2013, S. 184. Vgl. ebd., S. 183. Cic. rep. 1,29. Ebd., 1,30; s. Büchner 1984, S. 112.

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spräch somit auf die bildungstheoretische Grundsatzfrage, was und in welchem Maße etwas zu erlernen sei. Hinsichtlich der Philosophie heißt es dabei:802 […] magis eum delectabat Neoptolemus Enni, qui se ait philosophari velle, sed paucis, nam omnino haud placere. Quodsi studia Graecorum vos tantopere delectant, sunt alia liberiora et transfusa latius, quae vel ad usum vitae vel etiam ad ipsam rem publicam conferre possimus; istae quidem artes, si modo aliquid, valent ut paulum acuant et tamquam irritent ingenia puerorum, quo facilius possint maiora discere. […] mehr erfreue ihn (Aelius Sextus) der Neoptolemus des Ennius, der sagt, er wolle Philosophie betreiben, aber wenig; denn ganz, das gefalle ihm nicht. Wenn euch aber die Beschäftigungen der Griechen so ergötzen, so gibt es andere, freiere und sich weiter ergießende, die wir zum Gebrauch für das Leben oder sogar fürs Gemeinwesen selber verwenden können. Diese Künste jedenfalls vermögen, wenn überhaupt etwas, ein wenig den Geist der Knaben zu schärfen und gleichsam zu reizen, dass sie umso leichter Größeres zu erlernen imstande sind.

Laelius’ Haltung zur Philosophie gleicht hierbei sehr stark jener des Antonius in De oratore, der ebenfalls auf Ennius’ Neoptolemus verweist, um für ein Maßhalten zu plädieren.803 Als Vertreter der römisch-pragmatischen Position steht sein Auftreten in dem Gespräch über die Doppelsonne jenem des Philus gegenüber.804 Mit Blick auf die res publica leitet er das Ende der Diskussion über die Doppelsonne ein und erstellt einen Bezug zur Szenerie des Dialogs:805 Quid enim mihi Luci Pauli nepos, hoc avunculo, nobilissima in familia atque in hac tam clara re publica natus, quaerit quomodo duo soles visi sint, non quaerit cur in una re publica duo senatus et duo paene iam populi sint? Nam ut videtis, mors Tiberi Gracchi, et iam ante tota illius ratio tribunatus, divisit populum unum in duas partes. Obtrectatores autem et invidi Scipionis, initiis factis a Publio Crasso et Appio Claudio, tenent nihilominus illis mortuis senatus alteram partem, dissidentem a vobis, auctore Quinto Metello et Publio Mucio; neque hunc, qui unus potest, concitatis sociis et nomine Latino, foederibus violatis, triumviris seditiosissimis aliquid cotidie novi molientibus, bonis viris et locupletibus perturbatis, his tam periculosis rebus subvenire patiuntur. Warum untersucht denn der Enkel des Lucius Paulus, bei diesem Oheim, in der angesehensten Familie und in diesem so glänzenden Staate geboren, wieso man zwei Sonnen gesehen hat, fragt aber nicht, warm in einem Gemeinwesen zwei Senate und fast schon zwei Völker sind? Denn wie ihr seht, der Tod des Tiberius Gracchus und schon vorher seine ganze Handhabung des Tribunats hat das eine 802 803 804 805

Cic. rep. 1,30. Cic. de orat. 2,156; s. oben S. 83f. Vgl. Müller 1965, S. 149f. Cic. rep. 1,31.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur Volk in zwei Teile geteilt. Die Verkleinerer und Neider Scipios aber beherrschen, nachdem der Anfang von Publius Crassus und Appius Claudius gemacht war, nach ihrem Tode nichtsdestoweniger den anderen Teil des Senats, der von euch auf Veranlassung des Metellus und Publius Mucius abrückt und lassen diesen Mann hier, der es allein vermag, wo die Bundesgenossen und Latiner erregt, die Verträge verletzt sind, wo die aufrührerischen Triumvirn täglich irgend etwas Neues unternehmen, die gutgesinnten Männer außer Fassung sind, nicht dieser so gefährlichen Lage zu Hilfe kommen.

Laelius erinnert an die Bedrohung des Staates, die durch das Volkstribunat des Tiberius Gracchus entstanden ist, wodurch er die astronomische Diskussion zu einer politischen ummünzt und wie Sokrates die Philosophie vom Himmel holt. Er wendet sich dabei gezielt an Tubero, den er mahnend an dessen Abstammung aus der römischen Aristokratie (nobilissima in familia atque in hac tam clara re publica natus) und damit an die daraus resultierende Verantwortung erinnert.806 Die Bezugnahme auf die aus der Perspektive des dramatischen Datums jüngere Vergangenheit und ihre Bewertung lassen gleichzeitig eine deutliche politische Grundgesinnung erkennen, die auf den Erhalt der res publica seiner Zeit zielt. Der Zeitgenosse Tiberius Gracchus wird an dieser Stelle wie auch später als Ursache der innenpolitischen Spaltung stigmatisiert, ihm gegenübergestellt wird die Person des Hauptredners Scipio (hunc qui unus potest) als letzte Hoffnung für den inneren Frieden.807 Die wenig überraschende und aus Ciceros Reden bekannte Trennung zwischen boni viri und seditiosi, welche dem Leser des Jahres 51 ausreichend Anknüpfungspunkte an die eigene Zeit gegeben haben dürfte, ist im Hinblick auf die Rolle der Dialogfigur Laelius nicht ohne Bedeutung, die damit nicht nur als Träger der politischen Überzeugungen des Autors geschildert wird, sondern auch den Platz des prophetischen Mahners für die Zukunft des Staates einnimmt. Sein Appell ist dabei deutlich an die im Dialog vertretene jüngere Generation gerichtet:808 Quamobrem si me audietis, adulescentes, solem alterum ne metueritis; aut enim nullus esse potest, aut sit sane ut visus est, modo ne sit moleestus; aut scire istarum rerum nihil, aut etiamsi maxime sciemus, nec meliores ob eam scientiam nec beatiores esse possumus. Senatum vero et populum unum habeamus, et fieri potest et permolestum est nisi fit; et secus esse scimus, et videmus, si id effectum sit, et melius nos esse victuros et beatius. Deshalb, ihr Jünglinge, wenn ihr mich hören wollt: fürchtet nicht die zweite Sonne; denn entweder ist sie möglicherweise nicht oder mag sie sein, wie sie gesehen wurde, wenn sie sich nur nicht unangenehm bemerkbar macht: so können wir doch nichts von diesen Dingen wissen, oder wenn wir noch soviel wissen werden, 806 807 808

Vgl. Büchner 1984, S. 114. S. auch: Cic. rep. 3,41. Ebd., 1,32.

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weder besser ob dieser Wissenschaft noch glücklicher sein; dass wir aber einen Staat und ein Volk haben, das kann geschehen, und es ist sehr unangenehm, wenn es nicht geschieht, und wir wissen, dass es nicht so ist, und sehen, dass wir, wenn das erreicht ist, besser und glücklicher leben werden.

Da die Untersuchung der Doppelsonne hinsichtlich des menschlichen Glücks irrelevant sei, sollen sich die direkt angesprochenen adulescentes um die Eintracht im Staat bemühen (senatum vero et populum unum habeamus). 809 Der kausale Zusammenhang von individuellem Glück und funktionierendem Staatswesen, der an Platons Staat erinnert, wird somit vorausgesetzt. Der Wunsch nach politischer Eintracht ist zur Entstehungszeit von De re publica, in der Clodius und Milo den politischen Betrieb in Rom spürbar störten und sich eine Zuspitzung des Konfliktes zwischen dem Senat und Caesar abzeichnete, nicht weniger aktuell als zum Zeitpunkt des Dialogs. Der Aufruf an die junge Generation, sich für eine Politik einzusetzen, die eine politische Einigung anstrebt, spiegelt dabei Ciceros Ideal der concordia omnium aus dem Jahr 62, das in De re publica erneut breite Beachtung findet.810 An dieser Stelle zeigt sich, wie sehr das Staatswerk mit der Rhetorik des Politikers Cicero korrespondiert. Das „Sprachrohr“ des Autors ist in diesem Moment Laelius, der an die adulescentes zum Einsatz für die res publica appelliert. Gleichzeitig findet durch ihn eine Reflexion der Inhalte des Staatswerks selbst statt: Die Darlegung, um die Scipio gebeten wird, muss für Laelius mit dem Ziel verknüpft sein, dem Staat zu nützen (ut usui civitati simus).811 Seine distanzierte Haltung gegenüber einem Übermaß an philosophischer Beschäftigung spiegelt dabei das Unbehagen einer bestimmten Leserschaft wider, die mehr Berührungsängste mit der griechischen Philosophie hatte als Philus oder Tubero.812 Als Römer, der sich ohne Zweifel um den Staat verdient gemacht hat und daher eine besondere Autorität besitzt, fungiert er als Vertreter einer pragmatischeren Leserschaft, während Tubero und Philus dem philosophisch interessierten Leser eine Stimme geben.813 Das Gespräch über den Staat mündet schließlich in einem Kompromiss, mit dem alle Anwesenden zufrieden sind und der die von Cicero ersehnte concordia inszeniert. Dass die Gracchenkritik von Laelius vorgetragen wird, deckt sich mit dem, was uns von der historischen Persönlichkeit bekannt ist. Anders als Scipio steht ihm für diese Rolle keine familiäre Verbindung im Weg.

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Zur Ähnlichkeit der Argumentation des Laelius mit epikureisch-lukrezischen Argumentationsmustern an dieser Stelle s. auch: Büchner 1984, S. 116; vgl. Lucr. 5,703– 771. Grundlegend: Strasburger 1956; zu dieser Stelle: Jones 1939, S. 312. Cic. rep. 1,33. Treffend spricht Sauer 2013, S. 184 hierbei von einem „Unbehagen […] bei einem philosophiedistanten Rezipienten“. Vgl. ebd., S. 185.

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Laelius als römischer Sokrates und rector rei publicae

Da der Gesprächswechsel jedoch nur durch Laelius’ römisch-konservatives Auftreten gegenüber der Jugend herbeigeführt wird, sieht Sauer in ihm die Präsentation eines „wahren ‚römischen Sokrates‘“, der die Philosophie „vom Himmel auf den Boden der römischen Realität holt“.814 Das Einleitungsgespräch von De re publica bildet dabei durch seine Szenerie und Akteure nicht nur das Aufeinandertreffen von römischer Praxis und griechischer Theorie ab, sondern auch einen Protagonisten, der die nicht einfache Kontextualisierung der griechischen Philosophie innerhalb der römischen Tradition gestaltet. Zu der Charakterisierung des Laelius als römischer Sokrates passt dessen Ironie und Witz, die in seinen gegen das anfängliche Gesprächsthema opponierenden Fragen zum Vorschein kommen.815 Dies zeigt sich besonders in dem Wechselgespräch des ersten Buches, das sehr stark sokratische Züge annimmt.816 Als Skeptiker greift er Scipios Vortrag über das Königtum an, welches in Anlehnung an Jupiter als beste Verfassung vorgestellt wird, wobei er auf das von Scipio zitierte Aratgedicht anspielt.817 In einer Gegenfrage spielt Scipio auf Laelius’ eigene Worte an (quod est ante oculos), woraus Büchner folgert, dass jener mit ihm scherze.818 Nach einer Lücke geht das Wechselgespräch in der Form eines sokratischen Elenchos weiter, in dem Scipio zum Fragenden und Laelius zum Antwortenden wird, wobei jedoch stets der humorvolle Charakter der Unterhaltung erkennbar bleibt.819 Das Dialogverhalten als Sokrates bzw. eine Figur, die in einem platonischen Dialog von Sokrates belehrt wird, wird von seiner römischen Persönlichkeit flankiert. So handelt es sich bei ihm als historischen Figur in erster Linie um einen römischen Staatsmann höchsten Ranges. Dass auch er aus Ciceros Sichtweise dem Ideal des rector rei publicae sehr nahe kommt, zeigt eine Textstelle in De oratore I. 820 Dort wird er von Antonius neben P. Lentulus, dem älteren Tiberius Gracchus und Quintus Metellus als Beispiel für einen „führenden Staatsmann und als maßgeblichen Politiker“ (rei publicae rectorem et consili publici auctorem) genannt, was bereits im Werk über den Redner eine Verpflichtung des Individuums auf das Wohl des Staatsganzen erfordert.821 Als solcher genießt er mit Scipio eine besondere Stellung im Gespräch, die ihm für Mahnungen und Appelle eine besondere Autorität verleiht. Sein Witz und sein Humor kaschieren diese wiederum, wodurch die Gleichrangigkeit unter den Gesprächspartnern gewahrt bleibt. 814 815 816 817 818 819 820 821

Sauer 2013, S. 185. Vgl. ebd., S. 185f. Cic. rep. 1,55–64. Ebd., 1,56. Büchner 1984, S. 147. Cic. rep. 1,58–64; Büchner 1984, S. 149. Cic. de orat. 1,211. Vgl. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 134.

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Das Verhältnis zwischen Laelius und Scipio erscheint trotz der teilweise unterschiedlichen Haltungen stets als innige Freundschaft, worauf bereits in der Begrüßungsszene angespielt wird: Diese erinnert daran, dass der etwas ältere Laelius seinen Freund im Krieg „wie einen Gott“ (ut deum) verehren würde, er aber selbst von jenem in Friedenszeiten wie ein Vater (in parentis loco) betrachtet werde.822 Das philosophische Gespräch zeigt folglich eine einvernehmliche Umkehrung der politischen Hierarchie, in der beide als gleichberechtigte Partner auftreten. Der eher als Redner statt als Feldherr berühmte Politiker Laelius bildet dahingehend eine sich ergänzende Einheit mit dem erfolgreichen Militär Scipio, welche Cicero zehn Jahre später in dem Dialog über die Freundschaft nochmals und stärker thematisieren wird. Es verwundert nicht, dass hinsichtlich des eigentlichen Hauptanliegens des Staatswerkes, dem Appell zum politischen Engagement und der Verpflichtung auf die von den maiores überlieferte res publica, Einigkeit besteht.823 Die Inszenierung der Freundschaft steigert dabei auch den dramatischen Gehalt des Dialogs. Sie findet sich neben der Begrüßungsszene an einer besonders markanten Stelle des Somnium Scipionis: So reagiert Laelius auf die Prophezeiung der Gefährdung Scipios durch „ruchlose Hände der Verwandten“ (impias propinquorum manus) und der Notwendigkeit seiner Diktatur mit einem die Erzählung unterbrechenden Schreckensschrei (hic cum exclamasset Laelius).824 Die Prophezeiung, über deren Erfüllung der Leser bereits in Kenntnis ist, verweist auf das politische Geschehen nach dem Gespräch in Scipios Villa und die Fragilität des otium. Der Leser erinnert sich daran, dass Laelius seinen Freund überleben wird, während ihm gleichzeitig eine Deutung der Schuldfrage nahegelegt wird: Das kommende Unglück der res publica, welches mit dem individuellen Schicksal Scipios in Verbindung steht, haben dessen Verwandte Gaius und Tiberius Gracchus zu verantworten. e)

Zusammenfassung

Die Figur des Laelius, mit der sich der Autor in einem Brief an Pompeius und einem weiteren an Atticus vergleicht,825 bildet zusammen mit Scipio das Zentrum des Dialogs. Auf ihre Freundschaft, die bereits vor der Entstehung des Werkes als Musterbeispiel einer amicitia galt, wird bewusst angespielt. Wie bei Scipio handelt es sich bei ihm um einen Römer, der neben politischen Erfolgen auch ein Interesse an geistigen Studien besitzt. Gegenüber der Philosophie lässt sich dabei eine ähnlich zwiespältige Haltung konstatieren, wie sie Antonius in De oratore vertritt. Sie erweist sich aber nicht als Hindernis des Diskurses, sondern wirkt vielmehr ordnend und katalysatorisch, indem das Gespräch über die Dop-

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Cic. rep. 2,18. Vgl. Sauer 2013, S. 188. Cic. rep. 6,12. Cic. Att. 2,19 = 39 Sh. B.,5; fam. 5,7 = 3,3 Sh. B.,3.

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pelsonne dadurch schneller auf die res publica gelenkt wird. Laelius tritt betont selbstbewusst auf und verwickelt Scipio in sokratische Wechselgespräche, in denen er teilweise selbst durch Fragen Sokrates imitiert oder von einem als Sokrates auftretenden Scipio ausgefragt wird. Seine Beiträge sind für den Ablauf des Gesprächs richtungsweisend. Als werkinterner Rezipient trägt er Haltungen und Erwartungen vor, die sich vom Leser des Werkes erwarten lassen, wie Powell und Sauer deutlich gemacht haben. Als römischer Sokrates muss eine rein theoretische Beschäftigung ihm gegenüber gerechtfertigt werden, und auf seine Initiative hin wird sie mit Blick auf das Gemeinwesen beendet. Durch den pragmatisch orientierten Charakter des Laelius erhält das Personengefüge mehr Diversität, ohne dass dabei der politische Grundkonsens der verschiedenen Persönlichkeiten hinterfragt wird. Die Diskursgemeinschaft scheint von diesem Haltungsunterschied zu profitieren. Das Umfeld, in dem Cicero den Beginn der politischen Philosophie römischer Prägung entstehen lässt, scheint dadurch nicht von der Einzelperson des Scipio Aemilianus dominiert zu werden. Die römische Philosophie erscheint folglich nicht als das Produkt eines Individuums, sondern eines den Normen der res publica verpflichteten Kollektivs.

2.1.3 L. Furius Philus a)

Historische Persönlichkeit

Über die historische Persönlichkeit des L. Furius Philus lassen sich aufgrund der spärlichen Quellenlage nur wenige Aussagen machen. Weder zu seinem Geburtsund Todesjahr noch zu den niedrigen Stufen der Ämterlaufbahn finden sich Hinweise. Erst sein Konsulat zusammen mit Sextus Atilius Serranus im Jahr 136 ist gut bezeugt, was den vorsichtigen Schluss zulässt, dass er vor dem Jahr 179 geboren wurde.826 Da er im Laelius zu den Altersgenossen des Laelius, Scipio, Sp. Mummius und Publius Rupilius gezählt wird, ist ein Zeitpunkt zwischen 190 und 179 wahrscheinlich, vorausgesetzt, unserem Autor ist keine chronologische Ungenauigkeit unterlaufen.827 Nach seiner Amtszeit als Konsul verwaltete er die von einem Aufstand der Numantier bedrohte Provinz Spanien, wo er in Konflikt mit seinen Legaten Q. Caecilius Metellus Macedonicus und Q. Pompeius geriet.828 Nach dem Ausbleiben militärischer Erfolge und gescheiterten Verhandlungen lieferte er C. Hostilius Mancinus an die Aufständischen aus. 829 Als Staatsmann scheint er im Gegensatz zu Scipio und Laelius weder bedeutende militärischen Siege noch damit verbundene gloria erreicht zu haben.

826 827 828 829

Vgl. Münzer 1910, Sp. 360; MRR 1, S. 486. Cic. Lael. 101. Vgl. Münzer 1910, Sp. 360. Vgl. Elvers 1998, Sp. 717.

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Eine Gemeinsamkeit mit ihnen bestand ohne Zweifel darin, dass auch er Gefallen an Literatur fand. In Ciceros Verteidigungsrede Pro Archia poeta erscheint Philus als historisches Beispiel für einen Römer, der sein Talent durch wissenschaftliche Bildung (ratio quaedam conformatioque doctrinae) ergänzt habe.830 Seine Beschäftigung mit Literatur (litteris adiuverentur) hatte, wie die des Scipio, Laelius und Cato, für unseren Autor durch die Verbindung praktischer Politik und geistiger Interessen offensichtlich einen mustergültigen Charakter, der sich für die Verteidigung des angeklagten griechischen Dichters instrumentalisieren ließ. Darüber, wie sich dieses geistige Interesse genau artikulierte, lassen sich aufgrund der Quellenlage nur wenige Aussagen treffen, es liegt jedoch nahe, dass es sich dabei vorrangig um die Lektüre von Dichtung handelte. Schon vor 159 lassen sich Beziehungen zum Dichter Terenz nachweisen.831 Im Brutus wird seine latinitas gelobt (perbene Latine loqui putabatur) und von seiner literarischen Bildung abgeleitet, in der er Zeitgenossen übertroffen habe (litteratiusque quam ceteri), doch wird er von Cicero nicht, wie Scipio oder Laelius, zu den großen Rednern seiner Generation gezählt.832 Mit diesen verbindet ihn jedoch das gemeinsame Erlebnis der Philosophengesandtschaft in Rom von 155833, auf das der Dialog vor allem im dritten Buch anspielt. b)

Freundschaft zu Scipio und Laelius – humanes Auftreten

Darüber hinaus verweist seine Feindschaft zu Q. Caecilius Metellus Macedonicus und Q. Pompeius darauf, dass es auch politische Übereinstimmungen mit den beiden anderen Hauptrednern gegeben haben dürfte. 834 Während die Freundschaft von Scipio und Laelius schon Jahre vor dem Staatswerk als musterhaft wahrgenommen wurde, ist die historische Zugehörigkeit von Philus zu diesem Kreis – wie oben bereits erwähnt – nicht eindeutig belegt. In De re publica wird jedoch gleich zu Beginn eine enge Verbundenheit zwischen dem Hauptredner und ihm durch den Akt der Begrüßung hervorgehoben, indem Scipio ihn „aufs freundlichste bei der Hand“ fasst (amicissime apprehendit) und ihn neben sich Platz nehmen lässt (in lecto suo collocavit). 835 Der Figur wird dadurch ohne Zweifel ein Vorrang gegenüber den anderen Gästen zuteil, der ihn zum dritten Mann der Trias emporhebt. Die ihm von Scipio entgegengebrachte Zuneigung erwidert die Figur durch ein dezidiert humanes Auftreten, das sich in seiner Befürchtung äußert, durch sein Erscheinen das Gespräch gestört zu haben (Num sermonem vestrum aliquem

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Cic. Arch. 15f. Vgl. Münzer 1910, Sp. 360. Cic. Brut. 108. Vgl. Cic. de orat. 2,154f. So etwa: Münzer 1910, Sp. 360. Cic. rep. 1,17.

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diremit noster interventus?).836 Aus Rücksicht auf die Neuankömmlinge möchte er das gerade laufende Gespräch weiterführen und berichtet Laelius vom bisherigen Stand. 837 Nachdem von jenem ein Themenwechsel herbeigerufen wurde, freundet sich Philus schnell auch mit dem neuen Untersuchungsgegenstand an und äußert dabei nicht ohne Zuversicht die hohe Erwartung an Scipios Rede, dass sie das bisher von den Griechen dazu geschriebene auch rhetorisch (uberiore fore […] quam illa quae a Graecis nobis scripta sunt omnia) übertreffen werde.838 c)

Philus als Vertreter der vita contemplativa und advocatus diaboli

Seine Bildung wird im Dialog durch ein von wissenschaftlicher Neugierde geprägtes Auftreten gespiegelt, das dem der Laelius-Figur gegenübergestellt zu sein scheint. Der Kontrast zwischen beiden zeigt sich bereits im einleitenden Gespräch über die Doppelsonne: Während Laelius als Vertreter des römisch pragmatischen Denkens eine ablehnende Haltung zum Thema zeigt,839 plädiert Philus dafür, das Gesprächsthema beizubehalten und es noch sorgfältiger (accuratius) fortzuführen, damit es den Ohren der Anwesenden angemessen sei (dignum […] horum auribus).840 Auf Laelius’ humorvolle Frage, ob schon alles im Gemeinwesen hinreichend untersucht sei, so dass man sich mit dem Himmel beschäftigen könne, entgegnet Philus: 841 An tu ad domos nostras non censes pertinere, scire quid agatur et quid fiat domi – quae non ea est quam parietes nostri cingunt, sed mundus hic totus, quod domicilium quamque patriam di nobis communem secum dederunt – cum praesertim, si haec ignoremus, multa nobis et magna ignoranda sint? Ac me quidem, ut hercule etiam te ipsum, Laeli, omnesque avidos sapientiae, cognitio ipsa rerum consideratioque delectat. Meinst du etwa, es bezieht sich nicht auf unsere Häuser zu wissen, was getrieben wird und was geschieht daheim? Das heißt aber nicht das, was unsere Wände umschließen, sondern dieses ganze All, das als Wohnsitz und das als Heimat uns gemeinsam mit sich die Götter gaben, zumal da, soweit wir dies nicht wissen, vieles Große uns verschlossen bleibt. Und mich wenigstens, beim Herkules, wie auch dich, Laelius, und alle, die nach Weisheit begierig, erfreut die Kenntnis der Dinge und ihre Betrachtung an sich.

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Cic. rep. 1,17. Ebd., 1,19. Ebd., 1,37; zur Bedeutung der Rhetorik an dieser Stelle vgl. Fox 2007, S. 93. Zum pragmatischen Auftreten des Laelius s. oben S. 169–173. Cic. rep. 1,19. Ebd.

De re publica

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Als Vertreter der vita contemplativa macht Philus auf den natürlichen Zusammenhang zwischen jenen wissenschaftlichen Studien und staatlichen Angelegenheiten aufmerksam. Er entlarvt dabei Laelius’ Ironie, der selbst nicht weniger von der cognitio ipsa rerum consideratioque erfreut werde.842 Durch die stoische Vorstellung der Welt als Wohnsitz und Heimat (domicilium quamque patriam) der Götter und Menschen wird dabei, wie Müller herausstellt, die „Unhaltbarkeit einer extrem ablehnenden Position“ verdeutlicht.843 Philus bringt im Folgenden mit der sphaera des Archimedes ein Beispiel ins Gespräch, dass jenen Zusammenhang nochmals verdeutlicht. 844 Insgesamt lässt sich feststellen, dass seine interessierte Haltung in dem Gespräch über die Doppelsonne jener des Laelius diametral entgegengesetzt ist, was sich damit erklären lässt, dass beide Figuren unterschiedliche Leserhaltungen vertreten.845 Dass es aber trotz der unterschiedlichen Haltung eine beide Figuren verbindende Grundüberzeugung gibt, zeigt sich in der Rolle des Philus als advocatus diaboli. Diese wird durch seine Forderung nach einer noch sorgfältigeren Untersuchung (quaestio diligentius tractaretur) der iustitia am Ende des zweiten Buches eingeleitet, die einer Lacuna von 154 Teubnerzeilen zum Opfer fiel.846 Noch bevor er in der Manier des Karneades seine Rede gegen die Gerechtigkeit beginnt, zeigt sich ein deutliches Unbehagen, indem er die von ihm verlangte Rede ironisch als praeclara causa und seine Verteidigerrolle als improbitatis patrocinium bezeichnet.847 Der Grund für seine mit Ironie vorgetragenen Bedenken wird daraufhin nicht von ihm selbst, sondern von Laelius artikuliert:848 Atqui id tibi […] verendum est, si ea dixeris quae contra iustitiam dici solent, ne sic etiam sentire videare; cum et ipse sis quasi unicum exemplum antiquae probitatis et fidei, neque sit ignota consuetudo tua, contrarias in partes disserendi, quod ita facillime verum inveniri putes. Freilich […] musst du doch fürchten, wenn du das sagst, was man gegen die Gerechtigkeit zu sagen pflegt, dass du auch so zu denken scheinst! Da du ja erstens selber ein fast einzigartiges Beispiel der alten Rechtlichkeit und Verlässlichkeit bist und zweitens auch deine Gewohnheit nicht unbekannt ist, nach beiden Seiten die Erörterung zu führen, weil du meinst, dass so am leichtesten die Wahrheit gefunden werden kann.

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Vgl. Müller 1965, S. 149f. Ebd., S. 150. Cic. rep. 1,21f. So Sauer, der in der Philus-Figur den Leser mit „philosophieaffiner Rezeptionshaltung“ repräsentiert sieht: Sauer 2013, S. 187. Aug. civ. 2,21; 13–19. Cic. rep. 3,8 (7). Ebd.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

Das Unbehagen liegt demnach in dem Konflikt, der sich aus der heiklen karneadischen Position und der Persönlichkeit des Philus ergibt, der als nahezu einzigartiges Beispiel der alten Rechtlichkeit und Verlässlichkeit (unicum exemplum antiquae probitatis et fidei) nun gegen seine innere Haltung sprechen muss.849 Dabei schreibt Laelius ihm das in utramque partem disserere als eine ihm vertraute Methode (consuetudo tua) der Wahrheitsfindung zu, wodurch eine Nähe zwischen der Dialogfigur und der akademischen Philosophie des Karneades evoziert wird.850 Erst nachdem dem Leser mittels der Laelius-Figur signalisiert wurde, dass die persönliche Integrität des Philus über jene Zweifel notwendig erhaben sei, stimmt Philus dem Experiment zu: 851 Heia vero […] geram morem vobis et me oblinam sciens; quod quoniam qui aurum quaerunt non putant sibi recusandum, nos cum iustitiam quaeramus, rem multo omni auro cariorem, nullam profectio molestiam fugere debemus. Atque utinam, quemadmodum oratione sum usurus aliena, sic mihi ore uti liceret alieno! Nunc ea dicenda sunt Lucio Furio Philo, quae Carneades, Graecus homo et consecutus quod commodum esset verbis [***]. Also gut, will ich euch den Willen tun und mich wissend beschmutzen; da ja auch die, die nach Gold aus sind, glauben, das nicht verweigern zu dürfen, dürfen wir, da wir die Gerechtigkeit suchen, eine Sache, die viel kostbarer ist als alles Gold, in der Tat keine Misslichkeit scheuen. Und dürfte ich doch, wie ich eine fremde Rede anführen will, auch einen fremden Mund gebrauchen! Jetzt muss also Lucius Furius Philus das sagen, was Karneades, ein Grieche und gewöhnt, was gerade passe, in Worten

Die Antwort des Philus zeigt ein ähnliches Unbehagen, wie Crassus es in De oratore verspürt. In beiden Fällen resultiert es aus dem Drängen der Gesprächspartner auf einen Vortrag und ist durch den kulturellen Kontext bedingt: Indem er darauf aufmerksam macht, dass es sich um die Position des Griechen Karneades handelt, wird die innere Distanz deutlich, die er als Römer Lucius Furius Philus bei der imitatio des Graecus homo verspürt, um dessen beschleunigte

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Vgl. Büchner 1984, S. 302. Nach Hösle liegt hierin die Ursache, dass Cicero keine existentiell packende Verteidigung des Machtpositivismus gelingt wie Platon in Gorgias oder der Politeia; stattdessen münde die Verteidigung des Philus in Kritik am römischen Imperialismus, der von den Anwesenden als Inbegriff der Gerechtigkeit verstanden wird; s. Hösle 2006, S. 366f.; zum argumentativen Aufbau der Philusrede und ihrer Beweisziele: Ferrary 1977, S. 128–153; Büchner 1984, S. 283–289; Hahm 1999, S. 168–179; Horn 2007, S. 113f. Da Karneades selbst keine Schriften verfasste, vermutet Ferrary ein Werk von dessen Schüler Kleitomachos als Vorbild für Philus’ Vortrag: Ferrary 1977, bes. S. 154f. u. 1988, S. 351–363. Cic. rep. 3,8 (7).

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Ausweisung sich einst kein geringerer als Cato bemüht hatte.852 Das Unterfangen gleicht somit von Anfang an einem Tabubruch. Das Wechselgespräch zwischen Philus und Laelius zeigt dabei, wie Cicero die karneadische Diskussion für die römischen Sprecher als einen Akt der Überwindung und zugleich als Gründungsmoment römischen Philosophierens illustriert. Dass er die Position letztlich übernimmt und die Diskussion um die Gerechtigkeit nach zwei Seiten geführt wird, verrät einen skeptizistischen Ansatz des Autors, der weder durch die Rede des Philus noch durch die des Laelius in den Dialog implementiert wird, sondern durch die dialogischen Inszenierung zur Geltung kommt.853 Dass Philus in der Eröffnung seiner weitestgehend verloren gegangenen Rede die aus der Politeia Platons stammende Goldmetapher (rem multo auro cariorem) rezipiert, spiegelt darüber hinaus die Absicht des Autors, mit seinem Staatswerk nicht nur an den karneadischen, sondern auch an jenen älteren platonischen Gerechtigkeitsdiskurs anzuschließen.854 Dieser wird im Rahmen des dritten Buchs durch die drei zentralen Dialogfiguren Scipio, Laelius und Philus erneut in die römische Welt situiert, wo er – fast dreißig Jahre nach der athenischen Gesandtschaft – ohne Anwesenheit eines Graecus homo von der römischen Elite und in lateinischer Sprache geführt wird. Diese zeigt sich nun – zumindest in der Fiktion Ciceros – mit den argumentativen Techniken der Philosophenschulen vertraut und nimmt sich des Diskurses über politische Gerechtigkeit mit Selbstbewusstsein an. d)

Zusammenfassung

Als dritter Hauptredner hat Philus den drittgrößten Anteil an dem Gespräch. Im überlieferten Text tritt er zwar nicht – wie Scipio und Laelius - in energischen sokratischen Wechselgesprächen auf, spätestens bei seinem Auftritt als advocatus diaboli im dritten Buch lässt sich jedoch seine ganz zentrale Rolle erkennen. In ihrer Rolle als einer der drei maiores illustriert die Figur, wie jene die sokratische Gelehrsamkeit (a Socrate adverticiam doctrinam) nicht nur in Rom ansiedeln, sondern sie auch mit der „heimischen Sitte der Vorfahren“ verbunden haben (ad domesticum maiorumque morem […] adhibuerunt), wie der Autor zu Beginn des dritten Buches nochmals hervorhebt.855 In der Charakterisierung seiner Person als gebildeter und aufgeschlossener Römer, der an der Sinnhaftigkeit der iustitia und an der individuellen Verpflichtung auf die res publica keinen Zweifel hegt, entpuppt er sich wie Laelius und Scipio als Archetyp eines römischen Philosophen zur Errichtung eines Diskurses, wie er dem 852 853

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Vgl. Hahm 1999, S. 181. Vgl. Hösle 2006, S. 97. Gildenhard sieht hierin zurecht einen Beleg für die Vielfältigkeit Ciceros: Gildenhard 2013, S. 237; zum aristokratischen Charakter der Untersuchung s. auch: Gotter 1996b, S. 549f. Plat. rep. 1,336e; zur Kontextualisierung des Gerechtigkeitsdiskurses s. Hahm 1999, S. 181–183. Cic. rep. 3,5.

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Autor vorschwebte. Als Konsular, woran eine Anspielung auf die MancinusAffäre erinnert,856 und Vertreter der karneadischen Tradition, wodurch er sich von den mehrheitlich mit Panaitios in Verbindung stehenden Gesprächspartnern abhebt, verweist die Dialogfigur auf von Cicero geforderte die Synthese von griechischer Theorie und römischer Praxis, die letztlich stets auf ihn hinzudeuten scheint.

2.2

Die jüngeren Gesprächsteilnehmer

Mit Tubero, Rutilius, Scaevola und Fannius weist der Dialog De re publica vier Personen auf, die der Autor bewusst als junge Gesprächsteilnehmer einbaute, wie aus einem Brief des Jahres 54 hervorgeht (adiunxi adulescentes Q. Tuberonem, P. Rutilium, duo Laeli generos, Scaevolam et Fannium).857 Die vier Dialogfiguren bilden als adulescentes eine Gruppe von Gesprächsteilnehmern, die mit Ausnahme des Tubero keinen maßgeblichen Anteil an der Konversation innehaben. Die Briefstelle legt darüber hinaus die Vermutung nahe, dass sie während der Arbeit an dem Werk eingeführt wurden und möglicherweise ursprünglich nicht geplant waren. Des Weiteren lässt sich vorsichtig vermuten, dass sie auch in den nicht überlieferten Teilen keinen bestimmenden Anteil am Gespräch hatten. Im erhaltenen Text bleiben Rutilius, Fannius und Scaevola fast völlig stumm, während Tubero zumindest zu Beginn des ersten Buchs aktiv am Gespräch teilnimmt und damit eine exponiertere Rolle innerhalb der Gruppe einnimmt. Bei Scipios Begrüßung von Fannius und Scaevola werden drei Eigenschaften hervorgehoben, durch die ihre Teilnahme am Gesprächskreis gerechtfertigt wird:858 […] salutavit et eos, qui una venerant, Spurium Mummium, quem in primis diligebat, et C. Fannium et Quintum Scaevolam, generos Laeli, doctos adulescentes, iam aetate quaestorios. […] und er begrüßt die, die mit ihm zusammen gekommen waren, Spurius Mummius, den er vor anderen liebte, und Gaius Fannius und Quintus Scaevola, die Schwiegersöhne des Laelius, gebildete Jünglinge, schon im Quaestorenalter.

Zuerst wird die Verwandtschaft von Fannius und Scaevola mit einem der Hauptredner genannt (generi Laeli), der mit dem Gastgeber Scipio, wie gezeigt, eng befreundet ist. Anschließend werden sie als docti adulescentes bezeichnet, woraus ersichtlich wird, dass beide bereits über ein gewisses Maß an Vorbildung verfügen. Das dritte Charakteristikum verrät mehr über das Alter der beiden 856 857 858

Cic. rep. 3,28. Cic. Att. 4,16 = 89 Sh. B.,2. Cic. rep. 1,18.

De re publica

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Männer: So kann man sie durch den Verweis auf das Quaestorenalter (iam in aetate quaestorios) auf ungefähr Ende 20 bzw. Anfang 30 schätzen.859 Sie befinden sich also in jenem Alter, in welchem für den jungen Römer aus der Aristokratie der Einstieg in das politische Leben der res publica erfolgte. Auch der dritte im Bunde, Tubero, der Sohn von Scipios Schwester, erfüllt sicher die beiden ersten Kriterien.860 Bis auf Rutilius sind alle Vertreter der jüngeren Generation entweder mit Scipio oder Laelius verwandt, alle vier teilen die Gemeinsamkeit, Schüler des Panaitios gewesen zu sein.861

2.2.1 Q. Aelius Tubero a)

Historische Persönlichkeit

Trotz der Bekanntheit der Persönlichkeit des Q. Aelius Tubero als Beispiel stoischer Strenge in der Antike, verfügen wir hinsichtlich seiner Biographie nur über sehr geringe Kenntnisse.862 Zum Geburtsjahr des Tubero lässt sich nur die vage Vermutung äußern, dass es, wie das des Altersgenossen Rutilius, vor 154 gewesen sein wird.863 Im Jahr 129 hatte er das Volkstribunat inne, unter dem er sich gegen seinen Onkel Scipio gerichtlich durchsetzte, als dieser aufgrund seiner Mitgliedschaft im Augurenkollegium eine Freistellung von Gerichtsprozessen bewirken wollte. 864 Das Vorgehen gegen seinen eigenen Verwandten wertete Cicero im Brutus als beispielhaft für seine strenge und im Einklang mit der stoischen Lehre stehende Lebensführung (vita severus et congruens cum ea disciplina quam colebat).865 Diese Attitüde und sein mangelhafter Redestil (oratione durus, incultus, horridus) werden dort als Gründe genannt, warum ihm trotz seiner prominenten Verwandtschaft die höchsten Ämter versagt blieben (honoribus maiorum respondere non potuit).866 Als letzte sichere Notiz seines

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Im zweiten vorchristlichen Jahrhundert wurde ein zehnjähriger Militärdienst für das Amt vorausgesetzt, so dass ein Mindestalter von 27 angenommen werden kann. Erst ab 82 wurde unter Sulla durch die Lex Cornelia de magistratibus das vollendete 30. Lebensjahr festgesetzt. S. hierzu etwa: Wesener 1963, Sp. 808. Cic. rep. 1,14. Vgl. Strasburger 1966, S. 66. Als Beispiel vorbildlicher Schlichtheit war noch in der Kaiserzeit eine Episode seines Lebens geläufig, wonach er während eines Kultmahls demonstrativ ein einfaches Tongeschirr vorgezogen habe: Sen. epist. 15,95,72f.; 16,98,13. Vgl. Büchner 1984, S. 34f. Cic. Brut. 117; vgl. Klebs 1893, Sp. 535. Cic. Brut. 117. Ein ähnliches Urteil gibt Cicero auch in der Rede für Murena, in der er sich mit seinem stoischen Ankläger M. Porcius Cato auseinandersetzt: Cic. Mur. 75f.; vgl. Klebs 1893, Sp. 535f.; Büchner 1984, S. 35.

184

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Lebens ist eine erfolglose Bewerbung für die Praetur angeführt, die er aus denselben Gründen nicht erlangen konnte.867 Obwohl er hinsichtlich seiner politischen Laufbahn nur mäßigen Erfolg hatte, würdigt Cicero ihn für seine Gegnerschaft zu Tiberius Gracchus, zu dessen Zielscheibe er in einer dem Arpinaten bekannten Rede wurde (in primis Gracco molesto, indicat Gracchi in eum oratio), als gesinnungstreuen und mutigen Bürger (constans civis et fortis).868 Sein strenger Lebenswandel und seine antigracchische Position prädestinierten Tubero aus Sicht des Autors für die Rolle eines Teilnehmers bei einem Gespräch über das Gemeinwesen. Seine Anwesenheit innerhalb der philosophisch interessierten Gesprächsrunde schien dem zeitgenössischen Leser umso glaubwürdiger, da die historische Persönlichkeit mit dem stoischen Philosophen Panaitios in Verbindung stand.869 Dass er in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis zu jenem stand, wie ein Passus in De officiis nahezulegen scheint (discipulus Panaeti), ist möglicherweise eine posthume Übertreibung. 870 Dagegen wird durch Cicero bezeugt, dass Panaitios ihm ein Werk De dolore patiendo und eine epistula widmete, die der Arpinate wohl gut kannte.871 Aufgrund der Verbindung seiner Sittenstrenge mit der stoischen Philosophie, die ihm Cicero zuschreibt (ea disciplina quam colebat), fungiert er für ihn bereits in Pro Murena als Prototyp eines römischen Stoikers, dessen politische Gesinnung zwar gelobt wird, dessen Rücksichtslosigkeit und mangelnde Rhetorik jedoch einer Kritik unterzogen werden. Seine Person steht dabei für einen ethischen Zugang zur Philosophie der Stoa, der zum Ausschluss aus dem politischen Ringen um Ämter führt.872 Zusammen mit den beiden anderen Gesprächspartnern Rutilius und Fannius wird er im Brutus als Musterbeispiel eines Redners genannt, dessen eloquentia zu sehr vom wissenschaftlichen Stil der Stoa geprägt sei.873 Im Vergleich zu seinen beiden Altersgenossen bildet er sogar die Spitze der Klimax schlechter Rhetorik, die man bei ihm überhaupt nicht erkennen könne (nullam video fuisse). Wie Scaevola scheint er sich allerdings durch Rechtskenntnisse ausgezeichnet zu haben (nec vero scientia iuris […] defuit). 874 Unabhängig von der sich stellenden Frage, inwieweit die historische Persönlichkeit Tubero tatsächlich ein philosophisches Interesse an der Stoa hatte oder das Verhältnis zu Panaitios eher pragmatischer Natur war, lässt sich konstatieren, dass Cicero sich für junge Römer entscheidet, 867 868

869

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Cic. Mur. 75f.; vgl. Klebs 1893, Sp. 535f.; Büchner 1984, S. 35. Cic. Brut. 117. Im Laelius lässt Cicero den Hauptredner Scipio Tubero als vorbildliches Beispiel würdigen, da er seine amicitia zu Tiberius Gracchus im richtigen Moment beendet habe: Cic. Lael. 37. Cic. de orat. 3,87; Pomp. 1,2,2,40. Die Verbindung wird auch bei Athenaios herausgestellt, wie bereits gezeigt wurde: s. oben 114, Anm. 471. Cic. off. 3,63; vgl. Jocelyn 1977, S. 334 u. 366. Cic. ac. 2,135; fin. 4,23; Tusc. 4,4. Vgl. Vesperini 2012, S. 246f. Cic. Brut. 118. Gell. 1,22,7.

De re publica

185

die in einem persönlichen Verhältnis zu dem führenden stoischen Philosophen der damaligen Zeit standen. Die ihm vorliegende Information, wonach Panaitios in Rom Gespräche mit Mitgliedern der römischen Führungsschicht geführt habe, scheint ihn im Fall des Tubero veranlasst zu haben, anhand der Dialogfigur ein – wie zu zeigen sein wird – Porträt zu entwerfen, das nicht nur die Dramaturgie des Dialogs mitbestimmt, sondern auch ciceronische Grundintentionen zum Ausdruck bringt. b)

Tubero als stoisch gebildeter Römer

Gleich zu Beginn des Dialogs wird deutlich, dass es sich bei der Dialogfigur Tubero um einen besonders gebildeten Zeitgenossen handelt. Nachdem der Sohn von Scipios Schwester als erster Gast erschienen war (ad eum primus sororis filius venit),875 beginnt das Gespräch sogleich mit direktem Bezug auf Tuberos Studien:876 quid tu, inquit, tam mane, Tubero? Dabant enim hae feriae tibi opportunam sane facultatem ad explicandas tuas litteras. Tum ille: Mihi vero omne tempus est ad meos libros vacuum; numquam enim sunt illi occupati. Te autem permagnum est nancisci otiosum, hoc praesertim motu rei publicae. (Scipio) „Was kommst du so früh am Morgen, Tubero? Gaben dir doch diese Ferien erwünschte Gelegenheit, deine Schriften aufzurollen.“ Da sagte jener: (Tubero) „Mir ist jede Zeit frei für meine Bücher; denn sie sind nie beschäftigt; dich aber einmal in Muße anzutreffen, ist etwas sehr Großes, zumal bei dieser Erregung des Staates!“

Scipio begrüßt seinen Neffen zunächst mit urbanem Witz, den jener mit dem Verweis auf seine im Gegensatz zu seinem Onkel nicht beschäftigten Bücher (numquam […] illi) schlagfertig erwidert.877 Der humorvolle Einstieg zeigt Tubero als Römer, der das otium primär für die Beschäftigung mit Literatur nutzt, wobei noch nicht deutlich wird, ob es sich bei meos libros um das Verfassen eigener Werke oder nur der Lektüre anderer handelt. Indem die Tubero-Figur die Besonderheit der Situation herausstellt, seinen Onkel im otium anzutreffen, und eine Begegnung mit ihm dem Studium seiner Bücher vorzieht, ähnelt sein Auftritt jenem der literarisch gebildeten Römer Caesar Strabo und Catulus im zweiten Buch von De oratore. Mit dem Hinweis auf die Lage des Staates (motu rei publicae) nimmt sie Bezug auf das dramatische Datum des Dialogs, welche durch die scharfen innenpolitischen Auseinandersetzungen um die gracchischen

875 876 877

Cic. rep. 1,14. Ebd. Vgl. Büchner 1984, S. 95.

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Reformen geprägt war, wodurch die Zerbrechlichkeit und die Besonderheit der Gesprächssituation hervorgehoben werden.878 Nachdem Tubero seinen Onkel zur Entspannung des Geistes ermahnt hat (animum quoque relaxes oportet), signalisiert dieser ihm seine Bereitschaft für ein gelehrtes Gespräch (ut […] de doctrinae studiis admoneamur).879 Indem er als Gesprächsthema die Erscheinung der Doppelsonne vorschlägt, nutzt Tubero diese Gelegenheit, das Gespräch in eine naturphilosophische Richtung zu lenken.880 Als Scipio erklärt, bei philosophischen Studien Sokrates den Vorzug vor dem persönlichen Freund beider, Panaitios, zu geben, macht sein Neffe auf die Problematik der Sokratestradition aufmerksam:881 Nescio, Africane, cur ita memoriae proditum sit, Socratem omnem istam disputationem reiecisse, et tantum de vita et de moribus solitum esse quaerere. Quem enim auctorem de illo locupletiorem Platone laudare possumus? Cuius in libris multis locis ita loquitur ut etiam cum de moribus, de virtutibus, denique de re publica disputet, numeros tamen et geometriam et harmoniam studeat Pythagorae more coniungere. Ich verstehe nicht, Africanus, warum überliefert ist, dass Sokrates diese ganze Erörterung verschmäht habe und nur über Leben und Sitten der Menschen zu forschen gewohnt gewesen sei. Wen können wir denn als reicheren Gewährsmann über ihn als Platon zitieren? An vielen Stellen in seinen Büchern spricht Sokrates so, dass er, auch wenn er über die Sitten, die Tugenden, endlich über den Staat handelt, doch Zahlen, Geometrie und Harmonie nach Sitten der Pythagoreer damit zu verbinden sich bemüht.“

Die Antwort weist die Dialogfigur als literarisch gebildet aus, da sie nicht nur mit dem Problem unterschiedlicher Gewährsmänner für Sokrates vertraut ist, sondern auch einen scheinbaren Widerspruch in den Werken Platons nennen kann, wonach Ethik und die angeblich gemiedenen Naturwissenschaften in Verbindung stünden.882 Wie gezeigt wurde, stellt die Diskussion um das Sokratesbild Platons am Dialogbeginn eine Anspielung auf das Verhältnis zwischen der Dialogfigur Scipio und dem Autor Cicero dar.883 Das philosophische Profil der Dialogfigur, von dessen philosophischen Studien die Hauptfigur weiß, zeichnet sich jedoch nicht nur durch Kenntnisse der griechischen Literatur zu Sokrates aus, sondern durch seinen offenen Umgang, der die Figur in einen gewissen Kontrast zu Laelius stellt. Durch seine bloße Anwesenheit wird der Hauptredner an die Beschäftigung mit der Gelehrsamkeit erinnert (ut […] de doctrina studiis 878 879 880 881 882 883

Vgl. Büchner 1984, S. 96. Cic. rep. 1,14. Ebd., 1,15. Ebd. S. hierzu: Büchner 1984, S. 97. Zur Diskussion des Sokratesbildes s. oben S. 145–147.

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admoneamur), wodurch das Gespräch in die vom Autor gewünschte Richtung gelenkt wird.884 c)

Tubero als Zuhörer und vorbildlicher adulescens

Nachdem Philus die sphaera des Archimedes in das Gespräch eingebracht und Scipio ein historisches Beispiel von deren Nutzen für den römischen Staat angeführt hat, zeigt sich Tubero als aufmerksamer Zuhörer, der das Gespräch der beiden Hauptredner in eigenen Worten zusammenfasst.885 Ein begonnener Satz vor dem Abbruch des überlieferten Textes lässt erkennen, wie er Scipio auf die Auflösung des Trugschlusses aufmerksam macht, wonach die vita contemplativa keinen Nutzen bringen würde (videsne Africane, quod paulo ante secus tibi videbatur, doc*).886 Das Agieren der Dialogfigur als aufmerksamer Zuhörer zeigt eine weitere Wortmeldung am Ende der Scipiorede im zweiten Buch. Nachdem sie als erster das Schweigen durchbrochen und ihre Kritik angekündigt hat, richtet sie folgende Worte an den Hauptredner:887 Laudavisse mihi videris nostram rem publicam, cum ex te non de nostra, sed de omni re publica quaesisset Laelius; nec tamen didici ex oratione tua istam ipsam rem publicam quam laudas, qua disciplina, quibus moribus aut legibus constituere vel conservare possimus. Doch scheinst du mir unser Gemeinwesen gelobt zu haben, obwohl Laelius dich nicht nach unserem, sondern nach jedem Gemeinwesen gefragt hatte. Dabei aber habe ich doch nicht aus deiner Rede gelernt, durch welche Ordnung, welche Sitten und Gesetze wir ebendieses Gemeinwesen, das du lobst, errichten oder bewahren können.

Mit dem ersten Kritikpunkt, dass Scipio das eigene Gemeinwesen gelobt habe (laudavisse mihi videris) anstatt allgemein über jedwede Form von Gemeinwesen zu sprechen (de omni re publica), unterliegt die Tubero-Figur einem Verständnisfehler, indem sie, wie Büchner hervorhebt, die von Scipio geleistete „Ideisierung“ des römischen Staats als Idealisierung fehlinterpretiert. 888 Der zweite Kritikpunkt betont seine Rolle als interessierter Schüler, indem er bemängelt, noch nichts praktisch Relevantes aus der Rede gelernt zu haben (nec tamen didici), das sich auf die Errichtung oder Erhaltung (constituere vel conservare) des Staates beziehe. Die Antwort auf die beiden Punkte bereitet Scipio im Fol884 885 886 887 888

Cic. rep. 1,15. Ebd., 1,23. Ebd., 1,26; vgl. Müller 1965, S. 150. Cic. rep. 2,64. Büchner 1984, S. 251.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

genden keine Schwierigkeiten, er klärt das Missverständnis des ersten auf und verweist hinsichtlich des zweiten auf ein späteres Gespräch.889 Die Zwischenbemerkung der Dialogfigur zeigt par excellence die doppelte Natur des Römers, der sich der Autor bedient: Während der erste Vorwurf nur von einem Gesprächspartner formuliert werden kann, der über dezidierte Kenntnisse in der griechischen Staatsphilosophie verfügt – diese schienen dem Leser der späten Republik durch Tuberos reale Verbindung zu Panaitios nicht abwegig –, zeigt ihn der zweite als vorbildlichen jungen Aristokraten, der vom erfahrenen und verdienten Staatsmann Scipio Rat für den Erhalt der res publica in der Zukunft erwartet. Die persönliche Verpflichtung der römischen Nobilität auf die römische Verfassung als historisch gewachsene und überlegene Form der Staatlichkeit steht dabei in keiner Weise zur Disposition. d)

Zusammenfassung

In ihrer Funktion als Vertreter einer neuen Generation von Politikern, die sich um den Erhalt der von den Vorfahren geerbten res publica bemühen werden, nimmt die Dialogfigur eine gewisse Vorreiterfunktion unter ihren Altersgenossen ein. Durch die Verwandtschaft mit Scipio kommt Tubero das Recht zu, diesem noch vor Rutilius, Scaevola und Fannius Fragen zu stellen. Wie seine Altersgenossen versucht er sich mithilfe von Vorschriften der ihm von Panaitios vermittelten stoischen Philosophie für die Ausübung seiner öffentlichen Pflichten zu stärken. Sein philosophisch gebildeter Hintergrund lenkt das Gespräch zunächst zur Diskussion über die Doppelsonne, von wo aus es durch Laelius schließlich auf die res publica umgeleitet wird. In der Funktion des nachfragenden jungen Zuhörers reflektiert er dabei einen Typus des zeitgenössischen Lesers, mit dem der Autor mittels der Hauptredner kommuniziert.

2.2.2 P. Rutilius Rufus a)

Historische Persönlichkeit

Rutilius’ Geburt wird auf den Zeitraum zwischen 154 und 158 datiert, so dass er zum Dialogzeitpunkt mindestens 25 Jahre alt gewesen sein müsste. 890 Seine politischen Anfänge lassen sich für uns ab dem Jahr 134 greifen, als er in der Funktion des tribunus militum im numantinischen Krieg unter Scipio diente.891 In der Folgezeit nahm er als Redner eine Anwaltstätigkeit an und scheiterte zur

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Cic. rep. 2,65f. Büchner vermutet, dass das Gespräch im vierten Buch stattgefunden hat: Büchner 1984, S. 252. Vgl. Suerbaum 2002, S. 443; Sumner 1973, S. 70.; Münzer 1914, Sp. 1269f. Vgl. ebd., Sp. 1270.

De re publica

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Zeit des C. Gracchus bei dem Versuch, das Volkstribunat zu erlangen.892 Trotz seines Rückschlags scheint er im Jahr 118 das Praetorenamt erreicht zu haben, da er sich zwei Jahre später für das Konsulat bewarb, wobei er jedoch M. Aemilius Scaurus unterlag. 893 Ab 109 nahm er am Krieg gegen Iugurtha teil, was ihm scheinbar bei der Überwindung der politischen Schlappe von 116 zugute kam.894 Bei seiner erneuten Bewerbung um das Konsulat für das Jahr von 105 setzte er sich schließlich gegen seinen Mitbewerber Q. Lutatius Catulus, der uns bereits als Gesprächspartner aus De oratore bekannt ist, durch.895 Im Konsulat reformierte er angesichts der außenpolitischen Bedrohung durch die Kimbern das römische Heer, wovon später Marius profitieren sollte. 896 Seine optimatische Gesinnung zeigt sich spätestens in seiner Unterstützung der Senatsaristokratie gegen die Politik des L. Appuleius Saturninus und C. Servilius Glaucia.897 Nachdem er den Prokonsul Q. Mucius Scaevola in die Provinz Asia begleitet hatte, wurde er aufgrund eines Konfliktes mit den dortigen publicani 92 vor einem Repetundengericht angeklagt und zu Unrecht schuldig gesprochen.898 Die Niederlage, die Cicero als prägenden Justizskandal empfunden hat, zwang ihn darauf ins Exil, wofür er die angeblich von ihm geplünderte Provinz Asia auswählte.899 Nach einem gescheiterten Mordversuch im Auftrag des Mithridates machte er um das Jahr 88 Smyrna zu seinem dauerhaften Wohnsitz, wo ihn 78 unser Autor besuchte. 900 Da er zum Dialogzeitpunkt von De natura deorum anscheinend noch lebte, dürfte er erst kurz darauf gestorben zu sein.901 Mit Rutilius lässt Cicero nicht nur einen optimatischen Politiker konsularischen Ranges zu Wort kommen, sondern auch einen kultivierten und für seine Zeit hochgebildeten Römer, der selbst mindestens zwei Werke publizierte: die lateinische Autobiographie De vita sua und ein auf Griechisch verfasstes Geschichtswerk, in dem sehr wahrscheinlich die Philosophengesandtschaft von 155 beschrieben wurde. Sie dürften für das Wissen unseres Autors über Rutilius von nicht weniger zentralem Charakter gewesen sein als sein persönlicher Kontakt im Jahr 78.902 Sein Geschichtswerk ist Cicero bekannt und dürfte zu seinen wich-

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Vgl. Münzer 1914, Sp. 1270f. Vgl. ebd., Sp. 1271; MRR 1, S. 527. Vgl. Münzer 1914, Sp. 1271f. Vgl. ebd., Sp. 1272. Vgl. ebd., Sp. 1272f. Vgl. ebd., Sp. 1273. Zur Auseinandersetzung zwischen Senat und Saturninus s. auch: Blösel 2015, S. 175–178. Vgl. Fantham 2004, S. 42–45; Münzer 1914, Sp. 1273–1275. Zur Datierung s. etwa: Fantham 2004, S. 43; Kallet-Marx 1990, S. 122 u. 139; ferner: Münzer 1914, Sp. 1274f. Vgl. Münzer 1914, 1275f. Cic. nat. deor. 3,80; vgl. Münzer 1914, Sp. 1276. Zum Werk mit entsprechenden Belegen in den Quellen s. Alesse 2012, S. 1818.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

tigsten Quellen für die Zeit des jüngeren Scipio gezählt haben.903 Im Proömium von De finibus 1 bezeichnet er seine Schriften aufgrund fehlender Gelehrsamkeit (doctrina mediocris) als scripta leviora, lobt aber ihren „Witz“ (ut urbanitas summa appareat).904 Neben seinen literarischen Aktivitäten trat er als Redner auf. Im Brutus heißt es bezüglich seiner rednerischen Qualitäten, dass er „große Hilfsbereitschaft und großen Fleiß“ besessen habe (multaque opera multaque industria Rutilius fuit) und er auch aufgrund seiner Rechtsberatung (magnum munus de iure respondi) beliebt war.905 Wie im Fall des Tubero verbindet Cicero auch die Persönlichkeit des Rutilius stark mit der des Stoikers Panaitios: der hochgebildete und in griechischer Literatur versierte Mann (doctus vir et Graecis litteris eruditus) sei prope perfectus in Stoicis.906 Seine Qualität als Redner wird in einen engen Zusammenhang mit seinem regen philosophischen Interesse an der Stoa gesetzt, wodurch er wie Tubero Beispielcharakter hat.907 Als „Hörer des Panaitios“ (Panaeti auditor) steht er wie die meisten Gesprächsteilnehmer in engem und offensichtlich auch brieflichem Kontakt zum damals führenden Stoiker, der zu dieser Zeit in Rom residierte.908 Ob aus seinem Kontakt mit dem stoischen Lehrer auch eine intensive Beschäftigung mit jener Philosophie mit sich brachte, lässt sich aufgrund der Quellenlage weder bestätigen noch ausschließen.909 Seine schriftstellerische Tätigkeit und die Wahl seines Exilorts sprechen jedoch für einen an geistigen Dingen interessierten und gebildeten Römer. b)

Rutilius als Gewährsmann des Gesprächs

Als der junge Cicero Rutilius während seiner Reise in den griechischen Osten des Reiches dort 79/78 besuchte, stand das auch im Brutus erwähnte Treffen

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Vgl. Strasburger 1966, S. 67. Cic. fin. 1,7. Cic. Brut. 113. Ebd., 114; Gunermann gibt den Ausdruck prope perfectus treffend mit „beinahe vollkommen zuhause“ wieder. Ebd., 118. S. auch: Cic. off. 3,10; Münzer 1914, Sp. 1270. Jocelyn vermutet, dass Rutilius Panaitios in Rom gehört hat: Jocelyn 1977, S. 340. Der Brief des Poseidonios, den Cicero vorliegen hatte und den er in De officiis erwähnt, belegt zwar, dass die historische Persönlichkeit Rutilius mit ihm in persönlichem Kontakt stand, doch bleibt offen, wie dieses Verhältnis zwischen dem römischen Rechtskenner und dem stoischen Philosophen aussah. S. hierzu auch: Aubert-Baillot 2014, S. 124, Anm. 8. Jocelyn kommt abschließend zu der Einschätzung, dass der Einfluss der Philosophie im Vergleich zu anderen griechischen Künsten eher gering gewesen sei: Jocelyn 1977, S. 366.

De re publica

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nicht zuletzt im Kontext der rednerischen Ausbildung.910 In Bezug auf diesen real-historischen Rahmen führt unser Autor in De re publica ein Gespräch an, bei dem er von Rutilius von jener früheren Gesprächsrunde um Scipio und Laelius unterrichtet worden sei. Dass die Rolle des Gewährsmanns auf ihn fällt, folgt einer gewissen Plausibilität, denn neben ihm hatte Cicero hinsichtlich der Gesprächsteilnehmer lediglich noch zu Scaevola persönlichen Kontakt, der jedoch bereits um 87 verstarb.911 Die persönliche Verbindung zwischen dem Autor und seiner Figur wird bereits in der Vorstellung des Gesprächsthemas, während der Überleitung vom Proömium zum Dialog, deutlich:912 Nec vero nostra quaedam est instituenda nova et a nobis inventa ratio, sed unius aetatis clarissimorum disputatio repetenda memoria est, quae mihi tibique quondam adulescentulo est a Publio Rutilio Rufo, Smyrnae cum simul essemus complures dies, exposita; […]. Aber nicht ein neuer, eigener, von uns entdeckter Gedankengang ist darzulegen, sondern ein Gespräch der berühmtesten und weisesten Männer unseres Staates aus demselben Zeitalter ins Gedächtnis zu rufen, das mir und dir einst in unserer Jugend von Publius Rutilius Rufus, als wir mit ihm mehrere Tage in Smyrna zusammen waren, auseinandergesetzt wurde.

Anders als in De oratore beschreibt Cicero die Umstände genauer, wie er über das Gespräch unterrichtet wurde. Bewusst stellt er einen Bezug auf den Besuch bei Rutilius zusammen mit dem Widmungsträger Quintus um das Jahr 78 her: Er zeigt den Autor und seinen Bruder in der Rolle als junge Männer (quondam adulescentulo) im Gespräch mit dem zu Unrecht exilierten Staatsmann, dem dadurch ein Vorbildcharakter zukommt.913 Gleichzeitig positioniert sich Cicero innerhalb der bereits in De oratore wichtigen Konstellation aus jungem, neugierigem Schüler und altem, lebenserfahrenem Lehrer in der ersten Kategorie. Mit der Rutilius-Figur besetzt der Autor die Rolle des Gewährsmanns mit einer Person, die durch ihre verwandtschaftliche Verflechtung mit beiden Gesprächskreisen die Parallelität der unterschiedlichen Zeitebenen selbst verkörpert.914 Durch 910

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Im Brutus spricht er davon, dass er bei jenem Aufenthalt von ihm über einen bestimmten Kriminalfall aus dem Jahr 138 mündlich unterrichtet worden sei: Cic. Brut. 85. Strasburger vermutet, dass Rutilius aufgrund der Altersschwäche Scaevolas der geeignetere Gewährsmann für Cicero war: Strasburger 1966, S. 68. Cic. rep. 1,13. Vgl. Büchner 1984, S. 35. So lässt sich feststellen, dass Rutilius der Onkel des in De oratore auftretenden Cotta war. Seine juristische Bildung erwarb er im Haus der Mucii von P. Mucius Scaevola: Cic. off. 2,47. Mit Catulus verband ihn die Opposition gegen Saturninus: Cic. Rab. perd. 21. Hinsichtlich des Gesprächskollektivs in De re publica lässt sich mit Münzer ein freundschaftliches Verhältnis zu Laelius annehmen, den er spätestens seit einem

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

den Ort Smyrna wiederum wird nach Hösle einerseits auf die römische Sendung verwiesen, da die als Geburtsort Homers gehandelte, prestigeträchtige Stadt längst römisches Herrschaftsgebiet darstellte, andererseits der griechischen Kultur ein Platz bei der Vermittlung der römischen gegeben.915 c)

Rutilius als gebildeter adulescens und Justizopfer

Die Dialogfigur wohnt zwar dem Gespräch nicht von Anfang an bei, gehört mit Philus jedoch zu den ersten Gästen, die bei Scipio erscheinen, der gerade dabei ist mit Tubero ein Gespräch über die Doppelsonne zu führen. Bereits das Erscheinen lässt ein philosophisches Profil in der Figurenzeichnung erkennen:916 et cum simul Publius Rutilius venisset, qui est nobis huius sermonis auctor, eum quoque ut salutavit propter Tuberonem iussit assidere. Tum Furius: Quid vos agitis? Num sermonem vestrum aliquem diremit noster interventus? Minime vero, Africanus; soles enim tu haec studiose investigare, quae sunt in hoc genere de quo instituerat paulo ante Tubero quaerere. Rutilius quidem noster etiam sub ipsis Numantiae moenibus solebat mecum interdum eiusmodi aliquid conquirere.

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Prozess aus dem Jahr 138 kannte: Münzer 1914, Sp. 1270; zum Prozess: Cic. Brut. 85–89; vgl. Strasburger 1966, S. 67. Dagegen sprach sich Strasburger gegen ein freundschaftliches Verhältnis aus und begründete dies durch einen weltanschaulichen Gegensatz, der darin bestünde, dass es sich bei Scipio um einen Vertreter eines „autoritären […] Prinzips der Herrschaftsbehauptung“ gehandelt habe, Rutilius hingegen als Stoiker und Rechtsgelehrter ein „humanitäres“ Prinzip vertreten hätte: Strasburger 1966, S. 67f. Selbst wenn ein solcher Unterschied existiert haben sollte, würde dies nicht automatisch implizieren, dass der Autor die freundschaftliche Beziehung der beiden erst durch den Dialog fingiert hat: In der für Cicero wichtigeren innenpolitischen Frage, die damals von der Reformpolitik des Tiberius Gracchus beherrscht wurde, scheint es keine Diskrepanz gegeben zu haben. Für Rutlilius’ optimatische Gesinnung s. Rawson 1971, S. 87. Für einen rücksichtsvollen Umgang mit Scipio spricht das Proömium von De finibus, worin Cicero erwähnt, dass Rutilius aus Furcht vor dessen Urteil (iudicium reformidans) erklärt habe, für die Bewohner von Tarent, Consentina und Sizilien zu schreiben: Cic. fin. 1,7. Büchner hielt dagegen eine Zugehörigkeit zum Kreis um Scipio für unbestreitbar: Büchner 1984, S. 35. Auf einen möglichen weiteren Aspekt der dargestellten Verbindung zwischen der Person des Autors und der des Rutilius wies zuletzt Fox hin, der hierin einen Hinweis auf zwei verschiedene Lesergruppen erkannte, die Cicero gleichermaßen zufriedenstellen wollte: die erste Gruppe würde demnach den offensichtlich Fehler in der Genealogie erkennen und auch im anschließenden Dialog der Autorität des Autors folgen. Die zweite würde die Autorität des idealisierten Kollektivs präferieren, weshalb die Position des Erzählers absichtlich geschwächt werde: Fox 2007, S. 88–90. Hösle 2006, S. 178. Cic. rep. 1,17.

De re publica

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Und da zugleich P. Rutilius gekommen war, der uns der Vermittler des Gesprächs ist, hieß er ihn, nachdem er auch den begrüßt, sich neben Tubero setzen. Da sagte Philus: „Was treibt ihr? Hat etwa unsere Dazwischenkunft ein Gespräch von euch zerrissen?“ „Aber nein“, sagte Africanus, „pflegst du doch dies eifrig aufzuspüren, was von der Art ist, worüber eben Tubero zu fragen begonnen; unser Rutilius pflegte sogar noch unter den Mauern Numantias bisweilen mit mir etwas der Art zu untersuchen.“

Diese einzige sich auf Rutilius beziehende Stelle im Dialog deckt sich mit seiner Beschreibung im Brutus, die ihn als wissenschaftlich interessierten Römer zeigt. Gleichzeitig wird die persönliche Verbundenheit Scipios zu ihm herausgestellt (Rutilius […] noster), der an eine persönliche Episode während des numantinischen Krieges erinnert.917 Seine wissenschaftlichen Interessen decken sich Scipio zufolge mit jenen Tuberos, der das Gespräch über die Doppelsonne einleitete, so dass er für das aktuelle Gespräch über eine besondere Eignung verfügt.918 Wie Tubero gilt somit auch ihm die Mahnung des Laelius, sich nicht übermäßig mit astronomischen Wissenschaften zu beschäftigen. Diese Mahnung sowie seine Rolle als im Exil lebender Gewährsmann stehen in einer Relation zu der Funktion, welche die Persönlichkeit Rutilius als Beispiel eines Justizopfers für Cicero einnimmt. Sowohl die Gesprächspartner in De oratore als auch die des Brutus widmen sich seinem Schicksal in ausführlicher Weise.919 Im ersten Buch über den Redner erinnert Antonius an ihn als einen homo doctus et philosophia deditus.920 Rutilius’ Niederlage vor Gericht, die zu seiner Verbannung führen sollte, fungiert anschließend als ein mahnendes Beispiel in der Diskussion:921 Quod si tu tunc Crasse, quibus philosophi utuntur ad dicendi copiam petendum esse paulo ante dicebas, et si tibi pro R. Rutilio non philosophorum more, sed, tuo licuisset dicere, quamvis scelerati illi fuissent, sicuti fuerunt, pertiferi cives supplicioque digni tamen omnem eorum importunitatem ex intimis mentibus evellisset vis orationis tuae. nunc talis vir amissus est, dum causa ita dicitur, ut si in illa commenticia Platonis civitate res ageretur: […] (231) pedem nemo in illo iudicio supplosit, credo, ne Stoicis renuntiaretur. imitatus est homo Romanus et consularis veterem illum Socraten, qui, cum omnium sapientissimus esset sanctissimeque vixisset, ita in iudicio capitis pro se ipse dixit, ut non supplex aut reus, sed magister aut dominus videretur iudicium.

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Von dieser Episode konnte Cicero entweder durch Rutilius’ Selbstbiographie De vita sua oder aus dem mündlichen Gespräch erfahren haben. Zur Historizität: Büchner 1984, S. 98. Vgl. ebd. Cic. de orat. 1,227–231; Brut. 114f. Cic. de orat. 1,227. Ebd., 1,230f.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur Wenn damals du in dieser Angelegenheit gesprochen hättest, Crassus, der du gerade noch behauptest, ein Redner müsse Unterstützung für seine Redekunst bei jenen Diskussionen suchen, die die Philosophen führen, und wenn du für P. Rutilius nicht nach Art der Philosophen, sondern Kraft deiner Rede hättest reden dürfen, dann hätte die Kraft deiner Rede jenen unheilvollen Bürgern, die den Tod verdienten, und wären sie noch so verrucht gewesen, wie sie es wirklich waren, doch ihre Bosheit aus dem Grunde ihres Herzens ganz herausgerissen. So aber ging ein solcher Mann verloren, während seine Sache in einer Art vertreten wurde, als fände die Verhandlung in jenem Idealstaat Platons statt. […] (231) Ein Römer und ein Consular hielt sich da an das Vorbild des alten Sokrates, der sich, obwohl er doch an Weisheit alle übertraf und seine Lebensführung makellos gewesen war, in einem Kapitalverfahren so verteidigte, dass es nicht schien, als sei er ein Bittsteller oder Angeklagter, sondern der Lehrmeister oder Herr der Richter.

Das Beispiel des Justizopfers Rutilius zeige demnach, wie ein idealistischer und durch übermäßige philosophische Studien geprägter Redner an der Realität des Forums scheitert, das eben kein „Idealstaat“ (in illa commenticia […] civitate) sei. 922 Antonius’ Sympathie für Rutilius, die sich mit Ciceros hoher Meinung deckt, zeigt sich in der Verurteilung von dessen Anklägern, die als scelerati, pestiferi cives und supplicioque digni abqualifiziert werden.923 Die – auch von Quintilian belegte924 – Sokrates-Imitatio im römischen Gericht erscheint dabei für einen homo Romanus et consularis hinsichtlich der dignitas völlig unangemessen, das Auftreten vor Gericht als magister aut dominus […] iudicium als arrogant.925 Auch die Ablehnung, Crassus mit der Verteidigung zu beauftragen, erinnert dabei an das griechische Vorbild, das die Unterstützung des Lysias zurückgewiesen hatte.926 Dass der lateinische Begriff imitatus est auf eine bewusste Nachahmung abzielt, erscheint mit Blick auf die philosophische Bildung der Person des Rutilius und der anschließenden starken Kontrastierung zwischen römischer dignitas und griechischer Philosophie naheliegend.927 Das Beispiel des Rutilius belegt dahingehend nicht nur die Verbreitung griechischer Philosophie

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Der Bericht des Rutiliusprozesses hebt daber, wie Auber-Baillot richtig herausstellt, die „inapplicabilité pratique des thèses platoniciennes“ in Rom hervor: Aubert-Baillot 2014, S. 125. Vgl. ferner: Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 142. Vgl. Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 151. Quint. inst. 11,1,12–13. Vgl. Aubert-Baillot 2014, S. 125f.; Leeman/Pinkster/Nelson 1985, S. 152. KalletMarx sieht die Historiziät der sokratischen Verteidigung skeptisch: „even if we accept the tradition of a ‚Socratic‘ stance, this may only have been making a virtue of necessity“: Kallet-Marx 1990, S. 135. Vgl. Fantham 2004, S. 44; Kallet-Marx 1990, S. 135; Unterstützung hatte Rutlius nur in geringem Umfang durch seinen Neffen Cotta (sororis suae filio), der in De oratore als junger Gesprächsteilnehmer anwesend ist, und den in beiden Dialogen auftretenden Scaevola: Cic. de orat. 1,229; Brut. 115. Vgl. Görler 2001, S. 247.

De re publica

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in der römischen Gesellschaft, sondern auch deren Grenzen. Seine Verwendung als Gewährsmann zeigt dabei einerseits die persönliche Sympathie unseres Autors, gleichzeitig erinnert sie jedoch an sein politisches Scheitern. Ciceros Haltung gegenüber diesem Typus eines allzu wörtlich an Grundsätzen griechischer Philosophie festhaltenden römischen Politikers verrät bereits der berühmte Brief an Atticus aus dem Dezember 60, in dem er den jüngeren Cato kritisiert, er spräche vor dem Senat, als befände man sich in Platons Staat statt in Romulus’ Bodensatz (enim tamquam in Platonis πολιτείᾳ non tamquam in Romuli faece).928 d)

Zusammenfassung

Insgesamt lässt sich somit festhalten, dass die Figur des Rutilius Rufus primär durch seinen wissenschaftlichen Eifer bestimmt wird. Im überlieferten Text bleibt er stumm. Die Inszenierung des überliefernden Gesprächs auf Smyrna im Jahr 78 dient zum einen der Erinnerung an das exemplum innocentiae und sein Exil. Da Cicero im Brutus und in De oratore seine Verurteilung mit einem zu philosophischen und dahingehend dem römischen Kontext unangemessenen öffentlichen Auftreten begründet, passt seine Person auch zu dem in De re publica behandelten Zwiespalt zwischen vita activa und vita contemplativa. Darüber hinaus stellt das Gespräch in Smyrna die Person des Autors in eine Verbindungslinie mit den philosophierenden Vorfahren, während gleichzeitig an die Krisen der res publica, welche auf die Zeit nach Scipios Tod folgten, erinnert wird.

2.2.3 C. Fannius M. f. a)

Historische Persönlichkeit

Einem biographischen Überblick über die Persönlichkeit des C. Fannius stehen unlösbare Probleme entgegen. Diese sind primär dadurch bedingt, dass Cicero selbst bei seinen Nachforschungen auf Schwierigkeiten stieß: Im Brutus spricht er von zwei gleichnamigen C. Fannii, von denen der eine der Sohn eines Gaius, der andere der eines Marcus gewesen sei. Letzterer sei zudem ein Schwiegersohn des Laelius (C. Laeli gener) gewesen, welcher aber seinen anderen Schwiegersohn Quintus Scaevola ihm vorgezogen habe.929 Eben jene verwandtschaftlichen Bande werden in De re publica gleich zu Beginn hervorgehoben, indem beide,

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Cic. Att. 2,1 = 21 Sh. B.,8; zum Zusammenhang des Rutiliusprozesses mit Ciceros Kritik an dem jüngeren Cato s. Zetzel 1994, S. 26f.; zur Bedeutung des Ausdrucks faex an dieser Stelle s. Fox 2007, S. 84, Anm. 8. Cic. Brut. 99–101.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

Scaevola und Fannius, als generos Laeli angesprochen werden. 930 Doch auch nach dem 46 erschienen Brutus ist die Zuordnung nicht geklärt, da sich Cicero in den Jahren 45 und 44 an Atticus wendet, um sich genauer über die Biographien der beiden Fannii zu informieren. 931 Die Verwirrung wird noch dadurch verstärkt, dass der in De re publica als Laelius’ Schwiegersohn angesprochene Fannius erneut in dem Dialog Laelius aus dem Jahr 44 auftritt, die Dialogfigur Scaevola aber dort versichert, er hätte nicht an jenem Gespräch über den Staat bei Scipio teilgenommen. 932 Eine endgültige Lösung dieser Problemlage ist zwar nicht in Sicht, doch lässt sich für den Kontext der vorliegenden Untersuchung konstatieren, dass Cicero während seiner Arbeiten in den 50er Jahren bei jenem Fannius an einen Verwandten des Laelius und des Scaevola dachte. Aufgrund seiner Teilnahme am Krieg gegen Karthago unter Scipio kann für den Geschichtsschreiber C. Fannius ein Geburtsjahr um das Jahr 170 vermutet werden, so dass er zu den Dialogzeitpunkten von De re publica und Laelius um die 40 Jahre alt gewesen sein müsste.933 Ob Cicero über Fannius’ Teilnahme am Punischen Krieg wusste und sie dem richtigen C. Fannius zuschrieb, ist ungewiss, sicher jedoch wollte er mit ihm einen adulescens auftreten lassen, wie aus dem Briefverkehr zur Zeit der Niederschrift hervorgeht.934 Beide Fannii waren politisch aktiv, allerdings herrscht Unklarheit bei den früheren Stationen, wann es sich um den Sohn des Marcus und wann um den des Gaius handelt.935 Fest steht, dass Cicero sowohl in De re publica als auch im Laelius an den Sohn des Marcus dachte. Von diesem ist mit relativ hoher Sicherheit bezeugt, dass er im Jahr 122 das Konsulat innehatte und sich während seiner Amtszeit als entschiedener Gegner des C. Gracchus gerierte, gegen den er eine von Cicero gerühmte Rede hielt.936 Dieser Umstand war dem erklärt antigracchischen Autor nicht unbekannt 930 931

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Cic. rep. 1,18. Cic. Att. 16,13a(b) = 424 Sh. B.,2; 12,5b = 316 Sh. B. Eine Rekonstruktion der Diskussion um die beiden Fanii lieferte bereits: Münzer 1920. Eine Übersicht zu älteren Forschungspositionen liefern: Schanz/Hosius 1979, S. 199; Powell 1990a, S. 11f. Cic. Lael. 25. Plutarch überliefert, er habe selbst zusammen mit Ti. Gracchus die Stadtmauer erklommen und an der Heldentat Anteil gehabt (λέγων καὶ αὐτὸς τῷ Τιβερίῳ συνεπιβῆναι καὶ συμμετασχεῖν ἐκείνης τῆς ἀριστείας): Plut. Ti. Gracchus 4,6 = Fannius FRH 1,7,4; vgl. Büchner 1984, S. 34; Powell 1990a, S. 11f. Für ein Geburtsjahr um 170 plädieren: Beck/Walter 2005, S. 340; Büchner rechnet mit einem Geburtsjahr von 174: Büchner 1984, S. 34. Cic. Att. 4,16 = 89 Sh. B.,2. Vor diesem Hintergrund schätzt auch Powell das Alter der Dialogfigur auf Mitte 30: Powell 1990a, S. 12 u. 77f. Für den Sohn des Marcus rekonstruiert Brougton hypothetisch um 147 oder 146 eine Legatenstelle bei Scipio, 142 das Volkstribunat, tribunus militum in Spanien 141, die Praetur 127 oder 126, das Konsulat 122 und das Augurenamt ab spätestens 129. S. MRR 2, S. 561; vgl. Càssola 1983, S. 95. Dass es sich bei dem Konsul des Jahres 122 um C. Fannius M. f. handelte, legt eine 1851 gefundene Inschrift nahe (CIL I1 560 = I² 658 = ILLRP 269), s. hierzu: Càssola

De re publica

197

und dürfte für seine Wahl als Dialogfigur nicht unerheblich gewesen sein. Darüber hinaus verfügte die historische Vorlage auch über ein gewisses geistiges Interesse: So verfasste er nach seinem Konsulat das Geschichtswerk Annales, das im Stil des Polybios verfasst war und die eigene Zeitgeschichte behandelte.937 Da er in diesem Werk Scipios Ironie mit jener des Sokrates verglich und verteidigte,938 hatte es möglicherweise einen maßgeblichen Einfluss auf Ciceros Scipiobild.939 b)

Fannius als doctus adulescens

Über die Funktion der Dialogfigur im Gesamtgefüge lässt sein Erscheinen im Gefolge des Laelius einige Aussagen zu: Er und Scaevola werden dabei als „die Schwiegersöhne des Laelius, gebildete Jünglinge, schon im Quaestorenalter“ (generos Laeli, doctos adulescentes, iam aetate quaestorios) vorgestellt.940 Als zentrales Charakteristikum verweist das Adjektiv doctus auf seine Beziehungen zum stoischen Philosophen Panaitios, welche ihm auch im Brutus attestiert werden.941 Diese Verbindung zum griechischen Intellektuellen, die auch für Tubero, Rutilius und Scaevola vorliegt und an deren Historizität nicht zu zweifeln ist, charakterisiert ihn nicht nur als jungen römischen Aristokraten, der dem Charme des hellenistischen Philosophen erlegen ist, sondern sie wertet auch seine Rolle als Zuhörer auf, da ein gewisses Vorwissen in der Philosophie bereits vorhanden ist. Die Altersangabe iam aetate quaestorios erinnert an die römische Kontextualisierung des Gespräches, indem es den cursus honorum anspricht, an dessen Anfang beide stehen.942 Wie die Figur des Cotta in De oratore, so lässt sich folglich auch die des Fannius einer Gruppe von aufstrebenden Politikern zuordnen, welche jener der Konsularen um Scipio entgegengesetzt ist. Im erhaltenen Teil bleibt Fannius stumm. Von der Lesart einer ServiusPassage hängt ab, ob er im vierten Buch hinsichtlich der Erziehung der Jugend zu Wort gekommen sein könnte:943

937

938

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943

1983, S. 87; vgl. MRR 1, S. 516; Münzer 1909, Sp. 1989f. Beck/Walter vermuten dagegen den des Gaius: Beck/Walter 2005, S. 341, Anm. 4. Zur literarischen Einordnung s. etwa: Schanz/Hosius 1979, S. 198f.; Powell 1990a, S. 11. FRH 1,9,7; zur verunsichernden und bisweilen arroganten Wirkung der sokratischen Ironie Scipios auf seine Zeitgenossen s.: Beck/Walter 2005, S. 345f.; Astin 1967, S. 90. Vgl. Büchner 1984, S. 34. Cic. rep. 1,18. Cic. Brut. 101. Büchner schlägt vor, dass quaestorios an dieser Stelle nur auf eine Senatszugehörigkeit der beiden verweisen könnte: Büchner 1984, S. 34. Cic. rep. 4,3 [IIb] (Serv. Aen. 6,875). Hier zitiert nach Büchner, da sich die Passage nicht bei Powell findet.

198

Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur Fannio causa difficilis laudare puerum; non enim res laudanda, sed spes est. Dem Fannius ist eine schwierige Sache, einen Knaben zu loben; denn es ist keine Sache, sondern eine Hoffnung zu loben.

Aufgrund der Ungewissheit der Konjektur Fannio bleibt offen, ob Fannius im vierten Buch tatsächlich gesprochen oder das Gespräch stattdessen vielleicht schon verlassen hat.944 Büchner vermutet eine kritische Antwort als Reaktion des Fannius auf einen Vorstoß, nicht durch „restriktive Mittel“, sondern „durch Lob zum Lernen“ anzuregen, da Loben nur eine Hoffnung darstelle.945 Dass bei der Diskussion der Jugenderziehung einer der Gesprächsteilnehmer die Rolle des advocatus diaboli eingenommen haben könnte, scheint durchaus nachvollziehbar, doch lässt der Überlieferungszustand des Werks keine genauen Aussagen zu.

2.2.4 Q. Mucius Scaevola Augur Auf Scaevolas Biographie und sein Verhältnis zum Autor wurde bereits ausführlich unter III 1.3.1a eingegangen. Cicero greift in De re publica und Laelius erneut auf seine Person zurück, doch tauscht er ihre Rolle in De oratore 1 als am Gespräch aktiv beteiligter senex gegen jene des doctus adulescens, der zusammen mit Fannius genannt wird.946 Beide erscheinen im Gefolge des gemeinsamen Schwiegervaters Laelius. Scaevolas erste und einzige Wortmeldung in dem erhaltenen Text fällt in den Kontext einer didaktischen Situation, in der er als Vertreter der adulescentes nach Laelius’ Appell an die Jugend, sich um die Politik zu kümmern, jenen fragt, was genau sie lernen müssten, um das von ihm Geforderte zu erreichen (Quid esse igitur censes, Laeli, discendum nobis, ut istud efficere possimus ipsum quod postulas?).947 In dieser kurzen Nachfrage, durch die er Laelius die Vorlage zur Konkretisierung seines Appells gibt, spricht Scaevola stellvertretend (discendum nobis) für die beiden anderen adulescentes Tubero und Rutilius. Indem er sich nicht weniger angesprochen fühlt als jene beiden, von denen bekannt ist, dass sie sich mit astronomischen Angelegenheiten beschäftigen, wird vielleicht die allgemeine Orientierung der Ermahnung hervorgehoben.948 Im weiteren Verlauf des erhaltenen Dialogs tritt Scaevola nicht aktiv in Erscheinung. Aufgrund fehlender weiterer Textstellen kann zu seinem Auftreten in De re publica nichts Sicheres gesagt werden. Anspielungen auf seine Rolle als Rechtsexperte in späteren Dialogen fehlen im erhaltenen Text, der als Autorität hierfür auf Manilius verweist. 944 945 946 947 948

S. hierzu: Büchner 1984, S. 358. Ebd. Cic. rep. 1,18. Ebd., 1,33. Vgl. Büchner 1984, S. 116.

De re publica

199

Die Präsenz des früheren Rechtslehrers Ciceros erzeugt im Staatswerk eine weitere Verbindungslinie zwischen dem Scipionenkreis und dem Autor. Mit ihm tritt neben Fannius ein weiterer jüngerer Politiker auf, der während des Höhepunktes seiner politischen Laufbahn in Konflikt mit den popularen Agitatoren geriet. Durch sein Eintreten gegen Saturninus zählte er für Cicero ohne Zweifel zu den boni.

2.3

Weitere Dialogfiguren

Als weitere Personen treten Manilius und Mummius in Erscheinung, die sich weder in die Gruppe der Hauptredner noch die der jüngeren Gesprächsteilnehmer einordnen lassen. Anders als die stummen Figuren Scaevola, Fannius und Rutilius scheinen sie aber stärker im Gespräch involviert gewesen zu sein.

2.3.1 Sp. Mummius a)

Historische Persönlichkeit

Spurius Mummius gehört wie Philus und Fannius zu den Dialogfiguren in De re publica, die sich nur schwer biographisch fassen lassen. Gesichert ist, dass es sich bei ihm um den Bruder des Lucius handelt, der im Jahr 146 den achäischen Aufstand niederschlug und die Stadt Korinth mit exemplarischer Härte vernichtete.949 Bei der Eroberung stand er als Legat an der Seite seines Bruders, so dass er zu diesem Zeitpunkt bereits erwachsen gewesen sein musste. 950 Im Laelius zählt ihn die gleichnamige Hauptfigur zusammen mit Scipio, Lucius Furius und Publius Rupilius zu seinen Altersgenossen (aequales), so dass sein Geburtsjahr ebenfalls zwischen 190 und 179 liegen dürfte, was ein Alter zwischen 49 und 61 Jahren bedeuten würde.951 Da er auch in Ciceros anderen Schriften kaum erwähnt wird, scheint der persönliche Bezug zwischen Autor und Figur in seinem Fall nicht sehr groß gewesen zu sein. Dass sich der Autor im Jahr 45, während er für ein letztlich nicht verwirklichtes literarisches Projekt im Stil des Dikaiarch arbeitete, von Atticus wissen wollte, ob Mummius tatsächlich einer der zehn Gesandten gewesen war, die 146 nach Korinth geschickt wurden, belegt ein gewisses Interesse an der

949

950 951

Vgl. Münzer 1933b, Sp. 525; zur Zerstörung Korinths und dem damit verbundenen Ende der griechischen Eigenstaatlichkeit s. etwa: Blösel 2015, S. 130f. Vgl. Münzer 1933b, Sp. 526. Cic. Lael. 101.

200

Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

Personalie, doch zeigt es zugleich ein lückenhaftes Wissen über dessen politische Biographie.952 Über Mummius’ Bildung ist bekannt, dass er Gedichte, epistulae versiculis facetis ad familiares missae a Corintho, verfasst hatte, die Cicero bekannt waren. 953 Den griechisch geprägten Osten des römischen Reiches kannte er aus mindestens zwei Aufenthalten im Jahr 146 und 138.954 Durch die Teilnahme an Scipios Orientreise von 138 erhielt er einen Einblick in das Staatswesen von Rhodos, worauf in De re publica Bezug genommen wird.955 Zudem übten er und sein Bruder Lucius sich als Redner. Im Brutus rechnet Cicero beide zu den durchschnittlichen Rednern jener Epoche (oratorum numero mediocrium), mit dem nicht uninteressanten Hinweis, dass von beiden Reden überliefert seien (exstant amborum orationes). 956 An gleicher Stelle erwähnt er, dass Spurius dabei anspruchsvoller und konzentrierter als Lucius gewesen sei (ornatior, sed tamen astrictior), was mit seiner stoischen Bildung erklärt wird (doctus ex disciplina Stoicorum). Wie bei Scaevola, Fannius, Rutilius und Fannius werden seine rednerischen Fähigkeiten im Licht seiner stoischen Bildung betrachtet, doch fehlen auch in seinem Fall Quellen, die über seine Beschäftigung mit der Stoa genaueren Aufschluss geben. 957 Auf den Redner Mummius scheint die Dialogfigur respondiert zu haben, wie ein Fragment aus dem fünften Buch zeigt, in dem von seiner hasserfüllten Einstellung gegenüber sophistischen Rednern die Rede ist (odio quodam rhetorum inbutus), doch ist der historische Hintergrund der Anspielung unklar.958 b)

Mummius als Optimat und Antidemokrat

In der vorliegenden Fassung von De re publica findet sich erst gegen Ende des dritten Buchs eine Gesprächsbeteiligung des Mummius, durch die sich Rückschlüsse auf ein politisches Profil der Figur ziehen lassen. An die Diskussion der Gerechtigkeit im ersten Teil des dritten Buchs schloss eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Einzelverfassungen an. Inmitten der Behandlung der

952 953 954 955

956 957

958

Cic. Att. 13,30,2f. = 303 Sh. B.,1f.; 13,5 = 312 Sh. B.; 13,6 = 310 Sh. B.,4. Ebd., 13,6 = 310 Sh. B.,4; vgl. Büchner 1984, S. 32; Münzer 1933b, Sp. 526. Vgl. Münzer 1933b, Sp. 526. Cic. rep. 3,48; vgl. Strasburger 1966, S. 66. Dieses Ereignis scheint auch im Geschichtswerk des Poseidonios belegt: s. hierzu: Strasburger 1966, S. 66 u. Anm. 2. Cic. Brut. 94. Wahrscheinlich ist der stoische Einfluss auch in seinem Fall Panaitios geschuldet, der die Orientreise begleitete. Vgl. Garbarino 1973, S. 425; Ducos 2005b, S. 555; vgl. das Urteil über die Redner, die sich zu sehr der Stoa widmeten, in De oratore: Cic. de orat. 3,78. Cic. rep. 5,11.

De re publica

201

gerechten Aristokratie, welche Scipio zufolge ein Gemeinwesen und eine Sache des Volks sei (res publica resque populi), entgegnet Mummius:959 Et multo etiam magis, […] nam in regem potius cadit domini similitudo, quod est unus plures vero boni in qua re publica rerum potientur, nihil poterit esse beatius. sed tamen vel regnum malo quam liberum populum; id enim tibi restat genus vitiosissimae rei publicae tertium. Und noch viel mehr, […] denn auf den König trifft noch eher die Ähnlichkeit mit einem Gewaltherrn zu, weil es einer ist. Wenn aber in einem Gemeinwesen sich mehr Gute der Herrschaft bemächtigen, wird es nichts Glücklicheres geben können als jenes. Aber ich will dennoch lieber noch ein Königtum denn ein freies Volk; denn dies bleibt dir als dritte Form eines mangelhaftesten Gemeinwesens.

Mummius zeigt an dieser Stelle seine Präferenz für die Aristokratie, die er als beste der drei Verfassungen über die Monarchie erhebt, da mehrere boni an der Staatslenkung Anteil hätten (potientur).960 Indem er das Königtum über das freie Volk stellt (regnum malo quam liberum populum), wird seine reaktionäre Haltung gegenüber der demokratischen Staatsform deutlich, die er als die vitiosissima ansieht. Aufgrund der wenigen Informationen zur Person des Spurius Mummius kann nicht geklärt werden, inwiefern Cicero hier eine historische Position wiedergibt, doch legt Scipios Bemerkung, hierin Spurius’ antipopulare Haltung (tuum morem istum […] aversum a ratione populari) zu erkennen, dies nahe.961 Der aristokratische Einwurf erlaubt dem Hauptredner, nochmals seine Grundposition vorzutragen, wonach es keine Differenzierung gebe, solange grundsätzlich Weisheit den Staat leitet (si enim sapientia est quae gubernet rem publicam, quid tandem interest). Mummius’ Haltung erfüllt an dieser Stelle eine doppelte Funktion: Zum einen ermöglicht sie dem Autor eine weitere Rechtfertigung durch seine Hauptfigur Scipio, um einer Fehlinterpretation bestimmter Leser, die Mummius hierbei zu repräsentieren scheint, vorzubeugen. 962 Zum anderen wird der Übergang zur Beschreibung einer gerechten Demokratie lebendiger, wie der weitere Verlauf zeigt:963 „Quam igitur relinquis populari rei publicae laudem?“ Tum ille: „Quid, tibi tandem, Spuri, Rhodiorum, apud quos nuper fuimus una, nullane videtur esse res publica?“ „Mihi veror videtur, et minime quidem vituperanda.“ „Recte dicis. Sed si meministi, omnes erant idem tum de plebe, tum senatores, vicissitudinesque habebant […].“

959 960 961 962 963

Cic. rep. 3,46. Vgl. Büchner 1984, S. 340. Cic. rep. 3,47. Zur Haltung des Scipio s. Büchner 1984, S. 341; vgl. Powell 1996, S. 24. Cic. rep. 3,48.

202

Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur (Mumm.) „Welches Lob lässt du also dem Gemeinwesen des Volkes?“ Darauf jener (Scip.): „Wie? Scheint dir denn, Spurius, das der Rhodier, bei denen wir neulich gemeinsam waren, kein Gemeinwesen zu sein?“ (Mumm.) „Doch, und keineswegs tadelnswert!“ (Scip.) „Du sprichst recht; aber wenn du dich erinnerst, waren alle zugleich zum Volke gehörig und Senatoren, und sie wechselten ab […]“

Der Übergang zur laus auf die Demokratie wird durch Mummius’ knappe Frage eingeleitet, bei der er nur mit igitur zu erkennen gibt, dass er Scipios vorherige Ausführungen akzeptiert hat.964 Die Gegenfrage an ihn selbst ruft die Erinnerung an die gemeinsame Reise nach Rhodos wach (apud quos nuper fuimus una), die auf die Orientreise zwischen 142 und 138 verweist.965 Das Exemplum wird folglich als Erfahrung der beiden Dialogfiguren eingeführt, so dass Scipios Anführung der rhodischen Verfassung als Augenzeugenbericht erscheint und Mummius die Funktion des Gewährsmanns einnimmt. Mit der Erwähnung der Reise thematisiert der Autor erneut die Begegnung zwischen römischer und griechischer Kultur im zweiten Jahrhundert. Anders als in De oratore ist der Fokus dabei weniger auf den schulischen als vielmehr auf den politischen Betrieb gerichtet. Da Scipio an die Erinnerung des Reisegefährten appelliert (sed si meministi), ist es wahrscheinlich, dass Mummius sich nochmals im dritten Buch geäußert hat. Der von Cicero dargestellte Kontrast zwischen einer demokratiefeindlichen und einer demokratiefreundlichen Dialogfigur wird in De re publica in eine historische Szenerie versetzt, die seit den 80er Jahren im Fokus einer Forschungskontroverse um den konstitutionellen Charakter der mittleren römischen Republik und insbesondere der Rolle des Volkes steht.966 Seine Haltung muss hierbei jedoch nicht zwingend auf eine historische Uneinigkeit hinsichtlich der politischen Macht der plebs zurückgeführt werden, da ihre Funktion auch in der Belebung der Gesprächshandlung begründet liegt. Da Mummius an Scipios Orientreise teilnahm, wirkt sein antidemokratisches Ressentiment, welches sich gegen die demokratische Staatsform griechischer Poleis wendet, auf den römischen Leser nicht unglaubwürdig. Inwieweit die Figur darauf beharrte oder es zumindest partiell revidierte, kann aufgrund der fragmentarischen Überlieferung von De re publica nicht geklärt werden. Seine oligarchische Haltung, die zumin-

964 965

966

Vgl. Büchner 1984, S. 342. Büchner verweist an dieser Stelle darauf, dass mit nuper ein „sehr breiter Zeitraum“ abgedeckt werden könne und erteilt Spekulationen über eine mögliche zweite Orientreise eine Abfuhr: Büchner 1984, S. 342. Hierbei betonen insbesondere Lintott, North und Millar den demokratischen Charakter einzelner politischer Institutionen, während ein solcher von Jehne, Hölkeskamp und Flaig bestritten wird. Vorläufige Überblicke über den Forschungsstreit, auf den im Rahmen dieser Untersuchung nicht im Detail eingegangen werden kann, liefern etwa: Jehne 1995; Bleicken 2004, S. 136.

De re publica

203

dest im dritten Buch zum Tragen kommt, scheint jedoch einen zentralen Aspekt seiner Rolle in der Gesprächsrunde dargestellt zu haben.

2.3.2 M’. Manilius a)

Historische Persönlichkeit

Hinsichtlich der Biographie des Manius Manilius sind uns einige Stationen überliefert: Im Jahr 155 oder 154 war er Praetor in Spanien und kämpfte mit scheinbar wenig Erfolg gegen die Lusitaner.967 Sein Konsulat mit L. Marcius Censorinus fiel in das ereignisreiche Jahr 149, in dem der ältere Cato starb und der letzte Krieg gegen Karthago ausbrechen sollte.968 Als Redner war er für die berüchtigten Friedensdiktate zuständig, die schließlich über den besiegten Feind verhängt wurden.969 In der militärischen Auseinandersetzung scheint er nach Appian gegenüber dem unter ihm als Legaten dienenden Scipio unglücklich agiert zu haben, doch verweist Münzer an dieser Stelle zurecht auf Appians Abhängigkeit von der parteiischen Geschichtsschreibung des Polybios.970 133 versuchte er als Konsular, Tiberius Gracchus von gesetzeswidrigen Schritten abzuhalten.971 Über das Todesjahr des Manilius lässt sich nur spekulieren, aufgrund einer Äußerung des 140 geborenen Crassus in De oratore und seiner Verspottung durch Lucilius ist es jedoch wahrscheinlich, dass er Scipio um mehrere Jahre überlebt hat.972 Da Manilius’ Name in den Ämterverzeichnissen stets nach dem Kollegen genannt wurde und sich kein früheres Mitglied der gens ausmachen lässt, das die höchsten Staatsämter erreichte, folgerte Münzer, dass es sich bei ihm um einen homo novus handeln müsse.973 Ein exemplum in den Paradoxa Stoicorum erwähnt ihn als Beispiel eines bescheidenen Lebensstils.974 In dem erhaltenen Teil des Dialogs lässt sich weder eine Bezugnahme auf seine Abstammung noch auf seine Besitzverhältnisse erkennen. Ein besonderes Markenzeichen der Figur des Manilius stellt seine herausragende Rolle für die römische Rechtswissenschaft dar, zu deren Begründern er gezählt wird.975 Zwei nicht erhaltene Werke lassen sich auf ihn zurückführen: Bei den Monumenta scheint es sich um eine Rechtssammlung gehandelt zu haben, welche Gesetze des Königs Numa beinhaltete, während die Actiones wohl 967 968 969 970 971 972 973 974 975

Vgl. MRR 1, S. 448; Münzer 1928, Sp. 1135 u. 1137. Vgl. ebd., Sp. 1135f. Vgl. Büchner 1984, S. 32. App. Lib. 15,101f.; vgl. Münzer 1928, Sp. 1138; Büchner 1984, S. 32. Plut. Ti. Gracchus 11,1; Büchner 1984, S. 32f.; Münzer 1928, Sp. 1138. Vgl. Cic. de orat. 3,133; Büchner 1984, S. 33. Münzer 1928, Sp. 1137; ihm folgt auch: Liebs 2002, S. 562. Cic. parad. 50. Vgl. Münzer 1928, Sp. 1139; Liebs 2002, S. 561.

204

Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

alltägliche Rechtsfälle behandelten.976 Im Brutus wird er P. Scaevola als ebenbürtig gegenübergestellt, im Vergleich zu dem er als Redner etwas größere Ausdrucksstärke (paulo […] copiosius), jedoch etwas geringeren Sachverstand (nec multo minus prudenter) gehabt habe.977 Innerhalb des Gesprächs von De oratore 1 wird er von Antonius neben anderen als ein Beispiel eines wahren „Rechtsexperten“ (iuris consultus) genannt, bei dem sich eine Privatperson für einen Prozess informieren könne.978 Im selben Werk hebt Crassus hervor, dass er Manilius noch selbst als eine Persönlichkeit kennengelernt habe, die ihren Mitbürgern umfangreichen Rat gegeben habe.979 Seine Bekanntschaft mit ihm parallelisiert er mit der seines Vaters und Großvaters zum älteren Rechtsgelehrten Sextus Aelius Paetus. Aus jener Parallelisierung wird deutlich, dass Manilius für Cicero einen ähnlichen Rang einnimmt, wie ihn später Scaevola Augur in De oratore innehaben wird, nämlich den des führenden Rechtsgelehrten seiner Generation. Seine diesbezügliche Gelehrsamkeit brachte der historischen Vorlage auch den Spott des Satirendichters Lucilius ein, der ihn zu den doctissimi zählte.980 Während hinsichtlich seiner politischen Bekanntschaft mit Scipio, der ihm im Jahr 149 im karthagischen Krieg unterstellt war, kein Zweifel besteht, wird die Freundschaft der beiden nur in De re publica erwähnt.981 Die persönliche Verbindung des Ausnahmepolitikers mit dem führenden Rechtsgelehrten bildet eine Parallele zur Konstellation von Crassus und Scaevola im vorherigen Dialog. Inwieweit hierbei eine bewusste Fiktion des Autors vorliegt, lässt sich angesichts fehlender Quellen nicht feststellen, aufgrund der Ähnlichkeit scheint jedoch ein gewisses Maß an Ausschmückung wahrscheinlich. b)

Humanitas und geschichtliches Interesse

Manilius tritt als letzter Gast der Gesprächsrunde bei, die sich gerade nach draußen verlagert um sich auf einer schattenreichen Wiese (in aprico maxime pratuli loco) niederzulassen:982 quod cum facere vellent, intervenit vir prudens omnibusque illis et iucundus et carus, Manius Manilius, qui a Scipione ceterisque amicissime consalutatus assedit proxime Laelio.

976 977 978 979 980 981 982

Vgl. Schanz/Hosius 1979, S. 238; Liebs 2002, S. 563. Cic. Brut. 108. Cic. de orat. 1,212. Ebd., 3,133. Lucil. 671–672 Chr. Gbg. = 595 Marx; vgl. Büchner 1984, S. 33. Vgl. Strasburger 1966, S. 66. Cic. rep. 1,18.

De re publica

205

Als sie im Begriff waren, das zu tun, kam hinzu ein kluger und ihnen allen angenehmer und teurer Mann, Manius Manilius, der sich, von Scipio aufs Herzlichste allgemein begrüßt, neben dem Laelius setzte.

Die enge Verbindung zwischen ihm und dem Hausherr wird durch die Begrüßung (amicissime […] consalutatus) und die Zuweisung eines „Ehrenplatzes“ unterstrichen, welche auf das Hierarchieverhältnis zwischen Manilius und Scipio zur Zeit der Belagerung Karthagos anspielt.983 Er wird als prudens und omnibus iucundus et carus bezeichnet, wodurch sein Charakter eine typisch altrömische Färbung erhält, die auf seine humanitas hinweist. Zu dieser gesellt sich eine idealtypische curiositas an dem Diskurs. Dabei zeichnet sich die Manilius-Figur durch ein dezidiertes Interesse an der römischen Geschichte aus. Im überlieferten Text von De re publica zeigt sich dieses während der Ausführungen im zweiten Buch: Manilius tritt mit der Frage an Scipio heran, ob der zweite König Roms ein Schüler (discipulum) des Philosophen Pythagoras gewesen sein könnte, wie es von den Älteren überliefert werde (saepe enim hoc de maioribus natu audivimus). 984 Nachdem Scipio ihm den chronologischen Fehler solcher Spekulationen erklärt hat, zeigt sich Manilius zufrieden:985 Di mortales! […] quantus iste est hominum et quam inveteratus error! Ac tamen facile patior non esse nos transmarinis nec importatis artibus eruditos, sed genuinis domesticisque virtutibus. Ihr unsterblichen Götter, […] wie groß ist doch dieser Irrtum der Menschen und wie eingewurzelt! Doch will ich’s leicht tragen, dass wir nicht durch überseeische und eingeführte Künste gebildet worden sind, sondern durch angeborene und einheimische Tugenden.

Die von Manilius angestoßene Frage verweist auf den kulturellen Gegensatz zwischen Rom und Griechenland, der in Ciceros Werken häufig erkennbar wird. Indem Manilius das ingenium der Römer für die Staatskunst hervorhebt, bringt er eine essentielle Intention des Autors zum Ausdruck, der die Philosophie in Rom ansiedeln möchte. c)

Manilius als Rechtsexperte und Redner

Die bereits angesprochene Expertise im römischen Recht, über welche die historische Persönlichkeit verfügte, stellt das zentrale Charakteristikum der ManiliusFigur dar, die dadurch ein eigenständiges, sich von den anderen Gesprächsteil983 984 985

S. Büchner 1984, S. 100. Cic. rep. 1,28. Ebd., 1,29.

206

Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

nehmern unterscheidendes Profil erhält. Bereits kurz nach seinem Erscheinen spielt Laelius mit einem Witz auf seine Rechtskenntnisse an, um seine Zustimmung für das Gespräch zu erlangen.986 Auf den Seitenhieb gegen die Rechtswissenschaft entgegnet Manilius ihm:987 Pergisne eam, Laeli, artem illudere, in qua primum excellis ipse, deinde sine qua scire nemo potest quid suum, quid alienum? Sed ista mox; nunc audiamus Philum, quem video maioribus iam de rebus quam me aut quam Publium Mucium consuli. Kannst du es nicht lassen, Laelius, die Kunst zu verspotten, in der du erstens selbst hervorragst, ohne die zweitens niemand wissen kann, was sein ist und was fremd? Aber darüber bald; jetzt wollen wir Philus hören, der, wie ich sehe, über größere Dinge jetzt als ich oder Publius Mucius befragt wird.

Manilius’ Rolle ist von Anfang an die eines Vertreters und Verteidigers der Rechtswissenschaften, der den urbanen Witz des Laelius durch den Verweis auf dessen eigene Fähigkeiten und auf die Wichtigkeit der ars für das Gemeinwesen pariert.988 Als Autorität in diesem Gebiet nennt er neben sich selbst Scaevola (quam me aut quam Publium Mucium). Indem er das Wort an Philus weitergibt, der „über größere Dinge“ (maioribus iam de rebus) befragt werde, bedient sich Manilius selbst der Ironie und knüpft an den von Laelius aufgeworfenen scherzhaften Umgangston an.989 Im dritten Buch wird erneut seine Autorität in Rechtsfragen eingebracht: Indem Philus ihn als Person nennt, welche den Wandel der geltenden Gesetze besonders gut belegen könne, dient er der Argumentation gegen die Gerechtigkeit und die Existenz eines Naturrechts. 990 Durch die Präsenz des römischen Rechtsgelehrten erfährt die philosophische Disputatio im Anschluss an ein Beispiel aus der Gesetzgebung des Lykurg einen römischen Bezugspunkt, der die Integration von exempla aus dem eigenen Kulturkreis erleichtert. Gleichzeitig suggeriert er die Richtigkeit derselben, da er bei falscher Zitation der Gesetze intervenieren würde. Aus den wenigen Fragmenten des fünften Buchs lässt sich schließen, dass er dort möglicherweise ein Wechselgespräch mit Scipio führt. In diesem scheint sich Scipio in ähnlicher Weise wie zuvor Philus seiner Autorität als Rechtskenner zu bedienen, da die Frage behandelt wird, ob auch der Villenverwalter oder der Rechnungsträger über landwirtschaftlichen Sachverstand verfügen sollte:991 986 987 988 989 990 991

Cic. rep. 1,19. Ebd., 1,20. Vgl. Büchner 1984, S. 101f. Vgl. ebd., S. 102. Cic. rep. 3,17. Ebd., 5,5. Zwar kann nicht mit letzter Gewissheit davon ausgegangen werden, dass der Antwortgeber Manilius ist, es erscheint jedoch aufgrund der zuvor erwähnten le-

De re publica

207

(Scipio) [*** ra] dicum seminumque cognoscere num te offendet? Nihil, si modo opus exstabit. Num id studium censes esse vilici? Minime. Quippe, cum agri culturam saepissime opera deficiat. Ergo ut vilicus naturam agri novit, dispensator litteras scit, uterque autem se a scientiae delectatione ad efficiendi utilitatem refert, sic noster hic rector studuerit sane iuri et legibus cognoscendis, […]. (Scipio) „[…] der Wurzeln und Samen kennenlernt, wirst du daran Anstoß nehmen?“ (Manilius?) „Keinesfalls, wenn nur die Arbeit geleistet wird.“ (Scipio) „Meinst du, das sei die Aufgabe des Verwalters?“ (Manilius?) „Keineswegs, da der Pflege des Ackers sehr häufig die Hand fehlen würde.“ (Scipio) „Also, wie der Verwalter die Natur des Ackers kennt, der Rechnungsführer die Schrift versteht, beide aber zum Nutzen des Wirkens wenden, so soll dieser unser Lenker sich freilich bemühen, das Recht und die Gesetze kennenzulernen […].“

Handelt es sich bei dem unbekannten Sprecher um Manilius, so träte er erneut als Autorität in Rechtsfragen auf. Der Passus rezipiert dabei den aus dem platonischen Politikos bekannten Vergleich von Herrschaftskunst und Haushaltskunst. 992 Das Gespräch führt zu der für Ciceros Bildungsintention wichtigen Feststellung, dass Rechtskenntnisse im Sinne „der Erfassung des Wesens, also im Sichverstehen auf die Gerechtigkeit notwendig“ sind.993 d)

Zusammenfassung

Als Rechtsexperte altrömischen Schlags gleicht die Figur des Manilius der des Scaevola in De oratore. Während dort auf das ehemalige Lehrerverhältnis zwischen Scaevola und Crassus angespielt wird, erinnert in De re publica schon das Erscheinen des Manilius an das ehemalige Hierarchieverhältnis zwischen ihm und Scipio, bei dem der Gesprächsführer des Dialogs jenem untergeordnet war. Während Scaevolas Ehrenrang auch durch das Alter bestimmt wurde, so lässt sich dieser Faktor aufgrund des fragmentarischen Charakters des Staatswerks nicht eindeutig bestimmen, dass Philus ihn als Zeugen für den Wandel des bestehenden Rechts anführt, könnte als Indiz dafür gewertet werden. Der altrömische Charakter zeigt sich im zweiten Buch bei der Fragestellung der Bildung des römischen Königs Numa. Der fragmentarische Text zeigt ein sokratisches Wechselgespräch in maieutischer Manier, das möglicherweise zwischen ihm und Scipio stattfindet. Dass am Ende jenes Gesprächs die Bildung des rector rei publicae definiert wird, könnte auf eine ähnlich zentrale Rolle des Manilius in der Gesprächsrunde hinweisen, wie sie Scaevola und Catulus in De

992 993

ges Numae, die jener in seinen Monumenta gesammelt und kommentiert hatte, wahrscheinlich, s. Büchner 1984, S. 400f. u. 404. Plat. polit. 259b9–c4. Büchner 1984, S. 401.

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

oratore innehaben, deren Gesprächsanteil dort gemessen an dem der Hauptredner zwar gering ausfällt, deren Präsenz jedoch aufgrund ihrer Mittlerfunktion und Autorität den Dialog bereichert. Er ist zudem der einzige Gesprächspartner, von dem keine Verbindung zu einem Philosophen bekannt ist, was seinen konservativ-römischen Charakter unterstreicht.

3

Cato maior

Nachdem Cicero nach De re publica in seinen weiteren Dialogen dazu übergegangen war, die Dialogzeit in eine nähere Vergangenheit oder in die Gegenwart zu verlegen und sich selbst als Dialogfigur in die Gespräche einbaute, wechselt er bei den späten, kleineren Werken wieder auf das Schema, mit dem er sein dialogisches Schaffen begonnen hatte. In Laelius und Cato maior994 griff er mit den Hauptpersonen Scipio, Laelius, Scaevola und Fannius auf Personen des von ihm fingierten Scipionenkreises aus De re publica zurück, so dass beide hinsichtlich der Personenwahl von Hirzel als Vorspiel, von Strasburger als Appendix des Staatswerkes klassifiziert wurden. 995 Formal und inhaltlich lässt sich dadurch beiden Werken, die sich dezidiert mit einzelnen Fragestellungen der Lebensführung auseinandersetzen, ein Sondercharakter attestieren. 996 Cicero begann mit dem Dialog über das Greisenalter Anfang des Jahres 44 und scheint ihn noch vor den Iden des Märzes abgeschlossen zu haben.997 Ohne Zweifel jedoch ist das Werk vor dem Laelius entstanden. Indem Cicero darin das Gespräch zeitlich vor der Handlung des Staatswerks, im Freundschaftsdialog aber danach spielen lässt, erwecken beide Werke den Eindruck, die Vor- bzw. Nachgeschichte zu liefern.998 Hinsichtlich ihres zeitlichen Kontextes greift der Autor wieder auf das 994

995 996 997

998

Inwiefern der Zusatz de senectute bzw. de amicitia zum Titel gehörten, ist in der Forschung umstritten, im Zusammenhang mit Ciceros Laelius s. unten S. 231f., Anm. 1102. Das Proömium von De divinatione 2 erwähnt keinen Titel, sondern umschreibt den Inhalt des Buches mit der Wendung de senectute: Cic. div. 2,3: liber is, quem ad nostrum Atticum de senectute misimus […]; zu Beginn des später erschienenen Laelius heißt es: Lael. 4: sed ut in Catone Maiore, qui est scriptus ad te de senectute. In beiden Fällen erscheint de senectute somit als Beschreibung des Inhalts, möglicherweise um eine Verwechslung mit dem verlorenen gegangenen Cato zu vermeiden. Es liegt nahe, dass Cicero wie bei den Dialogen Hortensius, Catulus und Lucullus den Namen der Hauptfigur vorgesehen hat. S. hierzu: Spahlinger 2005, S. 36. S. hierzu: Hirzel 1895, S. 545; Strasburger 1966, S. 62. Vgl. Spahlinger 2005, S. 31. Als sicherer terminus ante quem gilt aufgrund der Erwähnung des Werks in der Korrespondenz mit Atticus der 11. Mai 44: Cic. Att. 14,21 = 375 Sh. B.,3. Da es jedoch bereits im kurz nach den Iden des März veröffentlichten zweiten Buch von De divinatione mit aufgelistet wird, kann eine Fertigstellung kurz vor Caesars Ermordung angenommen werden; zur Datierungsfrage s. Powell 1988, S. 1 u. 267f. Vgl. Spahlinger 2005, S. 31.

Cato maior

209

Muster zurück, das Dialoggeschehen vor seiner Geburt anzusetzen. Von jener Technik hatte er nach der Veröffentlichung von De re publica um das Jahr 52 keinen Gebrauch mehr gemacht. Dem Dialog Cato maior lassen sich einige Eigenheiten attestieren, durch welche er sich von anderen Werken des ciceronischen Dialogkorpus unterscheidet und die Vielgestaltigkeit desselben unterstreicht. Mit Blick auf seine historische Kontextualisierung handelt es sich bei ihm um den einzigen der vier Vergangenheitsdialoge ohne Autorenpräsenz, der unter der Herrschaft Caesars erschien, also in einer Zeit, in der der Autor für sich keine politische Perspektive mehr sah.999 Innerhalb dieser Gruppe weist er mit dem Jahr 150 zudem das früheste dramatische Datum auf und unterscheidet sich zusätzlich dadurch, dass der Autor gar nicht erst versucht, die Fiktivität des historischen Gesprächs zu verdecken:1000 Omnem autem sermonem tribuimus non Tithono, ut Aristo Ceus – parum enim esset auctoritatis in fabula – sed M. Catoni seni, quo maiorem auctoritatem haberet oratio; apud quem Laelium et Scipionem facimus admirantes quod is tam facile senectutem ferat, eisque eum respondentem. Dabei habe ich aber nicht, wie Ariston aus Keos, das ganze Gespräch dem Tithonos in den Mund gelegt (eine Sage hätte doch zu wenig Nachdruck!), sondern dem greisen Marcus Cato, um den Worten mehr Gewicht zu verleihen; in seinem Haus lasse ich Laelius und Scipio auftreten als Männer, die ihn bewundern, weil er mit dem Alter so leicht fertig werde und er soll darauf antworten.

Als eine Inspiration für das Werk diente demnach die nicht erhaltene Schrift Περὶ γήρως, die Cicero dem Peripatetiker Ariston zuschrieb und in dem der unsterbliche Tithonos sich mit der Göttin Eos über das Altern unterhält.1001 Cicero lehnt allerdings eine mythische Szenerie unter Hinweis auf die auctoritas ab und lässt stattdessen eine historische Persönlichkeit Roms auftreten, welche die auctoritas des eigenen Werkes erhöht.1002 In der älteren Forschung hat die Refe999

Dennoch attestiert ihm Lefèvre nicht zu Unrecht den Charakter einer „DurchhalteSchrift“, den er mit den Tusculanen und De officiis teile: Lefèvre 2007, S. 63. 1000 Cic. Cato 3. Der lateinische Text des Cato maior wird nach der Edition von Powell zitiert, die Übersetzung, wenn nicht anders vermerkt, nach von Faltner. Zur offenen Fiktivität des Dialogs s. auch: Hösle 2006, S. 146; Wulfram 2009, S. 24. 1001 In der Frage der Urheberschaft von περὶ γήρως zeichnet sich in der Forschung eine Mehrheit dafür ab, dass Ciceros Angabe korrekt ist und er nicht Ariston von Keos mit dem Stoiker aus Chios verwechselt habe. Einen Überblick zur Forschungsdiskussion liefert Spahlinger 2005, S. 32, Anm. 9; zur Problematik der Vorlage: Lefèvre 2007, S. 45–50. 1002 Vgl. Alfonsi 1971, S. 209. Wie Wulfram 2009, S. 25 hinweist, macht der Autor dabei seinen Status als „autonom waltende[r] Erzähler“ durch die Verben inducere und facere deutlich.

210

Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

renz zu der Annahme geführt, dass Cicero die Struktur des griechischen Werks kopiert und lediglich den Sprecher ersetzt habe, wohingegen man heute dazu tendiert, die Eigenständigkeit in den philosophischen Arbeiten Ciceros hervorzuheben.1003 Darüber hinaus gehört Cato maior zu den Dialogen, die mit am stärksten von einem monologischen Charakter bestimmt werden; ein Effekt, der nicht nur von der geringen Anzahl der Gesprächsbeiträge unterschiedlicher Personen herrührt, sondern auch durch die Gliederung und Ausgestaltung des Hauptteils erzeugt wird, der sich aus einer durchgängigen und nach rhetorischem Muster aufgebauten oratio zusammensetzt. 1004 In einem Anfang Mai an Atticus geschriebenen Brief gibt Cicero vor, durch das Lesen seines Werkes Trost gegen das Gefühl der politischen Machtlosigkeit zu finden. 1005 Ob die consolatio das Hauptziel der Schrift darstellt, wurde in der Forschung angezweifelt, dennoch kommt ihr eine wichtige Rolle zu.1006

3.1

M. Porcius Cato Censorius

a)

Historische Persönlichkeit

M. Porcius Cato Censorius, der zur Unterscheidung von dem Zeitgenossen Ciceros, M. Porcius Cato Uticensis, im Folgenden als Cato Censorius bezeichnet wird, wurde im Jahr 234 in Tusculum geboren, was ihn zur ältesten Dialogfigur in Ciceros dialogischem Kosmos macht.1007 Seine Jugend war – vergleichbar der des jüngeren Scipio – von den militärischen Auseinandersetzungen seiner Zeit geprägt: So nahm er bereits mit 17 Jahren als Soldat am Zweiten Punischen 1003

S. hierzu: Spahlinger 2005, S. 32, Anm. 8; ferner: Hirzel 1895, S. 545. Die Nennung des Ariston verweist ferner auf die im Peripatos verbreiteten moralphilosophische Diatribe, die einen starken Einfluss auf die heraklidischen Dialogform ausübten, vgl. Spahlinger 2005, S. 33. 1004 Vgl. Lefèvre 2007, S. 61f. 1005 Cic. Att. 14,21 = 375 Sh. B.,3. 1006 Für den Charakter der Consolatio spricht etwa: Lefèvre 2007, S. 62f. Nach Alfonsi hingegen geht er als „eine Synthese seiner reifsten Haltung gegenüber der Existenz selbst“ über eine reine consolatorische oder protreptische Funktion hinaus: Alfonsi 1971, S. 208. 1007 Hinsichtlich des älteren Cato verfügen wir durch die Biographien des Cornelius Nepos und Plutarch über eine vergleichsweise gute Quellensituation. Im Folgenden kann nur ein Abriss seines ereignisreichen Lebens gewährt werden, für eine detaillierte und quellenfundierte Beschreibung desselben sei an dieser Stelle auf den Artikel der RE von Gelzer und Helm 1953 sowie vor allem auf die Monographie von Astin 1978 hingewiesen. Eine jüngere und akzentuierte Darstellung über Person und Werk liefern etwa: Gehrke 2000; Suerbaum 2002, S. 380–418. Eine umfassende und kommentierte Bibliographie zur Forschung des 20. Jahrhunderts erstellte: Suerbaum 2004.

Cato maior

211

Krieg teil, in dessen Verlauf er 214 zum tribunus militum aufstieg.1008 Nach dem Urteil Plutarchs spielten seine militärischen Fähigkeiten eine entscheidende Rolle für den politischen Aufstieg des Mannes, der aufgrund seiner Herkunft wie Cicero als homo novus gelten kann.1009 Der Entschluss, in die Politik einzusteigen, folgte der Empfehlung des L. Valerius Flaccus, eines Parteigängers des für seine Hinhaltetaktik gegen Hannibal bekannten Q. Fabius Maximus Verrucosus Cunctator, dem Cato in der Folgezeit politisch nahestand.1010 Im Jahr 204 erreichte er die Quaestur, die ihn an der Seite des P. Scipio nach Africa führte. Mit ihm geriet der traditionell konservative Römer in der Folgezeit in einen persönlichen Konflikt hinsichtlich der Lebensführung. 1011 Aus historischer Sicht kann dabei nicht vollständig geklärt werden, ob es zwischen beiden zu einer tatsächlichen Feindschaft kam, wie Nepos berichtet, 1012 oder diese Darstellung einer bewussten, späteren Dramatisierung unterliegt.1013 199 wurde Cato plebejischer Ädil und im Folgejahr Praetor für die Provinz Sardinien.1014 Im Jahr 195 erhielt er zusammen mit Valerius Flaccus das Konsulat und im Anschluss Spanien als konsularische Provinz, in der er den römischen Machtbereich ausweitete und die Staatskasse nicht zuletzt auf Kosten der iberischen Bevölkerung füllte.1015 Im Jahr 191 nahm er erneut als Militärtribun am Krieg gegen den seleukidischen König Antiochos III. teil und trat dabei als Redner – freilich mit Dolmetscher – gegen antirömische Stimmungen im östlichen

1008

Vgl. Gelzer 1953, Sp. 108. Dass er 209 unter Fabius Maximus an einer Expedition gegen Tarent teilgenommen hat, wie dies aus Cic. Cato 10 und Plut. Cato mai. 2,3 hervorgeht, ist mit Blick auf Nepos’ Darstellung unwahrscheinlich. Es stellt sich die Frage, ob es sich dabei, wie Gelzer nahelegte, um eine „pythagoreische Legende“ handelt und die Notiz damit auf fehlerhaftes Arbeiten Ciceros zurückgeht, oder die Darstellung, wie Saint-Denis vermutete, lediglich eine bewusste Idealisierung durch den Autor bezwecken soll: Gelzer 1953, Sp. 108f.; Saint-Denis 1956; ferner: Münzer 1935, Sp. 2154; Garbarino 1973, S. 325–329; Astin 1978, S. 371; Gruen 1993, S. 63, Anm. 82. Eine gewisse Grundproblematik bleibt jedoch erhalten, da der Autor bekanntlich um einen historisch korrekten Anstrich bemüht ist, wie Ducos anmerkt: Ducos 1994c, S. 241. 1009 Plut. Cato mai. 1; zur Herkunft s. Astin 1978, S. 2. 1010 Vgl. Albrecht 2012, S. 330. 1011 Vgl. Gelzer 1953, S. 109f.; zur Datierung der Quaestur: Ruebel 1977, S. 162f. in Anlehnung an Kienast 1954, S. 17f. Gehrke vermutet als Ursache für die persönlichen Streitigkeiten zwischen Cato und P. Scipio eine generell kritische Haltung der Förderer Catos zu den Corneliern: Gehrke 2000, S. 149. 1012 Nep. Cato 1,3: namque ab eo perpetua dissensit vita; Plut. Cato mai. 3. 1013 So Ruebel 1977, S. 163; ferner: Gelzer 1953, Sp. 110. 1014 Von seinem Aufenthalt in der ihm zugeteilten Provinz Sardinien nahm er vermutlich den jungen Dichter Ennius, mit dem der Militär in einem sehr freundschaftlichen Verhältnis stand, mit nach Rom: Nep. Cato 1.4; vgl. Gelzer 1953, Sp. 110f. 1015 Vgl. Gelzer 1953, Sp. 111–116.

212

Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

Mittelmeerraum auf.1016 In der Entscheidungsschlacht bei den Thermopylen von 190 führte er, möglicherweise inspiriert von seinen literarischen Kenntnissen, den Sieg durch die Umgehung des Passes herbei.1017 In der römischen Innenpolitik zeigte er sich in der Folgezeit als energischer Kritiker eines hellenistischen Kultureinflusses, in dem er eine essentielle Gefahr für die römischen Sitten sah.1018 Als der homo novus im Jahr 184 die Zensur erreichte, nutzte er seine Position, um sich mit einer strikten Amtsführung dem neuen Zeitgeist entgegenzustellen, was ihm später den Beinamen Censorius einbrachte.1019 In seiner Italienpolitik erkennt Hantos einen soliden Realismus, mit dem ihm zwar keine Lösung der strukturellen Probleme, jedoch eine mittelfristige Stabilisierung der politischen Ordnung gelang.1020 Außenpolitisch ist es schwierig, Cato einer bestimmten Richtung zuzuordnen: So versuchte er im Jahr 167 die Umstrukturierung Makedoniens in eine Provinz und einen Krieg gegen Rhodos zu verhindern.1021 Die Fragmente seiner Rhodierrede zeigen, dass er in die nach den Kriegen gegen die Seleukiden und Makedonen errungene konkurrenzlose Machtstellung Roms kritisch reflektierte, indem er vor möglichen negativen Auswirkungen auf die römische Gesellschaft (ferocia, luxuria, superbia) und die unterworfenen Völker (servitus) warnte.1022 In der karthagischen Frage strebte er dagegen entschieden eine militärische Lösung an, die er 150 – ein Jahr vor seinem Tod – gegen Scipio Nasica durchsetzen konnte.1023 1016

Plut. Cato mai. 12, 4; vgl. Gelzer 1953, Sp. 117–119; Albrecht 2012, S. 331. Vgl. Gehrke 2000, S. 151; Albrecht 2012, S. 331. 1018 Vgl. Gelzer 1953, Sp. 124f. Catos bewusste Selbststilisierung als ein von griechischen Einflüssen freier, echter Römer kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein Denken und Handeln von diesem geprägt wurden. Wie Gehrke anhand des an den Sohn gerichteten Bildungsprogramms, der Origines und der politischen Reden darlegt, nahm Cato nicht nur Einflüsse griechischer Provenienz in sein Werk auf, sondern verstand es darüber hinaus auch, sie für sein eigenes, an der Bewahrung des mos und der Beschränkung von superbia orientiertes Denken nutzbar zu machen: Gehrke 1994, S. 599–607. Wie Gruen verdeutlichte, ist Catos kritische Haltung gegenüber griechischen Kultureinflüssen bei gleichzeitiger Aneignung in einem engen Kontext mit seiner Intention zu sehen, römische Wertvorstellungen und Qualitäten durch die griechischen klarer zu definieren und sie auf diese Weise von diesen abzusetzen: Gruen 1993, S. 52–83. 1019 Zur Zensur Catos s.: Gelzer 1953, Sp. 125–130; Gruen 1993, S. 56; Gehrke 2000, S. 152f. 1020 Hantos 1998. 1021 Vgl. Gelzer 1953, Sp. 132–136. 1022 ORF4 S. 62–67, fr. 163–171; vgl. Gehrke 1994, S. 602 u. ders. 2000, S. 155f. 1023 Für Catos kompromisslose Haltung gegenüber Karthago lassen sich mehrere Ursachen annehmen. Neben den persönlichen Erfahrungen im Zweiten Punischen Krieg dürfte auch der Eindruck von ersten militärischen Niederlagen und Aufständen im Jahr 154 ausschlaggebend gewesen sein. S.: Gelzer 1953, Sp. 141f.; Gehrke 2000, S. 156. 1017

Cato maior

213

Das Verhältnis zwischen Cato und einzelnen Vertretern der Scipionen divergiert stark: So geriet er nicht nur mit Aemilianus’ Großvater, Scipio Africanus, sondern später auch mit Scipio Nasica bezüglich der karthagischen Frage in heftigen Streit.1024 Diese persönlichen Konflikte tangierten jedoch sein Verhältnis zu Aemilianus’ Vater nur wenig, dessen Tochter Aemilia seinen Sohn im Zeitraum zwischen 168 und 161 heiratete.1025 Im Jahr 155 gelang es ihm nach dem Zeugnis mehrerer antiker Quellen, die Philosophengesandtschaft um Karneades aus der Stadt zu verweisen, da er in den Reden der Philosophen eine existentielle Bedrohung für den römischen Staat vermutete.1026 Die Biographie Catos ergibt das Bild eines sozialen Aufsteiger, eines erfolgreichen, bisweilen rücksichtslosen Militärs sowie eines für seine Zeit begnadeten Redners, dessen Reden dem Autor wohl vertraut waren, und energischen Staatsmanns, der in Wort und Tat als Verfechter eines altrömischen Pragmatismus gesehen werden kann. Darüber nimmt er einen zentralen Platz in der römischen Literaturgeschichte ein: Mit seinem Geschichtswerk Origines begründete er die lateinische Historiographie.1027 Die Monographie De agricultura spricht dafür, dass der sich selbst nach außen hin als griechenfeindlich gerierende Cato Kenntnisse der griechischen Fachliteratur hatte.1028 Hinsichtlich der Verwendung des Cato Censorius als Sprecher hat sich Cicero, wie oben bereits angesprochen, im Proömium bereits offen gegenüber dem Leser seines Werkes geäußert und als primären Beweggrund die auctoritas seines Protagonisten genannt.1029 In der Nachfolgeschrift, dem im selben Jahr erschienenen Laelius, begründet er diesen Aspekt im Proömium nochmals ausführlich:1030 Sed ut in Catone Maiore, qui est scriptus ad te de senectute, Catonem induxi senem disputantem, quia nulla videbatur aptior persona quae de illa aetate loqueretur quam eius qui et diutissime senex fuerit, et in ipsa senectute praeter ceteros floruisset; […]. Beim Cato Maior, einer Schrift, die ich über das Greisenalter schrieb und dir widmete, machte ich es so, dass ich den greisen Cato als Sprecher auftreten ließ, weil wohl kein anderer geeigneter war, über jene Altersstufe zu reden, als der Mann, der so lange in hohem Alter gelebt hat und gerade in seinem hohen Alter so jugendfrisch war, wie kaum ein Zweiter.

1024

Vgl. Astin 1956, S. 159. S. hierzu: ebd., S. 162. 1026 Plut. Cato mai. 22f.; Cic. ac. 2,137; Plin. nat. 7,112; Quint. inst. 12,1,35; vgl. Albrecht 2012, S. 332f. 1027 S. hierzu: Gruen 1993, S. 59–61; Suerbaum 2002, S. 387–394. 1028 Vgl. Suerbaum 2002, S. 403f. 1029 Cic. Cato 3. 1030 Cic. Lael. 4. 1025

214

Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

Der Vorbildcharakter des alten Cato besteht somit zunächst darin, dass dieser noch im hohen Alter eine solche Aktivität besaß, wie man sie auch von einem jungen Römer nicht besser hätte erwarten können (ipsa senectute praeter ceteros floruisset).1031 Die erfolgreiche Lebenspraxis, was im Fall Catos vor allem auf seine politische Tätigkeit verweist, gibt ihm dabei, wie Wulfram herausstellt, als Sprecher über Moralphilosophie „das Prestige eines Experten und seinen Worten Gewicht“.1032 In dem zum Dialog überleitenden Satz erklärt Cicero, dass Cato alles darlegen werde, was er (= Cicero) „zum Thema zu sagen habe“ 1033 , wodurch ihm eine klassische Sprachrohrfunktion zugewiesen wird.1034 Die Tendenz, Cato maior als individuelles Vorbild darzustellen, ist bereits vor dem Dialog über das Greisenalter offensichtlich. Am deutlichsten tritt sie zu Beginn des Staatswerks zu Tage. Im Proömium heißt es dort:1035 Marco vero Catoni, homini ignoto et novo (quo omnes qui eisdem rebus studemus quasi exemplari ad industriam virtutemque ducimur), certe licuit Tusculi se in otio delectare, salubri et propinquo loco; sed homo demens, ut isti putant, cum cogeret eum necessitas nulla, in his undis et tempestatibus ad summam senectutem maluit iactari, quam in illa tranquilitate atque otio iucundissime vivere. […] Unum hoc definio: tamen esse necessitatem virtutis generi hominum a natura tantamque amorem ad communem salutem defendendam datum, ut ea vis omnia blandimenta voluptatis otique vicerit. M. Cato aber, einem unbekannten und neuen Manne, der uns allen, die wir nach denselben Dingen streben, ein Ideal ist, wodurch wir uns zu Tätigsein und männlicher Vollkommenheit leiten lassen, war es gewiss möglich, sich in Tusculum in Ruhe zu vergnügen, einem gesunden und nahe gelegenen Platze. Aber der Tor, wie diese meinen: obwohl ihn keine Not zwang, wollte er doch lieber in diesem Gewoge und diesen Stürmen bis in sein höchstes Greisenalter sich herumschlagen, als in jener Stille und Ruhe aufs angenehmste leben. […] Dies eine nur gewinne ich daraus als Markstein, dass eine so große Notwendigkeit zu männlicher Bewährung dem Geschlecht der Menschen und eine so große Liebe, das allgemeine Wohl zu schützen, von Natur verliehen ist, dass diese Kraft alle Verlockungen der Lust und der Muße besiegt hat.

Der persönliche Vorbildcharakter wird bereits zu Beginn deutlich, indem Cicero auf ihn als homo novus und ignotus verweist: Bei ihnen beiden handelt es sich um soziale Aufsteiger aus dem Ritteradel, die sich gegenüber den etablierten

1031

Vgl. Wulfram 2009, S. 24f. Ebd., S. 25. Auf eine bewusste Wahl aufgrund der persönlichen Autorität verweist auch Hösle 2006, S. 190. 1033 Cic. Cato 3: ipsius Catonis sermo explicabit nostram omnem de senectute sententiam. 1034 Vgl. Wulfram 2009, S. 25; Hösle 2006, S. 146. 1035 Cic. rep. 1,1. 1032

Cato maior

215

Familien durchsetzen mussten. 1036 Der Hinweis auf Catos moralischen Beispielcharakter deutet dabei auf ein den beiden Römern ähnliches Denkmuster hin, einen moralischen Ursprung für die Krisen der Gegenwart auszumachen und sich selbst als Beschützer der römischen virtus zu stilisieren.1037 Die Persönlichkeit des alten Cato, der wie Cicero ein homo novus war und als solcher vorgestellt wird, stellt somit einerseits ein persönliches Vorbild an „männlicher Bewährung“ (virtutis) dar, andererseits fungiert sie als ein Beleg dafür, dass dem Menschengeschlecht (generi hominum) von der Natur eine „Notwendigkeit“ (necessitatem) der virtus sowie eine Liebe zum Erhalt des Gemeinwohls verliehen worden sei, wodurch die historische Persönlichkeit in einen direkten Bezug zur philosophischen Grundthese des Werks gestellt wird.1038 Auf diese Weise hat unser Autor Cato bereits zehn Jahre vor dem Cato maior als Ideal der philosophischen Grundannahme einer Menschengemeinschaft erscheinen lassen. Der erneute Rückgriff auf dieses Muster zeigt, dass jene Vorstellungen trotz aller politischen Ereignisse, die zwischen beiden Werken lagen, weiterhin einen wichtigen Bezugspunkt für Cicero darstellen. Die Charakterisierung als idealer, noch im Alter aktiver Politiker, der „die Verlockungen der Lust und der Muse besiegt“ habe (omnia blandimenta voluptatis otique vicerit), verweist dabei auf ein Verhalten, dass sich der Autor nach Lefèvre auch für sich selbst wünschen würde.1039 b)

Catos Haltung zur griechischen Kultur

Im Zusammenhang mit Catos Haltung zur griechischen Kultur und Gelehrsamkeit ist zunächst auffallend, dass Cicero mit ihm einen Römer zum Gesprächsführer ernennt, der sich bekanntlich gegenüber dem in seiner Zeit wachsenden Einfluss griechischer Bildung sehr zwiespältig bis offen feindselig verhielt, obschon er selbst nicht unberührt davon blieb. 1040 Anders als bei den bereits behandelten Dialogfiguren Antonius und Laelius spiegeln sich die Vorbehalte der historischen Vorlage gegenüber griechischer Kultur kaum im Auftreten des Protagonisten wider. Wulfram äußerte diesbezüglich nicht zu Unrecht, dass das Verschweigen dieses Charakterzugs dem Autor entgegenkomme, da es ein „konfliktfreies und von Hochachtung geprägtes Gespräch“ mit den „Philhellenen

1036

Vgl. Spahlinger 2005, S. 63f. Zur Ähnlichkeit des moralischen Denkens s.: Spahlinger 2005, S. 64; Pöschl 1956, S. 191f. 1038 Vgl. Corso 2008, S. 53. 1039 Lefèvre 2007, S. 63. 1040 Christes erklärt diesen Zwiespalt bei Cato und anderen plebejischen homines novi psychologisch durch die Anziehungskraft des politischen Lebensideals auf die Aufsteiger: Christes 1975, S. 154; zum Verhältnis Catos zu griechischen Kultureinflüssen s. auch: Astin 1978, S. 157–181; Suerbaum 2002, S. 384. 1037

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Scipio Aemilianus und Laelius“ ermögliche.1041 Es bleibt jedoch auffallend, dass sich im Cato maior ein Römer konservativer Prägung präsentiert, der über sehr umfangreiche Kenntnisse griechischer Literatur verfügt, was sich aus folgenden Punkten ableiten lässt: Cato führt bereits zu Beginn einen ganzen Katalog früherer Gelehrter an1042, zeigt während seiner Rede Vertrautheit mit den philosophischen Autoren Platon und Xenophon 1043 und zitiert hinsichtlich der Dichtung zweimal Homer und einmal Solon.1044 Anders als der Hauptredner im Laelius nennt er die von ihm zitierten Griechen beim Namen. Hinsichtlich der Werke des Xenophon äußert er eine offene und eindringliche Empfehlung an Scipio und Laelius, sie doch zu lesen (quos legite, quaeso, studiose, ut facitis).1045 Ein besonders langes Zitat entnimmt Cato am Ende seiner Rede aus der Kyrupädie,1046 wobei er sich, wie Saphlinger nachweist, nicht der „Bewahrung der Vorlage“1047 verpflichtet fühlt, sondern der „Übertragung des Gedankens in die eigene Sprache“. Die fiktionale Dialogfigur nehme dabei explizit auf den ebenfalls fiktionalen Kyros der Kyrupädie Bezug, während sie das Werk gleichzeitig als staatsphilosophische Schrift auslegt, wodurch Plausibilität geschaffen werde.1048 Catos Kenntnisse griechischer Philosophie sind dabei nicht alleine aus der Lektüre erwachsen, sondern es findet sich erneut die Erwähnung einer mündlichen Überlieferungskette, die den lustkritischen Äußerungen aus seinem Mund Glaubwürdigkeit verleihen soll:1049 Haec cum Gaio Pontio Samnite, patre eius a quo Caudino proelio Sp. Postumius T. Veturius consules superati sunt, locutum Archytam, Nearchus Tarentinus hospes noster, qui in amicitia populi Romani permanserat, se a maioribus natu accepisse dicebat; cum quidem ei sermoni interfuisset Plato Atheniensis, quem Tarentum venisse L. Camillo Ap. Claudio consulibus reperio. So sprach Archytas zu Gaius Pontius, dem Samniten, dem Vater des Mannes, der die Konsuln Spurius Postumius und Titus Veturius in der Schlacht bei Caudium besiegte; erzählt hat es mir mein Gastfreund Nearchos aus Tarent, der ein treuer Anhänger des römischen Volkes geblieben war; er sagte, er habe es ältere Personen so erzählen hören; auch Platon aus Athen soll bei der Unterhaltung dabei ge1041

Wulfram 2009, S. 30f. Dabei darf jedoch ergänzt werden, dass die jungen Gesprächsfiguren bereits in De re publica als gebildete Philhellenen idealisiert wurden. 1042 Cic. Cato 23. 1043 Dezidiert verweist er auf Platons Timaios (69c) in: Cic. Cato 44; zu Xenophon: Cic. Cato 30 (Kyrupädie), 46 (Symposion), 59 (Oikonomikos), 79–81 (Kyrupädie). 1044 Ebd., 26 (Solon), 31 (Ilias), 54 (Odyssee). 1045 Ebd., 59. 1046 Ebd., 79–82; vgl. Xen. Kyr. 8,7,17–22. 1047 Spahlinger 2005, S. 47. 1048 Ebd., S. 49f. Dass sich Cicero der Fiktionalität der Kyrupädie bewusst war, verrät die Korrespondenz mit Quintus: Cic. ad Q. fr. 1,1 = 1 Sh. B.,23. 1049 Cic. Cato 41; zur Luxuskritik s. ebd. 39–41.

Cato maior

217

wesen sein – er ist nach meinen Ermittlungen im Konsulatsjahr des Lucius Camillus und des Appius Claudius nach Tarent gekommen.

Durch diesen Einschub liefert der Autor eine Rechtfertigung für Catos Kenntnisse hinsichtlich der Thesen des Pythagoras und des Platon, auf dessen Werke Timaios und Phaidon er sich später ausdrücklich bezieht.1050 Geht man aber mit dem Gros der Forscher von einem fiktionalen Charakter dieses angeblich im Jahr 209 stattgefundenen Gesprächs aus,1051 lässt sich gleichzeitig herausstellen, dass der Autor trotz seines Bekenntnisses im Proömium, die Dialogfigur die eigene Meinung wiedergeben zu lassen, an der Unterscheidbarkeit seiner Person von der Catos festhält: Stattdessen ist er bemüht, die Aussagen seiner Figur so erscheinen zu lassen, dass sie theoretisch auch von der historischen Persönlichkeit hätten stammen können.1052 Dennoch erscheint die Cato-Figur eben nicht als Römer, welcher der griechischen Lektüre nur im Geheimen nachgeht oder der von Fragestellungen ihrer Philosophen nur über Erzählungen erfahren hat. Vielmehr lässt der Autor in ihm eine regelrechte Begeisterung für einen neuen Kultureinfluss zum Ausdruck kommen:1053 […] et ego feci, qui litteras Graecas senex didici? Quas quidem sic avide adripui, quasi diuturnam sitim explere cupiens, ut ea ipsa mihi nota essent, quibus me nunc exemplis uti videtis. Quod cum fecisse Socratem in fidibus audirem, vellem

1050

Cic. Cato 44 (Timaios), 78 (Phaidon); zu Pythagoras: Cic. Cato 38, 73, 78. Zur umstrittenen Historizität des Treffens zwischen Cato und Nearchos in Tarent s. oben S. 211, Anm. 1008. 1052 In Analogie zu den Beschreibungen der Bildungskontakte in De oratore lässt sich vermuten, dass Cicero Catos Begegnung und Bekanntschaft mit Nearchos in Tarent für historisch hielt und diese Notiz ihm dazu diente, das philosophische Profil der Cato-Figur auszubauen. 1053 Cic. Cato 26. Der lateinische Ausdruck litteras Graecas […] didicit beinhaltet die Schwierigkeit, dass er sowohl das Erlernen der griechischen Sprache als auch das Studium griechischer Literatur bedeuten kann. Die deutschen Übersetzungen von Faltner und Merklin präferieren erstere Möglichkeit, dagegen gibt Wuilleumier den Teilsatz mit „en étudiant dans ma vieillesse la littérature grecque“ wieder. Der Ausdruck litteras Graecas didicere erscheint mit Bezug auf den älteren Cato ebenfalls im Proömium des Lucullus, wo er aber aufgrund des Kontexts auf das Studium der Literatur bezogen sein muss und von Schäublin mit „sich griechische Literatur aneignen“ wiedergegeben wird: Cic. ac. 2,5: cum Graecas litteras M. Catonem in senectute didicisse putent. Hinsichtlich der Sprachkenntnisse des historischen Cato lässt sich zudem mit Gruen konstatieren, dass dieser schon in seiner Zeit als junger Legat in Süditalien mit der griechischen Sprache in Kontakt kam und sie spätestens dort auch erlernte: Gruen 1993, S. 56–58. Die hier verwendete Übersetzung von Faltner wurde daher an betreffender Stelle angepasst.

1051

218

Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur equidem etiam illud (discedant enim fidibus antiqui), sed in litteris certe elaboravi. Ich habe mir noch im Alter griechische Literatur angeeignet und mich mit solcher Gier auf sie gestürzt, als ob ich einen schon lange andauernden Durst hätte stillen wollen. So wurde mir gerade das bekannt, was ich euch jetzt, wie ihr seht, als Beispiele anführe. Als ich erfuhr, Sokrates habe den gleichen Eifer beim Saitenspiel gezeigt, wollte ich, das Gleiche wäre auch bei mir der Fall – die alten Griechen erlernten nämlich das Saitenspiel –, aber wenigstens in den Wissenschaften habe ich mich gehörig bemüht.

Der Vergleich, den Cicero Cato in den Mund legt, wonach dieser durch Studium der litterae Graecae einen „lang andauernden Durst“ stillen wollte (diuturnam sitim explere cupiens), bescheinigt der Dialogfigur ein schon zuvor latent vorhandenes Interesse an intellektueller Betätigung. Sie lässt dadurch eine Aufgeschlossenheit a natura erkennen, die sich dem offeneren Philhellenismus der nächsten Generationen annähert. Die Erwähnung, dass Cato noch im hohen Alter angefangen habe, sich griechische Literatur anzueignen, findet sich auch im Proömium des ein Jahr zuvor erschienenen Lucullus, wo sie zusammen mit der Erwähnung von Scipios gemeinsamer Reise mit Panaitios als Rechtfertigung herangezogen wird, Philosophie zu schreiben.1054 Neben seinen Kenntnissen in griechischer Literatur zeigt sich Cato als Kenner der römischen Dichter Ennius, Naevius und Caecilius Statius, die er häufig zitiert.1055 Seine Freundschaft mit Ennius wird explizit angesprochen, indem er ihn als familiaris noster bezeichnet.1056 Während seine Kenntnisse römischer Literatur plausibel sind, lässt sich in seiner griechisch-philosophischen Bildung ein klarer Hang zur Idealisierung der Figur erkennen.1057 c)

Catos Verhältnis zur griechischen Philosophie

Aufgrund mangelnder Quellen lässt sich bekanntlich nur schwer abschätzen, wie weit der Grad der Humanisierung des historischen Cato reichte. Hinsichtlich seiner Figur im Cato maior kann man konstatieren, dass alle dort auffindbaren Referenzen auf die griechische und römische Literatur aus chronologischer Sicht möglich sind, woraus deutlich wird, wie wichtig Cicero ein gewisser Grad an Plausibilität war.1058 Der größte Unterschied zwischen der historischen Figur, für

1054

Cic. ac. 2,5. Cic. Cato 10, 14, 16, 50, 73 (= Ennius); 20 (= Naevius); 24, 25 (= Caecilius Statius). 1056 Ebd., 10. 1057 Bereits Jones erklärte die griechischen Zitate und Anspielungen der Figur damit, dass sie nur die Sicht Ciceros vortrage: Jones 1939, S. 312. 1058 Spahlinger spricht treffend von einer „Idealisierung im Rahmen historischer Faktizität“ und äußert sich gegen eine Idealisierung jenseits dieses Rahmens, da die „prakti1055

Cato maior

219

die eher Plutarchs Lebensbeschreibung als dieser Dialog bürgt, und Ciceros literarischer Schöpfung lässt sich jedoch in dem sich von Anfang an abzeichnenden philosophischen Profil letzterer ausmachen, welches ohne Zweifel eine vom Autor intendierte Überzeichnung, wenn sogar nicht Intellektualisierung darstellt. Diese philosophische Maske zeigt sich bereits im Vorfeld des Hauptteils, als Cato auf die von Scipio geäußerte Bewunderung seiner Person hin erklärt:1059 Quodcirca si sapientiam meam admirari soletis (quae utinam digna esset opinione vestra nostroque cognomine!), in hoc sumus sapientes, quod naturam optimam ducem, tamquam deum sequimur eique paremus; a qua non veri simile est, cum ceterae partes aetatis bene discriptae sint, extremum actum tamquam ab inerti poeta esse neglectum. Wenn ihr nun meine Weisheit zu bewundern pflegt (ich wollte, sie wäre eurer guten Meinung und meines Beinamens würdig!), so wisset: Sie besteht darin, dass ich der Natur als der besten Führerin wie einer Gottheit folge und mich ihr zu beugen weiß; es ist unwahrscheinlich, dass sie, nachdem sie alle anderen ‚Akte‘ des Lebens so gut geordnet hat, den letzten ‚Aufzug‘ wie ein ungeschickter Dichter vernachlässigt haben sollte.

Indem Cato seine sapientia aus seinem Lebensprinzip herleitet, der Natur „als besten Führerin wie einer Gottheit“ (optimam ducem tamquam deum) zu folgen, lässt er seine Verbundenheit mit jener philosophischen Grundkonzeption erkennen, die der Autor bereits in seinen ethischen Werken De re publica, De legibus und De finibus (im Besonderen 3 und 4) ausführlich dargestellt hatte. Es besteht kein Grund daran zu zweifeln, dass die von Cato geäußerten philosophischen Positionen mit denen des Autors übereinstimmen, der dies im Proömium ja auch selbst ankündigt (ipsius Catonis sermo explicabit nostram omnem de senectute sententiam).1060 Während er im Proömium von De re publica durch Catos Lebensführung einen Beleg für diese Anschauung gab, geht Cicero zehn Jahre später einen Schritt weiter und macht ihn darüber hinaus zu einem direkten Sprachrohr des Autors. Dies geschieht jedoch in einem direkten Bezug zur historischen Persönlichkeit, wie der landwirtschaftliche Exkurs zeigt:1061 Venio nunc ad voluptates agricolarum, quibus ego incredibiliter delector; quae nec ulla impediuntur senectute, et mihi ad sapientis vitam proxime videntur accedere. Habent enim rationem cum terra, quae numquam recusat imperium nec umquam sine usura reddit quod accepit, sed alias minore, plerumque maiore cum faenore.

sche Präsenz des Geschichtlichen im Alltag […] eine leichte Falsifizierbarkeit“ begründe: Spahlinger 2005, S. 62f. 1059 Cic. Cato 5. 1060 Ebd., 3. 1061 Ebd., 51.

220

Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur Ich komme nun auf die Freuden des Bauernstandes zu sprechen, die für mich ein unglaubliches Vergnügen bedeuten; ihnen steht kein noch so hohes Alter im Weg, und sie haben, wie ich glaube, mit dem Leben eines Weisen am meisten Verwandtes. Geschäftspartner der Landsleute ist ja die Erde, die nie einem Gebot widerstrebt und nie ohne Zinsen zurückgibt, was sie empfangen hat; manchmal ist der Zins der geringere, meist jedoch der größere Teil.

Die Verortung der Weisheit in den Bereich der Landwirtschaft, die durch Cato nicht ohne akademischen Unterton vollzogen wird (proxime videntur accedere), bringt ciceronisches Denken auf eine Weise zum Ausdruck, die besonders gut auf die historische Figur des Cato passt. Es ist davon auszugehen, dass dem Leser dessen Werke über die Landwirtschaft zumindest ansatzweise bekannt waren. Die Ländlichkeit bekommt dabei durch die Dialogfigur Cato eine ähnliche Funktion zugewiesen, wie sie sie auch in De legibus innehat:1062 Quid ego vitium ortus satus incrementa commemorem? Satiari delectatione nun possum (ut meae senectutis requiem oblectamentumque noscatis): omitto enim vim ipsam omnium quae generantur e terra, quae ex fici tantulo grano aut ex acini vinaceo aut ex veterarum frugum aut stirpium minutissimis seminibus tantos truncos ramosque procreet; […]. Was soll ich erst die Entstehung, das Pflanzen und Wachsen der Weinstöcke erwähnen? Es ist eine Freude, an der ich nie genug haben kann – ihr sollt ruhig erfahren, was mir in meinem hohen Alter Erholung und Freude bietet. Ich übergehe nämlich nun die eigentliche Kraft, die alle Pflanzen aus der Erde treibt; sie ist so stark, dass sie aus dem kleinen Feigen- oder Weinbeerkern oder aus den kleinsten Samenkörnern der übrigen Früchte oder Gewächse die mächtigen Stämme und Äste hervorkommen lässt.

Die Landwirtschaft wird als eine Beschäftigung beschrieben, die einen Einblick in die treibende Kraft der Natur erkennen lässt (vim ipsam omnium, quae generantur e terra). Der erholsame Charakter der Landarbeit (satiari delectatione nun possum) liegt in ihrer Nähe zu jener Kraft, die nach Cicero der Welt inhärent ist. Der Bereich des Landes stellt als Gegenpol zur Urbanität einen Ort moralischer Erholung dar, in dem die römischen Zeitgenossen, wie Eigler am Beispiel der res rusticae und Ciceros De legibus zeigte, die Quelle römischer Tugend sahen.1063 Eine derartige Idealisierung des Landes erhält aus dem Mund des alten Cato ein höheres Gewicht, als wenn sie Cicero selbst in einem Dialog vortragen würde. Der Verweis auf die voluptates des Landlebens setzt sich in den nächsten Kapiteln fort und erfolgt in sehr ausführlicher Form, wodurch der Autor

1062 1063

Cic. Cato 52. Zum Motiv der Ländlichkeit in De legibus s. unten S. 403–406. Vgl. Eigler 1996, S. 137f.

Cato maior

221

der als Verfasser der De agricultura bekannten historischen Persönlichkeit Tribut zu zollen scheint.1064 d)

Cato und die Unsterblichkeit der Seele

Neben Catos Konzeption der Natur findet sich ein weiterer Referenzpunkt, der mit dem philosophischen Grundtenor anderer Werke übereinstimmt, indem er sich für die Unsterblichkeit der menschlichen Seelen ausspricht:1065 Non enim video cur quid ipse sentiam de morte non audeam vobis dicere, quod eo cernere mihi melius videor, quo ab ea propius absum. Ego vestros patres, Publi Scipio tuque Gai Laeli, viros clarissimos mihique amicissimos, vivere arbitror, et eam quidem vitam quae est sola vita nominanda; nam, dum sumus inclusi in his compagibus corporis, munere quodam necessitatis et gravi opere perfungimur: Est enim animus caelestis ex altissimo domicilio depressus et quasi demersus in terram, locum divinae naturae aeternitatique contrarium. Sed credo deos immortalis sparsisse animos in corpora humana, ut essent qui terras tuerentur, quique caelestium ordinem contemplantes imitarentur eum vitae modo atque constantia. Nec me solum ratio ac disputatio impulit ut ita crederem, sed nobilitas etiam summorum philosophorum et auctoritas. Ich glaube mir nämlich erlauben zu dürfen, euch meine eigene Ansicht über den Tod vorzutragen; denn ich meine, dass sich diesbezüglich mein Blick umso mehr schärft, je näher ich dem Tode bin. Ich glaube daran, mein Scipio und du, mein Gaius Laelius, dass eure Väter, jene berühmten und mir so eng befreundeten Männer noch leben, und zwar jenes Leben, das allein die Bezeichnung ‚Leben‘ verdient. Denn solange wir im Organismus dieses unseres Körpers gefangen sind, müssen wir uns sozusagen der Notwendigkeit unterwerfen und haben eine schwere Aufgabe zu bestehen; die Seele nämlich, die himmlischen Ursprungs ist, wurde von ihrem erhabenen Wohnsitz verdrängt und gleichsam auf die Erde herabgenötigt, an einen Ort, der geradezu der Gegenpol ihres göttlichen, unsterblichen Wesens ist. Aber ich glaube daran, dass die unsterblichen Götter die Seelen deswegen in menschliche Körper verpflanzt haben, indem sie aus ihrer betrachtenden Schau der himmlischen Ordnung heraus es dieser durch ein maßvolles und nach festen Grundsätzen ausgerichtetes Leben gleichzutun suchen. Aber nicht nur meine eigene, von der Vernunft geleitete Forschung führt mich zu dieser Überzeugung, sondern auch das hochberühmte Ansehen der größten Philosophen.

Durch die Erklärung der himmlischen Herkunft der Seelen greift Cato auf die Konzeption zurück, die im Traum des Scipio und somit an der zentralen Stelle von De re publica geschildert wird.1066 Hinsichtlich des Auftretens und der Rolle 1064

Vgl. Lefèvre 2007, S. 56. Cic. Cato 77. 1066 Cic. rep. 6,15f. Eine Einordnung in ein bestimmtes philosophisches System ist problematisch. Powell identifizierte sie als platonisch: Powell 1988, S. 252f. Gleichzeitig

1065

222

Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

der Dialogfigur lässt sich jedoch hervorheben, dass sie jenen Gedankengang als „eigene Ansicht über den Tod“ (ipse sentiam de morte) bezeichnet, dazu aber bekennt, hierin mit der nobilitas und auctoritas der „angesehensten Philosophen“ (summorum philosophorum) übereinzustimmen. Indem der Autor seine Dialogfigur betonen lässt, dass sie von sich aus auf dasselbe Ergebnis gekommen sei, nimmt das philosophische Profil eines römischen Sokrates, der dem griechischen in nichts nachsteht, weiter Gestalt an. Gleichzeitig ist ein römischer Vorbehalt unverkennbar, da ihn diese Worte offenbar Überwindung (audeam) kosten. Indem die Cato-Figur diese unsichtbare Schranke überschreitet, lässt Cicero dem römischen Philosophieren eine Tradition zuteilwerden. Der philosophische Diskurs beginnt – zumindest im literarischen Universum – schon mindestens eine Generation vor Scipio und Laelius. e)

Cato als römisch-konservativer Politiker

Die Figur des Cato weist ein deutlich philosophisches Profil auf, zeigt darüber hinaus jedoch auch Elemente, die ihn als Archetypen eines Römers erscheinen lassen, in dem sich griechische Theorie und römische Praxis vereinen. Die vermeintliche Widersprüchlichkeit beider Lebenspraktiken scheint in dem Greis durch die vielen Anspielungen auf die griechische Philosophie deutlich weniger stark ausgeprägt als etwa in den Figuren Crassus oder Scipio, doch setzt sich auch Cato in Bezug zu den Römern früherer Generationen. Dies wird beispielsweise in seiner Aussage deutlich, er ziehe die Leichenrede des Quintus Maximus der Lektüre aller Philosophen vor (quam cum legimus, quem philosophum non contemnimus?).1067 Dass er ihn, der zu seiner Jugendzeit bereits ein Greis war, damals wie einen Gleichaltrigen geliebt habe (dilexi ut aequalem), zeigt, dass Cato bereits als adulescens das Muster eines Römers war, der den maiores den gebührenden Respekt zollte.1068 Den vielen griechischen Beispielen, die Cicero möglicherweise aus der ihm vorliegenden Fachliteratur zum Greisenalter übernommen hat, werden zahlreiche römische an die Seite gestellt, bei denen es sich – wie beim bereits erwähnten Quintus Maximus – überwiegend um Staatsmänner handelt. 1069 Quintus Maximus und Lucius Paulus, der Vater der Dialogfigur Scipio und sein Schwager, sowie Fabricius, Curius und Coruncanius werden als Vorbilder für ein gutes Leben im Alter genannt, die dem Gemeinwesen durch ist eine Ähnlichkeit mit der Rede des stoischen Gesprächspartners Balbus in De natura deorum unverkennbar, worauf Lefèvre 2007, S. 60 hinweist; Cic. nat. deor. 2,37, 99. 1067 Cic. Cato 12. 1068 Ebd., 10. 1069 Eine Ausnahme bildet dabei Ennius, der als Beispiel eines Greises erscheint, der die Übel der Armut und des Alters fast schon mit Freuden ertragen habe: Cic. Cato 14: […] ita ferebat duo quae maxima putantur onera, paupertatem et senectutem, ut eis paene delectari videretur.

Cato maior

223

Beratung und Ansehen weiter schützend zur Verfügung standen (rem publicam consilio et auctoritate defendebant).1070 Einigen der griechisch-römischen Beispielpaare kommt dabei aufgrund des Spannungsfeldes von Historizität und Fiktionalität eine weiterführende Bedeutung zu: So wird der xenophontische Kyros (apud Xenophontem) mit dem Römer Lucius Metellus verglichen, an den sich die Dialogfigur persönlich erinnere (ego L. Metellum memini puer).1071 Nach dem Beispiel des homerischen Greises Nestor, der drei Generationen gegen Troja kämpfen gesehen habe, nimmt sich Cato selbst als Beispiel:1072 Sed redeo ad me: quartum ago annum et octogesimum. Vellem equidem idem possem gloriari quod Cyrus; sed tamen hoc queo dicere, non me quidem iis esse viribus quibus aut miles bello Punico aut quaestor eodem bello aut consul in Hispania fuerim, aut quadriennio post cum tribunus militaris depugnavi apud Thermopylas M’. Acilio Glabrione consule; sed tamen ut vos videtis, non plane me enervavit, non adflixit senectus; non curia vires meas desiderat, non rostra, non amici, non clientes, non hospites. Doch zurück zu mir! Ich stehe jetzt in meinem vierundachtzigsten Lebensjahr, und ich wollte, ich könnte dasselbe von mir rühmen wie Kyros; ich kann nun zwar von mir nicht behaupten, ich sei noch so bei Kräften wie seinerzeit als Soldat oder Quaestor im Krieg gegen Karthago oder als Konsul in Spanien oder vier Jahre später, als ich als Militärtribun unter dem Konsul Manius Acilius Glabrio bei den Thermopylen kämpfte, aber es hat mich doch, wie ihr seht, das Alter noch nicht ganz entkräftet und gebeugt: Wenn ich im Senat spreche oder die Rednerbühne betrete, so sagt man nicht, ich hätte keine Kraft mehr, so wenig wie das meine Freunde, Klienten und Gastfreunde feststellen.

Dass Cato sich selbst als Beispiel präsentiert, das trotz des Alters all seinen politischen und gesellschaftlichen Pflichten nachkommt, erinnert an seine Autorität und Glaubwürdigkeit als Sprecher. Anders als im Falle des xenophontischen Kyros oder des homerischen Nestor handelt es sich weder bei ihm noch bei Lucius Metellus um Persönlichkeiten, die hinsichtlich ihrer politischen Vita einer starken Fiktion des Autors ausgesetzt sind. Die römischen Beispiele erscheinen für den aufmerksamen Leser dahingehend als überzeugendere, da sie historisch und durch die unterschiedlichen Techniken der römischen Vergangenheitskultur in der Gegenwart Ciceros – etwa als Totenmaske in der pompa funebris – präsent sind.

1070

Cic. Cato 15. Ebd., 30. 1072 Ebd., 32. 1071

224 f)

Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

Cato als familiaris und Lehrer von Laelius und Scipio

Hinsichtlich Catos Auftreten gegenüber den jüngeren Gesprächspartnern kristallisieren sich zwei musterhafte Rollen heraus, die aus den bereits untersuchten Dialogen wohl bekannt sind: So zeigt sich Cato einerseits als enger Vertrauter von Laelius und Scipio, andererseits als deren Lehrer. Vor allem das freundschaftliche Verhältnis zu Scipio und Laelius hat dabei in der älteren Forschung mit Blick auf die Konflikte, die Cato mit einigen Scipionen hatte, Anlass zu Skepsis gegeben; seit Astins Untersuchung der Quellen steht jedoch fest, dass ein feindseliger Antagonismus nur zu den früheren Scipionen bestand.1073 Es fällt auf, dass Cicero diese alten Feindschaften nicht nur unerwähnt lässt, sondern darüber hinaus seine Cato-Figur Scipios Großvater P. Cornelius Scipio Africanus Maior, zu der die historische Persönlichkeit Cato ein konfliktreiches Verhältnis hatte, als positives Beispiel eines erfüllten Lebens herausstellt und in seine Argumentation einarbeitet. 1074 Ein ähnliches Muster findet sich gegen Ende des Werkes hinsichtlich der Fragestellung nach einem Leben post mortem, welche, wie der oben zitierte Abschnitt zeigte, an den Beispielen der Väter des Scipio und des Laelius ihren Ausgang nimmt.1075 Die amicitia zu ihnen, an die Cato hierbei deutlich (viros […] mihique amicissimos) erinnert, erscheint somit als eine über mehrere Generationen weitervererbte und weiter bestehende Freundschaft, was ihr zusätzliche Würde verleiht. Die verwandtschaftliche und freundschaftliche Verbindung zu Laelius und Scipio sowie seine Autorität als greiser Staatsmann erlauben es ihm, gegenüber den jungen Gesprächspartnern eine Lehrerrolle einzunehmen. Über diese Tätigkeit reflektiert die Dialogfigur selbst hinsichtlich der Frage, inwieweit die erzieherische Aufgabe als Ersatz für den seine Stimme verlierenden Redner fungieren kann: 1076 Quam si ipse exsequi nequeas, possis tamen Scipioni praecipere et Laelio: quid enim est iucundius senectute stipata studiis iuventutis? (29) An ne illas quidem vires senectuti relinquemus, ut adulescentes doceat, instituat, ad omne officii munus instruat? Quo quidem opere quid potest esse praeclarius? Mihi vero et Gnaeus et Publius Scipiones et avi tui duo, Lucius Aemilius et Publius Africanus, comitatu nobilium iuvenum fortunati videbantur; nec ulli bonarum artium magistri non beatum beati putandi, quamvis consenuerint vires atque defecerint; […]. Und sollte man auch selbst eine solche Rede nicht mehr zuwege bringen, so könnte man doch einen Scipio oder Laelius in dieser Kunst unterrichten. Gibt es eine

1073

S. Astin 1956. Nach Jones hingegen ist das freundschaftliche Verhältnis zwischen Cato und Scipio Aemilianus historisch inkorrekt, das zwischen Cato und Laelius unwahrscheinlich: s. Jones 1939, S. 309. 1074 Cic. Cato 19; vgl. Wulfram 2009, S. 31. 1075 Cic. Cato 77. 1076 Ebd., 28f.

Cato maior

225

größere Freude, als im Alter umringt zu sein von einem Kreis lernbegieriger junger Leute? (29) Oder wollen wir sogar diese Fähigkeiten dem Alter absprechen, die Jungen zu belehren, zu unterweisen und für jede Aufgabe des rechten Handelns vorzubilden? Was könnte es Herrlicheres geben als dieses Erziehungswerk? Was Gnaeus und Publius Scipio sowie die beiden Großväter, Lucius Aemilius und Publius Africanus, so glücklich machte, war meiner Meinung nach ihr Gefolge von vornehmen jungen Männern, und überhaupt ist jeder Lehrer der edlen Künste für glücklich zu halten, mag er auch noch so alt und dadurch körperlich geschwächt sein.

Catos Reflexion über die Rolle des Unterrichtens rechtfertigt eine solche Beschäftigung auf zwei Ebenen: Zum einen erscheint die Nähe zu lernbegierigen jungen Männern als Aufgabe, die eine besondere Freude nach sich zieht (quid enim est iucundius […]?), worin auch die iucunditas der Feldarbeit anklingt, die aus der Beobachtung der wirkenden Natur hervorgeht. Darüber hinaus versteht er die Bildung der jungen Generation als eine Vorbereitung auf die Pflichterfüllung, was im letzten Teil des sich semantisch steigernden Trikolons anklingt: doceat, instituat, ad omnem officii munus instruat? Das Unterrichten der Zeitgenossen, für das Censorius, für den Leser selbst ein Vertreter des mos maiorum, vier berühmte historische Beispiele nennt, erscheint folglich als ein wichtiger Beitrag für die römische res publica. Die Tätigkeit selbst kann aufgrund der auctoritas des Sprechers als besonders legitimiert gelten. Seine Überlegungen gehen anfangs vom Unterricht der Redekunst aus, doch weitet er diese Schlussfolgerung auf „alle Lehrer der edlen Künste“ (nec ulli bonarum artium magistri) aus, wodurch er ihnen einen Platz in den für den Redner wichtigen Bildungsdisziplinen zuweist. g)

Cato als Schriftsteller und Verhältnis zum Bildungsideal

Ein wichtiges Charakteristikum des alten Cato stellt seine literarische Betätigung dar. Ohne Zweifel handelt es sich bei ihm um den literarisch produktivsten Hauptredner innerhalb der Vergangenheitsdialoge. 1077 Auf diesen Sachverhalt weist schon die Mahnung des Autors an Atticus im Proömium hin, sich nicht über die gebildetere Ausdrucksweise (eruditius) seines Catos zu wundern, welche sich von dessen überlieferten Werken unterscheiden würde.1078 Bereits eingangs wird dabei deutlich, dass die von Cicero dargestellte Person nicht nur die sententia des Autors vorträgt, sondern dies auch in einer Weise tut, die dem Kenner seiner Werke ungewöhnlich erscheinen musste. Hinzu kommt, dass der Bekanntheitsgrad von Catos Schriften als recht hoch eingeschätzt werden

1077 1078

Vgl. Wulfram 2009, S. 26. Cic. Cato 3.

226

Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

kann.1079 In der Rede lässt Cicero auf zwei seiner Werke (Origines und De rebus rusticis) Bezug nehmen, was erneut das Interesse des Autors zeigt, die Dialogfigur als glaubhaftes Abbild der historischen Persönlichkeit zu gestalten.1080 Die Dialogfigur des Cato zeigt dahingehend die spezifisch ciceronische Bildungskonzeption und plädiert mit seiner Autorität als Staatsmann und Redner für dieselbe. Trotz der Relevanz der Bildungsintention ist der Raum hierfür in den Bereich des otium verlegt, im Falle des Cato spezifischer in das otium des Greisenalters, welches er um das Studium der griechischen Literatur (multum etiam Graecis litteris utor) und eigene Schriftstellerei ergänzt.1081 Sein rhetorisch klar strukturierter Vortrag1082 weist ihn darüber hinaus als Redner aus, der in Ciceros Brutus – trotz des fehlenden letzten Schliffs – einen ersten Höhepunkt der römischen Rhetorik bildete und dem für die Entwicklung der Disziplin in Rom damit eine wichtige Rolle zukam.1083 Bereits in De oratore erscheint er als Archetyp eines trotz „exotischer und fremdartiger Gelehrsamkeit“ hervorragend gebildeten Redners (quid […] praeter hanc politissimam doctrinam transmarinam […] defuit?), wodurch seine Person für das Bildungsdenken in jenem Werk nutzbar gemacht wurde.1084 Die ihm dort zugeschriebene Universalität lässt ihn im Kreis des Crassus als Vorbild par excellence erscheinen, das dem gesuchten orator perfectus sehr nahe kommt. Zugleich zeigt sich die Diskrepanz zwischen dem historischen Redner Cato, auf den sich Crassus bezieht, und der Dialogfigur in der hier untersuchten Schrift. Mehr als zwölf Jahre nach De oratore lässt Cicero ihn nicht nur als moralisches Beispiel, sondern auch als vollendeten Redner sprechen. h)

Zusammenfassung

Mit seiner Darstellung des Cato fügt Cicero seinem dialogischen Universum, das zuvor mit Scipio seinen Anfang genommen hatte, eine Vorgeschichte hinzu, in der die fokalisierte Dialogfigur erneut durch einen herausragenden römischen Politiker der Vergangenheit verkörpert wird. Der in De re publica dargestellte Verbund gebildeter römischer Staatsmänner erhält mit ihm eine Art von geistigem Vater, einen Initiator innerrömischer-intellektueller Diskurse. Er vereint ein sich nicht auf ein Gebiet beschränkendes wissenschaftliches Interesse, ohne dabei den Vorrang der vita activa in Frage zu stellen, wodurch er den ciceronischen Idealtypus des Staatsmanns, den orator perfectus bzw. den rector rei publicae, verkörpert. Sowohl in De re publica als auch in De oratore stellt er 1079

Zur schriftstellerischen Verbreitung von Catos Werken im Vergleich zu denen anderer ciceronischer Dialogfiguren s. Wulfram 2009, S. 26f. 1080 Cic. Cato 54 (de rebus rusticis); 38 u. 75 (Origines). 1081 Ebd., 38. 1082 S. hierzu: Lefèvre 2007, S. 45; Spahlinger 2005, S. 36f. 1083 Cic. Brut. 65–74; vgl. Cic. de orat. 1,171. 1084 Cic. de orat. 3,135.

Cato maior

227

hierfür – wie gezeigt wurde – einen Referenzpunkt der früheren Generation dar. In dem auf den Cato maior aufbauenden Laelius wird seine Rolle von der gleichnamigen Dialogfigur mit der des Sokrates verglichen und ihm vorgezogen (cave Catoni anteponas ne istum ipsum, quem Apollo […] sapientissimum).1085 Innerhalb des dialogischen Universums präsentiert der Autor seine Dialogfigur somit als römischen Sokrates, der wie Scipio Aemilianus, Laelius und Crassus als Initiator römischer Philosophie und wissenschaftlich reflektierter Rhetorik erscheint. Im Laelius wird hinsichtlich dieses implizierten Vergleichs von Griechenland und Rom eine klare Wertung vorgenommen, indem der Ahnherr griechischer Philosophie gegenüber dem tatkräftigen Cato als Mann bloßer Worte (huius enim facta, illius dicta laudantur) dargestellt wird. Während Laelius in dem späteren Dialog versucht, jegliche Erwähnung griechischer Autoren zu vermeiden, begegnet uns im Cato maior ein Römer, der diesbezüglich keinerlei Scheu zeigt, was in den Vergangenheitsdialogen ohne Autorenbeteiligung einmalig ist. Ein wichtiger Orientierungspunkt für den Autor ist die historische Biographie, die er aufgrund seiner Affinität zu der Vorlage ohne Probleme verwerten kann. Der Umstand, dass der historische Cato den Beinamen sapiens als Ehrenbezeichnung für seinen Verdienst an der patria erhielt, liefert einen historischen Bezugspunkt für die Umgestaltung der historischen Persönlichkeit in den römischen Archetypen eines Philosophen.1086

3.2

C. Laelius Sapiens und P. Cornelius Scipio Aemilianus Africanus

a)

Laelius’ und Scipios Anteil am Gespräch

Mit den Figuren Laelius und Scipio greift Cicero auf zwei historische Persönlichkeiten zurück, denen er bereits, wie oben gezeigt, mit seiner Staatsschrift ein Denkmal gesetzt hat. Ihre Funktion im Cato maior ist fast durchgehend identisch, weshalb sie im folgenden Abschnitt gemeinsam betrachtet werden. Zunächst lässt sich zwischen den zum dramatischen Datum des Dialogs etwa 35 und 40 Jahre alten Gesprächspartnern und dem 84-jährigen Hauptredner ein deutlicher Altersunterschied feststellen, der dem Personengefüge eine klar abgegrenzte Altersstruktur zuweist, in der zwei adulescentes einem senex gegenübergestellt sind.1087 Ihr Anteil an dem Gespräch beschränkt sich auf insgesamt vier Wortmeldungen am Eingang des Dialogs, von denen Scipio eine, Laelius drei innehat.1088 Beide sprechen dabei stets stellvertretend für den anderen, was ihren einheitlichen Charakter verstärkt, auf den bereits das Proömium hinweist, in dem

1085

Cic. Lael. 10. Zum Begriff des sapiens s. oben S. 163, Anm. 755. 1087 Zu Scipios und Laelius’ Alter und Biographie s. III 2.1.1a und III 2.1.2a. 1088 Scipio: Cic. Cato 4; Laelius: Cic. Cato 6 (zweimal); 8. 1086

228

Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

Cicero sie als Bewunderer der Hauptfigur charakterisiert (apud quem Laelium et Scipionem facimus admirantes).1089 Da sie im weiteren Verlauf des Werks nicht mehr in die Rede Catos eingreifen, scheint ihre primäre Funktion die eines Auditoriums für Cato zu sein.1090 Ihre vornehmlich auf das Zuhören beschränkte Rolle weist bekannte Muster der Idealisierung auf. Bereits die erste und einzige Wortmeldung Scipios lässt einen betont respektvollen Ton gegenüber dem Protagonisten Cato erkennen:1091 Saepenumero admirari soleo cum hoc Gaio Laelio cum ceterarum rerum tuam excellentem, Marce Cato, perfectamque sapientiam, tum vel maxime quod numquam tibi senectutem gravem esse senserim; quae plerisque senibus sic odiosa est ut onus se Aetna gravius dicant sustinere. Oft, Marcus Cato, bewundere ich, wie auch unser Freund Gaius Laelius hier, deine so hervorragende und vollendete Weisheit, die sich uns in ganz besonderem Maße darin zeigt, dass dir, wie ich bemerkt habe, dass Alter nie zur Last wird, das doch den meisten alten Männern so verhasst ist, dass sie behaupten, die Bürde, die sie damit zu tragen hätten, sei schwerer als der Ätna.

Die gerade erst im Proömium getroffene Charakterisierung wird augenblicklich durch Scipio in die Tat umgesetzt, indem er die gemeinsame Bewunderung für Cato äußert. Der respektvolle Ton, mit dem sich beide an den Protagonisten wenden, weist sie als mustergültige Römer der kommenden Generation aus. Hierin erinnern sie stark an Cotta und Sulpicius in De oratore. Die Einheitlichkeit und die hierarchische Ebenbürtigkeit zwischen Laelius und Scipio präsentiert beide ebenfalls in einer mustergültigen amicitia, worauf der ein halbes Jahr später erschienene Dialog Laelius nochmals Bezug nehmen wird.1092 b)

Scipios und Laelius’ Schülerrolle

Scipios Wortmeldung zeigt, dass Laelius und ihm im Cato maior erneut eine Art Schülerrolle zukommt. Nachdem Cato seine stoische Grundhaltung zu erkennen gegeben hat, äußert Laelius betont freundlich folgende Bitte:1093 Laelius. Atqui, Cato, gratissimum nobis (ut etiam pro Scipione pollicear) feceris, si quoniam speramus – volumus quidem certe senes fieri, multo ante a te didicerimus quibus facillime rationibus ingravescentem aetatem ferre possimus. Cato. Faciam vero, Laeli, praesertim si utrique vestrum, ut dicis, gratum futurum est. Laelius. Volumus sane nisi molestum est, Cato, tamquam longam aliquam 1089

Cic. Cato 3. Vgl. Wulfram 2009, S. 20. 1091 Cic. Cato 4. 1092 Vgl. Wulfram 2009, S. 22. 1093 Cic. Cato 6. 1090

Cato maior

229

viam confeceris, quam nobis quoque ingrediundum sit, istuc, quo pervenisti videre quale sit. Laelius: „Und doch, Cato, könntest du uns wohl – um es dir auch in Scipios Namen zu versichern – einen sehr großen Gefallen tun, wenn du uns – da wir doch ein hohes Alter erhoffen, ganz bestimmt jedoch wünschen – schon frühzeitig belehren wolltest, auf welche Weise wir die zunehmende Bürde des Alters am leichtesten tragen können.“ Cato: „Ich will es tun, mein Laelius, zumal wenn es euch beiden, wie du meinst, willkommen ist.“ Laelius: „Ja Cato, wir möchten, wenn es dir nichts ausmacht, da du doch sozusagen schon einen langen Lebensweg hinter dir hast, den auch wir noch bestreiten müssen, die Beschaffenheit dieses Zieles kennenlernen.“

Laelius, der hier auch stellvertretend für Scipio spricht (ut etiam pro Scipione pollicear), nimmt innerhalb des Personengefüges eine Rolle ein, die jener der adulescentes in De oratore entspricht. Innerhalb des Gesprächs mit Cato fungiert er als neugieriger Schüler, der sich durch seine Bereitschaft, sich von dem verdienten Staatsmann belehren zu lassen, als musterhaft ausweist. Gleichzeitig wird durch seine Person eine Erwartungshaltung formuliert, die jener des Lesers und Adressaten entspricht, da er sich von dem Vortrag konkrete Hilfe erhofft, selbst mit dem Alter leichter zurechtzukommen (quibus rationibus ingravescentem aetatem ferre possimus). Der Idealcharakter des Laelius wird dabei durch seine Scham, die er als adulescens dem senex schuldet, unterstrichen, indem seine Furcht, lästig zu sein, angedeutet wird (nisi molestum est). Wie Cotta und Sulpicius in De oratore vertritt er mit Blick auf den älteren Cato eine jüngere Generation, die nun jedoch nicht mehr auf das Quaestorenalter festgelegt wird, sondern sich durch den starken Alterskontrast ergibt. c)

Adressatenbezug und Leservertretung

Nach ihren vereinzelten Wortbeiträgen werden Scipio und Laelius nicht mehr selbst im Gespräch aktiv, dennoch bleiben sie während der Cato-Rede stets präsent, indem jener sich immer wieder persönlich an sie richtet.1094 In ihrer Funktion als „Schüler“ des römischen Protagonisten stellen sie kein gewöhnliches Publikum dar, stattdessen bilden sie eine ausgewählte und in das Geschehen involvierte Gemeinschaft. Hinsichtlich dieser internen Adressatenrolle lässt sich darüber hinaus feststellen, dass die Figur des Scipio gegenüber Laelius einen höheren Rang einnimmt, wie aus Catos Hinwendung an ihn deutlich wird:1095 Quam palmam utinam di immortales, Scipio, tibi reservent, ut avi reliquias persequare! cuius a morte tertius hic et tricesimus annus est, sed memoriam illius

1094 1095

Cic. Cato 23, 28, 33, 35, 77, 85. Ebd., 19.

230

Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur viri omnes excipient anni consequentes; anno ante me censorem mortuus est, novem annis post meum consulatum cum consul iterum me consule creatus esset. Num igitur si ad centesimum annum vixisset, senectutis eum suae paenitet? Möchten doch dir, Scipio, die unsterblichen Götter diese Siegespalme vorbehalten, auf dass du das vollenden mögest, was dein Großvater noch übrig gelassen hat! Er ist nun schon dreiunddreißig Jahre tot, aber sein Andenken wird in aller Zukunft Jahr für Jahr wachgehalten werden. Er starb ein Jahr vor meiner Zensur, neun Jahre nach meinem Konsulat, unter dem er zum zweiten Male zum Konsul gewählt worden war. Wäre er nun etwa, wenn er hundert Jahre gelebt hätte, im hohen Alter des Lebens überdrüssig geworden?

Catos Wunsch präsentiert sich dem Leser als klassisches vaticinium ex eventu, da dieser sehr wohl weiß, dass der realhistorische Scipio seine Worte vier Jahre nach dem fiktiven Dialoggespräch durch die Eroberung Karthagos erfüllen wird.1096 Die Dialogfigur Scipio hebt sich an dieser Stelle in zweifacher Hinsicht von der des Laelius ab: zum einen durch seine innerhalb der römischen Geschichte herausragende Rolle als Bezwinger von Roms größtem äußeren Feind, zum anderen durch seine vornehme Herkunft aus einer Familie, in der es mit seinem Großvater einen früheren Retter der Heimat gegeben habe. Die genealogische Verbindung zu den früheren Scipionen stärkt seine Rolle als exemplum in der philosophischen Argumentation. Gleichzeitig zeigt der zitierte Passus, dass die Figuren Scipio und Laelius nicht beliebig austauschbar sind. Dass Laelius in dem kurzen Einleitungsgespräch eine aktivere Rolle übernimmt, lässt sich anhand der Altersstruktur und der in De re publica genannten Gewohnheit der beiden erklären, wonach Scipio ihm im Privaten den Vorrang einräumen würde.1097 Trotz seiner Kürze ist das Einleitungsgespräch für die Komposition wichtig, da es erst den Rahmen entstehen lässt, in dem Cato seine Rede über das Greisenalter halten kann:1098 Est ut dicis, Cato; sed fortasse dixerit quispiam, tibi propter opes et copias et dignitatem tuam tolerabiliorem senectutem videri, id autem non posse multis contingere. Es ist, wie du sagst, Cato. Aber es könnte einer einwenden, dir komme das Alter nur deswegen erträglicher vor, weil du eben ein einflussreicher, wohlhabender und angesehener Mann seiest – ein Glück, das nicht jedem beschieden sei.

Der Einwand des Laelius erscheint berechtigt und musste sich auch einem Leser des Werkes stellen, der nicht wie Cato über Reichtum und politischen Ruhm 1096

Vgl. Wulfram 2009, S. 31. Cic. rep. 1,18. 1098 Cic. Cato 8.

1097

Laelius

231

verfügte, wodurch die Figur eine Brückenfunktion zwischen dem Rezipienten und der Hauptfigur einzunehmen scheint. Die Wortmeldung trägt, wie Wulfram anmerkt, „einen minimalen Ansatz zum Meinungsaustausch“ bei, ehe die Sprecherrolle völlig auf den Hauptgesprächsführer übergeht.1099 Dennoch entsteht mit der Zwischenmeldung eine kurze Kommunikation zwischen Redner und Publikum, die dem Autor wichtig ist. Der Figur des Laelius kommt auch im Hinblick auf das nächste Werk eine verbindende Funktion zu, da sie in diesem selbst als Greis einer jüngeren Generation von ihren Gesprächen mit Cato und Scipio berichten wird.1100 Trotz ihrer passiven Rolle im Dialog ist ihre Anwesenheit wichtig, da durch das Gefüge als Ganzes das Bild einer einträchtigen römischen Elite entworfen wird, deren Vertreter sich dem Dienst der res publica verschreiben und sich gleichzeitig der philosophischen Reflexion bedienen. d)

Zusammenfassung

Das Konzept des platonischen Philosophenkönigs wird von Cicero auf eine kleine Gruppe innerhalb der römischen Elite in der Vergangenheit übertragen. Ihr gemeinsames philosophisches und politisches Fundament besteht in dem Folgen der „Natur als der besten Führerin wie einer Gottheit“ (quod naturam optimam ducem tamquam deum), was von Cato als Quelle seiner sapientia beschrieben wird.1101 Diese sapientia, welche jener der Philosophen gleichrangig sei, wird im Cato maior auf die Person des Hauptredners projiziert, der sie an die junge Generation weiterreicht. Cicero verleiht den drei maiores damit eine philosophische auctoritas. Das römische Philosophieren erscheint dadurch nicht mehr bloß als Kopieren der militärisch unterworfenen Griechen, sondern als ein Kontinuum innerhalb der römischen Gesellschaft.

4

Laelius

Die Datierung des Laelius1102 ist nicht unproblematisch und wurde im Zusammenhang mit der Frage, ob das Werk vor oder nach Caesars Tod erschienen ist 1099

Wulfram 2009, S. 19. Vgl. Coleman-Norton 1947/1948, S. 210. 1101 Cic. Cato 5. 1102 In der Diskussion um den korrekten Titel (Laelius – Laelius de amicitia – Laelius vel de amicitia) argumentierte Powell zugunsten des Titels Laelius de amicitia, wofür er die Zahl der Testimonien als ausschlaggebend erachtete: Powell 1990a, S. 167. Dabei setzte er sich nicht inhaltlich mit der umfassenden Untersuchung von Neuhausen auseinander, die Ciceros Referenz Sed de amicitia alio libro dictum est, qui inscribitur Laelius in De officiis (2,31) als ausschlaggebend erachtete, lediglich Laelius als ursprünglichen Titel anzunehmen: Neuhausen 1981–1992, S. 32–35. In dem Titelzusatz (vel) De amicitia erkannte Neuhausen darüber hinaus einen spätantiken Zusatz und 1100

232

Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

oder ob vielleicht zuvor ein Teil fertiggestellt war, der anschließend eine Überarbeitung erfuhr, kontrovers diskutiert. 1103 Durch die fehlende Erwähnung der Schrift im Proömium von De divinatione 2 und aufgrund ihrer Erwähnung in De officiis kann der Entstehungszeitraum auf einen Zeitpunkt zwischen dem 15. März und dem 5. November des Jahres 44 eingegrenzt werden, mit Bringmann und Neuhausen wird im Folgenden von einer Fertigstellung kurz vor De officiis, d. h. zwischen September und November 44 ausgegangen. 1104 Der politische Kontext des Laelius unterscheidet sich grundlegend von jenem des Cato maior, der noch vor der Ermordung Caesars begonnen wurde.1105 Während der Autor in der Zeit unmittelbar vor den Iden des März wenig Hoffnung auf eine Rückkehr der res publica und eine eigene starke Rolle darin haben konnte, wandelt sich dies durch Caesar Tod grundlegend.1106 Der Laelius ist somit von einer Grundstimmung geprägt, die sich mit jener in De officiis und der zweiten Philippischen Rede vergleichen lässt, in denen die Hoffnung auf eine Wiederherstellung der vom Autor präferierten staatlichen Ordnung wieder klarer hervortritt. Die Ausgangsposition gleicht folglich eher der ersten philosophischen Schaffenszeit (55– 51) als der zweiten (45–15. März 44), die von der Diktatur Caesars und den Eindrücken des Bürgerkriegs geprägt war.1107 Die im August des Jahres 44 gehaltene Korrespondenz mit dem Caesarianer Matius stellt ein anschauliches Zeugnis für die politische Reichweite der Frage der amicitia in der sich wandelnden aristokratischen Gesellschaft dar und wird seit Dahlmann in einen engen Bezug zu dem Werk gesetzt.1108

verwies darauf, dass Cicero möglicherweise in Anlehnung an Platon auch in anderen Werken nur den Namen einer zentralen Figur verwendete, wie etwa in den zeitnah entstandenen Werken (Hortensius, Lucullus, Cato, Cato maior): Neuhausen 1981– 1992, S. 35–47; vgl. Fürst 1996, S. 145, Anm. 437. 1103 Die Debatte gilt seit Neuhausen weitestgehend als abgeschlossen: Neuhausen 1981– 1992, S. 20f.; vgl. Fürst 1996, S. 145, Anm. 439. 1104 S. hierzu: Bringmann 1971, S. 206f.; Neuhausen 1981–1992, S. 20; für eine Datierung zwischen 15. März und 7. Mai 44 argumentierten: Zetzel 1972, S. 178; Büchner 1952, S. 103, Anm. 16 und 105; ebenso: Ruch 1943, S. 18; für eine jüngere Datierung zwischen August und Oktober des Jahres 44: Dahlmann 1938, S. 225–227; gegen Versuche einer Eingrenzung des Zeitraums zwischen März und November 44 spricht sich Powell aus, der Parallelen zum Matius-Briefwechsel oder zur ersten Philippischen Rede als zu vage erachtet: Powell 1990, S. 5–6. Nicht durchgesetzt hat sich die Theorie einer Datierung vor den Iden des März, die zuletzt von Drijepondt verteidigt wurde. S. hierzu mit einem Überblick über die ältere Forschung: Drijepondt 1963, S. 64f. u. 79f. 1105 Vgl. Zetzel 1972, S. 177. 1106 Vgl. ebd., 178. 1107 Vgl. hierzu Neuhausen 1981–1992, S. 21. 1108 Cic. fam. 11,27 u. 28 = 348 u. 349 Sh. B.; Dahlmann 1938; Heuss 1956; Combès 1958; Heldmann 1976, S. 93–99.

Laelius

233

Der politische Charakter des Laelius ist jedoch nicht nur aus dem Kontext der Entstehungszeit heraus gegeben, sondern auch durch den Untersuchungsgegenstand selbst: Die amicitia stellt wie ihr griechisches Äquivalent, die φιλία, im antiken Wortgebrauch einen Terminus dar, der stärker als der moderne auf eine soziale, politische und ökonomische Form des Zusammenlebens verweist. 1109 Die Bedeutung der politischen Konnotation des Begriffs in der politischen Alltagssprache der späten Republik wird an der Definition des Sallust deutlich, wonach man nur „unter Rechtschaffenen“ (inter bonos) von amicitia, unter Schlechten jedoch von factio spreche.1110 Im soziokulturellen Umfeld der spätrepublikanischen Aristokratie verweist der Begriff auf einen personellen Verband, der sich aus gegenseitigen Interessen und Diensten zusammensetzt.1111 Eine erste philosophische Behandlung der Freundschaft fand vor dem Laelius bereits in De finibus statt und eine weitere folgt ihm mit De officiis, woran die Wichtigkeit des Themas für den Autor ersichtlich wird.1112 Die Behandlung der amicitia ist offensichtlich von verschiedenen philosophischen Traditionen geprägt: Aus der Rezeption des Gellius ist bekannt, dass im Laelius Gedanken der verlorenen Schrift Περὶ φιλίας des peripatetischen Philosophen Theophrast zum Ausdruck kommen, doch lassen sich über den konkreten Einfluss jenes griechischen Werkes nur Mutmaßungen anstellen.1113 Neben dem Peripatos wird insbesondere die die von ihr geprägte Mittlere Stoa des Panaitios als wichtiger Referenzpunkt in Ciceros Überlegungen zur amicitia angenommen.1114 Das Gespräch spielt im Jahr 129, kurz nach dem Tod des Scipio.1115 Sein Wissen über jenes Gespräch, so suggeriert Cicero, habe er von einer Konversation mit dem greisen Scaevola, die er mit ihm im Jahre 88 während des Tribunats des Sulpicius Rufus geführt habe.1116 Wie in De re publica wird im Laelius ein fiktives Gespräch beschrieben, das weit in der Vergangenheit angesetzt ist und von einem ebenfalls fiktiven Brückengespräch umrahmt wird. Dies verstärkt den

1109

Hierzu grundlegend und mit Nennung wichtiger Beispiele: Habinek 1990, S. 170– 176; Fürst 1996, S. 139–144; Konstan 1997, S. 122–124. 1110 Sall. Iug. 31,15. 1111 Vgl. Syme 2003, S. 164; Powell 1990b, S. 21–23. 1112 Cic. fin. 1,65–70; 2,78–85; 3,70; off. 1,50–58; 3,43–46; ferner auch: nat. deor. 1,121; zur Auseinandersetzung in den Reden und Briefen s. Fürst 1996, S. 139. In seinem Jugendwerk folgt Cicero bei der Begriffsbestimmung der Nikomachischen Ethik: Cic. inv. 2,166; Aristot. eth. Nic. 8,1155b31–1156a5; s. Konstan 1997, S. 130. 1113 Gell. 1,3,11–31; vgl. Konstan 1997, S. 132. 1114 Zum Einfluss der Mittleren Stoa und des Peripatos auf Ciceros Freundschaftskonzeption s.: Pizzolato 1993, S. 106–111; ferner: Powell 1990b, S. 18–21; Marini 2000, S. xxxiv–xxxvi. Die jüngere Forschung machte darüber hinaus auch auf Verbindungen zwischen dem Laelius und Platons Lysis und dessen Sizilienbriefe aufmerksam, s. etwa: Prost 2008, S. 119–124. 1115 Cic. Lael. 3. 1116 Cic. Lael. 1f.; vgl. Neuhausen 1979, S. 76–85; Powell 1990b, S. 446f.

234

Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

Eindruck, dass der Autor sich um die Überdeckung der Fiktionalität wenig bemühte, während sich jedoch gleichzeitig das schon aus den anderen Vergangenheitsdialogen bekannte Bemühen um historische Authentizität in der Inszenierung finden lässt.1117 Hinsichtlich des Jahres 88 handelt es sich ebenfalls um ein dramatisches Datum, in dem der Gewährsmann Scaevola stirbt.1118 Der Verweis auf den Volkstribun Sulpicius Rufus, mit dem Atticus damals viel Umgang gehabt habe (utebare multum), und den damaligen Konsul Quintus Pompeius, der sich vom Freund zum Feind des Tribunen wandelte, erzeugt einen ersten, der Reflexion dienenden Vergleich: Dem idealen Freundespaar Scipio-Laelius wird das Gespann aus Sulpicius-Pompeius gegenübergestellt.1119 Obwohl Laelius – ähnlich wie Cato maior – nur über einen sehr geringen Anteil an Wechselgesprächen verfügt, lässt sich ihm erneut ein dramatischer Charakter attestieren. Dies scheint Cicero bewusst gewesen zu sein, weshalb er hier auf die praktizierte Berichtsstruktur (inquam, inquit) verzichtet. 1120 Dass der Autor in seinem letzten erhaltenen Dialog wieder auf die Vergangenheit als Szenerie zurückgreift, wird im Proömium gerechtfertigt:1121 Genus autem hoc sermonum positum in hominum veterum auctoritate et eorum inlustrium, plus nescioquo pacto videtur habere gravitatis; itaque ipse mea legens sic adficior interdum, ut Catonem, non me loqui existimem. Diese Form der Gespräche aber, aufgebaut auf die Gestalten angesehener und berühmter Männer der Vergangenheit, scheint mir irgendwie ganz besonderen Nachdruck (gravitatis) zu besitzen; so werde ich auch selbst beim Lesen meiner Schrift manchmal derart gefesselt, dass ich meine, Cato rede da, nicht ich.

Die Entscheidung für römische Figuren aus einer Zeit vor seiner Geburt steht somit in Verbindung mit einer auctoritas, die sich vom Ruhm jener Personen 1117

Nach Strasburger wird der fiktive Charakter dem Leser durch Laelius 2–5 „mutwillig deutlich“ gemacht: Strasburger 1966, S. 63. Powell hingegen betont hinsichtlich des Settings Ciceros Bemühen um historische Korrektheit und rät davon ab, „circumstantial details of the setting“ anzuzweifeln: Powell 1990b, S. 447. Dass es sich bei dem vom Autor angeblich aus dem Gedächtnis (memoria) vorgetragenen Gespräch um eine historische Unterhaltung zwischen Laelius, Scaevola und Fannius gehalten haben könnte, wurde zuletzt von Burton vorgeschlagen, der hierbei unter anderem die Mnemotechnik und den Rückgriff auf Neologismen und Archaismen als Indizien anführte: Burton 2007. 1118 Vgl. Powell 1990b, S. 447f. 1119 Vgl. Fürst 1996, S. 147f. 1120 Cic. Lael. 3. In dieser Kritik folgt er offensichtlich Platons Theaitetos 143b–c, s. auch: Hösle 2006, S. 171; Wulfram 2009, S. 15; Andrieu 1954, S. 286. 1121 Cic. Lael. 4. Der lateinische Text des Laelius entstammt der Ausgabe von Powell, die Übersetzung folgt hier und im weiteren Verlauf, wenn nicht anders vermerkt, der Ausgabe von Faltner.

Laelius

235

ableiten lässt.1122 Die Lektüre der Werke selbst soll bei dem Leser den Effekt evozieren, mit jenen maiores in Kontakt zu treten und ihren Vortrag unmittelbar vernehmen zu können.1123 Der Leser, mit dem sich Cicero an dieser Stelle selbst identifiziert, erhält die Möglichkeit, den Vorfahren mittels ihrer Dialogfiguren zu begegnen. 1124 Die Dialogfiguren sind nicht nur als Alter Ego von Autor oder Leser zu verstehen, sondern Vorfahren höchster auctoritas, die in einen Dialog mit dem Leser des Werks treten sollen.

4.1

C. Laelius Sapiens

a)

Die Verbindung der Laelius-Figur zur Thematik

Nachdem Cicero Laelius im Cato maior zusammen mit Scipio Nebenrollen hat einnehmen lassen, gibt er ihm in dem nach ihm benannten Dialog die Rolle des Protagonisten. Zentrale Charakteristika seiner Person stellen sein Beinamen sapiens und die von ihm praktizierte Freundschaft dar, welche beide bereits im Proömium antizipiert werden (sapiens […] et amicitiae gloria excellens de amicitia loquetur).1125 Betrachtet man zunächst den zweiten Aspekt, so lässt sich feststellen, dass seine Freundschaft zu Scipio – der in der Einleitung jene von Sulpicius und Quintus Pompeius gegenübergestellt wurde – als eine den Tod überstehende bezeichnet und damit stark idealisiert wird. 1126 Dass Laelius als Teil dieser idealen amicitia über dieses Thema spricht, folgt der bereits bekannten Logik aus den anderen Vergangenheitsdialogen, in denen der Protagonist eine besondere Nähe zum Thema vorzuweisen hatte: Scipio spricht in De re publica als verdienter Staatsmann, Crassus und Antonius als die besten Redner ihrer Zeit über die Redekunst in De oratore, Cato maior als verdienter Greis im gleichnamigen Dialog über das Alter. Für die Bestimmung der Funktion der Dialogfigur Laelius kommt dieser thematischen Verbindung eine entscheidende Funktion zu. Die für die Untersuchung des Laelius maßgebliche Forschungsarbeit von Fürst kam unter anderem zu der Schlussfolgerung, dass sich der Dialog „aus dem Blickwinkel von Ideal und Realität als wohlkomponiertes Drama“ entpuppe, worin der eigentliche „Held“ das von der Realität gefährdete Ideal sei.1127 Die Dialogfigur stelle zusammen mit dem bereits verstorbenen und somit physisch nicht präsenten Scipio 1122

Vgl. Hösle 2006, S. 140 u. 249. Vgl. Neuhausen 1981–1992, S. 184. 1124 Mit Recht verwies Wulfram in diesem Zusammenhang auf den Unterschied der antiken zur modernen Lesegewohnheit und die verbreitete Praxis der Rezitation, s. Wulfram 2009, S. 16. 1125 Cic. Lael. 5. 1126 Vgl. Fürst 1996, S. 148. 1127 Ebd., S. 164. 1123

236

Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

die Verkörperung jenes Ideals dar.1128 Durch Laelius’ ständige Bezugnahme auf den verstorbenen Freund erscheint jener dennoch anwesend und die Freundschaft somit als eine den Tod überwindende.1129 Die Dialogfigur reflektiert dabei den zentralen Gedanken seiner Rede, welcher sich nach Fürst als stabilitas amicitiae subsumieren lässt und zwei Drittel von Laelius’ Vortrag ausmacht.1130 Hinsichtlich des Verhältnisses der Dialogfigur Laelius zum dialogischen Universum lässt sich des Weiteren feststellen, dass die Persönlichkeiten Scipio, Laelius und Scaevola mit den literarischen Figuren aus den Dialogen mit früherem dramatischem Datum identifiziert werden:1131 Quod idem Scipioni videbatur; qui quidem quasi praesagiret, perpaucis ante mortem diebus, perpaucis ante mortem diebus, cum et Philus et Manilius adessent et alii plures, tuque etiam, Scaevola, mecum venisses, triduum disseruit de re publica, […]. Das ist auch, woran Scipio glaubte: er hat, wie wenn er eine Vorahnung gehabt hätte, einige wenige Tage vor seinem Tod, als auch Philus und Manilius anwesend waren und noch einige andere, und auch du, Scaevola, mit mir hinausgegangen warst, drei Tage zum Thema „Staat“ gesprochen.

Dieses fiktive Gespräch aus Ciceros Staatswerk erscheint im dialogischen Universum des Laelius als tatsächliches Gespräch. Scipio hat dabei eine doppelte Funktion inne: Als Bezugspunkt ist er mit dem vom Autor beider Werke geschaffenen Archetypen identisch, gleichzeitig wird mit ihm auf die historische Persönlichkeit zurückgegriffen, deren unanfechtbaren Ruhm als erfolgreicher Feldherr und Sieger über Karthago und Numantia sich Cicero zunutze macht.1132 Gleiches geschieht mit dem älteren Cato, der durch die gleichnamige Schrift desselben Jahres noch in den von Cicero geschaffenen Kosmos aufgenommen worden war und an dessen Gedanken angeschlossen wird:1133

Senectus enim quamvis non sit gravis, ut memini Catonem anno ante quam est mortuus mecum et cum Scipione disserere, tamen aufert eam viriditatem in qua etiam nunc erat Scipio. Das Greisenalter nämlich, mag es auch nicht drückend sein – ich erinnere mich, dass Cato ein Jahr vor seinem Tod mit mir und Scipio darüber sprach –, nimmt doch die frische Lebenskraft hinweg, deren sich Scipio noch bis jetzt erfreute. 1128

Vgl. Fürst 1996, S. 164. Cic. Lael. 10, 14f., 21, 30, 41, 51, 60–62, 69f., 73, 96, 101, 102–104. 1130 Ebd., 33–100. Zur Gliederung des Laelius s. Fürst 1996, S. 163. 1131 Cic. Lael. 14. 1132 Vgl. Hösle 2006, S. 159. 1133 Cic. Lael. 11. 1129

Laelius

237

Die Figur des Laelius drückt durch den Verweis auf Scipio und Cato nicht nur den inneren Zusammenhang der ciceronischen Werke aus, sondern definiert darüber hinaus die eigene Stellung im selben. Die durch De re publica und Cato maior begonnene und im Laelius fortgesetzte Tradition spiegelt sich in der Persönlichkeit der Dialogfigur, welche sich nicht zuletzt durch die Verknüpfung der Traditionslinien konstituiert. b)

Die genealogische Vernetzung der Laelius-Figur

Die auctoritas des Laelius rührt also neben der Verbindung zum Thema auch von der Altersstruktur und genealogischen Vernetzung her, die dem Modell von Cato maior folgt. Laelius tritt nicht nur als Alterspräsident auf, sondern erinnert anhand seiner Person an den Wechsel aller Generationen:1134 Hac nos adulescentes benevolentia senes illos, L. Paulum, M. Catonem, C. Galum, P. Nasicam, Ti. Gracchum, Scipionis nostri socerum, dileximus; haec etiam magis elucet inter aequales, ut inter me et Scipionem, L. Furium, P. Rupilium, Sp. Mummium. Vicissim autem senes in adulescentium caritate acquiescimus, ut in vestra, ut in Q. Tuberonis; equidem etiam admodum adulescentis P. Rutili, A. Vergini familiaritate delector. Mit diesem Gefühl der Zuneigung habe ich in meiner Jugend jene alten Männer Lucius Paulus, Marcus Cato, Gaius Galus, Publius Nasica und Tiberius Gracchus, den Schwiegervater unseres Scipio, geliebt; es zeigt sich noch schöner unter Altersgenossen, wie zwischen mir und Scipio, Lucius Furius, Publius Rupilius und Spurius Mummius. Andererseits finde ich im Alter Ruhe in der Liebe der Jungen, zum Beispiel in der, die mir von euch oder von Quintus Tubero entgegengebracht wird; ich für meine Person freue mich auch sehr über die vertraute Freundschaft mit dem jungen Publius Rutilius und Aulus Verginius.

Laelius veranschaulicht den naturbedingten Wechsel der Generationen, indem er sich selbst in eine direkte Verbindungslinie mit den Vorfahren, die er als junger Mann noch kennenlernen durfte, und der kommenden Generation stellt. Mit Tubero und Rutilius nennt er dabei zwei Beispiele, die bereits in dem Dialog De re publica als junge Generation aufgetreten waren, während Scipio, Mummius und Furius dort seine aequales waren. Die Verbindung der einzelnen aetates erfolgt über das Gefühl der Zuneigung, die er einst den senes entgegenbrachte (dileximus), die er unter Gleichaltrigen genoss (caritate acquiescimus) und die er nun von den adulescentes erhält (familiaritate delector). Die Rolle des Alters ist dabei nicht nur von der geschuldeten Ehrerbietung der Jungen geprägt, sondern auch von deren Unterweisung, der sich Laelius in vorbildlicher Weise annimmt. Insgesamt ergreift Laelius dreimal das Wort und

1134

Cic. Lael. 101.

238

Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

reagiert dabei stets in längerer Form auf seine beiden Schwiegersöhne, die den Diskurs anstoßen.1135 Der Altersunterschied gewährt ihm nicht nur ein besonderes Maß an auctoritas unter den drei Gesprächspartnern, er ermöglicht es darüber hinaus, dass er gegenüber den Schwiegersöhnen als Zeitzeuge sprechen kann, der Cato noch aktiv erleben konnte. Aus dieser Zeitzeugenposition heraus referiert er die Ergebnisse seiner Gespräche zwischen ihm und Scipio, die dem Leser ebenso wie den Gesprächspartnern unbekannt sein müssen:1136 Audite vero, optimi viri, ea, quae saepissime inter me et Scipionem de amicitia disserebantur. Quamquam ille quidem nihil difficilius esse dicebat quam amicitiam usque ad extremum vitae diem permanere. Vernehmt nun die Gedanken, ihr trefflichen Männer, die ganz häufig zwischen mir und Scipio zum Thema ‚Freundschaft‘ ausgetauscht wurden. Indessen, er sagte immer, nichts sei mit größeren Schwierigkeiten verbunden, als dass Freundschaft bis zum letzten Tag bestehen bleibe.

Die in den folgenden Kapiteln präsentierten Einwände des Scipio1137, als deren Gewährsmann Laelius nun bürgt, sind, wie Fürst herausstellte, für den Aufbau des restlichen Werkes konstituierend, indem sie die Frage nach der stabilitas amicitiae aufwerfen, der sich der Rest des Vortrags bis auf die elocutio widmet.1138 c)

Laelius als sapiens und die Bindung der sapientia an die Praxis

Betrachtet man nun das zweite Charakteristikum des Laelius, so lässt sich feststellen, dass sein Beiname sapiens gleich zu Beginn Gegenstand des Gesprächs wird. Dieses beginnt mit der Feststellung des Fannius, dass keiner „edler und berühmter“ (nec enim melior […] quisquam nec clarior) als Scipio gewesen sei, Laelius aber als der Weise bezeichnet werde (te sapientem et appellant et existimant).1139 Da dieser Titel auch dem alten Cato zugewiesen wurde, konkretisiert Fannius zunächst die sapientia des Laelius:1140 Te autem alio quodam modo, non solum natura et moribus, verum etiam studio et doctrina esse sapientem: nec sicut vulgus, sed ut eruditi solent appellare sapientem, qualem in reliqua Graecia neminem (nam qui septem appellantur, eos qui ista subtilius quaerunt in numero sapientium non habent), Athenis unum accepimus, et eum quidem etiam Apollinis oraculo sapientissimum iudicatum: 1135

Cic. Lael. 8–16; 17–32; 33–104. Ebd., 33. 1137 Ebd., 33–35. 1138 S. hierzu: Fürst 1996, S. 161 u. 163. 1139 Cic. Lael. 6. 1140 Ebd., 7. 1136

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hanc esse in te sapientiam existimant, ut omnia in te posita esse ducas, humanosque casus virtute inferiores putes. Du aber bist auf eine andere Art weise, nicht nur aufgrund deines Wesens und deines Charakters, sondern auch dank deiner regen wissenschaftlichen Tätigkeit, aber nicht in dem Sinne, wie die Allgemeinheit, sondern wie gebildete Menschen ‚weise‘ zu nennen pflegen. Das gleiche widerfuhr in ganz Griechenland keinem – denn die sogenannten ‚sieben Weisen‘ werden von denen, die sich mit solchen Fragen genauer beschäftigen, gewöhnlich nicht unter die Weisen gerechnet –; nur in Athen gab es, wie wir hören, einen, der sogar vom Orakel des Apollo als der Weiseste bezeichnet wurde. Deine Weisheit, glaubt man, gipfle darin, dass du überzeugt seist, all dein Glück liege in dir selbst, und dass du die Wechselfälle menschlichen Daseins für unbedeutender hieltest als die Tugend.

Anhand der Person des älteren Cato auf der einen und des Laelius auf der anderen Seite unterscheidet Fannius zunächst zwei unterschiedliche Typen des sapiens. Während die Weisheit des Laelius aus einer „regen wissenschaftlichen Tätigkeit“ (studio et doctrina) resultiert, lässt sich für Cato im Umkehrschluss das Modell der vita activa attestieren. Die deutliche Anspielung auf Sokrates, der als einziger von denen, die sich mit ihr „genauer beschäftigen“ (subtilius quaerunt), diese spezifische Art der Weisheit zugesprochen bekommen habe, stellt die Gleichwertigkeit des Römers heraus, der dadurch als ein römisches Äquivalent erscheint.1141 Die Hochschätzung der virtus und die Überwindbarkeit aller Schicksalsschläge (casus […] inferiores) durch diese verweist dabei auf ein von Cicero häufig herangezogenes philosophisches Gedankenmodell, das vor allem im fünften Buch der Tuskulanen zum Einsatz kommt. Eben jene Charakterisierung evoziert hier das Interesse des Fannius und des Scaevola, die wissen möchten, wie er mit dem Tod seines besten Freundes umgehe.1142 Der von Fannius dabei in den Raum gestellte Vergleich der Römer, die den Beinamen sapiens tragen, mit Sokrates bildet die Vorlage für Laelius, den Begriff genauer zu bestimmen:1143 Tu autem, Fanni, quod mihi tantum tribui dicis quantum ego nec adgnosco nec postulo, facis amice, sed ut mihi videris, non recte iudicas de Catone. Aut enim nemo, quod quidem magis credo, aut si quisquam, ille sapiens fuit. Quomodo, ut alia omittam, mortem filii tulit! Memineram Paulum, videram Galum; sed hi in pueris, Cato in perfecto et spectato viro. (10) Quamobrem cave Catoni anteponas ne istum quidem ipsum, quem Apollo, ut ais, sapientissimum iudicavit: huius enim facta, illius dicta laudantur.

1141

Vgl. Görler 2001, S. 245. Cic. Lael. 7f. 1143 Ebd., 9f.

1142

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur Von dir aber, Fannius, ist es sehr liebenswürdig, dass du mir erzählst, mir werde so hohe Ehre zuteil, wie ich sie weder anerkennen kann noch fordern will; mit deinem Urteil über Cato scheinst du mir allerdings nicht ganz recht zu haben: Denn entweder war niemand weise – was ich am ehesten glaube – oder, wenn überhaupt jemand, dann er. Wie bewundernswert hat er, um von anderem ganz zu schweigen, den Tod seines Sohnes getragen! Ich erinnere mich an Paulus, habe es auch bei Galus erlebt, aber ihnen starben die Söhne in jungen Jahren, der Sohn des Cato jedoch war schon erwachsen und ein angesehener Mann. (10) Ich möchte dir daher raten, dem Cato nicht einmal den Mann vorzuziehen, den Apollo, wie du sagst, als den weisesten bezeichnet hat. Von ihm rühmt man nämlich Taten, von jenem aber nur das, was er gesagt hat.

Laelius, der von Fannius zuvor als Mann wissenschaftlicher Studien gekennzeichnet wurde, räumt somit Cato als Vertreter der vita activa den Vorrang gegenüber Sokrates, der ausschließlich die vita contemplativa repräsentiert, ein. Die Dialogfigur selbst spiegelt im Hinblick auf ihre politische Biographie alles andere als ein lateinisches Ebenbild des Sokrates, sondern die vom Autor verlangte Synthese.1144 Indem Cato der Vorrang gegeben wird, exploriert sich Ciceros Verständnis, wonach zwar Theorie und Praxis zu verbinden seien, letzterer aber im Zweifelsfall der Vorzug zu geben sei. Mit dieser Bemerkung endet die Wesensbestimmung des sapiens allerdings noch nicht. Laelius, der dieses Attribut als Cognomen trägt, steht dadurch von Anfang an in einem bestimmten Bezug zum philosophischen Ideal hellenistischer Schulen und ist somit der Frage ausgesetzt, wie er mit der Verlusterfahrung umgehe. Die Brisanz spiegelt sich in der ersten Wortmeldung Scaevolas, der den vielen Fragenden (quaerunt quidem […] multi) mitteilt, dass er den vom Tod des Freundes verursachten Schmerz „mit maßvoller Beherrschung“ ertrage (te dolorem […] ferre moderate), gleichzeitig jedoch darauf hinweist, dass er aufgrund seiner humanitas nicht unberührt bleiben könne (nec potuisse non commoveri). 1145 Auf seinen Umgang mit dem Tod angesprochen äußert Laelius sich kurz darauf selbst:1146 Ego si Scipionis desiderio me moveri negem, quam id recte faciam viderint sapientes, sed certe mentiar. Moveor enim tali amico orbatus, qualis, ut arbitror, nemo umquam erit; ut confirmare possum, nemo certe fuit. Sed non egeo medicina: me ipse consolor et maxime illo solacio, quod eo errore careo quo amicorum decessu plerique angi solent. Nihil mali accidisse Scipioni puto: mihi accidit, si quid. Suis autem incommodis graviter angi non amicum, sed se ipsum amantis est. 1144

Zur Biographie des Laelius s. oben II 2.1.2a.; zum ciceronischen Ideal der Weisheit als eine „combinaison harmonieuse de la sagesse grecque et de la sagesse romaine“: Panico 1980, S. 266. 1145 Cic. Lael. 8. 1146 Ebd., 10.

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Wenn ich behaupten wollte, dass mich der Verlust gar nicht berühre, so wäre es wohl Sache der Philosophen (sapientes) zu entscheiden, wie weit ich mich da richtig verhielte; aber sicher sagte ich damit eine Unwahrheit. Ich werde nämlich schmerzlich bewegt, da ich eines Freundes beraubt bin, wie es, wie ich glaube, keinen mehr geben wird und, wie ich versichern kann, bestimmt auch keinen zweiten gegeben hat; aber ich brauche kein Linderungsmittel für den Schmerz: Ich tröste mich selbst, und zwar hauptsächlich mit dem Trost, dass ich von dem Irrglauben frei bin, der die meisten beim Hinscheiden von Freunden gewöhnlich bedrückt: Ich glaube nicht, dass Scipio etwas Schlimmes zugestoßen ist; es trifft auf mich zu, wenn überhaupt; wenn man sich aber von seinem Ungemach beschwert und bedrückt fühlt, so beweist das, dass man nicht den Freund, sondern sich selbst liebt.

In Laelius’ Antwort spiegelt sich eine deutliche Kritik an der Position, wonach ein Weiser nicht von einem so schweren Schicksalsschlag wie dem Verlust eines Freundes emotional berührt werden würde. Die Ablehnung des stoischen Konzepts eines Weisen, der von keinem Schicksalsschlag bewegt werde, gleicht Ciceros Position, der dieses auch öffentlich in der Rede Pro L. Murena karikiert hatte.1147 Für den ciceronischen sapiens ist es nicht nur grundsätzlich legitim, vom Schmerz berührt zu werden, sondern auch – wie aus der Bemerkung des Scaevola deutlich wird – ein Zeichen der humanitas. Die als sapiens klassifizierte Dialogfigur widerspricht somit in persona dem stoischen Ideal, noch bevor sie gegen diese Position im Vortrag Stellung nimmt.1148 Stattdessen weist die Laelius-Figur deutliche Gemeinsamkeiten mit Sokrates auf, indem er den Tod des Freundes dennoch mit einer bestimmten inneren Gelassenheit, einer ἀδιαφορία, erträgt und bei der Zuweisung als Weisester auf eine andere Person, Cato den Zensor, verweist. 1149 Das immer wieder evozierte Sokratesbild fungiert dabei, wie gezeigt wurde, nicht bloß als Vorbild, dem man unreflektiert folgen könnte, sondern als Referenzpunkt der kritischen Auseinandersetzung. d)

Bildung des Laelius

Anders als die Sprecher in späteren Dialogen verwendet Laelius weder den Begriff philosophia noch nennt er griechische Philosophen1150 oder Schriftsteller beim Namen, wie bereits Jones aufgefallen war.1151 Eine Begründung ergibt sich aus dem Vergleich mit seiner Person in De re publica: Dort ist zwar an mehreren Stellen offensichtlich, dass er über Kenntnisse griechischer Literatur verfügt, gleichzeitig lässt sich ein scheinbares Unbehagen bei diesem Thema feststellen, 1147

Cic. Mur. 61f. Cic. Lael. 18f., 21, 38; vgl. Evenepoel 2007, S. 178. 1149 Vgl. Görler 2001, S. 245f. 1150 Eine Ausnahme stellt die Erwähnung des Bias dar, doch bezieht sich Laelius dabei auf Äußerungen Scipios: Cic. Lael. 59. 1151 Jones 1939, S. 315. 1148

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

welches der Attitüde des Antonius in De oratore ähnelt. Diese vorsichtige Haltung artikuliert sich bei beiden in dem Enniusvers, der zum rechten Maß in der Philosophie ermahnt.1152 Bei Laelius klang dieser Zwiespalt zwischen griechischer und römischer Lebensart bereits in seiner Bewertung des Sokrates und Cato an, worin er nach Becker sein „echt römisches Denken“ unter Beweis stellen konnte.1153 Das römische Gepräge seiner Bildung wird durch die Zitate und Anspielungen auf römische Dichter (Pacuvius, Ennius, Terenz, Caecilius Statius) bestätigt.1154 Darüber hinaus zeigt er bereits zu Beginn seiner zweiten Rede einen deutlichen und persönlichen Vorbehalt (sed quis ego sum?) gegenüber der geforderten disputatio, indem er diese Art von Vortrag als gewohnte Beschäftigung griechischer Gelehrter (doctorum […] ista consuetudo eaque Graecorum) beschreibt.1155 Am Ende wird sein Unbehagen noch größer und er will sich von einer weiteren theoretischen Auseinandersetzung mit der Aufforderung herausnehmen, man solle jene fragen, die über das Thema theoretische Vorträge halten (ab eis […] qui ista disputant, quaeritote).1156 Mit diesem Hinweis setzt sich Laelius erneut gegenüber griechischen Gelehrten ab, wobei der Kontrast nun nicht mehr ausschließlich auf der Stoa beruht, sondern allgemeiner ausfällt.1157 Im darauf folgenden Zwischengespräch geben die Gesprächspartner nicht nur ihm den Vorzug gegenüber jenen Berufsphilosophen, sondern sie erinnern auch an das kurz zuvor stattgefundene Gespräch über den Staat, in dem Laelius bereits einer disputatio beigewohnt habe.1158 Angesichts dieser Feststellung gibt sich der eigentliche Gesprächsführer überführt:1159 Vim hoc quidem est adferre! Quid enim refert, qua me ratione cogatis? cogitis certe; studiis enim generorum, praesertim in re bona, cum difficile est, tum ne aequum quidem obsistere. Das heißt ja Gewalt antun! Was macht es denn aus, wie ihr mich zwingt? Zwang ist es doch. Kann man doch den Wünschen seiner Schwiegersöhne nicht leicht und auch nicht gut mit einem ‚Nein‘ begegnen, noch dazu in einer guten Sache.

Unter dem Vorwand, die Studien der Schwiegersöhne fördern zu müssen, gibt er ihrem Drängen nach, das er in humorvoller Weise mit Gewalt (vim adhibere)

1152

Cic. rep. 1,30; de orat. 2,156. Becker 1938, S. 24. 1154 Cic. Lael. 22, 24, 25, 36, 64, 89, 93, 99. 1155 Ebd., 17. 1156 Ebd., 24. 1157 Vgl. Powell 1990a, S. 92. 1158 Cic. Lael. 25. 1159 Ebd., 26. 1153

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gleichsetzt.1160 Die Dialogfigur gleicht damit in ihrem Auftreten dem Crassus, der durch sein Zögern in De oratore einen ähnlichen Vorbehalt zum Ausdruck gebracht hatte.1161 Sie weist in ihrer konservativen Skepsis gegenüber griechischen Lehrern und Lehrvorträgen ein typisch römisches Profil auf.1162 Während Laelius also eine Gleichsetzung seiner Person mit einem griechischen Philosophen scheut, lässt sich seine Berührung mit deren Denken bereits früh in seinen Aussagen feststellen. Auf den Umgang mit seiner Trauer angesprochen, lässt seine oben zitierte Antwort erkennen, dass er sich für die Bewältigung derselben aktiv der Philosophie bedient: Ihm werde ein sehr großer Trost dadurch zuteil, dass er sich von einem weit verbreiteten Irrtum befreit sehe (maxime illo solacio, quod eo errore careo, quo […] pleriqui angi solent).1163 Nachdem er das erfolgreiche Leben seines Freundes kurz zusammengefasst hat, gibt er auf die im Raum stehende Frage nach der Wertung des Todes folgende Erklärung:1164 Neque enim adsentior eis qui haec nuper diserere coeperunt, cum corporibus simul animos interire atque omnia morte deleri. Plus apud me antiquorum auctoritas valet: vel nostrorum maiorum, qui mortuis tam religiosa iura tribuerunt, quod non fecissent profecto si nihil ad eos pertinere arbitrarentur; vel eorum qui in hac terra fuerunt Magnamque Graeciam (quae nunc quidem deleta est, tum florebat) institutis et praeceptis suis erudiverunt; vel eius qui Apoillinis oraculo sapientissimus est iudicatus, qui non tum hoc, tum illud, uti plerisque, sed idem semper, animos hominum esse divinos eisque cum ex corpore excessissent, reditum in caelum patere, optimoque et iustissimo cuique expeditissimum. Denn denen kann ich nicht zustimmen, die jüngst damit begannen, Erörterungen darüber zu führen, dass mit dem Leib zugleich auch die Seele sterbe und der Tod alles vernichte; mehr gilt bei mir die gewichtige Meinung der Alten: unsere Vorfahren, die den Toten in so frommer Weise die gebührenden Ehren erwiesen – was sie sicherlich nicht getan hätten, wenn sie der Ansicht gewesen wären, dass nichts die Toten angehen könne. Mehr gilt mir auch die Ansicht derer, die in diesem Lande gelebt und Großgriechenland, das jetzt zerschlagen ist, seinerzeit aber in hoher Blüte stand, mit ihren Vorschriften und Lehren geistig herangebildet haben. Oder auch die Autorität des Mannes, der vom Orakel des Apollo der Weiseste genannt worden ist, und der nicht einmal das und einmal jenes glaubte, wie die breite Masse, sondern stets dasselbe: Dass die Seelen der Menschen von Gott stammen und dass ihnen, wenn sie aus den Leibern entwichen sind, der Rückweg in den Himmel offensteht – für den am leichtesten, der sittlich gut und gerecht ist.

1160

Der Ausdruck vim hoc quidem est adferre ist, wie Powell nachweist, auch in den Komödien des Plautus und Terenz belegt: Powell 1990a, S. 93. 1161 S. oben S. 56–58. 1162 Vgl. Jones 1939, S. 316. 1163 Cic. Lael. 10. 1164 Ebd., 13.

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Der Trost, der sich aus dem Wissen um die Fortexistenz der menschlichen Seelen speist, wird dabei durch zwei unterschiedliche Einflüsse ermöglicht, die Laelius zusammenfasst: zum einen durch den mos maiorum, deren Fürsorge für die Verstorbenen für sich spreche, zum anderen durch die Lehre der Pythagoreer und des Sokrates.1165 Während die auctoritas der Pythagoreer nicht beschrieben wird, wird im Fall des letzteren erneut an den Orakelspruch erinnert. Die Auffassung der göttlichen Natur der Seelen, mit der Cicero durch den von ihm ins Lateinische übersetzten Timaios gut vertraut war, stellte das zentrale Thema des Gesprächs von De re publica 6 dar,1166 als dessen Teilnehmer sich Laelius daraufhin präsentiert.1167 Neben der Tendenz, den mos maiorum mit griechischer Theorie auf eine Stufe zu stellen, erweckt Laelius den Eindruck, das Wissen über die platonische Kosmologie nicht aus der Lektüre von Platons Werk, sondern aus der Partizipation am Scipionenkreis erhalten zu haben. Der von ihm am Anfang des Laelius aufgegriffene Diskurs über die Sterblichkeit der Seelen greift damit die Überlegungen des Cato maior wieder auf.1168 Für das Wissen, das der Autor aus seiner Lektüre des Platon gewonnen hatte, lässt er in den Figuren des Cato, Scipio und Laelius eine römische Traditionskette entstehen, die zu belegen scheint, dass die philosophische Reflexion in Rom bereits bei deutlich früheren Generationen Usus war. Indem Laelius darauf verweist, dass ihn diese Überlegungen von Irrtümern befreien und ihm damit einen Trost bereiten würden, überträgt er die Philosophie in den Bereich der persönlichen Lebenspraxis und stellt ihren individuellen Nutzen in persona unter Beweis. e)

Laelius im Spiegel der Philosophie Ciceros

Dass Laelius kurz darauf erklärt, der Tod sei auch dann kein Übel, wenn die Seele doch sterblich sei, verdeutlicht sein philosophisches Profil.1169 Um dieses genauer zu bestimmen, ist der Vergleich mit dem philosophischen Tenor des Gesamtwerks unumgänglich. In Anlehnung an Neuhausen kam Fürst hierbei zu der wichtigen Feststellung, dass das grundlegende Schema der Schrift dem akademischen in utramque partem disserere folgt, wodurch die unterschiedlichen Positionen der Schulmeinungen zwar auch kontrovers diskutiert, jedoch nicht „en bloc“ gegenübergestellt würden, wie dies etwa in De finibus und anderen Dialogen des Spätwerks der Fall sei. 1170 Auf diese Weise habe Cicero die im Spätwerk präferierte Präsentation gegenseitiger Positionen mittels mehrerer Dialogfiguren hier auf eine Person eingeengt. Aus dieser Perspektive stellt der Vortrag des Laelius möglicherweise die innere Reflexion des Autors dar. Die 1165

Vgl. Powell 1990a, S. 83. Cic. rep. 6,12–24. 1167 Cic. Lael. 14. 1168 Cic. Cato 77; s. oben S. 221. 1169 Cic. Lael. 14. 1170 Fürst 1996, S. 179; vgl. Neuhausen 1981–1992, S. 99–107. 1166

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nun nicht mehr eine singuläre Schulmeinung einnehmende Dialogfigur sieht sich keinem Gesprächspartner gegenüber, den es zu überzeugen gilt oder der sie zu überzeugen sucht, ihr primärer Zweck ist es, die unterschiedlichen Auffassungen stellvertretend für den Autor zu diskutieren. Die über das Werk verstreute Kritik an der These Epikurs ist somit nicht das Produkt einer mangelnden Struktur, sondern folgt in der Konsequenz jenem Muster.1171 Die von Laelius rezipierten philosophischen Positionen lassen sich einem breiten Fundus unterschiedlicher Autoren zuschreiben.1172 Trotz der Vielzahl von Einflüssen und der Vorgehensweise nach dem in utramque partem wird in der Literatur auf die Ähnlichkeit der Freundschaftslehre zu der des Aristoteles hingewiesen.1173 In der Untersuchung des Ursprungs der Freundschaft greift Laelius auf die aus Stoa und Peripatos bekannte Grundannahme der natürlichen Menschengemeinschaft zurück. 1174 Jene philosophische Weltanschauung erhält dadurch in ähnlicher Weise wie in De re publica und De legibus einen fundamentalen Charakter als Ausgangspunkt für die weiteren Schlussfolgerungen des Gesamtwerks.1175 Die Bezugnahme der Dialogfigur auf das „einige wenige Tage vor dem Tod“ (perpaucis ante mortem diebus)1176 geführte Gespräch mit Scipio gibt den Zuhörern wie auch dem Leser eine Erklärung, woher sie diese Vorstellung kennt. Eine erste Inklination des Menschen zur Freundschaft besteht damit bereits durch die Natur (natura ipsa peperit), die jedoch noch nicht genug Festigkeit besitze (ea non satis habet firmitatis). 1177 Aus dieser Grundkonzeption schließt Laelius auf die eigentliche amicitia:1178 Est enim amicitia nihil aliud nisi omnium divinarum humanarumque rerum cum benevolentia et caritate consensio; qua quidem haud scio an excepta sapientia nihil melius homini sit a dis inmortalibus datum. Divitias alii praeponunt, bonam alii valetudinem, alii potentiam, alii honores, multi etiam voluptates: beluarum hoc quidem extremum; illa autem superiora caduca et incerta, posita non tam in consiliis nostriis quam in fortunae temeritate. Qui autem in virtute summum bonum ponunt, praeclare illi quidem, sed haec ipsa virtus amicitiam et gignit et continet, nec sine virtute amicitia esse ullo pacto potest.

1171

Cic. Lael. 32, 45, 46, 86. Fürst nennt als „geistesgeschichtlichen Boden“ der Schrift Hesiod, Xenophon, Isokrates, Platon, Aristoteles, Theophrast, die Kyrenaiker, Kyniker, Epikureer und Stoiker sowie – als Vertreter „altrömischer Traditionen“ – Ennius, Cato, Terenz und Lucilius: Fürst 1996, S. 177. 1173 S. etwa: Evenepoel 2007, S. 178; Powell 1990a, S. 2–5. 1174 Cic. Lael. 19; vgl. Powell 1990a, S. 87f. 1175 Cic. rep. 1,39; leg. 1,16, 18. 1176 Cic. Lael. 14. 1177 Ebd., 19. 1178 Ebd., 20. 1172

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Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur Es ist nämlich die Freundschaft nichts anderes als die Übereinstimmung in allen irdischen und überirdischen Dingen, verbunden mit Zuneigung und Liebe; im Vergleich zu ihr dürfte – abgesehen von der Weisheit – dem Menschen von den unsterblichen Göttern wohl kaum ein schöneres Geschenk zuteil geworden sein. Die einen freilich wollen lieber Reichtum, andere stellen Gesundheit voran, andere wieder die Macht der Persönlichkeit, wieder andere ehrenvolle Ämter, viele auch Lust: Letzteres ist tierisch, alles aber, was vorher genannt wurde, ist vergänglich und unzuverlässig, weil es nicht so sehr auf unseren Entschlüssen beruht, sondern vor allem von der Laune des Glücks abhängt; diejenigen freilich, die in der Tugend das höchste Gut sehen, erstreben etwas Herrliches; aber gerade die Tugend ist es, die Freundschaft hervorbringt und zusammenhält, und es kann Freundschaft ohne die Tugend unter keinen Umständen geben.

Indem Laelius daran erinnert, dass die sapientia das eigentlich wichtigste Geschenk der Götter an die Menschen ist (an excepta sapientia nihil melius homini sit a dis inmortalibus datum), bestätigt er nebenbei die in De legibus von Marcus vertretene Konzeption, wonach eine Gesetzgebung gemäß der Natur nur mittels der recta ratio und sapientia des dafür zuständigen Individuums möglich ist.1179 Die im Laelius vorgestellte Freundschaft als „Übereinstimmung in allen irdischen und überirdischen Dingen“ (omnium divinarum humanarumque rerum […] consensio) folgt somit einem philosophischen Grundgedanken des Autors, der eine Verbindung der unterschiedlichen Werke – trotz ihrer zeitlichen Differenz – ermöglicht.1180 Die Verbindung von amicitia und virtus, die für das Ideal grundlegend ist, wird anschließend von der Dialogfigur anhand römischer Persönlichkeiten – Paulus, Cato, Galus, Scipio und Philus – dargelegt, wobei sie sich demonstrativ von gewissen Gelehrten (quidam docti) absetzt.1181 Nachdem der Ausgangspunkt der Überlegungen zur Freundschaft auf die gleiche philosophische Grundlage gestellt wurde, die auch in De re publica und De legibus vorherrscht, wird das Konzept auf die römische Praxis übertragen. f)

Das römisch-politische Profil der Laelius-Figur

Neben diesem deutlich philosophischen weist die Dialogfigur Laelius ein dezidiert politisch-staatsmännisches Gepräge auf. Hinsichtlich des römischen Staats nimmt er dabei eine fürsorgliche Haltung ein und ermahnt die Gesprächspartner zur Weitsicht im Zusammenhang mit der Frage, wie weit freundschaftliche Verbundenheit gehen dürfe:1182

1179

Zur Bedeutung der sapientia in De legibus s. unten S. 389f. Zu der Formel omnium divinarum humanarumque rerum […] consensio vgl. Aristot. eth. Nic. 9,1161a; zu ihrer Verbreitung und weiteren Belegen s. Powell 1990a, S. 89. 1181 Cic. Lael. 21. 1182 Ebd., 40. 1180

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Etenim eo loco, Fanni et Scaevola, locati sumus, ut nos longe prospicere oporteat futuros casus rei publicae. Deflexit iam aliquantum de spatio curriculoque consuetudo maiorum. Denn unser Rang, Fannius und Scaevola, den wir einnehmen, verpflichtet uns, weit in die Zukunft zu schauen, welchen Lauf das Geschick des Staates nehmen wird. Die Praxis unserer Ahnen ist schon ziemlich aus der Bahn und dem Geleise gekommen.

Laelius’ Blick in die Zukunft stellt aus der Sicht des Autors eine Rückschau dar. Der Erhalt des Gemeinwesens wird dabei als höchste Pflicht der eigenen politischen Klasse deklariert (eo loco […] locati sumus). Noch ausführlicher und entschiedener als in De re publica bringt er zum Ausdruck, dass der Staat bereits die Bindung an den mos maiorum verloren habe und dafür ein Individuum die Schuld trage:1183 Tiberius Gracchus regnum occupare conatus est, vel regnavit is quidem paucos menses: numquid simile populus Romanus audierat aut viderat? Hunc etiam post mortem secuti amici et propinqui quid in Publio Nasica effecerint, sine lacrimis non queo dicere. Nam Carbonem, quoquo modo potuimus, propter recentem poenam Ti. Gracchi sustinuimus; de Gai Gracchi autem tribunatu quid exspectem, non libet augurari. Serpit die e die res quae proclivis ad perniciem, cum semel coepit, labitur. Videtis in tabella iam ante quanta sit facta labes, primo Gabinia lege, biennio autem post Cassia. Videre iam videor populum a senatu disiunctum, multitudinis arbitrio res maximas agi; plures enim discent, quemadmodum haec fiant, quam quemadmodum his resistatur. Tiberius Gracchus unternahm den Versuch, die Alleinherrschaft an sich zu bringen, beziehungsweise er hat sie tatsächlich gehabt, freilich nur ein paar Monate. Hatte das Volk von Rom je etwas Ähnliches gehört oder gesehen? Was seine Freunde und Verwandten, die ihm sogar noch nach seinem Tode die Treue hielten, Publius Scipio angetan haben, kann ich gar nicht ohne Tränen aussprechen. Den Carbo haben wir nämlich so gut es ging, noch hingenommen, weil Tiberius Gracchus kurz zuvor seine Strafe gefunden hatte; was ich jedoch vom Tribunat des Gaius erwarten soll, das will ich gar nicht andeuten: Da schleicht sich übrigens etwas ein, was, wenn es einmal eingerissen ist, jäh ins Verderben führt. Ihr seht ja, was man schon vorher bezüglich des Abstimmungsverfahrens für Unheil angerichtet hat, erst mit dem Gesetz des Gabinius, zwei Jahre darauf mit dem des Cassius. Schon ahne ich die völlige Trennung des Volkes vom Senat: Wie die höchsten politischen Fragen von der Masse entschieden werden! Denn die Art, wie man so etwas macht, wird sich eine Vielzahl aneignen im Vergleich zu denen, die es lernen werden, dem entgegenzutreten.

1183

Cic. Lael. 41; vgl. Cic. rep. 1,31; 3,41.

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Die Mahnung, die Zukunft des Gemeinwesens im Auge zu behalten, wird zunächst mit dem Beispiel des Tiberius Gracchus verknüpft, der dabei nicht nur als Aspirant des Königtums (regnum occupare conatus est) erscheint, sondern auch als tatsächlicher König geschildert wird. Indem er seine Angst vor dem Verlust der Bindung zwischen Senat und Volk (populum a senatu disiunctum) kundtut, erscheint Laelius als weiser Staatsmann, der die Zeichen seiner Zeit erkannt hat. Dass ihm der Zusammenhalt der beiden Institutionen am Herzen liegt, weist ihn dabei – trotz seiner strikten antigracchischen Haltung – nicht als radikalen Oligarchen aus, sondern als Optimat, der dem populus die Partizipation an der res publica zugesteht. 1184 Durch das Beispiel der beiden Gracchen wertet Laelius nicht nur seine Zeit im Sinne des Autors um, der damit auf das Bild der Gracchen in seiner Gegenwart in seinem Sinne einwirkt, sondern weist auch seine jüngeren Gesprächspartner auf eine existierende Bedrohung des Gemeinwesens hin. Die scharfe Ablehnung der Alleinherrschaft ist im Entstehungskontext des Werks zu betrachten: Cicero, die persönlichen Erfahrungen der letzten Jahre verarbeitend, wertet mittels der Dialogfigur die Gracchen als Prototypen sich nach einer Tyrannis sehnender Aufrührer, wodurch er auf die in seiner Gegenwart wichtige Frage, wie man sich gegenüber Standesgenossen, die sich und ihre dignitas über das Gemeinwesen stellen, verhalten soll, eine deutliche Antwort gibt.1185 Tiberius Gracchus spiegelt dabei den gerade ermordeten C. Iulius Caesar, sein Bruder möglicherweise Antonius. 1186 Aus dem Negativbeispiel des Tyrannen zieht Laelius folgende Schlussfolgerung:1187 Quorsum haec? Quia sine sociis nemo quicquam tale conatur. Praecipiendum est igitur bonis, ut si in eius modi amicitas ignari casu aliquo inciderint, ne existiment ita se adligatos, ut ab amicis in magna aliiqua re publica peccantibus non discendant; improbis autem poena statuenda est, nec vero minor eis qui secuti erunt alterum quam eis qui ipsi fuerint impietatis duces. Wozu sage ich das alles? – Weil niemand ohne treue Helfer so einen Versuch unternehmen kann. Das bedeutet: Es ist allen guten Staatsbürgern einzuschärfen, sie sollten sich, falls sie durch irgendeinen Zufall ahnungslos in eine derartige Freundschaft hineingezogen werden, keinesfalls so gebunden fühlen, dass sie sich von den Freunden nicht lossagen dürften, wenn diese einen schweren Frevel gegen den Staat begehen. Für die Schlechten muss Strafe sein. Aber gegen die, die einem anderen bloß Folge geleistet haben, ist keine geringere Strafe zu verhängen als gegen die Hauptverbrecher selbst.

1184

Hierbei handelt es sich nicht um eine Partizipation in Form aktiver politischer Mitgestaltung, sondern um jene Art von Teilhabe, die der Dialogfigur Cicero in De legibus vorschwebt: Cic. leg. 3,38; s. hierzu unten S. 403. 1185 Vgl. Büchner 1952, S. 106. 1186 Zur historischen Einordnung s. etwa: Bringmann 1971, S. 113–115. 1187 Cic. Lael. 42.

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Die von Laelius an Fannius und Scaevola gerichtete Mahnung transzendiert Ciceros Position, die er im Briefverkehr des Sommers 44 gegenüber dem Caesarianer Matius geäußert hatte, der zum Missfallen des Arpinaten auch nach der Ermordung Caesars einen Seitenwechsel unterlässt.1188 Zwar handelt es sich bei der Fragestellung nach den Konsequenzen für die Freundschaft bei Alleinherrschaftsbestrebungen um kein urrömisches Thema, wie auch das Beispiel des Themistokles zeigt.1189 Allerdings ist der Zeitbezug an dieser Stelle offenkundig, indem Laelius verlangt, es den „guten Staatsbürgern einzuschärfen“ (praecipiendum est igitur bonis), dass letztlich auch eine ideale Freundschaft der res publica unterzuordnen sei. Die Wichtigkeit dieser Feststellung für den Autor und seine Gegenwart spiegelt sich in einem erneuten Blick des Laelius auf die Zukunft der res publica.1190 Seine Fürsorge um den Staat reflektiert nicht nur die generell politische Tendenz des Gesamtwerks, sondern lässt nach Mayer darüber hinaus eine Konzeption der res publica als „estado y como bien común“ erkennen.1191 Die Verpflichtung auf den Staat stellt dabei einen wichtigen Subtext der Rede des Laelius dar. Trotz des zeitlichen Abstands von 85 Jahren zwischen dem Dialogzeitpunkt und der Entstehungszeit des Laelius ermöglicht die damalige Szenerie Referenzen, die als Anspielungen auf die eigene Zeit gewertet werden können, wie das Beispiel der Gracchen zeigte. Der Fall des Gaius Papirius veranlasst Laelius, eine Kritik an dem popularis-Begriff vorzunehmen, die sich mit Ciceros politischer Programmatik aus der Sestiana deckt.1192 Die Erinnerung an Scipios Auftreten gegen Papirius in der Volksversammlung, in der er als eigentlicher dux populi Romani erschienen sei, erzeugt dabei das Bild, jener sei nicht ein Vertreter einer Konfliktpartei – Optimaten oder Popularen – gewesen, sondern Staatsmann eines römischen Gemeinwesens, während der politische Gegner, der sich folglich zu Unrecht als popularis bezeichnet, als Verführer des Volkes abqualifiziert wird.1193 Scipio und Laelius werden dadurch zu Staatsmännern, die nicht aus einer antidemokratischen Haltung heraus in Konflikt zur Gesetzgebung der Gracchen oder des Papirius geraten, sondern aufgrund ihrer Gesinnung zugunsten des römischen Gemeinwesens als einer Mischverfassung.

1188

Eine ausführliche Bearbeitung der Korrespondenz bieten: Heldmann 1976, S. 93–99; Heuss 1956, S. 60. 1189 Cic. Lael. 42. 1190 Ebd., 43: mihi autem non minori curae est qualis res publica post mortem meam futura, quam qualis hodie sit. – „Mich aber kümmert die Lage des Staates, wie sie sich nach meinem Tod entwickeln wird, nicht weniger als die gegenwärtige.“ 1191 Mayer 2013, S. 210f. 1192 Cic. Lael. 95f.; Cic. Sest. 103f.; vgl. Meyer 2006, S. 32f. 1193 Cic. Lael. 96.

250 g)

Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

Zusammenfassung

In dieser Hinsicht verliert Laelius in dem Diskurs über die Freundschaft nie die römische patria aus den Augen. Der römische Politiker in der Dialogfigur Laelius zeigt sich darüber hinaus am Verlauf des Dialogs: Indem er der Bitte des Fannius1194 nachkommt, erinnert sein folgender Vortrag stilistisch an eine typische Meinungsäußerung im Senat, die sententia. 1195 Der spezifisch römische Charakter seines Vortrags und seines Auftretens deutet sich auch in der Art der Argumentation an, die nach Büchner das Bestreben erkennen lässt, die zentralen Begriffe virtus und bonus „abzuheben von den philosophischen Konstruktionen“ und sie „im Leben und in der Geschichte anzusiedeln“.1196 Die Figur des Laelius stellt dahingehend erneut eine Synthese griechischer und römischer Elemente dar, die dabei auf dasselbe theoretische Fundament zurückgreift, das auch De legibus und De re publica zugrunde lag. Ihre Aufgabe ist es, dem in der römischen Gesellschaft vorhandenen und in Ciceros gesellschaftlicher Klasse überwiegend politischen konnotierten Begriff der amicitia ein kosmologischspekulatives Fundament zu verleihen. Während der klassisch römische Freundschaftsbegriff überwiegend von der Reziprozität von Interessen und Dienstleistungen (officia) bestimmt war, werden nun die virtus und die Verpflichtung auf das römische Gemeinwesen als entscheidende Maßstäbe ergänzt. Ein Freund, der der res publica den Krieg erklärt, handelt gegen die Menschengemeinschaft und ohne virtus, so dass eine Freundschaft mit diesem Menschen nicht möglich ist. Nach bekanntem Muster ist die Dialogfigur nicht nur der Vermittler der philosophisch-politischen Position, sondern zugleich auch ein Beweis ihrer Gültigkeit, der in der Rezitation des Dialogs zu dem Leser spricht.

4.2

C. Fannius M. f. und Q. Mucius Scaevola Augur

a)

Gesprächsanteil

Gemessen an ihrem Gesprächsanteil sind die Figuren des C. Fannius und des Scaevola Laelius deutlich untergeordnet. Beide bringen es auf jeweils fünf Wortmeldungen, durch die sie passende Vorgespräche zu den drei Vorträgen des Laelius erzeugen.1197 In allen drei Zwischengesprächen kommt ihnen dabei eine aktivierende Rolle zu: Ihr Fragen und Drängen führt stets zum Nachgeben der Laelius-Figur, woraufhin der Dialog nach dem im Proömium angesprochenen

1194

Cic. Lael. 16. Ebd., 18–24; zur Ähnlichkeit mit der sententia s. Büchner 1952, S. 89. 1196 Büchner 1951, S. 89. 1197 Fannius: Cic. Lael. 6f., 16 (zweimal), 25, 32; Scaevola: Lael. 8, 16 (zweimal), 25, 33. 1195

Laelius

251

Muster (ab his sermo oritur. respondet Laelius) durchgeführt wird.1198 Die Reihenfolge bezweckt dabei, Laelius’ Reden unaufgedrängt und gewünscht erscheinen zu lassen. Trotz ihres geringen Anteils am Gesamtwerk lässt sich bei den beiden eine Hierarchie feststellen, indem Fannius jeweils zuerst das Wort ergreift und sich aufgrund seines höheren Alters eine explizite Vorrangstellung gegenüber Scaevola herausnimmt.1199 Die Altershierarchie wird von diesem bekräftigt, der Fannius in seinem Gesprächsanliegen unterstützt, indem er erklärt, dass er für beide spreche und Laelius’ Rede beiden willkommen sei (quam ob rem utrique gratum admodum feceris).1200 Die Tatsache, dass Scaevola der jüngste Gesprächsteilnehmer ist, spiegelt sich in den Gesprächsmustern aller drei Zwischengespräche wider, in denen jeweils Fannius als erster das Wort ergreift. b)

Auftreten als Vertreter der Jugend

Obwohl zwischen Scaevola und Fannius eine Hierarchie besteht, nehmen sie gegenüber Laelius beide den Rang der Jugend und der kommenden Generation ein. Besonders deutlich wird dies in dessen Mahnung vor dem drohenden Unheil durch Gaius Gracchus.1201 Als Vertreter der jungen Römerschaft zeigen sie – wie dies schon in De re publica zu beobachten war – ein stark idealisiertes Verhalten, das sich beispielsweise in den höflichen Formulierungen Scaevolas artikuliert (Mihi vero erit gratum […] utrique nostrum gratum admodum feceris).1202 Bereits im Vorfeld von Laelius’ Vortrag wird signalisiert, dass dieser beiden „willkommen“ (gratum) ist. Beide bringen dabei nicht nur den dem Alter geschuldeten Respekt, sondern auch die dem Thema angemessene Neugierde und Bereitschaft in den Dialog. Die von ihnen an Laelius herangetragene Frage nach seinem Umgang mit dem Tod des Freundes wird als Frage allgemeinen Interesses herausgestellt (quaerunt […] multi), das durch sie vertreten wird.1203 Die für das Werk zentrale Frage stellt Fannius:1204 Istuc quidem, Laeli, ita necesse est. Sed quoniam amicitiae mentionem fecisti et sumus otiosi, pergratum mihi feceris, spero item Scaevolae, si quemadmodum soles de ceteris rebus quae ex te quaeruntur, sic de amicitia disputaris quid sentias, qualem existimes, quae praecepta des.

1198

Cic. Lael. 5. Ebd., 32: pro hoc enim, qui minor est natur, meo iure respondeo. – „Ich habe doch Recht, wenn ich dir an Stelle unseres jüngeren Freundes hier diese Antwort gebe.“ 1200 Ebd., 16; ebenso Scaevola zu Fannius gewandt: ebd., 33: recte tu quidem. 1201 Ebd., 41. 1202 Ebd., 16. 1203 Ebd., 8. 1204 Ebd., 16. 1199

252

Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur Das wird bestimmt der Fall sein, Laelius. Aber weil du nun schon auf die Freundschaft zu sprechen kamst und wir gerade Zeit haben, würdest du mir – ich hoffe auch Scaevola – eine große Freude machen, wenn du, wie du auch sonst bei Fragen über die Freundschaft, die dir vorgelegt werden, zu reden pflegst, einen Vortrag über die Freundschaft hieltest: über ihren Sinn, ihr Wesen und welche Vorschriften du zu geben hast.

Fannius bittet Laelius nicht nur um einen Vortrag, sondern signalisiert ihm auch, dass die entscheidende Bedingung für einen theoretischen Diskurs, das Ruhen des politischen Alltags (sumus otiosi), gegeben sei. Da ihm eine solche Rede gefallen würde (mihi pergratum feceris), wird deren primärer Zweck, die delectatio, herausgestellt. Fannius verlangt von Laelius eine Meinungsäußerung (quid sentias), die jener schließlich auch gewährt.1205 Die Konstellation zwischen ihm als Fragesteller und Laelius als Antwortgeber erinnert dabei an jene zwischen dem Autor Cicero und seinem fragenden Leser Atticus aus der Einleitung.1206 Auch im weiteren Verlauf des Dialogs kommt Fannius seinem Gesprächspartner Scaevola zuvor, ohne dabei dessen Interessen zuwiderzuhandeln: So schlägt er nach der ersten Rede des Laelius dessen Vorschlag, zu gelehrten Griechen zu gehen, entschieden aus und insistiert darauf, lieber von ihm einen Vortrag zu hören:1207 Nos autem a te potius; quamquam etiam ab istis saepe quaesivi et audivi non invitus equidem; sed aliud quoddam filum orationis tuae. Wir wollen es aber lieber von dir hören; freilich habe ich mich auch an jene Leute schon mehrmals mit dieser Frage gewandt und gar nicht ohne Vergnügen ihre Antwort gehört, aber der Faden, der sich durch deinen Vortrag zieht, ist doch etwas anderes.

Während Fannius damit deutlich macht, dass er lieber von dem Römer Laelius einen Vortrag zum Thema der Freundschaft hören möchte, wird gleichzeitig ersichtlich, dass er mit den gelehrten Vorträgen griechischer Denker bereits vertraut ist (ab istis saepe quaesivi et audivi non invitus).

1205

Die Aussage des Fannius gibt dabei keine Gliederung der weiteren Schrift, wie Fürst in Auseinandersetzung mit der älteren Forschung glaubhaft machen konnte: Fürst 1996, S. 145f. 1206 Cic. Lael. 4: Cum enim saepe mecum ageres, ut de amicitia scriberem aliquid, digna mihi res cum omninium cognitione tum nostra familiaritate visa est. – „Da du mir nämlich oft nahegelegt hast, ich sollte über die Freundschaft schreiben, schien mir der Gegenstand nicht bloß des allgemeinen Interesses wert, sondern auch unserem freundschaftlichen Verhältnis angemessen.“ 1207 Ebd., 25.

Laelius

c)

253

Hierarchie und Leservertretung

Wie bereits dargelegt wurde, deutet sich im Gesprächsverlauf eine höhere hierarchische Stellung des Fannius gegenüber Scaevola dadurch an, dass dieser für ihn das Wort ergreift. 1208 Auch Scaevola ist mit Laelius verwandt, als dessen Schwiegersohn er genannt wird. 1209 Ein nicht ganz unwichtiger Unterschied zwischen beiden Dialogfiguren zeigt sich darin, dass Scaevola und Laelius als Teilnehmer von Scipios Gespräch über den Staat genannt werden, während es von Fannius explizit heißt, dass er dabei nicht anwesend gewesen sei. 1210 Da Fannius im ersten Buch von De re publica explizit genannt wird, scheint der Autor diesen Umstand zunächst vergessen zu haben.1211 Die im Laelius attestierte Nichtanwesenheit der Fannius-Figur könnte auch mit der Intention des Autors zusammenhängen, in beiden Figuren erneut zwei unterschiedliche Arten von Rezipienten innerhalb des Personengefüges auftreten zu lassen, wie er es in De re publica anhand von Laelius und Philus sowie in De legibus durch Quintus und Atticus tut. 1212 Demnach könnte Scaevola einen Leser repräsentieren, der mit Ciceros Staatswerk vertraut ist, Fannius dagegen einen, bei dem dies nicht der Fall ist. Der Verweis auf das Staatswerk erfolgt dabei nicht ohne Kalkül, denn Fannius glaubt, dass es etwas „anderes“ (aliud) sei, wenn griechische Philosophen dazu sprechen würden, woraufhin Scaevola entgegnet, dass er „noch viel eher so reden würde“ (tum magis id diceres), wenn er neulich dabei gewesen wäre (si nuper […] adfuisses). 1213 Da Fannius und Scaevola zugleich Römer repräsentieren, denen die griechischen Vorträge nicht unbekannt sind, artikuliert das Zwischengespräch die Intention des Autors, mit seinem Werk nicht nur mit vorhandener griechischer Literatur gleichzuziehen, sondern diese darüber hinaus zu übertreffen, indem er der griechischen Theorie römische auctoritas verleiht. Ein Spezifikum der Dialogfigur des Scaevola, der im Laelius nach De oratore und De re publica zum dritten und letzten Mal auftritt, stellt seine persönliche Nähe zu der Person des Autors dar, die auch in den vorherigen Dialogen eine Rolle spielte. Während er in De oratore als Greis auftritt, ist er im Staatswerk und im Laelius als junger bzw. im letzteren sogar klar als jüngster Gesprächspartner klassifiziert. Erstmals übernimmt er nun die Rolle des Gewährs-

1208

Cic. Lael. 16. Ebd., 3. 1210 Ebd., 25: Tum magis id diceres, Fanni, si nuper in hortis Scipionis, cum est de re publica disputatum, adfuisses. – „Du würdest noch viel eher so reden, Fannius, wenn du neulich in den Gärten Scipios dabei gewesen wärest, als das Gespräch über den Staat geführt wurde.“ 1211 Vgl. Powell 1990a, S. 83f. u. 93. 1212 Hierfür s. Sauer 2013. 1213 Cic. Lael. 25. 1209

254

Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

manns, auf dessen Erzählungen sich Cicero beruft. Die persönliche Verbindung wird dabei gleich zu Beginn des Proömiums durch den Autor herausgestellt:1214 Quintus Mucius augur multa narrare de Gaio Laelio socero suo memoriter et iucunde solebat, nec dubitare illum in omni sermone appellare sapientem. Ego autem a patre ita eram deductus ad Scaevolam sumpta virili toga, ut quoad possem et liceret, a senis latere numquam discederem. Itaque multa ab eo prudenter disputata, multa etiam breviter et commode dicta memoriae mandabam, fierique studebam eius prudentia doctior. Der Augur Quintus Mucius wusste von seinem Schwiegervater Gaius Laelius vieles aus der Erinnerung reizvoll zu erzählen und pflegte ihn, sooft er von ihm sprach, ohne Bedenken „den Weisen“ zu nennen. Mich aber hatte mein Vater, als man mir die Männertoga angelegt hatte, dem Scaevola zur Unterweisung anvertraut mit dem Wunsche, dass ich, solange es möglich und schicklich war, keinen Schritt von der Seite des greisen Lehrers wich. So habe ich mir viele seiner klugen Erörterungen, auch zahlreiche zwar kurze, aber treffende Aussprüche von ihm gemerkt und mich stets bemüht, aus seiner Klugheit höhere Bildung zu gewinnen.

Das Lob auf die Persönlichkeit des Scaevola, mit dem das Werk beginnt, verweist auf seine schon in De oratore hervorgehobene Verwandtschaft zu Laelius, von dem er Cicero oft erzählt habe (multa narrare de C. Laelio socero suo memoriter et iucunde solebat). Die persönliche Bekanntschaft des Autors zu seinem Gewährsmann wird gleich im zweiten Satz des Werkes hervorgehoben und dient nicht nur der Steigerung der Glaubwürdigkeit: Schon als etwa Sechzehnjähriger (sumpta virili toga)1215 sei er von seinem Vater zu ihm geschickt (ego […] deductus) worden, um von dem damals schon greisen Scaevola unterrichtet zu werden, wobei er sich als vorbildlicher Schüler um „höhere Bildung“ bemühte (fierique studebam eius prudentia doctior). 1216 Die Einleitung deutet somit eine genealogische Linie von Laelius über Scaevola bis Cicero an. Jene Linie konstituiert sich dabei nicht durch Blutsverwandtschaft, sondern durch die altrömische Institution der deductio. Ein weiterer Vorzug der Dialogfigur Scaevola besteht darin, dass Scaevola auch Atticus’ Lehrer war, so dass mit ihm auch eine Persönlichkeit auftritt, die dem Widmungsträger des Werks sehr vertraut war.1217

1214

Cic. Lael. 1. Vgl. Powell 1990a, S. 76. 1216 Vgl. Steidle 1952, S. 12. 1217 Vgl. Powell 1996, S. 76. 1215

Conclusio

5

255

Conclusio

Betrachtet man zusammenfassend die Hauptfiguren der vier vorgestellten Vergangenheitsdialoge, so lässt sich zunächst feststellen, dass diese als idealisierte Archetypen der ciceronischen Programmatik fungieren. Während die Hauptredner als Sprachrohre des Autors dessen zentrale Anliegen kommunizieren, bilden die unterschiedlichen Gesprächspartner ein auf sie abgestimmtes Publikum. Diese werkinterne Hörerschaft erfüllt dabei – wie gezeigt wurde – eine Reihe unterschiedlicher Funktionen: 1) Die Gesprächspartner liefern den Hauptpersonen die passenden Vorlagen, um die vom Autor gewünschten Themen und Diskurse einzuleiten. 2) Sie repräsentieren die Leserschaft und ermöglichen es dadurch, Fragestellungen, die der Autor von den Lesern seiner Werke erwartete, einzubauen. Die Unterschiedlichkeit der Nebenfiguren hinsichtlich ihrer politischen Biographien und geistigen Interessen verweist darauf, dass Cicero eine breitere Leserschaft ansprechen wollte. 3) Den Figuren kommt durch ihr Auftreten im Dialog und durch ihre Biographien eine Vorbildfunktion zu: Die adulescentes sind lernbegierig, ohne dabei die gebührende Scheu (pudor) vermissen zu lassen, während die senes ihren Erziehungsauftrag gegenüber der neuen Generation erfüllen. 4) Die Figuren erscheinen als Teile eines sich über die letzten hundert Jahre der römischen Geschichte erstreckenden Netzwerks, indem sie stets durch ein amicitia-Verhältnis oder Verwandtschaft miteinander verbunden sind. Die Hauptredner der einzelnen Dialoge erfüllen dabei nicht nur eine bloße Sprachrohrfunktion, sondern darüber hinaus folgende Aufgaben: 1) Sie repräsentieren das Ideal der Vereinigung von Theorie und Praxis, welchem sie durch ihre erfolgreiche politische Biographie und Gesinnung nahekommen. Die Tode von Scipio, Crassus und Antonius erscheinen dabei nicht als Folge einer falschen Politik, sondern als Folge der Zeitumstände. 2) Indem es sich bei ihnen um historische Persönlichkeiten der res publica handelt, geben sie ein Porträt philosophierender maiores, wodurch sie gleichzeitig die These Ciceros stützen, dass die für die Philosophie notwendige sapientia stets bei den Römern vorhanden war und sein musste, da nur durch das Erkennen der Stimme der Natur, die recta ratio, das Entstehen eines Staats wie Rom möglich war. 3) Durch die auctoritas der Hauptpersonen nobilitiert Cicero ein römisches Philosophieren. Sein Anspruch spiegelt sich darin, dass Cato, Scipio,

256

Die Vergangenheitsdialoge ohne Cicero-Figur

Laelius und Crassus die griechischen Philosophen und Redelehrer sogar übertreffen, indem sie die vita activa mit der vita contemplativa verbinden. Sie bilden dahingehend eine Synthese griechischer und römischer Tradition, bei der jedoch stets ein Primat der Praxis anzutreffen ist. 4) Die Figuren präsentieren sich innerhalb eines didaktischen Umfelds und erscheinen als lebenserfahrene Lehrer der jungen Generation, der sie sich erzieherisch annehmen. Das Personengefüge als Ganzes porträtiert somit eine ideale Aristokratie der Vergangenheit des Autors, auf die er anhand der Figuren reflektierend Bezug nimmt. So erscheinen innerhalb des durch die Dialoge entstehenden Netzwerks auch Figuren mit einem philosophieskeptischen Profil wie Laelius, Antonius und Sulpicius Rufus, durch deren Anwesenheit ein Rahmen entworfen wird, in welchem eine Reflexion und Rechtfertigung philosophischer Bildung erfolgen kann. Gleichzeitig erzeugen sie innerhalb der porträtierten Gruppen Pole, durch die das Gespräch an Dynamik gewinnt. Daneben erscheinen in allen vier untersuchten Dialogen Figuren, die sich als adulescentes von den anderen Dialogfiguren unterscheiden und ein stets ähnliches Verhaltensmuster aufweisen: während sie hinsichtlich ihres Gesprächsanteils eine untergeordnete Rolle im Personenverband einnehmen, erweisen sie sich in ihrem Auftreten gleichermaßen als idealtypisch zurückhaltend und lernbegierig. Zugleich erinnert die Anwesenheit der adulescentes bei den Unterredungen (De re publica, De oratore) bzw. bei den Vorträgen (Cato maior, Laelius) die Protagonisten an ihre Verantwortung. Einzelne Charakteristika, wie etwa die Expertise in einer spezifischen Bildungsdisziplin, korrespondieren jedoch nicht nur mit der Intention, eine angemessene Bildungsszenerie zu entwerfen, die sich aus fachkundigen Persönlichkeiten zusammensetzt, sondern tragen auch zu der Individualität des Einzelnen und damit zur Heterogenität des Kollektivs bei. Scaevola bereichert dieses in De oratore 1 als Autorität in Rechtsfragen, Catulus im zweiten und dritten Buch als Kenner von Philosophie und Geschichtsschreibung, welche in De re publica und Laelius mit Fannius ihre Vertretung findet. Den Bezugspunkt aller Dialogfiguren stellt die römische res publica dar, deren philosophische Konzeption sie für den Autor entwerfen und durch ihre Viten bezeugen. In dieser Hinsicht besitzen die Figuren auch eine mahnende Funktion für die Gegenwart des Autors. Künftige Generationen sollen es den maiores gleichtun, sich der Politik zuwenden und die virtus sowie das die Weiterexistenz des Staates sichernde Gemeinwohl als Fundamente ihres Handelns annehmen. Die Darstellung einer einheitlichen Elite kann ohne Zweifel als eine Sehnsuchtsprojektion des durch seine eigene Zeit zunehmend desillusionierten Autors gesehen werden, gleichzeitig folgt er aber damit philosophischen Grundpositionen, welche er in De legibus in eigener Person vortragen wird. Mit Blick auf die politischen Positionen der Dialogfiguren lässt sich eine gemäßigt optimatische Tendenz erkennen: während der Cato maior noch in der Zeit vor den gracchi-

Conclusio

257

schen Reformversuchen spielte, in der die bestehenden Konflikte innerhalb der römischen Aristokratie noch nicht zu offenen Gewaltexzessen führten, finden die Gespräche in De re publica, Laelius und De oratore in zeitlicher Nähe zu historisch einschneidenden Etappen der späten Republik statt. Mit Ausnahme des Sulpicius Rufus findet sich hierbei keine weitere Person, die mit dem popularen Lager in Verbindung gebracht werden kann.

IV Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero Im folgenden Teil sollen die Dialoge im Vordergrund stehen, in denen der Autor das dramatische Datum gegenüber dem Zeitpunkt der Niederschrift etwas mehr als 30 Jahre früher ansetzt, so dass er mittels eines gleichnamigen Sprechers selbst das dialogische Universum betreten kann. Die unter diesem Kapitel untersuchten Dialogszenerien aus dem fünften Buch von De finibus und aus De natura deorum unterscheiden sich jedoch von den unter V behandelten darin, dass die Figur des Autors zum Zeitpunkt der Gespräche als am Anfang seiner politischen Karriere stehender adulescens und analog hierzu nicht in der Rolle des Protagonisten erscheint. Wie das Gros der unter V behandelten Dialoge entstammen De finibus 5 und De natura deorum der späteren philosophischen Schaffenszeit Ciceros. Die Reihenfolge der folgenden Analyse orientiert sich dabei sowohl an der Abfassungszeit der Werke als auch an den Zeitpunkten der dramatischen Szenerien, von denen De finibus 5 am weitesten zurückliegt.

1

De finibus bonorum et malorum 5

Als Entstehungszeit der fünf Bücher von De finibus wird der Zeitraum zwischen März und Juli 45 angenommen, die Publikation der ersten beiden Bücher war noch zwei Wochen vor der ersten Fassung der Academici libri erfolgt.1 Wie man der Einleitung von De divinatione 2 entnehmen kann, handelt es sich dabei um das dritte Werk der zweiten, philosophisch-enzyklopädisch geprägten Schaffensphase Ciceros der Jahre 45/44, die mit Hortensius und den Academici libri ihren Anfang genommen hatte.2 Ebenso wie die kurz darauf erscheinenden Tusculanae Disputationes beschäftigt sich das Werk mit dem – von Cicero in Analogie an hellenistische Philosophenschulen als fundamentum philosophiae bezeichneten – philosophischen Teilbereich der Ethik.3 Die fünf Bücher von De finibus lassen sich als eine theoretische Einführung in philosophische Positionen interpretieren, die deren praktische Durchexerzierung in den Tuskulanen vorbereiten soll.4

1 2 3 4

Zur Datierung: Patzig 1979, S. 304; Bringmann 1971, S. 138. Cic. div. 2,1–4. Ebd., 2,2; vgl. Schofield 1986, S. 48. So: Schofield 1986, S. 48: „Fin., we might say, is theory, TD a work of practical ethics“; ähnlich bereits Bringmann, der auf den Zusammenhang zwischen der „verschiedenen inneren Ausrichtung“ und der „unterschiedlichen äußeren Form“ hinweist: Bringmann 1971, S. 139.

260

Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero

Das Werk gliedert sich in drei unterschiedliche Dialoge, von denen der letzte, im fünften Buch beschriebene am weitesten in die Vergangenheit gesetzt wurde. In allen Einzelgesprächen wird zunächst eine philosophische Lehrmeinung vorgestellt, die anschließend von der Dialogfigur des Autors einer kritischen Prüfung unterzogen wird. Dieses Gesprächsmuster ist einer Praxis entnommen, die nach Cicero in der von Platon gegründeten Akademie üblich war und die durch die Widerlegung der gegnerischen Lehrmeinung versuchte, den eigenen Standpunkt zu festigen.5 Die Diskussion der drei behandelten Schulmeinungen Kepos, Stoa und Peripatos erfolgt jeweils durch Einzelgespräche, deren personelle Zusammensetzung und dramatischer Rahmen ständig variieren. Eine Konstante bildet lediglich die Figur des Autors. Die Abfolge orientiert sich vor allem an zwei Kriterien: zum einen an dem Verhältnis des Autors zu der behandelten Lehre, dem die epikureische Theorie bekanntermaßen als schwächste und die peripatetische als plausibelste schien, zum anderen an der Verständlichkeit der jeweiligen Lehren, von denen der Kepos als zu leicht, die Stoa als zu schwierig und der Peripatos als ideale Mitte erscheint.6 Dass die Schule des Aristoteles, deren moralphilosophische Lehre von Cicero mit jener der Alten Akademie identifiziert wird, 7 im Vergleich zu den beiden hellenistischen Doktrinen die älteste ist, stellt einen weiteren Beweggrund dar, dem dritten Dialog das früheste dramatische Datum zuzuweisen.8 Der Dialog in De finibus 5 bildet folglich eine eigenständige Gesprächseinheit, in der die Dialogfiguren noch keine Kenntnisse der Gespräche der ersten vier Bücher haben, doch ist es unstrittig, dass dem Gesamtwerk eine kohärente philosophische Struktur innewohnt, welche trotz der unterschiedlichen zeitlichen Ebenen durch die Lektüre des Ganzen für den Leser ersichtlich wird.9 Innerhalb der Gesamtstruktur wird die exponierte Stellung des fünften Buchs auch dadurch hervorgehoben, dass das in ihm gezeigte Gespräch auf ein Buch beschränkt bleibt und es zwar zu einer Diskussion, jedoch nicht zu einer Gegenrede auf die Rede des Hauptredners nach dem Prinzip des in utramque partem disserere kommt.10 Für die folgende Untersuchung der Dialogszenerie und der einzelnen Dialogfiguren muss die philosophische Grundtendenz des Werkes stets mitberücksichtigt werden, die nicht destruktiv-skeptisch ist, sondern in dialektischer Weise die im fünften Buch diskutierte peripatetische Moralphilosophie als das überlegene Modell gegenüber denen der Stoa und des Kepos herausstellt. 11 Das Fundament des Gesamtwerkes bildet das auch von Cicero vertretene Verständnis der Philosophie als Disziplin, die sich primär auf 5 6 7 8 9 10

11

Cic. fin. 2,2; vgl. Bringmann 1971, S. 139f. S.: Gigon 1987, S. 236; vgl. Giancotti 1971, S. 390f. Cic. fin. 5,7f.; vgl. Müller 2015, S. 281f., Anm. 19. Vgl. Giancotti 1971, S. 391. Zur einheitlichen Konzeption des Werkes s. Giancotti 1971. Zur klimatischen Stellung des fünften Buchs s. auch Schofield 2012, S. 246, der eine auf Antiochos von Askalon zurückgehende Gliederung vermutet. Vgl. Gawlick/Görler 1994, S. 1040f.

De finibus bonorum et malorum 5

261

das individuelle Glück des Menschen richtet, was nur durch eine richtige Bestimmung des summum bonum und ein Leben im Einklang mit der menschlichen Natur möglich sei.12 Als zentrale philosophische Frage steht hierbei die These einer Suffizienz der Tugend für das Glück, deren Untersuchung im fünften Buch der Tusculanae Disputationes wiederaufgenommen wird. Neben inhaltlichen Aspekten lassen auch ästhetisch-gestalterische Facetten die Szenerie im letzten Einzelgespräch als eine der ausgefallensten und elaboriertesten literarischen Welten erscheinen, die der Autor geschaffen hat.13 Mit Blick auf das dialogische Gesamtwerk fällt auf, dass es sich hierbei um das einzige Gespräch handelt, das sich außerhalb von Italien zugetragen haben soll. Als Schauplatz dient die verlassene Akademie in Athen, die Cicero zusammen mit seinem Bruder Quintus, seinem Vetter Lucius und seinen Freunden Piso und Atticus während ihrer zweijährigen Bildungsreise besuchte, woraus sich als dramatisches Datum, welches nicht explizit genannt wird, ein Tag des Jahres 79 erschließen lässt.14 Cicero spielt dabei sehr deutlich mit den Assoziationen, die sich aus den Örtlichkeiten Athens ergeben, das erst sieben Jahre zuvor von Sulla geplündert worden war. Als Adressat des letzten Buches wird am direkten Werksanfang und in der Überleitung vom Vorgespräch, das hier eine Einleitung möglicherweise ersetzen sollte, zum Hauptteil erneut der spätere Caesarmörder Brutus genannt.15 Seiner Person kommt im fünften Buch vor allem die Rolle eines objektiven Richters und Fachmannes zu, indem Cicero sich an ihn als einen Hörer des Aristos wendet, der der Bruder des für die Pisorede entscheidenden Antiochos von Askalon war.16

1.1

M. Pupius Piso Frugi Calpurnianus

a)

Historische Persönlichkeit

Der historische M. Pupius Piso Frugi Calpurnianus wurde mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit um das Jahr 115 geboren und stellt mit etwa 36 Jahren die

12 13 14

15 16

Vgl. Gawlick/Görler 1994, S. 1041. Vgl. Becker 1938, S. 26. Cic. fin. 5,1. Zum historischen Kontext der Reise: Gelzer 2014, S. 24f.; Fuhrmann 2007, S. 50–52; Bringmann 2010, S. 44; Steel 2013, S. 225. Die Stadt Athen wurde 86 von Truppen Sullas geplündert, wodurch der Hain der Akademie in Mitleidenschaft gezogen wurde. S. hierzu: Dörrie 1978 u. 1987, S. 262 u. 547f.; Müller 2015, S. 283, Anm. 22. Zum Zeitpunkt des Gesprächs scheint dort kein philosophischer Schulbetrieb mehr stattgefunden zu haben. Vgl. Görler 1994, S. 777f.; Ferrary 1988, S. 441–444. Cic. fin. 1,1; 3,1; 5,1, 8. Ebd., 5,8.

262

Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero

älteste Person innerhalb des Kreises dar.17 Sein Name verweist auf eine Zugehörigkeit zum Haus der plebejischen Pupii, in das er adoptiert wurde, und zum ebenfalls plebejischen, jedoch bedeutenderen der Calpurnii, an das er mit seinem Cognomen erinnern möchte.18 Er war der Onkel des Caesar und Pompeius feindlich gesinnten C. Calpurnius Piso Frugi, der von 63 bis zu seinem Tod 57 mit Ciceros Tochter Tullia verheiratet war, wodurch eine familiäre Verbindung zwischen dem Autor und der Dialogfigur bestand.19 Seine Ämterlaufbahn begann mit der Quaestur im Jahr 83, vermutlich als Anhänger des Cinna, doch scheint er bereits kurz darauf die Seite gewechselt zu haben, indem er sich weigerte, dem Konsul L. Cornelius Scipio gegen Sulla Heeresfolge zu leisten.20 Mit Blick auf das Personengefüge lässt sich somit konstatieren, dass er zum Dialogzeitpunkt nicht nur der älteste Teilnehmer war, sondern auch als einziger bereits ein politisches Amt ausgefüllt hatte. Die folgenden Ämter lassen sich zeitlich nicht genau bestimmen, Ädil wurde er jedoch mit Sicherheit erst nach dem in De finibus beschriebenen Griechenlandaufenthalt von 79, Praetor vermutlich im Jahr 72.21 Anschließend war er Statthalter in der Provinz Spanien, aus der er 69 zurückkehrte und deren Verwaltung ihm einen Triumphzug einbrachte.22 In der Folgezeit entwickelte er sich zu einem treuen Gefolgsmann des Pompeius, den er auf seinen Unternehmungen im östlichen Mittelmeerraum begleitete, wo er die seit dem frühen zweiten Jahrhundert bestehenden guten Kontakte seiner Familie weiter ausbaute.23 Durch Pompeius erlangte er 61 schließlich das Konsulat, bei dem es ihm allerdings nicht gelang, die Interessen seines Förderers in Rom erfolgreich zu vertreten und durch das er in Konflikt mit Cicero geriet.24 Asconius zufolge wurde Cicero als Jugendlicher (adulescentulum) von seinem Vater zu Piso geschickt, da dieser sowohl konservativ als auch literarisch hochgebildet war (in eo antiquae vitae similitudo et multae erant litterae).25 Im Brutus erklärt Cicero, mit ihm durch „Freundschaft, Studien und Redeübungen“ (cum amicitia, tum studiis exercationibusque coniunctus) verbunden gewesen zu sein.26 Allerdings kam es zu starken Spannungen zwischen beiden, als Piso im 17 18 19 20

21 22 23

24 25 26

Zum Alter von Piso s.: Stein 1959, Sp. 1987; Hofmann-Löbl 1996, S. 126f. Vgl. ebd., S. 130. Vgl. Syme 1960, S. 14, 16. Vgl. Hofmann-Löbl 1996, S. 131f. Cicero lobte seinen politischen Umschwung in den Verrinen als moralisch richtiges und staatstreues Handeln: Cic. Verr. 2,1,37. Vgl. MRR 2, S. 117 u. 121, Anm. 1; Hofmann-Löbl 1996, S. 133. Vgl. Hofmann-Löbl 1996, S. 133. Eine aus zwischen 67 und 62 entstandene Ehreninschrift aus Samos würdigt ihn (Μᾶρκον Πίσωνα [Φρούγι] explizit als πάτρωνα κ[αὶ εὐεργέτην] der Stadt: IG XII 6, 1, 353; zu den guten Beziehungen der Calpurnii in Griechenland, wozu auch ein Klientenverhältnis zu Achaea zählte, s. auch: Hofmann-Löbl 1996, S. 117f., 134f. Vgl. Hofmann-Löbl 1996, S. 135f. Ascon. Pis. 62; vgl. Syme 1960, S. 15. Cic. Brut. 240.

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Rahmen der Bona-Dea-Affäre für Clodius Partei nahm und darin Pompeius folgte.27 Einen Einblick in diese Spannungen gewährt die Korrespondenz mit Atticus, in der Cicero ihm den Konsul, der ihn nicht als erstes um seine Meinung gefragt habe, als „kleinen, verschrobenen Geist“ (consul […] parvo animo et pravo) beschreibt.28 Der Konflikt ging so weit, dass Cicero sich erfolgreich dafür einsetzte, dass Piso für das folgende Jahr die Verwaltung der Provinz untersagt wurde.29 In der Folgezeit schweigen die Quellen zu seiner Person. Stein ging davon aus, dass der Streit jedoch bald nach 61 beendet war.30 Hierfür spräche auch seine Erwähnung in De oratore, wo Cicero ihn als eine dem Crassus nahestehende Person hervorhebt. 31 Für die Zeit nach seinem Konsulat finden sich keine oder zumindest keine eindeutig zuweisbaren Quellen. Ob er 49 als Legat für Pompeius Truppen aushob, ist umstritten, sicher ist jedoch, dass er 47 bereits verschieden war. 32 Anders als der mit Tullia verheiratete C. Piso scheint die historische Vorlage der Dialogfigur ein weniger an Prinzipien als an politischem Erfolg orientierter Politiker gewesen zu sein.33 Ein permanent gutes Verhältnis zu Cicero wurde dadurch erschwert, doch spricht seine Verwendung als Dialogfigur dafür, dass dieser ihm sein Eintreten für Clodius verziehen hatte und es stattdessen für angebracht hielt, ihn mit einem Auftritt in De finibus posthum zu ehren. Trotz der persönlichen Konflikte erinnert Cicero an ihn als einen verstorbenen Freund und verschweigt die einstigen Differenzen und Streitigkeiten anzusprechen. Inwiefern die historische Vorlage der Dialogfigur sich tatsächlich mit der Philosophie des Peripatos identifiziert hat, kann aufgrund der Tatsache, dass alle diesbezüglichen Quellen aus Ciceros Dialogen stammen, nicht eindeutig geklärt 27 28

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Vgl. Stein 1959, Sp. 1989f.; Hofmann-Löbl 1996, S. 137f. Cic. Att. 1,13 = 13 Sh. B.,2; ein ebenfalls negativer Grundton findet sich in: 1,14 = 14 Sh. B.,1; 1,16 = 16 Sh. B.,2; vgl. Syme 1960, S. 15. Cic. Att. 1,16 = 16 Sh. B.,8; vgl. Hofmann-Löbl 1996, S. 139. Stein 1959, Sp. 1992. Cic. de orat. 1,104. Josephus nennt einen Μᾶρκος Πείσων in: Ios. ant. Iud. 14,231; Broughton identifiziert ihn mit dem hier behandelten Piso: MRR 2, S. 269; Stein folgt ihm und vermutet einen Tod als „hochbetagter Offizier“: Stein 1959, Sp. 1990f.; Syme identifiziert diesen jedoch zu Recht als Pisos gleichnamigen Sohn: Syme 1960, S. 15; ihm folgend: Hofmann Löbl 1996, S. 139, Anm. 50. Eine Beteiligung am Bürgerkrieg ist dennoch denkbar, da er als verstorbener Redner im Brutus und als lebendiger Zeitgenosse in De finibus 4 erwähnt wird, sodass er zwischen 52 und 46 gestorben sein muss: Cic. fin. 4,73; Brut. 236. Dass er wie die anderen in De finibus auftretenden Hauptredner ein Bürgerkriegsgefallener war, erscheint wahrscheinlich, da dies die dramatische Spannung der Dialoge und ihre politische Konnotation stärken würde. Auf seinen nicht weit zurückliegenden Tod scheint auch ein Fresko in der Villa di Torre Annunziata hinzuweisen, welches wohl der Sohn nach 45 offensichtlich als eine Hommage an den Vater konzipiert hat. S. hierzu Sauron 1995. Zur Einschätzung seiner Person als Opportunist s. auch Hofmann-Löbl 1996, S. 138f.

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werden. Dass sie über eine bestimmte Vertrautheit mit jener Materie verfügt haben könnte, lässt sich am ehesten aus einer Textstelle von De oratore herleiten. Wie die im folgenden Kapitel zu behandelnden Dialogfiguren Velleius und Balbus, so wird auch Piso darin vom Hauptredner Crassus explizit im Zusammenhang mit dem Peripatos genannt:34 est enim apud M. Pisonem adulescentem iam huic studio deditum, summo hominem ingenio nostrique cupidissimum, Peripateticus Staseas, homo nobis sane familiaris et, ut inter homines peritos constare video, in illo suo genere omnium princeps. Denn bei dem jungen M. Piso, der sich schon diesem Studium widmet, einem hochbegabten Mann, der sich auch sehr um mich bemüht, hält sich der Peripatetiker Staseas auf. Er ist ein guter Freund von mir und nach dem, wie ich sehe, einhelligen Urteil der Fachleute, der führende Mann auf seinem Gebiet.

Da es höchst unwahrscheinlich ist, dass Cicero zum Entstehungszeitpunkt von De oratore schon daran gedacht hatte, Piso einmal als Redner in einem Dialog sprechen zu lassen, gibt es keinen Grund daran zu zweifeln, dass jener tatsächlich um das Jahr 91 Staseas in seinem Haus beherbergte.35 Schwieriger ist es jedoch, das Verhältnis zwischen beiden genauer zu bestimmen, nicht zuletzt auch deswegen, weil der dialogische Kontext, aus dem der Hinweis stammt, das Bild einer sich schon rege mit Philosophie beschäftigenden Aristokratie zeichnen möchte.36 Hinzu kommt, wie bereits oben erwähnt, der Umstand, dass die Familie der Calpurnii Klienten in der griechischsprachigen Welt besaß, so dass der Umgang mit einem peripatetischen Philosophen nicht zwingend primär philosophischer Natur gewesen sein muss. Aus der Textstelle geht jedoch hervor, dass die Figur – ebenso wie Cotta und Velleius – in einem guten Verhältnis zum Gesprächsführer von De oratore stand, worauf das nostrique cupidissimum hinweist. Indem Cicero also nicht nur eine persönliche Nähe seiner Dialogfigur zu sich selbst, sondern auch dessen Verbindung zu Persönlichkeiten einer früheren, von ihm idealisierten Gesellschaft um Crassus herausstellt, kommt dieser Figur eine Funktion als Bindeglied zwischen den Generationen Crassus-Cicero zu, welche wir auch bei Cotta in De natura deorum feststellen werden.37

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Cic. de orat. 1,104. Vgl. Goulet 2012, S. 623. S. oben unter III 5. Eben jene Bindegliedfunktion erfüllt Piso auch in De natura deorum. Da der Autor auf eine Behandlung der Position des Peripatos in diesem bald nach De finibus erschienenen Werk verzichtete, ist Piso dort zwar nicht selbst anwesend, doch wird explizit darauf hingewiesen, dass mit ihm als weiteren Vertreter einer der angesehenen Philosophenschulen (disciplinarum principes) alle Schulen vertreten gewesen wären (M. enim Piso si adesset, nullius philosophiae [...] vacaret locus): Cic. nat. deor. 1,16.

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Dass Piso in De finibus 4 durch die Cicero-Figur als Redner, der mit einer karneadischen Argumentation gegen die Stoa ins Gericht gehen würde, zitiert wird, eignet sich ebenfalls nicht als Beleg für eine philosophische Beschäftigung, da der Kontext des Zitats nicht deutlich wird.38 Seine Erwähnung an der besagten Stelle dient offensichtlich der Vorbereitung seines Erscheinens im fünften Buch, doch wird auch an dieser Stelle die persönliche Verbindung zwischen den einzelnen Dialogszenerien deutlich: Ausdrücklich wird er hier als Freund Ciceros (familiaris noster) genannt und seine tiefe Zuneigung zum jüngeren Cato (tuique […] amantissimus) herausgestellt. Dass er als zitierbare Autorität für einen lateinischen Diskurs herhält, unterstreicht die Absicht des Autors, ihn als Teil einer größeren philosophischen Diskursgemeinschaft erscheinen zu lassen. Wie bei Cato, so handelt es sich bei ihm in erster Linie um einen Redner. Als solchen erwähnt Cicero ihn im Brutus, wo er seine herausragenden Kenntnisse der griechischen Wissenschaften (habuit ex disciplina maxumeque ex omnibus qui ante fuerunt Graecis doctrinis eruditus fuit) lobt, ohne dabei jedoch explizit auf die Philosophie zu verweisen. 39 Von Natur aus habe er einen besonderen Scharfsinn besessen (a natura genus quoddam acuminis), den er mit theoretischer Bildung verfeinert habe (quod etiam arte limaverat), worin er dem Postulat des ciceronischen Bildungsdenkens nachzukommen scheint. Seine Rednerkarriere habe er wegen schlechter Gesundheit und eines inneren Unbehagens gegenüber einer seinem intellektuellen Naturell nicht gerecht werdenden Hörerschaft (hominum ineptias ac stultitias […] non ferebat) frühzeitig beendet. Es lässt sich somit konstatieren, dass es sich bei Piso ohne Zweifel um einen gebildeten Zeitgenossen Ciceros handelte, der mit der griechischen Kultur und Sprache vertraut war. Aus der Lehre bei dem Peripatetiker Staseas kann zwar kein philosophischer Unterricht geschweige denn eine Schulzugehörigkeit gefolgert werden. Für den Autor stellt sie jedoch zusammen mit der Tatsache, dass er sich für griechische Literatur interessierte, die Grundlage dar, dem philosophischen Profil der Person einen gewissen Grad an Glaubwürdigkeit zu verleihen. b)

Philosophisches Profil

Das philosophische Profil der zentralen Dialogfigur in De finibus 5 zeigt sich bereits zu Beginn des Gesprächs, das auf dem Gelände der Akademie stattfindet. Als Gesprächsführer wird Piso als erster vom genius loci erfüllt, der ihn zunächst an den Philosophen Platon erinnert, der als erster an diesem Ort diskutierte

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Cic. fin. 4,73. Zur philosophischen Argumentation s. Gigon/Straume-Zimmermann 2002, S. 534. Cic. Brut. 236.

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(primum hic disputare solitum).40 Mit Blick auf die Gärtchen äußert er weitere Assoziationen:41 hic Speusippus, hic Xenocrates, hic eius auditor Polemo, cuius illa ipsa sessio fuit, quam videmus. Equidem etiam curiam nostram – Hostiliam dico, non hanc novam, quae minor mihi esse videtur, postqueaquam est maior – solebam intuens Scipionem, Catonem, Laelium, nostrum vero in primis avum cogitare; tanta vis admonitionis inest in locis; ut non sine causa ex iis memoriae ducta sit disciplina. Hier war Speusipp, hier war Xenokrates und hier sein Hörer Polemon, der ja gerade auf dem Platz dort saß, den wir sehen. So musste ich auch, wenn ich unser Rathaus sah – ich meine das neue, das mir kleiner vorkommt, nachdem es größer geworden ist –, gewöhnlich an Scipio, Cato, Laelius, vor allem aber an unseren Großvater denken, so groß ist die Kraft der Erinnerung, die Orten innewohnt; man hat deshalb nicht ohne Grund die Mnemotechnik von ihnen abgeleitet.

Die „Kraft der Erinnerung“ (vis admonitionis) des Ortes führt Piso von den griechischen Philosophen, von Platon und dessen Nachfolgern, zurück nach Rom und zu den führenden Staatsmännern des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts, Scipio, Cato, Laelius und den eigenen Großvater L. Calpurnius Piso Frugi.42 Der verwaiste Zustand der Akademie evoziert zugleich die Erinnerung an die römische Curia als Ort, der nach einem Jahrzehnt besonders erbitterter Bürgerkriege unter Cinna, Marius und Sulla zum Dialogzeitpunkt einen nicht weniger verwaisten Eindruck bietet.43 Die römische Kurie als Ort rhetorischer Auseinandersetzung wird der Akademie als Ort der philosophischen gegenübergestellt. Die Ruhe und Abgeschiedenheit, die sich die römischen Bildungstouristen von diesem Ort erhoffen44, ist eine trügerische, da die politische Realität, die Plünderung der Stadt im Jahr 86, wie ein Damoklesschwert über der Szenerie schwebt. 45 Anders als die Truppen Sullas betritt die von Piso angeleitete römische Gemeinschaft den Ort mit einer Faszination für das vielfältige intellektuelle Leben der Stadt. Pisos Verweis auf die Philosophen Platon, Xenokrates und Polemon weist ihn dabei ohne Zweifel als philosophisch versierten Reisenden aus, der im Be-

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Cic. fin. 5,2. Ebd. Der Text von De finibus folgt der Ausgabe von Schiche, die Übersetzung stammt, wenn nicht anders vermerkt, im Folgenden von Merklin. Bei letzterem handelte es sich um den gegen die gracchische Politik eintretenden Konsul des Jahres 133, der auch der Verfasser eines Cicero bekannten Geschichtswerks war. Zur Person des L. Calpurnius Piso Frugi s.: Hofmann-Löbl 1996, S. 68– 84; Beck/Walter 2005, S. 282–285. Vgl. Gigon/Straume-Zimmermann 2002, S. 538. Cic. fin. 5,1: solitudo erat ea, quam volueramus […] – „es war dort so einsam, wie es unser Wunsch war […].“ Vgl. Hösle 2006, S. 229.

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griff ist, den abgebrochenen Diskurs wiederzubeleben, während gleichzeitig sein römischer Hintergrund durchschimmert. Ehe das Profil Pisos als Vertreter des Peripatos und der Alten Akademie, zu der er Xenokrates und Polemon zählt,46 voll zur Geltung kommt, wird durch ihn der Bildungskontext des Gesprächs deutlich gemacht. So präsentiert er sich durch seine Autorität als ältester Gesprächsteilnehmer in einer lehrerähnlichen Weise, wie wir sie auch bei Scaevola in De oratore feststellen konnten.47 Erstmals deutlich wird dies bereits in dem Moment, als er, nachdem bereits alle anderen Dialogfiguren zu Wort gekommen sind, den jüngsten Gesprächsteilnehmer in die Runde integriert, indem er ihn dezidiert nach seinem Interesse befragt (quid Lucius noster?).48 Als Lucius daraufhin seine Begeisterung für Demosthenes und Perikles kundtut, ermahnt Piso ihn stellvertretend für alle Gesprächspartner (te autem hortamur omnes), jene Größen nicht nur kennenlernen zu wollen (quos novisse vis), sondern auch nachzuahmen (ut eos […] imitari etiam velis). Auf diese Weise bringt die Dialogfigur deutlich einen Vorrang der vita activa gegenüber der vita contemplativa zum Ausdruck. Nachdem Marcus sein Einverständnis gegeben hat und zu erkennen gibt, dass ihm diese Ermahnung durchaus willkommen sei, konkretisiert Piso sein Anliegen:49 Tum ille amicissime, ut solebat: Nos vero, inquit, omnes omnia ad huius adolescentiam conferamus, in primisque ut aliquid suorum studiorum philosophiae quoque impertiat, vel ut te imitetur, quem amat, vel ut illud ipsum, quod studet, facere possit ornatius. „Was uns betrifft“, erwiderte der darauf mit gewohnter Liebenswürdigkeit, „so wollen wir uns alle in allem dieses jungen Mannes annehmen, in erster Linie, damit er sich bei seinen Studien auch mit der Philosophie beschäftigt, sei es um dich nachzuahmen, den er liebt, sei es um das, worum es an sich geht, wirkungsvoller tun zu können.“

Die Philosophie wird als Disziplin beworben, durch die Lucius sein eigentliches Studienfach, die Rhetorik, verbessern könne (facere possit ornatius). Zwar appelliert Piso an die kollektive Aufgabe, sich dem jungen Mann zuzuwenden (ad huius adolescentiam conferamus), doch nimmt er hierbei eine klare Vorreiterrolle ein. Als dieser erklärt, sich in einem Zwiespalt zwischen dem von Marcus erwähnten Karneades und Pisos Antiochos zu befinden,50 wird – nach Erwäh-

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Cic. fin. 5,7. Zur Rolle Scaevolas s. oben S. 59, 94 u. 115f. Cic. fin. 5,5. Ebd., 5,6. Ebd.

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nung der führenden Autoritäten der Alten Akademie und des Peripatos – eben jener praktisch-nützliche Aspekt jener Richtungen hervorgehoben:51 ad eos igitur converte te, quaeso. ex eorum enim scriptis et institutis cum omnis doctrina liberalis, omnis historia, omnis sermo elegans sumi potest, tum varietas est tanta artium, ut nemo sine eo instrumento ad ullam rem illustriorem satis ornatus possit accedere. ab his oratoribus, ab his imperatores ac rerum publicarum principes extiterunt. ut ad minora veniam, mathematici, poëtae, musici, medici denique ex hac tamquam omnium artificum officina profecti sunt. Ihnen wende dich bitte zu. Aus ihren Schriften und Lehren kann man nämlich zum einen jede edle Wissenschaft, jede historische Erkenntnis, jede Eleganz des Ausdrucks gewinnen, zum anderen aber ist besonders die Vielfalt der von ihnen vertretenen Disziplinen so groß, dass niemand ohne dieses Rüstzeug sich mit irgendeinem bedeutenderen Thema wirkungsvoll genug befassen kann. Aus ihren Reihen stammen Redner, Feldherren und führende Politiker. Aus ihrer Schule gingen, um zu weniger Bedeutendem zu kommen, Mathematiker und Dichter, Musiker und schließlich Ärzte wie aus einer Bildungsstätte der Vertreter aller Fächer hervor.

Das entscheidende Kriterium eines Studiums der Alten Akademie oder des Peripatos stellt die praktische Relevanz dar, indem Piso sie als die Schulen rühmt, aus denen „Redner, Feldherren und führende Politiker“ (ab his oratoribus, ab his imperatores ac rerum publicarum principes) hervorgegangen seien. Die Empfehlung der philosophischen Schule aufgrund ihres praktischen Nutzens, worin Marcus Cicero ihm anschließend zustimmt52, erinnert an das bereits aus De oratore bekannte Bildungsmodell, welches nach einer Einheit von Philosophie und Rhetorik strebt.53 Das Ziel des philosophischen Vortrags, der den jungen Römer zur Alten Akademie hinwenden soll (ad veterem illam vocare), zielt nicht darauf, ihn zum Philosophen – Philosoph wird als Profession gar nicht genannt – zu machen, sondern ihm eine Hilfestellung für eine spätere Karriere in der res publica zu geben. Das Umschwenken auf einen philosophischen Vortrag wird, wie in De oratore, erst dadurch ermöglicht, dass der Dialog zuvor auf den Vorrang praktischer Beschäftigung damit hinweist. Hierfür ist Piso in seiner Rolle als Lehrer entscheidend. Trotz dieses pragmatischen Anstrichs, der entsteht, indem der Nutzen der Philosophie betont und damit auf das ciceronische Bildungsideal rekurriert wird, präsentiert sich Piso nicht bloß als Lehrer, sondern auch als Lehrmeister, der versucht, den jungen Hörer von der Position der Alten Akademie zu überzeugen,

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Cic. fin. 5,7. Ebd., 5,8. Vgl. Müller 2015, S. 290f.

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die er mit der des Peripatos gleichsetzt.54 Durch diese Rollenverteilung imitiert der Dialog selbst eine karneadische Situation, in der zwei unterschiedliche Ansichten um den Zuspruch eines Römers werben, der in der Philosophie noch unerfahren wirkt. Es verwundert nicht, dass Lucius auch während Pisos Vortrags stets die zentrale Person bleibt, auf die er immer wieder dezidiert Bezug nimmt.55 Er erweckt dabei den Eindruck, stets um Verständlichkeit und Gründlichkeit bemüht zu sein, wie folgender Passus deutlich zeigt:56 haec igitur nobis explicanda sunt, sed si enodatius, vos ignoscetis. huius enim aetati [et huic] nunc haec primum fortasse audientis servire debemus. Das also habe ich hier zu klären, doch wenn es ausführlicher geschieht, so müsst ihr mir verzeihen. Diesen Gefallen bin ich dem jungen Mann, der so etwas vielleicht zum ersten Mal hört, schuldig.

Während das Personengefüge mit Lucius über einen direkten Adressaten verfügt, muss der Protagonist Piso sich diesem annähern. Obwohl der Autor mit seinem Alter Ego an dem Dialog teilnimmt, scheint er hier durch die Maske des Piso zu seiner Leserschaft zu sprechen. Dieser soll die Güterlehre des Peripatos anschaulich vor Augen geführt werden, weshalb er den Hauptredner zu einem kompetenten Vertreter der Lehre macht. Der kompetitive Charakter, der sich aus der Lehrmeisterrolle ergibt, zeigt sich auch noch nach dem Ende seines ersten langen, ununterbrochenen Vortrags, für den er von Cicero dahingehend gelobt wird, dass er sogar seinen griechischen Lehrer Staseas übertroffen habe und man sich, wenn er den Anwesenden öfters zur Verfügung stünde, kaum mehr an die Griechen wenden müsste (non multum Graecis supplicandum putarem).57 Mit der darauffolgenden Bemerkung, dass er Cicero seinen Schüler abwerben möchte (discipulum a te abducere), bleibt er in der Rolle eines griechischen Gelehrten, die er als römischer Bildungsreisender nachahmt. Gleichzeitig zeigt das ironische Bekunden dieser Intention jedoch einen Rest innerer Distanz des römischen Aristokraten zum griechischen Philosophen. c)

Bildung und Haltung zu theoretischen Studien

Wie aus den vorherigen Ausführungen bereits hervorgeht, erweckt die Dialogfigur den Eindruck, über ein breites Fundament an philosophischem Wissen zu verfügen. Dass er mit Antiochos von Askalon auch persönlich vertraut war, wird 54

55 56 57

Cic. fin. 5,7. Zur Herkunft und Problematik der die Positionen neutralisierenden These s. Schofield 2012. Cic. fin. 5,15, 27, 54, 71, 75, 87. Ebd., 5,27. Ebd., 5,75.

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hervorgehoben, indem er als familiaris noster angesprochen wird. Durch die Figur des Autors wird zusätzlich hervorgehoben, dass Piso viele Jahre Staseas von Neapel in seinem Umfeld hatte (habueris apud te) und mit Antiochos gerade über jene philosophische Fragen Nachforschungen anstellen würde (haec ipsa te ab Antiocho videamus exquirere). 58 Seine Beschäftigung mit Philosophie erscheint innerhalb des Dialogs nicht mehr, wie im Fall des Antonius in De oratore, als zufällige Begleiterscheinung einer Amtsausführung in der griechischen Provinz oder eine versteckte Leidenschaft, sondern als offen ausgelebte und den Gesprächspartnern bekannte. Anders als dieser erscheint er von Anfang an in der Maske des Philosophen, die er – zumindest in Athen oder auf seinem Landgut – gern trug, wie der Dialog suggeriert. Die Nennung des Antiochos als eines persönlichen Bekannten ist hinsichtlich seines Vortrags, der im Folgenden kurz umrissen werden soll, auch dahingehend von Bedeutung, dass man in jenem Griechen den entscheidenden Einfluss vermutet.59 Mit Blick auf das Gesamtwerk ist es erwähnenswert, dass eine Präsentation der unterschiedlichen Lehrmeinungen zur Güterlehre erst in seiner Rede zu finden ist, wo sie sowohl den gebildeten Charakter der Dialogfigur als auch dessen Bildungsabsicht gegenüber Lucius zu unterstreichen scheint.60 In dem folgenden Hauptteil stellt er zunächst ausgehend von der Lehre der οἰκείωσις die naturgegebene Ausgangslage des Menschen und die aus ihr folgenden Konsequenzen dar, 61 ehe er das honestum als zentralen Maßstab einführt, der vom Menschen um seiner selbst willen zu erstreben sei.62 Die fortlaufende Rede wird daraufhin unterbrochen, da die Cicero-Figur einen Widerspruch in der Haltung des Peripatos erkennt, welche die äußeren Güter (Gesundheit, Kraft, Schönheit etc.) anders als die Stoa zwar als Güter anerkenne, den Weisen jedoch ohne Rücksicht auf diese glücklich sein lässt.63 In einer abschließenden zweiten Rede verteidigt Piso die Lehre des Peripatos, welche von einer quantitativen Abstufung des Glücks ausgeht, indem er eine Reihe prominenter Beispiele anführt.64 Der Vortrag suggeriert nicht nur durch den einführenden Überblick und die Nennung zahlreicher Philosophen den gebildeten und versierten Charakter der Dialogfigur Piso, sondern unterstreicht diese auch durch die Verwendung etlicher Zitate, welche stets auf Lateinisch zitiert werden. Hinsichtlich des berühmten Passus aus dem zwölften Gesang der Odyssee verweist er darauf, dass er 58 59

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Cic. fin. 5,8, 89. S. Gawlick/Görler 1994, S. 1040; zum ethischen System des Antiochos s.: Görler 1994, S. 946 u. 955–964. Einen weiteren Einfluss stellte ohne Zweifel Theophrasts Über das Glück dar, worin Gigon sogar den Haupteinfluss vermutete: Gigon 1989. Cic. fin. 5,15–23; zum vorliegenden skizzierten Aufbau der Piso-Rede vgl. Gawlick/Görler 1994, S. 1040. Cic. fin. 5,24–60. Ebd., 5,61–74. Ebd., 5,75–86. Ebd., 5,86–95.

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nicht nur diese Stelle übersetzt habe (verti, ut quaedam Homeri, sic istum ipsum locum).65 Abgesehen von einer Platonstelle66 handelt es sich dabei hauptsächlich um lateinische Dichterzitate, wodurch Piso sich nicht nur von Velleius in De natura deorum, sondern auch von dem epikureischen Redner Torquatus im ersten Gespräch von De finibus unterscheidet, wie später zu zeigen sein wird.67 In diesem Kontext präsentiert sich sein Vortrag als Kontrast, der durch die Lektüre des Gesamtwerkes deutlich ersichtlich wird. Das Zitieren von Dichtung folgt jedoch auch einer inhaltlichen Logik, da die von ihm vertretene Schultradition den Nutzen der Dichtung sowie wissenschaftlicher Betätigung im Sinne des kontemplativen Lebens explizit rechtfertigt. Indem er selbst das Themenfeld aufgreift, lässt Cicero ihn auf die Bildungskritik des Torquatus antworten, die am Ende von De finibus 1 aufgeworfen wurde.68 Die Verteidigung der theoretischen Studien mag dabei der Argumentation einer griechischen Vorlage folgen, aus dem Mund der Dialogfigur erhält sie einen prophetischen Unterton, der auf die dem Leser bekannte Zukunft verweist:69 Nos autem non solum beatae vitae istam esse oblectationem videmus, sed etiam levamentum miseriarum. itaque multi, cum in potestate essent hostium aut tyrannorum, multi in custodia, multi in exilio dolorem suum doctrinae studiis levaverunt. Wir aber sehen, dass darin nicht nur eine Freude des glückseligen Lebens besteht, sondern auch eine Linderung des Unglücks. So haben viele, als sie in der Gewalt von Feinden oder Tyrannen waren, viele im Gefängnis, viele in der Verbannung ihren Schmerz durch wissenschaftliche Studien gelindert.

Der Aspekt der „Linderung des Unglücks“ (levamentum miserarium) erinnert den Leser an die persönlichen Umstände, die Cicero im Jahr 45 zur Philosophie führten.70 Dass hierbei auch der von Strasburger postulierte politische Subtext anklingt, ist vorstellbar, für den Kontext dieser Arbeit zentraler erscheint die 65

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Cic. fin. 5,49; Hom. Od. 12,184–191. Gigon/Straume-Zimmermann vermuten, dass Cicero selbst der Übersetzer der Verse sei, was jedoch anzuzweifeln ist, da er in diesem Fall Piso darauf hätte Bezug nehmen lassen, wie dies Balbus in De natura deorum macht, der auf die Übersetzungsleistung Ciceros verweist. Wahrscheinlicher scheint hier, dass der Autor sich an einer tatsächlichen Übersetzung Pisos orientiert, die dieser als adulescentulus zu Übungszwecken anfertigte, wie Cicero dies im Fall von Aratos’ Sternengedicht tat: Cic. nat. deor. 2,104; vgl. Gigon/Straume-Zimmermann 2002, S. 552. Cic. fin. 5,58; Plat. leg. 2,653a7–9. Cic. fin. 5,28f. (Terenz); 5,31 (Ennius); 5,31 u. 62 (Pacuvius); 5,32 (Accius). Ebd., 5,50–54. Ebd., 5,53. Wie aus dem bereits angeführten Brutus-Zitat und seiner Biographie hervorgeht, passt der Passus auch auf Piso selbst, der sich ebenfalls aus der Politik zurückziehen sollte.

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Tatsache, dass die Verteidigung wissenschaftlicher Studien durch die Persönlichkeit der Dialogfiguren sowie Ort und Zeit bewusst verstärkt wird. Die dramaturgische Komponente des Sprechers zeigt sich noch stärker im folgenden Punkt. d)

Pisos Zurückhaltung und Auftreten im Rahmen der Gesprächsethik

Dass Piso über ein typisch römisches Gepräge verfügt, welches von Anfang an seine Funktion als Referent über die Lehren des Peripatos begleitet, wurde sowohl in seiner Rolle als Lehrer, der das Studium jener Philosophenschule den jüngeren Standesgenossen weiterempfiehlt, als auch in der quantitativen Relation der Zitate lateinischer Autoren gegenüber griechischen deutlich. Es begegnete uns bereits am Anfang des Dialogs, als er über die Kraft der Erinnerung sprach und den Philosophen Sokrates, Speusippos, Xenokrates und Polemon die Römer Scipio, Cato, Laelius und seinen Großvater L. Calpurnius Piso entgegenstellte.71 Noch deutlicher zeigt sich sein römisches Wesen, als Cicero ihm vorschlägt, doch selbst einen Vortrag zu halten:72 Et ille ridens: Age, age, inquit, – satis enim scite me nostri sermonis principium esse voluisti – exponamus adolescenti, si quae forte possumus. dat enim id nobis solitudo, quod si qui deus diceret, numquam putarem me in Academia tamquam philosophum disputaturum. sed ne, dum huic obsequor, vobis molestus sim. „Nur zu, nur zu“, erwiderte er lachend, „es war ja raffiniert genug, wie du es darauf angelegt hast, dass ich den Anfang unserer Unterhaltung machen sollte. Ich will dem jungen Mann die nötige Erklärung geben, wenn ich dazu imstande bin. Denn nur unser Alleinsein hier gibt mir die Möglichkeit dazu; sonst hielte ich es, selbst wenn es ein Gott erklärte, für unvorstellbar, dass ich wie ein Philosoph in der Akademie doziere. Doch hoffentlich langweile ich euch nicht, indem ich diesem hier zu willen bin.“

Die Rolle des in der Akademie lehrenden Philosophen (tamquam philosophum) bereitet Piso offensichtlich ein gewisses Unbehagen, und nur das gemeinsame „Alleinsein“ (solitudo) scheint ihm zu erlauben, der Bitte letztlich Folge zu leisten. Die dramatische Inszenierung des Dialogs präsentiert seine Persönlichkeit als Römer, der zwar großes Interesse und hinreichende Kenntnisse auf dem Gebiet der Philosophie besitzt, der jedoch noch nie zuvor darin doziert zu haben scheint. Seine Haltung zwischen grundsätzlicher Aufgeschlossenheit und einer sich auch durch sein Lachen entlarvenden inneren Hemmschwelle, selbst einen philosophischen Vortrag – obendrein in lateinischer Sprache und mit Römern – zu halten, erinnert an ein schon in De oratore und De re publica beobachtetes Verhaltensmuster, mit dem die Unterschiedlichkeit der beiden Lebenswelten, 71 72

Cic. fin. 5,2. Ebd., 5,8.

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griechischer Philosophie und römischer Politik, angedeutet wird. Wie in den beiden früheren Dialogen impliziert das Verhalten der Dialogfiguren, dass mit dem offenen Referieren griechischer Theorie durch römische Redner etwas Neues gewagt wird, womit man aufgrund der eigenen römischen Identität fürchtet, den anderen lästig sein zu können (ne vobis […] molestus sim). Cicero porträtiert den Römer Piso auf diese Weise als Person, die sich nicht mehr nur auf die passive Rezeption griechischer Diskurse beschränkt, sondern einen römischen Diskurs initiiert. In dem dialogischen Universum erscheint dadurch auch die Dialogfigur Piso, und nicht allein die des Marcus, als Archeget einer lateinischen Philosophie. Diese soll jedoch nicht nur dazu dienen, eine bloße Lust zu befriedigen, sondern bedarf einer gewichtigeren Legitimation, die durch die Persönlichkeit der Dialogfigur gegeben wird. Die inszenierte Scheu erinnert daran, dass Piso als griechischer Philosoph und römischer Aristokrat eine heikle Doppelrolle einnimmt. Diese zeigt sich erneut gegen Ende des Dialogs, indem Marcus seine Mahnung zur Aufmerksamkeit durch das Bild einer Gerichtsszene untermalt:73 Et ego: Piso, inquam, si est quisquam, qui acute in causis videre soleat quae res agatur, is es profecto tu. quare attende, quaeso. Darauf erwiderte ich: „Piso, wenn es jemand gibt, der bei Prozessen gewöhnlich mit scharfem Blick erkennt, worauf es ankommt, dann bist das sicher du. Gib deshalb bitte acht. […].“

Indem an sein öffentliches Auftreten als Gerichtsredner erinnert wird, erfolgt ein genereller Vergleich der philosophischen Auseinandersetzung mit einer juristischen. Piso vertritt die Sache des Peripatos in gleicher Weise, wie er vor Gericht seinen Mandanten verteidigt. Diese verteidigt er dabei gegen zwei verschiedene Ankläger: Einerseits gegen die Zweifel der vom Autor vertretenen Neuen Akademie, der er vorwirft, ihr anspruchsvolles Studium generiere Unwissen statt Erkenntnis (ea […], quae cum plane perdidicerit, nihil sciat). 74 Zum anderen spricht er zu einer der Philosophie generell oder partiell kritisch eingestellte Leserschaft, welche Sinn und Angemessenheit dieser Disziplin anzweifeln. Dass ihm diese Vorbehalte dabei nicht völlig fremd sind, zeigt auch seine Argumentation: Er verteidigt seine Lehrmeinung gerade hinsichtlich ihres Nutzens für eine politische Bildung, die sie einem angehenden Redner wie Lucius verspreche. Der Peripatos sei demnach eine Philosophie, der höchste dignitas zukomme, wie auch der Schlusssatz seiner Rede deutlich macht:75

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Cic. fin. 5,78. Ebd., 5,76. Ebd., 5,74.

274

Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero ita relinquitur sola haec disciplina digna studiosis ingenuarum artium, digna eruditis, digna claris viris, digna principibus, digna regibus. Somit bleibt diese unsere Lehre als die einzige übrig, die derer würdig ist, die sich der edlen Wissenschaften befleißigen, würdig der Gebildeten, würdig der berühmten Männer, würdig der führenden Persönlichkeiten, würdig der Könige.

Der Wert der dignitas philosophiae am Ende seines Vortrags reflektiert den für das Gesamtwerk De finibus wichtigen Gedanken einer Gleichwertigkeit philosophischer und politischer Beschäftigung, der gleich zu Beginn des Proömiums des ersten Buchs vertreten wurde. 76 Inwieweit diese Formulierung auf Theophrast zurückgehen mag, lässt sich nicht zweifelsfrei bestimmen. Entscheidender ist ihre Platzierung am Ende der peroratio, wodurch die Wichtigkeit dieser Reflexion für den Autor sichtbar wird. Die Rolle als philosophischer Schulmeister und Verteidiger des Peripatos übt die Dialogfigur mit einer Liebenswürdigkeit aus, die wir auch bei Cotta in De natura deorum feststellen werden. Nachdem er von Marcus die Zustimmung erhalten hat, beginnt er seinen Vortrag auf eine betont freundliche Weise, welche ihn ausgezeichnet haben soll (ille amicissime, ut solebat).77 Den lobenden Worten, mit denen Marcus seine Eignung als philosophischer Referent herausstellt, entgegnet er mit einem Lachen (ridens) und der humorvollen Feststellung, dass jener ihn mit dem Kompliment bereits verpflichtet habe.78 Nicht weniger humorvoll (ille ridens) reagiert er gegen Ende, indem er seinen Gegenspieler, der das Gespräch zuvor in eine unüberwindbare Aporie geführt hat, bezichtigt, ihm seinen Schüler abspenstig machen zu wollen.79 Cicero verleiht der Figur nicht nur einen besonderen Liebreiz, sondern bringt mit ihrem Verhalten auch einen deutlichen Kontrast zu dem betont ernsten Verhalten, das wir bei stoischen Rednern wie Balbus und Cato Uticensis feststellen können. Die Dialogfigur trägt insgesamt zu einem lockeren Gesprächston bei, der nach dem Gespräch der Bücher 3 und 4 wieder an die Atmosphäre von 1 und 2 erinnert. f)

Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Dialogfigur Piso nicht nur als Verteidiger des Peripatos, sondern der Philosophie generell auftritt, für deren Studium er beim Zuhörer Lucius wirbt. Die vom Autor geforderte Verbindung griechischer Theorie und römischer Praxis vollzieht sich dabei nicht zuletzt durch ihr Auftreten, das anfänglich ein markantes Unbehagen äußert, im Stil eines Philosophen in der Akademie einen Vortrag zu halten, und dies erst leistet, 76 77 78 79

Cic. fin. 1,1. Ebd., 5,6. Ebd., 5,8. Ebd., 5,86.

De finibus bonorum et malorum 5

275

nachdem er den Zuspruch von Quintus und Atticus erhalten hat.80 Cicero bedient sich bei ihm geschickt an Zügen der historischen Vorlage, von der ein persönlicher Umgang mit Staseas als gesichert gelten kann, nicht jedoch ein Auftreten als philosophischer Redner in Rom, der die Lehre des Peripatos in lateinischer Sprache vertrat. In der geschichtsträchtigen Atmosphäre des Ortes wird er überwältigt. Die Überwindung seiner reservierten Haltung gegenüber einem philosophischen Vortrag durch die Kraft des geschichtsträchtigen Ortes und die Dialogfigur Marcus gleicht dabei einem Entstehungsmoment lateinischer Philosophie, die sich aus der verlassenen Akademie erhebt.

1.2

M. Tullius Cicero

a)

Rolle im Gesprächskreis und Auftreten als Akademiker

Während das Alter Ego des Autors in den zwei vorherigen Gesprächen von De finibus den größten Anteil am Gespräch hatte, tritt es im dritten gegenüber Piso zurück, der insgesamt einen gewissen Vorrang gegenüber Marcus zu haben scheint.81 Anders als in den beiden Gesprächsszenerien der Bücher I-IV bleibt Cicero ein längerer Vortrag versagt, doch findet das Gros der Wortwechsel zwischen ihm und Piso statt, wodurch er ebenfalls eine zentrale Gestalt des Gespräches darstellt. Dass er jenem dennoch untergeordnet erscheint, wird durch zwei oben angedeutete biographische Notizen unterstrichen: Einerseits steht Piso Cicero zum Dialogzeitpunkt an Alter und Rang voran, zum anderen sind wir über Asconius darüber in Kenntnis gesetzt, dass Cicero in sehr frühen Jahren Piso als älteren Studiengenossen zugewiesen bekam und dieser somit eine lehrerähnliche Rolle für ihn innehatte.82 Der autobiographische Bezug der Dialogszenerie erfüllt nicht nur einen Selbstzweck, indem auf den Athenaufenthalt des Autors von 79 verwiesen wird. Der Ort selbst verweist darüber hinaus auf Ciceros Bekenntnis zur Philosophie der Akademie Platons. Diese Zuordnung hat er auch in den im Jahr 46 erschienenen rhetorischen Werken Brutus und Orator nicht verborgen, sondern dort geradezu ostentativ herausgestellt: Während er dabei im Brutus gegen Ende von einer Bekehrung zur Akademie durch Philon von Larissa sprach, erklärt er bereits zu Beginn des Orator, dass er als Redner „aus den Wandelgängen der Akademie hervorgegangen“ (ex Academiae spatiis exstitisse) sei.83 Durch die Wahl der Szenerie versetzt sich der Autor somit nicht in eine unbestimmte Vergangen-

80 81

82 83

Cic. fin. 5,8. Dickey 1997, S. 585 beziffert Ciceros Anteil an der Gesprächszeit in De finibus 5 mit 14 Prozent, während er in den beiden anderen Gesprächen bei über der Hälfte lag. Ascon. 15C zu Pis. 62; vgl. Fuhrmann 2007, S. 36. Cic. Brut. 306; orat. 12.

276

Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero

heit, sondern in die für seine philosophische Ausrichtung maßgebliche Zeit, in der zwar die Bekehrung durch Philon in Rom vollzogen war, in der er jedoch erstmals mit der Lehre von dessen Schüler Antiochos von Askalon vertraut gemacht wird.84 Dass seine Dialogfigur auch im fünften Buch als Vertreter der Neuen Akademie auftritt, wird gleich zu Beginn des Gesprächs deutlich, als nach Piso, Quintus und Atticus schließlich auch er seine durch den genius loci hervorgerufenen Gedanken mitteilt:85 hoc autem tempore, etsi multa in omni parte Athenarum sunt in ipsis locis indicia summorum virorum, tamen ego illa moveor exhedra, modo enim fuit Carneadis, quem videre videor – est enim nota imago –, a sedeque ipsa tanta ingenii magnitudine orbata desiderari illam vocem puto. In diesem Augenblick jedoch bewegt mich trotz der vielen Spuren hervorragender Männer, die es in jedem Teil Athens an den entsprechenden Schauplätzen gibt, der Hörsaal dort. Vor kurzem war er nämlich noch der des Karneades; mir ist, als sähe ich ihn noch – das Bild ist ja bekannt –, und dabei habe ich den Eindruck, dass der Schauplatz selbst, der eines so großen Geistes beraubt ist, seine Stimme nun vermisst.

Die Assoziierung von Karneades an dieser Stelle verrät dabei nicht nur die ungebrochene Treue des jungen Cicero zur Tradition der Neuen Akademie, mit der bekanntlich Antiochos brechen sollte, sondern sie weist die Dialogfigur generell als philosophischen Gesprächspartner aus. Dass dabei der Name jenes Akademikers fällt, der zum Sinnbild der sich transformierenden Auseinandersetzung der Römer mit der Philosophie werden sollte, und nicht der Platons oder Philons, mag in der Bedeutung der divisio Carneadis liegen, die in der Argumentation gegen Kepos und Stoa in den Büchern 2 und 4 eine grundlegende Rolle einnimmt.86 b)

Cicero als philosophischer Lehrer und kritischer Beisitzer

Wie im vorherigen Kapitel bereits angeklungen, kommt Marcus eine Lehrerrolle gegenüber dem mit ihm verwandten Lucius zu. Gegenüber Piso, der diesbezüglich eine Vorreiterrolle einnimmt, tritt er dabei sowohl als Unterstützer als auch als Konkurrent in Erscheinung. So begrüßt er gleich zu Beginn das didaktische Anliegen des Hauptredners (ea quae praecipis, tamen mihi grata hortatio tua est). 87 Sich seiner erzieherischen Aufgabe bewusst, gewährt er Pisos Vortrag, 84 85 86 87

Cic. Brut. 315; vgl. Bringmann 2010, S. 46. Cic. fin. 5,4. S. hierzu: Lévy 1984. Cic. fin. 5,6.

De finibus bonorum et malorum 5

277

während dem er selbst die Rolle eines kritischen Beisitzers innehat. Als dieser seine erzieherische Absicht bestärkt und um Erlaubnis bittet, den Vortrag fortzuführen, folgt Marcus’ zu erwartende Zustimmung:88 Ita prorsus, […] etsi ea quidem, quae adhuc dixisti, quamvis ad aetatem recte isto modo dicerentur. So ist es recht […], allerdings war das, was du bis jetzt gesagt hast, in dieser Weise für jedes Alter richtig.

Damit drückt die Dialogfigur nicht nur ihre Aufgeschlossenheit aus, sondern zeigt sich unisono als verständiger und philosophisch ebenbürtig gebildeter Zuhörer, indem sie die Richtigkeit der bisherigen Ausführungen herausstellt, welche von der Carneadis divisio und der in allen drei Einzelgesprächen behandelten οἰκείωσις-Theorie handelten.89 Die Rolle Ciceros beschränkt sich dabei nicht auf die des um die Bildung seines Schützlings Lucius bemühten Vormunds, sondern nimmt – parallel zu der des Hauptredners Piso – Züge eines griechischen Schulmeisters an, der mit dem anderen um den „Schüler“ (discipulum) konkurriert. 90 Diese philosophische Lehrerrolle zeigt sich besonders deutlich am Ende von Pisos Vortrag:91 Tu vero, […] Piso, ut saepe alias, sic hodie ita nosse ista visus es, ut, si tui nobis potestas saepius fieret, non multum Graecis supplicandum putarem. quod quidem eo probavi magis, quia memini Staseam Neapolitanum, doctorem illum tuum, nobilem sane Peripateticum, aliquanto ista secus dicere solitum, assentientem iis, qui multum in fortuna secunda aut adversa, multum in bonis aut malis corporis ponerent. Wahrhaftig, Piso, wie sonst schon oft, hast du dich heute als ein solcher Kenner auf diesem Gebiet gezeigt, dass wir uns wohl kaum an die Griechen wenden müssten, wenn du uns öfter zur Verfügung stündest. Deine Darstellung hat mir jedenfalls um so mehr eingeleuchtet, als nach meiner Erinnerung Staseas von Neapel, dein Lehrer und ein recht berühmter Peripatetiker, sich über diese Fragen etwas anders zu äußern pflegte, wobei er denen zustimmte, die großes Gewicht auf Glück oder Unglück und auf die Güter oder die Übel des Körpers legten.

Das von der Dialogfigur ausgestellte Lob auf die Rede des Hauptredners dient hier nicht dazu, den bekanntlich ja vom Autor Cicero selbst konzipierten und

88 89

90 91

Cic. fin. 5,27. Im fünften Buch wie gezeigt von Piso, im zweiten dagegen von Cicero selbst und im dritten – am ausführlichsten – von Cato vorgetragen: Cic. fin. 2,37; 3,16–18; 5,24–26. Ebd., 5,75 u. 5,86. Ebd., 5,75.

278

Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero

Piso in den Mund gelegten Vortrag zu würdigen.92 Das Kompliment, dass das Hinzuziehen griechischer Experten nun nicht mehr notwendig sei, verweist stattdessen auf das Anliegen des Verfassers, einen philosophischen Diskurs in lateinischer Sprache zu konstituieren. Da Marcus mit Pisos peripatetischem Lehrer Staseas wohl vertraut ist, ist es ihm möglich, sogleich Unterschiede zwischen der Position des griechischen Lehrers und seines römischen Schülers auszumachen, die dieser im Anschluss selbst erläutert.93 Ihre Prägung als akademischer Philosoph und interner Kritiker lässt die Dialogfigur in einer Weise am Gespräch teilnehmen, die hilft, das philosophische Profil des Hauptredners zu präzisieren. Dies geschieht nicht nur durch affirmatives Auftreten, sondern auch in einem gezielten Nachhaken, durch das er die von Piso vorgetragene peripatetische Konzeption wegen ihres doppelten Begriffs der Eudaimonie zum Einsturz bringen möchte.94 Deutlich lehnt er dabei eine Vorstellung des Glücks ab, in der unterschiedliche Abstufungen getroffen werden (ita nemo beato beatior). 95 Gegen die peripatetische Güterlehre bringt er die Position der Stoa vor, nach der es keine Abstufungen der Tugend gebe und es sich bei Unglücksfällen wie Krankheit, Armut oder Verbannung nicht um Übel (mala) handeln würde.96 Wie die Stoa, so setzt auch er den Peripatos einem Praxistest aus:97 quid? tuum credibile? si enim ad populum me vocas, eum, qui ita sit affectus, beatum esse numquam probabis; si ad prudentes, alterum fortasse dubitabunt, sitne tantum in virtute, ut ea praediti vel in Phalaridis tauro beati sint, alterum non dubitabunt, quin et Stoici convenientia sibi dicant et vos repugnantia. Aber wie steht es mit deiner These? Ist sie glaubhaft? Wenn du mich nämlich vor ein Tribunal des Volkes zitierst, wirst du niemals Zustimmung dafür finden, dass ein Mensch in dieser Verfassung (Anm.: d.h. unter schweren Leiden) glücklich ist. Zitierst du mich dagegen vor ein Tribunal von klugen Männern, so werden sie einerseits vielleicht im Zweifel sein, ob soviel in der Tugend steckt, dass Menschen, die über sie verfügen, sogar im Stier des Phalaris noch glücklich sind, andererseits werden sie nicht daran zweifeln, dass die Erklärungen der Stoiker in sich stimmig und die euren widersprüchlich sind.

Der Autor lässt folglich das dritte Gespräch von De finibus mittels seines Alter Ego in Aporie münden, indem es eine klare Positionierung zu einer der dargestellten Thesen meidet und stattdessen beide mit unterschiedlichen Rezeptionse92

93 94 95 96 97

Zu diesem könnte man durch Hösles These gelangen, dass Cicero bei vergleichbaren Dialogpartien eine besonders kunstvolle Form des Eigenlobs anbringt: Hösle 2004. Cic. fin. 5,75. Ebd., 5,76f.; vgl. Gigon/Straume-Zimmermann 2002, S. 561. Cic. fin. 5,81. Ebd., 5,84f. Ebd., 5,85.

De finibus bonorum et malorum 5

279

benen – größere Öffentlichkeit (ad populum) und intellektuelles Umfeld (ad prudentes) – konfrontiert.98 Auf das Dilemma, dass bei einer Klassifizierung der Leiden als Übel der Weise nicht glücklich sein kann, als Nichtübel hingegen die Stoa recht behalten würde, wird keine Antwort mehr gefunden, was Marcus jedoch nicht zu stören scheint. Auf die scherzhafte Bemerkung des Hauptredners, der lachend um seinen Schüler fürchtet, erwidert er:99 Tu vero, […] ducas licet, si sequetur; erit enim mecum, si tecum erit. Du kannst ihn ruhig auf deine Seite ziehen […] wenn er mit dir geht; er wird es nämlich auch mit mir halten, wenn er auf deiner Seite steht.

Zwar bleibt eine Bekehrung der Dialogfigur zur Position des Peripatos aus, doch wird wie in De natura deorum deutlich, dass die zuletzt behandelte Theorie ihm als die wahrscheinlichste gilt, auch wenn Zweifel bleiben. Nachdem Piso in seinem Schlusswort erneut den Vorrang der virtus beteuert und somit dem Absolutheitsanspruch der Stoa die Wandelbarkeit der menschlichen Realität entgegengesetzt hat,100 stellt ihm Marcus seine Zustimmung in Aussicht, wenn jener seinem Grundsatz nur fortwährend treu bleibe (tibi etiam atque etiam confirmandus).101 Der Schlusssatz wird in der Forschung unterschiedlich interpretiert: Während Gawlick und Görler in dem Satz eine vorsichtige Zustimmung erkennen,102 sieht ein nicht geringer Teil der Wissenschaft hierin eine Verweigerung.103 Zwar kann diese Diskussion im Rahmen dieser Arbeit nicht geklärt werden, doch sind hierbei zwei Aspekte von Bedeutung: Die Offenheit des Diskurses kommt auch durch die Formulierung confirmandus zustande, die Merklin mit „beharren“ wiedergibt, die jedoch auch dahingehend verstanden werden kann, dass Piso seine Position weiter untermauern solle. Diese Offenheit entspricht dem Kalkül des Autors in zweifacher Hinsicht: Einerseits will er die Leserschaft primär zur Auseinandersetzung mit der Philosophie statt zur Übernahme eines bestimmten Lehrmodells bewegen, andererseits spricht sie für die Konzeption von De finibus als Wegbereiter der fast zeitgleich entstehenden Tusculanen,

98 99 100 101 102 103

Vgl. Gigon/Straume-Zimmermann 2002, S. 562. Cic. fin. 5,86. Ebd., 5,95; zur Interpretation: Gigon/Straume-Zimmermann 2002, S. 564. Cic. fin. 5,95. Gawlick/Görler 1994, S. 1040; Hirzel 1895, S. 533f. Nach Michel geht die Ablehnung sogar soweit, dass sie „malgré sa brièveté, remet tout en question“: Michel 1969, S. 614. Taran zieht einen Vergleich mit dem Ende von De natura deorum und sieht darin „Cicero’s polite refusal to admit the doctrine while leaving the discussion open“: Taran 1987, S. 10, Anm. 37. Grimal wiederum setzt das Ende mit Ciceros Trauer um den Tod seiner Tochter in Verbindung und sieht hierin eine Bestätigung für seine Interpretation der Dialoge als persönliche Reflexion: Grimal 1988, S. 453. Ein ebenfalls unentschiedenes Ende sieht Narducci 2012, S. 267.

280

Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero

welche die ethische Reflexion an dieser Stelle weiterführen. Die Offenheit wird dabei von der Dialogfigur als Sprachrohr des Autors vermittelt. Hinsichtlich seiner eigenen philosophischen Überzeugung, um zum zweiten Aspekt zu kommen, gelingt es ihm so, seine Sympathie für die von Piso vorgetragene Position kundzutun, ohne dabei von der eigenen Position der Skepsis abweichen zu müssen. Ohne Zweifel sagt ihm die Position des Peripatos mehr zu als die Epikurs und die der Stoa. c)

Zusammenfassung

Als neuakademischer Philosoph in Erscheinung tretend schließt Marcus in keinem Moment eine grundsätzliche Zustimmung aus und bleibt für die Argumentation Pisos offen, nimmt es sich dabei jedoch heraus, diese bis zu dem Punkt zu hinterfragen, an dem sich ein Dilemma ankündigt. Er folgt somit dem Muster, das wir auch in den beiden anderen, zeitlich später situierten Einzelgesprächen von De finibus antreffen werden. Die Dialogfigur gibt dabei die philosophische Reflexion des Autors wieder, dessen Sprachrohr sie ist. Im Gesamtgefüge nimmt die Figur eine Mittlerrolle zwischen dem eigentlichen Referenten Piso und dem philosophisch weniger gebildeten Publikum ein, welches durch seinen Vetter repräsentiert wird. Auch in De finibus 5 wird an den Vorrang der Praxis und sein Anliegen erinnert, die Philosophie in Rom einzubürgern, was auch durch die Dialogfigur transportiert wird. Anspielungen auf die Gegenwartspolitik in Rom sind jedoch durch das dramatische Datum außen vor.

1.3

Q. Tullius Cicero

a)

Historische Persönlichkeit

Da der Briefverkehr mit Quintus104 erst nach Ciceros Konsulat einsetzt, liegen für die Zeit vor 63 nur wenige Quellen vor. Sein Geburtsjahr lässt sich nicht genau bestimmen, nach McDermott kommt hierfür der Zeitraum zwischen Ende

104

Der etwas jüngere Bruder Ciceros, der an dieser Stelle erstmals zu besprechen ist, war vor De finibus 5 schon im unveröffentlichten Dialog De legibus aufgetreten, der jedoch in eine gegenwartsnahe Zeit situiert wurde und deshalb erst unter V.3 untersucht wird. Seine Bedeutung für den Autor lässt sich bereits aus dem Umstand erschließen, dass er insgesamt dreimal als Dialogfigur in Erscheinung tritt und ihm das Werk De oratore, vermutlich auch De re publica, gewidmet war. Im Folgenden soll zunächst in gewohnter Manier ein biographischer Überblick zur historischen Persönlichkeit vorgenommen werden, der etwas ausführlicher ausfällt, da er auch für die Kapitel zu De legibus und De divinatione als Bezugspunkt dient. Zu Quintus’ möglicher Widmungsträgerschaft in De re publica s. McDermott 1971, S. 704.

De finibus bonorum et malorum 5

281

106 und 102 in Frage.105 Aus dem Beginn von De finibus 5 lässt sich schließen, dass er an der Reise seines Bruders nach Griechenland und Kleinasien in den Jahren 79 und 78 teilgenommen hatte.106 Hinweise auf die ersten Stationen seiner politischen Karriere ergeben sich nur aus Anspielungen in der Korrespondenz mit Atticus. Sein Aufstieg in die unteren politischen Ränge wurde wie bei vielen Angehörigen des Ritterstands durch eine militärische Laufbahn vorbereitet. 107 Als tribunus militum hat er wohl ab Mitte der 80er Jahre militärische Erfahrungen in verschiedenen Ländern und für verschiedene Feldherren (Lucullus, Pompeius) gesammelt, ehe er in den cursus honorum eintrat. Die Quaestur muss er zwischen 74 und 69 innegehabt haben.108 Im Jahr 65 übte er mit C. Vergilius das Amt des plebejischen Aedils aus.109 Gleichzeitig kann für die Jahre 77 bis 64 eine zunehmende politische Unterstützung seines großen Bruders Marcus angenommen werden. 110 Diese drückt sich auch in der von Quintus stammenden Schrift Commentariolum petitionis aus, welche auf das Jahr 64 datiert wird.111 Der Autor der Schrift zeigt sich als bisweilen zynischer Politiker, der seinem von ihm als homo Platonicus bezeichneten Bruder Wahlkampftipps erteilt.112 Das höchste Amt seiner Karriere stellte die Praetur dar, die er direkt nach Ciceros Konsulat und der Niederwerfung der catilinarischen Verschwörung innehatte, bei der er aktiv auf der Seite seines Bruders stand.113 Dieser folgte 61 eine Statthalterschaft, die ihm trotz seines Widerwillens zweimal verlängert wurde und die er somit bis 59 ausübte.114 Im Jahr 58 unterstützte er die Rückberufung seines Bruders aus dem Exil, wofür ihm dieser nach seiner Rückkehr öffentlich dankte.115 In der Folgezeit setzte er seine politische Laufbahn als Legat unter verschiedenen imperatores fort: von 57 bis 56 unter Pompeius, von 54 bis 52 unter Caesar in Gallien und zuletzt von 51 bis 50 an der Seite seines Bruders in

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McDermott 1971, S. 704. Vgl. ebd., S. 705f. S. hierzu: ebd., S. 710–714. Vgl. ebd., S. 713. Hinsichtlich einer von Münzer angenommenen Quaestur des Jahres 68 in der Provinz äußerte McDermott berechtigte Zweifel und präferiert stattdessen das Jahr 70, da Quintus seinen Bruder nicht – wie Lucius Cicero – nach Sizilien begleitet hat: McDermott 1971, S. 707f. u 713; vgl. Münzer 1948, Sp. 1287; Ducos 1994d, S. 394. Cic. ad Q. fr. 1,3 = 3 Sh. B.,8; Att. 1,4 = 9 Sh. B.,1; vgl. Münzer 1948, Sp. 1288; McDermott 1971, S. 708. Vgl. McDermott 1971, S. 715. Zur Forschungsfrage der Autorenschaft und Datierung sei auf die Ausgabe von Laser verwiesen: Laser 1999, S. 179 und 2001, S. 5f. Q. Cic. Comm. pet. 46; vgl. McDermott 1971, S. 709. Vgl. Fündling 2002, S. 903; Ducos 1994d, S. 397. Vgl. McDermott 1971, S. 703 u. 711. Cic. p. red. in sen. 37.

282

Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero

Kilikien.116 Aufgrund seines guten Verhältnisses zu Caesar wechselte er im Bürgerkrieg nur widerwillig auf die Seite der Pompeianer.117 Angesichts der Niederlage des Pompeius und seines Strebens nach Rehabilitierung unter Caesar kam es in der Folge zu einem großen Zerwürfnis zwischen den beiden Brüdern, wobei Quintus den älteren Bruder für seine missliche Lage verantwortlich zu machen schien.118 Eine Versöhnung kam erst nach seiner Begnadigung im Juli 47 zustande, worauf sich das Verhältnis wieder recht schnell normalisierte. 119 Dass er nicht immer dieselbe politische Linie vertrat wie sein Bruder, deutete sich bereits in den 50er Jahren dadurch an, dass er mit dessen persönlichen Rivalen und Gegnern wie M. Calidius und M. Crassus ein deutlich besseres Verhältnis gehabt zu haben scheint.120 Wie sein Bruder starb er im Dezember 43 als Geächteter auf der Flucht zum Lager des Brutus.121 Zwar wurde Quintus gemeinsam mit Marcus erzogen, doch scheint er keine spezifisch rhetorische Ausbildung genossen zu haben.122 Aus der Korrespondenz geht allerdings hervor, dass er – für römische Aristokraten nicht unüblich – bereits von Kind an in bestimmten Bildungsdisziplinen unterrichtet wurde.123 Dass auch er zu einem gewissen Grad literarisch tätig war, ist durch einen der erhaltenen Briefe seines Bruders gut belegt.124 Ob er tatsächlich der Herausgeber von Lukrez’ De rerum natura war, geht aus der betreffenden Briefstelle zwar nicht eindeutig hervor, wohl aber eine Kenntnis der Schriften.125 Ein mit seinem Bruder vergleichbares Interesse an Philosophie besaß Quintus vermutlich nicht, ebenso wenig lässt sich eine Vorliebe zu einer bestimmten Philosophenschule, etwa zu Epikur oder der Stoa, anhand der Quellen eindeutig belegen.126

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Vgl. McDermott 1971, S. 703. Offensichtlich spekulierte Quintus darauf, das Konsulat zu gegebenem Zeitpunkt fortsetzen zu können. Nicht unwahrscheinlich ist es, dass er – wie Wiseman 1966 aus der Korrespondenz folgert – eine Bewerbung im Jahr 54 vorsah. Vgl. Fündling 2002, S. 903f.; Cic. Att. 9,1 = 167 Sh. B.,4; 10,4 = 195 Sh. B.,6. Vgl. Münzer 1948, Sp. 1301f.; Fündling 2002, S. 904. Vgl. Münzer 1948, Sp. 1303. Vgl. McDermott 1971, S. 706f. Plut. Cic. 47,1–3; vgl. Fündling 2002, S. 904. Vgl. Elvers 2002, Sp. 903; Ducos 1994d, S. 397f. Cic. ad Q. fr. 1,1 = 1 Sh. B.,29; s. auch McDermott 1971, S. 704. Im Jahr 54 schickte Quintus eine von ihm überarbeitete Fassung von Sophokles’ Tischgenossen an seinen Bruder, s.: Cic. ad Q. fr. 2,16 = 20 Sh. B.,3. Eine von ihm verfasste Erigone nach sophokleischem Vorbild ging anscheinend kurz nach ihrer Fertigstellung verloren: Cic. ad Q. fr. 3,1 = 21 Sh. B.,13; 3,5 = 25 Sh. B.,7; 3,7 = 27 Sh. B.,6. Cic. ad Q. fr. 2,10 = 14 Sh. B.,3; vgl. Elvers 2002, Sp. 904; McDermott 1971, S. 704 Anm. 12. McDermott hält aufgrund der Erwähnung von Lukrez’ Gedichten ein Interesse für Epikur noch für am wahrscheinlichsten: McDermott 1971, S. 703f.; zur Vorsicht

De finibus bonorum et malorum 5

283

Über das Verhältnis des historischen Quintus zum Autor hingegen sind wir durch die Korrespondenz besser unterrichtet. Als jüngerer Bruder empfängt er darin Lob und Kritik. Im frühesten an ihn adressierten Brief bemängelt Marcus seine Reizbarkeit (iracundia) und übertriebenen Zornausbrüche (vehementiores animi concitationes), die weder mit der humanitas noch mit seinem sozialen und politischen Rang (contraria sunt imperio ac dignitati) vereinbar seien. 127 Der leise, aber deutliche Vorwurf an seine Defizite im sozialen Miteinander ist für die Untersuchung der Dialogfigur in den Dialogen ein nicht unwichtiges Detail, das Aufschluss über den Grad der Idealisierung gibt. Dass seine Rolle als kleiner Bruder teilweise eine persönliche Bürde darstellte, zeigt sich in kulminierender Form an dem großen Zerwürfnis, das während des Bürgerkriegs zwischen beiden herrschte.128 Dieses wirkte sich auch auf seine Rolle als Widmungsträger aus: Während er in De oratore und De re publica noch als solcher genannt wurde, wird er in den 40ern von Brutus abgelöst. Insgesamt betrachtet kann ihr Verhältnis dennoch als überwiegend gut und für beide von Nutzen betrachtet werden.129 Ohne Zweifel spielten die Karriere und der Ruhm des größeren Bruders, dem er als Unterstützer zur Seite stehen musste, für Quintus einen bestimmende Rolle, gleichzeitig erfuhr er selbst von ihm Rückhalt für die eigene Laufbahn. b)

Quintus in De finibus 5 als Freund der Tragödie

Sein Auftreten im fünften Buch erinnert nicht an den Streit der beiden Brüder, der erst zwei Jahre vor der Niederschrift geschlichtet wurde, es kann jedoch als Zeichen der Versöhnung von Seiten des Autors gewertet werden.130 Das dramatische Datum des Dialogs von De finibus 5 zeigt Quintus als jungen Mann in einer Zeit, in der das brüderliche Verhältnis noch in keinster Weise getrübt war. Trotz seines geringen Anteils am Gespräch, der sich wie bei Atticus auf nur zwei Wortbeiträge beschränkt, wird gleich zu Beginn ein Profil deutlich, welches der historischen Vorlage nachempfunden zu sein scheint, als er im Anschluss an Piso von sich aus das Wort ergreift und seine durch den Ort hervorgerufenen Assoziationen mitteilt:131 Est plane, Piso, ut dicis, […] nam me ipsum huc modo venientem convertebat ad sese Coloneus ille locus, cuius incola Sophocles ab oculos versabatur, quem scis quam admirer quamque eo delecter. me quidem ad altiorem memoriam Oedipodis

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mahnt auch Duchos, da aus der Stelle nicht hervorgeht, ob das Interesse philosophischer oder literarischer Natur sei: Ducos 1994d, S. 398. Cic. ad Q. fr. 1,1 = 1 Sh. B.,37 u. 39. Zum Zerwürfnis mit Quintus s.: Bringmann 2010, S. 211–213; Fuhrmann 2007, S. 201; Grimal 1988, S. 400f. Vgl. McDermott 1971, S. 717. Vgl. Strasburger 1990, S. 435; Wassmann 1996, S. 246f. Cic. fin. 5,3.

284

Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero huc venientis et illo mollissimo carmine quaenam essent ipsa haec loca requirentis species quaedam commovit, inaniter scilicet, sed commovit tamen. Es ist genau so, wie du sagst, Piso. Denn mich selbst zog, als ich gerade hierher kam, die Stätte von Kolonos an, und ihr Bewohner Sophokles stand mir vor Augen; du weißt ja, wie ich ihn bewundere und wieviel Freude er mir macht. Noch tiefer hat mich freilich in meiner Erinnerung das Bild des Ödipus berührt, wie er hierher kommt und sich in jenen Versen, die so rührend sind, nach eben dieser Stätte erkundigt; natürlich ist das Bild unwirklich, aber angerührt hat es mich doch.

Während Piso durch den Ort an Speusipp und Xenokrates erinnert wird, weckt der Hügel Kolonos, Sophokles’ Wohnstätte und Schauplatz seiner zweiten Ödipus-Tragödie, Quintus’ Erinnerungen an den attischen Tragiker.132 Die Dialogfigur, die selbst Tragödien verfasste, trägt damit aktiv zu der vom Autor gewünschten Sensibilisierung des Ortes bei, indem er als Einziger das Feld der Dichtung übernimmt, während Piso, Atticus und Marcus sich das der Philosophie teilen.133 Anschließend halten sich Quintus und Atticus aus der Behandlung des Themas heraus, die nur durch die zwei zentralen Personen Piso und Marcus vorgenommen wird, welche dabei die Erziehung des jungen Lucius im Sinn haben. Indem Piso kollektiv dazu aufruft, zur Erziehung des jüngsten Gesprächsteilnehmers beizutragen, lässt sich Quintus ebenfalls der Gruppe der Erzieher hinzurechnen, in der er als stummer Beisitzer fungiert und seine Zustimmung zu dem Unterfangen durch seinen stummen Konsens zum Ausdruck bringt. Allerdings bleibt für Quintus seine Charakterisierung als Mann der Dichtung entscheidend, wie auch das Ende zeigt. Während er bei der eigentlichen Behandlung des Themas Stillschweigen bewahrt, trägt er im Finale des Werkes eine persönliche Einschätzung vor:134 Mihi quidem, […] satis hoc confirmatum videtur, laetorque eam philosophiam, cuius antea supellectilem pluris aestimabam quam posssessiones reliquarum – ita mihi dives videbatur, ut ab ea petere possem, quicquid in studiis nostris concupissem –, hanc igitur laetor etiam acutiorem repertam quam ceteras, quod quidam ei deesse dicebant. Mir jedenfalls scheint dieser Grundsatz zur Genüge bestätigt, und ich freue mich, dass die Philosophie, deren Ausstattung ich schon früher höher schätzte als die Besitzungen der übrigen – so reich erschien sie mir, dass ich mir bei ihr alles holen konnte, was ich bei unseren Studien wünschte –, ich freue mich also, dass sie

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Vgl. Gigon/Straume-Zimmermann 2002, S. 538. Cic. fin. 5,2–4. Ebd., 5,96.

De finibus bonorum et malorum 5

285

sich sogar den übrigen an Scharfsinn überlegener zeigte, was manche ihr absprechen wollten.

Mehr noch als sein Bruder, der nur eine bedingte Zustimmung äußert, zeigt sich Quintus von der peripatetischen Doktrin überzeugt. Indem er deren Vielseitigkeit hervorhebt, wird die Klassifizierung dieser Philosophie als eine nicht nur für Staatsmänner, sondern auch für Musiker und Dichter nützliche rezipiert, die Piso im Vorfeld anstellte, um für seine Schule zu werben.135 Als Dichter bildet seine Figur einen Kontrast zu Lucius, der als angehender Politiker von Piso überzeugt werden soll. Diese Rezipientenrolle wird durch seine Freude (laetor) weiter verstärkt, die ihn als einen interessierten und für philosophische Themen aufgeschlossenen Hörer porträtiert. c)

Zusammenfassung

Die Rolle der Dialogfigur Quintus ist trotz ihrer geringen direkten Partizipation nicht nur rein passiver Natur. Quintus bildet mit Lucius und Atticus ein inneres Publikum für die philosophische Auseinandersetzung, die zwar in Athen, jedoch auf Lateinisch stattfindet. Durch seine positive Reaktion wird die philosophische Beschäftigung – vor allem die mit dem Peripatos – als Bereicherung dargestellt. Während die Figur einerseits als Bruder des Autors mit Atticus und Lucius zu dessen engstem Kreis gehört, steht er andererseits stellvertretend für einen bestimmten Typus der römischen Leserschaft, der sich bereits für griechische Tragödien interessiert, mit der Philosophie jedoch noch wenig zu tun hat. Als Kenner attischer Tragödien korrespondiert die Figur besonders deutlich mit ihrer Vorlage, zudem harmoniert dieser Aspekt mit der untersuchten Philosophie des Peripatos. Dadurch, dass Quintus aufgeschlossen dem Gespräch zwischen Piso und Marcus beiwohnt, trägt seine Anwesenheit bei der disputatio mit Blick auf die Gestaltung des Personengefüges entscheidend dazu bei, dieses als idealen sozialen Raum zu kennzeichnen, in dem eine solche überhaupt erst vorgenommen werden kann.

1.4

T. Pomponius Atticus

a)

Historische Persönlichkeit

Mit Atticus136 lässt Cicero bekanntermaßen seinen vertrautesten Freund zu Wort kommen; darüber hinaus handelt es sich bei ihm um eine der Dialogfiguren, für 135 136

Cic. fin. 5,7; vgl. Gigon/Straume-Zimmermann 2002, S. 564. Titus Pomponius Atticus erscheint in insgesamt vier Werken Ciceros als Dialogfigur, so dass er in der Zahl seiner Auftritte nur vom Autor selbst übertroffen wird. Wie Quintus betritt er in De legibus erstmals das dialogische Universum, später erscheint

286

Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero

die vergleichsweise viele Quellen vorliegen.137 Seine Geburt wird um das Jahr 110 geschätzt, sein Tod erfolgte im Jahr 32 infolge einer Krankheit, so dass er seinen vier Jahre jüngeren Freund um mehr als ein Jahrzehnt überlebte.138 Wie Cicero stammte er aus einer aufstrebenden Familie des Ritterstandes. Ein nicht unwichtiges Detail stellt dar, dass Atticus über seine Cousine Anicia mit dem Volkstribun Sulpicius Rufus, der in De oratore als junger Gesprächspartner von Crassus und Antonius in Erscheinung tritt, verwandt war.139 Es verwundert daher nicht, dass er als junger Erwachsener früh Zeuge der politischen Auseinandersetzungen zwischen Marius und Sulla wurde. Er bemühte sich, ein aktives Engagement für eine der beiden Konfliktparteien zu vermeiden, weshalb er Nepos zufolge bereits mit 25 Jahren nach Athen geflüchtet sei.140 Dass er kurz darauf eine gemeinsame Rückkehr mit Sulla nach Rom verweigerte, kann als Indiz für Atticus’ Fähigkeit gewertet werden, „notwendige Entscheidungen zum richtigen Zeitpunkt zu fällen und durch ein perfekt vorgetragenes Wechselspiel von Nähe und Abstand zu den politischen Handelnden seine eigenen Handlungsspielräume voll auszuschöpfen“141. Immer wieder hält sich Atticus für längere Zeit in Griechenland auf, welches das Zentrum seiner wirtschaftlichen Unternehmungen bildete und wo er sich gegenüber der Bevölkerung anscheinend verdient gemacht hat.142 Dort erhielt er spätestens ab 67 immer wieder Briefe von Cicero, in denen sein Freund ihn um Unterstützung bei seiner politischen Karriere ersuchte, die er jedoch nicht immer gewährte.143 Erst 65 kehrte er auf dessen Bitten nach Rom zurück und leistete ihm im folgenden Jahr, obwohl er selbst kein Amt bekleidete und ihm somit der Aufstieg in den senatorischen Stand verwehrt blieb, Beistand bei der Bewerbung um das Konsulat.144 Während Ciceros Konsulat unterstützte Atticus ihn aktiv bei der Niederschlagung der catilinarischen Verschwörung, indem er sich im Dezember 63 als Anführer des Ritterstandes gegen Catilina positionierte.145 Aufgrund seiner Aufenthalte in Griechenland und der Tatsache, dass er auch später keine Ämter ausübte, kam es in der Forschung zu sehr unterschiedlichen Beurteilungen seines Verhältnisses zur Politik, wobei ihm einhellig

137

138 139 140 141 142 143 144 145

er nochmals im Brutus und der überarbeiteten Version der Academici libri. Aufgrund der hier gewählten Chronologie erfolgt bereits an dieser Stelle ein biographischer Überblick über die historische Persönlichkeit, der eine Untersuchung der Figur hinsichtlich ihrer Rolle in den Dialogen erleichtern soll. Umfangreiche Forschungsüberblicke, die ausführlich auf die Probleme der Forschung Bezug nehmen, liefern: Perlwitz 1992, S. 11–17; Dortmund 2001, S. 1–44. Zu dem umstrittenen Geburtsdatum s. Feger 1956, Sp. 503. Nep. Att. 2,1f.; vgl. Powell 1990b, S. 447. Nep. Att. 2,2f.; vgl. Perlwitz 1992, S. 87. So ebd., S. 88. S. hierzu ausführlicher: Feger 1956, Sp. 505–507. Vgl. Perlwitz 1992, S. 88f., Anm. 11 u. 12. Cic. Att. 1,2 = 11 Sh. B.,2; vgl. Kierdorf 2001, Sp. 119. Cic. Att. 2,1 = 21 Sh. B.,7; vgl. Feger 1956, Sp. 507f.; Kierdorf 2001, Sp. 119.

De finibus bonorum et malorum 5

287

eine politische Unterstützertätigkeit für seinen Freund Cicero zugesprochen wird.146 Die Hilfe war jedoch kein Selbstläufer, und oft genug schien Atticus sie zugunsten politischer Unabhängigkeit auszuschlagen.147 Von besonderem Wert war die Freundschaft für Cicero vor allem in den Jahren seiner Verbannung und in Zeiten finanzieller Schwierigkeiten, in denen Atticus seinem Freund stets beistand.148 Dennoch blieb er auch in der Folgezeit der Linie treu, sich bei sich anbahnenden größeren politischen Auseinandersetzungen nicht zwingend auf eine Seite festzulegen. Als er im Vorfeld des Bürgerkriegs zwischen Pompeius und Caesar trotz seiner Sympathie für die optimatischen Kreise149 auf ein Engagement gegen Letzteren verzichtete, wurde ihm dies vor allem von Seiten der Pompejaner zum Vorwurf gemacht.150 Nach dem Attentat auf Caesar im Jahre 44 setzte er erneut auf Distanz zu den politischen Hauptakteuren, indem er Brutus’ Aufforderung zu einer freiwilligen Spende ablehnte und somit eine Vereinnahmung durch die Caesarmörder verhinderte.151 Durch seinen Instinkt überlebte er 146

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Hierzu grundlegend mit einer Übersicht der bis dahin geäußerten Forschungspositionen: Perlwitz 1992, S. 86. Für das Herausstellen von Atticus’ politischem Charakter hat sich die Dissertation Zieglers ein großes Verdienst erworben, die jedoch den überzogenen Vorwurf an ihn erhebt, er hätte aus finanziellem Interesse später an der Republik Verrat begangen: Ziegler 1936, S. 107; zur Problematik Zieglers s.: Perlwitz 1992, S. 11, 14f. u. 86. Während die ältere Forschung Atticus’ politische Aktivität in Abhängigkeit zu Cicero verordnete, ging Perlwitz erstmals dazu über, ein eigenständiges politisches Handeln herauszustellen, um „die Grundlagen seiner politischen Stellung“ zu beschreiben, „die es Atticus erst ermöglichten, für Cicero und andere seiner Freunde in die politische Bresche zu springen“: Perlwitz 1992, S. 86–90. Ein gut belegtes Beispiel für sein Streben nach politischer Distanz, das auch auf ein gutes persönliches Verhältnis zwischen ihm und Quintus Cicero hinweist, stellt seine Ablehnung einer Legatenstelle in der damals von Quintus verwalteten Provinz Asia dar. Nach Perlwitz ist der Vorgang auch deswegen bemerkenswert, da Atticus die Stelle gut für seine geschäftlichen Interessen hätte verwenden können, was darauf hinweise, dass seine politische Linie nicht nur von wirtschaftlichen Interessen geleitet gewesen sei. S. Perlwitz 1992, S. 89. Vgl. Feger 1956, 509. Nep. Att. 6,1: In re publica ita est versatus, ut semper optimarum partium et esset et existimaretur, neque tamen se civilibus fluctibus committeret, quod non magis eos in sua potestate existimabat esse, qui se his dedissent, quam qui maritimis iactarentur. – „In der Politik verhielt er sich so, dass er immer auf der Seite der Optimaten stand und dazu gezählt wurde; er stürzte sich dennoch nicht in die Fluten des politischen Lebens, weil er meinte, dass sich diejenigen, die sich hineinbegeben hätten, nicht besser in der Gewalt hätten als die, die auf hoher See herumgeschleudert würden.“ Kierdorf schließt aus der Stelle auf eine „prinzipiell konservative Gesinnung“: Kierdorf 2001, Sp. 119. Der lateinische Text zu Nepos folgt der Ausgabe von Marshall, die Übersetzung stammt von Krafft. Cic. Att. 9,10 = 177 Sh. B.,2; 9,11 = 178 Sh. B.,3; vgl. Perlwitz 1992, S. 88. Nep. Att. 8,3f.; In dieser vermeintlich passiven Linie vermutet Perlwitz weniger eine „naturgegebene Abneigung“ gegenüber politischem Engagement aufgrund seiner Her-

288

Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero

im Gegensatz zu Marcus und vielen anderen auch die Proskriptionen unter Antonius und Octavius. Dass Cicero mit der Dialogfigur Atticus seinem vertrautesten Freund ein Denkmal setzt, dürfte keine Übertreibung darstellen, trotz der gelegentlichen Spannungen und Differenzen zwischen beiden. Die Neutralität, die dieser in den Bürgerkriegen eingenommen hatte, brachte den Vorteil mit sich, dass seine Personalie, anders als die des Cato Uticensis, jeglichen provokanten Charakters entbehrte. 152 Während wir bei den Beschreibungen geistiger Interessen vieler anderer Dialogfiguren fast ausnahmslos auf Ciceros Angaben angewiesen sind, besteht an der Historizität von Atticus’ hoher Bildung kein Zweifel. Nicht aus Profitstreben, nimmt der mit den wichtigsten Autoren seiner Zeit in Kontakt stehende Römer eine Verlegertätigkeit auf und pflegt einen regen geistigen Austausch, sondern aufgrund eines tiefen Interesses an Literatur.153 Er tritt selbst als Autor mehrerer nicht erhaltener Werke in Erscheinung und widmete bereits im Jahr 60 Cicero, der ihn später selbst zum Widmungsträger zweier Philosophica machte (Cato maior und Laelius), ein auf griechisch verfasstes Buch über sein Konsulat.154 Als sein wichtigstes Werk gilt der nicht erhaltene Liber annalis, ein chronologisch aufgebautes Geschichtswerk, das die Geschichte von der Stadtgründung bis zum Jahr 50 beinhaltete. Cicero erhielt dieses im Jahr 47 und bediente sich seines Inhalts in den kommenden Werken.155 Der reale literarische Austausch prägt, wie in der Untersuchung zu De legibus und Brutus zu zeigen sein wird, das Profil der Dialogfigur. Neben seiner politischen Passivität stellt vor allem sein Bezug zu Epikur ein weiteres Merkmal seiner historischen Persönlichkeit dar.156 Diesbezüglich muss zunächst festgestellt werden, dass die wichtigste Quelle neben Cicero, die Biographie des Nepos, nichts über eine Zugehörigkeit des Atticus zur Schule Epikurs zu berichten weiß.157 Da alle Anspielungen, die nicht den Dialogen selbst zu entnehmen sind, aus den von Cicero an Atticus geschriebenen Briefen stammen, ist in dieser Frage grundsätzliche Vorsicht geboten. Als gesichert kann jedoch

152

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157

kunft aus dem Ritterstand als vielmehr ein „Streben nach einer neutralen Stellung zwischen den Parteien“: Perlwitz 1992, S. 89f. Feger vermutet, dass er aufgrund seiner Freundschaft zu Cicero und Brutus kurzzeitig auf den Proskriptionslisten des Antonius erschien, der ihn jedoch nach Überlieferung des Nepos verschonte: Feger 1956, S. 514f. Zur Verlegertätigkeit des Atticus sei verwiesen auf: Dortmund 2001; ferner Sommer 1926; Perlwitz 1992. Cic. Att. 2,1 = 21 Sh. B.,1; Nep. Att. 18; vgl. Kierdorf 2001, Sp. 120. Nep. Att. 18; Cic. Brut. 13–15; orat. 120; vgl. Kierdorf 2001, Sp. 120; zum Inhalt und Aufbau des Liber annalis: Beck/Walter 2004, S. 359–361. Eine ausführliche Beschreibung der Forschungspositionen liefert dabei: Perlwitz 1992, S. 90f. Vgl. Perlwitz 1992, S. 92.

De finibus bonorum et malorum 5

289

gelten, dass Atticus mit den Epikureern Xenon und Phaidros 158 einen freundschaftlichen Umgang pflegte und sich in Rom für deren Angelegenheiten – etwa sein Eintreten gegen das Vorhaben des Memmius, auf dem Gelände des Kepos in Athen Baumaßnahmen zu ergreifen159 – einsetzte.160 Zurecht macht Perlwitz auf eine „ambivalente Haltung des Atticus“ aufmerksam, welche „seine abschließende Zuordnung zum Epikureismus als bedenklich“ erscheinen lasse, und hebt seine „intellektuelle Flexibilität und weltoffene Geisteshaltung“ hervor.161 Insgesamt betrachtet, besteht heute zwar kein Zweifel mehr daran, dass Atticus der Lehre einerseits nahe stand, sich aber andererseits ihren radikaleren Forderungen immer wieder entzog und Nützlichkeitsabwägungen einen Vorrang zugestand.162 Über die Persönlichkeit selbst und sein Verhältnis zu ihm äußert sich Cicero in einem Brief an C. Memmius zur Jahrsmitte 51 wie folgt:163 Sed ne plura (dicendum enim aliquando est), Pomponium Atticum sic amo ut alterum fratrem. nihil est illo mihi nec carius nec iucundius. is (non quo sit ex istis; est enim omni liberali doctrina politissimus, sed valde Patronem, valde Phaedrum amavit) sic a me hoc contendit, homo minime ambitiosus, minime in rogando molestus, ut nihil umquam magis, nec dubitat, quin ego a te nutu hoc consequi possem, etiam si aedificaturus esses. Aber um es kurz zu machen – gesagt werden muss es ja doch einmal –: Pomponius Atticus liebe ich wie einen zweiten Bruder; er ist das Liebste und Erfreulichste, was ich habe. Er – nicht als ob er zu dieser Gesellschaft gehörte; er ist für jede edle Wissenschaft interessiert; aber er schätzt Patron sehr, hat auch Phaidros sehr lieb gehabt – er, ein Mann, der niemandem um den Bart geht, niemanden mit seinen Bitten belästigt, verlangt dies so dringend von mir, wie bisher nie etwas, und ist fest überzeugt, dass ich es durch einen Wink bei dir erreichen könnte; selbst wenn Du bauen wolltest; […].

Die hier vorgenommene Beschreibung als Mann der Wissenschaft, als Hörer des Epikureers Phaidros, als unaufdringlicher und gutmütiger Zeitgenosse sowie als enger Freund Ciceros ist für das Auftreten des Atticus, wie zu zeigen sein wird, in allen Dialogen, in denen er eine Sprecherrolle einnimmt, bestimmend.

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Cic. Att. 5,10 = 103 Sh. B.,5: Xenonem tuum; Cic. fam. 13,1 = 63 Sh. B.,5: valde Phaedrum amavit. In einem Brief aus dem Juli 51 unterstützt Cicero Atticus, indem er selbst einen Brief an Memmius wegen dieser Angelegenheit schreibt: Cic. fam. 13,1 = 63 Sh. B. Einen Überblick über den Inhalt der wichtigsten Briefquellen liefert: Perlwitz 1992, S. 92f. Ebd., S. 93. Vgl. ebd., S. 91. Cic. fam. 13,1 = 63 Sh. B.,5.

290 b)

Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero

Atticus als Wahlathener und liberaler Epikureer

Nachdem Piso sich als Philosoph und Quintus sich als Tragödienfreund zu erkennen gegeben haben, äußert auch Atticus vom genius loci bewegt seine Gedanken, wodurch sein intellektuelles Profil sichtbar wird:164 At ego, quem vos ut deditum Epicuro insectari soletis, sum multum equidem cum Phaedro, quem unice diligo, ut scitis, in Epicuri hortis, quos modo praeteribamus, sed veteris proverbii admonitu vivorum memini, nec tamen Epicuri licet oblivisci, si cupiam, cuius imaginem non modo in tabulis nostri familiares, sed etiam in poculis et in anulis habent. Was aber mich betrifft, dem ihr gewöhnlich als einem Vertreter Epikurs zusetzt, so halte ich mich oft mit Phaidros, den ich, wie ihr wisst, besonders schätze, in den Gärten Epikurs auf, an denen wir gerade vorüberkamen; der Mahnung eines alten Sprichworts folgend, denke ich dabei zwar an die Lebenden, aber ich könnte, wenn ich es auch wollte, trotzdem nicht Epikur vergessen, dessen Bildnis unsere Freunde nicht nur auf Gemälden, sondern auch auf Bechern und Ringen festhalten.

Die Figur des Atticus wird klar als Epikureer vorgestellt, der – zumindest zum Zeitpunkt des Dialoges – einen regen Umgang mit dem Lehrer Phaidros hatte. Seine Verbundenheit mit dem Ort Athen korrespondiert mit der historischen Vorlage der Dialogfigur, die im Vergleich zu seinen Gesprächspartnern dort am meisten Zeit verbrachte und sich später auch für die Belange von Phaidros’ Nachfolger Patron einsetzte, wie der oben zitierte Brief an Memmius belegt. Die Verbindung zwischen Dialogfigur und Ort wird daraufhin vom Alter Ego des Autors selbst nochmal hervorgehoben, der die Scherzhaftigkeit von Atticus’ Aussage (Pomponius […] iocari videtur) mit dem Hinweis auf dessen athenischen Wohnsitz (se Athenis collocavit) und sein Ansehen als Beinaheattiker (paene unus ex Atticis) entlarvt, was auch das Cognomen nahelege.165 Trotz des geringen Anteils am Gespräch lässt sich an seiner Figur eine bestimmte Eigenart feststellen, die in allen Dialogen, in denen er auftritt, wiederkehren wird: So offenbart seine Aussage einen gewissen Grad an Freizügigkeit und Ironie gegenüber jener von Cicero als dogmatisch kritisierten Philosophenschule, indem er selbst über die übertriebene Verehrung des Schulgründers – die bis zur Darstellung seines Konterfeis auf Bechern und Ringen reiche – scherzt. Dieses lockere Verhältnis zur eigenen Schule kommt erneut am Ende des Dialogs zum Vorschein: Nachdem Marcus und Quintus ihre Urteile über Pisos Vortrag gefällt

164 165

Cic. fin. 5,3. Ebd., 5,4.

De finibus bonorum et malorum 5

291

haben, zieht Atticus nach, indem er Quintus’ Einschätzung, wonach die peripatetische Philosophie die scharfsinnigste sei, aufgreift:166 Non quam nostram quidem, inquit Pomponius iocans; sed mehercule pergrata mihi oratio tua. quae enim dici Latine posse non arbitrabar, ea dicta sunt a te verbis aptis nec minus plane quam dicuntur a Graecis. „Freilich nicht scharfsinniger als die unsrige“, sagte Pomponius im Scherz; „doch deine Rede war mir wirklich willkommen; denn Dinge, von denen ich annahm, dass man sie nicht auf Lateinisch ausdrücken könne, hast du in Worten ausgedrückt, die angemessen und nicht weniger klar sind als die Darstellung der Griechen.“

Dass Atticus scherzhaft (iocans) die Philosophie Epikurs mit der des Peripatos gleichstellt, wird von Perlwitz zurecht als Indiz dafür gedeutet, dass Atticus als „undogmatischer Epikureer“ gelten müsse, den „Cicero […] nicht ernstlich für einen ihrer Vertreter hielt“.167 Dass er gleichzeitig Lob für die Rede, die ihm überaus „willkommen“ (pergrata) war, äußert, bestätigt seinen weltoffenen Charakter, der sich nicht von einer einzigen Lehrmeinung vereinnahmen lässt, und weist die humanitas und urbanitas der Person aus. Während Quintus’ Lob auf die Nützlichkeit der Philosophie verwies, preist Atticus ihre Darstellung als solche, die nicht mehr auf Griechisch, sondern in lateinischer Sprache stattfand. Dabei geht es dem Autor wohl nicht um eine Form des Selbstlobs, das er sich mittels einer Dialogfigur selbst zukommen lassen möchte, vielmehr möchte er aufzeigen, dass ein philosophischer Diskurs auf Latein nicht nur möglich ist, sondern auch hohen ästhetischen Ansprüchen genügen kann. Für dieses Urteil kommt der Figur des Atticus eine besondere Autorität zu, da sie nicht als griechenfeindlicher Römer spricht, sondern als aufgeschlossener Philhellenist, der sich aktiv für Philosophie interessiert und in Athen wohnt. c)

Zusammenfassung

Wie im Fall des Quintus können wir zusammenfassend attestieren, dass die Figur des Atticus mit Blick auf die philosophische disputatio selbst in den Rollen des stillen Beisitzers und Beobachters austauschbar wäre, nicht jedoch mit Blick auf die Gestaltung des Dialogs als Gesamtkunstwerk, in dem Philosophie nicht bloß dargestellt werden, sondern auch ein Gewand bekommen soll, das sie für die römische Leserschaft attraktiv machen soll. Sein Epikureismus erscheint dabei nie in einem werbenden Kontext als ein alternatives Modell zur Ethik des Peripatos, vielmehr hat er zusammen mit seinem Philhellenismus eine bereichernde Funktion für das gesamte Personengefüge. Anders als in späteren Werken fällt 166 167

Cic. fin. 5,96. Perlwitz 1992, S. 93.

292

Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero

Atticus und Quintus somit eine vor allem schmückende Rolle zu. Im Hinblick auf den Epikureismus ist Atticus’ Auftreten dabei von einer liebenswürdigen liberalitas geprägt, die für die Dialogfigur auch in den folgenden Dialogen zu beobachten sein wird und damit als topisch bezeichnet werden kann.

1.5

L. Tullius Cicero

a)

Historische Persönlichkeit

Neben Piso setzt der Dialog auch dem Vetter des Autors, Lucius Tullius Cicero, der bei der Entstehung des Werkes schon seit 23 Jahren verstorben war, ein Denkmal. 168 Über seine Biographie lassen sich nur wenige Aussagen treffen. Geht man mit Münzer davon aus, dass Lucius zum Zeitpunkt des Gesprächs 1820 Jahre alt war, lässt sich sein Geburtsjahr zwischen 99 und 97 vermuten.169 Die zeitliche Differenz zwischen ihm und dem um 102 geborenen Quintus würde damit nur wenige Jahre betragen. Sein Aufenthalt in Athen im Jahr 79 ist ohne Zweifel im Zusammenhang mit seiner Ausbildung zum Redner und Anwalt zu sehen, welche durch philosophische Vorlesungen bereichert worden sein könnte. Für das Jahr 70 ist belegt, dass er mit seinem Vetter in Sizilien war und diesen bei den Untersuchungen für das Verresverfahren unterstützte.170 Auf seinen frühen Tod im Jahr 68 nimmt der älteste der erhaltenen Atticusbriefe Bezug, der im selben Jahr verfasst wurde:171 Quantum dolorem acceperim et quanto fructu sim privatus et forensi et domestico Luci, fratris nostri, morte in primis pro nostra consuetudine tu existimare potes. nam mihi omnia quae iucunda ex humanitate alterius et moribus homini accidere possunt ex illo accidebant. qua re non dubito quin tibi quoque id molestum sit, cum et meo dolore moveare et ipse omni virtute officioque ornatissimum tuique et sua sponte et meo sermone amantem adfinem amicumque amiseris. Wie schwer ich getroffen bin durch den Tod meines Vetters Lucius, welchen Verlust in meinem öffentlichen und privaten Dasein er für mich bedeutet, vermagst bei unserer engen Freundschaft vor allem Du nachzuempfinden. Was einem Menschen durch eines anderen freundliches Wesen an Annehmlichkeiten zuteil werden kann, hat er mir zuteil werden lassen. So ist gewiss auch Dir sein Tod schmerzlich; denn mein Schmerz trifft auch Dich, und auch Du hast in ihm einen Angehörigen und Freund verloren, den gefälliges Wesen und Charakter in jeder Beziehung zierten, und der Dir an und für sich und durch das, was ich ihm von Dir erzählte, herzlich ergeben war. 168 169 170 171

Vgl. Münzer 1939a, Sp. 823. Vgl. ebd. Cic. Verr. 3,170; 4,25, 137f., 145; vgl. Münzer 1939a, Sp. 823. Cic. Att. 1,5 = 1 Sh. B.,1.

De finibus bonorum et malorum 5

293

Der Grad der Vertrautheit und persönlichen Bindung Ciceros zu Lucius wird nicht zuletzt durch die engere Bezeichnung frater angedeutet. Auch zu Beginn von De finibus 5 gibt der Autor seine Zuneigung dadurch zu erkennen, indem er dem Dialog vorausschickt, ihn eher wie einen Bruder als nur wie einen Vetter geliebt zu haben (frater noster cognatione patruelis, amore germanus).172 Wie aus dem Brief hervorgeht, stand Lucius auch mit Atticus in einem freundschaftlichen Verhältnis, der mit ihm einen „Angehörigen und Freund“ (adfinem amicumque) verloren habe. Im Nachruf wird dabei sein „freundliches Wesen“ (iucunda […] humanitate) und sein sittlicher Charakter (omni virtute officioque) hervorgehoben. Sein Bildungsaufenthalt und seine unterstützende Tätigkeit sprechen dafür, dass er wie sein Vetter Marcus eine Anwaltslaufbahn anstrebte. Möglicherweise stand er kurz vor dem Einstieg in die Ämterlaufbahn, ehe er nur zwei Jahre, nachdem er seinen Vetter nach Sizilien begleitet hatte, an einer Krankheit verschied. b)

Lucius als adulescens und angehender Redner

Dass Cicero mit seinem frühen Tod nicht nur den Verlust eines geliebten Verwandten, sondern auch den eines Redners verband, wird dadurch deutlich, dass gleich zu Beginn die Rhetorik als Lucius’ Fachgebiet durch Piso herausgestellt wird:173 Quoniam igitur aliquid omnes, quid Lucius noster? […] an eum locum libenter invisit, ubi Demosthenes et Aeschines inter se decertare soliti sunt? suo enim quisque studio maxime ducitur. Et ille, cum erubuisset: Noli, inquit ex me quaerere, qui in Phalericum etiam descenderim, quo in loco ad fluctum aiunt declamare solitum Demosthenem, ut fremitum assuesceret voce vincere. modo etiam paulum ad dexteram de via declinavi, ut ad Pericli sepulcrum accederem. quamquam id quidem infinitum est in hac urbe; quacumque enim ingredimur, in aliqua historia vestigium ponimus. „Wie steht es denn, da alle etwas beigetragen haben, mit unserem Lucius? Hat er wohl mit Vergnügen den Ort besucht, an dem Demosthenes und Aischines gewöhnlich miteinander stritten? Ein jeder lässt sich ja am ehesten von seiner Neigung leiten.“ „Fragt mich nicht!“, erwiderte der Angeredete errötend. „Ich bin sogar nach Phaleron herabgestiegen zu der Stelle, wo gewöhnlich Demosthenes angeblich gegen die Brandung deklamierte, damit er sich daran gewöhnte, das Getöse durch seine Stimme zu übertönen. Gerade bin ich auch ein wenig nach rechts vom Weg abgewichen, um zum Grab des Perikles zu kommen.“

Der Ausschnitt zeigt den bereits aus De oratore bekannten Umgang mit dem Alter der Dialogfiguren: Lucius wird als jüngstes Mitglied der Gruppe von der 172 173

Cic. fin. 5,1. Ebd., 5,5.

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Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero

ältesten Dialogfigur gezielt in den Personenkreis involviert, die dabei betont, niemand übergehen zu wollen. Seine Vorliebe für die attischen Redner scheint zumindest Piso schon bekannt zu sein, der vor seiner Antwort auf die Rededuelle zwischen Demosthenes und Aischines verweist. Bereits bei seiner ersten Wortmeldung, die – wie es der Umgangston des Dialogs gebietet – nicht unaufgefordert erfolgt, zeigt Lucius die für sein Alter vorbildliche schamhafte Zurückhaltung, indem er errötet (erubuisset).174 Die Rolle des jungen Römers, der sich in Athen um die Verbesserung seiner Redekunst bemüht, scheint der historischen Figur nachempfunden zu sein, umso mehr, da das Aufsuchen griechischer Rhetoriklehrer zur Zeit des dramatischen Datums keine Außergewöhnlichkeit mehr darstellte.175 c)

Lucius als Schüler der Philosophie

Wenig überraschend bekommt er von Piso und Cicero gleichermaßen Zuspruch für seine rhetorischen Studien, die ihn dabei auch zur imitatio auffordern. 176 Neben dieser empfiehlt Piso, der in seiner Rolle als Lehrer stellvertretend für alle anderen Gesprächspartner spricht, das Einbeziehen eines weiteren Faches:177 Tum ille amicissime, ut solebat: Nos vero, inquit, omnes omnia ad huius adolescentiam conferamus, in primisque ut aliud suorum studiorum philosophiae quoque impertiat, vel ut te imitetur, quem amat, vel ut illud ipsum, quod studet, facere possit ornatius. Sed utrum hortandus es nobis? mihi quidem Antiochum, quem audis, satis belle videris attendere. „Was uns betrifft“, erwiderte der darauf mit gewohnter Liebenswürdigkeit, „so wollen wir uns alle dieses jungen Mannes annehmen, in erster Linie, damit er sich bei seinen Studien auch mit der Philosophie beschäftigt, sei es um dich nachzuahmen, den er liebt, sei es um das, worum es ihm an sich geht, wirkungsvoller tun zu können. Doch müssen wir dich dazu überhaupt ermahnen, Lucius“, fragte er, „oder bist du auch schon aus eigenem Antrieb dazu geneigt? Mir scheint es jedenfalls, dass dich Antiochos, den du ja hörst, lebhaft genug interessiert.“

Das Studium der Philosophie wird einerseits mit der imitatio Marcus Ciceros (ut te imitetur), der dabei bereits als römischer Philosoph durchschimmert, andererseits als nützliches Zusatzfach für seine rhetorischen Studien (ut illud ipsum, quod studet, facere possit ornatius) beworben. Aufgrund seiner Jugend (huius 174 175

176 177

Vgl. Becker 1938, S. 17. Dass diese Praxis deutlich verbreiteter war als die Lehre bei Philosophen, geht auch aus der rein quantitativen Nennung der jeweiligen griechischen Gelehrten in den Quellen hervor. Vgl. Jocelyn 1977, S. 337. Cic. fin. 5,6. Ebd.

De finibus bonorum et malorum 5

295

adolescentiam) gerät er in den Fokus der Gruppe, und es wird erneut die didaktische Konzeption des Gesamtgefüges deutlich, welche zur Folge hat, dass die älteren Gesprächspartner sich ihm auf erzieherische Weise zuwenden müssen. Darüber hinaus wandelt sich jedoch in diesem Moment seine Rolle durch die Schwerpunktverlegung des Gesprächs von der des Rhetorikschülers zu der eines Schülers der Philosophie. Dass bereits vor dem Gespräch ein Interesse an dem Fach existiert, wird durch Pisos Feststellung deutlich, dass er bereits Hörer des Antiochos sei (Antiochum, quem audis). Auf diese erwidert Lucius:178 Tum ille timide vel potius verecunde: Facio, inquit, equidem, sed audistine modo de Carneade? rapior illuc, revocat autem Antiochus, nec est praeterea, quem audiamus. Der meinte darauf zaghaft oder eher schüchtern: „So ist es zwar; doch hast du eben die Bemerkung über Karneades gehört? Er zieht mich dorthin; doch Antiochos ruft mich zurück, und sonst gibt es niemanden, den wir hören können.“

Die Dialogfigur steht hier ihrer Aussage zufolge offensichtlich zwischen Marcus, auf dessen karneadische Impression er verweist, und Piso als Vertreter des Antiochos, der seinem Onkel den jungen Zuhörer abspenstig machen möchte (quem discipulum cupio a te abducere).179 Seine Lage zwischen diesen beiden Polen spiegelt die Situation des Lesers wider, wie wir es in ähnlicher Weise bereits in früheren Dialogen bei Vertretern der Jugend beobachten konnten. Dieser Eindruck wird bestätigt, indem Piso sich sogleich darum bemüht, ihm diese philosophische Ausrichtung schmackhaft zu machen als diejenige, aus deren Tradition Redner, Feldherren und führende Staatsmänner hervorgegangen seien (ab his oratores, ab his imperatores ac rem publicarum principes extiterunt).180 Marcus präsentiert sich ihm als unterstützender Vormund, der sein Interesse an der Auffassung der alten Akademie und der Peripatetiker erneut bezeugt (studet […] audire […] quaenam sit istius veteris […] Academiae de finibus bonorum Peripateticorumque sententia), um Pisos Position als Referent gleich im Vorfeld zu rechtfertigen.181 Die zentrale Position des Lucius in der Funktion des Schülers zeigt sich auch darin, dass er während der philosophischen Erörterung ein ständiger Bezugspunkt der beiden Hauptredner bleibt.182 Obwohl der reale Altersunterschied nicht sonderlich hoch gewesen zu sein scheint, steht er stellvertretend für eine im Vergleich zu den anderen Gesprächspartnern jüngere Generation, was beispielsweise deutlich wird, wenn Piso vorgibt, seine Ausführungen der Generation des Lucius 178 179 180 181 182

Cic. fin. 5,6. Ebd., 5,75. Ebd., 5,7. Ebd., 5,8. Ebd., 5,5, 6, 15, 27, 54, 71, 75, 86, 95.

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Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero

zu schulden (servire debemus), der dies gerade zum ersten Mal höre (huius […] nunc haec primum fortasse audientis).183 Selbst aktiv wird er dabei nach dem Ende der ersten Rede, als Piso ihn explizit um seine Meinung bittet.184 Als er darauf erklärt, dass ihm der Vortrag einleuchtend erschien (mihi […] ista valde probata sunt), wendet sich der Vertreter des Peripatos Marcus zu, um seine Erlaubnis für ein weiteres Studium der von ihm vertretenen Philosophie zu erfragen.185 Diese wird ihm allerdings erst nach einer weiteren Prüfung am Ende des Dialogs in Aussicht gestellt.186 d)

Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich somit konstatieren, dass Lucius – trotz seines geringen Anteils am Gespräch – aufgrund seiner Jugend und der daraus resultierenden Schülerrolle eine zentrale Position im Personengefüge einnimmt. Das didaktische Gefüge, in dem die philosophische Erörterung von Anfang an im Kontext seiner individuellen Bildung stattfindet, spiegelt die Intention des Verfassers, der nicht müde wird, den praktischen Nutzen der Philosophie gegenüber seiner Leserschaft zu betonen. Der Dialog zeigt Ciceros Vetter als vorbildlichen jungen Mann, der Ambitionen und Interesse für das Fach zeigt, zugleich aber jene sittsame Zurückhaltung an den Tag legt, die man von der jungen Generation erwartete. Durch seine Person bleibt das aus rhetorischen Werken bekannte bildungstheoretische Denken in De finibus 5 präsent, wonach das Studium der Philosophie ihm helfen soll, sein eigentliches Ziel, sich möglichst gut auf eine Karriere als öffentlicher Redner vorzubereiten, zu erreichen. Aus dieser bildungsorientierten Sichtweise lassen sich auch die Assoziationen interpretieren, die auf die römischen Vorfahren sowie die Fächer Philosophie, Dichtung, Rhetorik und Geschichte hinwiesen. Die Rolle, die Lucius damit einnimmt, zeigt hierin eine deutliche Parallele zu der von Cotta und Sulpicius in De oratore, Marcus Cicero in De natura deorum oder auch der des Triarius in den ersten beiden Büchern von De finibus.

2

De natura deorum

Das an Brutus adressierte Werk De natura deorum ist das erste einer dreiteiligen Reihe zur Physik, welche durch De divinatione fortgesetzt und mit De fato abgeschlossen wird. Den einzigen Hinweis auf die Datierung stellt eine Erwähnung in De divinatione dar, so dass das Werk zwischen Ende 45 und Anfang 44, das

183 184 185 186

Cic. fin. 5,27. Ebd., 5,75. Ebd., 5,76. Ebd., 5,95.

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297

heißt in den letzten Monaten der Diktatur Caesars entstanden sein muss.187 Das dramatische Datum des Dialogs sind die Feriae Latinae zwischen 77 und 75, so dass es in den Zeitraum zwischen der Rückkehr Ciceros von seiner Griechenlandreise und dem Tod des Protagonisten C. Aurelius Cotta im Jahr 74 fällt.188 Indem die Person des Autors als κωφὸν πρόσωπον vorhanden ist, der Dialog jedoch gleichzeitig von historischen, zum Zeitpunkt der Niederschrift bereits verstorbenen Personen geführt wird, handelt es sich bei De natura deorum um eine interessante Zwischenform des Dialogs, die sich weder der aristotelischen noch der heraklidischen Dialogform eindeutig zuordnen lässt.189 Unklar ist, ob das Gespräch in einer früheren Version auf einen Zeitraum von mehreren Tagen ausgelegt war, der Autor es später auf einen verkürzte und dabei einige Stellen übersah, die von der früheren Konzeption ausgehen.190 Die Gesprächsrunde setzt sich aus vier Personen zusammen. C. Velleius vertritt im ersten Buch die Position des Kepos, Q. Lucilius Balbus im zweiten die der Stoa. Cotta trägt im ersten und dritten Buch als Vertreter der Neuen Akademie die entsprechenden Repliken vor und nimmt als Person mit dem höchsten Gesprächsanteil die Protagonistenrolle ein, während die Figur des jungen Cicero in der vorliegenden Fassung einen überwiegend passiven Part als Zuhörer übernimmt. 191 Als potentieller vierter Referent wird innerhalb des Dialogs der junge (adulescentem) M. Pupius Piso Frugi genannt, der die Lehre des Peripatos hätte vertreten können.192 Sein Fehlen wird innerhalb des Dialogs indirekt dadurch gerechtfertigt, dass sich die Lehren der Stoa und des Peripatos hinsichtlich der Götter nur terminologisch unterscheiden würden, wofür Antiochos von Askalon als Autorität genannt wird.193 Die Erwähnung des Referenten aus dem im selben Jahr entstandenen De finibus 5 spricht dafür, dass die beiden dialogischen Universen als Einheit angelegt sind.

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Cic. div. 2,1–3. Zur Datierung von De natura deorum s. auch: Bringmann 1971, S. 171, Anm. 1; ferner vgl. Schofield 1986, S. 48; Taran 1987, S. 2; Dyck 2003, S. 2. Zum dramatischen Datum s.: Pease 1979, S. 137; Süß 1965, S. 97 u. 305; Taran 1987, S. 3; Gigon/Straume-Zimmermann 1996, S. 584; Dyck 2003, S. 2; Steel 2013, S. 225. So unterscheidet sich der Dialog von der aristotelischen Form darin, dass der Figur des Autors keine tragende Rolle zukommt und von der heraklidischen darin, dass der Autor als Figur auftritt. Hierzu auch: Pease 1979, S. 24f.; Taran 1987, S. 3f.; zum heraklidischen und aristotelischen Dialog s. oben 38, Anm. 2. Cic. nat. deor. 2,73; 3,18. Der daraus resultierende Eindruck der Unfertigkeit stützt Überlegungen, nach denen das Werk möglicherweise nicht mehr zu Ciceros Lebzeiten veröffentlicht wurde, da dieser es mit De divinatione zusammen publizieren wollte. Am stärksten plädierten gegen eine Publikation zu Lebzeiten: Mayor 1883, S. xxv– xxvi; Levine 1957; für eine solche überzeugend: Bringmann 1971, S. 266–268; Taran 1987, S. 4–6; ferner: Gawlick/Görler 1994, S. 1043. Es scheint möglich, dass sich Cicero die Rolle ursprünglich selbst zugedacht hatte und sie dann an Cotta abtrat. Vgl. Gawlick/Görler 1994, S. 1043. Cic. nat. deor. 1,16. Ebd.

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2.1

C. Aurelius Cotta

a)

Cotta als Vertreter der Akademie

Die Person des C. Aurelius Cotta trat bereits in dem zehn Jahre zuvor erschienenen Dialog De oratore in der Funktion des jungen Nachwuchsredners auf, die er zusammen mit P. Sulpicius Rufus erfüllte. In dem früheren Werk, dessen dramatisches Datum auf den September 91 und damit kurz vor den Tod seines Gesprächsführers Crassus fällt 194 , fungierte er zudem als Gewährsmann für das Gespräch, eine Rolle, die in De natura deorum dem Autor selbst zukommt.195 Zur Zeit des dramatischen Datums des jüngeren Dialogs war die historische Persönlichkeit bereits im Rang eines Praetors und stand vor der Übernahme des Konsulats im Jahr 75.196 Betrachtet man beide Dialoge, so kann konstatiert werden, dass Cotta innerhalb des dialogischen Universums eine Entwicklung vom jungen Zuhörer zum Hauptredner durchläuft. Gleichzeitig entsteht eine genealogische Verbindungslinie zwischen den literarischen Werken und den jeweiligen Personenkreisen, in denen die Dialogfigur des Autors als junger Gast erscheint. Die Entwicklung, die sich der Cotta-Figur im Verlauf der beiden Werke attestieren lässt, betrifft nicht nur das Alter und die Sprecherrolle, sondern auch seine Neigung zur Philosophie: Während er in De oratore als junger Redner geschildert wird, der bereits ein erstes Interesse für die Philosophie der Akademie zeigt,197 ist sein Auftreten in De natura deorum primär durch die Rolle eines akademischen Philosophen bestimmt, der – nach Meinung der Cicero-Figur – einen führenden Rang unter den Vertretern dieser Philosophie einnimmt.198 Da zwischen den Veröffentlichungen von De natura deorum und De oratore ein ereignisreiches Jahrzehnt liegt und Cicero im früheren Werk vermutlich noch nicht an eine erneute Verwendung des Cotta als Dialogfigur gedacht hat, ist eine gewisse Affinität zur skeptischen Akademie auch für die historische Person des Cotta wahrscheinlich.199 Die „doppelte Methode […] sich zu allem positiv wie negativ zu äußern“ (vias rationesque et pro omnibus et contra omnia disputandi), spielt nicht nur für die Gesamtkonzeption von De natura deorum, sondern auch in den zeitnah erschienenen Werken Academica, De finibus bonorum et malorum und De divinatione eine ausschlaggebende Rolle. 200 Der literarische 194 195 196 197 198 199

200

Zur dramatischen Szenerie: Cic. de orat. 3,1–3. Cic. de orat. 1,26; vgl. Fantham 2004, S. 54; Gawlick/Görler, 1994, S. 1022. Zur Biographie s. oben III 1.2.1a. Cic. de orat. 3,145. Cic. nat. deor. 1,16. Vgl. Meyer 1970, S. 186f. Dafür, dass diese Affinität Cotta generell als Dialogfigur interessant gemacht hat, sprechen auch die Überlegungen Ciceros, ihn in den Academici libri erneut als Sprecher auftreten zu lassen: Cic. Att. 13,19 = 326 Sh. B.,3; vgl. Lefèvre 1988, S. 112; Hirzel 1895, S. 521. Vgl. Gawlick/Görler 1994, S. 1024.

De natura deorum

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Cotta vertritt dieses Prinzip, indem er – ohne ein eigenes Konzept vom Wesen der Götter vorzuschlagen – im ersten Buch201 gegen die Auffassungen Epikurs und im dritten Buch gegen die der Stoa spricht und versucht, deren Argumente zu widerlegen.202 Dass er selbst als Sprecher der akademischen Skepsis fungiert, wird gleich zu Beginn seines Vortrags gegen Velleius deutlich, indem er – nach einem einleitenden Lob auf den Vorredner – Simonides als Referenzperson erwähnt: Jener hatte sich, als er vom Tyrann Hieron nach dem Wesen der Götter befragt wurde, immer wieder Bedenkzeit für eine Antwort erbeten, um schließlich zu erklären, dass die Angelegenheit mit zunehmendem Nachdenken nur noch dunkler werde (quanto diutius considero […] tanto mihi res videtur obscurior).203 Die Berufung auf Simonides kennzeichnet Cotta von Beginn an als Skeptiker, der, wie Görler herausstellte, konsequent eine „Notwendigkeit der Abgrenzung des Beweisbaren von bloßer Spekulation“ betone.204 Die Situation des Simonides gleicht dabei der der Dialogfigur, die zwar die Untersuchung nach dem Wesen der Götter aktiv betreibt, sich dieser jedoch trotz ihres Scharfsinns nicht weiter nähern kann. Bereits vor dem Vortrag des Velleius erklärt sie, dass ihr die Frage nach dem Wesen der Götter stets schattenhaft erschien (quae cum mihi videretur perobscura, ut semper videri solet), 205 womit sie eben jene Haltung ausdrückt, die der Autor selbst im ersten Satz des Werkes gegenüber dem Adressaten Brutus formuliert (perobscura quaestio est de natura deorum).206 Von Anfang an erscheint sie damit in einer besonders engen Verbindung zum Autor, worauf in der Untersuchung der Cicero-Figur nochmals ausführlicher eingegangen werden muss. Der skeptische Ausgangspunkt als dubitans ist dabei für die Gesprächsinszenierung von konstitutiver Natur, da durch die Cotta-Figur, die sich der Möglichkeit des eigenen Irrens stets bewusst ist, eine vom Autor intendierte exemplarische Offenheit nach beiden Seiten hin zum Ausdruck gebracht wird. Diese äußert sich nicht nur in dem eigenen aporetischen Ausgangspunkt, sondern auch in seinem finalen Wunsch, der die Offenheit des philosophischen Diskurses hervorhebt:207 Ego vero et opto redargui me, Balbe, et ea quae disputavi disserere malui quam iudicare, et facile me a te vinci posse certe scio.

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Cic. nat. deor. 1,57–124. Ebd., 3,9–93. Ebd., 1,60. Görler 1974, S. 139. Cic. nat. deor. 1,17. Ebd., 1,1. Ebd., 3,95. Der lateinische Text aus De natura deorum stammt hier und im Folgenden aus der Ausgabe von Plasberg, die Übersetzung, wenn nicht anders vermerkt, von Blank-Sangmeister.

300

Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero Ich persönlich wünsche mir aber auch, dass du mich widerlegst, mein Balbus, und ich wollte die von mir vorgebrachten Punkte eher diskutieren als endgültig entscheiden; außerdem bin ich sicher, dass du meine Ausführungen ohne weiteres entkräften kannst.

Eben diese Offenheit, die vorgibt, sich eine Widerlegung sogar zu wünschen, steht in einem bewussten Kontrast zu den anderen, aktiv mitwirkenden Dialogfiguren und bildet eine Brücke zur Person des Autors, die am Ende seines Werkes keine dogmatische Lösung der quaestio anbieten möchte, wie es Velleius und Balbus tun, sondern eine Einladung an die Leser, den Diskurs fortzuführen. b)

Cotta als Skeptiker und princeps civis et pontifex

Die bereits zu Beginn des Dialogs offensichtliche Zugehörigkeit zur Akademie lässt jedoch die Frage nach der spezifischen Ausrichtung des Skeptizismus der Cotta-Figur offen. Es lässt sich von Anfang an eine besondere Spannung feststellen, die aus der Tatsache erwächst, dass die historische Vorlage als römischer pontifex wirkte und somit eine aktive Rolle im religiösen Leben Roms innehatte.208 Dieser Umstand wird innerhalb des Dialogs nicht verschwiegen, sondern an prägnanten Stellen sichtbar herausgestellt. So wird er etwa am Ende von Balbus’ Rede auf diese gesellschaftliche Stellung (teque et principem civem et pontificem) angesprochen, um ihn der von dem Stoiker empfundenen Widersprüchlichkeit zu überführen.209 Auf die mahnende Erinnerung an sein Pontifikat geht er noch vor Beginn seines eigenen Vortrags im dritten Buch ein:210 quod eo credo valebat, ut opiniones, quas a maioribus accepimus de dis immortalibus, sacra caerimonias religionesque defenderem. ego vero eas defendam semper semperque defendi, nec me e ea opinione, quam a maioribus accepi de cultu deorum immortalium, ullius umquam oratio aut docti aut indocti movebit. sed cum de religione agitur, Ti. Coruncanium P. Scipionem P. Scaevolam pontifices maximos, non Zenon aut Cleanthem aut Chrysippum sequor, habeoque C. Laelium augurem eundemque sapientem quem potius audiam dicentem de religione in illa oratione nobili quam quemquam principem Stoicorum. Das sollte, glaube ich, dazu führen, mich für die Vorstellungen, die wir von unseren Vorfahren über die unsterblichen Götter übernommen haben, die Opfer, die religiösen Zeremonien und Gebräuche einzusetzen. Ich aber werde sie immer verteidigen, und ich habe sie immer verteidigt, und von der Überzeugung, die ich von den Vorvätern über die Verehrung der unsterblichen Götter übernommen habe, wird mich keine Rede, weder die eines Gebildeten noch die eines Ungebildeten, 208 209

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Zum Ursprung und den Aufgabenbereichen des pontifex s. Latte 1960, S. 195–212. Cic. nat. deor. 2,168; zur Charakterisierung des Cotta als Akademiker und Priester s. auch Süss 1971, S. 169. Cic. nat. deor. 3,5.

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jemals abbringen. Sondern wenn es sich um die Religion handelt, schließe ich mich den Oberpriestern Tiberius Coruncanius, Publius Scipio und Publius Scaevola an, nicht aber Zenon, Kleanthes oder Chrysipp, und ich halte mich an Gaius Laelius, der Augur und zugleich ein Weiser ist und den ich, wenn er in der berühmten Rede über die Religion spricht, lieber höre als irgendeinen führenden Stoiker.

Indem Balbus zuvor die Unvereinbarkeit der akademischen Skepsis mit der sozialen Rolle eines pontifex in der Realität der res publica suggeriert und damit einen geeigneten Rahmen für eine Stellungnahme der Dialogfigur Cotta geschaffen hat, liefert diese ein eindeutiges Bekenntnis zu der Religion, die man von den Vorfahren übernommen habe (opiniones, quas a maioribus accepimus). Das Festhalten an den opiniones lässt zunächst vermuten, dass sich Cotta als gemäßigter, wenn nicht sogar inkonsequenter Akademiker versteht, doch steht es nicht im Widerspruch zu der von Cicero selbst vertretenen Skepsis.211 Vielmehr zeigt sich gerade hier ein anderer Widerspruch, auf den Cicero hinweisen möchte, indem er dem nicht differenzierenden Balbus einen Gesprächspartner gegenüberstellt, der zwischen ratio und credere eine Trennung vornimmt.212 Im Fokus seiner Gegendarstellung im dritten Buch steht nicht die Widerlegung der religio, sondern die Widerlegung der von Balbus angeführten Annahme, die Existenz der Götter mit Vernunftargumenten belegen zu können.213 Das einleitende Wechselgespräch im dritten Buch, das streckenweise an ein sokratisches Wechselgespräch erinnert, zeigt eindrucksvoll, wie Cotta nach dem gegen ihn eröffneten Angriff den Spieß umdreht und nun den Angreifer selbst ins Visier nimmt.214 Der erste Teil seiner vierteiligen Gegenrede, die sich der Kritik der stoischen Argumentation für die Existenz der Götter widmet, ist somit bereits

211

212 213

214

So bezeichnet er sich selbst als „großer Meiner“ (opinator) in Cic. ac. 2,66. Görler 1974, S. 134 zufolge bezeichnet der Begriff dort und im Lucullus „das bewußte Hinausgehen über das Beweisbare; dort wie hier ist der Skeptiker darauf bedacht, seine ‚Meinung‘ vom Wissen und vom Bewiesenen sorgfältig zu trennen.“ Dass das Einräumen einzelner opiniones nicht als Indiz für einen gemäßigten Skeptizismus gewertet werden kann, bekräftigt auch eine jüngere Studie von Wynne, die – für den vorliegenden Kontext nicht irrelevant – eine vergleichbare Haltung in der pyrrhonischen Skepsis nachweist, in der das Befolgen gesellschaftlicher Konventionen trotz fehlender Überzeugung empfohlen werde: Wynne 2014, S. 255–257. Cic. nat. deor. 3,6; vgl. Görler 1974, S. 135. Vgl. Bringmann 1971, S. 173f.; Görler 1974, S. 133–136. Treffend analysiert Schäublin 1990, S. 92 in der Person des Cotta jeweils „eine ‚vorwissenschaftlich-römische‘ und eine ‚philosophisch-griechische‘“ Denkweise, deren restlose Integration Cicero dabei noch nicht gelungen sei. Cic. nat. deor. 3,5–9.

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voll im Gange, ehe er zum zusammenhängenden Vortrag übergeht,215 und bereits abgeschlossen, ehe er eine Gliederung präsentiert.216 Die Rolle des pontifex unterstreicht das römische Profil der Cotta-Figur, das einen bewusst traditionalistischen Zug aufweist. Indem er in dem oben zitierten Passus drei stoischen Philosophen die gleiche Anzahl römischer Priester gegenüberstellt, beschwört er die Priorität des mos maiorum. Erst nachdem Cotta seine Loyalität gegenüber den opiniones der Vorfahren bekräftigt hat, erfolgt die eigentliche Widerlegung, was an das Zögern der Crassus-Figur in De oratore erinnert. Allerdings weist die Inszenierung einen deutlichen Unterschied auf, da Crassus selbst eine Art römischen Vorbehalt zeigte,217 während Cotta in De natura deorum durch Balbus’ Mahnung zur Rechtfertigung genötigt wird.218 Vor der Widerlegung der stoischen Argumente, bei der er sich der gleichen Reihenfolge bedient wie sein Vorredner, zeigt er somit ein Bewusstsein für die Schwierigkeit, die verschiedenen Rollen des römischen Pontifex und des skeptischen Akademikers konsistent in sich zu vereinen. Dieser Widerspruch mag in Anbetracht der Tatsache, dass die römische Religion den möglichst genauen Vollzug der rituellen Handlungen und nicht das innere Bekenntnis der sie ausführenden Person verlangte, von antiken Rezipienten weniger stark empfunden worden sein als von modernen.219 Im oben zitierten Passus gibt Cotta zu erkennen, dass jener praktische Aspekt römischer Religiosität (sacra caerimonias religionesque) von ihm stets verteidigt werden würde (ego vero eas defendam semper semperque defendi), was Balbus als Antwort zu genügen scheint. Durch diese Selbstverpflichtung auf die römische Kultpraxis zu Beginn des dritten Buches gibt sich Cotta einerseits als gewissenhafter pontifex zu erkennen, an dessen Eignung für das prestigeträchtige Amt nicht zu zweifeln ist, andererseits weist er damit der Religion der Vorfahren, der er auch ohne rationaler Begründung der Existenz der Götter folgen würde, einen zumindest lebenspraktischen Vorrang zu. Eine weitere Bezugnahme Cottas auf das religiöse Amt erfolgt im ersten Buch, ebenfalls zu Beginn seiner Gegenrede und damit an einer exponierten Stelle. Dort erfolgt sie jedoch aus einer offensiven Position heraus, um die Kritik an den von Velleius vorgetragenen Argumenten für die Existenz der Götter zu untermauern: denn gerade in seiner Funktion als Priester, der für die korrekte Ausführung der Kulte Sorge trägt (ego ipse pontifex, qui caeremonias religionesque publicas sanctissime tuendas arbitror), zeigt sich 215 216

217 218 219

Erstmals bei Cic. nat. deor. 3,9, worauf erst wieder bei 3,13 ein Zwischenwort erfolgt. Ebd., 3,20. Dabei muss berücksichtigt werden, dass sich zwischen 3,13 und 14 eine Textlücke befindet, die jedoch als klein bewertet wird. Einen Überblick über Rekonstruktionen der Lücke in der älteren Forschung liefert: Pease 1979, S. 999. Zu Crassus’ Vorbehalten gegenüber griechischer Kultur s. oben S. 56–58. Cic. nat. deor. 2,168. Zur Bedeutung des lateinischen Begriffs der religio als gewissenhafte Durchführung des Kultes sei auf Linke verwiesen, der zugleich einen pointierten Überblick über die zentralen Forschungstendenzen zur römischen Religion gibt: Linke 2000, S. 273–277.

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Cotta um einen vollständigen rationalen Nachweis bemüht (esse deos, persuaderi mihi […] ad veritatem plane velim), den Velleius nicht erbringen konnte.220 Das Widerlegen der falschen Argumente durch den Akademiker Cotta koinzidiert auf diese Weise mit dem Wunsch des pontifex. Das Spannungsfeld beider Profile wird zwar nicht restlos aufgehoben, jedoch signifikant vermindert, indem das Anliegen des Akademikers zumindest partiell dem des pontifex dient. Kehren wir nochmals zu Balbus’ mahnender Erinnerung am Ende des zweiten Buchs zurück, so ist noch zu ergänzen, dass er mit princeps civis auch an den Politiker Cotta appelliert. Ein politisches Profil lässt die Dialogfigur zwar im Vergleich zu De re publica relativ selten erkennen, doch wird mit ihr auch das Porträt eines Römers gezeichnet, der die politischen Wirren der ersten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts selbst miterleben musste. In seiner Argumentation gegen die stoische Theorie einer göttlichen Fürsorge wechselt er dabei von den Beispielen der älteren Zeit auf die der eigenen (propiora videamus):221 cur avunculus meus vir innocentissimus idemque doctissimus P. Rutilius in exilio est, cur sodalis meus interfectus domi suae Drusus, cur temperantiae prudentiaeque specimen ante simulacrum Vestae pontifex maximus est Q. Scaevola trucidatus, cur ante etiam tot civitatis principes a Cinna interempti, cur omnium perfidiosissimus C. Marius Q. Catulum praestantissuma dignitate virum mori potuit iubere? Lasst uns nun die Fälle aus jüngerer Zeit betrachten! Warum lebt denn mein Onkel Publius Rutilius, ein völlig unbescholtener und zudem hochgebildeter Mann, im Exil, warum wurde mein guter Freund Drusus in seinem eigenen Haus umgebracht, warum wurde der Inbegriff der Mäßigkeit und Klugheit, der Pontifex Maximus Quintus Scaevola, vor dem Götterbild der Vesta niedergestochen, warum wurden auch schon früher so viele führende Staatsmänner von Cinna ermordet, warum konnte Gaius Marius, der schlimmste aller Verräter, dem Quintus Catulus, einem höchst verdienstvollen Mann, den Befehl zum Selbstmord geben?

Cicero nutzt den zeitlichen Kontext der historischen Persönlichkeit, um die historische Argumentation der Dialogfigur zu untermauern, die dadurch eine dramaturgische Note bekommt. Als Zeitzeuge referiert er über das ungerechte Schicksal von Verwandten und Freunden, ehe er auf die verdienten Männer Quintus Scaevola pontifex und Quintus Lutatius Catulus, der ebenfalls in De oratore als Gesprächspartner aufgetreten war, zu sprechen kommt. Dem Unglück der boni wird das Glück der mali entgegengesetzt, wofür er die popularen Politiker Cinna und Marius anführt, die jeweils als omnium perfidiosissimus und crudelissimus

220 221

Cic. nat. deor. 1,61. Ebd., 3,80f.

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charakterisiert werden.222 Dem Leser war bewusst, dass Cotta dabei das eigene Leid durch das Exil verschweigt, das er mit Cicero gemeinsam hatte. Die Klage über die Ungerechtigkeit erhält durch seine Eigenschaft als Zeitzeuge eine besondere dramatische Wucht. Die Stelle zeigt erneut, dass der Autor durchaus bemüht war, das Potential der historischen exempla in die von ihm geschaffenen Figuren einfließen zu lassen und der philosophischen disputatio auch einen dramatischen Anstrich zu verleihen. c)

Cotta als römischer Redner im Kontext des ciceronischen Rhetorikideals

Obwohl der Charakter der Dialogfigur Cotta in De natura deorum primär durch die Rolle des akademischen Skeptikers bestimmt ist, trägt sie als pontifex zugleich ein römisches Profil, welches jedoch gegenüber dem philosophischen sekundär erscheint. Dieser römische Charakterzug wird durch den Verweis auf die religiös-politische Stellung der historischen Persönlichkeit erkennbar und durch seine Eigenschaft als Redners verstärkt, wie an mehreren Stellen des Dialogs deutlich wird. Dies geschieht, wie zu zeigen sein wird, nicht zufällig, sondern resultiert aus dem Kalkül des Autors, an das in De oratore beschriebene Bildungsideal zu erinnern. Dort ging Cicero von der Prämisse aus, dass der philosophisch gebildete Redner anderen Rednern überlegen sei, wobei das Studium der Akademie anstatt dem der Stoa und des Kepos empfohlen wurde.223 Auch in De natura deorum ist die Frage nach der richtigen Bildung präsent, wie zu Beginn des zweiten Buches durch Velleius deutlich wird:224 Ne ego […] incautus, qui cum Academico et eodem rhetore congredi conatus sim. nam neque indisertum Academicum pertimuissem nec sine ista philosophia rhetorem quamvis eloquentem; neque enim flumine conturbor inanium verborum nec subtilitate sententiarum, si orationis est siccitas. tu autem Cotta utraque re valuisti; corona tibi et iudices defuerunt. Ja, ich war wirklich unvorsichtig, dass ich versucht habe, mich mit einem Akademiker und dazu noch einem guten Redner auf einen Streit einzulassen. Denn vor einem sprachlich ungeschickten Akademiker hätte ich mich ebensowenig gefürchtet wie vor einem Redner ohne diese philosophische Bildung, wäre er auch noch so sprachgewandt. Ich gerate nämlich weder durch den Schwall nichtssagender Worte noch durch eine spitzfindige Gedankenführung in Verwirrung, wenn der Vortrag trocken ist. Doch du, mein Cotta, hast in beiden Punkten geglänzt; dir haben nur viele Zuhörer und ein Richter gefehlt.

222

223 224

Cic. nat. deor. 3,81; auch das gewählte Verb zur Beschreibung der Cinna-Herrschaft (regnavit) ist politisch gefärbt und unterstellt jenem eine mit der res publica nicht vereinbare Königsherrschaft. Cic. de orat. 3,78. Cic. nat. deor. 2,1.

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Durch das Resümee des Velleius erscheint die Persönlichkeit des Cotta als idealtypischer Repräsentant der von ihm vertretenen Philosophie, da er in seinem Vortrag sowohl Eloquenz als auch philosophische Bildung miteinander verbunden habe (utraque re valuisti). Gemäß dem verschobenen Schwerpunkt von De natura deorum entwirft Cicero in ihm nicht primär das Bild des philosophierenden Redners, sondern das des rhetorisch gebildeten Philosophen, der sich aufgrund eben dieser Eigenschaft dem Velleius als überlegen zeigt. Trotz der anderen Schwerpunktsetzung wird auch in seiner Person, wie zuvor mit Crassus in De oratore, das Schisma von Rhetorik und Philosophie aufgehoben und eine vom Autor als ursprünglich empfundene Einheit wiederhergestellt.225 Diese Funktion wird ihm durch die Person des Balbus bestätigt, der sich wünscht, Cotta führe mit derselben Beredsamkeit, mit der er Epikurs Götter entlarvt habe, nun die Vorstellung der Stoa ein (qua eloquentia falsos deos sustulit, eadem veros inducit).226 Auch am Ende des zweiten Buches betont er in seinem Lob der Redegabe des Hauptredners, dass dessen rhetorische Fähigkeiten gerade durch die Philosophie der Akademie erweitert wurden (facultatem disserendi […] Academia amplificavit).227 Betrachten wir seine Bildung genauer, so fällt auf, dass Cotta – wie bei den Hauptrednern in De oratore – selbst Hinweise darauf gibt, woher er sein Wissen von den unterschiedlichen Philosophenschulen habe:228 Zenonem, quem Philonem noster coryphaeum appellare Epicureorum solebat, cum Athenis essem audiebam frequenter, et quidem ipso auctore Philone, credo ut facilius iudicarem quam illa bene refellerentur, cum a principe Epicureorum accepissem quem ad modum dicerentur. Den Zenon, welchen unser Philon als Oberhaupt der Epikureer zu bezeichnen pflegte, habe ich während meines Aufenthaltes in Athen regelmäßig gehört, und zwar hat mich Philon persönlich dazu veranlasst, wohl damit ich besser beurteilen könne, wie leicht sich jene Lehre widerlegen lasse, wenn ich vom Meister der Epikureer die Art und Weise ihrer Argumentation gelernt hätte.

Seine persönliche Begegnung als Zuhörer mit Philon von Larissa und dem Epikureer Zenon wird im Rahmen eines Athenaufenthalts lokalisiert, der – sollte er historisch sein – in die Zeit seiner Verbannung und vor die Eroberung der Stadt durch Sulla fällt, infolge derer Philon die Stadt verließ (90–88).229 Zwar gibt es

225 226 227 228 229

Vgl. Cic. de orat. 3,60f. Cic. nat. deor. 2,2. Ebd., 2,168. Ebd., 1,59. Eine solche Zuordnung schlägt Ferrary vor, er weist jedoch selbst auf den Konflikt mit der Äußerung Cottas in De oratore hin, worin jener erklärt, dass Crassus ihn zur Akademie geführt hätte (me quidem in Academiam totum compulisti): Cic. de orat.

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keinen Grund, an der Historizität des persönlichen Kontakts zu zweifeln, doch muss auch in diesem Fall darauf hingewiesen werden, dass die Begegnungen römischer Aristokraten und griechischer Philosophen oft rein pragmatischer Natur waren, da letztere über für die römischen Herrscher wichtiges Wissen verfügten. 230 Vergleicht man die Beschreibung seines Bildungskontakts mit jenen von Crassus, Antonius und Scaevola in De oratore, so lässt sich jedoch eine deutlich philosophie-affinere Haltung Cottas feststellen, da er nicht nur vorgibt, den Philosophen Zenon regelmäßig angehört zu haben (audiebam), sondern Philon selbst ihm gegenüber dabei eine Art Mentorrolle (Philone auctore) innegehabt zu haben scheint. Diese autobiographische Referenz, die Cicero der Dialogfigur zuschreibt, ergänzt das Profil eines umfassend und nicht lediglich auf eine Lehre hin gebildeten Römers.231 Das Bildungsideal wird somit durch die Figur des Hauptredners in ähnlicher Weise zum Ausdruck gebracht wie durch Crassus in De oratore. Der rhetorische Sieg, den die Figur des Cotta dabei gegen Velleius davonträgt, bestätigt die Wirksamkeit des Bildungskonzepts und zeigt darüber hinaus einen Wirkungsbereich jenseits des Forums, nämlich den der philosophischen disputatio, worauf erneut bei der Untersuchung von Velleius und Balbus einzugehen ist.232 d)

Cotta im Kontext der Gesprächsethik

Trotz seiner Funktion als Gegenredner ist der Charakter des Cotta von einer freundlichen Wesensart geprägt, wie sie für Akteure in ciceronischen Dialogen typisch ist.233 In De natura deorum wird jedoch vereinzelt ein starker Kontrast zwischen seinem Auftreten und dem anderer Dialogfiguren sichtbar. Am deutlichsten zeigt sich dieser im Vergleich mit Velleius, der seinen polemischen Vortrag mit einem überheblich wirkenden, doch für die Vertreter Epikurs typischen Selbstbewusstsein (fidenter sane, ut solent isti) eröffnet.234 Ihm stellt Cicero mit der Figur des Cotta einen dezidiert bescheideneren Charakter gegenüber,

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231

232 233 234

3,145; Ferrary 1988, S. 606, Anm. 67. Dass Cicero Cotta diesen Satz im dramatischen Datum von De oratore sprechen lässt, heißt jedoch nicht, dass er bereits damals als „sectateur de l’Académie“ gesehen werden kann, da die Worte im Dialog fallen und Crassus dabei als eine Art römischer Sokrates erscheinen soll, der den Römer Cotta bereits vor seinem Griechenlandaufenthalt für das Fach begeisterte. Erneut sei hierbei auf die noch immer maßgebende Studie von Jocelyn hingewiesen: Jocelyn 1977, S. 335. Ein weiterer griechischer Gelehrter, mit dem er wohl schon zuvor in Kontakt stand, war Poseidonios, der als allgemeiner Freund erwähnt wird (familiaris omnium nostrum Posidonius): Cic. nat. deor. 1,123. Zum rhetorischen Charakter der Schrift s. auch Schäublin 1990, hier v. a. S. 94. S. hierzu v. a. Becker 1938, S. 18–22. Cic. nat. deor. 1,18.

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der seiner eigenen Gewohnheit folgend freundlich (comiter, ut solebat) spricht235 und dem Vorredner vor seiner eigenen Kritik ein stilistisches Lob ausspricht.236 Auf der anderen Seite fehlt es seiner Gegenrede zu Velleius nicht an rhetorischer Schärfe, welche in den bisherigen Dialogen bei keiner anderen Dialogfigur zum Einsatz kam.237 Erklären lässt sich diese Tonlage dadurch, dass Velleius nicht nur selbstbewusst, sondern auch stark polemisierend gegen alle nichtepikureischen Philosophen vorgeht, um die Bedeutung des Epikur hervorzuheben. Das Gespräch im ersten Buch erinnert dadurch von Beginn an eher an eine gerichtliche Auseinandersetzung, innerhalb derer die jeweiligen Dialogfiguren wechselseitig als Ankläger bzw. Verteidiger agieren. Es fällt jedoch auf, dass Cotta nicht Velleius persönlich angreift, sondern seine Kritik an die Person des Schulgründers richtet, der dadurch als eigentlicher Angeklagter erscheint, Velleius dagegen nur als dessen Anwalt:238 non igitur ille ut plerique, sed isto modo ut tu, distincte graviter ornate. Sed quod in illo mihi usu saepe venit, idem modo, cum te audirem accidebat, ut moleste ferrem tantum ingenium (bona venia me audies) in tam leves, ne dicam in tam ineptas sententias incidisse. […] (61) Epicurus vero tuus (nam cum illo malo disserere quam tecum) quid dicit, quod non modo philosophia dignum esset sed mediocri prudentia? Nun sprach jener nicht wie die meisten, sondern wie du, also klar und nachdrücklich und elegant. Doch was mir bei ihm oft passierte, genau das geschah eben, als ich dir zuhörte: Ich ärgerte mich, dass ein so bedeutender Kopf auf so – du wirst mir den Ausdruck verzeihen – triviale, um nicht zu sagen alberne Gedankengänge hereingefallen war. […] (61) Dein Epikur jedoch – denn ich möchte mich lieber mit ihm als mit dir auseinandersetzen –, was bringt er vor, was, wenn nicht schon mit der Philosophie, so doch wenigstens mit durchschnittlicher Klugheit vereinbar wäre?

Während die Kritik an Velleius durch den Verweis auf seine Begabung (tantum ingenium) abgemildert wird, werden die epikureischen Lehren, auf die er „hereingefallen“ (incidisse) sei, als leves und ineptae abgetan. Die Tendenz, nicht die Person des Gegenredners, sondern die des Schulgründers anzugreifen, zeigt sich im Folgenden auch in einer Prosopopöie, durch die Cotta Epikur anspricht, als 235 236 237

238

Cic. nat. deor. 1,57. Ebd., 1,59. Dass De natura deorum hierin einen gewissen Sonderfall darstellt, merkte bereits Becker 1938, S. 22f. an, der feststellte, dass jenes Werk „der einzige Dialog“ sei, „in dem man bisweilen jene Urbanität in der Unterhaltung vermißt, die Ciceros Gespräche sonst auszeichnet.“ Auch für Pease 1979, S. 18 ist die Person des Cotta „courteaous and complimentary“ und agiert rhetorisch „like a lawyer, keenly detecting the weak points in his adversary’s armor.” Cic. nat. deor. 1,59 u. 61.

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ob er anwesend wäre (iam enim cum ipso Epicuro loquar), um an ihn den Vorwurf zu richten, dass er eigentlich Atheist sei, dies aber nicht zu zeigen wage.239 Trotz der scharfen Kritik bleibt somit unter den Gesprächspartnern Cotta und Velleius selbst das Gesprächsklima ungereizt und frei von persönlichen Entgleisungen, so dass die Personengestaltung an sich in De natura deorum keinen Sonderfall bildet. Gegenüber Balbus ist der Umgangston – zumindest im erhaltenen Teil – von minder polemischem Charakter, was bereits im einleitenden Wechselgespräch mit Velleius deutlich wird. Als dieser sich bereits auf eine ähnlich polemische Widerlegung der Stoa freut, macht Cotta deutlich, gegen Balbus mit einer anderen Grundeinstellung als gegen Epikur verfahren zu wollen (neque enim mihi par ratio cum Lucilio est, ac tecum fuit), da sich Epikur im Gegensatz zu der Stoa in der Fragestellung nicht wirklich Mühe gegeben habe.240 Aufgrund der schwachen Position der Epikureer241 sowie der Tatsache, dass die stoische Theologie keine Auflösung der religio beinhaltet,242 erscheint eine Auseinandersetzung mit der Stoa von Grund auf intellektuell ansprechender. Eine polemische Schärfe, wie sie im ersten Buch zu finden war, fehlt, dennoch lässt sich auch bei Balbus und Cotta ein Kontrast hinsichtlich ihrer Haltungen feststellen, indem zu Beginn des dritten Buchs letzterer der Ernsthaftigkeit seines Gesprächspartners ein freundliches Lachen (adridens) entgegensetzt.243 e)

Zusammenfassung

Mit Cotta spricht nicht nur ein Vertreter der skeptischen Akademie, sondern auch ein erfahrener Redner, der von den Größen Crassus und Antonius ausgebildet wurde, ein römischer Politiker mit Höhen und Tiefen, ein pontifex und damit Verteidiger der staatstragenden religio sowie ein persönlicher Freund des Autors.244 Eben jene Verbindung aus dem akademischen Kritiker epikureischer und stoischer Vorstellungen sowie dem stets der römischen religio verpflichteten Priester stellt einen besonderen Reiz der Figur dar und war von Cicero sicherlich intendiert, zeigt sich darin doch die Symbiose zwei verschiedener, sich befruchtender Denkweisen. Es bereitet Cotta, dem Musterbeispiel eines Römers, der der römischen Kultur und Religion treu ergeben ist, keine Schwierigkeiten, ein philosophisches Gespräch unter Freunden zu führen und darin auch zu glänzen, was 239 240 241

242 243 244

Cic. nat. deor. 1,87; vgl. Dyck 2003, S. 169. Cic. nat. deor. 3,2–4. Diese Einschätzung erinnert an das Proöm von De finibus 3, in dem Cicero Brutus mitteilt, dass die anstehende Diskussion mit der Stoa eine schärfere Auseinandersetzung sei (acrior […] contentio) als jene mit dem Epikureer Torquatus: Cic. fin. 3,2. Vgl. Schäublin 1990, S. 101. Cic. nat. deor. 3,1. Atticus empfahl Cicero eine erneute Verwendung des Cotta als Sprecher in den Academici libri: Cic. Att. 13,19 = 326 Sh. B.,3; vgl. Hirzel 1895, S. 521.

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auf seine akademische Bildung zurückgeführt wird. Gerade der private Kreis der Freunde (in concessu familiari facillimum) erlaube es, dass auch er als pontifex die Argumente für die Existenz Götter angreift, wie er gegenüber Velleius betont.245 Die Figur erinnert nicht zufällig an das in De oratore entworfene Ideal des besten Redners, doch tritt sie, dem Kontext angemessen, eher als rhetorisch gebildeter Philosoph statt als philosophisch gebildeter Redner auf. Hinsichtlich der philosophischen Bildung wird dabei auf den Kontakt mit Philon in Athen verwiesen, für den er, anders als die Redner in De oratore, eine Schülerrolle eingenommen habe. Die Beschreibung des Kontakts gibt zwar keinen Aufschluss über das tatsächliche Verhältnis, es zeigt jedoch, wie der Autor biographisches Material in die Personendarstellung einfließen lässt. Dadurch wird sowohl die politische Bewertung der jüngeren Vergangenheit als auch die Steigerung des dramatischen Charakters des Dialogs ermöglicht, wovon Cicero mittels der Cotta-Figur Gebrauch macht. Die Frage, inwiefern jene als Sprachrohr des Künstlers fungiert, wurde bisher noch nicht ausreichend geklärt. Sie kann erst nach der Untersuchung der Cicero-Figur beantwortet werden und wird daher unter IV 2.4 behandelt.

2.2

C. Velleius

a)

Historische Persönlichkeit

Die wenigen überlieferten biographischen Informationen zur Person des C. Velleius stammen allesamt aus Ciceros Feder. Weder Geburts- noch Todesjahr lassen sich auch nur ansatzweise bestimmen, sodass auch die Frage ungeklärt bleiben muss, ob er zum Zeitpunkt der Abfassung des Dialoges noch am Leben war oder ob der Autor seinem – nicht immer eingehaltenen – Prinzip gefolgt ist, in Dialogen keine lebenden Zeitgenossen sprechen zu lassen.246 Aus einer Anspielung in De natura deorum wird deutlich, dass er aus dem Municipium Lanuvium, der Heimat des Q. Roscius, stammte.247 Mit Blick auf seine Rolle als Verteidiger der Theorien Epikurs stellt es ein nicht unwichtiges Detail dar, dass er sich offensichtlich nicht an die von jener Schule geforderte politische Enthaltsamkeit gehalten hat: Seine Anrede als Senator setzt ein niedriges Amt voraus, wofür ein Volkstribunat vor 90 oder ein während der 80er von Sulla verliehener Posten in Frage kommt.248 Aufgrund des Fehlens weiterer Hinweise zu seiner

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247 248

Cic. nat. deor. 1,61. Cic. Att. 13,19 = 326 Sh. B.,3; s. Pease 1979, S. 28, Anm. 4. Ziegler 1955, Sp. 637 nimmt den Umstand, dass Cicero ihn später nicht mehr in seinen Schriften erwähnt, zum Anlass für die Vermutung, dass er in den 60ern gestorben sein könnte. Cic. nat. deor. 1,79. Vgl. Niccolini 1934, S. 427; MRR 2, S. 474.

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Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero

Person geht man in der Forschung davon aus, dass er trotz seines senatorischen Standes ein insgesamt eher unpolitisches Leben geführt hat.249 Dass sein Name nicht im Brutus erwähnt wird, kann als Indiz für ein mangelndes Interesse an der Redekunst oder eine Karriere als Redner gesehen werden.250 Hinsichtlich seiner Bildung fungierte er bereits in dem zehn Jahre älteren Werk De oratore gemeinsam mit Balbus als exemplum für einen Römer mit einseitiger philosophischer (in una philosophia) Ausrichtung. 251 Sein Engagement in nur einer einzigen Philosophie wird im Zusammenhang mit der Ausbildung eines idealen Redners als kontraproduktiv kritisiert. Zugleich wird Velleius dort von den anderen Rednern (Sex. Pompeius, die zwei Balbi und M. Vigellius) dadurch hervorgehoben, dass Crassus ihn als seinen familiaris bezeichnet, was auf ein freundschaftliches Verhältnis zwischen beiden schließen lässt. Darüber hinaus weist der Passus in De oratore ihn eindeutig als Anhänger der Schule Epikurs aus, die hier nicht namentlich genannt wird, jedoch durch den Verweis auf die voluptas als höchste ethische Norm – sowohl für den Zuhörer im Dialog und als auch für den Leser – offensichtlich ist. Die von Crassus angeführte hypothetische Auseinandersetzung zwischen universal und einseitig philosophisch gebildeten Rednern antizipiert bereits eine ähnliche Situation, wie sie später der Dialog über das Wesen der Götter bietet, bei dem jedoch die forensische Rede der philosophischen weicht. Zusammen mit Balbus, der hier mit seinem Bruder oder Cousin genannt wird, standen Velleius und Balbus in De oratore als Negativbeispiele für Personen, die aufgrund ihres übermäßigen Bezuges zum Kepos bzw. zur Stoa die rednerische Übung (exercitatio dicendi) vernachlässigen252 und daher bei einem Streitfall (in disputatione) einem praktisch erfahrenen und theoretisch gebildeten Redner, einem orator perfectus, unterliegen müssen.253 Trotz der dürftigen Quellenlage scheint es naheliegend, dass Cicero mit Velleius einen „echten Epikureer“ in seinem Dialog hat auftreten lassen.254 Jene Affinität zu der vom Autor bekanntlich wenig geschätzten Philosophie sowie seine Nähe zu dem von ihm sehr geschätzten Crassus prädestinierten die historische Persönlichkeit dafür, in einem Dialog in Erscheinung zu treten und ihre präferierte Philosophenschule zu verteidigen.

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Vgl. Ziegler 1955, Sp. 637; Spahlinger 2005, S. 75. Die fehlende Erwähnung im Brutus entbehrt nicht einer gewissen Aussagekraft, da Cicero sein quantitatives Aufzählen von Rednern in jenem Dialog durch Atticus kritisieren lässt: Cic. Brut. 269. Cic. de orat. 3,77f.; Mankin erwägt diesbezüglich den Wortsinn „in philosophy alone“ für una philosophia: Mankin 2011, S. 168. Mankin 2011, S. 169. Vgl. Cic. de orat. 3,80. So auch Ziegler 1955, Sp. 637.

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b)

311

Velleius als Epikureer

Für den Vertreter der Lehre Epikurs lässt sich zunächst konstatieren, dass die Dialogfigur von Anfang an ein sehr selbstbewusstes und polemisches Verhalten zeigt. Dies wird bereits deutlich, als er Cottas Bitte, das bisher Gesagte für den Gast nochmals zu wiederholen, für einen Seitenhieb nutzt:255 Repetam vero, quamquam non mihi sed tibi hic venit adiutor; ambo enim, inquit adridens, ab eodem Philone nihil scire didicistis. „Ich will es wohl wiederholen, obwohl unser Freund nicht zu meiner, sondern zu deiner Unterstützung gekommen ist. Ihr beide“, fuhr er lächelnd fort, „habt ja von demselben Philon gelernt, dass es kein sicheres Wissen gibt.“

Er macht damit auf eine vermeintliche Asymmetrie des Personengefüges durch den hinzugekommenen Cicero aufmerksam, die sich dadurch ergebe, dass nun zwei Hörer des Akademikers Philon anwesend seien, und liefert so die Voraussetzung für eine Erklärung des Autors im Dialog.256 Das Ergebnis ihrer Lehre bei dem Philosophen wird dabei in einer verbreiteten Weise durch den Widerspruch nihil scire […] didicistis persifliert.257 Auch der direkte Beginn seines Vortrags offenbart Selbstbewusstsein und Angriffslust:258 Tum Velleius fidenter sane, ut solent isti, nihil tam verens quam ne dubitare aliqua de re videretur, tamquam modo ex deorum concilio et ex Epicuri intermundiis descendisset, Audite, inquit, non futtilis commenticiasque sententias, non opificem aedificatoremque mundi Platonis de Timaeo deum, nec anum fatidicam Stoicorum Pronoeam, quam Latine licet Providentiam dicere, neque vero mundum ipsum animo et sensibus praeditum rutundum ardentem volubilem deum, portenta et miracula non disserentium philosophorum sed somniantium. Da sprach Velleius, ganz nach Art der Epikureer, natürlich sehr selbstbewusst, wobei er nichts so sehr fürchtete, wie den Anschein zu erwecken, er hege an irgendetwas einen Zweifel, und er redete so, als sei er gerade aus dem Rat der Götter und den Zwischenwelten Epikurs herabgestiegen: „So hört denn keine nichtssagenden und freierfundenen Behauptungen, nichts von einem Gestalter und Baumeister der Welt, Platons Gott aus dem Timaios, auch nichts von einer schicksalskündenden Frau, der Pronoia der Stoiker, die man lateinisch als Providentia (Vorsehung) bezeichnen kann, erst recht nichts davon, dass die Welt selbst, mit Geist und Empfindungen begabt, ein kugelrunder, feuriger und ständig kreisender

255 256 257 258

Cic. nat. deor. 1,17. Ebd. Zur Verwendung in der antiken Literatur s. Pease 1979, S. 170. Cic. nat. deor. 1,18.

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Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero Gott sei – Phantastereien und Wundermärchen von Philosophen, die nicht vernünftig diskutieren, sondern bloß daherträumen.“

Cicero schreibt seiner Figur von Anfang an ein überzogenes, typisch epikureisches Selbstbewusstsein (fidenter sane, ut solent isti) sowie eine übertriebene dogmatische Haltung (nihil tam verens quam ne dubitare de aliqua re videretur) zu, wodurch das gesamte Auftreten der Figur als weltfremd und überheblich karikiert wird (tamquam modo ex deorum concilio et ex Epicuri intermundiis descendisset). Die Charakterisierung offenbart damit ein offenes Ressentiment des Autors gegenüber seiner Figur, welches wohl primär auf seiner entschiedenen Ablehnung des Kepos basiert.259 Bereits der erste Satz, der sich vor allem gegen die Vorstellungen des platonischen Timaios und die stoische Lehre der Vorsehung richtet und deren Vertreter als Träumer (somniantium) abwertet, gibt den Grundton seines gesamten Vortrags an, der bis zum Ende polemisch angriffslustig bleibt. Dieser fällt dabei, nicht nur im Vergleich zu dem seiner Gesprächspartner Cotta und Balbus, sondern auch zu dem des Epikureers Torquatus in De finibus I, auffallend kurz aus. Ferner fällt auf, dass dem einführenden Rundumschlag nicht sogleich eine Darstellung der epikureischen Götterlehre folgt, sondern ein nicht minder polemischer Überblick über die verschiedenen Göttervorstellungen von Thales bis Chrysipp.260 Indem Velleius den eigentlichen Untersuchungsgegenstand aufschiebt und sich von ihm weiter entfernt, geht er – wie eine jüngere Studie Classens zeigt – in einer Weise vor, auf die Cicero als Redner selbst zurückgreift.261 Der stark rhetorische Aufbau verstärkt den Eindruck, dass es sich eher um eine Invektive handelt als um eine Rede, die einen einführenden Überblick in die Philosophie Epikurs geben möchte, wodurch das erste Buch in seiner Anlage dem Prinzip des in utramque partem disserere folgt.262 Das polemische Erscheinungsbild der Dialogfigur bildet nicht nur einen deutlichen Kontrast zu ihren Gesprächspartnern, es ist mit Blick auf das gesamte dialogische Werk Ciceros einzigartig, der in De natura deorum offensichtlich kein Interesse daran hat, die Position Epikurs fair vertreten zu wissen.263 Mit diesem selbstbewussten und angriffslustigen Auftreten des Velleius mischt sich eine religiös anmutende Verehrung des eigenen Schulgründers, die

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260 261 262

263

Vgl. auch die Feststellung von Classen 2010, S. 197: „This characterisation is clearly not free from resentment, insult and passion that Cicero elsewhere stresses are unworthy of philosophy.“ Cic. nat. deor. 1,24–43. Classen 2010, S. 199. Dass Cicero das Gespräch in De natura deorum als ein solches ansieht, geht auch aus De fato hervor: Cic. fat. 1; vgl. Classen 2010, S. 206. Dieser Eindruck wird verstärkt durch eine Untersuchung Classens, in der Velleius’ Vortrag mit Lukrez’ De rerum natura verglichen wird: Classen 2008, S. 179–188.

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sich erstmals nach der Gesamtschau der verschiedenen Lehrmeinungen und Ansichten der Dichter offen zeigt:264 Ea qui consideret quam inconsulte ac temere dicantur, venerari Epicurum et in eorum ipsorum numero de quibus haec quaestio est habere debeat. Solus enim vidit primum esse deos, quod in omnium animis eorum notionem natura. Wer darauf achtet, wie unüberlegt und grundlos diese Äußerungen sind, muss doch wohl Epikur verehren und ihn zu der Zahl eben derer rechnen, die Gegenstand unserer Erörterung sind. Er allein erkannte nämlich als erstes, dass es Götter gibt, weil die Natur selbst eine Vorstellung von ihnen in die Seelen aller Menschen eingeprägt hat.

Indem er Epikur „allein“ (solus enim) das Erkennen des wahren Wesens der Götter zugesteht und auf Verehrung seiner Person (venerari) insistiert, erhebt Velleius ihn in göttliche Sphären.265 Die Ähnlichkeit des Lobs auf den Schulgründer mit dem des Lukrez oder jenem, das Cicero in der Prozessrede gegen Piso selbigem in den Mund legt, zeigt das Bemühen des Autors, seinen Sprecher als „typischen“ Epikureer darzustellen. 266 Die peroratio unterstreicht das Bild eines gläubigen Jüngers, indem Velleius seinen Schulmeister als Befreier der Menschen von den Schrecken des Aberglaubens (his terroribus ab Epicuro soluti et in liberatem vindicati) preist.267 Durch ihre Autoritätshörigkeit scheint die Dialogfigur erneut einen Negativkontrast zu bilden zu dem, worauf es Cicero als Autor ankommt:268 non enim tam auctoritatis in disputando quam rationis momenta quaerenda sunt. quin etiam obest plerumque iis qui discere volunt auctoritas eorum qui se docere profitentur; desinunt enim suum iudicium adhibere, id habent ratum quod ab eo quem probant iudicatum vident. Denn bei wissenschaftlichen Untersuchungen soll man nicht so sehr nach einer Autorität, als vielmehr nach der Schlagkraft der Beweisführung fragen. Ja meistens ist die Autorität der als Lehrer auftretenden Männer für die Lernwilligen sogar schädlich. Denn sie verzichten dann auf ihr eigenes Urteil und halten die Lösung eines von ihnen akzeptierten Lehrers für die Wahrheit.

Als Vertreter einer als dogmatisch wahrgenommenen Schulrichtung steht die Dialogfigur stellvertretend für eine Art der Diskursführung, die von der sich als akademisch gerierenden Stimme des Autors bereits im Proömium entschieden 264 265 266 267 268

Cic. nat. deor. 1,43. Zur kultischen Verehrung Epikurs s. Erler 1994, S. 206f. Lucr. 5,8f.; weitere Textstellen nennt: Pease 1979, S. 292f. Cic. nat. deor. 1,56. Ebd., 1,10.

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Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero

abgelehnt wird.269 Ihr wird nicht zuletzt die Figur Cicero selbst entgegengesetzt, die von Anfang an bekundet, das eigene iudicium anzuwenden und keiner Autorität unterworfen zu sein (nulla eiusmodi adstrictum necessitate).270 Durch den Kontrast beider Figuren wird der offensichtliche Widerspruch deutlich, der sich aus der religiösen Epikurverehrung für die libertas, in die Epikur nach Überzeugung seiner Anhänger die Menschheit entlassen habe, ergeben muss. c)

Velleius’ Rang und Bildung

Trotz dieser negativen Züge wird bereits zu Beginn des Dialogs darauf hingewiesen, dass Velleius nicht irgendein Epikureer sei, sondern unter jenen eine besonders hohe Stellung innehabe.271 Indem die Epikureer ihm unter allen anderen Römern „den ersten Rang zuerkannten“ (primas deferebant), erfährt die Dialogfigur schon im Vorfeld ein hohes Maß an auctoritas als Vertreter ihres Fachs.272 Diese exponierte Stellung wird im Gespräch zweimal bestätigt: Einmal durch das Alter Ego des Autors, welches gleich zu Beginn erkennt, dass es sich in einem Gespräch mit den „führenden Vertretern dreier Schulen“ (tres enim trium disciplinarum principes) befindet.273 Eine weitere Bestätigung erfolgt nach Velleius’ Vortrag im ersten Buch durch den Hauptredner Cotta, der sich an ein Urteil über ihn erinnert, das er einst von dessen Freund L. Crassus (de L. Crasso illo familiari tuo) vernommen habe: Dieser hätte ihn bedenkenlos allen römischen Anhängern vorgezogen (te togatis omnibus sin dubio anteferret) und nur wenige griechische Epikureer mit ihm gleichgestellt (paucos tecum Epicureos e Graecia).274 Diesem Urteil folgt ein stilistisches für den gehaltenen Vortrag:275 ego autem, etsi vereor laudare praesentem, iudicio tamen de re obscura atque difficili a te dictum esse dilucide, neque sententiis solum copiose sed verbis etiam ornatius quam solent vestris. Auch wenn ich mich scheue, einen Anwesenden zu loben, muss ich trotzdem feststellen, dass du über ein nicht leicht durchschaubares, schwieriges Problem einleuchtend gesprochen hast, und dein Vortrag zeigte nicht nur eine Fülle von Gedanken, sondern auch eine Schönheit des Stils, die den Vertretern eurer Schule im Allgemeinen abgeht.

269 270 271

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Cic. nat. deor. 1,10; vgl. Fox 2007, S. 4. Cic. nat. deor. 1,17. Ebd., 1,15; zum hohen Rang der drei Hauptredner von De natura deorum: vgl. Levine 1958, S. 147. Vgl. Begemann 2012, S. 102. Cic. nat. deor. 1,16. Ebd., 1,58. Ebd.

De natura deorum

315

Ausdrücklich wird der verständliche Charakter seines Vortrags gerühmt (a te dictum esse dilucide), dessen stilistische Schönheit das übertreffen würde, was seine Mitschüler sonst leisten würden (verbis ornatius quam solent vestri). Dass er die Schule Epikurs auch inhaltlich kompetent vertreten habe, wird dadurch deutlich, dass Cotta ihn gleich darauf direkt mit dem Epikureer Zenon vergleicht.276 Das Lob bestätigt nicht nur die in der Einleitung vorgestellte Charakterisierung des Velleius als geeigneter Sprecher für den Dialog, es stellt ihn darüber hinaus auch in eine Reihe mit den griechischen Vertretern jener Philosophie, mit denen er inhaltlich gleichziehe und die er stilistisch sogar noch übertreffe. Die Dialogfigur, deren polemischer Vortrag im Folgenden argumentativ widerlegt wird, stellt für Cicero keineswegs einen besonders schlechten Vertreter seiner Zunft dar, sondern einen – dieser Eindruck soll durch die Dialogszenerie entstehen –, der mit den griechischen Lehrern mithält und somit auch die Realisierbarkeit eines philosophischen Diskurses in lateinischer Sprache verkörpert. Dieser Wesenszug steht in einem engen Zusammenhang zu Ciceros kultureller Bildungsintention, mit seinen philosophischen Werken einen Beitrag dazu zu leisten, dass seine Mitrömer auch im Bereich der Philosophie mit den noch überlegenen Griechen gleichzögen oder diese gar überträfen.277 Trotz der Tatsache, dass Velleius am wenigsten Zuspruch bei seinen Gesprächspartnern erntet und gegenüber diesen auf verlorenem Posten zu stehen scheint, möchte Cicero die Figur nicht als schlechten Römer verstanden wissen. Dies zeigt auch das Urteil des Balbus, als er den Spott der Epikureer gegen die Stoiker als unangebracht rügt:278 Ita salem istum, quo caret vestra natio, in inridendis nobis nolitote consumere, et mehercule si me audiatis ne experiamini quidem; non decet non datum est non potestis. nec vero hoc in te unum convenit moribus domesticis ac nostrorum hominum urbanitate limatum, sed cum in reliquos vestros tum in eum maxime qui ista peperit, hominem sine litteris, insultantem in omnes, sine acumine ullo sine auctoritate sine lepore. Hört also auf, euren Witz, der eurer Sippschaft ohnehin abgeht, damit zu verschwenden, uns zu verspotten, und, beim Hercules, wenn ihr auf mich hörtet, würdet ihr es auch gar nicht erst versuchen. Es gehört sich nicht, es ist euch nicht gegeben, ihr könnt es nicht. Dies trifft zwar nicht auf dich zu, der du wie kein zweiter durch die häuslichen Traditionen und die Weltläufigkeit unserer Landsleute geschliffene Umgangsformen erworben hast, wohl aber auf eure übrigen Vertreter und erst recht auf den, der diese Lehre erfunden hat, ein Mann ohne theoretische Bildung, der ohne jeden Scharfsinn, ohne Autorität und ohne Humor über alle herfällt.

276 277 278

Cic. nat. deor. 1,59. Hierzu ausführlicher und mit Belegen: Gawlick/Görler 1994, S. 1018f. Cic. nat. deor. 2,74.

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Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero

Balbus, der mit Epikur und Velleius nicht minder polemisch umgeht, differenziert klar zwischen dem griechischen Schulgründer und seinem römischen Anhänger, der über die urbanitas verfüge, an der es Epikur genauso mangele wie an litterae, acumen, auctoritas und lepos.279 Trotz seiner Angriffslustigkeit wird er vom Vorwurf explizit ausgenommen, mit den anderen Gesprächsteilnehmern seinen Spott zu treiben (in inridentis nobis) oder sie gar verbal zu beleidigen (insultantem in omnes).280 Als kultivierter römischer Senator, als Mann von Witz und Bildung, wird der römische Epikureer als seinem Schulgründer mindestens ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen dargestellt. Diese Eigenschaften, welche auf die schon in De oratore präsente Gesprächsethik rekurrieren, werden von Velleius auch verkörpert, der zwar, wie gezeigt, gegen die griechischen Philosophen teils überaus scharf polemisiert, seine Gesprächspartner selbst jedoch nie persönlich angreift. Am Ende seines Vortrags äußert er mit Blick auf diese sogar die Befürchtung, zu lange gesprochen zu haben (ne longior fuerim), und gesteht, zu wenig zugehört zu haben (non tam dicendi ratio mihi habenda fuit quam audiendi).281 Auf diese Weise wird am Ende ein von Höflichkeit geprägtes Bild von der Person gezeichnet, das im scharfen Kontrast zum selbstbewussten Anfang der Rede steht.282 Dieses zeigt sich erneut zu Beginn des zweiten Buches, als er zwar selbstbewusst verkündet, dass er einen einfachen Redner oder Akademiker nicht gefürchtet hätte, jedoch anerkennend hinzufügt, dass Cotta beide Professionen vereine und darin geglänzt habe (valuisti).283 Auch die Ankündigung, nun den Vortrag des Balbus anzuhören, erfolgt nicht ohne den höflichen Einschub „wenn es ihm selbst recht ist“ (si ipsi commodum est).284 Der von ihm im Gespräch gebrauchte Umgangston lässt den römischen Aristokraten in Velleius erkennen, auf dessen Mitgliedschaft im Senat schon in der Überleitung zum Dialog hingewiesen wird (et cum C. Velleio senatore disputantem).285 Die Dialogfigur zeigt sich damit zwar nicht als von Cotta zur Akademie bekehrt, doch räumt sie ihre Niederlage gegen dessen Vortrag ein, der mit einer Gerichtsrede parallelisiert wird.286 Das Eingeständnis der eigenen argumentati279

280 281 282 283 284 285 286

Die auctoritas, von der Balbus hier spricht, bezieht sich auf Epikurs Stellung als Philosoph. Pease verweist dabei auf die auctoritas des Pythagoras, von der im Proöm (nat. deor. 1,10) die Rede ist: Pease 1979, S. 744. Vgl. auch Cic. nat. deor. 1,17: inquit adridens – „fuhr er lächelnd fort.“ Cic. nat. deor. 1,56. Vgl. Pease 1979, S. 343. Cic. nat. deor. 2,1. Ebd., 1,1. Ebd., 1,15. Vgl. Schäublin 1990, S. 94. Die dabei zum Ausdruck kommende schultypische Ablehnung der forensischen Rhetorik, auf die Spahlinger aufmerksam macht, verdeutlicht, dass Velleius die Rolle des Epikureers nicht verlassen hat: Spahlinger 2005, S. 69f.

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ven Schwäche verdeutlicht die Überlegenheit des Modells des philosophisch gebildeten Redners, das durch die Dialogfigur Cotta verkörpert wird. Gegenüber der von Balbus vertretenen Stoa äußert Velleius keine anerkennenden Worte, sondern nur seine freudige Erwartung auf den Gegenvortrag (quanta cum expectatione, Cotta, sim te auditurus).287 Am Ende des Dialogs setzt er noch eine ironische Bemerkung gegen den stoischen Glauben an die Traumdeutung drauf.288 d)

Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Dialogfigur des Velleius maßgeblich durch eine Ambivalenz geprägt ist: Einerseits zeigt sie das stereotype Bild eines selbstbewussten und dogmatischen Epikureers, der im Widerspruch zu der philosophischen Praxis steht, die Cicero vorschwebt. Andererseits fügt sie sich trotz vieler verbaler Ausfälle in das ethische Konzept, das dem ciceronischen Dialog zugrunde liegt. Als römischer Aristokrat, als Gast und Freund Cottas unterliegt Velleius bestimmten Regeln der Konversation, die unter anderem keine persönliche Beleidigung anderer Gesprächsteilnehmer erlauben. Obwohl er in der Debatte klar als Sprecher der schwächeren Position konzipiert ist, soll der Eindruck bestehen bleiben, dass es sich bei ihm um einen ranghohen Vertreter seiner Zunft handelt. Seine Schwäche ist dabei nicht nur philosophischer Natur, sondern auch rhetorischer, da er als Redner erscheint, der – wie in De oratore bereits antizipiert wurde – keine Ausbildung in der forensischen Rhetorik gehabt hat. Über die historische Vorlage ist wenig bekannt, doch lässt sich folgern, dass diese – wie Cotta – in engem Kontakt mit dem Hauptredner Crassus aus De oratore stand, wodurch der Personenkreis von De natura deorum den Eindruck erweckt, aus dem des vorherigen Werks hervorgegangen zu sein. Die Überzeichnung der Figur als strenger Epikureer, welche sich in ihrem forschen und sich selbst demaskierenden Auftreten widerspiegelt, attestiert Cicero eine nicht allzu große Sympathie für die Dialogfigur.289

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289

Cic. nat. deor. 3,2. Ebd., 3,95: Quippe, inquit Velleius, qui etiam somnia putet ad nos mitti ab Iove, quae ipsa tamen tam levia non sunt quam est Stoicorum de natura deorum oratio. – „Besonders, da er ja glaubt“, warf Velleius ein, „dass Iupiter uns auch die Träume schickt, zumal gerade die nicht so belanglos sind wie die Lehren der Stoiker über das Wesen der Götter.“ Vgl. Spahlinger 2005, S. 81f. Die Untersuchungen zu Atticus und Torquatus, den beiden anderen epikureischen Gesprächspartnern im ciceronischen Dialoguniversum, legen dabei nahe, dass diese Distanz nicht allein durch seine entschiedene Ablehnung jener Philosophenschule erklärt werden kann.

318

Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero

2.3

Q. Lucilius Balbus

a)

Historische Persönlichkeit

Über die historische Persönlichkeit des Q. Lucilius Balbus lassen sich nicht mehr Aussagen treffen als zu der des Velleius. Dass es sich auch bei ihm um einen Politiker senatorischen Rangs handelte, wird in der Forschung als wahrscheinlich angesehen, ein eindeutiger Beleg fehlt jedoch.290 Hinsichtlich einer Senatssitzung aus dem Jahr 162 sowie Himmelserscheinungen des Jahres 129 stützt er sich in De natura deorum zweimal auf Aussagen seines uns ebenfalls nicht näher bekannten Vaters, der als Senator die Zeit der Gracchen zumindest teilweise erlebt hatte, von der die Dialogfigur selbst keine Erinnerungen hat.291 Über den Todeszeitpunkt des Balbus schweigen unsere Quellen.292 Angaben über seine philosophische Bildung stammen alle aus dem ciceronischen Werk und müssen daher mit Vorsicht betrachtet werden. Auffallend ist, dass er und L. Lucilius Balbus, sein jüngerer Bruder oder Vetter,293 in De oratore als Negativbeispiele für eine einseitige philosophische Bildung dienen, denen ein umfassend ausgebildeter oder praktisch erfahrener Redner überlegen sei (qua in disputatione ego his debeam aut vestrum quisquam concedere).294 Da von den im gleichen Atemzug genannten Stoici – Sex. Pompeius, M. Vigellius und der Bruder L. Lucilius Balbus – ebenfalls keine herausragende politische Karriere bekannt ist, scheinen die von Crassus vorgebrachten Beispiele auch für Römer zu stehen, die nicht nur hinsichtlich der rhetorischen Ausbildung, sondern auch mit Blick auf eine rege politische Betätigung wenig Ehrgeiz besessen hatten oder denen dabei der Erfolg versagt blieb.295 b)

Balbus als Stoiker

Der Vortrag des Balbus über die stoische Theologie dominiert das gesamte zweite Buch. Wohl auch aufgrund der Tatsache, dass der Autor gegenüber der Stoa deutlich weniger Ablehnung empfand als gegenüber Epikur, steht ihm damit erheblich mehr Raum zur Verfügung als Velleius, dessen polemischer Vortrag 290 291

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S. hierzu: Syme 1955, S. 65; Gruen 1974, S. 519; Ducos 1994a, S. 54. Cic. nat. deor. 2,11 u. 2,14. Münzer folgert daraus, dass jener Lucilius Balbus bereits 168 Senator gewesen sein könnte: Münzer 1927a, Sp. 1639f. Als unwahrscheinlich gilt seit Längerem, dass Balbus im Dialog Hortensius auftrat: Pease 1979, S. 28, Anm. 11. Bei ihm handelt es sich nach Syme möglicherweise um L. Lucilius L. f., den Statthalter der Provinz Asia von 90: Syme 1955, S. 65. Eine Erwähnung als Redner findet sich im Brutus: Cic. Brut. 154. Cic. de orat. 3,78. Gruen vermutet, dass es sich bei den Lucilii Balbi um sogenannte pedarii, d. h. politisch bedeutungslose Senatsmitglieder gehandelt habe: Gruen 1974, S. 519.

De natura deorum

319

noch im ersten Buch eine Antwort erhielt.296 Seine Rede folgt einer nachvollziehbaren, viergliedrigen Struktur, der sich auch die Vertreter seiner Schule bedienen würden (omnino dividunt nostri totam istam […] in partis quattuor) und die er am Anfang seines Vortrags darlegt.297 Eine methodisch sinnvolle und dem Leser entgegenkommende Disposition verrät somit, dass er mit dem Nachweis der Existenz der Götter beginnen werde, mit einer Beschreibung ihrer Eigenschaften sowie der Lenkung der Welt durch die Vorsehung fortfahren und mit der göttlichen Fürsorge um den Menschen enden werde.298 Der deutlich längere Vortrag des Balbus, dem Süß einen „warmen Predigerton“ attestierte299, verfügt dabei im Gegenzug zu Velleius’ Rede grundsätzlich, wie Cotta zu Beginn des dritten Buches feststellt, über einen angemessenen und kohärenten Charakter (tamen apta inter se et cohaerentia).300 Durch seinen zusammenhängenden Lehrvortrag unterscheidet er sich auch von seinem skeptischen Gesprächspartner, der zu Beginn des dritten Buchs bereits zu einem sokratischen Frage-Antwort-Muster wechselt und dessen Vortrag erst aus dem Gespräch heraus erfolgt. Interessant ist dabei, dass Balbus sich für Cottas dialektisches Vorgehen offen zeigt.301 Bereits der Aufbau der Rede, der einer nachvollziehbaren Logik folgt und die stoische Doxographie in den Vordergrund stellt, bildet einen deutlichen Kontrast zum Vortrag des Velleius. Zwar verrät der Gebrauch von Suggestivfragen auch in seinem Fall einen rhetorischen Charakter der Rede (quis enim […] putat?)302, doch zeigt sich daneben die deutliche Tendenz, mittels einer Vielzahl von Einzelbeispielen und Beweisen argumentativ überzeugen zu wollen.303 Anders als Velleius und Cotta im ersten Buch greift Balbus hierbei häufig auf historische Beispiele zurück, die er bevorzugt der römischen Geschichte entnimmt. Anhand dieser wird nicht nur die hohe Geltungskraft der Religion bei den Vorfahren als Modell für die Gegenwart dargelegt (apud maiores tanta religionis vis fuit)304, sondern auch die Kompatibilität der stoischen Philosophie mit der römischen Kultur impliziert. Die Dialogfigur kann

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Vgl. Gawlick/Görler 1994, S. 1044. Cic. nat. deor. 2,3. Ebd., 2,4–44, 45–72, 73–153, 154–168; zum Charakter der Disposition s. Spahlinger 2005, S. 82f. Süß 1971, S. 170. Cic. nat. deor. 3,4. Dass es sich bei Cottas Aussage nicht um eine Höflichkeitsfloskel handelt, sondern der Vortrag dies nach den für Ciceros philosophische Anschauung entscheidenden Kriterien auch erfüllt, hat Gorman detailliert nachgewiesen: Gorman 2005, S. 142–168. Cic. nat. deor. 3,4. Hierin unterscheidet er sich von der Darstellung des stoischen Referenten Cato Uticensis in De finibus 3 und 4. Zu dieser Stelle s. auch Gorman 2005, S. 135. Cic. nat. deor. 2,6. S. hierzu auch Spahlinger 2005, S. 83. Cic. nat. deor. 2,10.

320

Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero

dabei in zwei Beispielen, einem unheilvollen Todesfall unter dem zweiten Konsulat des Tiberius Gracchus (dem Vater des Volkstribuns) und bei der Doppelsonne im Todesjahr des Scipio Aemilianus, seinen eigenen Vater als Zeitzeugen und Quelle (ut e patre audiebam […] ut e patre audivi) anführen.305 Ein weiteres Charakteristikum des Vortrags, das in einem deutlichen Kontrast zu dem des Velleius steht, stellt die Verwendung von Dichterzitaten dar, auf die jener aufgrund der Ablehnung der durch sie transportierten Göttervorstellungen völlig verzichtet hatte. Zwar erkennt Balbus die den Heroen beigestellten Götter als Fiktion, doch handeln die Dichter darin nicht völlig falsch, da die von ihnen beschriebenen Einzelpersönlichkeiten der Geschichte selbst einen Beleg für die Fürsorge der Götter liefern.306 So zitiert er bereits am Anfang seiner Rede zwei Verse aus Ennius’ Thyestes und den Annales, die auf den höchsten Gott Jupiter Bezug nehmen.307 Neben Accius, Pacuvius und Terenz greift er gegen Mitte des Vortrags verstärkt auf Arats Phainomena zurück,308 die ihm nun, wie er ausdrücklich hervorhebt, durch die Übersetzung Ciceros auf Latein zur Verfügung stünden und ihm Freude bereiten würden (ita me delectant, quia Latina sunt).309 Dass gerade dieses Lehrgedicht von Balbus besonders ausgiebig zitiert wird, hängt nicht zuletzt mit der Tatsache zusammen, dass Arat selbst von der Stoa zumindest beeinflusst gewesen war. 310 Dem lässt sich hinzufügen, dass eben jenes Werk das Einbinden der Person des Autors erlaubt. Die Dichtung verweist im Rahmen des philosophischen Dialogs nicht zufällig auf eine ars, die zum Zeitpunkt des dramatischen Datums bereits in Form von Übersetzungen in der römischen Kultur präsent war, während der philosophische Diskurs in lateinischer Sprache erst durch das Werk De natura deorum selbst angeregt werden soll. c)

Balbus’ Umgang mit philosophischen Autoritäten

Ein weiterer Unterschied zu Velleius besteht in der Verwendung der philosophischen Autoritäten. Während jener seinen chronologischen Überblick philosophischer Meinungen über die Götter instrumentalisierte, um gegenüber allen anderen Autoritäten auszuteilen und Epikur als zentrale Gestalt der Menschheitsgeschichte herauszustellen, bedient sich Balbus der gegenteiligen Methode: Er beruft sich nicht nur auf die eigenen Autoritäten Zenon, Kleanthes und Chrysipp, 305 306

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Cic. nat. deor. 2,10, 14. Ebd., 2,165f.; zum unterschiedlichen Umgang beider philosophischer Systeme mit der Dichtung s. Spahlinger 2005, S. 88–95. Cic. nat. deor. 2,4: Ennius Thyestes fr. 345 Vahlen = 153 Jocelyn; Ennius, Ann. fr. 581 Vahlen = 592 Skutsch; zum Kontext s. Spahlinger 2005, S. 88, Anm. 83 u. 84. Cic. nat. deor. 2,104–114. Ebd., 2,104. Vgl. Spahlinger 2005, S. 92f.; zur Person des Arat und seiner Verbindung zur Stoa: Pohlenz 1984, S. 25 u. S. 169f.; Spahlinger 2005, S. 93, Anm. 93.

De natura deorum

321

sondern greift, wann immer es ihm möglich ist, auch auf Sokrates, Platon oder Aristoteles zurück. 311 Die Verbundenheit der eigenen Schule zur sokratischen Tradition wird gegen Ende seines Vortrags suggeriert:312 magnis autem viris prosperae semper omnes res, si quidem satis a nostris et a principe philosophiae Socrate dictum est de ubertatibus virtutis et copiis. Für tüchtige Männer jedoch nimmt alles stets einen glücklichen Verlauf, jedenfalls wenn die Philosophen unserer Schule und auch Sokrates, die größte philosophische Autorität, die segensreichen Möglichkeiten der Tugend zutreffend dargestellt haben.

Während Balbus einerseits versucht, möglichst bedeutende Philosophen für die Position der Stoa zu vereinnahmen, grenzt er sich andererseits von Akademikern, denen er „böswillige Kritik“ (Academicorum calumniam) unterstellt 313 , aber auch von Demokrit, Epikur und denjenigen, die die Existenz der Götter gänzlich ablehnen, deutlich ab.314 Einem mit Velleius’ Rede vergleichbaren polemischen Grundton wird jedoch nur Epikur ausgesetzt, der zum Ziel einiger Seitenhiebe wird. 315 Diese arten mitunter zu zu heftiger Kritik aus, die verglichen mit der Cottas unsachlicher wirkt, etwa wenn er Velleius’ Spott über die von Platon als vollkommen angesehene Kugelform aufgreift316 und nun selbst diesen sowie dessen Seite verspottet, über keinerlei wissenschaftliche Bildung zu verfügen (vos plane expertes esse doctrinae).317 Von der Bildung der Epikureer heißt es weiter:318 Nam vobis Vellei minus notum est quem ad modum quidque dicatur; vestra enim solum legitis vestra amatis, ceteros causa incognita condemnatis. velut a te ipso hesterno die dictumst anum fatidicam Pronoean a Stoicis induci id est Providentiam. quod eo errore dixisti, quia existumas ab is providentiam fingi quasi quandam deam singularem, quae mundum omnem gubernet et regat. Ihr lest und liebt ja bloß eure eigenen Schriften; alle anderen verurteilt ihr, ohne überhaupt den von ihnen verfochtenen Standpunkt zu kennen. Zum Beispiel hast du selbst gestern behauptet, die Stoiker führten ein schicksalkündendes altes Weib, die Pronoia, ein, das heißt die Vorsehung. Dabei bist du einem Irrtum auf-

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S. hierzu Spahlinger 2005, S. 84–87. Cic. nat. deor. 2,167. Ebd., 2,20; zu diesen rechnet er auch Cotta: 2,147. Ebd., 2,76. Etwa ebd., 2,61, 73, 160. Ebd., 1,24. Ebd., 2,47. Ebd., 2,73.

322

Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero gesessen, da du annimmst, sie würden sich die Vorsehung gewissermaßen als eine besondere Gottheit vorstellen, die das Weltall lenke und führe.

Der gängige Vorwurf gegenüber den Epikureern, wonach diese nur die eigenen Schriften lesen würden, rekurriert dabei auf die im Proömium des ersten Buchs geäußerte Kritik an einem dogmatischen Diskussionsstil. 319 Die anschließende Überführung des Velleius, der als pars pro toto für die Anhänger Epikurs genannt wird und auf dessen polemische Vortragseröffnung er sich hierbei bezieht, veranschaulicht diesen Mangel: Sein Vergleich der Pronoia mit einer anus fatidica gehe zurück auf eine nur oberflächliche Kenntnis der stoischen Philosophie. Zwar attackiert Balbus den epikureischen Vertreter mitunter heftig, doch grenzt er den römischen Vertreter auch von der Person des Schulgründers und den übrigen Anhängern seiner Schule ab, wie oben gezeigt wurde.320 Mit Blick auf die Gesamtlänge des Vortrags sind Polemiken gegen andere Schulmeinungen eher die Ausnahme, wodurch sich die Person des Balbus stark von der des Velleius unterscheidet. d)

Bildung und römischer Charakter

In der Einleitung von De natura deorum wird die Dialogfigur des Balbus als römischer Stoiker vorgestellt, der sich inzwischen soweit in die Materie vertieft habe (qui tantos progressus habebat in Stoicis), dass er den griechischen Vertretern der Lehre in nichts mehr nachstehe (ut cum excellentibus in eo genere Graecis compararetur).321 Wie zuvor bei Velleius wird dadurch eine Gleichrangigkeit suggeriert. Um die Glaubwürdigkeit des Referenten zu steigern, wird auch in seinem Fall auf persönliche Kontakte zu griechischen Intellektuellen hingewiesen: So wird deutlich, dass ihm Antiochos von Askalon ein Buch zugeschickt hat, in dem er die These vertritt, dass Stoa und Peripatos sich nur in ihren Formulierungen unterscheiden würden.322 Des Weiteren verweist Balbus auf den stoischen Philosophen und Geographen Poseidonios, der erst „neulich“ (nuper) einen Himmelsglobus entworfen habe und als familiaris nosteri genannt wird323, wodurch sich zudem eine weitere Verbindung zwischen der Dialogfigur und dem

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323

Cic. nat. deor. 1,10. S. oben S. 313f. Cic. nat. deor. 1,15. Ebd., 1,16. Zu dieser Schrift, die vermutlich um 78 v. Chr. entstanden ist, fehlen weitere Belege; vgl. Görler 1994, S. 946. Spahlinger 2005, S. 96 sieht darin ein Indiz, dass es sich bei Balbus um einen herausragenden Stoiker seiner Zeit gehandelt haben könnte. Dies lässt sich jedoch nicht durch dialogexterne Quellen bestätigen, zudem kann aus dem Umstand einer Widmung oder Adressierung nicht automatisch auf eine besondere Expertise des Empfängers geschlossen werden. Cic. nat. deor. 2,88.

De natura deorum

323

Autor ergibt, der sowohl den Antiochos als auch den Poseidonios als seine Lehrer nennt.324 Mit Blick auf seine rhetorische Bildung fällt auf, dass die Dialogfigur dem bereits in De oratore gezeichneten Bild verhaftet bleibt, das ihn als Redner mit einer einseitig philosophischen und ohne rhetorische Ausbildung präsentierte.325 Diese Charakteristik wird gegenüber dem Gesprächspartner Cotta deutlich, dem er während der Behandlung der Rhetorik seine offene Bewunderung entgegenbringt:326 De quo dum disputarem tuam mihi dari vellem Cotta eloquentiam. quo enim tu illa modo diceres, quanta primum intellegentia deinde consequentium rerum cum primis coniunctio et comprehensio esset in nobis. Während meiner Ausführungen über dieses Thema wünschte ich mir, mein Cotta, ich besäße deine Wortgewalt. Denn wie würdest du darüber reden! Erstens würdest du zeigen, wie scharf unsere Intelligenz ist, dann, welche Fähigkeit in uns steckt, die Folgen mit ihren Ursachen zu verbinden und zusammenzufassen.

Balbus erkennt bei Cotta damit eine eloquentia, die er selbst nicht besitzt, weshalb er sich ihn auf Seiten der Stoa wünscht. Die Rhetorik selbst wird von ihm im Folgenden hinsichtlich ihrer zivilisatorisch-kulturgeschichtlichen Bedeutung panegyrisch hervorgehoben.327 Er bedient sich dabei auch selbst immer wieder Mittel wie rhetorischer Fragen, um seinen Vortrag aufzuwerten.328 Dahingehend erhält er später von Cotta nicht nur Lob aufgrund seiner auctoritas, sondern auch für seine Rede.329 Allerdings wird er von ihm auch auf den ausartenden Charakter seines Vortrags angesprochen; es erscheint Cotta verdächtig, dass er für einen angeblich unbestreitbaren Punkt so viele Worte benötigt hat.330 In seiner Antwort rechtfertigt Balbus die Länge seines Vortrags damit, dass er selbst oft erlebt habe, wie Cotta auf dem Forum einen ausartenden Einsatz von Beweisen (quam plurimis 324 325 326 327

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So etwa in der Einleitung: Cic. nat. deor. 1,6. Cic. de orat. 3,78. Cic. nat. deor. 2,147. Ebd., 2,148: haec nos iuris legum urbium societate devinxit, haec a vita imani et fera segregavit. – „Sie hat uns durch das gemeinsame Band des Rechts, der Gesetze und des städtischen Wohnens vereint, sie hat uns von einer wilden, unzivilisierten Lebensweise abgebracht.“; vgl. hierzu das Lob des Crassus auf die Rhetorik: Cic. de orat. 1,33. Besonders deutlich lässt sich dies an der schon behandelten Schelte Epikurs (Cic. nat. deor. 2,74) erkennen: non decet, non datum est, non potestis […]. Auch in 2,138 zeigt sich das Bemühen des Balbus, indem er um der Erfreulichkeit seines Vortrags willen seine inhaltlichen Ausführungen kürzt. Cic. nat. deor. 3,5. Ebd., 3,8.

324

Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero

posse argumentis) gebrauchte, wenn die causa es zuließ.331 In dem Zusatz, dass dieses Vorgehen auf Philosophen zurückgehe und er es daher so gut er konnte selbst gebraucht hat (ego ut potui feci), schwingt eine bescheidene Differenzierung zwischen jenen und seiner eigenen Person mit, die auf eine innere Diskrepanz zwischen dem Römer Balbus und den griechischen Stoikern verweist.332 Dass der Referent über die Lehre der Stoa auch über ein dezidiert römisches Profil verfügt, wird durch seine Haltung zur römischen Religion noch weiter verdeutlicht. Als Verteidiger der heimischen Bräuche fürchtet er, dass Cottas Kritik nicht nur die Lehre der Stoa unterminieren, sondern damit zugleich auch am kultischen Fundament der res publica rütteln könnte, sodass er sich in seinem Schlusswort nochmals explizit an seinen Gesprächspartner wendet:333 tu autem Cotta si me audias eandam causam agas teque et principem civem et pontificem esse cogites et, quoniam in utramque partem vobis licet disputare, hanc potius sumas eamque facultatem dissenrendi, quam tibi a rhetoricis exercitationibus acceptam amplificavit Academia, potius huc conferas. mala enim et impia consuetudo est contra deos disputandi, sive ex animo id fit sive simulate. Wenn aber du, mein Cotta, auf mich hören willst, dann sollst du meinen Standpunkt übernehmen und dabei bedenken, dass du ein prominenter Bürger und auch Pontifex bist; und weil ihr ja sowohl für als auch gegen eine Sache argumentieren dürft, solltest du dich jetzt lieber meiner Position anschließen und deine dialektischen Fähigkeiten, die du durch dein Rhetorik-Studium noch gesteigert hast, besser dafür einsetzen. Denn verwerflich und skrupellos ist die Angewohnheit, gegen die Götter zu reden, gleichgültig, ob man es aus Überzeugung tut oder bloß zum Schein.

Während Balbus einerseits das rhetorisch-philosophische Profil des Cotta als eine ideale Mischung herausstellt, erinnert er andererseits an den römischen Kontext des Gespräches. Seine Bedenken gegenüber dem akademischen Gesprächspartner, der eben nicht nur Philosoph, sondern auch einer der angesehensten römischen Bürger und Oberpriester (principem civem et pontificem) sei, können als Vorlage für diesen gesehen werden, indem sie einen Rahmen für eine gesonderte Problematisierung des interkulturellen Aspekts schaffen.334 Der Diskurs über die Vereinbarkeit akademischer Philosophie mit den traditionellen Aufgaben der römischen Führungsschicht ist dabei vom Autor intendiert, der sich selbst in der Realität mit dieser Fragestellung konfrontiert sah. Die Dialogfigur, die für eine konservativere Leserschaft das Wort zu ergreifen scheint,

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Cic. nat. deor. 3,8. Hierzu Pease 1979, S. 989: „modestly detaching himself from the professionals.“ Cic. nat. deor. 2,168; vgl. 2,2. Diese erfolgt relativ bald nach Beginn des dritten Buches am Anfang von Cottas Rede: Cic. nat. deor. 3,5.

De natura deorum

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bildet hinsichtlich ihres Traditionalismus einen klaren Gegenpol zu Velleius und Cotta, wodurch sich letzterer als Vertreter des Autors der Frage widmen muss. e)

Zusammenfassung

Es lässt sich somit konstatieren, dass die Dialogfigur des Balbus in einem deutlichen Kontrast zu seinem epikureischen Gesprächsteilnehmer gezeichnet wird. Während Velleius versuchte, mittels starker Polemik zu überzeugen, setzt Balbus auf einen strukturierten Vortrag und auf eine große Menge von Einzelbelegen. Beide haben allerdings gemein, dass Cicero mit ihnen philosophierende Römer sprechen lässt, die nicht nur einer Neigung zur Philosophie nachgehen, sondern darin so gebildet sind, dass sie den ehemals überlegenen Griechen gleichkommen. Er präsentiert demnach die stoische Lehre der Götter in einer Weise, die sie für den Leser interessant machen soll, wenn er sich auf exempla aus der römischen Geschichte stützt oder die Vereinbarkeit der stoischen Lehre mit den römischen Bräuchen suggeriert, die der akademischen Skepsis jedoch hinterfragt. Zugleich wird an die Bildungsthematik aus De oratore erinnert. Balbus zollt dem philosophisch und rhetorisch gebildeten Cotta Anerkennung, doch würde er ihn lieber auf seiner Seite sehen als von ihm eine Gegendarstellung zu erfahren.

2.4

M. Tullius Cicero

a)

Cicero als passiver Zuhörer und adulescens

Indem die Dialogfigur Cicero in De natura deorum weitestgehend passiv agiert – sie meldet sich lediglich zweimal zu Wort –, kommt ihr mit Blick auf das Gesamtwerk eine Sonderstellung zu, da nur hier die Präsenz der Figur des Autors nicht mit einem hohen Anteil am Gespräch einhergeht. Zum Dialogzeitpunkt ist sie zwischen 29 und 30 Jahre alt und steht damit kurz vor dem Beginn ihrer Ämterlaufbahn.335 Als vermutlich jüngster Teilnehmer des Gesprächs fungiert sie als Augenzeuge des Treffens im Haus des Cotta während der feriae Latinae, von dem Cicero dem Widmungsträger M. Iunius Brutus berichtet, und bildet somit eine Brücke zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit.336 Bereits in ihrer Bestandsaufnahme beim Übergang von der Einleitung zum Dialog stellt der Autor die persönliche Verbindung zwischen ihm und dem Protagonisten des Gesprächs heraus, indem er diesen als familiaris meus einführt und erwähnt, auf „dessen Bitte und Einladung“ (ipsius rogatu arcessituque) hin dem Personen-

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Vgl. Bringmann 2010, S. 48. Vgl. Begemann 2012, S. 24.

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Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero

kreis beigewohnt zu haben.337 Mit dem Auftritt des literarischen Cicero in dem erlesenen Kreis wird darauf hingewiesen, dass das philosophische Gespräch zwischen Cotta und Velleius bereits ohne ihn angefangen hat.338 Als Cotta ihn mit der Feststellung begrüßt, dass er „genau im rechten Moment“ gekommen sei (Peroportune […] venis), da das Streitgespräch sich gut mit seinem Interesse vertragen würde (cui pro tuo studio non est alienum te interesse), entgegnet er:339 Atqui mihi quoque videor […] venisse, ut dicis, oportune. tres enim trium disciplinarum principes convenistis. M. enim Piso si adesset, nullius philosophiae, earum quidem quae in honore sunt, vacaret locus. Ja, auch ich habe den Eindruck […] als sei ich, wie du sagst, im rechten Moment gekommen. Mit euch sind hier ja die führenden Vertreter dreier Schulen zusammengekommen. Wäre nun auch noch Marcus Piso dabei, würde kein Repräsentant der heute anerkannten philosophischen Richtungen fehlen.

Der Autor projiziert sich mittels seines Alter Ego als Teilnehmer in einen philosophischen Kreis, in dem die Rollen der führenden Philosophen (disciplinarum principes) gänzlich von römischen Standesgenossen eingenommen werden. Während der Autor gegenüber Brutus eine Lehrer-Schüler-Situation konstruiert, in der er der Lehrer ist, zeigt er sich innerhalb des dialogischen Universums selbst in einer mit einem Schüler vergleichbaren Rolle. 340 Indem Cicero sich selbst in De natura deorum – wie auch in De finibus 5 – als jungen Mann, dessen Alter zur Dialogzeit etwa dem des Cotta in De oratore oder des Tubero und Rutilius in De re publica entspricht, an einer philosophischen Diskussion teilnehmen lässt, bestätigt er nebenbei das von ihm mit Leidenschaft gepflegte Selbstbild des bereits von Jugend an der Philosophie verpflichteten Römers, welches auch im Proömium erscheint.341 Dass Cicero als adulescens eine Ver337

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Cic. nat. deor. 1,15; zum geplanten Charakter des ciceronischen Dialogs s. Becker 1938, S. 10 u. 14. Zum performativen Charakter dieser Szene: Müller 2011, S. 49. Cic. nat. deor. 1,16. Vgl. Pease 1979, S. 22–24. An der Interpretation der Cicero-Figur als Schüler äußerte Taran Kritik, der darauf hinweist, dass die Figur in De finibus 5 in noch jüngerem Alter als Diskutant auftrat: Taran 1987, S. 3. Dies ist zwar richtig, doch wird die sog. Schülerrolle auch in De oratore von Persönlichkeiten eingenommen, die bereits erste praktische Erfahrungen als Redner vorzuweisen haben. Darüber hinaus ist zwischen der Hauptfigur und Cicero selbst ein deutlicher Alters- und Rangunterschied festzustellen, der hinsichtlich der gleichnamigen Figur in De finibus 5 nicht existiert. Diese Feststellung erlaubt freilich noch keine völlig hinreichende Antwort auf die Frage, warum sich der Autor ausgerechnet in diesem Werk erstmals diese Rolle zuerkennt. Hierauf wird in diesem Kapitel noch dezidierter eingegangen. Cic. nat. deor. 1,6: Nos autem nec subito coepimus philosophari nec mediocrem a primo tempore aetatis in eo studio operam curamque consumpsimus, et cum minime

De natura deorum

327

bindung zur älteren Generationen schafft, wie bereits angesprochen wurde, scheint evident, es erklärt jedoch nicht die weitestgehend stumme und passive Präsenz der Dialogfigur, auf die an späterer Stelle nochmals zurückgekommen werden muss. Während jedoch die realen Unterweisungen bei griechischen Philosophen auf die weiter zurückliegenden Jugendjahre datiert werden, wird die fiktive philosophische Unterweisung von römischen Politikern in das Lebensalter gesetzt, bevor Cicero in die aktive Politik einsteigt, wodurch sie als Abschluss der Lehrjahre insgesamt erscheint.342 b)

Cicero als Akademiker

Dass die Dialogfigur bereits über eine philosophische Ausbildung verfügt, wird gleich zu Beginn des Dialogs deutlich gemacht, indem Velleius den Verdacht äußert, dass der Neuankömmling nicht zu seiner, sondern zu Cottas Unterstützung gekommen sei, da beide unter dem Philosophen Philon das „Nichtwissen“ (nihil scire) gelernt hätten.343 Im Anschluss tritt die Dialogfigur Cicero mit folgender Äußerung von einer aktiven Sprecherrolle im Dialog zurück:344 Quid didicerimus, Cotta viderit, tu autem nolo existimes me adiutorem huic venisse sed auditorem, et quidem aecum, libero iudicio, nulla eius modi adstrictum necessitate, ut mihi velim nolim sit certa quaedam tuenda sententia. Was wir gelernt haben, mag Cotta beurteilen. Ich möchte jedoch nicht, dass du glaubst, ich sei als sein Beistand gekommen, sondern sieh in mir nur einen Zuhörer, der frei urteilt und nicht unter dem Zwang steht, irgendeine feste Überzeugung wohl oder übel verteidigen zu müssen.

Durch den Verweis auf seine eigene Urteilskraft (libero iudicio) begegnet die Dialogfigur dem Angriff mit einem Seitenhieb auf den Vertreter der epikureischen Philosophie, deren dogmatischer Charakter ein beliebtes Ziel von Ciceros Kritik darstellt.345 Durch das demonstrative Zurücktreten in den Rang eines auditor und den Verzicht einer Teilnahme als adiutor begibt sie sich auf die Be-

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videbamur tum maxime philosophabamur. – „Ich habe freilich nicht plötzlich mit dem Philosophieren angefangen, habe auch seit frühester Jugend nicht eben wenig Mühe und Sorgfalt auf dieses Studium verwandt, und immer dann, wenn es am wenigsten danach aussah, habe ich mich am intensivsten der Philosophie gewidmet.“ Pease vermutet den ersten philosophischen Unterricht noch vor dem Jahr 90 unter dem Epikureer Phaidros. Der Unterricht bei Poseidonios auf Rhodos im Jahr 77 war vermutlich der späteste und der dem Dialogzeitpunkt nächste; vgl. Pease 1979, S. 137. Cic. nat. deor. 1,17; vgl. Dyck 2003, S. 73. Cic. nat. deor. 1,17. Vgl. Dyck 2003, S. 73f. Deutlich stellt Cicero in den Tusculanen das von ihm praktizierte skeptische Verfahren jenem gegenüber, das von der Lehrmeinung einer einzelnen Disziplin bestimmt wird: Cic. Tusc. 4,6f.

328

Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero

obachterebene und dadurch auf Augenhöhe mit dem Leser, dem Cicero die Philosophie in lateinischer Sprache näherbringen möchte.346 Dabei geht sie ihm in vorbildlicher Weise voran, indem sie jedweder dogmatischen Voreingenommenheit schon vor Gesprächsbeginn eine Absage erteilt. Die Dialogfigur verwirklicht damit die Intention des Autors, der von seinem Leser eine kritische Haltung erwartet. Dieser hatte bereits im Proömium des ersten Buches erklärt, das patrocinium der Akademie zu übernehmen347 und deutlich davor gewarnt, sich von der bloßen Autorität von Lehrenden verleiten zu lassen, da dies zu einem Aussetzen der oben erwähnten eigenen Urteilskraft (suum iudicium adhibere) vonseiten des Lernwilligen (qui discere volunt) führen würde.348 In Anbetracht der deutlichen Positionierung zur Akademie im Proömium wird das Ende von De natura deorum bekanntermaßen sehr unterschiedlich interpretiert. Auslöser der Kontroverse ist dabei der Schlusssatz:349 Haec cum essent dicta, ita discessimus, ut Velleio Cottae disputatio verior, mihi Balbi ad veritas similitudinem videretur esse propensior. Nach diesen Worten gingen wir auseinander, und zwar so, dass auf Velleius der Vortrag des Cotta wahrer wirkte, während für mich die Äußerung des Balbus mehr Ähnlichkeit mit der Wahrheit zu haben schienen.

Während es bis zu diesem Moment verlockend war, die Figur des Cotta als eigentlichen Sprecher des Autors zu sehen und die Cicero-Figur als deren Unterstützer, so lässt sich diese Sichtweise spätestens an dieser Stelle nicht mehr aufrechterhalten.350 In der Forschung sorgt die Zustimmung der Dialogfigur für den Stoiker Balbus seit geraumer Zeit für eine rege Diskussion, die im Kontext der Untersuchung des Verhältnisses zwischen Cicero, dem Autor auf der einen und Cicero, der Dialogfigur auf der anderen Seite von höchster Relevanz ist. Ältere Forschungsmeinungen gingen davon aus, dass der Autor fürchtete, sich durch Zustimmung für Cotta zu kompromittieren und die Aussage somit nicht die tatsächliche Meinung Ciceros wiedergebe.351 Dass der Autor damit rechnete, dass 346 347

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351

Cic. nat. deor. 1,7. Ebd., 1,11; zum aus der Rechtssprache entnommenen Begriff des patrocinium und den daraus erwachsenden Implikationen für das „Philosophieren“ Ciceros s. Haltenhoff 2000, bes. S. 231f. Cic. nat. deor. 1,10; vgl. hierzu auch: Gawlick/Görler 1994, S. 1025; Schofield 2008, S. 70–74. Cic. nat. deor. 3,95. Pease vergleicht Ciceros Rolle nicht ganz unzutreffend mit der eines senator pedarius im Senat, der zwar wählt, aber nicht abstimmt: Pease 1979, S. 29. Diese These wurde zuletzt von Levine verteidigt, der auf ihrer Basis auch davon ausging, dass das Werk nicht mehr zu Lebzeiten publiziert wurde: Levine 1957, S. 7– 36, bes. 17f. Einen umfassenden Überblick über die verschiedenen Forschungsinterpretationen der älteren Forschung lieferten Bringmann und der nach wie vor wichtige

De natura deorum

329

die von Cotta vorgetragene Skepsis trotz dessen gegenteiliger Versicherungen den Götterglauben zersetze, geht aus dem Eröffnungsgespräch von De divinatione klar hervor, in dem die Figur von Ciceros Bruder Quintus diesen Eindruck äußert.352 In der neueren Forschung wird dagegen betont, dass durch die finale Beurteilung kein wirklicher Widerspruch entstehe: Gawlick und Görler verweisen darauf, dass sich Cicero zwar an keine bestimmte Schulposition binde, er jedoch die stoische Vorstellung einer die Welt durchdringenden sowie die Gemeinschaft von Göttern und Menschen begründenden Vernunft „mit vollem Recht weder für bewiesen noch für widerlegt“ erachte, welche ihm selbst „im Hinblick auf Moral und Religion […] unentbehrlich“ scheine. Cicero unterscheide demnach zwischen theoretischen und praktischen Aspekten des Problems, von denen er letztere für ausschlaggebend halte.353 In diesem Fall wäre die Dialogfigur Cicero und nicht jene des Cotta das Sprachrohr des Autors. Zu einer anderen Feststellung kommt Hösle, der den Passus als Beleg dafür wertet, dass der Autor zu verstehen geben möchte, er selbst denke umfassender als die gleichnamige Dialogfigur, welche „mehr einem verbreitetem Bild des Autors als seiner Wirklichkeit entsprechen mag“.354 Eine abschließende Klärung der Position des Autors erscheint nach bisheriger Untersuchungslage nicht möglich, da sie derselbe nicht äußert. So bleibt im Dunkeln, ob er eher Cotta, der wie er selbst im Proömium den Untersuchungsgegenstand in der Einleitung als perobscura bezeichnet und letztlich die Offenheit der Untersuchung betont, oder seinem gleichnamigen Sprecher, der Balbus’ Vortrag zwar als propensior bezeichnet, jedoch keine feste Zustimmung erteilt, mehr zuneigt.355 Es kann jedoch vermutet werden, dass der Autor bewusst intendierte, zwei Akademiker mit zwei unterschiedlichen Urteilen darzustellen.356 Dass der Autor sich eine eigene Empfehlung vorbehält und eine solche stattdessen seinem jüngeren Alter Ego in den Mund legt, lässt einen Gestus der Zurückhaltung erkennen, um das iudicium dem

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354 355

356

Beitrag von Taran, der sich gegen diese Interpretation ausspricht: Bringmann 1971, S. 266–268; Taran 1987, bes. S. 17f. Cic. div. 1,8f.: sed studio contra Stoicos disserendi deos mihi videtur funditus tollere – „Aber im Eifer des Disputs gegen die Stoiker scheint er mir die Götter vollkommen aus der Welt zu schaffen“; vgl. Gawlick/Görler 1994, S. 1044. Gawlick/Görler 1994, S. 1044; gleichmaßen vermutete Leonhardt hinsichtlich weiterer Äußerungen Ciceros, dass dieser persönlich der Auffassung des Balbus näherstehe: Leonhardt 1999, S. 61f. Hösle 2006, S. 145f. Für eine Differenzierung zwischen dem Autor Cicero und der Cotta-Figur spricht auch die jüngste philosophische Untersuchung von Wynne, welche letzterem einen Skeptizismus radikalerer Ausprägung zuschreibt, ebenfalls jedoch keine Widersprüchlichkeit zwischen dem Skeptizismus des Autors und seiner finalen Äußerung feststellt: Wynne 2014, bes. S. 272. So geht etwa Pease davon aus, dass Cicero einen dogmatischen Schluss vermeiden will: Pease 1979, S. 36; vgl. DeFilippo 2000, S. 185.

330

Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero

Adressaten, dem gerade vor seiner Praetur stehenden Brutus, nicht durch seine eigene Autorität zu aufdringlich erscheinen zu lassen.357 Der Wortlaut der zitierten Stelle enthält zugleich – wie Blank-Sangmeister und Thraede anmerken – Ironie, welche den Ernst des Themas zum Schluss mildert, um eine „witzige Pointe“ zu setzen.358 Eine derartige Pointe fügt dem Charakter des offenen Endes auch eine Komponente hinzu, die zu einer weiteren Beschäftigung mit der Philosophie einzuladen scheint. c)

Cicero als Übersetzer

Darüber hinaus sei noch auf einen weiteren Aspekt der Cicero-Figur hingewiesen, der für die Figuren des Spätwerks von großer Bedeutung ist. Denn der Autor nutzt die Dialogform auch, um seine Dialogpersonen auf das eigene literarische Schaffen verweisen zu lassen. Diese direkte Art der Selbstbezugnahme und Selbstdarstellung ist nur in Dialogen möglich, in denen der Autor selbst teilnimmt. Zur Vermeidung einer allzu offenen Aufdringlichkeit findet sie in De natura deorum durch die Figur des Balbus statt, der im breiten Umfang auf Ciceros Arat-Übersetzung zurückgreift.359 Atque hoc loco me intuens: Utar, inquit, carminibus Arateis, quae a te admodum adulescentulo conversa ita me delectant quia Latina sunt, ut multa ex is memoria teneam. Und hier blickte er (Balbus) mich an und sagte: „Ich möchte Verse Arats anführen, die du als sehr junger Mann übersetzt hast und die mir, weil sie nun auf lateinisch vorliegen, so viel Freude machen, dass ich viele von ihnen auswendig weiß.“

Cicero verweist nicht nur besonders deutlich auf sein eigenes Verdienst, die Verse Arats übersetzt zu haben, sondern er verdeutlicht hier generell den allgemeinen Nutzen lateinischer Übersetzungen griechischer Texte. Indem jene auf Lateinisch vorliegen, erfreuen sie Balbus (me delectant), der sie in den folgenden Kapiteln in großem Umfang und auswendig rezitiert.360 In diesem Punkt scheint 357

358

359 360

Schofield erkennt in der Präsentation der beiden unterschiedlichen Meinungen die eigentliche „main message“, wonach Cicero bewusst das Urteil des Lesers evozieren möchte: Schofield 2008, S. 73. Auch Fox, der den Zusammenhang mit der im Proömium des ersten Buchs erteilten Absage an Autoritätsgläubigkeit betont, erkennt in dem Ende eine vom Akademiker Cicero intendierte Offenheit: Fox 2007, S. 4–7. Blank-Sangmeister/Thraede 2011, S. 410: „Vielleicht wollte Cicero am Schluß auch bloß eine witzige Pointe setzen, indem er dem (dogmatischen) Stoiker ausgerechnet auf die vorsichtige akademische Weise (ad veritatis similitudinem […] propensior) seine Zustimmung bekundete.“ Cic. nat. deor. 2,104. Ebd., 2,104–114.

De natura deorum

331

Cicero also nicht nur seine eigene Eitelkeit zu befriedigen, sondern auch seinen Kritikern antworten zu wollen, welche die Übersetzung griechischer Kulturwerke kritisch beäugten. Dass der Transfer dabei keinen Endpunkt, sondern den Beginn eines philosophischen Diskurses in lateinischer Sprache anstrebt, wird bereits in der Einleitung suggeriert:361 eoque me minus instituti mei paenitet, quod facile sentio quam multorum non modo discendi sed etiam scribendi studia commoverim. complures enim Graecis institutionibus eruditi ea quae didicerant cum civibus suis communicare non poterant, quod illa quae a Graecis accepissent Latine dici posse diffiderent. Dies in Angriff genommen zu haben, reut mich umso weniger, als ich deutlich feststellen kann, wie viele Menschen ich nicht nur zum Lernen, sondern auch zum Schreiben angeregt habe. Denn eine Reihe von ihnen hatte zwar GriechischUnterricht genommen, war jedoch nicht in der Lage, ihre Erkenntnisse an ihre Mitbürger weiterzugeben, weil sie meinten, das, was sie von den Griechen gelernt hatten, lasse sich sich auf Lateinisch nicht ausdrücken.

Der Dialog transzendiert den Prozess des Transfers, der faktisch durch die Einzelperson Cicero vollbracht wird, jedoch fiktional auf die römische Aristokratie verteilt wird, um dabei den Einstieg in die Materie zu erleichtern, was ihm – eigenen Angaben zufolge – schon durch die vorherigen Philosophica gelungen sei. d)

Zusammenfassung

Anders als in De finibus 5 erscheint die Dialogfigur Cicero als überwiegend passiver Part, doch fungiert sie allein durch ihre Präsenz in dem Haus Cottas als Verbindung zwischen den unterschiedlichen Generationen. In ihrer Rolle als stummer Zuhörer teilt sie mit dem Leser des Werkes die Beobachterposition. Zwischen dem eigentlichen philosophischen Gespräch und der Position des Autors wird dabei eine scheinbare Distanz suggeriert. Das Urteil am Ende des Werkes lässt den Leser im Unklaren, ob es das des Schriftstellers oder das seines gleichnamigen, aber über 30 Jahre jüngeren Sprechers ist, was dem Kalkül des Autors entsprochen haben dürfte. Gleichzeitig fungiert die Dialogfigur als interner Empfänger von Lob für seine Übersetzungsarbeit hinsichtlich griechischer Dichtung, wodurch auch andere Übersetzungen und indirekt bereits das philosophische Werk, das er 30 Jahre später verfassen sollte, eine Bestätigung erhalten.

361

Cic. nat. deor. 1,8.

332 3

Die Vergangenheitsdialoge mit dem jungen Cicero

Conclusio

Vergleicht man den Einsatz der Vergangenheit in den beiden untersuchten Dialogen, so lässt sich zunächst hinsichtlich der Cicero-Figur feststellen, dass ihr Gesprächsanteil in beiden Werken stark variiert, sie jedoch in beiden Fällen als Vertreter der akademischen Skepsis fungiert. In beiden Dialogen ist der Autor selbst als junger Gesprächsteilnehmer anwesend, der als Berichterstatter des Gesprächs fungiert, und in beiden ist sein Alter Ego nicht der Gesprächsführer. Seine Rolle lässt sich – um mit Genette zu sprechen – mit der des extradiegetisch-homodiegetischen Erzählers vergleichen, der als Zeuge von vergangenen Geschehnissen zu erzählen weiß.362 Mit Blick auf die römische Senatsaristokratie ist jedoch die Frage, wer wann und wie viel spricht, nicht nur reine Formfrage, sondern auch Ausdruck der persönlichen dignitas. Sowohl Piso als auch Cotta sind ihm diesbezüglich hierarchisch übergeordnet. Das Alter der Autor-Figur lässt sich in beiden Fällen mit jenen Dialogfiguren vergleichen, die man in den Dialogen ohne Autorbeteiligung der Kategorie „Vertreter der Jugend“ zuordnen konnte. Eine deutlich erkennbare Altersstruktur mit damit verbundenem didaktischen Kontext weist der Dialog De finibus 5 auf, in dem der Part des adulescens auf den zehn Jahre jüngeren Lucius Cicero fiel und jener der erfahrenen Diskussionsteilnehmer auf Piso und Cicero, welche bezüglich ihres Alters an Cotta und Sulpicius in De oratore erinnern. Auch in De natura deorum lässt sich eine Altersstruktur erkennen, die jedoch nicht allein ursächlich zu sein scheint, dass sich die Cicero-Figur als stummer Zuhörer präsentiert, wohingegen sie im ein bis zwei Jahre früheren Dialog aktiv am Gespräch teilnahm. Als weiterer Grund dafür, dass die Zuhörerrolle nicht mehr genau auf das Praetorenalter fällt und die Hauptredner nicht mehr auf den konsularischen Rang angewiesen sind, bietet sich die unterschiedliche Schwerpunktsetzung des Autors an: Während es ihm nämlich in De oratore und De re publica tatsächlich darum ging, angehenden Rednern und Staatsmännern ein theoretisches Rüstzeug mit auf den Weg zu geben, das ihnen bei der Konzeption von Reden oder bei politischen Richtungsentscheidungen eine Hilfestellung geben sollte, richtet er sich in dem philosophischen Werk an ein Publikum, das er grundsätzlich für die Philosophie in lateinischer Sprache gewinnen möchte. Für dieses Publikum scheint Cicero Geburtsmomente des lateinischen Philosophiediskurses anzuführen. Hinsichtlich der Protagonisten dieser Szenen – Piso, Cotta, Vellius und Balbus – bedient er sich dabei stets solcher Römer, die in einem tatsächlichen Kontakt mit griechischen Philosophen standen und denen man die ihnen von Cicero zugewiesene Rolle zutrauen konnte. Während De finibus 5 den Geburtsmoment durch den genius loci entstehen lässt, zeigt De natura deorum bewusst ein bereits laufendes Gespräch, zu dem die Cicero-Figur zur rechten Zeit (peroportune) hinzustößt. Die porträtierte römische Aristokratie 362

S. hierzu: Genette 2010, S. 159 u. 161.

Conclusio

333

zeigt sich im Vergleich zu der in De oratore und De re publica als noch aufgeschlossener gegenüber griechischer Theorie, deren Beschäftigung einer Rechtfertigung bedurfte, die nicht an dem Primat der Praxis rüttelte. Dieser ist auch in De natura deorum und De finibus 5 nicht völlig verschwunden, wie gerade das rednerische und religiöse Profil des Cotta belegt oder auch das Unbehagen Pisos, welches er bei der Vorstellung, wie ein Philosoph zu dozieren, verspürt. Gegenüber den Dialogfiguren der ersten Gruppe, in der die Individualität der einzelnen Dialogfiguren insbesondere durch politischen Rang und Expertise in verschiedenen Bildungsdisziplinen (Recht, Philosophie, Geschichte) zum Ausdruck kam, treten nun bedingt durch das in utramque partem dissere verschiedene philosophische Schulmeinungen als Distinktionsmerkmale hinzu. Während diese in den Vergangenheitsdialogen nur angedeutet wurden und einen sekundären Rang einnahmen, wirken sie sich in De natura deorum auch auf das Auftreten der Figuren im Gespräch aus und sorgen so für eine intendierte Polarität, wie insbesondere die Beispiele Velleius und Balbus zeigen.

V

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Im Folgenden werden jene Dialoge untersucht, deren dramatisches Datum weniger als 20 Jahre vom Zeitpunkt der Niederschrift entfernt liegt und in denen die Rolle Ciceros als personnage eine weitere Steigerung erfährt. Mit Ausnahme von De legibus, das der ersten philosophischen Schaffensphase der 50er Jahre entsprang, fällt der Entstehungskontext dieser Werke in die Zeit zwischen 46 und 44. Die Reihenfolge der Untersuchung orientiert sich soweit möglich an der Chronologie der jeweiligen dramatischen Zeitpunkte.

1

Hortensius

Auch wenn der Hortensius bis auf einige Zitate nicht erhalten ist, lassen sich doch einige Aussagen über seine personale Konzeption treffen, welche in Relation zu den bisherigen Ergebnissen betrachtet werden müssen. Eine exakte Datierung des Dialogs ist durch das Fehlen der Atticuskorrespondenz von 46 erschwert, doch kann von einer Fertigstellung zwischen März und Mai 45 ausgegangen werden.1 Das Dialogpersonal setzt sich aus den Persönlichkeiten Q. Hortensius Hortalus, Q. Lutatius Catulus, L. Licinius Lucullus und Cicero selbst zusammen und ist damit identisch mit jenem aus der ersten Fassung der Academici Libri, die aus den ebenfalls nach Gesprächsteilnehmern benannten Dialogen Catulus und Lucullus bestehen. Es unterstreicht dadurch einen engen szenischen, wenn auch nicht inhaltlichen Zusammenhang zwischen den beiden Werken. 2 Als Protreptikos bildet der Hortensius einen Prolog zu den späteren Werken, indem er durch die Konversion seiner Hauptperson zur Philosophie eine Voraussetzung für das spätere Gespräch schafft. 3 Wie weit die strukturelle Ähnlichkeit der Werke reicht, geht aus den Fragmenten kaum hervor. Einige von der Forschung gezogene Parallelen müssen durch die jüngste Ausgabe von Grilli als überholt angesehen werden: Dass das Werk einen Widmungsträger hatte, für den 1F

2F

1

2 3

Schanz/Hosius gingen von der Zeit zwischen März und Mai 45 aus, anders hingegen Philippson, der von Oktober 46 bis März 45 ausging: Schanz/Hosius 1979, S. 523f.; Philippson 1939, Sp. 1123–1126; darüber hinaus ist es möglich, dass sich Cicero bereits im April 46 gedanklich mit dem Werk auseinandersetzte: Grilli 2010, S. 5–7. Vgl. Bringmann 1971, S. 112. Hinsichtlich der Bekehrung der Hauptperson s. Schäublin 1985b.

336

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Straume-Zimmermann etwa Quintus nachzuweisen suchte, 4 kann heute kaum mehr aufrechterhalten werden. Ebenso wenig steht fest, ob es überhaupt eine Vorrede gab oder der Dialog direkt mit dem Gespräch begann, wie Cicero es in De legibus umsetzte, das zum Zeitpunkt des Hortensius zwar noch nicht publiziert, sicher jedoch weitestgehend fertig konzipiert war. 5 Hinsichtlich der szenischen Einkleidung erscheint es möglich, dass der Dialog mit einem Treffen der vier Dialogfiguren – vielleicht sogar in Ciceros Villa – begonnen hat, bei dem man eine weitere Zusammenkunft in der Villa des Lucullus vereinbarte. 6 Eine deutliche strukturelle Parallele zwischen jenem Werk und der ersten Version der Academici libri könnte jedoch auf den Ort verweisen, da anscheinend in allen drei Dialogen der Gastgeber auf eine tragende Rolle im Gespräch verzichtet hat: Im Hortensius somit der Lucullus, im Catulus der Catulus und der Lucullus schließlich im Haus des Hortensius. 7 Dass der Austragungsort unter den einzelnen Dialogteilnehmern wechselt, die ihre Villen alle in Kampanien haben, zeigt dabei das Bemühen des Autors, mögliche Asymmetrien einzuschränken, wodurch er sich vom hellenistischen Villendialog absetzte. 8 Die Tendenz der Gleichheit unter den einzelnen Teilnehmern wird dadurch verstärkt, dass sie alle den konsularischen Rang innehaben. Die Tatsache, dass Augustinus den Hortensius in einer Rhetorenschule vorgefunden hat (in schola rhetoris librum illum […] accepi), wo er zum festen Unterrichtsplan gehörte, kann als Indiz dafür gelten, dass die Auseinandersetzung zwischen den Dialogfiguren Cicero und Hortensius auf rhetorisch hohem Niveau geführt wurde. 9 Dies scheint aus der bildungstheoretischen Perspektive des Autors nur konsequent, da er gerade angehenden Rednern das Studium der Philosophie empfiehlt. 3F

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Straume-Zimmermann/Gigon 1990, S. 333f. Die Grundlage der Zuweisung des Quintus stellte ein Zitat des Nonius (frg. 57 Grilli = 12 Str.-Z.) dar, das nach genauerer Prüfung nicht mit Sicherheit dem Proömium zugewiesen werden kann: Grilli 2010, S. 191. Gegen die Existenz einer Vorrede s. Grilli 2010, S. 128f. Cic. Hort. fr. 1 u. 2 Grilli = 20 u. 23 Str.-Z. (Non. 438, 11; Schol. Gronov. Verr. 2,1,54); vgl. Grilli 2010, S. 129. Wenn nicht anders vermerkt, folgt bei Zitaten aus dem Hortensius der lateinische Text der Ausgabe von Grilli, die Übersetzungen stammen von Straume-Zimmermann. Hösle vermutet darin ein bewusstes Prinzip der Dialoge, wonach der Gastgeber nicht der Gesprächsführer sei, und erklärt so den Umstand, dass Cicero nicht selbst als Gastgeber auftreten würde: Hösle 2006, S. 219f.; hinsichtlich des engen konzeptionellen Zusammenhangs zwischen Hortensius, Catulus und Lucullus s. auch Griffin 1997, S. 3f. Vgl. Hösle 2006, S. 219. Cic. Hort. fr. 8 Str.-Z. (Aug. beat. vit. 4); ebenso: Cic. Hort. fr. 41 Grilli = 9 I Str.-Z. (Aug. conf. 3,7).

Hortensius

1.1

Q. Hortalus Hortensius

a)

Historische Persönlichkeit

337

Der in der zweiten Hälfte des Jahres 114 geborene Quintus Hortalus Hortensius begann seine rednerische Laufbahn bereits 95 in einem Prozess, auf den Cicero in De oratore den ersten Redner Crassus verweisen lässt.10 Er stammte aus einer plebejischen und möglicherweise in Latium ansässigen Familie, die bereits seit zwei Generationen aktiv in der römischen Politik involviert war.10F11 Im Jahr 86 verteidigte er Pompeius, der ihn im Gegenzug davor bewahrte, unter Sulla proskribiert zu werden.12 Er heiratete die Tochter des Q. Lutatius Catulus, dem Vater des Gesprächspartners im Hortensius, der als Dialogfigur in De oratore 2 und 3 auftritt.13 Der Aufstieg in die politische Elite, der sich in dieser Heirat spiegelt, wird von Dyck auf die revolutionäre Redekunst des Hortensius zurückgeführt, durch die er die etablierten Redner auf sich aufmerksam gemacht habe.13F14 Der Tod vieler dieser Redner in den Wirren der 80er dürfte seine Karriere weiter beschleunigt haben. Zu einem ersten gerichtlichen Aufeinandertreffen mit dem damals noch jungen Cicero kam es bei dem Prozess um den von Sextus Naevius angeklagten P. Quinctius.15 Seine Ämterlaufbahn begann er 80 mit der Quaestur und schloss sie, nachdem er 75 Aedil und 72 Praetor gewesen war, mit dem Konsulat im Jahr 69 ab.16 In den 60er Jahren opponierte er zusammen mit Catulus gegen Pompeius, indem sie beide gegen die lex Gabinia agitierten und als Belastungszeugen im maiestas-Prozess des von Pompeius gestützten und von Cicero verteidigten C. Cornelius auftraten.17 Sieben Jahre nach seiner gerichtlichen Niederlage im Verresprozess im Jahr 70 kam es zu einer Annäherung mit dem nun amtierenden Konsul Cicero, woraufhin sie in der Folgezeit häufiger

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11 12 13

14

15 16

17

Cic. de orat. 3,229; zur Rekonstruktion seines Geburtsjahres aus den ciceronischen Quellen s.: Von der Mühll 1913b, Sp. 2470; Dyck 2008, S. 144. Zur Herkunft und Familie des Hortensius s. Dyck 2008, S. 143f. Vgl. Caboli 1998, Sp. 734. Cic. de orat. 3,228; vgl. Caboli 1998, Sp. 734. Aus dem dramatischen Datum des Dialogs kann gefolgert werden, dass die Hochzeit vor dem Tod des Crassus (20. September 91) stattgefunden haben muss. Zum Rang der Lutatia s. Dyck 2008, S. 144. Dyck 2008, S. 144: „Hortensius thus further solidified his position within the governing élite. By emphasizing the approval of his elders Crassus and Catulus père Cicero plays down how revolutionary Hortensius’ oratory must have been in the 90s and 80s.“ Vgl. TLRR 126; Caboli 1998, Sp. 734; Dyck 2008, S. 144f. Das verspätete Erlangen des Aedilamtes lässt sich durch die Wirren der Jahre unter Cinna erklären; vgl. Dyck 2008, S. 147. Vgl. Dyck 2009, S. 154f.; zur Causa Corneliana: TLRR 209; Gruen 1974, S. 263f.; Crawford 1994, S. 67–72.

338

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

gemeinsam in Prozessen auftraten.18 Im Jahr 53 engagierte sich Hortensius durch Nomination dafür, dass Cicero die Nachfolge des gefallenen Auguren P. Crassus zufiel19 und verteidigte mit ihm gemeinsam Milo.20 Sein Tod kann durch einen Brief Ciceros an Atticus, zu dem beide ein freundschaftliches Verhältnis hatten und der des Öfteren zwischen ihnen eine Mittlerposition einnahm,20F21 auf den Zeitraum zwischen April und Juni des Jahres 50 datiert werden.22 Neben seiner politischen und rednerischen Tätigkeit schrieb Hortensius ein auf Latein und in Versform verfasstes Werk über den Bundesgenossenkrieg und zählte mit L. Cornelius Sisenna und Lucullus zwei Personen zu seinem Freundeskreis, die sich der Geschichtsschreibung widmeten.23 Darüber hinaus ist bekannt, dass er wie Cicero einige seiner öffentlichen Reden veröffentlichte, von denen jedoch keine einzige erhalten ist. 24 Auch ein theoretisches Werk loci communes, das Quintilian noch vorlag, stammt aus seiner Feder. 25 Die ihm nachweisbaren geistigen Interessen auf dem Gebiet der Geschichte, Rhetorik und Dichtung ergänzen das im Brutus entworfene Bild seiner umfangreichen Bildung, die ihn zum besten Redner seiner Zeit machte. Dort attestiert Cicero ihm zudem, die Bedeutung der Philosophie als Basis moralisch richtigen Handelns und Redens (nemo, qui philosphiam complexus esset, matrem omnium bene factorum beneque dictorum) sowie der Rechtskenntnisse (nemo qui ius civile didicisset ad privatas et ad oratoris prudentiam maxime necessariam) verinnerlicht zu haben.26 Auch wenn ein gewisses Maß an Übertreibung zugunsten des Verstorbenen angenommen werden muss, so handelte es sich bei Hortensius ohne Zweifel um einen äußerst kultivierten und belesenen Zeitgenossen. Angesichts der Tatsache, dass zu Hortensius’ Lebzeiten immer wieder Spannungen und Misstrauen ihr Verhältnis trübten,27 fällt auf, dass der Arpinate nach

18

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Vgl. Caboli 1998, Sp. 734; für die Annäherung scheinen Ciceros Eintreten für den Triumph des Lucullus und seine Ablehnung der Landreform des Rullus ausschlaggebend gewesen zu sein, vgl. Dyck 2008, S. 156. Vgl. Gelzer 2014, S. 187. Bekannt sind insgesamt acht Fälle, in denen beide gemeinsam, und kein einziger, in dem sie gegeneinander auftraten; s. hierzu: Dyck 2008, S. 155. Cic. Att. 2,25 = 45 Sh. B.,1 (tuus familiaris Hortalus); Nep. Att. 15,3; Von der Mühll 1913b, Sp. 2479. Cic. Att. 6,6 = 121 Sh. B.,2. Vell. 2,16,3; Cic. Att. 13,33 = 309 Sh. B.,3; 12,5b = 316 Sh. B.; vgl. Dyck 2008, S. 144. Vgl. Dyck 2008, S. 142. Quint. inst. 2,1,44 u. 2,4,27; vgl. Von der Mühll 1913b, Sp. 2480f. Cic. Brut. 322. Eine große Entäuschung für Cicero stellte Hortensius’ passives Verhalten während der Verbannung dar. Sein Misstrauen spiegelt sich insbeondere in dem am 13. Juni 58

Hortensius

339

dem Tod des einstigen Konkurrenten stets anerkennende Worte für ihn fand. Besonders deutlich geschieht dies etwa zu Beginn des Brutus: In diesem lässt Cicero nicht nur einen tiefen Schmerz über dessen Ableben erkennen, sondern stellt auch seine enge Verbundenheit und politische Übereinstimmung mit ihm (vir egregius coniunctissimusque mecum consiliorum omnium) ostentativ heraus.28 Im selben Werk stilisiert er ihn als ersten Redner Roms, der erst durch ihn selbst abgelöst worden sei. Verhalten kritisch äußerte er sich dabei lediglich über seinen Asianismus, der seine Reden noch im hohen Alter beeinflusst habe, obwohl er nur zu jungen Rednern passen würde.29 b)

Hortensius als Vertreter der Beredsamkeit und philosophiae vituperator

Nach einer Einführung ließ Cicero ein Gespräch nach dem Muster einer σύγκρισις stattfinden, in dem jedem einzelnen Gesprächsteilnehmer ein intellektuelles Profil zugewiesen wurde. Nach Catulus’ Plädoyer für die Dichtung und Lucullus’ Eintreten für die Geschichtsschreibung scheint Hortensius das Wort ergriffen zu haben, um den Wert der eloquentia über den der historia zu stellen.30 Das Gespräch hat nach den einschlägigen Rekonstruktionen nicht direkt mit der Philosophie begonnen, wie wir es bisher auch nur in De natura deorum beobachten konnten, sondern entwickelte sich aus einem intellektuellen Milieu heraus, in dem die bereits in Rom etablierten artes Dichtung, Geschichtsschreibung und Rhetorik durch die Dialogfiguren selbst sichtbar werden. Spätestens innerhalb dieser σύγκρισις, in der er die eloquentia über die Geschichtsschreibung erhebt, scheint sich das rhetorische Profil des Hortensius gezeigt zu haben.31 Als daraufhin von den Dialogfiguren Cicero und Catulus die Philosophie als höchste ars gepriesen wird, zeigt sich Hortensius unbeeindruckt und nimmt damit die Position eines Gegners der Philosophie ein. Als deren Ankläger scheint er sehr früh im Werk die Dialektiker angegriffen zu haben, wie aus Zitaten bei Augustinus und Nonius deutlich wird:32

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32

verfassten Brief an Quintus: Cic. ad Q. fr. 1,3 = 3 Sh. B.,8; Von der Mühll 1913b, Sp. 2479. Cic. Brut. 2; Mit Blick auf sein eigenes Schicksal rühmt er Hortensius’ Tod als glücklich, da jenem der Bürgerkrieg sowie der Zustand des Forums und der Redekunst in Rom erspart geblieben seien: Cic. Brut. 4–6; dabei greift Cicero einen zentralen Aspekt der Konsolationsliteratur auf: s. Bringmann 1971, S. 17. Cic. Brut. 325. Vgl. Grilli 2010, S. 130. Cic. Hort. fr. 17 u. 18 Grilli = 19, 41 Str.-Z. (Aras. gramm. 2,2; Non. 337,35); vgl. Grilli 2010, S. 136f. Cic. Hort. fr. 24 Grilli = 59 Str.-Z. (Aug. dialect. 9) u. fr. 25 Grilli = 54 Str.-Z. (Non. 81,32). Der lateinische Text folgt hinsichtlich des idem der Lesart von StraumeZimmermann statt der hier ansonsten verwendeten Ausgabe von Grilli, die nach

340

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten Ambigua se aiunt audire acute explicare dilucide; idem omne verbum ambiguum esse dicunt. Quomodo igitur ambigua ambiguis explicabunt? Nam hoc est in tenebras exstinctum lumen inferre. Sie erklären, sie würden es wagen, unter dieser Voraussetzung das Mehrdeutige klar zu bestimmen; dieselben Leute aber sagen, dass jedes Wort mehrdeutig sei; wie also werden sie Mehrdeutiges mit Mehrdeutigem erklären? Denn dies ist das gleiche, wie wenn man ein erloschenes Licht in die Finsternis trägt. se ad extremum pollicetur prolaturum quae se ipsa comest: quod efficit dialecticorum ratio. So verspricht der Schausteller, dass er als Höhepunkt ein Tier zeigen werde, das sich selber auffrisst, wie es die Methode der Dialektiker tut.

Die Polemik des Hortensius wurde mit hoher Schärfe vorgetragen, wie auch die Gegenfrage zeigt, ob er die gesamte Dialektik verspotten und verhöhnen würde (aut inludis aut increpas).33 Auch nach Ciceros Gegendarstellung, die den Nutzen der Dialektik für die Redekunst herausstellte,34 scheint Hortensius hart geblieben zu sein und Zugeständnisse an die unliebsame Kunst verweigert zu haben (id, quod nollem, confiteri).35 In seinem Hauptvortrag, dessen Inhalt Laktanz resümiert, beschuldigt er schließlich die Philosophie, im Gegensatz zur Rhetorik eine völlig nutzlose Wissenschaft zu sein:36 Bonum est autem recta et honesta praecipere, sed nisi et facias, mendacium est et est incongruens atque ineptum non in pectore, sed in labris habere bonitatem. Non ergo utilitatem ex philosophia, sed oblectationem petunt. Es ist gut, Richtiges und Tugendhaftes vorzuschreiben, aber, wenn man es nicht auch tut, ist es eine Lüge, und es ist unpassend und unrichtig, das Gute nicht in der Brust, sondern nur auf den Lippen zu haben. Sie erstreben also nicht Nutzen aus der Philosophie, sondern Unterhaltung.

Der Vorwurf erinnert an den Duktus des philosophiekritischen Kallikles in Platons Gorgias, welcher der Philosophie vorhält, dass sie kindisch sei und nicht auf das Leben vorbereite.37 Indem die Dialogfigur Hortensius den Nutzen der Philo-

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Erasmus ein item präferiert, jedoch ein idem übersetzt (sono gli stessi signori): Grilli 2010, S. 41. Cic. Hort. fr. 26 Grilli = 60 Str.-Z. (Non. 329,21). Grilli ordnet diesem Part die Fragmente 26–32 (= 60, 55, 61, 93, 63, 68 Str.-Z.) zu. Cic. Hort. fr. 33 Grilli = 51 Str.-Z. (Non. 170,22). Cic. Hort. fr. 36 Grilli = (18) Str. Z. (Lact. inst. 3,16,2–5; 3,16,6–8). Plat. Gorg. 484c–485e; s. hierzu: Grilli 2010, S. 142.

Hortensius

341

sophie bestreitet und sie in den Bereich bloßer Unterhaltung (oblectatio) verweist, lässt der Autor jedoch auch einen archetypischen Kritiker philosophischer Literatur zu Wort kommen. Dementsprechend teilt Cicero im Proömium von De finibus 1 mit, den „Gegnern der Philosophie“ (philosophiae […] vituperatoribus), die eine Beschäftigung mit dem Fach gänzlich ablehnten, bereits im Hortensius geantwortet zu haben.38 Die Dialogfigur des Hortensius fungiert damit auch als Vertreter einer bestimmten Leserschaft, mit der der Autor innerhalb des Dialogs kommuniziert. Der Vorwurf, dass die Philosophen lediglich reden statt handeln würden, erinnert zudem an den Primat der politischen Praxis gegenüber theoretischer Spekulation, der bereits in De oratore und De re publica thematisiert wurde.39 Die Uneinigkeit der Vertreter dieser Disziplin bringt ihn dabei zu dem Schluss, dass die Philosophie generell keine sichere Erkenntnis biete und ein sapiens – da er ja bloß meinen (opinari) dürfe – zu nichts seine Zustimmung geben könne.40 Dass Hortensius dabei eine nicht-philosophische Konzeption von sapiens und sapientia verwendet, wird aus seiner weiteren Argumentation ersichtlich:41 ex eo posse intellegi philosophia non esse sapientiam, quod principium et origo eius adpareat: quando (inquit) philosophi esse coeperunt? Thales, ut opinor, primus. Recens haec quidem aetas. Ubi ergo apud antiquiores latuit amor iste vestigandae veritatis? Dass die Philosophie nicht die Weisheit sei, könne daraus ersichtlich werden, dass sich ihr Anfang und Ursprung deutlich zeige. „Seit wann“, sagt er, „hat es die Philosophen gegeben? Thales war, wie ich glaube, der erste. Doch dies ist freilich aus neuerer Zeit. Wo war also bei den Alten dieser Trieb, die Wahrheit aufzuspüren?“

Somit trennt Hortensius klar zwischen der sapientia, die gemäß der Natur ist und dem Menschen damit schon immer zugänglich war, und der philosophia, die nicht naturgemäß sei, da ihr mit der Person des Thales ein Anfang zugewiesen werden könne.42 c)

Die Bekehrung der Dialogfigur zur Philosophie

Nach Gigon endet der Dialog in einer „Bekehrung“ des Hortensius, der im Gesamtgefüge als ihr stärkster Kritiker aufgetreten war, zur Philosophie – allerdings

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Cic. fin. 1,2. Cic. Hort. fr. 37 Grilli = 57 Str.-Z. (Non. 372,13): praecipiunt haec isti, sed facit nemo. – „Diese da schreiben solches vor, doch keiner tut es.“ Cic. Hort. fr. 51 Grilli = 92 Str.-Z. (Aug. c. acad. 3,14,31). Cic. Hort. fr. 52 Grilli = 52 Str.-Z. (Lact. inst. 3,16,12–13). Vgl. Straume-Zimmermann 1976, S. 119f.

342

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

nicht zu der der Akademie.43 Auf diese Weise bereitet der Hortensius das Gespräch des Catulus vor, in dem die Dialogfigur Hortensius – nun von der Philosophie überzeugt – die Lehre des Antiochos von Askalon vertritt.44 Die Argumentation der Dialogfigur im Hortensius legt nahe, wie das letztgenannte Fragment mit der Nennung des Thales zeigt, dass jene bereits über ein nicht geringes Maß an philosophischem Wissen verfügt haben muss und mit der Materie nicht bloß durch Hörensagen vertraut war.45 Die vom Autor sicherlich rhetorisch stark formulierte Rede des Hortensius war dabei bereits als Stütze für die Argumentation von Ciceros Replik angelegt:46 Cicero Hortensius contra philosophiam disserens circumvenitur arguta conclusione, quod diceret philosophandum non esse, nihilominus philosophari videbatur quoniam philosophi est quid in vita faciendum vel faciendum sit disputare […]. Ille cum philosophiam tolleret nec melius aliquid adferret, sapientiam tollere putabatur eoque facilius de sententia pulsus est, quia constat hominem non ad stultitiam, sed ad sapientiam nasci. Hortensius, der im ciceronischen Dialog gegen die Philosophie spricht, wird mit einer scharfsinnigen Schlussfolgerung in eine Falle gelockt, weil er nämlich, wenn er behauptete, man solle nicht philosophieren, dann keineswegs weniger zu philosophieren schien, da es ja gerade die Aufgabe des Philosophen sei, Erörterungen darüber anzustellen, was man im Leben tun und nicht tun solle […]. Als jener die Philosophie beseitigte und nichts Besseres an ihre Stelle setzte, schien er die Weisheit selber zu beseitigen und wurde um so leichter widerlegt, weil es klar ist, dass der Mensch nicht zur Torheit, sondern zur Weisheit geboren ist.

Hortensius steht somit innerhalb eines performativen Widerspruchs, indem er vorgibt, die Philosophie abzulehnen, sie aber – worauf ihn Ciceros Gegenrede wohl hingewiesen hat – durch seine Ablehnung betreibt. Es bleibt jedoch aufgrund der Kürze des Fragments und dem nur schwer zu rekonstruierenden Kontext unklar, ob und wie Hortensius auf die arguta conclusio Ciceros konkret reagierte.

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Gigon 1962, S. 228 u. 237; Unterstützung für seine These erhielt Gigon von Schäublin, der gegen gattungsbedingte Bedenken bezüglich der Möglichkeit von Konversionen in antiken Dialogen argumentierte: Schäublin 1985b, S. 123–125; ihnen folgen: Straume-Zimmermann/Gigon 1990, S. 338; Hösle 2006, S. 100. Vgl. Gigon 1962, S. 237; Straume-Zimmermann/Gigon 1990, S. 339. Für einen persönlichen Kontakt mit dem Philosophen Poseidonios könnte ein Fragment des Nonius sprechen, worin auch ein uns nicht weiter bekannter Nikomachos von Tyros erwähnt wird: Cic. Hort. fr. 50 Grilli = 25 Str.-Z. (Non. 527,30). Ebd., fr. 54 Grilli = 49 Str.-Z. (Lact. inst. 3,16,9 u. 11).

Hortensius

d)

343

Zusammenfassung

Die Anlage einer Dialogfigur für eine Kommunikation zwischen Leser und Autor zeigt sich an der des Hortensius besonders deutlich. Ohne Zweifel hat sich Cicero bei ihrer Ausgestaltung und der von ihr vorgebrachten Argumentation an griechischen Vorlagen bedient, doch dürften der rhetorische Stil von Hortensius’ Vortrag und aus der römischen Lebenswelt entnommene Beispiele als Zugeständnis an einen dezidiert römischen Charakter als Vertreter im Sinne der Leserschaft fungiert haben. Sicherlich hat der Autor anhand der Figur keine Dekonstruktion betrieben, wie wir sie bei Velleius feststellen konnten. Anders als dieser bleibt Hortensius nicht in einer dogmatischen Starre gefangen, sondern öffnet sich der zunächst noch abgelehnten Disziplin. Diese Bekehrung kann im Rahmen einer positiven memoria-Bildung gesehen werden, die Cicero seit dem Brutus an Hortensius betrieb. Dass er sich dabei durch einen weiteren, postumen Sieg über seinen einstigen Rivalen auch selbst loben wollte, ist nicht ausgeschlossen, doch ist unwahrscheinlich, dass dies die einzige Motivation war, da der Autor ohne Zweifel die Intention hatte, an manche Redner, die in Vergessenheit zu geraten drohten, zu erinnern, wie die Schrift Brutus zeigt.

1.2

M. Tullius Cicero

In dem sich aus vier Personen zusammensetzenden Kreis stellt die Dialogfigur Cicero den jüngsten Gesprächspartner dar. Da er jedoch wie alle anderen Redner bereits den konsularischen Rang innehatte, besteht kein wirkliches hierarchisches Gefälle innerhalb des Personenkreises. Die Gemeinschaft zeigt ihn dabei mit drei wichtigen politischen Unterstützern, die ihm während seines Konsulats bei der Niederschlagung der catilinarischen Verschwörung zur Seite gestanden hatten. Mit Blick auf die autobiographische Situation versetzt sich der Autor in die Zeit zwischen seinem erfolgreichen Konsulat und dem Zustandekommen des sogenannten ersten Triumvirats zurück, also in einen Zeitraum, der ihm aus der Perspektive des Frühjahrs 45 als Höhepunkt seiner politischen Existenz erschienen sein musste. a)

Cicero als Vertreter und Verteidiger der Philosophie

Nachdem durch Catulus ein einleitendes Gespräch zustande gekommen war, das sich von der Betrachtung der Kunstgegenstände in der Villa ausgehend erst um Dichtung (Catulus), dann um Geschichtsschreibung (Lucullus), Rhetorik (Hortensius) und Philosophie (Catulus) drehte, scheint die Dialogfigur Cicero in das Gespräch eingestiegen zu sein und dem Lob der Philosophie als höchste Wissen-

344

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

schaft zugestimmt zu haben.47 Nach der ersten Attacke des Hortensius, die sich gegen die Dialektik wandte, scheint Cicero noch nicht direkt mit der Gegenargumentation begonnen zu haben, sondern seinem Gesprächspartner zunächst im höflichen Umgangston die Möglichkeit des Rückzugs angeboten zu haben, die er mit einer Brettspielmetapher untermalte (tibi concedo […] ut calculum redducas).48 Dieses höflich-zurückhaltende Vorgehen findet sich auch in seiner Erwiderung auf den Generalangriff des Hortensius, in der er ihm attestiert, die Philosophie als existenziellen Feind Roms, gleich einem Hannibal oder Mithridates, verfolgt zu haben (persequi te Hannibalem atque Mithridatem), womit er zugleich eine Anspielung auf Lucullus einfließen lässt, der gegen letzteren einen Triumph feierte.49 Kurz nachdem er Hortensius des Widerspruchs überführt hat, durch die Ablehnung der Philosophie als richtigem Lebensentwurf bereits Philosophie zu betreiben,50 stimmt er dem Einwand, dass diese Wissenschaft auf den Bereich des otium verfalle, grundsätzlich zu:51 Profecto omnis istorum disputatio, quamquam uberrimos fontes virtutes et scientiae continet, tamen conlata cum horum actis perfectisque rebus vereor ne non tantum videbatur utilitatis adtulisse negotiis hominum quantam oblectationem otio. Obwohl in der Tat eine jede ihrer Erörterungen die reichhaltigsten Quellen der Tugend und Wissenschaft enthält, so fürchte ich doch, dass sie, verglichen mit Taten und Leistungen der Unsrigen, den Menschen nicht so sehr Nutzen für die Arbeit als Unterhaltung für die Muße gebracht haben.

Das hinsichtlich seiner Zuweisung umstrittene Zitat, das inhaltlich an De re publica anknüpft,52 zeigt ein partielles Eingeständnis, durch das Ciceros römischer Charakter durchschimmert, indem er den direkten Nutzen, der auch für ihn ein zentrales Kriterium einer ars darstellt, der Philosophie bezweifelt.53 In dem

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Cic. Hort. fr. 22 Grilli = (93) Str.-Z. (Sen. epist. 17,2); zur Rekonstruktion des Gesprächshergangs s. Grilli 2010, S. 139. Cic. Hort. fr. 32 Grilli = 68 Str.-Z. (Non. 170,22): „Deshalb erlaube ich dir, wie wir im Brettspiel zu tun pflegen, ein Steinchen zurückzuziehen, falls es dich reut, etwas zugegeben zu haben.“ Zur Anordnung des Fragments s. Grilli 2010, S. 148. Cic. Hort. fr. 53a Grilli, nicht in anderen Editionen (Lact. inst. 3,25, 2–6). Ebd., fr. 54 Grilli = 49 Str.-Z. (Lact. inst. 3,16,9 u. 11). Ebd., fr. 55 Grilli = 18 Str.-Z. (Lact. inst. 2,16,5): Aufgrund des in der Edition von Grilli 2010 verwendeten horum statt eorum, das Straume-Zimmermann/Gigon 1990 präferierten, wurde die zitierte Übersetzung an besagter Stelle modifiziert. Zur Forschungsdiskussion, ob das Fragment dem Hortensius oder De re publica zuzuweisen sei, s. Grilli 2010, S. 185–188. Vgl. ebd., S. 188f.

Hortensius

345

Vergleich wird dabei die Theorie griechischer Philosophen (istorum disputatio) dem römischen Pragmatismus (horum actis perfectisque) gegenübergestellt.54 Nachdem er sich im ersten Teil seiner Rede der Argumentation des Hortensius gewidmet hatte, ging er zum eigentlich protreptischen Part über, in dem er die Beschäftigung mit Philosophie auf unterschiedliche Weise rechtfertigte. Dabei begann er zunächst mit dem Aufzeigen von Lebenswegen und falschen Gütern, die das glückliche Leben, welches ein jeder erstrebe, nicht garantieren könnten.55 Die Nennung von Reichtum, Ruhm und Lust lässt erahnen, wie sehr die szenische Einkleidung des Dialogs, welchen Cicero in der für ihren Luxus bekannten Villa des ruhmreichen Feldherrn Lucullus stattfinden lässt, den philosophischen Gedanken untermauern sollte. 56 In einem weiteren Schritt ging sein Sprecher dazu über, die Philosophie als ars genauer zu bestimmen, wobei sich erneut ein deutlicher Zusammenhang mit dem dramatischen Gefüge abzeichnet:57 ut i, qui conbibi purpuram volunt, sufficiunt prius lanam medicamentis quibusdam, sic litteris talibusque doctrinis ante excoli animos et ad sapientiam concipiendam inbui et praeparari decet. Wie diejenigen, die einen Stoff mit Purpur einfärben wollen, zuerst die Wolle in gewissen Präparaten tränken, so sollen auch unsere Seelen durch die Wissenschaften und solche Lehren vorher bearbeitet und zum Erfassen der Weisheit durchtränkt und vorbereitet werden.

Der von Platons Politeia inspirierte Vergleich58 stellt die wohl in der σύγκρισις genannten artes wie Dichtung, Geschichtsschreibung und Rhetorik in den Dienst der Philosophie.59 Die Einordnung dieser Fächer in einen propädeutischen Kontext belegt die Lebendigkeit des ciceronischen Bildungsdenkens59F60, das nun die Philosophie als Liebe zur Weisheit (philosophia amor sapientiae est) als primäres Mittel nennt, um die vita beata zu erreichen.61 Innerhalb dieses aufbauenden Teils des Hortensius scheint auch eine Behandlung der einzelnen Tugenden (prudentia, temperantia, fortitudo und iustitia) erfolgt zu sein, die einen

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Vgl. Grilli 2010, S. 190. Cic. Hort. fr. 63–87 Grilli = 9 I 4, 39–40, 41–47, 74–76, 81, 84, 94–98 Str.-Z. Ebd., fr. 74–76 Grilli = 46, 45, 9 I 4 Str.-Z. (divitiae); 77–83 Grilli = 94–98 Str.-Z. (gloria); 84–87 Grilli = 84, 74, 44, 47 Str.-Z. (voluptas). Ebd., fr. 92 Grilli = 78 I Str.-Z. (Non. 521,18). Plat. rep. 4,429d. Vgl. Grilli 2010, S. 232f. Dieser Gedanke findet sich auch im Einleitungsgespräch des zweiten De finibusDialogs, in dem Cicero mit Cato die Erziehung des jungen Lucullus thematisiert: Cic. fin. 3,9. S. unten S. 466–468. Cic. Hort. fr. 93 Grilli = 50 Str.-Z. (Boeth. diff. top. 2); ebenso in den fr. 106–109 Grilli = 91 Str.-Z.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Kontrast zu den vorher genannten falschen Gütern bildeten (divitiae, gloria und voluptas).62 An das Ende seines Vortrags stellt die Dialogfigur eine starke kosmologische Komponente, die gedanklich an Platons Phaidon anschließt, indem die Hoffnung auf ein Leben der Seele nach dem Tod beschrieben wird:63 aut si, ut antiquis philosophis iisque maximis longeque clarissimis placuit, aeternos animos ac divinos habemus, sic existimandum est quo magis hi fuerint semper in suo cursu, id est in ratione et investigandi cupiditate, et quo minus in suo cursu, id est in ratione et investigandi cupididate, et quo minus se admiscuerint atque implicaverint hominum vitiis et erroribus, hoc eis faciliorem ascensum et reditum in caelum fore. Oder aber, wenn wir nach der Meinung der alten Philosophen, und zwar besonders der größten und weitaus berühmtesten, ewige und göttliche Seelen haben, dann wird, wie man annehmen muss, für diese, je mehr sie sich stets auf ihrer Bahn bewegen, d.h. in der Vernunft und in der Begierde des Forschens, und je weniger sie sich in die Laster und Irrtümer der Menschen vermischt und verwickelt haben, der Aufstieg und die Rückkehr in den Himmel um so leichter.

Wie im Somnium Scipionis wendet sich der Protagonist des Dialogs am Ende seiner Rede der Frage nach dem Weiterleben der Seele zu. Diesbezüglich fordern die jeweiligen Hauptfiguren an beiden Stellen die Zuhörer zum tugendhaften Leben auf, doch zeigt sich erneut eine deutliche Verschiebung des Schwerpunkts weg von der Sorge um den Staat und der vita activa hin zur vita contemplativa: Es spricht nicht mehr die Traumgestalt des älteren Scipio Africanus, die zum Einsatz für den Staat aufruft,64 sondern Cicero in seiner Funktion als Vermittler der Philosophie.65 Als solcher scheint die Dialogfigur nicht primär als Vertreter einer einzigen Schulmeinung aufgetreten zu sein, sondern eher als Fürsprecher des gesamten Fachs. 66 Das Ende des Dialogs, das von zwei Grundannahmen ausgeht, zeigt, dass ein skeptischer Grundton dennoch vorhanden war, der jedoch den protreptischen Charakter nicht gestört haben dürfte.

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Cic. Hort. fr. 96–105, 63 Grilli = 65–66, 73, 80, 85–86, 90, 100 Str.-Z. Cic. Hort. fr. 115 Grilli = 102 Str.-Z. (Aug. trin. 14). Cic. rep. 6,29: Hanc tu exerce in optimis rebus! sunt autem optimae curae de salute patriae […]. – „Sie (die Seele) übe in den besten Dingen! Es sind aber die Mühen um das Heil des Vaterlandes die besten.“ Zum philosophischen Einfluss Platons und Aristoteles’ innerhalb der oben zitierten Textstelle s. Straume-Zimmermann/Gigon 1990, S. 369f. Vgl. Straume-Zimmermann/Gigon 1990, S. 337, in Anlehnung an Aug. conf. 3,7f. (= fr. 9 I Str.-Z.).

Hortensius

b)

347

Ciceros humanitas

Dass die Cicero-Figur die Rolle des Verteidigers mit der aus De oratore bekannten humanitas verbunden hat, geht aus dem, was sich über ihr Verhalten rekonstruieren lässt, klar hervor. Sie zeigt sich in dem bereits angesprochenen Angebot an seinen Gesprächspartner, sich von seiner geäußerten Position zu entfernen, noch deutlicher wird sie jedoch in der Zuhörerrolle der Dialogfigur. Als solcher reagiert sie mit einer grundsätzlichen Offenheit und Neugier auf den Angriff des Hortensius, wie ein Zitat belegt, in dem er jenen bittet, mit seinem Vortrag fortzufahren (perge, quaeso), und ihm das Kompliment macht, bisher nicht unkundig gesprochen zu haben (nec enim imperite exorsus).67 Die Meinungsverschiedenheit zwischen ihm und seinem Gesprächspartner scheint somit durch die gegenseitige Offenheit und Freude an der Diskussion das Gesprächsklima nicht belastet zu haben. c)

Zusammenfassung

Die Cicero-Figur im Hortensius, die auf beeindruckende Weise für die Philosophie Stellung bezogen haben muss, diente wohl primär als Sprecher des Autors, der sich innerhalb des Dialogs an ein Publikum wendet, das, wie auch im Folgenden zu zeigen sein wird, noch sehr unterschiedliche Haltungen gegenüber dem neuen Fach einnahm. Gleichzeitig ist es wahrscheinlich, dass die Figur den persönlichen Wandel des Autors spiegelte, der sich in seinem philosophischen Spätwerk von der Staatsphilosophie entfernte und sich der philosophischen Theorie annäherte. Dass er dabei trotzdem als Römer wahrgenommen werden wollte, wurde wohl durch den rhetorischen Stil der Auseinandersetzung, der sich uns durch die Fragmente kaum erschließt, deutlich gemacht.

1.3

L. Licinius Lucullus

a)

Historische Persönlichkeit

Die namensgebende Dialogfigur Lucius Licinius Lucullus entstammte der alten römischen Adelsfamilie der Licinii, die etruskisch-plebejische Wurzeln hatte und der auch Crassus, der Hauptredner von Ciceros De oratore, angehörte.68 In der jüngeren und historisch erfassbaren Geschichte dieser gens stach vor allem sein Großvater L. Licinius Lucullus hervor, der im Jahr 151 das Konsulat erreichte

67 68

Cic. Hort. fr. 34 Grilli = 37 Str.-Z. (Non. 30, 26). Zur gens des Lucullus: Keaveney 1992, S. 1–14.

348

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

und während seiner Amtszeit von den Tribunen inhaftiert wurde.69 Der Vater, der in die damals bedeutende gens der Metelli einheiratete, erlangte im Jahr 104 die Praetur, welche sein höchstes Amt darstellte.70 Lucullus wurde im Jahr 118 oder 117 geboren, so dass er zum Zeitpunkt des Gesprächs ungefähr 56 Jahre alt und damit ein Jahrzehnt älter als der Autor ist.71 Im Jahr 101 geriet sein Vater während des zweiten sizilischen Sklavenkrieges in Konflikt mit einem Servilius, der ihn als Befehlshaber hätte ablösen sollen und der seine Verurteilung in einem Repetundenprozess durchsetzte.72 Zusammen mit seinem Bruder, M. Terentius, setzte Lucullus in einem weiteren, aufsehenerregenden Verfahren die Verbannung des Feindes der Familie durch, nachdem sie ihn wegen Verletzung seiner Amtspflichten angeklagt hatten. 73 Am Bundesgenossenkrieg (91–89) nahm Lucullus seinem Stand entsprechend als junger Offizier unter Sulla teil, dem er verbunden blieb und der seine Karriere beförderte.74 Im Jahr 88 wurde ihm die Quaestur zugesprochen, worauf er sich an Sullas Ersten Marsch auf Rom beteiligte.75 Zwischen 87 und 80 war er als Proquaestor in den damals beunruhigten Provinzen Griechenland und Asia, wo er durch seine milde Amtsausführung die Anerkennung von Teilen der Provinzbevölkerung gewonnen haben soll. 76 Bei der Rückeroberung Athens durch Sulla war er dafür zuständig, die in der Provinz gesammelten Kontributionen in Münzen umzuwandeln.77 Im Jahr 86 gelangte er im Rahmen der kriegerischen Auseinandersetzungen auch nach Ägypten, wo er eine Flotte für Sulla organisierte.78 Aufgrund seiner organisatorischen, diplomatischen und militärischen Tätigkeit wurde er 79 Ädil und bereits ein Jahr später Praetor, eher er zwischen 77 und 76 als Propraetor in der Provinz Africa wirkte.79 Im Jahr 74 hatte er mit M. Aurelius Cotta das Konsulat inne, wodurch ihm in der Folgezeit die Statthalterschaft für die Provinzen Cilicia und Asia sowie den Oberbefehl im Krieg gegen Mithradates zufielen.80 Nach einer Reihe militärischer Erfolge gegen den pontischen König verhinderten Meutereien seiner

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Vgl. Keaveney 1992, S. 2; Gelzer 1926, Sp. 376. Vgl. ebd., S. 3. Ebd. Ebd., S. 4f. Plut. Luc. 1f.; Cic. ac. 2,1; off. 2,50; Diod. 36,9,1; vgl. Keaveney 1992, S. 5; Gelzer spricht mit Verweis auf die Quellen von einem „Sensationsprozess“: Gelzer 1926, Sp. 377. Plut. Luc. 2,1; vgl. Will 1999, Sp. 166; Skepsis gegenüber einem direkten Dienst unter Sulla äußerte Gelzer 1926, Sp. 377. Vgl. Keaveney 1992, S. 17f. Vgl. ebd., 18f. Vgl. ebd., 19. Vgl. ebd., 21. Vgl. Will 1999, Sp. 166. Vgl. MRR 2, S. 101; Will 1999, Sp. 166.

Hortensius

349

Soldaten und der Widerstand durch die publicani die Fortführung des Krieges, was im Jahr 66 dazu führte, dass Pompeius mittels der lex Manilia den Oberbefehl erhielt, für die zuvor Cicero eingetreten war. 81 Nachdem sein von dem Volkstribun Memmius bekämpfter Triumph aufgrund der Unterstützung des Konsuls Cicero im Jahr 63 stattgefunden hatte, konnte durch die Präsenz der Veteranen in Rom eine Wahl Catilinas zum Konsul erfolgreich verhindert werden.82 Im Bona Dea Prozess sagte er gegen seinen Schwager Clodius aus, ehe er sich nach einer gescheiterten Opposition gegen Caesar aus der Politik zurückzog und kurz darauf um 57/56 starb.83 Während seines Aufenthalts im griechischen Ostteil des römischen Reiches – zwischen 87 und 80 sowie später zwischen 73 und 68 – befand sich der athenische Philosoph Antiochos von Askalon in seinem Gefolge, der ihm, ähnlich wie Panaitios für Scipio, als Kenner der Region behilflich war.84 Zwar darf aus dieser Zweckbeziehung zwischen dem Aristokraten und dem akademischen Philosophen nicht auf eine intellektuelle Verbindung oder ein Lehrer-Schülerverhältnis geschlossen werden, dennoch ist erwähnenswert, dass Cicero mit Lucullus einen Römer als Dialogfigur auswählt, der mit dem Philosophen, dessen Meinung er im Dialog verteidigt, in einem persönlichen Kontaktverhältnis stand. Dass er sich, wie Plutarch berichtet, nach seinem Rückzug aus der politischen Karriere ganz der Philosophie gewidmet und sich für die Akademie des in seinen Diensten stehenden Antiochos von Askalon interessiert habe, 85 muss in Anbetracht von Ciceros Bedenken hinsichtlich seiner Rolle im Lucullus bezweifelt werden, eher belegt es den Einfluss des im Dialog von ihm entworfenen Porträts.86 Dass ihm jedoch geistige Interessen nicht völlig fremd waren, ist gut bezeugt: So attestiert ihm sein späterer Biograph neben herausragenden Griechischkenntnissen ein ausgeprägtes Interesse für Geschichtsschreibung und erwähnt ein von ihm verfasstes Geschichtswerk über den Marsischen Krieg in griechischer Sprache.87 Die antiken Quellen heben darüber hinaus seinen exorbitanten Reichtum, seine Sammlung erbeuteter Kunstgegenstände und seine Bibliothek hervor, auf die Cicero Bezug nimmt.88

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85 86 87 88

Vgl. Will 1999, Sp. 167; MRR 2, S. 153. Vgl. Bringmann 2010, S. 91; Gelzer 2014, S. 76. Seinen Niedergang ab dem Jahr 70 erklärt Will 1999, Sp. 167 durch das sullanische System und eine mangelnde „Psychologie im Umgang mit Untergebenen und im Verkehr mit Standesgenossen“. Zum Verhältnis von Antiochos und Lucullus s.: Glucker 1978, S. 21–27; Barnes 1989, S. 56f. Plut. Luc. 1,4 u. 42,2–4. Vgl. Glucker 1978, 27; Keaveny 1992, S. 11f. Plut. Luc. 1,5. Diod. 4,21,4; Gluckers Einschätzung, wonach das Bild des Lucullus als Philosoph ein bloßes Produkt ciceronischer Fiktion sei, wird dahingehend auch von Barnes einge-

350

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Mit L. Licinius Lucullus lässt Cicero nicht nur einen ranghohen Aristokraten, sondern auch einen zuletzt engen politischen Verbündeten auftreten. Plutarch nennt ihn einen seiner besten und vertrautesten Freunde (ὁ μέν ἐν τοῖς μάλιστα φίλος ὢν καὶ συνήθης)89, doch war das spätere gute Verhältnis auch pragmatischer Natur: Lucullus’ Hilfe bei der Niederschlagung der catilinarischen Verschwörung erfolgte, nachdem dieser ihn bei der Durchsetzung seines Triumphes unterstützt hatte.90 Zudem darf nicht übersehen werden, dass Cicero durch seine Rede für die Übertragung des Oberbefehls an Pompeius zu Lucullus’ Scheitern beitrug.91 b)

Hausherr und Vertreter der Geschichtsschreibung

Lucullus ist in der Rolle des Gastgebers, in dessen Villa Cicero das Gespräch stattfinden lässt.92 Wie die Figuren in den vorherigen Dialogen zeigt auch er in dieser Position ein freundliches Gemüt, indem angemerkt wird, dass ihm der Besuch willkommen und angenehm (noster adventus et gratus et iucundus) war. 93 Möglicherweise bezieht sich die Dialogfigur mit noster adventus auch direkt auf die Erscheinung Ciceros, wodurch die gegenseitige Verbundenheit, die zwischen den historischen Persönlichkeiten suggeriert werden soll, verstärkt würde. Der Luxus seiner Villa, die er mit auf seinen Feldzügen im Osten erbeuteten Kunstwerken und einer Bibliothek ausgestattet hat, bildet die Szenerie, in der das Gespräch stattfindet.94 In der einleitenden σύγκρισις fungierte Lucullus als Vertreter der Geschichtsschreibung, der diese der von Catulus vertretenen Dichtung vorzieht. Aus den Scholiasta Gronovianus erfahren wir dazu:95 Constat Lucullum usque ad tempora consulatus expertem fuisse bellorum; post in consulatu historiis studuisse ut bella destituta cognosceret. Hoc in illo dialogo qui scribitur Lucullus Cicero docet, unde et in Hortensio Lucullus historiam laudavit.

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schränkt: „The laudatio surely exaggerates, but we need not suppose that it invents.“, s. Barnes 1989, S. 61 in Bezug auf: Glucker 1978, S. 27; zum Verhältnis zwischen Lucullus und Diodor s. auch: Rathmann 2016, S. 33f. Plut. Luc. 41,3. Vgl. Graeser/Schäublin 1995, S. lv. Vgl. Keaveney 1992, S. 134. Cic. Hort. fr. 2 Grilli = 23 Str.-Z. (= Schol. Gronov. Verr. 2,1,54). Ebd., fr. 3 Grilli = 21 Str.-Z. (= Aras gramm. 476, 4K., VII 3). Vgl. Straume-Zimmermann 1976, S. 229. Cic. Hort. fr. 11 Grilli = 26 Str.-Z. (= Schol. Gron. pro lege Man. 28).

Hortensius

351

Es steht fest, dass Lucullus bis zu seiner Konsulatszeit keine Kriegserfahrung hatte, dann aber während des Konsulats Geschichte studierte, um so die vergangenen Kriege kennenzulernen. Dies lehrt Cicero in jenem Dialog, der den Titel „Lucullus“ trägt, weshalb denn Lucullus auch im Dialog „Hortensius“ die Geschichte gelobt hat.

Aus dem Zitat wird deutlich, dass Cicero gezielt auf das im Geschichtsbewusstsein vorhandene Bild der Persönlichkeit als erfolgreicher Feldherr zurückgegriffen hat, wodurch das Lob auf die Geschichtsschreibung durch die Autorität der Persönlichkeit, die sich hinter der Dialogfigur verbirgt, untermauert wird. Im Rahmen seines Lobs auf die Geschichtsschreibung ist auch ein weiteres Fragment dem Lucullus zuzuordnen, welches einen praktischen Nutzen ihrer Lektüre (ex annalium monumentis) für das Kriegswesen (bellicae res) und die res publica explizit hervorhebt.96 Dieser zeige sich konkret etwa darin, dass in ihr eine Fülle gewichtiger Beispiele (copia […] gravissimorum exemplorum) enthalten seien, welche als Anleitung für das eigene Handeln oder für die eigene Rhetorik (aut ad agendum aut ad dicendum) dienen könnten.97 Als Experte für griechische Literatur nennt Lucullus die berühmtesten griechischen Historiker als Vertreter spezifischer Stilideale:98 Quid enim aut Herodoto dulcius aut Thucydide gravius, aut Philisto brevius, aut Theopompo acrius aut Ephoro mitius inveniri potest? Was lässt sich nämlich finden, das süßer (und angenehmer) als Herodot, ernsthafter (und bedeutender) als Thukydides, knapper (und kürzer) als Philistos, heftiger (und kritischer) als Theopomp oder gar milder (und ruhiger) als Ephoros ist?

Es lässt sich zusammenfassend feststellen, dass die Figur des Lucullus nicht nur als Militär und reicher Lebemann gezeigt wurde, sondern darüber hinaus das Bild eines für Literatur aufgeschlossenen Intellektuellen gezeichnet wurde, dessen Schwerpunkt auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung lag. Als Vertreter der Geschichtsschreibung kommt ihm eine besondere Autorität innerhalb des Gesprächskreises zu. Er vervollständigt nicht nur das intellektuelle Milieu, das Cicero für seinen Protreptikos entwirft, sondern steht durch sein luxuriöses Leben, das sich den anderen Gesprächspartnern in seiner Villa offenbart, auch im Spannungsfeld der ethischen Frage, was für die vita beata benötigt wird. Als Teilnehmer des philosophischen Kreises gibt er dabei eine indirekte Antwort auf den Wert der divitiae und der voluptas, die von der Dialogfigur des Autors als falsche Güter entlarvt werden.

96 97 98

Cic. Hort. fr. 13 Grilli = 28 Str.-Z. (= Non. 275,34). Ebd., fr. 14 = 27 Str.-Z. (= Non. 315,23). Ebd., fr. 15 Grilli = 29 I–III Str.-Z. (= Non. 315,27).

352

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

1.4

Q. Lutatius Catulus

a)

Historische Persönlichkeit

Bei Q. Lutatius Catulus, der uns im Hortensius und der ersten Fassung der Academici Libri als Dialogfigur begegnet, handelte es sich um den Sohn des gleichnamigen Staatsmannes, den Cicero bereits in De oratore 2 und 3 auftreten ließ.99 Seine Geburt wird auf das Jahr 121 geschätzt.100 In seiner Jugend begleitete er seinen Vater bei dessen Feldzug gegen die Kimbern und unterstützte ihn bei seinem Vorgehen gegen den Tribun Saturninus. 101 Nach der Einnahme Roms durch die Marianer 87, in deren Folge sein Vater sich das Leben nahm, rettete er sich zu Sulla nach Griechenland, um spätestens im Jahr 81 wieder nach Rom zurückzukehren und seine Karriere mit dem Amt des Praetors fortzusetzen.102 Mit Unterstützung Sullas erhielt er 78 zunächst das Konsulat, ehe er im darauffolgenden Jahr als Prokonsul Lepidus abwehrte, der mit seinem Heer nach Rom aufgebrochen war.103 Nachdem er im Jahr 75 noch eine Abkehr von den sullanischen Reformen hatte verhindern können, musste er fünf Jahre später die Aufhebung derselben akzeptieren. Als Vertreter der römischen Nobilitiät stellte er sich in den 60er Jahren gegen Pompeius, doch konnte er nicht verhindern, dass jenem 67 der Oberbefehl gegen die Piraten und im folgenden Jahr der gegen Mithradates erteilt wurde.104 Auf der politischen Gegenseite steht zu dieser Zeit Cicero, der zwar das Anliegen des Pompeius vertritt, gegenüber Catulus aber dennoch in anerkennendem Ton spricht.105 Von 65 an, als er mit M. Licinius Crassus die Zensur erhielt, geriet er zunehmend in Konflikt mit C. Iulius Caesar. Im selben Jahr gelang es Caesar als Ädil, gegen Catulus’ Widerstand die Wiederaufstellung der marianischen Siegeszeichen zu veranlassen, im Jahr 63 unterlag Catulus dem aufstrebenden Politiker erneut, der sich unerwartet bei der Wahl des Pontifex

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Catulus’ Persönlichkeit fügt sich nicht nur durch seinen Vater in das ciceronische Netzwerk, sondern indirekt auch durch Cotta, der ihn in De natura deorum als Priesterkollegen und Freund (collega et familiaris nostra) bezeichnet: Cic. nat. deor. 1,79; vgl. Münzer 1927b, Sp. 2087. Zu den historischen Daten s.: Elvers 1999b, Sp. 525f.; Münzer 1927b, S. 2082–2094. Vgl. ebd., Sp. 2082. Ebd., Sp. 2083. Vgl. Elvers 1999b, Sp. 524f. In der peroratio der dritten Catilinarie erinnert Cicero das Volk daran und nennt ihn anerkennend einen clarissimus et fortissimus vir: Cic. Catil. 3,25. Zu seiner erfolglosen Opposition gegen die lex Gabinia: Cic. Manil. 59; Vell. 2,32,1; zum Widerstand gegen das imperium gegen Mithradates: Cic. Manil. 51, 59f.; vgl. Elvers 1999b, Sp. 525; Münzer 1927b, Sp. 2090. Cic. Manil. 51, 59, 63, 66.

Hortensius

353

Maximus gegen ihn durchsetzte. 106 Im Majestätsprozess um C. Cornelius des Jahres 65 trat er mit Hortensius und weiteren Konsularen als Belastungszeuge gegen den von Cicero erfolgreich verteidigten Angeklagten auf.107 Nach der Niederwerfung der catilinarischen Verschwörung, während der er Caesar der Teilnahme beschuldigte, gehörte er zu den ersten Gratulanten Ciceros, den er als „Vater des Vaterlandes“ bezeichnete.108 Als Folge eines von Caesar gegen ihn vorgebrachten Unterschlagungsvorwurfs geriet er ab 62 ins politische Abseits.109 Seine politische Linie, die Münzer dem Lager der gemäßigten Optimaten zurechnete, begünstigte unter Sulla seinen Aufstieg, drängte ihn jedoch in den späten 60ern in eine zunehmend erfolglose Opposition.110 Catulus’ Tod wird auf Ende 61 oder das Jahr 60 geschätzt, so dass der Zeitpunkt des Dialoges relativ nahe zu diesem angelegt ist.111 Als einer der führenden Köpfe der Opposition gegen Pompeius und Caesar wird er von keinem geringeren als dem jüngeren Cato beerbt.112 Cicero lässt mit dem jüngeren Catulus eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens in sein Dialog-Universum treten, der er im Brutus – im Gegensatz zu dessen Vater – rednerische Fähigkeiten abspricht (filius quidem non fuit in oratorum numero), gleichzeitig jedoch eine prudentia attestierte, die ihr eine gebildete Ausdrucksweise (elegans […] et eruditum orationis genus) ermöglichte.113 Ein ähnlicher Vergleich zwischen Vater und Sohn findet sich in De officiis, in dem die hohe latinitas beider Catuli lobend hervorgehoben wird. 114 Cicero gibt somit im Brutus eine insgesamt geringere Meinung von ihm, wie auch von Lucullus, als Redner zu erknnen, diese wird allerdings durch den Verweis auf ihr politisches Wirken zum Schutz des Gemeinwesens (in praesidiis rei publicae […] collocemus) in sehr milder und wohlwollender Manier geäußert. 115 Dass Catulus mit seinem Vater ein gewisses Interesse an Dichtung teilte, lässt sich aus seinem wohl stadtbekannten Umgang mit dem Dichter Archias schließen, auf

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Zur Niederlage in der Pontifikatswahl s.: Sall. Catil. 49,2; Vell. 2,43,3; vgl. Münzer 1927b, Sp. 2091. Zur nur fragmentarisch erhaltenen Rede Pro C. Cornelio und deren Umständen s.: Crawford 1994, S. 67–72, 265. Cic. Sest. 121; Pis. 6; vgl. Münzer 1927b, Sp. 2092. Cic. Att. 2,24 = 44 Sh. B.,3; Suet. Iul. 15; vgl. Elvers 1999b, Sp. 526. Vgl. Münzer 1927b, Sp. 2085f.; Elvers 1999b, Sp. 525. Vgl. Graeser/Schäublin 1995, S. liii. Vgl. Gruen 1974, S. 55. Cic. Brut. 133. Cic. off. 1,133. Während die latinitas des älteren Catulus in De oratore in einem inhaltlichen Zusammenhang mit dem Werk steht und somit den Reiz des Personengefüges erhöht, lässt sich ihr Einfluss im Hortensius nicht abschätzen. Cic. Brut. 222.

354

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

den Cicero in seiner Verteidigungsrede anspielt. 116 Aus dem Dialog Lucullus kann gefolgert werden, dass es zwischen den Lutatii Catuli und dem Philosophen Philon von Larissa ein Gastfreundschaftsverhältnis gab.117 Wie in anderen Fällen gibt es keinen Grund, an der Historizität einer persönlichen Verbindung zwischen dem römischen nobilis und dem griechischen Philosophen zu zweifeln, obschon auch hier an den pragmatischen Nutzen gedacht werden muss, den solche Bekanntschaften für die römische Aristokratie mit sich brachten. Dieser Aspekt fällt umso mehr ins Gewicht, als Catulus zwischen 87 und 81 in Griechenland aktiv und somit auf griechische Gelehrte mit Ortskenntnissen angewiesen war. Die historische Verbindung zu Dichtern und Philosophen stellt jedoch für Cicero als Dialogautor eine zentrale Information dar, die ihm die Umgestaltung der historischen Person in eine intellektuelle Dialogfigur erleichtert und dieser von ihm geschaffenen „Person“ einen Anstrich historischer Glaubwürdigkeit verleiht. Es verwundert daher nicht, dass die Darstellung der Dialogfigur Catulus dichterfreundlich und philosophieaffin ausfällt. b)

Catulus als an Drama und Philosophie interessierter Zuhörer

Catulus befindet sich vor der Dialogfigur des Autors in der Villa des Lucullus und zeigt sich über ihr Erscheinen erfreut (Catulus delectatus). 118 Er scheint gerade zu Beginn des Gesprächs eine zentralere Rolle eingenommen zu haben, wo sich seine Liebe zur Tragödie durch seine Bitte an Lucullus offenbart, ihm den index tragicorum zukommen zu lassen, so dass er prüfen könne, welche ihm noch fehlen (qui forte mihi desunt).119 Ob er – wie Lucullus im Bereich der Geschichtsschreibung – einen Vortrag über die Tragödiendichtung gehalten hat, lässt sich nicht sicher rekonstruieren, doch zeigt sich klar, dass auch der Sohn des in De oratore auftretenden Catulus ein spezifisches und ihn im Dialog charakterisierendes Interesse für diese ars aufweist. 120 Er verkörpert damit eine gebildete Person und es scheint plausibel, dass das Gespräch – wie Grilli vermutet, der dieses Fragment an den Anfang des Dialogs stellt – wie De legibus mit einer zur Poesie zählenden Gattung begonnen wurde und erst nach einem Umweg über die Geschichtsschreibung zur Kernauseinandersetzung gelangte.120F121 Dass er in seinen einleitenden Worten auch die Komödie streifte, legt ein Fragment nahe, in dem die Dialogfigur jene Gattung als Nachahmung des

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121

Cic. Arch. 6: vivebat cum Q. Catulo et patre et filio – „Er lebte vertraut mit Q. Catulus, Vater und Sohn.“ Cic. ac. 2,12 u. 2,148; vgl. Jocelyn 1977, S. 335. Cic. Hort. fr. 4 Grilli = 22 Str.-Z. Ebd., fr. 8 Grilli = 35 Str.-Z. (= Non. 396, 27). Straume-Zimmermann hält den Satz lediglich für einen Einschub und eine längere Erörterung für unwahrscheinlich: Straume-Zimmermann 1976, S. 88 u. 229. Vgl. Grilli 2010, S. 11.

Academici libri priores

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Lebens (imitationem vitae), Spiegel der Gewohnheit (speculum consuetudinis) und Abbild der Wahrheit (imaginem veritatis) klassifiziert.122 Neben dem Interesse am Drama besitzt er auch ein philosophisches, wie ein Vergleich in einem ihm von Grilli zugewiesenem Fragment verrät123, indem er direkt nach Hortensius’ Kritik an der Philosophie bekundet, ein beliebiges Büchlein über die Pflicht (de officio) einer langen Rede über einen Aufrührer wie Cornelius (pro seditioso homine Cornelio) zu bevorzugen.124 Passend zu seiner Beschreibung im Brutus deutet die Gegenüberstellung auf eine eher reservierte Haltung zur Rhetorik zugunsten der Philosophie hin. Die Anspielung auf Ciceros Pro C. Cornelio erinnert zudem an die einstige Gegnerschaft vor Gericht, die zwischen dem historischen Vorbild der Dialogfigur und dem Autor bestand, in der Fiktion aber als überwunden erscheint. c)

Zusammenfassung

Das Interesse an Philosophie und Drama konvergiert mit der historischen Persönlichkeit dahingehend, dass diese mit dem Dichter Archias von Antiochia125 und dem Akademiker Philon von Larissa tatsächlich Kontakte zu griechischen Vertretern der Poesie und Philosophie hatte. Als Vertreter des Dramas steht er im personellen Gefüge Hortensius, als Repräsentanten der Redekunst, und Lucullus, dem Freund der Geschichtsschreibung, gegenüber. Das personelle Gefüge verweist somit auf drei Wissenschaften, die sich bereits einer hohen Akzeptanz innerhalb der römischen Gesellschaft erfreuten und die bereits fester Bestandteil der lateinischen Literatur waren. Das durch den Dialog gezeichnete intellektuelle Milieu bildet somit einen idealen Entstehungsrahmen für die Geburt einer lateinischen Philosophie.

2

Academici libri priores

Im Anschluss an den Hortensius setzte Cicero zwischen März und Mai 45 mit den als Academici libri priores bezeichneten Werken Catulus und Lucullus seine

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Cic. Hort. fr. 10 Grilli (nicht in Str.-Z.; Don. de com. 5, 1). Grilli 2010, S. 11 u. 137. Cic. Hort. fr. 21 Grilli = 34 Str.-Z. (= Lact. inst. 6,2,15). Dieser wurde bereits von Catulus’ Vater protegiert und verfasste neben Epigrammen eine poetische Darstellung der Kimbernkriege auf Marius und ein Gedicht, das Lucullus’ Krieg gegen Mithradates thematisierte. Zu Archias s. Zimmermann/Rengakos 2014, S. 156 u. 241f.

356

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

zweite philosophische Schaffensphase fort. 126 Die Academici libri nehmen eine zentrale Rolle im Gesamtwerk ein, da der Autor sich mit ihnen zur Neuen Akademie bekennt, also eben jener philosophischen Schule, als deren Vertreter er auch in den folgenden Werken auftreten wird. 127 Von dem Werk, in dem die Behandlung der akademischen Erkenntnistheorie sowie der Schulstreit zwischen Philon von Larissa und Antiochos von Askalon zur Sprache kommen, sind bekanntermaßen nur das zweite Buch der zweibändigen ersten Version, der Lucullus, sowie die Hälfte des ersten Buches aus der überarbeiteten späteren Fassung, die aus vier statt aus zwei Büchern bestanden hatte, erhalten. 128 Die Korrespondenz zwischen Cicero und Atticus im Juni 45 zeigt die Überlegungen des Autors, die ihn zur Überarbeitung des Werkes führten. Da ein zentrales Motiv hierfür die Frage nach der Eignung der Dialogfiguren war, soll im Vorfeld der Einzeluntersuchungen auf diese eingegangen werden. Nachdem Cicero am 24. Juni das Werk De finibus vollendet hat, berichtet er seinem Freund von der Absicht, die Academici libri, von denen jener bereits eine erste Version besessen haben muss, abzuändern: 129 125F

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ergo illam Ἀκαδημικήν, in qua homines nobiles illi quidem sed nullo modo philogi nimis acute loquuntur, ad Varronem transferamus. etenim sunt Antiochia, quae iste valde probat. Catulo et Lucullo alibi reponemus, ita tamen, si tu hoc probas, deque eo mihi rescribas velim.

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Einen Überblick über die für die Datierung relevanten Testimonien liefert: Plasberg 1980, S. iii–vii; zur Datierung und Entstehungsgeschichte s.: Reid 1984, S. 28–38; Griffin 1997, bes. S. 28–32; vgl. Lefèvre 1988, S. 113; Schäublin 1992, S. 41. Vgl. Lefèvre 1988, S. 111. Seit Bringmann werden die Academici libri meist als einführendes Werk innerhalb Ciceros philosophischem Projekt der Jahre 45 und 44 interpretiert: Bringmann 1971, S. 111. Dagegen brachte zuletzt Griffin berechtigte Einwände vor, indem sie auf Ciceros eigene Aussage in den Tuskulanen verwies, wonach die Academici libri als Verteidigung der Akademie intendiert waren: Cic. Tusc. 2,4; Griffin 1997, S. 4–8. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass auch die Überarbeitung mehrere Phasen beinhaltete. In einer ersten hatte Cicero offenbar schon begonnen, die Rollen des Catulus, Lucullus und Hortensius durch Cato und Brutus zu ersetzen, ehe er dazu überging, sie nochmals umzuschreiben, um letztlich Varro die Thesen des Antiochos vertreten zu lassen. Cic. Att. 13,16 = 323 Sh. B.,1f. Wie Griffin überzeugend darlegt, musste der Austausch und die Reduzierung der Sprecherzahl sowie die Aufteilung von zwei auf vier Bücher in jener Zwischenfassung eine Reihe von Konsequenzen für Titel, Szenerie, Setting und Struktur des Dialogs nach sich ziehen. Durchaus plausibel scheint die Annahme, dass der Titel Academici libri ein Produkt dieser „intermediate version“ war, da bereits Werke mit dem Titel Brutus und Cato erschienen waren. S. hierzu: Griffin 1997, S. 23–27. Cic. Att. 13,12 = 320 Sh. B.,3.

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Academici libri priores

Also werde ich die Academica auf Varro umschreiben. Sie bringen ja ohnehin Gedanken des Antiochus, die er besonders schätzt, und die bisherigen Personen, zwar hochadlige Männer, aber keineswegs philosophisch durchgebildet, reden für ihre Verhältnisse doch allzu scharfsinnig. An Catulus und Lucullus mache ich das anderswo wieder gut; jedoch all dies unter der Voraussetzung, dass Du damit einverstanden bist, und ich möchte Dich bitten, mir darüber zu schreiben.

Die Charakterisierung des Lucullus und des Catulus als nobiles illi quidem sed nullo modo philologi stellt ein Indiz für die Diskrepanz zwischen den realen Persönlichkeiten und den von Cicero modellierten Dialogfiguren dar. Jener sah allerdings keine Notwendigkeit, korrekte intellektuelle Porträts zu entwerfen. 130 Ein zentrales Motiv, das ihn dazu verleitete, den jüngeren Catulus und Lucullus in seinem dialogischen Universum auftreten zu lassen, ist die persönliche Ehrerbietung, worauf auch sein Versprechen hinweist, es andernorts wieder gutzumachen (alibi respondemus). 131 Das von Atticus empfohlene Umstrukturieren des Werkes, das eine Aufteilung von zwei auf vier Bücher und das Ersetzen der homines nobilissimi durch Personen aus dem engsten Umfeld Ciceros nach sich zog, 132 erfolgte dahingehend nicht nur aus der Tatsache, dass die ursprünglich vorgesehenen Personen nicht gut genug zu den von ihnen vorgetragenen Positionen passten, sondern auch aus einem Gefühl der persönlichen Bringschuld gegenüber Varro heraus, der Cicero bereits literarisch seine Ehre bezeugt hatte (iam Varro mihi denuntiaverat magnam sane et gravem προσφώνησιν). 133 Dass jener gerne in seinen Dialogen auftreten wollte – eine hinsichtlich der Rezeption ciceronischer Literatur zu Lebzeiten des Autors nicht uninteressante Notiz –, hatte der Autor von Atticus erfahren (idque eum non nolle mihi scripsisti). 134 Varro scheint dabei tatsächlich mit den Positionen des Antiochos nicht gänzlich unvertraut gewesen zu sein, wie die Bemerkung quae iste valde probat nahelegt. Über die Bildung von Catulus, Lucullus und Hortensius äußert er sich erneut nach dem Umschreiben (27. Juni 45), dass diese bekanntermaßen nicht ungebildet (non […] ἀπαιδευσία), für die Thematik aber wenig bewandert (in iis rebus ἀτριψά) gewesen seien. 135 Nur zwei Tage darauf steigert er seine Kritik, indem den Gegenstand für zu wissenschaftlich erklärt, dass jene auch nur davon hätten träumen können (erant enim λογικώτερα, quam ut illi de iis somniasse umquam viderentur). 136 Dass Cicero bereits bei der Ausarbeitung der ersten Version der Academici libri mit der Verwunderung seiner Leserschaft hinsichtlich der Dia129F

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Vgl. Zetzel 1972, S. 176. Vgl. Griffin 1997, S. 14f. Cic. Att. 13,13f. = 321 Sh. B.,1. Ebd., 13,12 = 320 Sh. B.,3. Ebd. Ebd., 13,16 = 323 Sh. B.,1. Ebd., 13,19 = 326 Sh. B.,5.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

logfiguren und der von ihnen vertretenen Thesen rechnete, wird aus dem Proömium des Lucullus deutlich, in dem er dieser Gruppe selbst entgegenhält: 137 136F

Sunt etiam, qui negent in iis, qui nostris libris disputent, fuisse earum rerum, de quibus disputatur, scientiam. qui mihi videntur nun solum vivis sed etiam mortuis invidere. Ferner bestreiten einige, dass die Männer, die in meinen Dialogen auftreten, über Kenntnisse in den Bereichen verfügt hätten, denen die Dialoge gelten. Wer so redet, zeigt bösen Willen – scheint mir – nicht nur gegen Lebende, sondern sogar gegen Tote.

Mit Blick auf seine bisherigen Dialogwerke will Cicero das Stilisieren seiner Figuren gar nicht leugnen und sieht sich auch nicht gezwungen, eine ausführlichere Rechtfertigung hierfür zu geben. Der Hinweis, dass jene Kritiker Lebende und Tote zu beneiden scheinen (mihi videntur […] invidere), lässt durchschimmern, dass der Autor seine Art der Figurendarstellung als eine legitime Form der Ehrerbietung betrachtet. 138 Darüber hinaus bestand ein nicht unbedeutendes Argument für das Dialogpersonal der ersten Version darin, dass es den Catulus und Lucullus in einen engeren Kontext mit dem zuvor geschriebenen Hortensius stellte, dessen Dialoghandlung dadurch eine Fortsetzung erhalten hätte. 139 Dass Cicero die personelle Besetzung des Dialogs letztlich doch änderte und sich für realitätsnähere Figuren entschied, zeigt jedoch, wie gespalten der Autor in dieser Angelegenheit war. Die Untersuchung der Academici libri beginnt mit dem Lucullus, da dieser einerseits den Autor als Konsular und Hauptcharakter des Werkes darstellt, andererseits jedoch mit ca. 16 Jahren Differenz zur Abfassungszeit relativ weit in der Vergangenheit zurückliegt. Das Gespräch findet an einem Sommertag des Jahres 62 oder 61 in der Villa des Hortensius auf Bauli statt, einen Tag nach dem Gespräch im verlorenen Catulus, das in der Villa des Catulus angesiedelt war. 140 Während man im erhaltenen zweiten Buch sehr gut Cicero und Lucullus als Hauptredner identifizieren kann, gestaltet sich dies im Fall des verlorenen Catu137F

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Cic. ac. 2,7. Der deutsche Text des Lucullus folgt hier und im Folgenden, wenn nicht anders vermerkt, der Übersetzung von Schäublin. Wie wichtig ihm diese im Fall des Catulus und Lucullus war, wird aus dem die erste Abänderung betreffenden Brief an Atticus deutlich, in dem Cicero erklärt, ihre Herausnahme in einem späteren Werk wiedergutzumachen (alibi repondemus): Cic. Att. 13,12 = 320 Sh. B.,5; vgl. Griffin 1997, S. 14f. Auf den Effekt der werkübergreifenden Verflechtung verwies bereits: Hirzel 1895, S. 506–508; vgl. Griffin 1997, S. 3f. Cic. ac. 2,9; vgl. Graeser/Schäublin 1995, S. lii; zum verlorenen Catulus s. Griffin 1997, S. 16–20.

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Academici libri priores

lus deutlich schwieriger: Aus dem erhaltenen ersten Buch der überarbeiteten Fassung lässt sich erkennen, dass die Sprecher Varro und Cicero über die Geschichte der Akademie berichtet haben und die Vorträge durch Einwände vonseiten Ciceros und Atticus’ aufgelockert waren. 141 Das Problem einer genauen Zuweisung im ersten Buch ergibt sich primär aus zwei Gründen: Zum einen nehmen in der ersten Version vier, in der Endfassung nur drei Sprecher am Gespräch teil. Zum anderen erfolgten auch weitere Änderungen am Text, wie der Hinweis auf Kürzungen (multa detracta) in der Korrespondenz nahelegt. 142 Aus den erhaltenen Äußerungen Ciceros lässt sich daher nicht klären, welche Figuren in der Endversion die des Catulus beerbten. Als gesichert gilt nur, dass die personelle Zusammensetzung mit der des Hortensius und der des Lucullus übereinstimmte und dass analog zu diesen die titelgebende Figur eine wichtigere Rolle einnahm. 143 Diese zeigte sich vermutlich darin, dass Catulus darin parallel zum Lucullus im zweiten Buch einen größeren Redeanteil einnahm, auf den weiter unten noch einzugehen ist. Die jeweiligen Funktionen und Bedeutungen der Dialogfiguren Lucullus, Catulus und Hortensius lassen sich jedoch nur für den Lucullus genauer bestimmen. 140F

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2.1

L. Licinius Lucullus

a)

Lucullus als politischer Verbündeter und gebildeter Römer

Bereits im Proömium des Werkes bemüht sich Cicero, die historische Persönlichkeit des Lucullus angemessen zu würdigen. Dabei stellt er mit der Erwähnung des Triumphs nicht nur Lucullus’ militärischen Erfolge heraus, sondern verweist auch auf seine eigene Rolle als Konsul (nos enim consules introduximus […] currum clarissimi viri) bei jenem Ereignis und auf den politischen Beistand, den ihm der Triumphator während seines Konsulats zuteil werden ließ (cuius mihi consilium et auctoritas […] in maximis rebus profuisset). 144 Cicero stellt somit performativ ein mögliches Lob auf seine eigene Person zurück und macht symbolisch den Platz für Lucullus frei. Der Leistung des Konsuls, nämlich der Ermöglichung des Triumphes, wird die des Triumphators gegenübergestellt, der ihm durch consilium und auctoritas beistand. Dem Leser des Lucullus erschließt sich folglich im Proömium ein zentrales Motiv des Autors, der mit seinem Werk einem ehemaligen politischen Weggefährten eine Ehrung zukommen lassen will. Im Zuge der Dankerweisung und der Erinnerungsarbeit erfolgt auch Lucullus’ 143F

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S. hierzu: Lefèvre 1988, S. 118f. Cic. Att. 13,13 = 321 Sh. B.,1. Vgl. Griffin 1997, S. 18. Cic. ac. 2,3.

360

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Charakterisierung unmittelbar am Anfang des Werkes. Er wird als eine Person beschrieben, die über Begabung (magnum ingenium) und Gelehrsamkeit (optimarum artium doctrina) verfügt, wodurch er als Hauptredner in der Tradition von Personen wie Crassus oder Cotta steht. 145 Anschließend fährt der Autor mit einer knappen Beschreibung von Lucullus’ politischer Laufbahn fort und lobt dessen Verdienste um das Vaterland. 146 Wie die Hauptredner in De oratore hatte er zum Dialogzeitpunkt bereits das höchste politische Amt innegehabt, wodurch die dignitas seiner Person, die eingangs durch seine Beschäftigung mit den optimae artes herausgestellt wurde, ein weiteres konstituierendes Element erfährt. Zu seinen militärischen Erfolgen gegen Mithradates merkt Cicero an, dass sie besonders erstaunlich seien, da er in der Jugend auf dem Forum gearbeitet habe, so dass er als „militärischer Laie“ (rei militaris rudis) antrat und nur durch sein übermenschliches Gedächtnis (divinam quandam memoriam) bestehen konnte. 147 Erneut zeigt die gerühmte Dialogfigur deutliche Parallelen zum Autor, der sieben Jahre vor Entstehung des Werkes militärischen Ruhm in Kilikien ernten konnte, aufgrund des Bürgerkrieges jedoch auf den Triumph verzichten musste. 148 Hinsichtlich seines Erinnerungsvermögens wird er mit dem Griechen Themistokles verglichen, den Cicero an dieser Stelle als Graeciae princeps einstuft, der jedoch die „Lehre“ (illam disciplinam), die sich sein römischer Gegenpart angeeignet habe, abgelehnt hätte. 149 Innerhalb des Lobes auf seine Mnemotechnik und Tatkraft findet sich eine kleine Anspielung, wonach Hortensius der bessere Redner gewesen sei (verborum maiorem Hortensius). 150 Im Brutus nennt ihn Cicero zwar „scharfsinnig“ (acutum), 151 zählt ihn jedoch zusammen mit Catulus zu einer Generation der eher unbedeutenderen Redner, die bei der militärischen Verteidigung des Gemeinwesens (in praesidiis rei publicae […] collocemus) besser aufgehoben seien als in einem Gerichtssaal. Der Verzicht auf eine präzise Bewertung von Lucullus’ und Catulus’ rednerischem Talent und der Hinweis auf ihre Rolle beim Schutz des Gemeinwesens spielt wie das Prooemium des Lucullus auf deren Unterstützung für Ciceros Vorgehen gegen Catilina an. Dort werden die militärischen Leistungen, die Lucullus gegen Mithradates unter Beweis gestellt habe, mit denen Alexanders des Großen verglichen. 152 Indem es heißt, sein staatsmännisches Geschick beim administrativen Umgang mit anderen Staaten (tanta 14F

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Cic. ac. 2,1. Ebd. Ebd., 2,2. Zu Ciceros Prokonsulat in Kilikien s. etwa: Gelzer 2014, S. 205–221; Fuhrmann 2007, S. 173–185; Bringmann 2010, S. 175–185. Cic. ac. 2,2. Ebd., Cic. Brut. 222. Cic. ac. 2,3.

361

Academici libri priores

prudentia fuit in constituendis temperandisque civitatibus) würde sich heute noch darin zeigen, dass man in der Provinz Asia an seinen Bestimmungen festhalten würde, wird die Beständigkeit von Lucullus’ politischem Werk angedeutet. 153 Neben seinen praktischen Fähigkeiten als Feldherr und Staatengründer stellt die Einleitung auch seine Gelehrsamkeit heraus: 154 152F

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maiore enim studio Lucullus cum omni litterarum generi tum philosophiae deditus fuit, quam, qui illum ignorabant, arbitrabantur, nec vero ineunte aetate solum sed et pro quaestore aliquot annos et in ipso bello, in quo ita magna rei militaris esse occupatio solet, ut non multum imperatori sub ipsis pellibus otii relinquatur. Mit größerem Eifer nämlich als die glaubten, die ihn nicht kannten, gab Lucullus sich allgemein literarischen Neigungen hin, insbesondere aber der Philosophie, und dies nicht nur in seiner Jugend, sondern auch einige Jahre lang als Proquaestor und sogar noch im Krieg: dann also, wenn üblicherweise die Beschäftigung mit militärischen Angelegenheiten so sehr im Vordergrund steht, dass einem Feldherren – erst recht unter den Bedingungen des Lagerlebens – nicht viel Freizeit übrigbleibt.

Das Zuschreiben „literarischer Neigungen“ (studio […] cum omni litterarum generi) passt zu dem Bild des Lucullus, das deutlich später Plutarch von ihm zeichnen wird, der bereits in der Einleitung seiner Biographie dessen Fähigkeiten in der griechischen und lateinischen Sprache hervorhebt. 155 Wie oben anhand der die Überarbeitung betreffenden Briefe gezeigt wurde, hält Cicero die Hauptredner zwar nicht für ungebildet, spricht ihnen jedoch die philosophische Kompetenz für das Gespräch in den Academici libri ab. Warum sich Cicero zunächst überhaupt für Lucullus entschieden hatte, lässt sich nicht nur mit den Motiven der persönlichen Dankerweisung und der memoria erklären, sondern auch damit, dass der Autor grundsätzlich kein Problem damit hatte, eine Figur in seinem Sinne zu stilisieren. Darüber hinaus soll die Charakterisierung der Persönlichkeit im Proömium die Glaubwürdigkeit der Dialogfigur steigern, indem sie dem Leser ein Lucullus-Bild vor Augen führt, welches Lucullus philosophische Kompetenz attestiert. 156 Die Darstellung des Lucullus als einen an Philosophie interessierten Staatsmann, worin sich das Ideal der Verbindung von Theorie und Praxis widerspie154F

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Cic. ac. 2,3. Ebd., 2,4. Plut. Luc. 3–5. Die Beschäftigung mit der Philosophie trat Plutarch zufolge allerdings erst im Alter hervor, worin sich also dessen Bild von dem Ciceros leicht unterscheidet, der Glaubwürdigkeit der Szenerie aber nicht entgegensteht. Vgl. Lefèvre 1988, S. 121.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

gelt, sieht der Autor in der Einleitung möglicher Kritik zeitgenössischer Leser ausgesetzt: 157 156F

Ac vereor interdum, ne talium personarum, cum amplificare velim, minuam etiam gloriam. sunt enim multi, qui omnino Graecas non ament litteras, pluresque qui philosophiam, reliqui, qui etiam si haec non inprobent, tamen earum rerum disputationem principibus civitatis non ita decoram putent. Allerdings fürchte ich zuweilen, dass es mir bei solchen Gestalten folgendermaßen ergeht: ich möchte ihren Glanz steigern und setze ihn tatsächlich herab. Es gibt viele Menschen, die mit griechischer Literatur allgemein, noch mehr, die insbesondere mit der Philosophie nichts zu tun haben wollen; die übrigen missbilligen zwar die genannten Bestrebungen nicht, sind aber doch der Meinung, dass die Beschäftigung mit solchen Dingen sich für führende Politiker eigentlich nicht schicke.

Der von Cicero antizipierte dritte Vorwurf, wonach es sich für die führenden Staatsmänner nicht schicke, sich der Philosophie zu widmen, richtet sich damit gegen die Darstellung eines philosophierenden Lucullus, der – wie das Proömium zeigte – einer der principes civitatis ist. Die Entkräftigung der Einwände erfolgt durch die Nennung der Beispiele des älteren Cato und des Scipio Aemilianus, von denen der erste noch im Alter begonnen habe, sich griechische Literatur anzueignen (Graecas litteras M. Catonem in senectute didicisse), der zweite Panaitios als einzigen Begleiter mit auf die Gesandtschaftsreise nahm (Panaetium unum omnino comitem fuisse). Die implizite Parallelisierung des Lucullus mit Cato und Scipio soll die ihm zugeschriebene Leidenschaft für Literatur und Philosophie rechtfertigen. Gleichzeitig ist die Figur selbst als ein rechtfertigendes exemplum für den Autor und dessen Absicht konzipiert, die Philosophie in Rom anzusiedeln. b)

Lucullus als Vertreter der These des Antiochos

Als Dialogfigur kommt es ihm in der ersten Hälfte des Buches zu, die Position des Antiochos mit einem Vortrag gegen die skeptische Akademie zu vertreten, worauf dann Cicero als Verteidiger der Skepsis antwortet. Da dieses philosophische Profil jedoch für manche Leser ein Glaubwürdigkeitsproblem darstellte, ist es aus dialogtechnischer Perspektive nicht uninteressant, dass Cicero seine Dialogfigur Überlegungen anstellen lässt, die als Erklärungen für die Herkunft ihres philosophischen Sachverstands gesehen werden können. In diesem Zusammenhang spielt zunächst die Darstellung des Bildungskontakts eine wichtige Rolle. Wie in De oratore, so liefert der Autor auch im Lucullus durch die Figur eine

157

Cic. ac. 2,5.

Academici libri priores

363

Beschreibung eines angeblich historischen Treffens zwischen dem Römer Lucullus und wichtigen griechischen Philosophen: 158 157F

cum Alexandriae pro quaestore […] essem, fuit Antiochus mecum, et erat iam antea Alexandriae familiaris Antiochi Heraclitus Tyrius, qui Clitomachum multos annos et Philonem audierat, homo sane in ista philosophia, quae nunc prope dimissa revocatur, probatus et nobilis; […] (13) […] Tum igitur, et cum Heraclitum studiose audirem contra Antiochum disserentem et item Antiochum contra Academicos, dedi Antiocho operam diligentius, ut causam ex eo totam cognoscerem. itaque conplures dies adhibito Heraclito doctisque conpluribus et in iis Antiochi fratre Aristo et praeterea Aristone et Dione, quibus ille secundum fratrem plurum tribuebam multum temporis in ista una disputatione consumpsimus. Als ich als Proquaestor in Alexandria weilte, war Antiochos in meinem Gefolge; und schon zuvor befand sich in Alexandria Heraklit aus Tyros, ein Freund des Antiochos. Viele Jahre lang war er ein Schüler des Kleitomachos und des Philon gewesen und hatte sich trefflich bewährt und ausgezeichnet in der Richtung der Philosophie, die jetzt – obwohl beinahe außer Kraft gesetzt – wieder zum Leben erweckt wird. […] (13) […] Damals hörte ich mit Hingabe zu, wie Heraklit gegen Antiochos argumentierte, und ebenso, wie Antiochos gegen die Akademiker; mit besonderer Aufmerksamkeit allerdings achtete ich auf Antiochos, um von ihm Aufschluss über den ganzen Fragekomplex zu erhalten. So verwandten wir denn während mehrerer Tage viel Zeit auf diese Untersuchung; beigezogen wurde Heraklit und einige weitere Gelehrte, unter ihnen Antiochos’ Bruder Aristos und außerdem Ariston und Dion, auf welche jener nächst seinem Bruder am meisten hielt.

Wie Crassus, Scaevola und Antonius in De oratore 1 kommt Lucullus in seiner Funktion als römischer Beamter (cum Alexandriae pro quaestorem […] essem) mit griechischen Gelehrten in Kontakt. Bereits vor diesem Zeitpunkt war mit Antiochos ein Philosoph in seinem Gefolge (fuit Antiochus mecum), was auf eine Beschäftigung mit Philosophie im Vorfeld hinweist. Innerhalb des Gesprächs habe er die Rolle des aufmerksamen, jedoch passiven Schülers eingenommen, der den Diskussionen aufmerksam lauschte (studiose audirem), wodurch der Leser eine Erklärung für die Herkunft der von ihm vorgelegten Positionen erhält: Sein Vortrag – und somit auch der Dialog selbst – erscheint als ein Gespräch, das durch ein vorheriges unter griechischen Gelehrten inspiriert wurde.

158

Cic. ac. 2,12f.

364

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

c)

Der römische Charakter der Lucullus-Figur

Die Dialogfigur spiegelt jedoch nicht nur das Bild eines römischen Intellektuellen, sondern auch das eines römischen Staatsmanns. Um die Methodik der skeptischen Philosophen, sich auf frühere philosophische Autoritäten zu berufen, zu geißeln, verwendet er einen Vergleich aus dem politischen Alltag der römischen Republik: 159 158F

primum mihi videmini. (me autem nomine appellabat) cum veteres physicos nominatis, facere idem, quod seditiosi cives solent, cum aliquos ex antiquis claros viros proferunt, quos dicant fuisse populares, ut eorum ipsi similes esse videantur. „Erstens einmal kommt es mir so vor, als verhieltet ihr euch“ (dabei wandte er sich namentlich an mich) „mit eurer Nennung der alten Naturphilosophen genau so, wie das aufrührerische Bürger zu tun pflegen, indem sie aus der Schar der Alten auf einige hervorragende Männer zeigen und von ihnen behaupten, sie seien ‚Volksfreunde‘ gewesen: Auf diese Weise möchten sie den Eindruck erwecken, selbst ihnen ähnlich zu sein.“

Der Verweis auf die res publica erfolgt mit einer klaren optimatischen Tendenz, indem er den popularen Politikstil mit der bloßen Agitation durch „aufrührerische Bürger“ (seditiosi cives) gleichsetzt. Das Parallelisieren der skeptischen Akademie stellt dabei eine Spitze gegen Cicero dar, dessen politische Gesinnung mit der des Lucullus identisch ist. Die von ihm im Folgenden aufgeführten Autoritäten, P. Valerius, C. Flaminius, L. Cassius, Q. Pompeius, P. Africanus, P. Crassus, P. Scaevola und C. Marius, würden – bis auf Marius – zu Unrecht von den selbsternannten populares instrumentalisiert. 160 Die Positivbeispiele römischer Politiker werden dabei direkt mit den griechischen Philosophen Empedokles, Anaxagoras, Demokrit, Parmenides, Xenophanes, Platon und Sokrates verglichen. 161 Die Erwähnung des popularen Politikers Saturninus, den er als seinen Feind bezeichnet (ut nostrum inimicum potissimum nomen), soll zeigen, dass jenes Verfahren auch in der Philosophie nicht zulässig sei, und offenbart zugleich deutlich die optimatische Gesinnung der Dialogfigur. 162 Am Ende seines Vortrags zeigt sich dieser Charakterzug noch deutlicher, indem er Cicero selbst als exemplum seiner Argumentation verwendet, wonach sich dessen skeptische Position nicht mit seiner öffentlichen Rolle verbinden lasse: 163 159F

160F

16F

162F

159 160 161 162 163

Cic. ac. 2,13. Ebd. Ebd. 2,14. Ebd. Ebd., 2,62.

365

Academici libri priores

provide etiam, ne uni tibi istam sententiam minime liceat defendere. an tum cum res occultissimas aperueris in lucemque protuleris iuratusque dixeris ea te conperisse (quod mihi quoque licebat, qui ex te illa cognoveram), negabis esse rem ullam, quae cognosci conprendi percipi possit? vide, quaeso, etiam atque etiam, ne quoque rerum pulcherrimarum a te ipso minuatur auctoritas. Vorsicht überdies: Vielleicht steht gerade dir am allerwenigsten zu, eine solche Auffassung zu vertreten. Oder wie? – da hast du doch geheimste Machenschaften aufgedeckt, ans Licht gebracht und unter Eid behauptet, du habest davon „Kenntnis erhalten“ (und ein Gleiches stand auch mir frei, der ich die Sache von dir erfahren hatte) – und jetzt willst ausgerechnet du bestreiten, dass es etwas gebe, das erkannt, begriffen, erfasst werden könne? Achte, bitte, mit aller Sorgfalt darauf, dass nicht am Ende du selbst das Ansehen auch jenes herrlichen Erfolges schmälerst!

Das Aufdecken der verborgenen Machenschaften (res occultissimas […] aperueris) spielt auf Ciceros Konsulat und das Niederschlagen der catilinarischen Verschwörung an, also das zentrale Ereignis seiner politischen Karriere. 164 Wie bereits besprochen, war Lucullus ein wichtiger Unterstützer seines Kurses gewesen, woran die Dialogfigur beiläufig erinnert (quod mihi quoque licebat, qui ex te illa cognoveram). Die Erinnerung an den Triumph, der auf das Jahr 62 oder 61 datiert wird, ist zum Dialogzeitpunkt noch sehr präsent, aus der Perspektive des Lesers des Jahres 45, der mit den darauf folgenden Ereignissen – vor allem der Entstehung des ersten Triumvirats, der politischen Agitation des Clodius und der Verbannung – noch vertraut ist, erhält Lucullus’ Mahnung, auf die auctoritas achtzugeben, einen prophetischen Beiklang. 165 Es zeigt sich an dieser Stelle, dass das dramatische Datum des Dialogs sehr bewusst gewählt wurde. Der sich im Dialog abzeichnende Konflikt entsprach der Realität des Frühjars 61. Während Lucullus im Schlussappell seines Vortrags von der Verteidigung der skeptischen Akademie abrät, besteht Catulus auf ihr, wodurch eine meines Erachtens vom Autor gewünschte Dissenssituation entsteht, auf die noch genauer einzugehen sein wird. 166 Der Vorwurf der Unvereinbarkeit der Rollen des skeptischen Akademikers und des römischen Politikers rezipiert dabei ein mögliches 163F

164F

165F

164 165

166

Vgl. Lefèvre 1988, S. 123. Ein auf den Februar 61 datierter Brief an Atticus illustriert die politische Situation, die der Dialog antizipiert, indem er beschreibt, wie ein Antrag der Optimaten von eben jenen Volkstribunen attackiert wurde: Cic. Att. 1,14 = 14 Sh. B., 5: Clodius contiones miseras habebat, in quibus Lucullum, Hortensium, C. Pisonem, Messallam consulem contumeliose laedebat; me tantum ‚comperisse omnia‘ criminabatur – „Clodius versucht es nun in öffentlichen Reden vor dem Gesindel, wobei er Lucullus, Hortensius, C. Piso und den Konsul Messalla mit beleidigenden Schmähungen überschüttet; mir wirft er nur mein ewiges ‚ich habe erfahren‘ an den Kopf.“ Cic. ac. 2,63.

366

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Verständnisproblem eines Teiles der Leserschaft der Academici libri. Die Dialogfigur spiegelt somit erneut die Rezipientenperspektive, indem sie deren mögliche Interpretation aufgreift. d)

Auftreten im Kontext der Gesprächsethik und dialogexternen amicitia

Gegenüber Cicero tritt Lucullus trotz seiner Ablehnung der von jenem verteidigten skeptischen Akademie betont freundlich auf und nennt ihn (me autem appellabat) am Ende seines Vortrags seinen homo amicissimus anspricht. 167 Das Herausstellen des Freundschaftsverhältnisses unterstreicht die vertrauliche Atmosphäre der Szenerie und erinnert an die gegenseitige Verbundenheit der zwei Konsulare. Bereits zu Dialogbeginn präsentiert sich Lucullus locker und humorvoll, indem er sich am Anfang seiner Rede „scherzend“ an Cicero wendet (me appellabat iocans) und ihn somit als voll integriertes Mitglied des Zirkels ausweist. 168 Ebenso nimmt er während seines Vortrags auf die im Lucullus eher passiven Gesprächsteilnehmer Catulus und Hortensius Bezug, beispielsweise wenn er an die Überzeugung des Hortensius durch Cicero erinnert (Hortensiumque nostrum dissentientem commoveris) 169 oder Catulus bzw. seinen Vater erwähnt. 170 Nach Ciceros Vortrag äußert er sich als erstes: 171 16F

167F

168F

169F

170F

non moleste […] fero nos haec contulisse. saepius enim congredientes nos, et maxume in Tusculanis nostris, si quae videbuntur, requiremus. Ich bin zufrieden, dass wir diesen Gedankenaustausch gepflegt haben. Noch öfter werden wir ja zusammenkommen, zumal auf unsern Gütern bei Tusculum, und den Fragen, wie sie sich uns eben stellen, auf den Grund zu gehen versuchen.

Lucullus zeigt sich hier in freudiger Erwartung der Fortführung des wissenschaftlichen Diskurses, frei von Missgunst oder Verstimmtheit aufgrund Ciceros Gegendarstellung, die an Schärfe seinem Vortrag in nichts nachsteht. Dass er am Vortag das Versprechen 172 gab, darüber zu sprechen, was er damals von Antiochos erfahren habe, lässt vermuten, dass die Figur möglicherweise zunächst mit einer reservierten Haltung an das Thema herantrat. Zwar lässt sich diese Annahme aufgrund des Verlusts des Catulus nicht verifizieren, doch könnte die Feststellung, dass das Gespräch angenehm (non moleste) gewesen sei, auf einen aus 17F

167 168 169 170 171 172

Cic. ac. 2,61. Ebd., 2,17. Ebd., 2,61. Ebd., 2,18 u. 2,55. Ebd., 2,148. An dieses Versprechen erinnert die Mahnung des Catulus zu Beginn des Dialogs: Cic. ac. 2,10.

Academici libri priores

367

diesem resultierenden Sinneswandel hinweisen. Als weiteres Indiz spricht hierfür die anfängliche Skepsis der Varro-Figur in der überarbeiteten Fassung, in lateinischer Sprache einen philosophischen Diskurs zu führen. Unabhängig davon lässt sich festhalten, dass die Wertung zum Dialogende aufgrund der persönlichen dignitas des Lucullus eine Nobilitierung des Gesprächs darstellt. e)

Zusammenfassung

Als einerseits erfolgreicher Feldherr und Gesetzgeber und andererseits leidenschaftlicher Anhänger des Antiochos wird die Figur nach einem ähnlichen Muster stilisiert, wie wir dies bei den Figuren der Vergangenheitsdialoge beobachten konnten. Nicht zufällig wird er in der Einleitung direkt mit Scipio verglichen und steht wie dieser für das Ideal einer Verbindung praktischer Politik und griechischer Theorie. Indem er als römischer Aristokrat und erfolgreicher Politiker sein otium für die Beschäftigung mit der Philosophie verwendet, verleiht er dieser dignitas und trägt dem Ziel der Etablierung dieser Disziplin Rechnung. Die Haltung der Lucullus-Figur während des vorhandenen Gesprächs kommt dabei dem Wunsch des Proömiums nach, ohne Streitsucht die Wahrheit finden zu wollen (verum invenire sine ulla contentione volumus). 173 Gerade das römische Profil der historischen Vorlage nutzt der Intention des Autors, die griechische Philosophie in Rom heimisch zu machen. Durch die Dialogfigur und die Verwendung römischer Beispiele wird dabei die Übertragbarkeit jener ars auf die römische Lebenswirklichkeit veranschaulicht. Die bewusste Intellektualisierung des Feldherrn durch das philosophische Profil der Dialogfigur ist somit nicht bloß als Remineszenz auf einen einstigen politischen Weggefährten zu verstehen, sondern steht im direkten Zusammenhang mit Ciceros Projekt der Initiierung einer lateinischen philosophischen Diskursgemeinschaft. 172F

2.2

M. Tullius Cicero

a)

Cicero als Vertreter der Neuen Akademie

Innerhalb des Personenkreises der ersten Fassung der Academici libri ist Cicero mit ungefähr Mitte 40 der jüngste Gesprächspartner. Da er zum Dialogzeitpunkt bereits konsularischen Rang genießt, ist er mit den Gesprächspartnern hierarchisch auf einer Ebene. Hinsichtlich der Dialogfigur Cicero stellt sich zunächst die Frage nach ihrer Relation zum sich im Proömium äußernden Autor Cicero. Im Proömium präsentiert sich letzterer als Akademiker, der frei von Streitsucht und mit ganzer Hin-

173

Cic. ac. 2,7.

368

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

gabe nach dem verum forscht (verum invenire sine ulla contentione volumus idque summa cura studioque conquirimus) und durch die Methode des utramque partem disserere etwas Wahres oder etwas der Wahrheit am nächsten kommendes herausfinden möchte (exprimant aliquid, quod aut verum sit aut ad id quam proxime accedat). 174 Die angekündigte Methodik, welche nicht nur die erkenntniskritische Haltung des Autors artikuliert, sondern auch ein wichtiges Strukturelement der späteren Dialoge darstellt, prägt die Cicero-Figur in den Academici libri. Dass die Autorposition mit der der Figur identisch ist, zeigt sich besonders deutlich in dem auf Lucullus’ Vortrag folgenden Intermezzo: So richtet sich der von jenem aufgeworfene Kritikpunkt auf die für ihn nur schwer nachzuvollziehende Vereinbarkeit einer skeptischen Haltung mit der sozialen Rolle eines Staatsmanns in der res publica, wie Cicero einer war. 175 Die dadurch erzeugte Spannung steigert die Wirkung des nach Lefèvre „persönlichen Bekenntnisses zu seiner philosophischen Richtung“ 176, welches die Dialogfigur als Repräsentant des Autors darauf folgen lässt: 177 173F

174F

175F

176F

Qui enim possum non cupere verum invenire, cum gaudeam, si simile veri quid invenerim? sed ut hoc pulcherrimum esse iudico, vera videre, sic pro veris probare falsa turpissimum est. nec tamen ego is sum, qui nihil umquam falsi adprobarem, qui numquam adsentiar, qui nihil opiner; sed quaerimus de sapiente, ego vero ipse et magnus quidam sum opinator (non enim sum sapiens) et meas cogitationes sic dirigo, non ad illam parvulam Cynosuram, qua ‚fidunt dulce nocturna Phoenices in alto‘, ut ait Aratus, ‚eoque directius gubernant, quod eam tenent, quae cursu interiore brevi convertitur orbe‘ – sed Helicen et clarissimos Septentriones, id est rationes has latiore specie non ad tenue limatas; Wie nämlich könnte ich nicht danach trachten, die Wahrheit zu finden, wo ich mich doch bereits freue, wenn ich etwas gefunden habe, was der Wahrheit ähnlich sieht? Wie ich mich freilich für dies als das Erstrebenswerteste entscheide – die Wahrheit zu erblicken –, ebenso gibt es nichts Verwerflicheres, als wenn man Falsches anstelle von Wahrem gutheißt. Nun bin ich allerdings nicht von der Art, dass ich niemals etwas Falsches guthieße, dass ich niemals meine Zustimmung gäbe, dass ich keine Meinung hegte; doch unsere Untersuchung gilt ja dem Weisen. Ich selbst dagegen bin gewissermaßen ein großer Meiner (denn ich bin nicht weise), und ich richte die Fahrt meiner Gedanken folgendermaßen aus: nicht nach dem winzigen „Hundeschwanz“ auf „dessen Führung sich des Nachts die Phönizier verlassen auf hoher See“ (wie Arat sagt) – sie steuerten dann einen geraden Kurs, weil sie sich eben an ihn halten, der „auf innere Bahn, in engem Kreise umläuft“ – nein, nach der Helike richte ich sie aus, dem strahlenden Siebengestirn:

174 175 176 177

Cic. ac. 2,7. Ebd., 2,62. Lefèvre 1988, S. 123; vgl. Görler 1997, S. 36f. Cic. ac. 2,66.

369

Academici libri priores

das heißt nach solchen Grundsätzen, die einen weiteren Anblick gewähren und nicht bis ins kleinste ausgefeilt sind.

Demonstrativ präsentiert sich Cicero mittels seines Alter-Ego und innerhalb einer gesuchten Gesprächssituation als „Meiner“ (opinator) und setzt sich von dem philosophischen Ideal eines sapiens ab, wobei er die ihm zur Verfügung stehende Freiheit mit dem Gleichnis vom kleinen und großen Bären veranschaulicht. 178 Das Zurückgreifen auf Arat, den Cicero in seiner Jugend übersetzt hatte, und der Vergleich mit der Seefahrt (dirigo […] gubernant) verweisen darüber hinaus auf den Ort des Dialogs, der sich auf der Insel Bauli befindet und zu dem die Gesprächspartner mit dem Schiff gelangt sind. 179 Die akademische libertas, die es Cicero erlaubt, als opinator über jedwedes Thema frei nachzusinnen, 180 vermisst die Figur auch bei ihrem Gesprächspartner Lucullus, der die Akademie des Antiochos vertritt (quanti libertas ipsa aestimanda est non mihi necesse esse quod tibi!). 181 Eben jene sich im Auftreten der Figur spiegelnde Haltung harmoniert mit der des Autors, die im Proömium gegenüber den Kritikern akademischer Philosophie (quibus Academiae ratio non probatur) die eigene undogmatische Freiheit und Ungebundenheit (hoc autem liberiores et solutiores sumus) herausstellt. 182 17F

178F

179F

180F

18F

b)

Exposition des eigenen Bildungswegs

Dass er sich diese philosophische Position selbst bei griechischen Philosophen angeeignet hat, wird an mehreren Stellen des Werkes explizit herausgestellt. Obwohl sich sein Vortrag gegen die Lehre des Antiochos wendet, unterlässt er es andererseits nicht, die gegenseitige hohe Wertschätzung (amavi hominem sicut ille me) kundzutun und ihn als kultiviertesten und scharfsinnigsten aller Philosophen zu loben (iudico, politissimum et acutissimum omnium […] philosopho-

178

179

180

181

182

Die von Cicero an dieser Stelle beschriebene Freiheit des magnus opinator erkennt Görler als ein ciceronisches Motiv, für das es kein direktes Äquivalent in der akademischen Philosophie gäbe. Sie sei weder auf die Willensfreiheit noch auf die Ungebundenheit gegenüber dogmatischen Lehr- oder Schulmeinungen zurückzuführen, sondern auf eine gedankliche Freiheit: „he feels free to opine and to speculate on a grand scale about great schemes.“, Görler 1997, S. 54; vgl. Thorsrud 2012, S. 140f. Die Seefahrtsmetaphorik wird von der Dialogfigur während seines Vortrags immer wieder aufgegriffen und bestimmt auch das Ende des Werks: Cic. ac. 2,80, 105, 125, 147. Zur persönlichen Bedeutung der akademischen Skepsis für Cicero s.: Lefèvre 1988, S. 125–129. Cic. ac. 2,120: „Wie hoch indes gilt es nur schon die Freiheit zu schätzen, die darin besteht, dass mir nicht die gleiche Notwendigkeit auferlegt ist wie dir!“ Ebd., 2,7f.

370

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

rum). 183 Trotz seines thematischen Gegensatzes zu Antiochos erinnert Cicero in dezidiert anerkennendem Ton an jenen Philosophen, den er auch persönlich kennengelernt hat. 184 Dass eine konträre philosophische Auffassung kein Hindernis für persönlichen Wertschätzung darstellt, wird an einer weiteren Stelle des Lucullus deutlich gemacht: 185 182F

183F

184F

Age restitero Peripateticis, qui sibi cum oratoribus cognationem esse, qui claros viros a se instructos dicant rem publicam saepe rexisse; sustinuero Epicuros, tot meos familiares, tam bonosm tam inter se amantes viros: Diodoto quid faciam Stoico? quem a puero audivi, qui mecum vivit tot annos, qui habitat apud me, quem et admiror et diligo, qui ista Antiochea contemnit. Gut denn: Ich widerstehe den Peripatetikern, die von sich behaupten, sie seien mit den Rednern gleichsam verwandt und hervorragende Männer seien häufig in ihrem Unterricht zu Staatslenkern geworden; ich halte auch den Epikureern stand, denen sich doch so viele meiner Vertrauten zuzählen, gute Männer, miteinander innig befreundet: Wie aber soll ich mit dem Stoiker Diodotos verfahren, dessen Schüler ich von jung auf gewesen bin, mit dem ich schon so viele Jahre Umgang pflege, der in meinem Haus wohnt, den ich bewundere und schätze – und der von dem, was Antiochos vertritt, nichts hält?

Obwohl Cicero sich der Vereinnahmung durch eine der aufgeführten Schulmeinungen entzieht, werden die persönliche Verbindung und eine grundsätzliche Offenheit deutlich: Die Schule des Peripatos spricht ihn aufgrund ihres Verhältnisses zur Politik und Rhetorik an, mit dem Kepos sei er auch deswegen in Kontakt, weil enge Vertraute sich ihm angeschlossen hätten. Die Klimax endet beim Stoiker Diodotos, den er besonders schätzen und der in seinem Haus wohnen würde. Im Brutus erfährt man darüber hinaus, dass Cicero bei jenem Philosophen vor allem die Dialektik gelernt habe, nachdem dieser 87 aus Athen geflohen war. 186 Seine Verbindung zu Philon, also jenem Lehrer, dem er bis zuletzt treu geblieben war, hatte er sehr wahrscheinlich im verlorenen Catulus herausgestellt, da er im erhaltenen ersten Buch der überarbeiteten Academici libri anmerkt, ihn mit Atticus gehört zu haben. 187 Die durch die Dialogfigur gegebenen Anmerkungen hinsichtlich der unterschiedlichen philosophischen Lehrer geben dem Leser zweierlei zu erkennen: Einerseits werden die Verbindungen des Römers Cicero 185F

186F

183 184

185 186 187

Cic. ac. 2,113. Sein Kontakt zu ihm wird auch im Brutus herausgehoben, wo es heißt, er sei als junger Mann im Jahr 79 oder 78 in Athen bei dem nobilissumo et prudentissumo philosopho gewesen und hätte sich dort sechs Monate dem Studium der Philosophie gewidmet: Cic. Brut. 315; s. Griffin 1997, S. 11. Cic. ac. 2,115. Cic. Brut. 307. Cic. ac. 1,13 u. 1,43.

371

Academici libri priores

zu einzelnen griechischen Gelehrten aufgezeigt und erklärt, wodurch der Autor für sich selbst Kompetenz und Zuverlässigkeit hinsichtlich der philosophischen Themen suggeriert. Andererseits wird seine durch die akademische Skepsis erlangte libertas unterstrichen: Ein unterschiedliches iudicium über ein diskutiertes Thema ändert nichts an der persönlichen Wertschätzung gegenüber seinen philosophischen Lehrern oder römischen Standesgenossen. c)

Römische Kontextualisierung durch die Dialogfigur

Gegenüber letzteren zeigt sich dies vor allem im Dialoggeschehen selbst. Eine zentrale Stelle stellt hierbei das Ende des ersten Vortrags dar: Nachdem Lucullus Cicero dazu bringen wollte, seine Position aufzugeben, ist es Catulus, der jenem rät, sie beizubehalten und auf dessen Vortrag zu antworten. 188 Diese Pattsituation spiegelt sich zu Beginn des zweiten Vortrags: 189 187F

18F

me, Catule, oratio Luculli de ipsa re ita movit ut docti hominis et copiosi et parati et nihil praetereuntis eorum, quae pro illa causa dici possent, non tamen, ut ei respondere posse diffiderem; auctoritas autem tanta plane me movebat, nisi tu opposuisses non minorem tuam. Mich hat, mein Catulus, der Vortrag des Lucullus, was den Gegenstand selbst anbelangt, zutiefst beeindruckt, stammte er doch von einem gelehrten Mann, der in umfassender Weise gewappnet war und sich keines der Argumente entgehen ließ, wie sie zugunsten der betreffenden Sache vorgebracht werden konnten; deswegen freilich wurde ich nicht irre an meiner Möglichkeit, ihm eine Antwort zu erteilen. Seine Autorität allerdings mit ihrem ganzen Gewicht hätte bei mir durchaus etwas zu bewirken vermocht, wenn du nicht die deine – die nicht geringer ist – entgegengestellt hättest.

Lucullus und Catulus spiegeln in ihrer unterschiedlichen Auffassung nicht nur den innerakademischen Streit, indem die Dissenssituation der beiden römischen nobiles für den gegen Ende seines Vortrags breit dargestellten Dissens unter den frühen griechischen Philosophen steht. 190 Sie liefern auch ein Beispiel dafür, wie ein römischer, skeptischer Akademiker bei zwei unterschiedlichen Handlungsdirektiven eine Entscheidung trifft. Cicero überträgt dabei bewusst die politische auctoritas der Gesprächspartner, die er in den Einleitungen breit herausgestellt hatte, auf eine philosophische. Er selbst, der als Konsular ebenfalls ein Mitglied der Nobilität ist, zollt der Autorität beider Anerkennung, indem er sie erwähnt und als gleichwertig charakterisiert. 189F

188 189 190

Cic. ac. 2,63. Ebd., 2,64. Ebd., 2,118–131.

372 d)

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Zusammenfassung

Die Dialogfigur Cicero spricht nicht nur als Vertreter der akademischen Skepsis, sondern verteidigt diese Position auch gegenüber einer Leserschaft, von der der Autor hierzu Kritik erwartete. Sie dient somit nicht zuletzt der Kommunikation einer Rechtfertigung für die Übernahme dieser philosophischen Linie, wie unter anderem daran deutlich wird, dass der Autor sie mit der berechtigten Frage nach der Vereinbarkeit ihrer sozialen Rolle mit jener sich auf die ἐποχή gründenden Lehrmeinung konfrontiert. Die Dialogfigur stellt dahingehend eine Weiterentwicklung ihrer Rolle im Vorgängerdialog dar, in dem sie eine allgemeine Apologie der Philosophie übernahm, welche in der Konversion des kritischsten Zuhörers Hortensius mündete.

2.3

Q. Lutatius Catulus

a)

Catulus innerhalb des Gesprächs

Der historischen Persönlichkeit des Catulus kam in dem gleichnamigen, verschollenen ersten Band ein ähnliches Proömium zu wie Lucullus, in dem seine Person gleichermaßen gelobt wurde, wie aus der Korrespondenz mit Atticus deutlich wird. 191 Ob er – parallel zum Lucullus – auch als zentraler Redner des ersten Buchs der Academici libri fungiert hat, kann aus den Quellen nicht mit letzter Konsequenz geklärt werden, scheint aber unter der begründeten Annahme einer gewissen Parallelität beider Werke, wie sie sich im Setting und Titel klar erkennen lässt, nicht unwahrscheinlich. 192 Sicher ist, dass er über die Neue Akademie referiert hat, was aus dem Rückverweis des Lucullus geschlossen werden kann, wonach er über zwei Bücher des Philon gesprochen habe (isti libri duo Philonis, de quibus heri dictum a Catulo est). 193 Innerhalb des Gesprächskreises des Lucullus verfügt er dagegen nur über einen geringen Anteil an der Konversation, der sich auf drei Wortmeldungen beschränkt. 194 Er ergreift allerdings als erster das Wort und erinnert dabei an das Treffen vom Vortag (etsi heri […] id, 190F

19F

192F

193F

191 192

193

194

Cic. Att. 13,32 = 305 Sh. B.,3. Schäublin ging davon aus, dass Catulus sich darin zu der einer Position des Karneades bekannt habe, die das „Meinen“ einschloss: Schäublin 1992, S. 49f. Diese offenere Auslegung des Karneades wurde von Metrodoros von Stratonikeia und Philon vertreten und stand der des Kleitomachos entgegen, dessen De sustinendis adsensionibus Cicero wohl vorlag: Cic. ac. 2,98; s. hierzu: Görler 1997, S. 56; bzgl. der Überarbeitungsphasen s. oben S. 356–359. Cic. ac. 2,11. Dieser Vortrag dürfte analog zum Aufbau des Lucullus zu Beginn des Dialogs gehalten worden sein. Zur Position der Rede s. auch: Griffin 1997, S. 18–20. Cic. ac. 2,10, 63 u. 148.

373

Academici libri priores

quod quaerebatur), welches in seiner Villa stattgefunden hatte. 195 Dabei stellt Catulus nicht nur den Bezug zum vorigen Gespräch her, sondern präsentiert sich selbst auch als interessierter Hörer und Gesprächsteilnehmer, indem er Lucullus an sein Versprechen erinnert, über das zu sprechen, was er bei Antiochos gehört habe (expecto ea, quae te pollicitus es, Luculle, ab Antiocho audita dicturum). 194F

b)

Catulus als skeptischer Akademiker

Eine Erklärung für sein Auftreten als Vertreter der Akademie wird durch den Dialog selbst gegeben, indem Lucullus darauf anspielt, dass Catulus' Vater persönlich mit Philon Gespräche geführt habe. 196 Auch sein Schlusswort, auf das noch genauer einzugehen sein wird, soll dem Leser verdeutlichen, dass jener durch seinen Vater über eine gute Verbindung zu jener Schule verfügte. 197 Dass er darüber hinaus nicht nur das Wissen der akademischen Skepsis, sondern auch deren Haltung annimmt, zeigt seine zweite Wortmeldung, welche auf Lucullus’ Vortrag und Hortensius’ Einwirken auf Cicero, seine Position aufzugeben, folgt: 198 195F

196F

197F

Tum mihi Catulus, si te, inquit, Luculli oratio flexit, quae est habita memoriter accurate copiose, taceo neque te, quo minus, si tibi ita videatur, sententiam mutes, deterrendum puto. illud vero non censuerim, ut eius auctoritate moveare. tantum enim te [non] modo monuit, inquit adridens, ut caveres, ne quis inprobus tribunus plebis, quorum vides quanta copia semper futura sit, arriperet te et in contione quaeret, qui tibi constares, cum idem negares quicquam certi possen reperiri, idem te conperisse dixisses. hoc, quaeso, cave, ne te terreat. Da sagte Catulus zu mir: „Sollte dich der Vortrag des Lucullus – er hat ihn aus dem Gedächtnis, ausgefeilt und in umfassender Weise gehalten – umgestimmt haben, dann bleibt mir nichts zu sagen übrig; denn nach meiner Meinung darf man dich nicht davon abzubringen versuchen, deine Ansicht zu ändern, wenn es dir so denn gut scheint. Freilich möchte ich nicht empfehlen, dass du dich von Lucullus’ Autorität beeindrucken lässt. Er hat dir ja vorher gerade soweit ins Gewissen geredet“ (jetzt lächelte Catulus): „Du solltest dich in Acht nehmen, dass nicht irgendein gewissenloser Volkstribun – und du siehst ja, welche Mengen es davon immer geben wird – Hand an dich lege und in einer Volksversammlung abklären wolle, wie es eigentlich um deine Treue zu dir selbst bestellt sei: Einerseits best-

195 196

197 198

Cic. ac. 2,10. Ebd., 2,18; der Einwand Reids, dass der ältere Catulus die Thesen Philos aus chronologischer Sicht nicht habe kennenlernen können, wurde durch Griffin entkräftet, die darauf hinweist, dass Philons römische Bücher im Jahr 88 verlesen wurden. S. hierzu: Reid 1984, S. 42 u. 60; Griffin 1997, S. 11, Anm. 45. Cic. ac. 2,148. Ebd., 2,63.

374

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten rittest du, dass etwas Gewisses gefunden werden könne, und andererseits stamme von dir, der gleichen Person, die Behauptung, du habest ‚Kenntnis erhalten‘. Dies darf dich nicht beunruhigen: Nimm dich bitte in Acht!“

Catulus, der am Vortag über die Sicht des Karneades gesprochen hat, verhält sich hier ostentativ anders als Hortensius, indem er Cicero zuredet, von seiner Position nicht abzuweichen. Zwar lobt er den Vortrag des Lucullus, der memoriter, accurate und copiose gehalten worden sei, doch betont er im Anschluss, dass Cicero in der Sache selbst Lucullus nicht zustimmen (malim quidem te ab hoc dissentire) und sich von dessen Autorität nicht abschrecken lassen solle (ut eius auctoritate moveare […] cave, ne te terreat). Die Offenheit des Catulus geht so weit, dass ihn ein Einlenken nicht sonderlich verwundern würde, wobei er anschließend an Antiochos selbst und dessen Bruch mit Philon erinnert, den er damit mit Cicero parallelisiert, welcher jedoch seiner Haltung treu bleiben wird. Auf die Mahnung des Lucullus, sich vor Volkstribunen zu hüten, reagiert Catulus humorvoll (adridens) mit dem Verweis, dass es diese auch in Zukunft zahlreich geben werde (quorum quanta copia semper futura sit), wodurch er in prophetischer Weise auf das Erscheinen des Clodius, der in den 50er Jahren Ciceros Verbannung betreiben wird, anspielt. Die abweichenden Haltungen von Catulus und Hortensius unterstreichen einerseits das in utramque partem, also Ciceros Absicht, ein nach beiden Seiten offenes und undogmatisches Philosophieren zu illustrieren, 199 andererseits können sie auch im Sinne einer „Figuration der Rezipientenschaft“ verstanden werden, wie Sauer dies im Falle von De re publica und De legibus darstellte. 200 Die Unterschiedlichkeit der Positionen zeigt sich auch in seinem Schlusswort am Ende des Werkes, als er von Cicero um seine Meinung gefragt wird: 201 198F

19F

20F

egone? […] ad patris revolvor sententiam, quam quidem ille Carneadem esse dicebam ut percipi nihil putem posse, adsensurum autem non percepto, id est optinaturum, sapientem existumem, sed ita, ut intellegat se opinari sciatque nihil esse, quod comprehendi et percipi possit. ergo epochen illam omnium rerum conprobans illi alteri sententiae [nihil esse quod percipi possit] vehementer adsentior. Ich? Ich bleibe bei der Auffassung meines Vaters, von der er zu behaupten pflegte, es sei die des Karneades. Also: Ich glaube, dass nichts erfasst werden kann, denke aber, dass der Weise seine Zustimmung zu Nicht-Erfasstem geben, und das heißt: dass er Meinungen hegen wird. Dies tut er freilich so, dass er sich seines Meinens bewusst ist und weiß, dass es nichts gibt, was begriffen und erfasst wer-

199 200 201

S. hierzu Ciceros Worte in der Einleitung des Lucullus: Cic. ac. 2,8. Sauer 2013, S. 174. Cic. ac. 2,148.

Academici libri priores

375

den kann. Während ich also jene „Epochê“, die ausnahmslos gilt, gutheiße, stimme ich mit Nachdruck der zweiten Auffassung zu.

Catulus, der sich zunächst verwundert zeigt, dass er um seine Meinung gefragt wird (egone), gibt eine pointierte Antwort, indem er seine breite Zustimmung (vehementer adsentior) bekundet, nachdem er dem Weisen die Möglichkeit der Zustimmung zu „Nicht-Erfasstem“ eingeräumt hat (adsensurum autem nun percepto). Die dabei zum Ausdruck kommende Haltung trägt einer Hauptströmung der Akademie des späten 2. Jh. Rechnung, die unter Berufung auf Karneades einen gemäßigten Skeptizismus vertrat. 202 Indem sich Catulus hinsichtlich seiner Positionierung in die Tradition seines Vaters und damit in die indirekte Nachfolge des Philon von Larissa stellt, erhält der Leser eine Erklärung für die philosophische Bildung der Dialogfigur. 203 Die Zusammenfassung des Catulus drückt dabei den von Cicero selbst vertretenen Skeptizismus aus, wonach auch der Weise probabilia „folgen“ (sequi) darf, über deren Nichtbegreifbarkeit er sich jedoch stets bewusst ist. 204 Jene philosophische Haltung verbindet sich mit einer persönlichen auctoritas, die für den Verlauf des Gesprächs konstituierend ist: Wie oben gezeigt, erklärt Cicero, dass die tanta auctoritas des Lucullus beinahe tatsächlich etwas bei ihm bewegt hätte, wenn nicht Catulus die seinige entgegengestellt hätte (opposuisses non minorem tuam). 205 Die beiden römischen nobiles und in den Augen des Autors verdienten Politiker Catulus und Lucullus erhalten den Rang philosophischer maiores, wodurch sie den breit behandelten Dissens der früheren Philosophen Griechenlands widerspiegeln. 206 Durch das Erwähnen der jeweiligen Autoritäten verschafft sich Cicero nicht nur Legitimität, sondern illustriert auch griechische Philosophiegeschichte in seinem eigenen zeitgenössischen, soziokulturellen Kontext. 201F

20F

203F

204F

205F

c)

Zusammenfassung

Wie oben bereits angesprochen wurde, hielt Cicero die Protagonisten der ersten Version der Academici libri hinsichtlich ihrer tatsächlichen und der im Dialog gezeigten philosophischen Kompetenz für unglaubwürdig. Durch Catulus’ explizite Erwähnung der Bekanntschaft seines Vaters mit dem Philosophen Philon von Larissa liefert er nicht nur einen textinternen Beleg, der dem philosophi-

202 203

204 205 206

S. hierzu: Brittain 2007, S. 298f. Bächli/Gräser vermuten darüber hinaus, dass die auf „Hören-Sagen“ zurückgehende Meinung des Catulus darauf hinweise, dass Cicero selbst „keine eigentlichen Informationen“ über Karneades besessen hätte: Bächli/Graeser 1995, S. 309. Vgl. Lefèvre 1988, S. 125. Cic. ac. 2,64. Ebd., 2,118–131.

376

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

schen Profil hinsichtlich der Leser Authentizität verleihen soll, sondern stellt auch dem gerade in lateinischer Sprache stattfindenden philosophischen Diskurs einen früheren, rein griechischen gegenüber, in dem die Catuli lediglich Zuhörer gewesen seien. Als Gewährsmann des früheren Gesprächs, der im verlorenen Catulus selbst über das Thema referiert zu haben scheint, stellt die gleichnamige Figur das Sinnbild eines Prozesses dar, das die Ankunft der Philosophie in Rom illustriert und die Eignung der Römer, sich selbst dieser Disziplin aktiv anzunehmen, suggeriert.

2.4

Q. Hortalus Hortensius

a)

Redner und Konvertit?

Der Gestaltung der Dialogfigur Hortensius wohnt ein besonderer Reiz inne, denn sie unterscheidet sich in mehreren Punkten deutlich von jener des Catulus und Lucullus. Anders als diese beiden ist er nicht als Vertreter einer der beiden Parteien des Schulstreits gekennzeichnet, so dass er allein dadurch schon eine mittlere Position einnimmt. Während er zu Beginn des Hortensius noch als Mann der Redekunst die Philosophie attackierte, bewirkte die Rede der Cicero-Figur eine Hinwendung zur Philosophie. In den Academici libri scheint er nach wie vor von dem Rollenwechsel, den er innerhalb der literarischen Welt des vorherigen Dialogs durchlaufen hat, geprägt: so lässt sich seiner ersten Äußerung im Lucullus entnehmen, dass er im Catulus einen eher allgemein gehaltenen Beitrag zum Gespräch geleistet hat (a me enim ea, quae in promptu erant, dicta sunt), der möglicherweise für die Position des Antiochos Partei genommen hat. 207 Das Ende von Lucullus’ Vortrag zeigt jedoch, dass Hortensius innerhalb der Runde als ein in seiner philosophischen Ansicht noch nicht gefestigter Gesprächspartner angesehen wird: 208 206F

207F

tune, cum tantis laudibus philosophiam extuleris Hortensiumque nostrum dissentientem commoveris, eam philosophiam sequere, quae confundit vera cum falsis, spoliat nos iudicio, privat adprobatione omni, orbat sensibus? Da hast du also die Philosophie mit solchen Lobesbezeichnungen ausgezeichnet und unsern Hortensius, der anderer Meinung war, zur Umkehr bewegt – und jetzt willst ausgerechnet du dich derjenigen philosophischen Richtung anschließen, die das Wahre mit dem Falschen vermengt, die uns der „Unterscheidung“ beraubt, uns jede Möglichkeit der „Anerkennung“ entzieht und uns die Sinne wegnimmt?

207 208

Cic. ac. 2,10; vgl. Griffin 1997, S. 20. Cic. ac. 2,61.

377

Academici libri priores

Die Dialogfigur des Hortensius gilt also dialogintern als Person, deren Dissens zur Philosophie von Cicero beseitigt oder zumindest ins Wanken gebracht wurde. 209 Unabhängig davon, ob er nun im gleichnamigen Dialog zur Philosophie bekehrt wurde oder nicht, stellt er innerhalb des Personengefüges die Dialogfigur dar, die sich erst vor sehr kurzer Zeit jenem Feld geöffnet hat, ob zustimmend oder dissentiens. Dies spiegelt auch seine Reaktion während und nach dem Vortrag des Lucullus: 210 208F

209F

Quae cum dixisset ille, finem fecit. Hortensius autem vehementer admirans (quod quidem perpetuo Lucullo loquente fecerat, ut etiam manus saepe tolleret: nec mirum; nam numquam arbitror contra Academiam dictum esse subtilius) me quoque, iocansne an ita sentiens (non enim satis intellegebam), coepit hortari, ut sententia desisterem. Hortensius aber blickte voller Bewunderung auf ihn (er hatte dies unablässig schon während des Vortrags getan, ja vielfach sogar die Hände erhoben – kein Wunder: denn niemals, glaube ich, hat jemand sich scharfsinniger gegen die Akademie geäußert); jetzt begann er – ob im Scherz oder im Ernst, konnte ich nicht genau feststellen – mir eigens noch zuzureden: ich solle meine Ansicht aufgeben.

Cicero lässt durch seinen ironischen Einschub ungeklärt (non enim satis intellegebam), ob der in Erstaunen geratene Hortensius ihn tatsächlich dazu auffordert, seine Meinung zu ändern (hortari, ut sententia desisterem), worin sich zugleich der Duktus des nach ihm benannten Protreptikos widerspiegelt, in dem die Dialogfigur Hortensius seine Meinung zur Philosophie änderte. In seiner mittleren Haltung scheint diese nun einen anderen Typus von Leser zu spiegeln als im Hortensius, wo er dem Kritiker zu einer Stimme im Dialog verhalf. Im Lucullus scheint er dagegen jenen Typus Leser zu vertreten, der das Feld der Philosophie gerade erst als Neuland betreten hat. Von der gewichtigen These einer Unvereinbarkeit von Skepsis und politischer Praxis zeigt er sich irritiert und neigt dazu, dem Antrag des Lucullus zu folgen. Wie oben gezeigt, ist der Dissens unter den römischen nobiles an dieser Stelle auch aus kompositorischen Gründen für Cicero verlockend, da dadurch seinem Bekenntnis zur Skepsis ein stilvoller Rahmen gegeben wird. 211 Der letzte Gesprächsmoment des Hortensius fällt ebenfalls kurz und pointiert aus, als er am Ende des zweiten Vortrags nach seiner Meinung gefragt wird und amüsiert mit „Heben“ antwortet (tum ille ridens tollendum). 212 Die Form tollendum lässt im Kontext der Aufbruchstimmung zwei sich dem römischen Leser 210F

21F

209 210 211 212

Hierfür grundlegend: Schäublin 1985b, zur zit. Stelle bes. S. 124f. Cic. ac. 2,63. S. oben S. 371 u. 375. Cic. ac. 2,148.

378

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

sofort erschließende Interpretationsmöglichkeiten zu, wonach Hortensius entweder die Order zum Lichten des Ankers geben oder gegen Ciceros Vortrag Widerspruch einlegen möchte. 213 Diese Antwort scheint sich dieser jedoch gewünscht zu haben (teneo te), da Hortensius durch seinen Widerspruch selbst die akademische Haltung zum Ausdruck bringt. 214 Dass er seine Antwort erneut in heiterer Stimmung äußert, deutet an, dass er sich der Mehrdeutigkeit seiner Aussage bewusst ist. 215 Ob er sich letztlich der Meinung des Philon oder des Antiochos angeschlossen hat, bleibt dadurch bewusst offen, klar ist jedoch, dass ihm beide Vorträge Vergnügen bereitet haben. 21F

213F

214F

b)

Zusammenfassung

Hinsichtlich der Dialogfigur des Hortensius lässt sich damit erneut eine Form der Rezipienten-Repräsentation im Dialog feststellen. Als römischer Redner, der seine Meinung zur Philosophie innerhalb des dialogischen Universums Ciceros erst kürzlich grundlegend geändert hat, ist er von beiden Vorträgen amüsiert (iocans […] ridens). Das Auftreten der Figur spiegelt dahingehend die Verbundenheit der dialogischen Innenwelten des Hortensius, Catulus und Lucullus wider, die zusammen eine aufeinander abgestimmte Einheit bildeten. Die von ihm dargestellte Rezeption ist dabei die vom Autor gewünschte, der die Philosophie auch in den Academici libri bewusst in den Bereich der apolitischen Muße (otium) verlagert.

3

De legibus

Ciceros De legibus gehört zu den wenigen Werken, dessen Datierung nicht als zweifelsfrei geklärt gelten kann, doch spricht sich inzwischen die Mehrheit der Forscher für eine Entstehungszeit in den späten 50er Jahren anstatt eines Zeitraums zwischen November 44 und Juni 43 aus. 216 Das Prokonsulat über Kilikien, 215F

213 214 215

216

S. Bächli/Graeser 1995, S. 310. Ebd., 310. Zur Zweideutigkeit der Stelle s. auch Krebs, der hierin ein „intentional misunderstanding“ erkennt: Krebs 2009, S. 93f.; Griffin sieht dagegen in der Ironie einen Rest innerer Distanziertheit zu der Disziplin, der er sich erst kurz zuvor geöffnet hatte: Griffin 1997, S. 3. Für eine Abfassungszeit in den späten 50er Jahren werden die Konzeptionierung als Nachfolgewerk von De re publica und die Dialogzeit, in der Cato und Pompeius lebendig, Clodius und sein Bruder Appius bereits verschieden sind, geltend gemacht. Zur Datierung s. Meyer 2006, S. 113 in Anlehnung an Schmidt 1969, S. 469; ebenso: Dyck 2004, S. 5–7; einen Überblick über frühere Studien liefern: Rawson 1973, S.

379

De legibus

wohin er am 1. Mai 51 aufbrach, sowie der ab dem Frühjahr 49 einsetzende Bürgerkrieg führten zu einer Unterbrechung der Arbeiten und verhinderten eine Veröffentlichung, die mit großer Wahrscheinlichkeit erst posthum erfolgte, ohne dass der Autor selbst nochmals einen Eingriff in sein „Manuskript“ getätigt hatte. 217 Trotz der fehlenden Vollständigkeit und der nicht mehr unter dem Autor selbst erfolgten Publikation lässt sich De legibus mit Blänsdorf eine „umwälzende Bedeutung“ attestieren, die sich bereits darin zeigt, dass der Autor mit dem Werk eine „systematische[n] Neuschöpfung des Rechts“ unternimmt und hierfür eine Rechtstheorie mit interpretatio liefert. 218 Der Entstehungskontext und die mit dem Werk verbundenen politischen Intentionen weisen De legibus den dritten Platz innerhalb der staatstheoretischen Werkreihe zu, die mit De oratore begonnen und mit De re publica fortgesetzt wurde. 219 Die Behandlung an dieser Stelle folgt somit nicht thematisch-inhaltlichen Erwägungen, wonach sie im Anschluss an das Staatswerk erfolgen müsste, sondern den dialogtechnischen Kriterien der personellen Zusammensetzung und der Dialogzeit. Mit De legibus hatte Cicero bereits Ende der 50er Jahre einen Dialog vor Augen, der hinsichtlich der Wahl des dramatischen Datums und der einzelnen Dialogfiguren die Dialoggestaltung der zweiten Schaffensphase vorwegnahm. Vor einer eingehenden Untersuchung der drei Dialogpersonen muss ein Blick auf Inhalt, Struktur und Dialogstil von De legibus geworfen werden, um die Einordnung der Dialogtechnik zu erleichtern. Ciceros Gesetzeswerk nimmt innerhalb seines philosophischen Korpus eine zentrale Stellung ein: die Suche nach den richtigen Gesetzen erhält im ersten Buch eine ausführliche theoretische Fundierung, die durch die Darlegung einer elaborierten Naturrechtskonzeption 216F

217F

218F

217

218 219

335–338; Schanz/Hosius 1979, S. 497–500; für eine Datierung in den späten 40ern: Robinson 1950. So folgert Gigon 1977, S. 356: „Offensichtlich ist er später nie mehr auf das Manuskript zurückgekommen.“ Die von Reitzenstein aufgeworfene Debatte um eine spätere Überarbeitung des Werkes sowie Büchners Annahme, dass das erste Buch einen späteren Zusatz darstelle, können mit den Arbeiten von Schmidt und Hentschke als widerlegt gelten: Reitzenstein 1894, S. 1–31; Büchner 1961; Schmidt 1969; Hentschke 1971, S. 121–125. Blänsdorf 1976, S. 141. Unter den politischen Absichten des Werkes kann mit Lehmann ein Reformdenken angenommen werden, das sich ähnlich auch in den Sallust zugeschriebenen Schriften De summa re publica, De plebe renovanda und De senatu wiederfindet: Lehmann 1980, bes. S. 2; in der jüngeren Forschung verband Meyer die staatsphilosophischen Schriften mit Ciceros politischem Kurs, der durch die Sestius-Rede eingeschlagen worden sei. Die Gesetze in De legibus seien dahingehend als Alternative und Möglichkeit interpretiert worden, auf die Führungskrise der Gegenwart durch einen reformierten Staat mit stärkerer Rolle zu antworten: Meyer 2006, bes. S. 184, 152f., 177– 180. Hierzu kritisch: Bernett 2008, S. 699–701.

380

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

erfolgt. 220 Da der Arpinate die Darstellung der zentralen Aspekte seiner Ethik durch ein Gespräch dreier Personen vornimmt, muss in der folgenden Untersuchung auch die Frage behandelt werden, inwiefern durch die Dialogfiguren eine philosophische Profilbildung vollzogen wird. Nicht nur die philosophische, sondern auch die politische Grundtendenz, die nach dem Erhalt der überkommenen staatlichen Ordnung sowie ihrer Institutionen mithilfe des Konzepts der concordia ordinum strebt, schließt das Werk an die beiden Vorgänger an. 221 Trotz dieser Gemeinsamkeiten fallen die strukturellen Unterschiede zu De re publica und De oratore auf, die deutlich größer ausfallen als zwischen den beiden ersten Dialogen. Einen ersten deutlichen strukturellen Unterschied stellt das Fehlen eines Proömiums dar. 222 Ferner hebt sich die Szenerie von den beiden Vorgängern durch die Anzahl der beteiligten Sprecher ab: Der kleine Gesprächskreis, der sich aus dem Autor und dessen beiden vertrautesten Personen, seinem Bruder Quintus und seinem Freund Atticus, zusammensetzt, erscheint geradezu als ein Gegenentwurf zum Modell des Staatswerks, indem, wie Gigon herausstellt, dem „Pathos der großen historischen Szene“ bewusst eine „Intimität“ gegenübergestellt wird. 223 Eine vergleichbare Absetzung zeigt sich in der Wahl des Gesprächsortes: Das Gespräch findet nicht mehr innerhalb einer aristokratischen Villa statt 224 , sondern in der näheren Umgebung von Arpinum auf dem vom Vater geerbten Landgut Ciceros. 225 Der örtliche Rahmen des Gesprächs im ersten Buch erscheint als Spaziergang (ambulatum) am schattigen Ufer (per ripam et umbram) des Liris, auf den sich die Dialogfiguren zu Beginn einigen. 226 Durch die Wahl des Settings werden dabei Platons Nomoi stilistisch rezipiert, in denen das Dialogpersonal um den namenlosen Athener beschließt, von Knossos zur Grotte und zum Heiligtum des Zeus zu wandern und durch den Schatten der Bäume (ἐν τοῖς ὑψηλοῖς δένδρεσίν εἰσι σκιαραί) der Hitze zu entgehen. 227 Das Dialogsetting stellt nicht nur eine beabsichtigte Remineszenz an die Nomoi dar, sondern richtet darüber hinaus die Aufmerksamkeit auf die Natur, die in einem engen inhaltlich-thematischen Zusammenhang mit dem Kernthema des Dialogs 219F

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Erste theoretische Grundelemente für diese lassen sich bereits in Ciceros Jugendschrift De inventione finden, doch eine detaillierte Darstellung der bereits für De re publica zentralen Theorie präsentiert sich uns erstmals in Ciceros Gesetzeswerk. Zu De inventione s.: Blänsdorf 1976, S. 136; vgl. Corso 2008, S. 83f. Vgl. Fontanella 1997/1998, S. 489; Girardet 1983, S. 59. Die Praxis, den Dialog direkt einsetzen zu lassen, die in dem späteren Werk Cato maior de senectute wiederholt wird, stellt dabei eine Referenz auf die Dialoge Platons dar, von denen besonders der Phaidros und die Nomoi hervorzuheben sind. Gigon 1977, S. 357. Eine einzige weitere Ausnahme stellt dabei, wie oben gezeigt, De finibus 5 dar. Vgl. Gigon 1977, S. 357. Cic. leg. 1,14. Vgl. Plat. leg. 1,625b.

381

De legibus

steht, wonach der Ursprung des Rechts in der natura zu suchen sei. 228 Aufgrund der großen Bedeutung der Szenerie des Werkes wird im Folgenden auch zu zeigen sein, inwiefern die Dialogfiguren auf die Umgebung Bezug nehmen und mit der Örtlichkeit verbunden sind. Eine weitere Ähnlichkeit mit den platonischen Dialogen zeigen vor allem Stil und Ablauf des Gesprächs in De legibus I, in dem statt eines langen monologischen Vortrags immer wieder kürzere Unterredungen eingebaut sind, in denen sich der Gesprächsführer des Konsenses seiner Gesprächspartner versichert. Nicht zuletzt aus diesem Grund gilt die dialogische Einkleidung von De legibus als besonders gelungen und stärker an den Mustern von De oratore und De re publica als an den späteren Werken der 40er Jahre orientiert. 229 Die philosophische Originalität des Werkes zeigt Cicero in De legibus vor allem darin, dass er seine Gesetzgebung an dem bestehenden römischen Staat ausrichtet, wie er es zuvor auch in De re publica tat. 230 27F

28F

29F

3.1

M. Tullius Cicero

Der Dialogfigur Cicero kommt die Rolle des Hauptunterredners zu, der die zu behandelnden Themen in monologischer Art darlegt, wobei ihm jedoch von den anderen Gesprächspartnern immer wieder Anregungen, Verständnisfragen und Widerworte entgegengebracht werden. 231 An seinem Auftreten lassen sich verschiedene Profile erkennen, unter denen vor allem drei herausragen: der Schriftsteller, der Philosoph und der Politiker, welche in dieser Reihenfolge untersucht werden. 230F

a)

Marcus Cicero als Schriftsteller

Der Beginn des Dialoges zeigt die Figur Cicero nicht nur als Person des öffentlichen Lebens, sondern auch als Mensch der geistigen Produktion. Der Leser wird bereits am Anfang des ersten Buches mit den vielfältigen Interessen des Autors konfrontiert: So tritt er zunächst nicht als Philosoph in Erscheinung, sondern als

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230 231

Zum Motiv der Natur s. Hösle 2006, S. 222–228; Eigler 1996. Gawlick/Görler bezeichnen die „literarische Einkleidung“ als den platonischen Dialogen „ebenbürtig“: Gawlick/Görler 1994, S. 1035; nach Pohlenz ging es Cicero nicht um ein „sachliches Gegenstück“ zu den Nomoi, sondern um ein „römisches Kunstwerk […], das den Vergleich mit dem größten griechischen Prosawerk aufnehmen könnte und ihn durch ständige Bezugnahme herausfordere“: Pohlenz 1938, S. 102; ebenfalls positiv: Nickel 1994, S. 287; vgl. Rawson 1973, S. 336. Vgl. Fontanella 1997/1998, S. 490. Dabei entsteht nach Sauer eine metadiskursive Reflexion des Gesagten: Sauer 2013, S. 174.

382

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Dichter. Das einleitende Gespräch über die von Ciceros Landsmann Marius gepflanzte Eiche lässt Quintus zum Thema der Dichtung übergehen, da er hierin eine überlegene Form der Verewigung zu erkennen glaubt. 232 Darauf rückt das von Cicero auf den Landsmann Marius verfasste Gedicht, das dem Gesprächskreis und vielleicht auch dem Leser bekannt war, in den Mittelpunkt des Gesprächs. Atticus hegt – möglicherweise aus einer epikureisch-kritischen Haltung heraus – Zweifel gegenüber der Dichtung als Form der memoria, da er ihr den Wahrheitsgehalt in Abrede stellt, und verlangt eine Stellungnahme von Cicero. Dieser kontert in sokratischer Manier 233 die Frage mit der Gegenfrage, ob Romulus sich nach seinem Tod Iulius Proculus als Gott Quirinus vorgestellt habe und ihn mit einem Tempelbau beauftragte und ob Aquilo Orithyia entführt habe, da beides so überliefert sei (sic enim est traditum). 234 Die kritische Haltung gegenüber dem Wahrheitsanspruch der Dichtung, in der der Autor Platon folgt, wird mit der Nennung von Mythen zum Ausdruck gebracht, die von den Gesprächspartnern als solche verstanden werden sollen. 235 Die von ihm genannten Beispiele von Romulus, Proculus und Quirinus waren dabei nicht nur Gegenstand römischer Dichtung, sondern auch der römischen Geschichtsschreibung, deren Kritik bereits an dieser Stelle vorbereitet wird. 236 Mit jenen Gegenfragen gibt sich Atticus als Stellvertreter der kritischen Leser jedoch nicht zufrieden, da das MariusGedicht eine aus seiner Sicht jüngere Vergangenheit aufgreife, die mit den von ihm genannten Geschichten nicht vergleichbar wäre. 237 Mit Blick auf diejenigen, die zu erfahren wünschten, was an seiner Dichtung wahr sei und was falsch, antwortet Marcus ihm: 238 231F

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Et mehercule ego me cupio non mendacem putari. Sed tamen nonnulli isti, Tite noster, faciunt inperite, qui in periculo non ut a poeta sed ut a teste veritatem exigant; nec dubito quin idem cum Egeria collocutum Numam, et ab aquila Tarquinio apicem inpositum putent. Auch ich, beim Herkules, habe nicht den Wunsch, als Lügner zu gelten, aber trotzdem, mein lieber Titus, verhalten sich einige dieser Leser nicht sachgerecht, die von mir die Wahrheit bei diesem Versuch nicht wie von einem Dichter, son-

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Cic. leg. 1,2. S. unten S. 423f. S. hierzu: Dyck 2004, S. 63; Dyck erinnert hierbei an eine ähnliche Antwort des Sokrates im Gorgias: Plat. Gorg. 463c. Cic. leg. 1,3. Vgl. Hösle 2006, S. 225; s. auch: Plat. Phaidr. 229a–d; Kentner 1927, S. 27; Görler 1988, S. 216–218. Vgl. Krebs 2009, S. 97. Cic. leg. 1,4. Ebd. Der lateinische Text aus De legibus folgt der Ausgabe von Powell, die Übersetzung stammt, wenn nicht anders vermerkt, von Nickel.

383

De legibus

dern wie von einem Zeitzeugen verlangen, und ich zweifle nicht, dass dieselben Leute der Meinung sind, Numa habe tatsächlich mit Egeria gesprochen und dem Tarquinius sei von einem Adler die Königskrone aufgesetzt worden.

Zwar weist der lateinische Text an dieser Stelle keinen bestimmten Terminus für „Leser“ auf, sondern nennt nonnulli isti, doch ist der Bezug auf die Rezipienten deutlich, da die Frage von der Rezeption der Marius-Eiche ausging. Der Leserbezug, der sich in dem Gespann der drei Hauptprotagonisten offenbart, wird bereits in der einleitenden Frage deutlich. Indem Atticus als Patron der Leser auftritt und Cicero explizit nach dem Wahrheitsgehalt seiner Dichtung fragt, erhält die Stellungnahme, von der Dialogfigur Cicero stellvertretend für den Autor geäußert, einen klaren dialogexternen, an die nonnulli isti gerichteten Bezug. Cicero bringt seine Haltung nach einer zum Verständnis gestellten Zwischenfrage des Quintus auf den Punkt: Dichtung müsse als Form, die der delectatio dient, von der Geschichtsschreibung, die auf die Wahrheit (veritatem) ziele, klar getrennt werden. 239 Im Wechselspiel mit den Dialogfiguren erscheint Marcus dabei nicht nur als der Autor seiner Dichtung, die Quintus als Kenner zitiert, sondern wird gleichzeitig zum Zeugen seines eigenen Werkes, der – wie Krebs herausstellte – für sich in Anspruch nimmt, nicht unter der Wahrheitspflicht zu stehen, die für einen Zeugen vor Gericht gelten würde. 240 Mittels des Personengefüges und seiner eigenen Dialogfigur liefert das Einleitungsgespräch neben der Möglichkeit, eine bestimmte Auffassung zur Dichtung zu äußern, auch die, über die Dichterrolle der real-historischen Persönlichkeit zu reflektieren. Jene Stellungnahme scheint Atticus bereits erwartet zu haben, der die Gelegenheit sogleich nutzt, um von Cicero ein Geschichtswerk zu verlangen. 241 Erneut wird an die Dialogfigur des Autors mittels einer anderen Dialogfigur eine Frage herangetragen, die der Erwartungshaltung der Leser entgegenkommt. Der Autor schafft somit durch sein Alter Ego und die Gesprächssituation den Rahmen, auf die Adressaten des Werkes einzugehen: 242 238F

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241F

Intellego equidem a me istum laborem iam diu postulari, Attice; quem non recusarem, si mihi ullum tribueretur vacuum tempus et liberum. Neque enim occupata opera neque impedito animo res tanta suscipi potest; utrumque opus est, et cura vacare et negotio. Ich weiß selbstverständlich, dass man diese Arbeit schon lange von mir erwartet, Atticus. Ich würde sie auch nicht zurückweisen, wenn mir auch nur eine einzige freie Stunde zur Verfügung stände. Denn man kann eine so große Aufgabe nur

239 240 241 242

Cic. leg. 1,5. Krebs 2009, S. 99f. Cic. leg. 1,5. Ebd., 1,8.

384

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten dann auf sich nehmen, wenn man nicht mit einer anderen Tätigkeit befasst ist und nicht unter seelischem Druck steht. Beides ist unerlässlich: Von Sorgen und anderweitigen Beschäftigungen frei zu sein.

Cicero hat selbst keine Zweifel, dass er zum Erstellen eines Geschichtswerkes grundsätzlich in der Lage ist, doch nennt er zwei Gründe, weshalb er dies momentan nicht bewerkstelligen könne: Zum einen gibt er an, ihm fehle die dafür nötige freie Zeit (vacuum tempus et liberum), ein Argument, das Atticus im Verweis auf seine große literarische Produktion zunächst nicht gelten lässt und womit er möglicherweise auch die Bedenken des Lesers formuliert, dem der Widerspruch an dieser Stelle nicht entgehen konnte, dass Cicero immerhin die Zeit hatte, das Werk De legibus selbst zu verfassen. 243 Dementsprechend macht Marcus geltend, dass er noch mit anderen Werken beschäftigt sei (occupata opera). Als zweite Begründung deutet er an, im Moment unter „seelischem Druck“ (inpedito animo) zu stehen und nicht frei von „Sorgen und anderweitiger Beschäftigung“ (cura et negotio) zu sein. Der zum Zeitpunkt der Abfassung von De legibus schon über 50jährige Cicero lässt sein Alter Ego hierbei erklären, dass er auf die Zeit im fortgeschrittenen Alter vertraue (Ego vero aetatis potius vacationi confidebam), wenn er nach väterlicher Sitte (more patrio) nur noch als Berater (consulentibus responderem) tätig sei. 244 Mit dem Verweis auf die noch anstehenden „voraussetzungsreicheren und bedeutenderen Vorhaben“ (uberiores atque maiores) spielt er explizit auf sein philosophisches Schaffen an, dem der Autor als Dialogfigur die Priorität einräumt. 245 Seine Absage an ein Geschichtswerk reflektiert dabei nicht nur den kulturellen, römischen Hintergrund des Autors oder dessen persönliche Motivation, sondern erscheint darüber hinaus in einem intertextuellen Kontext, indem sie bewusst auf die Absage des Sokrates zu Beginn des Phaidros anspielt, der ebenfalls Zeitgründe nennt, um sich nicht weiter mit dem Wahrheitsgehalt der Mythen beschäftigen zu müssen. 246 Nachdem der erneut nachhakende Atticus ihm attestiert hat, dass er wohl niemals von den Gerichtsverhandlungen befreit sein dürfte (nullam tibi a causis vacationem video dari) 247, ist es Quintus, der das Gespräch in die entscheidende Bahn lenkt, indem er anmerkt, dass es dem Volk gefallen könnte, wenn er Rechtsberatung erteile (si te ad ius respondendum dedisse). 248 Dabei wird ihm von Atticus die Eignung zur Rechtssprechung zugesprochen. Er erinnert ihn daran, dass er sich bereits „seit frühester Jugend“ (a primo tempore aetatis) mit 24F

243F

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245F

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247 248

Cic. leg. 1,9. Ebd., 1,10; vgl. Dyck 2004, S. 87f. Vgl. ebd., S. 88. Plat. Phaidr. 229e: Ἐμοὶ δὲ πρὸς αὐτὰ οὐδαμῶς ἐστι σχολή – „Ich aber habe dazu ganz und gar keine Zeit“; vgl. Krebs 2009, S. 98. Cic. leg. 1,11. Ebd., 1,12.

385

De legibus

dem Recht auseinandersetze (iuri studere), wobei auch der Name seines Lehrers, Scaevola, genannt wird, der Bruder des Scaevola Augur, der in De oratore und De re publica mit einer Rolle als Dialogfigur geehrt wurde. 249 Von seinem Freund und seinem Bruder bedrängt möchte sich Cicero erneut zurückhalten und kontert daher mit einem Seitenhieb auf die umfangreiche existierende juristische Literatur, die sich damit begnüge, das Recht auszulegen, und mit dem Hinweis, den auf ihn gesetzten Erwartungen nicht gerecht werden zu können (sunt humiliora quam illa quae a nobis exspectari puto). 250 Hierauf entgegnet Atticus: 251 248F

249F

250F

Atqui si quaeris ego quid exspectem, quoniam scriptum est a te de optimo rei publicae statu, consequens esse videtur ut scribas tu idem de legibus. Sic enim fecisse video Platonem illum tuum, quem tu admiraris, quem omnibus anteponis, quem maxime diligis. Nun gut. Wenn du fragst, was ich erwarte, dann scheint es mir, da du schon eine Schrift über die beste Verfassung des Staates verfasst hast, nur folgerichtig zu sein, dass du auch noch über die Gesetze schreibst: Denn so hat es doch auch dein großer Platon gemacht, den du so bewunderst, den du allen anderen vorziehst und den du am meisten schätzt.

Da sich Cicero von der vorhandenen lateinischen Rechtsliteratur absetzen möchte, lässt er Atticus den Wunsch nach der richtigen Darstellungsform äußern. Dieser verlangt nach einem Vorgehen nach Art der platonischen Nomoi, an deren dialogische Szenerie und Aufmachung, den Spaziergang auf Kreta, der Autor sein Alter Ego erinnern lässt. 252 Spätestens an dieser Stelle wird auch dem philosophisch weniger vorgebildeten Leser bewusst, dass Cicero, der von Atticus als Autor einer Schrift Über den Staat genannt wird, den Vergleich mit dem Werk Platons sucht. Gleichzeitig lässt die Ablehnung der zeitgenössischen Rechtsliteratur und die Adaption des platonischen Stils die Originalität des Platonbewunderers erkennen, der als erster Römer eine philosophische Untersuchung der Gesetzgebung unternimmt. 253 Der Anspruch, sich durch diese Verbindung von Philosophie und Iurisprudenz von zeitgenössischen Abhandlungen abzusetzen, wird durch Atticus’ Nachfrage, ob die Kenntnisse des Rechts nicht aus den Edik251F

25F

249

250 251 252 253

Cic. leg. 1,13. In der Textstelle ist von einem Scaevola die Rede, der Lehrer Ciceros und Autor von Rechtsliteratur war; letzteres Kriterium trifft dabei nur auf Quintus Mucius Scaevola Pontifex zu; dass Cicero seine juristische Expertise den Scaevolae zu verdanken hatte, wird auch im Verlauf des zweiten Buchs nochmals deutlich, indem Cicero die beiden Scaevolae zum Erbrecht zitiert: Cic. leg. 2,47–49. Ebd., 1,14. Ebd., 1,15. Ebd. Vgl. Hentschke 1971, S. 128; Fontanella 1997/1998, S. 492.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

ten der Praetoren und dem Zwölftafelgesetz, sondern aus der Philosophie zu beziehen seien, erneut bestätigt. 254 Der Anspruch des Autors, der von der Dialogfigur reflektiert wird, folgt dabei einem zeitgenössischen Desiderat, da bereits seit dem Ende der Bundesgenossenkriege ein Bewusstsein für die Notwendigkeit der Vereinheitlichung des Rechts in Italien bestanden hat. 255 Die dialogische Einleitung weist insgesamt eine Entwicklung auf, die sich – ausgehend von der Frage nach der memoria – von der Dichtung über die Geschichtsschreibung in die Bereiche der Philosophie und Rechtsberatung bewegt. Der Autor erweckt den Eindruck, in allen Gebieten versiert und erfahren zu sein. Er beginnt allerdings nicht von sich aus, über das zu behandelnde Thema zu sprechen, sondern kommt hierbei immer dem Drängen von Atticus und Quintus nach, worin sich ein erster deutlicher Unterschied zu der Dialogfigur Marcus Cicero in De legibus und dem „Athener“ in den Nomoi zeigt. 256 Des Weiteren zeigt sich in allen Bereichen ein Bezug von Autor und Leser. Wie oben dargestellt, treten die beiden Gesprächspartner an den Protagonisten heran und tragen dabei Anliegen vor, die der Autor vom Leser erwartete. 257 Dichtung, Geschichtsschreibung und juristische Abhandlungen waren zudem literarische Gattungen, mit denen das römische Publikum bereits vertraut war. Durch die Ablehnung der Geschichtsschreibung und ihre Wertung als literarische Ausdrucksform des Alters soll dabei das dem Leser vorliegende Werk als das angemessenere und wichtigere literarische Projekt präsentiert werden. 258 253F

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b)

Ciceros philosophisches Profil

Indem im einleitenden Gespräch der Reihe nach drei Bildungsdisziplinen mit den dazugehörigen literarischen Gattungen der Dichtung, Historiographie und Jurisprudenz angesprochen werden, wird die Philosophie als vierte und für den Autor entscheidende antizipiert. Der philosophische Anspruch des Werkes wird von der Dialogfigur als Alter Ego des Autors getragen, der sich als Philosoph stilisiert. Dieses philosophische Profil geht mit seiner Präsentation als gesetzgebender Staatsmann partiell einher. Es zeichnet sich vor allem durch vier Facetten aus: das Vortragen seiner philosophischen Position, die Reflexion über die Rolle als philosophischer Autor, den Besitz philosophischer Bildung und damit einhergehend die Selbstidentifikation mit dem Ideal.

254 255 256

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Cic. leg. 1,17; vgl. Fontanella 1997/1998, S. 491. Vgl. Fontanella 1997/1998, S. 490; Gabba 1987, S. 175. In Platons Gesetzeswerk beginnt der Athener das Gespräch, indem er die beiden Nebenfiguren nach dem Ursprung des Gesetzes fragt: Plat. leg. 1,624a. Zur Rolle von Atticus und Quintus als interne Leser s. Sauer 2013, S. 174–179. Vgl. Dolganov 2008; Gildenhard 2013, S. 251.

387

De legibus

Der Vortrag philosophischer Positionen geschieht in De legibus am ausführlichsten im ersten Buch, in dem Cicero die Grundlagen für die späteren Ausführungen legt. Das Auftreten der Dialogfigur ist dabei mit den philosophischen Grundthesen des Werkes verknüpft, auf die daher im Folgenden kurz eingegangen werden muss. Nachdem Quintus und Atticus ihre Zustimmung für einen Vortrag über den Ursprung der Gesetze gegeben haben, verbindet Marcus zunächst die Grundlagen menschlicher Gesetze mit der conditio humana, indem er eine Konzeption darlegt, wonach Recht und Gesetze den Staat zwar leiten müssen, letztlich jedoch auf Überlegungen menschlicher Natur (mens humana contineat) zurückzuführen sind. 259 Nachdem Quintus und Atticus die Dimension seines Unterfangens erkannt haben, erfolgt eine Konkretisierung: 260 258F

259F

Igitur doctissimis viris proficisci placuit a lege, haud scio an recte, si modo, ut idem definiunt, lex est ratio summa insita in natura, quae iubet ea, quae facienda sunt, prohibetque contraria. Eadem ratio, cum est in hominis mente confirmata et confecta, lex est. Wie gesagt, den größten Gelehrten gefiel es, vom Gesetz auszugehen, vielleicht zu Recht, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass das Gesetz, wie sie es definieren, die höchste Vernunft ist, die in der menschlichen Vernunft liegt und alles befiehlt, was getan werden muss und das Gegenteil verbietet. Dieselbe Vernunft ist das Gesetz, wenn sie im Geist des Menschen ihren festen Platz hat.

Unter Berufung auf die nicht näher bestimmten doctissimi viri betritt Cicero eine spätestens seit Heraklit geführte philosophische Debatte, die einen metaphysischen Ursprung für das menschliche Recht ableitet. 261 Er vertritt die Ansicht, dass durch die Vernunft eine Verbindung zwischen dem Menschen, der Natur und dem Gesetz besteht. Indem er das Naturgesetz als Fundament der Gesetzgebung bestimmt, schafft Cicero eine metaphysische Grundlage für die Untersuchung vorhandener Rechtssysteme. 262 Von diesem idealen, in der Natur existen260F

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Cic. leg. 1,16. Ebd., 1,18. Heraklit fr. 114 DK; vgl. Radford 2004, S. 44. Um die Frage nach Charakter und Bedeutung des in Cic. leg. 1,18f. vorgestellten Naturrechts entbrannte in der Forschung eine fruchtbare Debatte, die von Girardet 1983 ausgelöst wurde. Dieser zog die bis dato vorherrschende Forschungsmeinung einer Dichotomie zwischen ciceronischem Naturrecht und positivem Recht in Zweifel. Das Naturrecht liefere dahingehend nicht einen dem positiven Recht entgegengesetzten Orientierungspunkt, sondern sei mit diesem identisch, wenn das positive Recht der ratio entspricht. Gegen Girardet argumentierte Neschke-Hentschke für eine Dichotomie, indem sie das Naturrecht mit der menschlichen prudentia identifizierte und hierin einen platonischen Ursprung annahm: „Le parallélisme entre la raison dirigeante

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

ten Recht wird das existierende positive Recht getrennt, das nicht immer auf der Natur, d. h. auf der vollendeten Vernunft, gründet. 263 Die grundlegende Bedeutung dieser Position für das Werk lässt sich auch daran festmachen, dass zu Beginn des zweiten Buchs erneut auf die Verbindung zwischen Gesetz und Geist des Menschen (hominis mente) über die ratio aufmerksam gemacht wird: 264 26F

263F

Hanc igitur video sapientissimorum fuisse sententiam, legem neque hominum ingeniis excogitatam, nec scitum aliquod esse populorum, sed aeternum quiddam quod universum mundum regeret imperandi prohibendique sapientia. Ita principem legem illam et ultimam mentem esse dicebant omnia ratione aut cogentis aut vetantis dei. Ex quo illa lex, quam di humano generi dederunt, recte est laudata; est enim ratio mensque sapientis ad iubendum et ad deterrendum idonea. Dies war also, wie ich sehe, die Auffassung der weisesten Männer, dass das Gesetz weder vom menschlichen Geist erdacht wurde noch auf einem Beschluss der Völker beruht, sondern etwas Ewiges ist, um die gesamte Welt mit der Weisheit des Befehlens und Verbietens zu regieren. So sei – wie sie behaupten – jenes erste und letzte Gesetz der Geist Gottes, der alles in Übereinstimmung mit der Vernunft entweder verlange oder verbiete. Aufgrund dessen wurde jenes Gesetz, das die Götter dem Menschengeschlecht gegeben haben, mit Recht gelobt: Es ist nämlich die vollkommene Vernunft des Weisen, die dazu geeignet ist, Befehle zu erteilen und von etwas abzuhalten.

Während die Konzeption eines in der Natur existierenden Rechts auf den Platonismus zurückgeführt wird, handelt es sich bei der nun angefügten Gemeinschaft von Göttern und Menschen hinsichtlich der ratio und der lex um stoisches Gedankengut. 265 Dabei beruft Cicero sich auf die Auffassung der Weisesten (sapientissimorum […] sententiam) und stellt gleichzeitig fest, dass jedwede – 264F

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divine et la raison humaine est donc un élément nouveau qui vient de la pensée analogique, pensée typique de Platon“, Neschke-Hentschke 1995, S. 197. Ihre Position erfuhr zuletzt von Horn Unterstützung und Konkretisierung, der dem von Cicero dargestellten Naturrecht neun inhärente philosophische Implikationen zuwies: Horn 2007, S. 117–119. Eine weitere Schwierigkeit stellt sich hinsichtlich der Frage nach den Ursprüngen des von Cicero dargelegten Naturrechts. Während von Arnim die zitierte Passage als ein stoisches Fragment (SVF 3,314) identifizierte, wurden in jüngerer Zeit Zweifel geäußert: So machte zuletzt Lisi auf Parallelen der Konzeption bei Aristoteles aufmerksam und schlug den Platonismus als entscheidenden Einfluss für die in De legibus vorgetragene Grundposition eines Naturgesetzes vor: Lisi 2014, bes. S. 225. Dagegen ging Atkins weiterhin von einem stoischen Charakter aus: Atkins 2013, S. 167. Cic. leg. 1,42. Ebd., 2,8. Vgl. Neschke-Hentschke 1995, S. 197; Lisi 2014, S. 227.

389

De legibus

im eigentlichen Sinne – gesetzgeberische Tätigkeit nur durch die ratio und mens des Weisen möglich sei, welche damit zur entscheidenden Voraussetzung des Gesetzgebers beziehungsweise des Regierenden erklärt wird. 266 265F

c)

Cicero als philosophisch gebildeter Gesetzgeber

Die Rolle der sapientia als Kompetenz des Gesetzgebers wird in De legibus immer wieder herausgestellt. Neben den Proömien der Bücher 1 und 2 geschieht dies in sehr eindringlicher Weise am Ende des ersten Buches in Form eines Enkomions. 267 Das Lob auf die Philosophie unterstreicht nicht nur erneut die Wichtigkeit dieser ars, sondern gibt gleichzeitig eine Antwort auf die Frage, wer über die Fähigkeiten verfügt, das Recht zu interpretieren. 268 Die Beschreibung des Weisen, der über die in den Proömien geforderten Grundlagen verfügt, knüpft dabei an vorherige Konzeptionen des Autors an: 269 26F

267F

268F

Atque haec omnia, quasi saepimento aliquo, vallabit disserendi ratione, veri et falsi iudicandi scientia, et arte quadam intellegendi quid quamquam rem sequatur et quid sit cuique contrarium. Quomque se ad civilem societatem natum senserit, non solum illa subtili disputatione sibi utendum putabit, sed etiam fusa latius perpetua oratione, qua regat populos, qua stabiliat leges, qua castiget improbos, qua tueatur bonos, qua laudet claros viros, qua praecepta salutis et laudis apte ad persuadendum edat suis civibus, qua hortari ad decus, revocare a flagitio, consolari possit adflictos, factaque et consulta fortium et sapientium cum improborum ignominia sempiternis monumentis prodere. Und er wird dies alles mit dem Verfahren der philosophischen Erörterung wie mit einer hohen Mauer schützend umgeben, mit der wissenschaftlichen Unterscheidung des Wahren und des Falschen und mit einer gewissen Kunst zu verstehen, was einer jeden Sache folgt und was ihr entgegensteht. Und wenn er merkt, dass er für die Gemeinschaft der Bürger geboren ist, wird er die Überzeugung vertreten, dass er sich nicht nur jener feinsinnigen, in die Einzelheiten gehenden Erörterungen, sondern auch einer weiter ausgreifenden zusammenhängenden Rede bedienen müsse, um mit ihr die Völker zu lenken, die Gesetze zu festigen, die Ver-

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Vgl. Girardet 1983, S. 99; der hier und in Cic. leg. 1,18f. zugrunde liegende Parallelismus zwischen leitender göttlicher und menschlicher Vernunft ist nach NeschkeHentschke ein neues Element, das seinen Urspung bei Platon habe: NeschkeHentschke 1995, S. 197. Cic. leg. 1,58–63. Vgl. Fontanella 1997/1998, S. 496. Zu interpretieren ist dabei das positive Recht, nicht das Naturrecht, welches nach der von Cicero vorgelegten Konzeption keiner Interpretation mehr bedarf, da es unveränderlich, ewig und der Welt immanent ist; vgl. Radford 2002, S. 46f. Cic. leg. 1,62.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten brecher zu züchtigen, die Rechtschaffenen zu schützen, die berühmten Männer zu loben, seinen Mitbürgern die zum Heil und zum Ruhm führenden Vorschriften auf überzeugende Weise zu erteilen, um so zur Sittlichkeit ermahnen, von Schandtaten abhalten und die Bedrängten trösten zu können und die Taten und Beschlüsse der Tüchtigen und der Weisen in Verbindung mit der Schande der Verbrecher für alle Zukunft in der Erinnerung zu bewahren.

Die politische Rolle des Weisen, der über die Völker herrscht (regat populos) und die Verbrecher züchtigt (improbos castiget), wird somit aus der Vorstellung des in der Natur bestehenden Gesetzes abgeleitet, das sich im Menschen als Stimme der Vernunft artikuliert. Der über die sapientia verfügende Philosoph ist demnach mit dem Staatsmann identisch, der sich nicht nur einer philosophischen Redetechnik bedienen können müsse, sondern auch einer „weiter ausgreifenden zusammenhängenden Rede“ (fusa latius perpetua oratione), um die von ihm verlangte politische Aufgabe erfüllen zu können. Die in De oratore postulierte Verbindung von Theorie und Praxis, die in De re publica bestärkt wurde, stellt damit auch für das Gesetzeswerk einen zentralen Grundgedanken dar und kennzeichnet das ciceronische Denken generell. Indem der Interpret des Gesetzes sich in beiden Arten der Eloquenz auszeichnen muss, wird die Rolle der Bildung betont, die zusammen mit einer moralischen Erneuerung der institutionellen Reform des römischen Staats vorausgehen muss. 270 Die Identifikation des Ideals mit der Dialogfigur findet auf zweierlei Art und Weise statt: Zum einen präsentiert sie sich durch ihre Gesprächsbeiträge selbst als philosophisch gebildeter Römer, dessen Lektüre über die Dialoge Platons weit hinausgeht, zum anderen legt der Gesprächsablauf diese Interpretation an einigen Stellen bewusst nahe. Das Profil des gebildeten Römers kann den Querverweisen auf andere Philosophen und deren Werke entnommen werden: Indem sich Marcus, worauf unten ausführlicher einzugehen sein wird, von den Lehrmeinungen des Karneades und Epikur abgrenzt, appelliert er an die Zustimmung der Alten Akademie – unter Speusippos, Polemon und Xenokrates – sowie des Aristoteles, Theophrast und Zenon, in deren philosophische Tradition er sich somit einordnet. 271 In der Frage nach der Definition des Guten zeigt er seine Vertrautheit mit den unterschiedlichen Positionen der Schulen, um seine Zustimmung für Ariston von Chios zu erläutern. 272 Zu Beginn des dritten Buchs findet ein staatsphilosophischer Überblick statt, der zudem seine Vertrautheit mit Diogenes, Panaitios, Dikaiarchos und Theophrast herausstellt. 273 Während die 269F

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So auch: Fontanella 1997/1998, S. 499: „Il risanamento morale e la formazione filosofica che lo rende possible sono, in conclusione, i presupposti del programma di riforma legislativo del De legibus.“ Cic. leg. 1,38. Ebd., 1,55. Ebd., 3,14f.

391

De legibus

griechischen Namen ein hohes Maß an Überblickwissen suggerieren, zeigt sich die persönliche Aufgeschlossenheit in der persönlichen Bekanntschaft mit Philosophen, wie etwa der mit Antiochos von Askalon (mihique ut scis familiaris). 274 Diese Charakteristik erleichtert die Identifikation der im Dialog agierenden Figur mit der philosophischen Idealvorstellung. Die Technik der Selbsttranszendierung durch den Dialog, die Cicero nach Hösle 275 gerne nutzt, um die eigene Person in einem guten Licht erscheinen zu lassen, zeigt sich bereits in der Frage nach der römischen Historiographie im ersten Buch. 276 Atticus’ Forderung an Marcus, ein Geschichtswerk in lateinischer Sprache zu verfassen, stellt sowohl dessen rhetorische Fähigkeiten als auch das durch seine politischen Leistungen als pater patriae erworbene politische Ansehen als seine entscheidenden Qualifikationen für ein solches Unterfangen heraus, wodurch sein Adressat als der von De oratore geforderte perfectus orator erscheint. 277 Eine Interpretation, nach der die Dialogfigur Marcus mit dem zentralen Ideal in Verbindung gebracht wird, wird somit gleich zu Beginn des Werkes durch das Dialoggeschehen, d. h. mit Hilfe des Genres begünstigt. Noch deutlicher lässt sich diese Identifikation am Anfang des dritten Buches beobachten, als der Hauptredner die Geschichte der Akademie skizziert und dabei Demetrios von Phaleron als Muster herausstellt: 278 273F

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27F

Post a Theophrasto Phalereus ille Demetrius, de quo feci supra mentionem, mirabiliter doctrinam ex umbraculis eruditorum otioque non modo in solem atque in pulverem, sed in ipsum discrimen aciemque produxit. Nam et mediocriter doc-tos magnos in re publica viros, et doctissimos homines non nimis in re publica versatos multos commemorare possumus: qui vero utraque re excelleret, ut et doctrinae studiis et regenda civitate prinveps esset, quis facile praeter hunc inveniri potest? Danach führte ausgehend von Theophrast, der berühmte Demetrios von Phaleron, den ich oben bereits erwähnte, mit erstaunlichem Erfolg die Wissenschaft aus der Dunkelheit und Abgeschiedenheit der Studierstube nicht nur in die Sonne und in den Staub der Straße, sondern geradewegs in den Entscheidungskampf und in die Schlacht. Denn wir können sowohl halbwegs gelehrte Männer, die in der Politik große Erfolge hatten, als auch hochgebildete Leute, die in der Politik nicht allzuviel geleistet haben, in großer Zahl erwähnen: Wer ließe sich aber so ohne weiteres außer unserem Demetrios finden, der sich tatsächlich auf beiden Gebieten so auszeichnete, dass er sowohl in seiner wissenschaftlichen Arbeit als auch in der Leitung eines Gemeinwesens überragende Erfolge erzielte?

274 275 276 277

278

Cic. leg. 1,54. Hösle 2004. Cic. leg. 1,5. S. auch Gildenhard 2013, S. 250: „Atticus flatters Cicero as the ‚ideal orator‘ that de Oratore seeks to outline.“ Cic. leg. 3,14.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Demetrios von Phaleron erscheint als Prototyp eines Politikers, der die vita activa mit der vita contemplativa verbunden hat, indem er die theoretische „Wissenschaft aus der Dunkelheit und Abgeschiedenheit der Studierstube“ (doctrinam ex umbraculis eruditorum otioque) in die politische Praxis gebracht habe. 279 Jener Anspruch, sich auf beiden Gebieten zu bewähren, ist auch Ciceros eigener Anspruch, so dass seine rhetorisch wirkende Frage an den Gesprächskreis bereits die Antwort impliziert. Durch die anschließende Antwort des Atticus – Puto posse, et quidem aliquem de tribus nobis – wird dem Leser einerseits die von ihm erwartete Interpretationsleistung nochmals erleichtert. Die Leistung des Demetrios, die Cicero als Dialogfigur lobt, leistet er als Autor durch De legibus. Gleichzeitig zeigt sich indirekt der Geltungsanspruch des Bildungsideals, indem philosophische Reflexion als Grundlage einer Gesetzgebung fungiert, und zwar in derselben Manier, wie sie in De oratore und De re publica als Fundament zur Bildung eines spezifischen Typus von Redner bzw. Staatsmann diente. Dass die Identifikation des Autors mit dem Idealpolitiker in beiden genannten Fällen nicht durch ihn selbst, sondern durch Atticus in Form einer Anmerkung erfolgt, lässt Marcus als zurückhaltend erscheinen, der diese Identifikation wohl aus pudor und zur Beibehaltung der Hierarchie unter den drei Römern nicht selbst vornimmt. Das Bildungsideal zeigt sich jedoch nicht nur lediglich dadurch, dass der Autor seine Persönlichkeit mit seinem eigenen Ideal gleichsetzt, sondern auch dadurch, dass er sein Alter Ego jenes Ideal vorleben lässt. Bekanntermaßen schafft das erste Buch, das sich um die Untersuchung des Ursprungs des Rechts bemüht, eine philosophische Grundlage für die weiteren Untersuchungen. Unabhängig von der Frage nach der genauen Herkunft von philosophischen Positionen lässt sich die Thematisierung der mit den unterschiedlichen Philosophenschulen assoziierten Haltungen feststellen. Hinsichtlich der von ihm bewunderten Haltung der Akademie erweckt seine Dialogfigur Atticus Misstrauen, der ihm attestiert, seine libertas disserendi verloren zu haben den Vorsatz, nur dem eigenem iudicium statt einer fremden Autorität zu folgen, untergrabe. 280 Die Dialogfigur Cicero räumt den Vorwurf indirekt mit dem Verweis „nicht immer, Titus“ (non semper, Tite) ein, gibt jedoch zu erkennen, dass das Ergebnis, nämlich die Stabilität von Staat und Gesetzen sowie das Wohlergehen der Völker, innerhalb der Untersuchung Vorrang hat. 281 Demnach räumt er der Stoa, dem Peripatos und der Alten Akademie einen Vorrang ein, 282 während Kepos und die Neue Akademie von der Untersuchung ausgenommen werden: 283 278F

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Vgl. Dyck 2004, S. 485. Cic. leg. 1,36. Ebd., 1,37; vgl. Cic. rep. 1,2; Dyck 2004, S. 167. Cic. leg. 1,38. Ebd., 1,39.

393

De legibus

Sibi autem indulgentes et corpori deservientes, atque omnia quae sequantur in vita quaeque fugiant voluptatibus et doloribus ponderantes, etiamsi vera dicant (nihil enim opus est hoc loco litibus), in horulis suis iubeamus dicere, atque etiam ab omni societate reipublicae, cuius partem nec norunt ullam neque umquam nosse voluerunt, paulisper facessant rogemus. Perturbatricem autem harum omnium rerum, Academiam, hanc ab Arcesila et Carneade recentem, exoremus ut sileat: nam si invaserit in haec quae satis scite nobis instructa et composita videntur, nimias edet ruinas; quam quidem ego placare cupio, summovere non audeo. Diejenigen aber, die sich selbst gegenüber nachsichtig sind, ihrer Leiblichkeit dienen und alles im Leben, was sie erstreben und meiden, unter dem Gesichtspunkt von Lust und Schmerz bewerten, wollen wir auffordern, auch wenn sie die Wahrheit sagen – denn an dieser Stelle können wir keinen Streit gebrauchen –, in ihren Gärtchen Reden zu halten, und wir wollen sie bitten, für ein Weilchen von jeder Beteiligung am Staat, von dem sie irgendeinen Teilbereich weder kennenlernten noch genauer kennenlernen wollten, Abstand zu nehmen. Die philosophische Schule jedoch, die alle diese Dinge durcheinanderbringt, die neue Akademie des Arkesilaos und Karneades, wollen wir dringend bitten zu schweigen. Denn wenn sie in den Gedankengang eindringt, der uns hinreichend sachverständig aufgebaut und angeordnet erscheint, wird sie ein zu großes Durcheinander hervorrufen. Ich möchte sie allerdings nur beruhigen und wage es nicht, sie fortzudrängen.

Die Position der nicht namentlich genannten Schule Epikurs scheidet für die philosophische Erörterung der Gesetze aus, selbst wenn ihr ethischer Ansatz, der mit Lusterwerb und Vermeidung von Leid umrissen wird, wahrheitsgemäß wäre (etiam si veram dicant). Der Verweis darauf, dass sie doch recht haben könnte, lässt sich als eine Anspielung auf den eigenen Skeptizismus interpretieren. 284 Als ernsthaftes philosophisches Gegenmodell oder als eine zur Diskussion stehende Alternative scheidet der Kepos aus, indem die moralisch als schwach beschriebenen Anhänger auf ihren apolitischen Platz verwiesen werden. 285 Die Position der Neuen Akademie, von der er sich seine skeptische Methode angeeignet hat, wird an dieser Stelle ebenfalls ausgeschlossen, da sie Cicero als perturbatrix nicht hilfreich erscheint. 286 Aus seiner Affinität zu ihr macht er jedoch keinen 283F

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Sauer verbindet diese Stelle mit dem „Geltungsanspruch der ciceronischen Konzeption“, in der nicht Wahrheit, sondern die „implizierte moralische Haltung und der fehlende Einsatz für das Gemeinwesen“ als Geltungskriterien für Epikur entscheidend seien, was erneut auf den Vorrang praktischer Politik gegenüber theoretischer Philosophie bei Cicero verweist: Sauer 2013, S. 178, Anm. 18. Vgl. Dyck 2004, S. 171f. In dieser Passage erkannten Glucker und Steinmetz eine Abkehr Ciceros vom Skeptizismus der Neuen Akademie: Glucker 1988; Steinmetz 1989. Dagegen argumentierte erstmals Görler 1995, dem sich zuletzt auch Schofield anschloss, der hierin ein zweckgebundenes Pausieren vom Skeptizismus zugunsten der politischen Agenda sieht: Schofield 2012, bes. S. 245; vgl. Thorsrud 2012, S. 134.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Hehl, indem er hinzufügt, dass er sie nur „beruhigen“ will (placare cupio), es aber nicht wage, sie zu entfernen (summovere non audeo). 287 Während die Lehrmeinungen Epikurs und der skeptischen Akademie so ausgeklammert werden, erfährt die Philosophie als Ganzes von der Dialogfigur Cicero Zustimmung. Im Finale des ersten Buches erfährt sie eine ausführliche Würdigung hinsichtlich ihrer Relevanz für das Leben der Menschen in dem bereits erwähnten Enkomion. 288 Der dialogische Kontext in De legibus erlaubt es dem Autor Cicero, mittels der Frage des Atticus nach dem Zweck des Lobs (sed quorsus hoc pertinet?) auf eine vom Leser erwartete Reaktion einzugehen und sich diesem genauer zu erklären: 289 286F

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Primum ad ea, Pomponi, de quibus acturi iam sumus, quae tanta esse volumus. Non enim erunt, nisi ea fuerint unde illam manant amplissima. Deinde facio et lubenter et, ut spero, recte, quod eam cuius studio teneor, quaeque me eum quicumque sum effecit. non possum silentio praeterire. Zuerst der Erörterung der Fragen, Pomponius, mit denen wir uns nunmehr auseinandersetzen und von denen wir behaupten, dass sie so wichtig sind. Denn sie werden es nicht sein, wenn nicht auch die Fragen, aus denen jene entspringen, von größter Bedeutung sind. Darüber hinaus gehe ich mit Freude und, wie ich hoffe, mit Recht so vor, weil ich die Disziplin, der meine ganze Liebe gilt und die mich zu dem gemacht hat, was ich bin, nicht stillschweigend übergehen kann.

Cicero nennt zunächst einen inhaltlichen Grund für sein Lob auf die Philosophie, indem er darauf insistiert, dass eine Behandlung des Rechts (ius) nicht von ihr getrennt werden kann. 290 Zusätzlich gibt er seine persönliche Hingabe zur Philosophie zu erkennen und bekennt, wie viel sie zu seiner Entwicklung beigetragen hat. 291 Dabei inszeniert er sich selbst als positives Beispiel für einen philosophierenden Römer, von dem der Leser weiß, dass er es bis zum Konsul gebracht hat, was somit indirekt auch als Verdienst der Philosophie erscheint. Seine philosophischen Studien verleihen ihm darüber hinaus nun auch die Kompetenz, für den von ihm als Konsul geretteten römischen Staat Gesetze zu verfassen. Angesichts dieses praktischen Nutzens verwundert es nicht, dass die Dialogfigur selbst den Eindruck erweckt, eher Rezipient griechischer Philosophie zu sein als Philosoph. 292 289F

290F

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Zu den Interpretationsansätzen in der Forschung s. Dyck 2004, S. 173. Cic. leg. 1,58–63. Ebd., 1,63. Vgl. Dyck 2004, S. 235. Zu Ciceros persönlicher Einstellung zur Philosophie s. Gawlick/Görler 1994, S. 1119. Vgl. Sauer 2013, S. 178.

395

De legibus

d)

Ciceros Platon-Bezug und Selbststilisierung als Sokrates

Der Bezug zum platonischen Werk, vor allem den Nomoi und dem Phaidros, ist durch Szenerie, Handlung und Personengefüge offensichtlich und vom Autor bewusst intendiert. Mit Blick auf die Dialogfigur Marcus wurde bereits eine wichtige Stelle genannt, in der Ciceros Verweigerungshaltung hinsichtlich des Verfassens eines Geschichtswerkes auch als Anspielung auf den platonischen Sokrates aus dem Phaidros gesehen werden muss. 293 Im Zusammenhang mit der philosophischen Positionierung nutzt Cicero das personelle Gefüge, um seinen Bezug auf das Vorbild Platon zu thematisieren, indem er sich durch die Dialogfigur transzendiert. 294 Zu einer ausgeprägteren Auseinandersetzung der Gesprächspartner mit Platon kommt es am Anfang des zweiten Buches, bevor Cicero mit der Darstellung und Behandlung der religiösen Gesetzgebung beginnt. 295 Dabei verweist er zunächst auf den griechischen Philosophen als methodisches Vorbild: 296 29F

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Sed ut vir doctissimus fecit Plato atque idem gravissimus philosophorum omnium, qui princeps de republica conscripsit idemque separatim de legibus eius, id mihi credo esse faciendum, ut priusquam ipsam legem recitem, de eius laude dicam; quod idem et Zaleucum et Chaerondan fecisse video, cum quidem illi non studi et delectionis sed rei publicae causa leges civitatibus suis scripserint; quos imitatus Plato videlicet hoc quoque legis putavit esse, persuadere aliquid, non omnia vi ac minis cogere. Aber wie Platon verfahren ist, der größte Gelehrte und zugleich bedeutendste aller Philosophen, der als erster eine Schrift über den Staat und zugleich getrennt davon ein Werk über die Gesetze verfasste, so meine auch ich vorgehen zu müssen, so dass ich, bevor ich ein Gesetz selbst vorlese, über den Wert dieses Gesetzes spreche. Ich sehe, dass Zaleukos und Charondas es genau so gemacht haben, als jene allerdings nicht aus philosophischem Interesse und zu ihrem Vergnügen, sondern um der staatlichen Ordnung willen Gesetze für ihre Städte aufgeschrieben haben. Platon nahm sich diese Gesetzgeber offensichtlich zum Vorbild und vertrat die Überzeugung, dass es auch die Aufgabe eines Gesetzes sei, von etwas zu überzeugen und nicht alles mit Gewalt und mit Drohungen zu erzwingen.

Cicero signalisiert, dass er sein literarisches Schaffen in der Nachfolge der philosophischen Autorität Platon (doctissimus […] gravissimus philosophorum omnium) sieht, der „als erster“ (princeps) staatstheoretische Schriften verfasst

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S. oben S. 384, Anm. 246. Eine Zusammenfassung aller Platonbezüge in De legibus liefert: Zoll 1968, S. 148, Anm. 1. Cic. leg. 2,14. Ebd.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

habe. 297 Er attestiert dabei jedoch jenem, dass er die Gesetze aus „philosophischem Interesse und zum Vergnügen“ (studii et delectionis […] causa) entworfen habe, indem er mit Zaleukos und Charondas Gegenbeispiele anführt, deren Gesetzgebung aus praktischem, staatspolitischem Kalkül (rei publicae causa) entstand. 298 Hierbei zeigt sich eine erste innere Distanzierung zu Platon, da für Cicero der praktische Aspekt Vorrang haben muss. Dass die Mitmenschen ohne Gewaltanwendung und Einschüchterung (non omnia vi ac minis cogere) von dieser Gesetzgebung überzeugt werden sollen, wird als Prinzip Platons und der früheren Gesetzgeber Zaleukos und Charondas beschrieben. 299 In seinem Bezug auf deren Autorität äußerst sich der Wunsch des Hauptredners, dass seine Gesetzesvorschläge von beiden Gesprächspartnern akzeptiert werden (si modo acceptae a duobus). Dabei gleicht die sich durch den Dialog zeigende Konstellation zwischen Marcus auf der einen und Quintus und Atticus auf der anderen Seite der des Gesetzgebers gegenüber der politischen Gemeinschaft. Die spezifische Art von Ciceros Platon-imitatio, für die ein inhaltliches Abweichen selbstverständlich ist, wird im Folgenden weiter legitimiert: als Quintus seine Freude darüber äußert, dass sein Bruder sich mit anderen Gegenständen beschäftigen wolle und Platon nur in der Darstellungsweise (orationis genus) imitiere, erklärt Marcus: 300 296F

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Velle fortasse: quis enim id potest aut umquam poterit imitari? Nam sententias interpretari perfacile est; quod quidem ego facerem, nisi plane esse vellem meus; quid negotii est eadem prope verbis isdem conversa dicere? Vielleicht nachahmen zu wollen: Wer kann oder wird sie jemals nachahmen können? Denn Platons Sätze einfach zu übersetzen, ist sehr leicht; ich würde das allerdings tun, wenn ich nicht einfach ich selbst sein wollte. Denn was wäre es schon besonderes, dieselben Gedanken fast mit denselben Worten, eben nur in Übersetzung auszudrücken?

Von Quintus auf seine Platon-imitatio angesprochen, macht die Dialogfigur den Anspruch des Autors auf Originalität geltend, indem sie zu erkennen gibt, dass sie eben nicht einfach nur ein griechisches Werk ins Lateinische transferieren möchte, womit er sich von dem in seiner Zeit üblichen Umgang mit griechischer Literatur absetzt. 301 Die imitatio der sprachlichen Form verweist zum einen auf den philosophischen Dialog, der in De legibus deutlich mehr Wechselgespräche aufweist, als dies etwa in den Dialogen der Jahre 45 bis 44 der Fall ist, und der in 30F

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Vgl. Dyck 2004, S. 280. Vgl. ebd., S. 281. Vgl. Plat. leg. 4,722b. Cic. leg. 2,17. Vgl. Dyck 2004, S. 287f.

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De legibus

der Gesprächsdauer von einem Tag direkt auf Platons Nomoi als Vorbild zurückgreift. 302 Die Nachahmung Platons wird jedoch auch im Auftreten der Dialogfigur Marcus sichtbar, die wie Sokrates in der Politeia oder der Athener in den Nomoi im Zentrum des Gesprächs steht und wie diese einen an der Gerechtigkeit orientierten Staat entwirft. 303 Anspielungen und Zitate aus Platons Werk erscheinen in De legibus regelmäßig, wodurch immer wieder an die Selbstinszenierung des Autors als römischer Platon erinnert wird. 304 Der persönliche Bezug Ciceros zu Platon dient am Anfang des dritten Buches dazu, die Grundsatzfrage aufzuwerfen, wie man mit philosophischen Autoritäten umzugehen hat, worauf unter V 3b nochmals eingegangen wird. 305 Die Position des Marcus im Personengefüge erinnert zwar an die Gestaltung platonischer Vorbilder, doch verweist die Dialogfigur hinsichtlich ihres Auftretens auch auf jene Gesprächstugenden, die durch die Figur des Crassus in De oratore und die des Scipio in De re publica zum Ausdruck gebracht wurden. Marcus, der – anders als der Athener – durch die Fragen seiner Gesprächspartner in das Gespräch involviert wird, wird seine Rolle als Zentrum des Gesprächs erst durch zahlreiches Nachfragen der anderen Dialogfiguren regelrecht zugetragen. Neben den platonischen Werken greift er dabei auch auf das eigene Staatswerk zurück, dessen Gedanken er in De legibus fortführt und das er dadurch als Bezugspunkt in einer Reihe mit der Politeia und den Nomoi adelt. 306 301F

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e)

Cicero als Politiker

Gemäß dem oben beschriebenen Ideal ist die Dialogfigur nicht nur durch ein philosophisches und gebildetes, sondern auch durch ein politisches Profil geprägt, das anhand von drei Punkten festgemacht werden kann: der ständigen Präsenz der politischen Vita des Autors, den zahlreichen Bezügen auf wichtige Standesgenossen sowie der Selbstpräsentation als moderat optimatischer Gesetzgeber. Im Zusammenhang mit der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Gesetzen kommt es auch immer wieder zu Bezügen auf die Gegenwartspolitik oder Ereignisse der jüngeren Vergangenheit, wodurch dem Leser der Politiker Cicero ständig präsent ist. Die wichtigsten Bezugspunkte stellen die Niederschlagung der catilinarischen Verschwörung sowie seine Verbannung dar. Hinsichtlich seines Erfolgs gegenüber den Catilinariern fällt auf, dass Cicero die der Dialogform immanente Möglichkeit einer indirekten Zuweisung nutzt: nicht durch die

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Cic. leg. 2,69. Vgl. Neschke-Hentschke 1995, S. 193. Cic. leg. 1,15, 55; 2,14, 17, 38, 41, 45, 67f.; 3,5, 32. Ebd., 3,1. Ebd., 1,20, 27; 2,23; 3,4, 12.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Dialogfigur Cicero, sondern durch Atticus wird das Lob an den Autor herangetragen, der Ciceros Eignung zum Schreiben eines Geschichtswerkes auch darauf zurückführt, dass die Heimat von ihm gerettet worden sei (salva est per te) 307 und ihn aufgrund dieser Tat mit dem ebenfalls in Arpinum geborenen Marius parallelisiert. 308 Während Marcus die Stilisierung seiner Person zum Retter Roms den Gesprächspartnern überlässt, bricht er hinsichtlich der Erinnerung an sein Exil sein Schweigen. In seiner Verteidigung des Volkstribunats hält er Quintus, der die Erinnerung an den Volkstribun Clodius als Argument gegen jenes Amt ins Spiel gebracht hat, 309 entgegen: 310 306F

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Nostra autem causa, quae, optime et dulcissume frater, incidit in tribuniciam potestatem, nihil habuit contentionis cum tribunatu; non enim plebes incitata nostris rebus invidit, sed vincula soluta sunt et servitia concitata, adiuncto terrore etiam militari. Neque nobis cum illa tum peste certamen fuit, sed cum gravissimo rei publicae tempore, cui nisi cessissem, non diuturnum benificii mei patria fructum tulisset. Unser eigener Fall aber, der uns, mein liebster und bester Bruder, in Konflikt mit der tribunizischen Gewalt geraten ließ, hatte nichts mit einem Kampf gegen das Tribunat als solches zu tun. Denn nicht das Volk war mit unserem Handeln unzufrieden, nachdem es erst einmal aufgewiegelt worden war, sondern die Gefängnisse wurden geöffnet und die Sklavenschaft aufgehetzt, und hinzu kam auch noch die Schreckensherrschaft bewaffneter Banden. Doch unser Kampf galt damals nicht jenem Unhold, sondern der äußerst ernsthaften Lage unseres Staates; wenn ich darauf keine Rücksicht genommen hätte, dann hätte das Vaterland auf Dauer keinen Nutzen von meiner richtigen Entscheidung gehabt.

Die Kompromissbereitschaft, welche die Dialogfigur Cicero hier signalisiert, dient dem Autor Cicero zur politischen Profilierung, indem er seine frühere politische Krise, nämlich die Verbannung infolge der Agitation des Clodius, aus der Rückschau als politischen Erfolg stilisiert. Das Exil erscheint dabei als überlegter Schritt zum Nutzen der Heimat (beneficii mei patria fructum). Dass der Bruder gerade an dieser Stelle als optume et dulcissume frater angesprochen wird, spielt auch auf Quintus’ aufopferungsvolle Unterstützung während dieser Zeit an. 311 Auch an späterer Stelle nutzt Marcus das von seinem Bruder eingebrachte Argument als Vorlage, um die Unrechtmäßigkeit des damaligen Verfahrens herauszustellen, welches zu seiner Flucht aus Italien führte. 312 Seine Verbannung war 310F

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Cic. leg. 1,5. Ebd., 2,6. Ebd., 3,21f. Ebd., 3,25. Vgl. Dyck 2004, S. 510. Vgl. Cic. leg. 3,44f.

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De legibus

demnach nur durch einen krisenhaften Zustand der res publica möglich, wie der Verweis auf die bewaffneten Sklavenbanden verdeutlicht. Dem Schrecken der Exilzeit stellt Marcus die triumphale Rückkehr und die dabei erhaltene Bestätigung vonseiten der Bevölkerung Italiens entgegen, wodurch das politische Ereignis als Sieg Ciceros präsentiert wird. 313 Die zuletzt zitierte Stelle ist auch hinsichtlich der Frage aufschlussreich, wie Cicero seine politischen Gegner und Weggefährten in sein philosophisches Werk integriert. Während er seinen persönlichen Feind Clodius weder an dieser noch an anderer Stelle von Marcus namentlich nennt, 314 ergeht es dem politischen Weggefährten Pompeius, der die sullanischen Beschränkungen für das Volkstribunat rückgängig gemacht hatte und dafür von Quintus vorsichtig kritisiert wird, besser. Indem seine Politik als sinngemäß und richtig dargestellt wird, bringt die Dialogfigur Cicero politische Nähe und Verbundenheit zu Pompeius zum Ausdruck. 315 Es zeigt sich auch ein republikanisch-aristokratischer Aspekt der Figur, wenn es um Pompeius Magnus geht. Dieser wird deutlich, als Atticus ihn gegenüber Quintus hinsichtlich der Frage, wie ein Geschichtswerk auszusehen habe, verteidigt: 316 312F

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Ego vero huic assentior; sunt enim maximae res in hac memoria atque aetate nostra. Tum autem hominis amicissimi Gnaei Pompei laudes inlustrabit; incurret etiam in illum memorabilem annum suum: quae ab isto malo praedicari quam, ut aiunt, de Remo et Romulo. Ich stimme allerdings lieber ihm zu. Denn die bedeutendsten Ereignisse finden in der Gegenwart und in unserer Zeit statt; dann wird er den Ruhm des Gnaeus Pompeius, seines engsten Freundes, erstrahlen lassen. Er wird auch auf jenes berühmte und denkwürdige Jahr seines eigenen Konsulats eingehen: Ich hätte es lieber, dass er sich dieser Themen annimmt, statt bei Remus und Romulus anzufangen, wie man so sagt.

Atticus’ Aussage impliziert, dass zwischen Cicero und Pompeius, der zum Dialogzeitpunkt und vermutlich auch während der Abfassung des Werkes noch lebendig war, ein enges Freundschaftsverhältnis besteht. 317 Beide erscheinen 316F

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Cic. leg. 2,42; 3,25. Vgl. ebd., 2,36, 42. Dabei wird mit Clodius als illa peste ähnlich abgerechnet wie einst mit Catilina in den vor Senat und Volk gehaltenen Reden: Cic. Catil. 1,2, 11, 30; 2,1, 2; 4,3. Die semantische Degradierung des politischen Gegners zu einer den Staat infizierenden Krankheit deckt sich auch mit der politischen Rhetorik Ciceros in der Rede Pro Sestio, in der politische Akteure seines Typs als nocentes eingestuft werden. S. hierzu: Meyer 2006, S. 33–35. Vgl. Cic. leg. 3,26. Ebd., 1,8. Zur Relevanz der Stelle hinsichtlich der Datierung des Dialogs s. Dyck 2004, S. 83f.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Atticus als die zentralen Staatsmänner der Gegenwart, deren Bedeutung für Rom mit der von Romulus und Remus verglichen wird. Das Konsulat, das hierfür nochmals erwähnt wird, scheint für die Ebenbürtigkeit der beiden Staatsmänner zu bürgen. Auch der jüngere Cato wird als noch lebende Person genannt: Marcus selbst nennt ihn einen Redner, der gleichermaßen mahnende und lehrende Rede (vel hortandum vel ad docendum) beherrschte, und stellt mit dem Pronomen noster die persönliche Verbundenheit heraus. 318 Neben Pompeius, Clodius und Cato dem Jüngeren, die während der Entstehungszeit von De legibus noch am Leben bzw. im Fall des zweiten erst kürzlich verstorben waren, wird von der Dialogfigur selbst oder mittels seiner Gesprächspartner der Bezug zu früheren Persönlichkeiten der res publica gesucht. Zu Beginn des zweiten Buchs zitiert Atticus Pompeius, welcher der Stadt Arpinum für zwei Retter des Vaterlands dankte. 319 Die Stilisierung Ciceros als Retter des Vaterlands setzt ihn somit auf eine Stufe mit dem aus der gleichen Stadt kommenden Marius, der diesen Titel als Sieger über die Kimbern und Teutonen führte. 320 Der ältere Cato erscheint im vorhandenen Text nur einmal. Seine Parallelisierung mit dem Autor erfolgt in indirekter Weise über Atticus, der ihn als Beispiel für einen Römer mit doppelter Heimat erwähnt. 321 Anhand der genannten Beispiele lässt sich erkennen, dass ein Vergleich mit beziehungsweise ein Absetzen von politischen Akteuren seiner Zeit und der jüngeren Vergangenheit stattfindet, wobei die Dialogfigur als passiver Empfänger erscheint. Dennoch ist die Aussage deutlich: Cicero ist ein Retter der Heimat wie Marius, ein Freund des großen Pompeius, der Sieger über den Staatsfeind Clodius, ein Freund des jüngeren Cato und ein Verehrer des älteren Cato, der wie er und Marius aus der Provinz stammt. Noch deutlicher wird das sich abzeichnende konservative Profil Ciceros anhand der beschriebenen Gesetzgebung. Wie Meyer herausstellt, zielt die Gesetzgebung von De legibus als „Reformprogramm“ auf die Stärkung des Senats. 322 Das Auftreten der Dialogfigur ist von dem Kalkül des Autors geprägt, seine politische Programmatik zu kommunizieren. Dass die Dialogfigur von Beginn an jede Form von Aufdringlichkeit vermeidet und seine aristokratisch gebotene Zurückhaltung nicht zuletzt dadurch demonstriert, dass sie sich wiederholt der 317F

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Cic. leg. 3,40. Ebd., 2,6. Dass der Vergleich von einem Gesprächspartner herangetragen wird, der dabei selbst lediglich ein Zitat vorträgt, kommt dem Empfänger des Lobs entgegen, denn einerseits bürgt mit Pompeius eine weitere Autorität für diese Einstufung, andererseits handelte es sich bei Marius um eine Person, die aufgrund ihres Engagements gegen Sulla innerhalb optimatischer Kreise umstritten sein musste. Die Gefahr einer Kompromittierung der Dialogfiguren wird dadurch verringert. Zur Frage einer Verwandtschaft von Cicero und Marius s. Rawson 1971, S. 76. Cic. leg. 2,6. S. hierzu: Meyer 2006, S. 137–180.

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Zustimmung ihrer Gesprächspartner versichert, 323 dient diesem Unterfangen, das im gleichen humanen Umgangston vorgetragen wird, der in den früheren Dialogen von Crassus, Antonius, Scipio und Laelius gepflegt wurde. Wie die Dialogfiguren Crassus oder Scipio Aemilianus stellt Marcus das Zentrum des Gesprächs dar, wodurch eine faktische Asymmetrie im Kollektiv entsteht. 324 Durch die Gesprächsführung nach den Regeln der humanitas und das häufige Einholen des Einverständnisses für sein methodisches Vorgehen bei den Gesprächspartnern wird jedoch eine formale Gleichrangigkeit der drei Römer aus dem Ritteradel erzeugt. Dabei erweckt die Dialogführung den Eindruck, als sei das Gespräch über das Naturrecht und die Gesetzgebung an sie herangetragen, wodurch ein zu aufdringlicher Charakter des Gesamtwerkes vermieden werden soll. 325 Das idealisierte Verhalten Ciceros erinnert an einen konsensorientierten und nicht autoritären Herrschaftsstil, wobei das Ideal des rector rei publicae hierbei Pate steht. Nachdem Atticus sich bei der von Marcus formulierten Gesetzgebung an die Gesetze des Numa erinnert fühlt, 326 nutzt Marcus die Gelegenheit, um an den Konservativismus Scipios anzuknüpfen:327 32F

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An censes, cum illis de republica libris persuadere videatur Africanus omnium rerum publicarum nostram veterem illam fuisse optimam, non necesse esse optimae rei publicae leges dare consentaneas? Meinst du etwa, obwohl uns Africanus in den schon mehrfach erwähnten Büchern über den Staat davon zu überzeugen scheint, dass unter allen Staaten unser eigener Staat in der Frühzeit der beste war, es sei nicht notwendig, dem besten Staat entsprechende Gesetze zu geben?

Die Orientierung am eigenen Staat und den mores maiorum wird mit der Autorität des Scipio Aemilianus aus De re publica legitimiert, der häufiger als Bezugspunkt des Gesprächs erscheint.328 Für sein Auftreten als Gesetzgeber rezipiert Marcus, wie oben gezeigt, einerseits das literarische Vorbild der platonischen Nomoi, andererseits das eigene Staatswerk, welches einen direkten Bezug zum eigenen Staat ermöglicht. Gleichzeitig knüpft die Dialogfigur mit Scipio an einen von Cicero erschaffenen Archetypus an, der im Gegensatz zum platonischen

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Cic. leg. 1,13, 16, 32 u.a.; vgl. Becker 1938, S. 19. Vgl. Hösle 2006, S. 276. S. z.B.: Cic. leg. 1,13; 3,13. Ebd., 2,23: Sed ut mihi quidem videtur, non multum discrepat ista constitutio religionum a legibus Numae nostrisque moribus. – „Aber wie mir scheint, unterscheidet sich diese religiöse Ordnung nicht so sehr von den Gesetzen des Numa und unseren Gepflogenheiten.“ Ebd. Ebd., 1,20, 37; 3,4, 12.

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Sokrates oder Athener die für den soziokulturellen Kontext wichtige dignitas und den Bezug zum mos maiorum ermöglicht. Indem er sich im Einklang mit Scipios politischer Grundüberzeugung befindet, stellt sich Marcus mit ihm auf eine Stufe und präsentiert sich als sein Nachfolger. Diese politische Linie stimmt zwar in vielen, jedoch nicht in allen Punkten mit der seiner Gesprächspartner überein, wie die bereits angesprochene Debatte um das Volkstribunat und seine Haltung hinsichtlich des Wahlrechts zeigen. In beiden Fragen bildet Quintus, der politisch aktivere der beiden Gesprächspartner, den Gegenpol. Als solcher unterbricht er Marcus bei der Behandlung der einzelnen Magistrate im dritten Buch beim Punkt des Volkstribunats und gibt eine strikt konservative Haltung zu erkennen. 329 Nach Quintus’ leidenschaftlicher Gegenrede attestiert Marcus seinem Bruder, dass er die Mängel zwar genau durchschaut habe (praeclare […] perspicis), aber das Gute an der Institution übersehen würde.330 Gleichwohl auch er mit dieser Feststellung seine Vorbehalte gegenüber der Macht zeigt, die dieses Amt mit sich bringt, betont er zugleich dessen schlichtenden Effekt, indem es die gefährlichere Gewalttätigkeit des Volkes (vis populi multo saevior multoque vehementior) durch einen sich der Gefahr bewussten dux bändige.331 In dem Streit um das Volkstribunat, der letztlich nicht entschieden wird, bezieht Marcus anders als sein Bruder eine gemäßigte aristokratische Position, wodurch er das politische Empfinden einer ähnlich gesinnten Leserschaft wiedergibt. 332 Marcus zeigt durch sein grundsätzliches Verständnis für die Mitredner auch an dieser Stelle ein urbanes Verhalten.333 Er verteidigt dabei nicht die plebs als solche, die er sich aufgrund ihrer potentiellen Gewalttätigkeit genauso wenig wie sein Bruder als politischen Entscheidungsträger in der res publica vorstellen kann, doch stellt er den beschwichtigenden Charakter des Amts in den Vordergrund, den er sich vor allem durch das unter den Tribunen bestehende Interzessionsrecht verspricht.334 Bei der Frage nach dem Wahlrecht kommt der Hauptredner erneut in Konflikt mit der streng optimatischen Gesinnung von Quintus und Atticus. 335 Nachdem Atticus der Meinung des Quintus beigepflichtet und auf den aristokratisch interpretierten Staat des Scipio verwiesen hat, 336 eröffnet Cicero seine Gegendarstellung humorvoll, indem er die Gesprächssituation mit einer Volksabstimmung vergleicht. 337 Er erkennt zunächst an, dass die von Quintus kritisierten Gesetzge34F

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Cic. leg. 3,17. Ebd., 3,23. Ebd. So auch Sauer 2013, S. 177. Vgl. Becker 1938, S. 19f. Vgl. Sprute 1983, 162f. Cic. leg. 3,33–37. Ebd., 3,37. Ebd., 3,38.

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bungen zur Anonymisierung des Wahlverfahrens geführt hätten, ehe er seinen Kompromiss unterbreitet, der die den Optimaten so missfallenden Gesetze überflüssig machen würde: 338 37F

Quae si opposita sunt ambitiosis, ut sunt fere, non reprehendo. Si non valuerint tamen leges, ut ne sit ambitus, habeat sane populus tabellam quasi vindicem libertatis, dummodo haec optimo cuique et gravissimo civi ostendatur ultroque offeratur, ut eo sit ipso libertas in quo populo potestas honeste bonis gratificandi datur. Wenn diese Maßnahmen gegen Wählerbestechung sind, wie es normalerweise der Fall ist, habe ich nichts dagegen; wenn die Gesetze aber trotzdem nicht bewirken, dass kein Stimmenkauf stattfindet, soll das Volk auf jeden Fall sein Stimmtäfelchen sozusagen als Beschützerin seiner Freiheit haben, allerdings soll es gerade den besten und einflussreichsten Bürgern gezeigt und freiwillig offenbart werden, sodass eben darin die Freiheit zum Ausdruck kommt, dass das Volk die Möglichkeit erhält, den Rechtschaffenen auf ehrenvolle Weise einen Gefallen zu tun.

Ciceros Auffassung, dass die Freiheit des Volkes dann zum Ausdruck komme, wenn es freiwillig auf das Recht der geheimen Stimmtäfelchen verzichte, ist im gesellschaftlichen Kontext des römischen Patronats zu sehen, das dem Klienten eine Dankespflicht auch – wie Sprute anmerkt – aus moralischer Intention abverlangte. 339 Gemäß der in De re publica vertretenen Idee der Mischverfassung wird die Partizipation des Volkes als grundsätzlich wichtiges Element verteidigt, eine aktive Mitgestaltung an den politischen Entscheidungen wird durch eine Reduzierung seiner Freiheit letztlich verhindert. 340 Im Kontrast zu der strikt antipopularen Haltung von Quintus und Atticus wirkt Marcus’ Position staatstragender, indem sie beide Interessen zu vereinen scheint. Sein Gestus findet eine Parallele in der nur einige Jahre vor dem Beginn seiner Arbeit an De legibus gehaltenen Sestiana, die den Gegensatz von optimates und populares durch einen neuen, auf die Gesinnung gerichteten Optimatenbegriff aufzuheben suchte. 341 38F

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Die Bezugnahme auf den Ort: Cicero als Arpinat

Eine weitere Facette der Dialogfigur Marcus in De legibus stellt die Bezugnahme auf seine Heimatstadt Arpinum dar. Die Thematisierung der Herkunft von Dialogfiguren ist durch die platonischen Nomoi vorgeprägt, deren Hauptfigur, den Ἀθηναῖος, Cicero als Platon identifizierte. Anders als dieser wird er als Mensch

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Cic. leg. 3,39. Vgl. Sprute 1983, S. 163. Vgl. ebd., S. 159 u. 163. Cic. Sest. 97–103 u. 138f.; s. hierzu: Meyer 2006, S. 26–53.

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mit zwei patriae geschildert und die „doppelte Staatsbürgerschaft“ thematisiert. Während der Athener sich auf Kreta befindet, halten sich die drei Gesprächspartner in Marcus’ Heimatstadt auf. Ort und Ortsbezogenheit der Personen implizieren dabei mehrere Aspekte, die den kunstvollen Gebrauch der Personengestaltung und die Dialogtechnik des Arpinaten veranschaulichen. Nachdem das Gespräch des ersten Buchs in Anlehnung an die Nomoi mit einem Spaziergang einsetzte, 342 gelangt der Gesprächskreis zu Beginn des zweiten Buchs auf die Insel des Fibrenus. 343 Diese wird dabei als typischer Ort für Ciceros geistige Beschäftigung charakterisiert (loco libentissime soleo uti, sive quid mecum ipse cogito sive aliquid scribo aut lego). 344 Der „Naturzustand“ der Fibrenusinsel, der für die Beruhigung und Freude der Seele unabdingbar ist, wird darauf von Atticus als Gegenpol zu Rom dargestellt. 345 Im Anschluss lobt auch Cicero den Ort, den er aufgrund seines Liebreizes und heilenden Wirkung aufsuchen würde (et amoenitatem et salubritatem hanc sequor), wann immer es ihm möglich sei. 346 Die Landschaft erscheint ihm einerseits als notwendige Inspiration für die Auseinandersetzung mit dem Naturrecht und der Gesetzgebung, andererseits gewährleistet sie die Erholung vom politischen Alltag in Rom. 347 Die Charakterisierung der natürlichen Landschaft als Ort der geistigen Beschäftigung und Antipol zum städtischen Lebensraum stellt dabei einen starken intertextuellen Bezug zur Szenerie des Phaidros dar, 348 durch den Marcus eine zu Sokrates konträre Bewertung der Landschaft vornimmt und damit, wie Eigler herausstellte, einem typisch römischem Interpretationsmuster folgt. 349 Als Raum des otium dient das Land demnach nicht nur der Rechtfertigung der geistigen Beschäftigung, sondern wird darüber hinaus gegenüber der Stadt Rom als eigentliches Zentrum der urbanitas stilisiert. 350 341F

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Plat. leg. 1,625b. Cic. leg. 1,15; vgl. Eigler 1996, S. 141. Cic. leg. 2,1. Ebd., 2,2. Ebd., 2,3. Hösle stuft die Beziehung von Mensch und Natur in De legibus als „sentimental“ ein, da das Interesse an ihr lediglich wegen „ihrer Wirkung auf den Menschen“ bestünde: s. Hösle 2006, S. 223. Plat. Phaidr. 230d: Συγγίγνωσκέ μοι, ὦ ἄριστε. Φιλομαθὴς γάρ εἰμι· τὰ μὲν οὖν χωρία καὶ τὰ δένδρα οὐδέν μ᾽ ἐθέλει διδάσκειν, οἱ δ᾽ ἐν τῷ ἄστει ἄνθρωποι. – „Dies verzeih mir schon, o Bester. Ich bin eben lernbegierig, und Felder und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt.“ S. hierzu: Eigler 1996, bes. S. 140–143, der dabei herausstellt, dass Cicero hierin dem Sokrates-Bild aus Xenophons Oikonomikos folgt; vgl. Xen. oik. 5,12. Vgl. Eigler 1996, S. 141f. Eiglers Feststellung lässt sich hinzufügen, dass die geistige Beschäftigung als solche von Cicero politisch gewertet wird. Das Land wird nicht nur als Ort früherer römischer Stärke ethisiert, sondern auch dahingehend, dass von der

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De legibus

Die Abstammung und Verbundenheit mit Arpinum werden durch die Dialogfigur Marcus explizit herausgestellt, indem sie auf Atticus’ Nachfrage antwortet: 351 350F

Quia si verum dicimus, haec est mea et huius fratris mei germana patria. Hinc enim orti stirpe antiquissima sumus, hic sacra, hic genus, hic maioirum multa vestigia. Weil hier, wenn wir die Wahrheit sagen, meine und meines Bruders eigentliche Heimat ist. Wir stammen nämlich von hier aus einem uralten Geschlecht, hier ist alles, was uns heilig ist, hier kommen wir her, hier sind viele Spuren unserer Vorfahren.

Der Verweis auf seine Herkunft aus einer kleinen Landstadt sowie auf die eigenen Vorfahren, die politisch wenig bedeutenden Tullier, wirkt als bewusster Kontrast zu der politischen Selbstinszenierung in De legibus, in dessen Rahmen Cicero sich klar als Retter des Vaterlandes präsentiert. Durch die Bezeichnung germana patria weist er nicht nur auf seine eigene doppelte Verwurzelung hin, sondern auch auf die vieler anderer römischer Bürger aus italischen Städten mit römischem Bürgerrecht, wofür Atticus auch den alten Cato (sapienti illi Catoni) als Beispiel nennt. 352 Mit Nachdruck bekräftigt Cicero diesen Punkt, nachdem sein Freund ihn dazu nochmals explizit gefragt hat: 353 351F

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Ego mehercule et illi et omnibus municipibus duas esse censeo patrias, unam naturam civitatis: ut ille Cato, quom esset Tusculi natus, in populi Romani civitatem susceptus est, ita quom ortu Tusculanus esset, civitate Romanus, habuit alteram loci patriam, alteram iuris; […]. Ich meine tatsächlich, beim Herkules, dass Cato und überhaupt alle Bürger aus Landstädten eine doppelte Heimat haben: eine natürliche und eine politische. Wie jener Cato, nachdem er in Tusculum geboren war, in die politische Gemeinschaft des römischen Volkes aufgenommen wurde, besaß er einerseits die Heimat des Geburtsortes und andererseits die Heimat des gemeinsamen Rechts.

Der Aspekt der zwei patriae, der politischen und der natürlichen Heimat, thematisiert die Lebenswirklichkeit eines großen Teils der römischen Bevölkerung in Italien, der erst seit dem Bundesgenossenkrieg über das römische Bürgerrecht verfügte und somit eine eigene Geschichte, eigene Traditionen und eigene Ge-

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dort praktizierten Beschäftigung mit der Philosophie die moralische Erneuerung der römischen Gesellschaft ausgehen muss. Cic. leg. 2,3. Ebd., 2,5. Ebd.

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setze besaß. 354 Die im Gespräch behandelte Frage nach der Heimat, welche die eigentliche inhaltliche Diskussion über spezifische Gesetzgebung ummantelt, gewährt einen wichtigen Einblick in die Struktur des zu reformierenden Staats. 355 Mit dem älteren Cato verweist Cicero nicht nur auf ein persönliches Vorbild, sondern gibt zugleich ein repräsentatives Musterbeispiel für einen römischen Bürger, der seinen Weg aus einer der vielen italischen Landstädte in die Hauptstadt gefunden hat und dort mit auctoritas sprechen darf. 356 Rom wird letztlich von den beiden patriae ein eindeutiger Vorrang als politische Heimat zugewiesen (necesse est caritate eam praestare), die dem einzelnen auch das höchste Opfer abverlangt (quasi consecrare debemus). 357 Die Frage nach der persönlichen Einstellung von Marcus zu seiner Heimat wird, wie erwähnt, exemplarisch für die italische Landbevölkerung gestellt. Diese wird von ihm von Anfang an in den zu gestaltenden Staat miteinbezogen. Dem arpinatisch-römischen Charakter von Marcus und Quintus wird mit Atticus ein athenisch-römischer entgegengesetzt, wodurch die politische Diversität der Personen in den Nomoi rezipiert wird. 358 35F

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g)

Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Dialogfigur Marcus einen deutlichen Bezug zu der Programmatik von De oratore und De re publica aufweist. Dem Leser wird klar suggeriert, dass das Alter Ego des Autors ein hoch gebildeter Römer ist, der auf dem Gebiet der Gesetzgebung und zugleich in den artes der Dichtung, Geschichtsschreibung und Philosophie sehr versiert ist. Dieses Profil eines gebildeten Römers wird ergänzt durch das des aktiven Staatsmanns, der sich nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten um den eigenen Staat verdient gemacht hat, worin er sich maßgeblich von dem Athener aus den Nomoi unterscheidet. Diese Verbindung von Theorie und Praxis verweist auf das Bildungs- und Politikerideal der vorherigen Dialoge, an das explizit erinnert wird. In De legibus tritt Cicero dabei sowohl als Philosoph als auch als Staatsmann vom Typus eines Nomotheten auf. 359 Innerhalb der von ihm dargestellten philosophischen Theorie werden historische Beispiele für politische Gesetzgeber (Romulus, Numa) in einen philosophischen Bezug gestellt, da sie als sapientes eine politische Ordnung hinterlassen haben, die bis zu seiner Zeit existent war und die der ciceronische Scipio bereits als die bestmögliche beschrieben hatte. 358F

354 355 356 357 358 359

Vgl. Eigler 1996, S. 142f. Vgl. Hösle 2006, S. 226. Vgl. Rawson 1973, S. 393. Cic. leg. 2,5. Zu Atticus’ Athenbezug s. unten S. 416–419. Vgl. Gildenhard 2013, S. 237.

407

De legibus

Dabei handelt es sich keineswegs um eine willkürliche Uminterpretation der maiores, sondern um die Anwendung einer vom Platonismus und der Stoa beeinflussten philosophischen Theorie, wonach eine gerechte Gesetzgebung, das heißt Gesetze, die einen Ausdruck des Naturgesetzes darstellen, nur durch individuelle recta ratio möglich ist. Indem die Dialogfigur Marcus und das Dialoggeschehen immer wieder verdeutlichen, dass Marcus Tullius Cicero ein Römer ist, der wie die bedeutenden Vorfahren über diese sapientia verfügt, leitet sich ein politischer Anspruch ab. Unabhängig von der nicht zu klärenden Frage, ob Cicero das von ihm in De legibus dargelegte Gesetzeswerk in exakt dieser Form in der römischen Gegenwartspolitik verwirklicht sehen oder damit nur auf künftige Gesetzgebungen einwirken wollte, wofür die Offenheit in der Debatte über das Volkstribunat sprechen könnte, ist ein deutlicher Bezug der Gesetzgebung des Werkes zur Gegenwartspolitik der Jahre 50er Jahre erkennbar. 360 Jenseits dieser politischen Kontextualisierung der Dialogfigur fällt auf, dass Cicero anhand der Dialogfigur auf seine dialogexterne Rolle als Autor Bezug nimmt, indem er Marcus mit Zitaten aus seinem Werk konfrontiert oder ihm solche in den Mund legt, wie das Mariusgedicht am Anfang oder die Anspielungen auf De re publica zeigen. Die Dialogfigur kann dahingehend als das Sprachrohr des Autors bezeichnet werden, während die Nebenfiguren, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, als Vertreter der Rezipienten fungieren, sodass der fiktive Dialog innerhalb der dialoginternen Welt Züge einer Kommunikation zwischen Schreiber und Leser annimmt. Die Identität zwischen Autor und Sprecher stellt auch eine Grundlage für die Reflexionen über den Ort dar. Von Platon inspiriert zeigt sich Cicero als Arpinate: Wie andere berühmte Römer stammt er aus einem kleinen Munizipium und wie diesen glückte ihm der politische Aufstieg. Dieses Profil spiegelt dabei die politische Realität des imperium Romanum und der römischen Bürgerschaft, der erst wenige Dekaden zuvor zahlreiche Bundesgenossenstaaten eingegliedert wurden. Durch die Charakterisierung des Atticus als Athener weist das Personengefüge somit drei unterschiedliche kulturelle Identitäten auf, die jedoch alle in der römischen aufgehen. Die römische patria stellt dahingehend eine verbindende und übergeordnete Identität dar. 359F

360

Besonders deutlich wird dieser Bezug etwa in dem Anliegen, Kriege fortan stärker an das bereits in De re publica ausgearbeitete Konzept des bellum iustum zu binden, wofür auch die Stärkung des Fetialrechts vorgesehen war: Cic. leg. 2,21, 34; 3,9, 19. Zur Absicht einer Domestizierung des Krieges bei Cicero s. Girardet 2007, S. 4–22. Dass dieser Frage ein hohes Maß an politischer Aktualität zukommen musste, wird mit Blick auf die diversen kriegerischen Unternehmungen von Caesar und Crassus deutlich.

408

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

3.2

T. Pomponius Atticus

Die Figur des Atticus tritt in den Dialogen Ciceros erstmals in dem Werk De legibus in Erscheinung und erscheint erneut als Dialogfigur im Brutus, in der überarbeiteten Fassung der Academici libri und mit Quintus zusammen im schon behandelten fünften Buch von De finibus, dessen Szenerie wieder in einer ferneren Vergangenheit angelegt ist. a)

Atticus’ Rolle innerhalb der Gesprächsinszenierung

Betrachtet man die Rolle des Atticus in De legibus, so lässt sich zunächst feststellen, dass er mit Quintus zusammen einen fragenden und zuhörenden Part gegenüber der zentralen Dialogfigur Marcus einnimmt. In dieser Rolle als begleitende Nebenfiguren erinnern die beiden nicht zufällig an Kleinias und Megillos aus den platonischen Nomoi. Gemäß den platonischen Vorbildern kommt es ihnen zu, ihre Fragen an den Gesprächsführer heranzutragen oder die von ihm ersehnte Zustimmung für sein Vorgehen zu gewähren. Im Folgenden soll deutlich werden, dass die beiden Figuren zwar über bestimmte Gemeinsamkeiten verfügen, sich hinsichtlich ihrer Charakterisierung jedoch gleichzeitig in weiten Teilen auf eine Weise ergänzen, wie wir sie bereits ähnlich in De re publica bei Laelius und Philus kennengelernt haben. Ein entscheidender Unterschied seiner und Quintus’ Rolle gegenüber den beiden Nebenfiguren aus den Nomoi besteht darin, dass sie – und nicht der Protagonist Cicero – das Gespräch einleiten. 361 Die erste Wortmeldung geht dabei von Atticus aus und spricht noch nicht das eigentliche Thema des Werkes an, sondern lässt ihn einen von ihm gesichteten Baum mit jener Eiche identifizieren, die er aus seiner Lektüre des von Cicero verfassten Marius-Gedichts kennen würde. 362 Das Gespräch beginnt somit mit einem Verweis auf ein früheres literarisches Werk des Autors, als dessen Kenner sich Atticus (saepe a me lectus) hier präsentiert. 363 Der Bezug auf Ciceros Schaffen lässt gleich zu Beginn eine an den Autor gekoppelte Funktion der Dialogfigur erkennen: Beide Nebenfiguren vermitteln durch ihre enge persönliche Bekanntschaft mit dem Autor zwischen jenem und dem Leser, wodurch Cicero die Möglichkeit erhält, auf Fragen, die er von seinen Adressaten erwarten konnte, zu antworten. Durch Atticus’ und Quintus’ persönliche Nähe und die unterschiedliche Art ihrer jeweiligen Interessen repräsentieren sie zugleich unterschiedliche Gruppen von Lesern, wie Sauer 360F

361F

362F

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Vgl. Plat. leg. 1,624a. Cic. leg. 1,1. So auch Krebs 2009, S. 93: „Cicero presents Atticus as an intimate connoisseur of his works.“

409

De legibus

jüngst herausgestellt hat. 364 Atticus leitet zunächst ein Gespräch ohne Marcus’ Beteiligung ein, das den Wahrheitsgehalt der Dichtung thematisiert. 365 Für den Verlauf und die Entwicklung des Dialoges lässt sich ihm eine sowohl aktivierende als auch vorantragende Rolle attestieren. 366 Er ist dabei stellenweise stärker in das Gespräch involviert, indem er auf die Gegenfragen des Gesprächsführers stellvertretend für sich und Quintus antwortet. 367 Sein Auftreten wird entscheidend von seinem Profil eines in mehreren Gebieten gebildeten Römers bestimmt, das einen Kontrast zur Figur von Ciceros Bruder bildet. 36F

364F

365F

36F

b)

Atticus als gebildeter Zuhörer: Freund der Historiographie und Rechtskenner

Neben Kenntnissen im Bereich der Dichtung, über die jedoch – wie zu zeigen sein wird – Quintus noch mehr verfügt, lässt sich Ciceros engem Freund gleich zu Beginn ein besonderes Interesse an der Geschichtsschreibung attestieren. Dieses zeigt sich erstmals in dem Moment, als er die Hauptperson fragt, ob es sich bei der besagten Eiche um ein Kunstprodukt handle oder die Geschichte wahr sei. 368 Als Marcus anstatt eine klare Antwort zu geben mit einer Gegenfrage kontert, hakt Atticus beharrlich im Namen jener nach, die von ihm die Wahrheit verlangen würden (a nonnullis […] veritas a te postulatur). 369 Als Vertreter dieser Gruppe von Lesern erzeugt Atticus durch seinen Einwurf die Vorlagen, die es der Dialogfigur Marcus ermöglicht, sich in der vom Autor gewünschten Weise zu erklären. 370 Nachdem Atticus’ Interesse an Geschichtsschreibung bereits in der Frage nach der Historizität der Lyrik antizipiert wurde, spiegelt es sich erneut in seiner Forderung an den Autor, ein Geschichtswerk zu verfassen: 371 367F

368F

369F

370F

Postulatur a te iamdiu, vel flagitatur potus historia; sic enim putant, te illam tractante effici posse, ut in hoc etiam genere Graeciae nihil cedamus. Atque ut audias quid ego ipse sentiam, non solum mihi videris eorum studiis qui tuis litteris delectantur, sed etiam patriae debere hoc munus, ut ea quae salva per te est, per te eundem sit ornata. Abest enim historia litteris nostris, ut et ipse intellego et ex te persaepe audio; potes autem tu profecto satis facere in ea, quippe cum sit opus (ut tibi quidem videri solet) unum hoc oratorium maxime.

364 365 366 367 368 369 370 371

Sauer 2013. Cic. leg. 1,1–3. Vgl. Dyck 2004, S. 23: „catalyst and motor of the dialogue.“ Cic. leg. 1,32. Ebd., 1,3. Vgl. Krebs 2009, S. 96. Cic. leg. 1,4. Sauer 2013, S. 175 u. 179. Cic. leg. 1,5.

410

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten Schon lange verlangt oder besser noch fordert man von dir ein Geschichtswerk. Man meint nämlich, wenn du dich mit der Geschichtsschreibung befasst, könne auf diese Weise erreicht werden, dass wir auch in dieser literarischen Gattung hinter Griechenland in nichts mehr zurückstehen. Und damit du hörst, was ich selbst darüber denke: In meinen Augen bist du die Erfüllung dieser Aufgabe nicht nur deinen literarischen Bewunderern, sondern auch deinem Vaterland schuldig, damit es ebenso, wie es durch dich gerettet wurde, auch noch durch dich geehrt wird. Denn die Geschichtsschreibung ist in unserer Literatur nicht vertreten, wie ich selbst sehe und von dir sehr oft höre. Du aber kannst selbstverständlich auch auf diesem Gebiet allen Ansprüchen gerecht werden, da deiner Auffassung nach eine geschichtliche Darstellung wie keine andere den Regeln der Rhetorik verpflichtet ist.

Die Mahnung richtet sich nicht nur an die Dialogfigur Marcus Cicero, sondern auch an den gleichnamigen Autor, wodurch möglicherweise eine reale Kommunikation der beiden Persönlichkeiten innerhalb der fiktiven Welt des Dialogs ihre Fortsetzung erfährt. Als Bewunderer von Ciceros literarischen Werken (qui tuis litteris delectantur) versucht die Figur, den Autor zum Verfassen eines Geschichtswerks zu drängen. 372 Indem er ein solches Unterfangen als eine Pflicht gegenüber der Heimat bezeichnet (patriae […] hoc munus), greift er auf einen Gedankengang zurück, den Cicero im Proömium des zweiten Buchs von De divinatione erneut aufgreifen wird, wenn er seine philosophische Schriftstellerei gegenüber Kritikern als Dienst am Vaterland verteidigt. 373 Es lässt sich somit festhalten, dass die Figur auf ein Argumentationsmuster rekurriert, das der Autor selbst vertritt. Die Anmerkung, dass das Vaterland durch die Person des Autors (salva per te) gerettet wurde, womit auf die Niederwerfung der catilinarischen Verschwörung angespielt wird, verweist auf die dignitas und das soziale Prestige des Autors, wodurch die Forderung untermauert wird. 374 Atticus greift dabei auf 371F

372F

37F

372

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374

Ob Atticus Cicero während der Entstehungszeit von De legibus dazu drängte, ein Geschichtswerk zu schreiben, lässt sich durch die Korrespondenz nicht feststellen, da zwischen November 54 und April 51 keine Briefe an Atticus erhalten sind. Die aus der Dialogstelle entnommene Annahme erscheint jedoch denkbar in Anbetracht der Tatsache, dass Atticus bereits im Jahr 59 um das Verfassen eines geographischen Werks gebeten hatte: Cic. Att. 2,6 = 26 Sh. B.,1; 2,7 = 27 Sh. B.,1. Ebenso spricht die beiläufige Bemerkung der Quintus-Figur, dass man häufig über die Geschichtsschreibung gesprochen habe (saepe de isto conlocuti sumus), dafür, dass das Einleitungsgespräch einen realhistorischen Bezug hat: Cic. leg. 1,8. Zur Absicht Ciceros, ein Geschichtswerk zu verfassen, s. auch: Kelley 1979, S. 152–154. Cic. div. 2,4; vgl. Gildenhard 2013, S. 249f. Der Vergleich Griechenlands und Roms hinsichtlich ihrer wissenschaftlich-literarischen Errungenschaften findet sich in ähnlicher Form im ersten Proömium der Tusculanae disputationes: Cic. Tusc. 1,1–5. Eben jenes „unrivalled socio-political prestige“ qualifiziert ihn neben seinem „nonpareil command of eloquence“ zum Verfassen römischer Historiographie, wie

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De legibus

die in De oratore von Antonius und Catulus vollzogene Behandlung der römischen Geschichtsschreibung zurück, indem er Marcus’ Kompetenz zum Verfassen eines solchen Werkes mit seiner Rolle als Redner verknüpft (unum hoc oratorium maxime). 375 Seine dezidierten Kenntnisse in der römischen Geschichtsschreibung zeigt Atticus anschließend in einer kurzen Zusammenfassung und Kritik der römischen Ausprägung des Genres. 376 Die Charakterisierung der Dialogfigur als an Geschichtsschreibung in hohem Maß interessierter Römer konvergiert mit der rekonstruierbaren Biographie und der Tatsache, dass er selbst ein historisches Werk verfasst hatte, das jedoch sehr wahrscheinlich nach dem Dialogzeitpunkt von De legibus erschienen war. 377 Neben Geschichtskenntnissen bringt Atticus auch Kenntnisse über die römischen Gesetze in das Gespräch ein, auch wenn er Quintus auf diesem Gebiet unterlegen zu sein scheint. So erkennt er beispielsweise die Ähnlichkeit zwischen Ciceros Gesetzgebung und jener des sagenhaften Königs Numa an. 378 Hinsichtlich des Rechts über die Auguren wird deutlich, dass er sich mit der bestehenden Literatur hierzu beschäftigt hat und nun jedoch Marcus’ Meinung dazu hören möchte, weshalb er diesen zu einer ausführlicheren Stellungnahme zur divinatio reizt. 379 Die Rechtskenntnisse ermöglichen ihm dabei nicht nur das Einleiten gewollter Exkurse, sondern lassen ihn auch zu dem Ergebnis kommen, dass zwischen dem positiven römischen Recht der Vorfahren und dem Naturrecht eine enge Verbindung, wenn nicht gar eine Identität bestehe. 380 Seine Freude über die Übereinstimmung der Gesetze mit der Natur und sein Vergnügen 374F

375F

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378 379 380

Gildenhard herausstellt: Gildenhard 2013, S. 250; vgl. Dyck 2004, S. 73. Die Argumentation, wonach die persönliche dignitas Cicero nicht zur Philosophie, sondern zur Geschichtsschreibung bewegen müsse, rekurriert auf eine von ihm erwartete Gruppe von Kritikern seines philosophischen Projekts (personae tamen et dignitatis esse negent), an die er sich im Proömium von De finibus 1 wendet: Cic. fin. 1,1; vgl. Graff 1963, S. 59. Vgl. Krebs 2009, S. 100f. zu Cic. de orat. 2,36, 51, 62; ferner: Gildenhard 2013, S. 249–251. Cic. leg. 1,6f. Dies lässt sich daran erkennen, dass das Werk im Dialog des Brutus besprochen wird: Cic. Brut. 13–15. Cic. leg. 2,23. Ebd., 2,32. Die Frage, ob das positive römische Recht mit dem Naturrecht identisch ist, wurde in der Forschung kontrovers diskutiert. Eine Diskussion der unterschiedlichen Forschungspositionen liefert Amis, die sich für die Dichotomie zwischen Ciceros Gesetz und dem Gesetz der Natur stark macht: Amis 2008, S. 1f.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

über die sapientia der Vorfahren nach Ciceros Vortrag fallen indirekt als Lob auf den Nomotheten Marcus zurück. 381 380F

c)

Atticus als Epikureer und philosophisch gebildete Gesprächsfigur

Ein weiteres Merkmal der Dialogfigur Atticus stellt seine philosophische Affinität dar, die wie sein Interesse für Geschichtsschreibung als glaubwürdig gelten kann. 382 Wie oben beschrieben, unterscheidet sie sich gegenüber dem Gros der ciceronischen Dialogfiguren vor allem darin, dass sie nicht in die übliche römische Ämterlaufbahn involviert ist und mit der epikureischen Philosophie sympathisiert. 383 Auf seine Affinität zur epikureischen Philosophie wird dabei in De legibus sehr deutlich angespielt. Als Cicero ihm ein Zugeständnis abnötigt (dasne igitur hoc nobis), dass die Natur von einer höheren Macht beherrscht werde, antwortet Atticus: 384 381F

382F

38F

Do sane si postulas; etenim propter hunc concentum avium strepitumque fluminum non vereor condiscipulorum ne quis exaudiat. Ich stimme selbstverständlich zu, wenn du es verlangst; denn bei diesem schönen Gesang der Vögel und dem Rauschen des Wassers brauche ich nicht zu befürchten, dass mir einer meiner Mitschüler zuhört.

Das von ihm verlangte Zugeständnis wird mit dem Hinweis gewährt, der Gesang der Vögel verhindere, dass seine „Mitschüler“ (condiscipulorum) ihn hören würden. 385 Atticus geht somit betont humorvoll mit der Situation um und setzt an dieser Stelle sogar zu einem kleinen Seitenhieb auf seine Schule an, indem er betont, sie nicht „fürchten“ (vereri) zu müssen. 386 Sein selbstironisches und diskursoffenes Auftreten lässt ihn als seinen Mitschülern überlegen erscheinen, die – wie Cicero ihn im Folgenden erinnert – zu „zürnen“ (irasci) begännen, wenn ihre Grundsätze nicht genau eingehalten würden. 387 Die hierbei mitschwingende Kritik richtet sich also weniger an die Position der Philosophie Epikurs als vielmehr an deren dogmatischen Schulbetrieb. Die in ihrer Freizeit philosophierenden Römer Cicero und Atticus zelebrieren eine offene Gesprächsführung, in der kein Raum für die Emotionen Furcht – ob im Sinne von Furcht gegenüber einer 384F

385F

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Cic. leg. 2,62. Vgl. Gigon 1977, S. 372. Zum Verhältnis des Atticus zur Politik und zum Epikureismus s. oben S. 286–289. Cic. leg. 1,21. Hösle erkennt das Übertönen des gesellschaftlichen Drucks durch die „Stimme der Natur“: Hösle 2007, S. 225. Vgl. Sauer 2013, S. 177. Cic. leg. 1,21.

De legibus

413

Autorität oder einer religiösen Ehrfurcht – und Zorn ist. Die Antwort auf Ciceros philosophische Ausführungen zur Wesensverwandtheit von Göttern und Menschen aufgrund ihrer gemeinsamen Vernunft zeugt erneut von der Aufgeschlossenheit 388 des Atticus, der sich zwar über sein weites Ausholen verwundert zeigt (Di immortales, quam tu longe iuris principia repetis!), ihm aber für das weitere Vorgehen seine Bereitschaft signalisiert (facile patiar te hunc diem vel totum in isto sermone consumere). 389 Der Epikureismus des Atticus ist als Persönlichkeitsmerkmal zwar deutlich erkennbar und wird an keiner Stelle des erhaltenen Werkes von jenem abgestritten oder gar widerrufen, allerdings ergreift er auch in keinem Moment der philosophischen Erörterung zugunsten Epikurs das Wort. Sein insgesamt passives Auftreten scheint somit Ciceros Bitte um Zurückhaltung hinsichtlich jener Schule geschuldet zu sein. 390 Seine auffallende Passivität kommt dem Autor zugute, der während des gesamten Gesprächs nie argumentativ gegen eine epikureische Lehrmeinung Stellung bezieht. 391 Die Dialogfigur Atticus rezipiert jedoch nicht nur den Epikureismus der historischen Vorlage, sie verfügt auch – wie bereits angedeutet wurde – über ein hohes Maß an allgemeiner philosophischer Bildung, welche einerseits für ihre Rolle als Gesprächspartner und Gegenüber von Ciceros Alter Ego essentiell ist, andererseits die Grundlage ihrer humanitas bildet. Im ersten Buch wird deutlich, dass Atticus’ Kontakt mit griechischer Philosophie sich nicht auf die Lektüre verschiedener Werke beschränkt. Mit Phaidros nennt er einen persönlichen Freund unter den Philosophen. Dieser habe ihm von einer Begebenheit des Praetors Gellius in Griechenland berichtet, der sich als Schiedsrichter im Streit der griechischen Philosophenschulen versucht hätte. 392 Die Erwähnung der Anekdote dient Cicero als Vorlage, auf das Zerwürfnis zwischen dem Stoiker Zenon und der Akademie zu sprechen zu kommen, welche ihm zufolge nur dem Worte nach und nicht in der Sache selbst uneinig gewesen wären. 393 Atticus erklärt daraufhin, durch seinen Freund Antiochos (familiari meo) von dem Disput zu wissen, und gesteht, von jenem beinahe in die Akademie geführt worden zu sein (qui me ex nostris paene convellit hortulis, deduxitque in Academiam). 394 Seine Freundschaft zu einem Philosophen einer anderen 387F

38F

389F

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Sauer 2013, S. 175 erkennt in den Passagen 1,20 und 1,28 eine grundsätzliche Aufgeschlossenheit des Atticus gegenüber der philosophischen Argumentation. Cic. leg. 1,28. Das von Atticus bemerkte weite Ausholen Ciceros in De legibus erinnert an die anfängliche Debatte zur Erstellung eines Geschichtswerks, in der sich beide gegen Quintus’ Auffassung dafür aussprechen, dass ein solches nicht bei den ersten Anfängen einsetzen solle: Cic. leg. 1,8. Cic. leg. 1,39. Vgl. Sauer 2013, S. 177. Cic. leg. 1,53. Ebd., 1,53f. Ebd., 1,54.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Schulmeinung weist ihn erneut als aufgeschlossenen Römer aus. Die von Cicero kritisierte dogmatische Autoritätsgläubigkeit vieler Epikureer, die nur die Bücher der eigenen Philosophen lesen würden, trifft somit nicht auf ihn zu. Darüber hinaus fällt bereits zu Beginn des ersten Buchs auf, dass Atticus besonders mit Platons Werken vertraut ist. 395 Als Cicero zu Beginn des dritten Buches sein Verhältnis zu Platon thematisiert, erklärt Atticus, dass selbst seine Mitschüler, die ansonsten nur das Lob auf Epikur zulassen würden (nostri illi qui neminem nisi suum laudari volunt), es ihm erlaubten, ihn nach seinem Gutdünken zu verehren (ut eum arbitru meo dilligam). 396 Die grundsätzliche Autorität Epikurs lasse ihm dennoch genug Freiraum, bei der gebotenen Huldigung nicht auf das eigene Urteilsvermögen zu verzichten. Dadurch erscheint er erneut als ein Epikureer besonderen Typs, der trotz seiner Affinität zu der von Cicero als dogmatisch und autoritätsgläubig beschriebenen Schule für den philosophischen Diskurs offen ist. Hierauf wird er zum Ziel von Ciceros Lob, der seiner Lebensführung und Sprache eine Einheit von Würde und Menschlichkeit attestiert (societatem gravitatis cum humanitate) attestiert. 397 Hierbei fungiert die AtticusFigur als dialoginterner Empfänger für die historische Persönlichkeit, die zu den ersten Lesern von Ciceros Werk zählte. Die Absicht des Autors, seinen Freund durch die ihm zugedachte Rolle und die Gesprächsinzenierung zu ehren, offenbart sich insbesondere in der undogmatischen Offenheit und seiner philosophischen Kompetenz. Diese zeigt sich besonders deutlich im Gespräch des zweiten Buchs, als er durch sein ihm von Marcus gelobtes Erinnerungsvermögen (O miram memoriam, Pomponi tuam!) die immerwährenden Kulthandlungen und das Manenrecht in die Diskussion einbringt, die jener schon vergessen hatte (at mihi ista exciderant). 398 Indem Atticus den thematischen Übergang erst ermöglicht, wirkt sein Anteil am Gespräch unverzichtbar. So gesehen tritt Atticus als reflektierte, philosophisch umfassend gebildete Dialogfigur auf, wodurch er als Gegenpol zu Quintus fungiert, der – worauf noch ausführlich eingegangen werden soll – eher die Rolle des philosophischen Laien einnimmt. Marcus trifft mit Atticus auf einen philosophisch ebenbürtigen Römer, der jedoch eine ihm konträre Grundauffassung besitzt. Die Unterschiedlichkeit 394F

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Krebs 2009, S. 97. Dabei zeigt Ciceros Anspielung auf den Orithyia-Mythos deutlich, dass Atticus eine besondere Vertrautheit mit dem Phaidros besitzen muss: Cic. leg. 1,3; noch deutlicher zeigt sich dies in: Cic. leg. 1,15; 2,6. Krebs bezeichnet ihn daher passend als „confessed connoisseur“ Platons: Krebs 2009, S. 97. Cic. leg. 3,1. Die ungewohnte Liberalität der Epikureer in dieser Frage soll verdeutlichen, dass man den eigentlichen Meister Epikur quasi nicht genug loben könne. Vgl. Dyck 2004, S. 430. Cic. leg. 3,1. Der Ausdruck verweist nach Wehrli auf das Bildungsideal Ciceros in De oratore, welches die „Beherrschung gegensätzlicher Ausdrucksmöglichkeiten“ vorsieht: Wehrli 1978, S. 86. Cic. leg. 2,45.

415

De legibus

der jeweiligen Charaktere wird vom Autor zur Erschaffung bestimmter Dialogpartien genutzt, die – wie der diesbezüglich bereits zitierte Sauer herausstellte – einer Kommunikation zwischen Autor und Leser dienen. In seiner dirigierenden Aufgabe hinsichtlich des Gesprächsverlaufs kommt Atticus sein Humor zugute, der dazu beiträgt, die Gesprächsatmosphäre trotz der sehr ernsten und wichtigen Themen entspannt zu halten. 399 Dieser Humor zeigt sich dabei auch an Punkten, die Grundthesen von Ciceros Philosophieverständnis berühren. 400 Inwiefern das philosophische Verständnis der Dialogfigur den Gesprächsverlauf in einem für den Autor wichtigen Sinn prägt, wird vor allem im ersten Buch deutlich, wo sich seine Kompetenz hinsichtlich der Ausführungen zum Naturrecht zeigt. Nachdem Quintus seinen Bruder darum gebeten hat, sich kurzzufassen, ist es Atticus, der für ihn eine Zusammenfassung des bisher Vorgetragenen einschiebt: 401 398F

39F

40F

An mihi aliquid videri possit, cum haec iam perfecta sint: primum quasi muneribus deorum nos esse instructos et ornatos, secundo autem loco unam esse hominibus inter ipsos vivendi parem communemque rationem, deinde omnes inter se naturali quadam indulgentia et benivolentia, tum etiam societate iuris contineri? Quae quom vera esse recte, ut arbitror, concesserimus, qui iam licet nobis a natura leges et iura seiungere? Könnte ich es denn anders sehen, da dieses Thema doch schon abgeschlossen ist? Erstens, dass wir sozusagen mit den Geschenken der Götter ausgestattet und ausgerüstet wurden; zweitens, dass es für die Menschen nur eine einzige, eine gleiche und gemeinsame Form des Lebens miteinander gibt; drittens, dass alle in einer Art natürlicher Rücksichtsnahme und Zuneigung und dann auch in der Gemeinsamkeit des Rechts zusammengehalten werden? Da wir, wie ich meine, mit Recht eingeräumt haben, dass dies wahr ist – wie kann es uns da noch möglich sein, Gesetze und Rechtsnormen von der Natur zu trennen?

Indem Atticus die vier zuletzt behandelten Abschnitte klar strukturiert und knapp zusammenfasst, fungiert er als Stütze zur besseren Orientierung des Lesers. 402 In Hinsicht auf Quintus erweckt er den Eindruck, über ein besseres Verständnis von Philosophie zu verfügen, weshalb mit ihm – wie zuletzt Sauer angenommen hat – der eher philosophiebegeisterte Leser angesprochen und in das Werk eingebunden wird. 403 Gleichzeitig wird deutlich, dass dem Autor nicht nur die von 401F

402F

399 400

401 402 403

Vgl. Sauer 2013, S. 175. Ein bereits behandeltes Beispiel zeigt sich bei der Annahme, dass die alte Akademie und die Stoa hinsichtlich der Formulierungen voneinander abweichen würden: Cic. leg. 1,53; vgl. Sauer 2007, S. 178. Cic. leg. 1,35. Vgl. Dyck 2004, S. 163. Vgl. Sauer 2013, S. 179.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

seinem Alter Ego geleistete Darstellung des Naturrechts, sondern auch die Vermittlung jener Konzeption von höchster Wichtigkeit ist. Sein Freund tritt dabei in der Rolle des musterhaften Schülers auf, dessen Überzeugung (vera esse recte ut arbitror) kein Lippenbekenntnis darstellt, sondern durch das Verständnis der philosophischen Materie erreicht wird. Trotz seiner Affinität zur Philosophie Epikurs wirkt Atticus an manchen Stellen bewusst pragmatisch, was Cicero jeweils zu einer vertieften Stellungnahme zwingt, wie beispielsweise im schon behandelten Ende des ersten Buches. 404 Seine Fragen und Aussagen liefern dabei der Dialogfigur Cicero die Vorlagen, bestimmte dem Autor wichtige Gedanken und Exkurse zu äußern. Das Zusammenwirken von Atticus und Cicero erinnert so gesehen an ein genau einstudiertes Zusammenspiel. Deutlich wird dies beispielsweise im zweiten Buch, als sich die Hauptfigur erneut darüber versichern möchte, dass die Gesprächspartner noch zu ihrem Entschluss stehen, seine weiteren Ausführungen hören zu wollen: Das Anliegen des Hauptredners wird durch Atticus nicht nur bestätigt, sondern sogar freundlich gefordert (suade igitur, si placet), sodass das Gesprächsthema nicht aufoktroyiert, sondern als willentliche Entscheidung der Rezipienten erscheint. 405 Die von Cicero zuvor genannte platonische Auffassung, dass man von den Gesetzen überzeugen müsse, zeigt sich hier in ihrer praktischen Umsetzung. 406 Gleichzeitig wird die Wichtigkeit des Themas von Atticus unterstrichen, der Marcus von seiner Sorge, zu lang zu referieren, befreit und damit den Raum für eine ausführliche Behandlung schafft (Utinam quidem! Quid enim agere malumus?). Der rechtsphilosophische Diskurs der drei römischen nobiles erscheint somit als eine ideale und standesgemäße Art der Beschäftigung im Kontext des otium, in der das Gespräch situiert ist. 403F

40F

405F

d)

Die Einbeziehung der Natur des Ortes und Athens durch die AtticusFigur

Fragen wir nach seinem philosophischen Beitrag zum Werk, so fällt auf, dass ihm vor allem hinsichtlich Ciceros Reflexionen über Ort und Erinnerung eine entscheidende Rolle zukommt. Diese Funktion deutet sich bereits zu Beginn von De legibus an, indem er nach der Eiche des Marius fragt. 407 Am Anfang des zweiten Buches leitet er in noch deutlicherer Form eine Reflexion über den Zusammenhang von Thema und Ort ein, als er seine Zustimmung zum Ortswechsel äußert: 408 406F

407F

404 405 406 407 408

Cic. leg. 1,63. Ebd., 2,24. Vgl. ebd., 2,14; vgl. Dyck 2004, S. 324. Cic. leg. 1,1. Ebd., 2,2.

417

De legibus

Equidem qui nunc potissimum huc venerim, satiari non queo, magnificasque villas et pavimenta marmorea et laqueata tecta contemno. Ductus vero aquarum, quos isti Nilos et Euripos vocant, quis non, cum haec videat, inriserit? Itaque ut tu paulo ante de lege et de iure disserens ad naturam referebas omnia, sic in his ipsis rebus, quae ad requietem animi delectationemque quaeruntur, natura dominatur. Quare antea mirabar – nihil enim his in locis nisi saxa et montis cogitabam, itaque ut facerem, et orationibus inducebar tuis et versibus –, sed mirabar, ut dixi, te iam valde hoc loco delectari; nunc contra miror te, cum Roma absis, usquam potius esse. Ich kann mich allerdings nicht satt daran sehen, da ich ausgerechnet jetzt hierher gekommen bin, und ich mag die prächtigen Villen, die Fußböden aus Marmor und die Kasettendecken gar nicht. Wasserspiele gar, die die Leute mit den Namen des Nils und des Euripus bezeichnen – wer lachte darüber nicht, wenn er dies hier sähe? Und wie du vor kurzem während deiner Erörterungen über das Gesetz und das Recht alles auf die Natur bezogst, so herrscht auch gerade in den Dingen, die man zur Beruhigung und zur Freude der Seele sucht, die Natur. Aus diesem Grund wunderte ich mich anfangs – denn ich dachte, es gebe hier nichts außer Felsen und Bergen, und ich wurde durch deine Worte und Verse dazu gebracht, dies zu tun –, aber ich wunderte mich, wie gesagt, dass du so viel Freude an diesem Ort hast. Jetzt hingegen wundere ich mich, dass du, wenn du nicht in Rom bist, irgendwo anders lieber sein kannst.

Atticus führt den Gedanken, dass der Ursprung allen Rechts in der Natur zu suchen sei, weiter, indem er auch die Beruhigung und Freude der Seele in den Bereich der Natur verlegt. 409 Der Raum der Natur, der die Szenerie des Dialoges bildet, wird von ihm mit den für die römische Aristokratie üblicheren Räumen des otium kontrastiert: der Luxus römischer Landhäuser erscheint dabei als falsches Idyll. Diese Vorstellung, so wird suggeriert, habe er durch die „Worte und Verse“ (orationibus […] tuis et versibus) Ciceros erhalten, was auf den Beginn des Dialoges anspielt und Atticus’ ersten Erkenntnisweg abbildet. 410 In ähnlicher Weise stellt er die Erinnerungskraft des Ortes heraus, was an sein Auftreten in De finibus 5 erinnert. 411 Dass Atticus als Besucher von Arpinum erscheint, der diesen Ort zuvor noch nie aufgesucht habe, ist mit Blick auf die Korrespondenz historisch unkorrekt. 412 Der Autor weicht hier offenbar von der historischen 408F

409F

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Vgl. Hösle 2006, S. 226. Dyck verweist an dieser Stelle darauf, dass der historische Atticus vermutlich nicht erst durch Ciceros Schrift auf die Schönheit des Ortes Arpinum hingewiesen wurde und der Passage möglicherweise eine reale Unterhaltung zugrunde liegen könnte: Dyck 2004, S. 250. Vgl. Cic. leg. 2,4 und fin. 5,3. Vgl. McDermott 1972, S. 702, Anm. 3. In den auf Anfang Mai 59 datierten Briefen erwartet Cicero Atticus in Arpinum: Cic. Att. 2,16 = 37 Sh. B.,4; 2,17 = 37 Sh. B.,3.

418

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Vorlage ab, wobei ihm die Charakterisierung des Atticus als Ortsfremder nicht ganz unwichtig gewesen zu sein. Hinsichtlich der Wirkung von Ort und Natur fungiert Atticus als eine Art idealer Rezipient, der erst Verwunderung über Ciceros Freude verspürt (mirabar […] te iam valde hoc loco delectari), welche dann jedoch in ihr Gegenteil umschlägt. 413 In der Reflexion über den ländlichen Raum wird der deutliche Bezug der Dialogfigur zu Athen sichtbar. Nachdem Marcus über seine zwei patriae referiert hat, entgegnet er zustimmend: 414 412F

413F

Ego vero tibi istam iustam causam puto, cur huc libentius venias, atque hunc locum diligas; quin ipse (vere dicam) sum illi villae amicior modo factus, atque huic omni solo in quo tu ortus et procreatus es. Movemur enim nescio quo pacto locis ipsis in quibus eorum quos diligimus aut admiramur adsunt vestigia. Me quidem ipsae illae nostrae Athenae non tam operibus magnificis exquisitisque antiquorum artibus delectant, quam recordatione summorum virorum, ubi quisque habitare, ubi sedere, ubi disputare sit solits; studioseque eorum etiam sepulcra contemplor. Quare istum, ubi tu es natus, plus amabo posthac locum. Ich glaube wirklich, dass dies ein berechtigter Grund für dich ist, warum du lieber hierher kommst und diesen Ort liebst. Ja, auch mir ist – um die Wahrheit zu sagen – jenes Landhaus und der ganze Grund und Boden hier, wo du geboren und aufgewachsen bist, soeben noch lieber geworden. Denn wir lassen uns auf irgendeine Weise durch die Örtlichkeiten anrühren, an denen die Spuren derer, die wir lieben oder verehren, noch erkennbar sind. Mich jedenfalls erfreut gerade unser Athen nicht so sehr aufgrund seiner herrlichen Bauwerke und der erlesenen Kunstwerke der Alten wie durch die Erinnerung an die bedeutendsten Männer, wenn ich daran denke, wo jeder einzelne zu wohnen, Platz zu nehmen und zu diskutieren pflegte, und ich betrachte sogar deren Grabstätten mit großer Anteilnahme. Daher werde ich von jetzt an den Ort, wo du geboren bist, noch mehr lieben.

Der Athenbezug des Atticus ist durch seine politische Biographie gut bezeugt und findet sich auch in einem Brief des Jahres 59, in dem Cicero ihn auf Griechisch als Τίτος Ἀθηναῖος verabschiedet. 415 Seine Bezugnahme auf seine Wahlheimat lässt ihn in der konkreten Situation als einen Vertreter der Stadt (nostrae Athenae) sprechen, wodurch Ciceros Darstellung seiner doppelten Heimat ein Pendant in Atticus findet, der sich als Römer und Athener präsentiert. Auch im späteren Dialogverlauf wird auf diesen Aspekt seiner Persönlichkeit zurückge41F

413

414 415

Nach Eigler zeigt sich Atticus an dieser Stelle von einer moralischen Konzeption des Landes bekehrt, welche einen spezifisch römischen Charakter trägt und über die platonische, welche mit saxa et montis kontrastiert wird, hinausgeht: Eigler 1996, S. 142. Cic. leg. 2,4. Cic. Att. 2,9 = 29 Sh. B.,4.

419

De legibus

griffen. 416 Im dritten Buch kommt ihm nebenbei die Funktion zu, als Fürsprecher für die Provinzbewohner einzutreten, indem er auf jene kostspieligen Gesandtschaftsreisen, die Cicero als Staatsmann nicht abschaffen konnte, und das Missfallen der dortigen Bevölkerung anspielt (eis, qui in provinciis sunt, minime placet). 417 Die Charakterisierung des Atticus als Wahlathener lässt ihn mit den Problemen der nichtrömischen Bevölkerung im römischen Reich vertraut erscheinen. 418 Sie erlaubt es, den Anspruch von Ciceros Reformgesetzgebung herauszustellen, welche sich eben nicht auf die römischen Bürger beschränkt, sondern die Provinzbevölkerung einbezieht. Die Dialogfigur trägt des Weiteren dazu bei, den interkulturellen Charakter der platonischen Nomoi zu rezipieren, in denen neben dem unbekannten Athener der Spartaner Megillos und der Knosier Kleinias als Kenner der Sitten und Bräuche ihrer jeweiligen πόλεις sprechen. 419 Die sich gegenüber der Platons völlig anders darstellende Lebenswirklichkeit Ciceros lässt es dabei nicht zu, dass ein „echter“ Athener als Sprecher in dem römischen Gesetzeswerk auftreten kann. In dem Philhellenen Atticus drückt sich dahingehend nicht nur eine Bewunderung für die griechische Geisteskultur aus, sondern auch die politische Bedeutungslosigkeit der Griechen zur Zeit des Autors. 415F

416F

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418F

e)

Politisches Profil

Während die Figur des Atticus über ein sehr ausgeprägtes philosophisches Profil verfügt, das ihn für die Anfangspartien der drei erhaltenen Bücher sowie die Ausführungen des ersten Buchs zu einem wichtigen Gesprächspartner für Cicero macht, so scheint er für die Behandlung der Gesetze in De legibus 2 und 3 dem Quintus Platz zu machen, der – wie unten zu zeigen sein wird – über ein deutlich stärkeres politisches Profil verfügt. Obwohl er eigentlich als apolitischer Römer mit Affinität zu Epikur gelten kann, zeigt er ein reges Interesse an der Behandlung der vorgestellten Gesetze, welches durch sein ungeduldig wirkendes Drängen, mit der Untersuchung fortzufahren, zum Vorschein kommt. 420 Gleichzeitig lässt sich eine optimatische politische Grundeinstellung erkennen, die insbesondere an zwei Stellen im dritten Buch deutlich wird: Bei der Frage nach der Macht der Volkstribunen stellt sich Atticus trotz ausführlicher Argumentation 419F

416 417 418

419

420

Cic. leg. 2,36 (bezüglich des Mysterienkults), 67 (Cicero weist auf Athenienses tui). Ebd., 3,18. Aufgrund seines Engagements für die von Sullas Soldaten geschleifte Stadt Athen kann diese Charakteristik einen hohen Grad an Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen. So dient Megillos als Kenner der spartanischen Verfassung: Plat. leg. 1,634b–c; Kleinias hingegen lobt den Athener, der das Wesen der kretischen Verfassung richtig erfasst habe: Plat. leg. 1,626d–e; vgl. Nails 2002, S. 101f. u. 197f. Cic. leg. 2,24, 32, 34, 69; 3,1.

420

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

des Hauptredners auf die Seite des Quintus (Nec mehercule ego sane a Quinto nostro dissentio), signalisiert aber zugleich, dass er an dieser Stelle nicht weiter diskutieren möchte (sed ea quae restant audiamus). 421 Und auch in der Frage nach dem Abstimmungsverhalten zeigt sich seine politische Tendenz deutlich: 422 420F

421F

Mihi vero nihil umquam populare placuit, eamque optimam rem publicam esse dico, quam hic consul constituerat, quae sit in potestate optimorum. Mir hat tatsächlich nie etwas gefallen, was den Popularen gefällt, und ich erkläre, dass dies der beste Staat ist, den dieser Mann als Konsul geschaffen hatte und in dem die Besten die Macht haben.

Atticus teilt wiederholt die optimatische Haltung des Quintus, doch ist er an einer vertieften Auseinandersetzung nicht interessiert. Die von der Dialogfigur offenbarte optimatische Sichtweise korrespondiert dabei mit jener der historischen Persönlichkeit, was aus erhaltenen Briefen klar hervorgeht. 423 Hinsichtlich tagespolitischer Fragen teilt er zwar Quintus’ Auffassungen, beschränkt sich hierbei allerdings auf eine knappe Bekundung seiner Position. Das politische Profil des Atticus drückt sich jedoch nicht nur darin aus, dass er die antipopularen Positionen des Quintus unterstützt, sondern auch durch seine politische Verbundenheit mit dem Autor und dessen politischen Unterstützern. Seine Loyalität ihm gegenüber zeigt sich vor allem zu Beginn des zweiten Buchs: 424 42F

423F

Recte igitur Magnus ille noster, me audiente posuit in iudicio, quom pro Ampio tecum simul diceret, rem publicam nostram iustissimas huic municipio gratias agere posse, quod ex eo duo sui conservatores exstitissent; ut iam videar adduci, hanc quoque quae te procrearit esse patriam tuam. Also hat unser großer Pompeius mit Recht – ich konnte es selbst hören – im Gerichtssaal festgestellt, als er mit dir zusammen Ampius verteidigte, dass unser Staat dieser Landstadt wirklich aus sehr gutem Grund seinen Dank abstatten könne, weil aus ihr seine beiden Retter hervorgegangen seien, sodass ich mich nunmehr zu der Einsicht veranlasst sehe, dass auch dieser Ort, der dich hervorbrachte, deine Heimat ist.

Es erfolgt somit über die Figur des Atticus eine indirekte Stilisierung Ciceros als Retter des Vaterlandes. Indem die Dialogfigur die Verbindung von Pompeius

421 422 423 424

Cic. leg. 3,26. Ebd., 3,37. S. hierzu: Dyck 2004, S. 516. Cic. leg. 2,6.

421

De legibus

und dem Autor herausstellt, wird auch ihre eigene Position zu beiden deutlich. 425 Indem sie sich als Augenzeuge des Ereignisses ausgibt (me audiente), wird die Historizität des damaligen Ereignisses unterstrichen. 42F

f)

Atticus’ Position zur Rolle der Bildung

Es wurde schon ausführlich darauf eingegangen, dass die Figur des Atticus über eine breite Bildung verfügt und wie sich diese auf den Gesprächsverlauf auswirkt. Darüber hinaus wird im dritten Buch ein Interesse an der Ausbildung und Erziehung der staatlichen Eliten erkennbar. Nachdem Marcus deren Bedeutung für den zukünftigen Staat betont hat, möchte er das Gespräch darüber verschieben, woraufhin Atticus erklärt, dass er seine Gedanken zur educatio und disciplina an späterer Stelle einfordern werde (si praeterieris, repetam a te). 426 Die von ihm verlangten Erläuterungen zur Erziehung und Ausbildung dürften in dem nicht erhaltenen Teil von De legibus erfolgt sein. 427 Während er der Wichtigkeit dieses Themas für den künftigen Staat beipflichtet, antwortet er auf die Frage, was er hinsichtlich der Kenntnisse der zeitgenössischen Magistrate noch vermisse: 428 425F

426F

427F

Egone? Quod ignorari ab eis, qui in re publica versantur turpissimum puto; nam ut modo a te dictum est leges a librariis peti, sic animadverto plerosque in magistratibus, ignoratione iuris sui, tantum sapere quantum apparitores velint. Ich? Wenn diejenigen, die politisch tätig sind, davon keine Ahnung haben, halte ich das für die größte Schande. Denn wie du gerade gesagt hast, man bemühe sich bei den Schreibern um eine schriftliche Fassung der Gesetze, so stelle ich fest, dass die meisten in ihren Magistraten aufgrund ihrer Unkenntnis des Rechts nur so viel wissen, wie ihre Sachbearbeiter wollen.

Die Frage der rechtlichen Ausbildung der Magistrate wird von der Dialogfigur Atticus mit der Gegenwart konfrontiert, indem sie den gegenwärtigen Beamten mangelnde Sachkenntnisse attestiert. Dass es dem Autor dabei nicht nur um Kenntnisse des geschriebenen Rechts geht, wird aus seiner Antwort deutlich, in der er auf die vorhandene Literatur verweist und anführt, dass jedoch eine weitere Behandlung des Naturrecht nötig sei (de iure naturae cogitare […] debemus), dem Atticus ebenfalls zustimmt. 429 Er zeigt dabei nicht nur ein dem Autor ähnli428F

425

426 427 428 429

Nicht weniger positiv gewogen spielt er im Einleitungsgespräch des ersten Buchs auf Pompeius an: Cic. leg. 1,8. Ebd., 3,30. Vgl. Albrecht 2012, S. 447. Cic. leg. 3,48. Ebd., 3,49.

422

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

ches Bildungsverständnis, indem er den Nutzen breiter Bildung mit dem Bereich der öffentlichen Tagespolitik verbindet, sondern spielt auch darauf an, dass der Typus des philosophierenden Politikers dieser Synthese, also dem ciceronischen Ideal entspricht. 430 429F

g)

Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich der Figur des Atticus in De legibus eine auffallend hohe Komplexität attestieren. Sein Auftreten wird bestimmt durch seine persönliche Freundschaft mit Cicero, seine historische und philosophische Bildung, seinen gemäßigten Epikureismus, seine Selbststilisierung als Athener sowie seine wissenschaftliche Neugierde und Aufgeschlossenheit. Diese Merkmale bilden die Grundlage seiner beratenden, akzentuierenden und bisweilen beschleunigenden Rolle innerhalb des Gesprächs. Seine Stellungnahmen kommen dem Hauptgesprächsführer stets zugute, indem er Genanntes nochmals zusammenfasst oder anmerkt, was noch besprochen werden muss, fungiert er gegenüber dem Leser als eine Brücke zum Verständnis. Als implizierter Leser verleiht er dem Adressaten dahingehend eine Präsenz im Dialog. Auf seine Affinität zu Epikur wird bewusst Bezug genommen, dieser wird jedoch sein offenes und humorvolles Wesen entgegengesetzt, weshalb er sich trotz seiner Affinität zu einer apolitischen Philosophie nicht davon abhalten lässt, an dem staatsphilosophischen Diskurs unvoreingenommen teilzunehmen. Sein Zugang zur Natur und zum Ort des Gesprächs erscheint dabei als ein ästhetisch-hedonistischer, der die von Cicero vorgetragene Anschauung der Natur als Ursprungsort des Naturrechts begleitet.

3.3

Q. Tullius Cicero

Im Entstehungskontext von De legibus, das mit großer Wahrscheinlichkeit in den späten 50ern geschrieben, wenn auch erst später und möglicherweise nicht von Cicero selbst veröffentlicht wurde, ist zu berücksichtigen, dass das Verhältnis der beiden Brüder bereits unter den sich verschärfenden politischen Spannungen gelitten hatte, das große Zerwürfnis jedoch noch bevorstand. 431 Indem der Autor seinem Bruder eine Sprecherrolle in seinem Dialog einräumt, beschwört er nochmals den Zusammenhalt und die Verbundenheit beider. Sein Anteil am Gespräch von De legibus ist – was die erhaltenen Bücher angeht – mit dem des Atticus vergleichbar. Während Marcus das Zentrum des erlesenen Kreises bildet, fungieren die anderen beiden als interessierte Zuhörer, die immer wieder in das 430F

430 431

Cic. leg. 3,14. Zur Biographie des Quintus s. oben IV 1.3a.

De legibus

423

Gespräch miteinbezogen werden und deren Meinung das Alter Ego des Autors demonstrativ immer wieder einholt. Wie im Fall des Atticus lässt sich seine Rolle als die eines internen Rezipienten beschreibn, der zwischen Autor und Leser eine Mittlerfunktion einnimmt. Die Figur des Quintus weist zugleich charakterliche Eigenheiten auf, die ihn zu einer Art Gegenpart des Atticus machen und anhand derer sich die Rolle als interner Rezipient genauer bestimmen lässt. 432 Die Unterschiede zu Atticus zeigen sich vor allem in seinen geistigen Interessen, wie im Folgenden herausgestellt werden soll. 431F

a)

Quintus’ Bildung in Dichtung, Geschichte und Recht

Eine erste dieser spezifischen Eigenheiten begegnet dem Leser bereits direkt zu Beginn des Dialogs: Die Affinität des Quintus zur Dichtkunst, die auch in De finibus 5 als das markanteste Persönlichkeitsmerkmal seines Bruders geschildert wird, zeigt sich erneut an einer besonders exponierten Stelle des Werkes. Auf die einleitende Frage des Atticus, ob es die von Marius gepflanzte Eiche noch gäbe, bestätigt er dies und hebt dabei ihre Langlebigkeit als ein Produkt des Geistes hervor (semper manebit. sata est enim ingenio), wofür er die Dichtkunst als Paradebeispiel anführt. 433 Gleichzeitig wird an dieser Stelle bereits ein dem Autor wichtiger Gedanke antizipiert, der eine dauerhafte und unvergängliche Grundlage des Gesetzes anstrebt. Während Marcus selbst noch schweigt, erkennt Atticus, dass Quintus seinen Bruder loben möchte, und veranlasst ihn zu einer ausführlicheren Stellungnahme: 434 432F

43F

Sit ita sane; verum tamen, dum Latinae loquentur litterae, quercus huic loco non deerit quae Mariana dicatur, eaque, ut ait Scaevola de fratris mei Mario, canescet saeclis innumerabilibus, nisi forte Athenae tuae sempiternam in arce oleam tenere potuerunt, aut quam Homericus Ulixes Deli se proceram et teneram palmam vidisse dixit, hodie monstrant eandem. Multaque alia multis locis diutius commemoratione manent quam natura stare potuerunt. Quare ‚glandifera‘ illa ‚quercus‘, ex qua olim evolavit nuntia fulva Iovis miranda visa figura, nunc sit haec. Sed cum eam tempestas vetustasve consumpserit, tamen erit his in locis quercus quam Marianam quercum vocent. So mag es durchaus sein; doch solange die lateinischen Texte sprechen, wird die Eiche, die den Namen des Marius trägt, an dieser Stelle stehen bleiben und, wie Scaevola über den Marius meines Bruders sagt, „erst in unzähligen Jahrhunderten alt werden“ wenn man einmal davon absieht, dass dein Athen den ewigen Ölbaum auf der Akropolis wirklich am Leben erhalten konnte oder dass man noch heute

432 433 434

Vgl. Sauer 2013, S. 176. Cic. leg. 1,1. Vgl. Krebs 2009, S. 94. Cic. leg. 1,2.

424

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten dieselbe Palme zeigt, die der homerische Odysseus, wie er behauptete, als schlankes und zartes Bäumchen auf Delos sah –, und vieles andere bleibt an vielen Orten durch ständige Erwähnung länger erhalten, als es aufgrund seiner Natur hätte bestehen können. Deshalb soll jener eicheltragende Baum, aus dem einst aufflog „der bräunliche Bote des Juppiter, eine wunderschöne Erscheinung“, auch jetzt noch hier stehen. Wenn ihnen aber Sturm oder Alter zerstören, wird trotzdem eine Eiche, die man als Marius-Eiche bezeichnet, in dieser Gegend erhalten bleiben.

Indem Quintus die von Marius gepflanzte Eiche mit dem Ölbaum Athens und den angeblich von Odysseus gesichteten Palmen auf Delos vergleicht, wird das dichterische Schaffen seines Bruders mit dem des griechischen Dichters Homer parallelisiert. Die Tatsache, dass er dabei wörtlich aus dem Mariusgedicht zitiert, kann als Technik des Autors interpretiert werden, sich im Dialog selbst ein Lob zuzuschreiben, im Kontext der vorliegenden Untersuchung ist jedoch der Umstand wichtiger, dass Zitate aus dem ciceronischen Werk auch später in De divinatione 435 vorrangig von Quintus herangetragen werden. Auf diese Weise zeigt dessen Profil eine besondere Vertrautheit und Affinität zum Werk seines Bruders, welche der des Atticus mindestens gleichkommt, vielleicht sogar noch übertrifft. 436 Während dieser – wie oben dargestellt – sich für die historische Faktiziät des Marius interessiert, zeigt Quintus echte Begeisterung für dessen Dichtung, indem er zwei Verse aus dem Gedächtnis vorträgt. Indem er auch ein athenisches Beispiel verwendet, richtet er sich an Atticus, der einen engen Bezug zu der Stadt hat, und demonstriert damit seine urbanitas. 437 Ausgehend von dieser unterschiedlichen Interessenlage, welche die verschiedenen Haltungen der Leser spiegelt, verschiebt sich das Gespräch von der Gattung der Lyrik weiter zur Geschichtsschreibung. Auf Marcus’ Kritik an Lesern, die ihn als Dichter nicht anders behandeln würden als einen Sachzeugen (testis) und die auch an das Gespräch der Egeria mit Numa und die Krönung des Tarquinius durch einen Adler glauben würden, erkennt Quintus, dass sein Bruder für die Geschichtsschreibung andere Maßstäbe als für die Dichtung vorsieht (alias in historia leges obseruandas putare, alias in poemate). 438 Während er dadurch einerseits Marcus’ Kernaussage für den Leser zusammenfasst, zeigt er andererseits Vertrautheit mit dem Diskurs über die römische Geschichtsschreibung, wodurch er erneut in der Funktion des Kenners von Ciceros Werk agiert. 439 Wie oben gezeigt wurde, ist es jedoch der Freund des Autors, der ein besonderes Interesse an Geschichtsschreibung zeigt und schließlich ein Geschichtswerk von 43F

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S. unten S. 549–552. Vgl. Krebs 2009, S. 93. Vgl. ebd., S. 95. Cic. leg. 1,5. Krebs vergleicht dahingehend die Stelle mit der im zweiten Buch von De oratore erfolgten Kritik der römischen Historiographie: Krebs 2009, S. 101.

425

De legibus

Cicero fordert. 440 Von Atticus gefragt, ob er diesbezüglich anderer Meinung sei, erteilt Quintus ihm seine entschiedene Zustimmung (mihi vero nihil) und bekräftigt damit dessen Anliegen. 441 Dabei verweist er auf eine Meinungsverschiedenheit mit dem Bruder (sed est quaedam inter nos parva dissensio), die darauf anspielt, dass sein historisches Interesse der römischen Frühzeit gilt, während Marcus die Darstellung der jüngeren Zeit fordert (deposcit), worin er von Atticus Unterstützung erhält (huic potius adsentior). Zu seiner Affinität zur Lyrik und Geschichte gesellt sich ein Interesse an dem römischen Rechtswesen, welches für die Entwicklung des Gesprächs erneut bestimmenden Charakter hat. Als Atticus resignierend feststellt, dass Cicero sich aufgrund seiner Anwaltstätigkeit vielleicht nie die Zeit für ein Geschichtswerk nehmen könne, wagt Quintus einen entscheidenden Vorstoß: 442 439F

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41F

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At mehercule ego arbitrar posse id populo nostro probari, si te ad ius respondendum dedisses; quam ob rem, cum placebit experiendum, tibi id censeo. Aber, beim Herkules, ich glaubte, es könne unserem Volk gefallen, wenn du dich dazu bereit erklärtest, Rechtsberatung zu erteilen; deshalb meine ich, du solltest es versuchen, wenn du willst.

Von dem Vorschlag ausgehend nähert sich der Dialog seinem eigentlichen Thema an, für das Quintus, erneut um seine Zustimmung gefragt, ein ehrliches Interesse zeigt (Ego verim libenter audierim) und sich nicht von der Warnung der Länge eines solchen Gesprächs einschüchtern lässt (in longum sermonem me vocas, Attice). 443 Dass er auf diesem Gebiet auch über dezidierte Kenntnisse verfügt, zeigt sich erst an späterer Stelle, als er die für ihn historischen Gesetzgebungen des Lykurg, Solon, Charondas und Zaleukos als Bezugspunkte in das Gespräch einbringt. 444 Indem er als Gesprächspartner suggeriert, sich mit jenen Gesetzen auseinandergesetzt zu haben, nimmt er eine an den Autor gerichtete Erwartungshaltung ein, die dazu beiträgt, die Gleichrangigkeit von dessen Gesetzgebung gegenüber jenen der historischen Beispiele herauszustellen. 445 Auch in den folgenden Büchern zeigt sich seine Vertrautheit mit dem positiven römischen Recht, beispielsweise im dritten, als er die Gesetzgebung seines Bruders 43F

4F

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440 441 442 443 444 445

Cic. leg. 1,7. Ebd., 1,8. Ebd., 1,12. Ebd., 1,13. Ebd., 1,57. Unabhängig von der in der Forschung umstrittenen Frage nach der Identität der von Cicero vorgeschlagenen Gesetzgebung mit dem Naturgesetz wird durch Quintus deutlich, dass es ihm um allgemeingültige Gesetze geht. Vgl. Sauer 2012, S. 67f.; Girardet 1983, S. 54–60; Girardet 1995, S. 270–273.

426

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

und seine prägnante Darstellung lobt, ihm aber die Neuerungen nicht verborgen bleiben (a te paulum adlatum est novi). 446 Dass ihm diese auffallen, ist nur durch sein juristisches Fachwissen möglich. 447 Die politische Biographie des Quintus, der es bis zur Praetur brachte, in welcher er den Gerichtsvorsitz im Archiasprozess führte, setzt dabei eine gewisse Grundvertrautheit der historischen Persönlichkeit mit dem politischen System der römischen Republik und ihren wichtigsten Gesetzen voraus. Seine Dialogfigur repräsentiert an der Stelle einen römischen Leser, der über jenes Grundlagenwissen verfügte, das für die konstitutionelle Mitgestaltung der res publica erforderlich war. 46F

47F

b)

Quintus’ philosophische Bildung und Auftreten im Dialog

Neben Kenntnissen in Lyrik, Geschichte und Recht verfügt Quintus auch über ein philosophisches Wissen, obschon, wie Sauer konstatiert, sein Verständnis auf diesem Gebiet nicht an das des Atticus heranreicht. 448 Ein Indiz hierfür sieht Sauer in dessen Wunsch nach einer baldigen Beendigung der Ausführungen im ersten Buch: 449 48F

49F

Tu vero iam perpauca licet; ex eis enim quae dixisti, Attico, videtur mihi quidem certe ex natura ortum esse ius. Du kannst dich jetzt sehr kurz fassen. Denn nach allem, was du schon gesagt hast, ist es Atticus offensichtlich und mir ganz bestimmt klar, dass das Recht aus der Natur hervorgegangen ist.

Quintus antwortet an dieser Stelle auch stellvertretend für Atticus, welcher sich jedoch im Folgenden aktiver am Gespräch beteiligt und an der Thematik mehr interessiert zu sein scheint, indem er Ciceros bisherige Ausführungen nochmals zusammenfasst. 450 Dass Quintus über ein philosophisches Grundwissen hinsichtlich der platonischen Dialoge verfügt, wird an zwei Stellen zu Beginn des zweiten Buchs deutlich. Nachdem Marcus die von ihm vertretene Auffassung eines wahren Gesetzes in der Natur von den Rechtsvorstellungen der Sokratiker abgegrenzt hat, 451 wird Quintus von seinem Bruder in ein sokratisches FrageAntwort-Gespräch verwickelt (Quaero igitur a te, Quinte, sicut illi solent). 452 Er 450F

451F

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Cic. leg. 3,12. Eben jenen Charakterzug wertete Gigon als unglaubwürdig, der auf Quintus’ geringe politische Erfahrung verwies: Gigon 1975, S. 372. S. hierzu: auch Sauer 2013, S. 175f. Cic. leg. 1,34f. Ebd. Ebd., 2,11. Ebd., 2,12.

427

De legibus

erkennt, wer mit illi gemeint ist, und spielt die Rolle eines Sokratesschülers mit, indem er auf die kurzen Ja-Nein-Fragen seines Sokrates imitierenden Bruders immer wieder kurze, zustimmende Antworten gibt (Ac maxumis quidem […] Dici aliter non potest […] Prorsus adsentior). 453 Die Vertrautheit mit Werken Platons zeigt sich kurz darauf erneut, als Marcus ankündigt, sein geplantes Gesetzeswerk mit einer religiösen Gesetzgebung beginnen zu wollen. 454 Auf Marcus’ Vorwort zu diesem Gesetz (legis prooemium) stellt Quintus fest: 455 453F

45F

45F

Habeo vero, frater, et in hoc admodum delector, quod in aliis rebus aliisque sententiis versaris atque ille; nihil enim tam dissimile quam vel ea quae ante dixisti, vel hoc ipsum de deis exordium; unum illud mihi videris imitari, orationis genus. Ich habe es (= legis prooemium) tatsächlich, lieber Bruder, und darüber freue ich mich ganz besonders, dass du dich mit anderen Fragen und mit anderen Gedanken als Platon befasst. Denn nichts ist so unplatonisch wie das, was du zuvor gesagt hast, und dasselbe gilt für diese Einleitung über die Götter. Nur das eine scheinst du mir nachzuahmen: die Art und Weise der Darstellung.

Die Vertrautheit mit Platons Werk ermöglicht es der Quintus-Figur, den originellen Charakter von Marcus’ Projekt zu erkennen. Indem er die Eigenständigkeit des Werkes, das nur in der Dialogform die platonischen Nomoi nachahmen würde (mihi videris imitari), feststellt, liefert er eine Vorlage für den Autor, der sich mit dem bloßen Übersetzen des Werkes nicht zufriedengeben möchte. 456 Durch das Lob seines Bruders erfährt Ciceros Verfahrensweise Legitimität, gleichzeitig wird der Vergleich mit dem athenischen Philosophen gesucht. 457 Quintus verfügt somit zumindest über Grundkenntnisse der Philosophie, auch wenn diese im Vergleich zur Dialogfigur des Atticus weniger ausgeprägt sind, worin er einen eher konservativeren Lesertypus repräsentieren könnte. 458 Beide Dialogfiguren ähneln sich darin, dass sie Kenntnisse in den Bereichen Lyrik, Geschichte, Recht und Philosophie besitzen, unterscheiden sich diesbezüglich aber in ihren Präferenzen, was sich auf ihre Rollen als Gesprächsteilnehmer auswirkt. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass Quintus im Vorfeld nicht über ein bestimmtes philosophisches Weltbild, geschweige denn eine Art von Schulzugehörigkeit verfügt. Die Konzeption des Naturrechts scheint ihm ebenfalls nicht bekannt zu sein, doch erkennt er dessen Bedeutung: 459 456F

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453 454 455 456 457 458 459

Cic. leg. 2,12. Ebd., 2,16. Ebd., 2,17. Ebd. Vgl. Dyck 2004, S. 287. So: Sauer 2013, S. 179. Cic. leg. 1,18.

428

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten Alte vero et ut oportet a capite frater repetis quod quaerimus; et qui aliter ius civile tradunt, non tam iustitiae quam litigandi tradunt vias. Von weit her und, wie es erforderlich ist, aus seinem Ursprung holst du, lieber Bruder, den Gegenstand unserer Untersuchung hervor, und diejenigen, die das Zivilrecht auf andere Weise überliefern, überliefern nicht so sehr Wege zur Gerechtigkeit, wie Wege zum Streiten vor Gericht.

Er zeigt sich folglich schnell von der philosophischen Position eines in der Natur bestehenden Gesetzes, welches jeder Gesetzgebung als Vorlage dienen muss, überzeugt. Er äußert sich auch im Anschluss an die Erläuterungen im ersten und zu Beginn des zweiten Buchs stets zustimmend gegenüber der philosophischen Grundposition und der Vorgehensweise seines Bruders, dem er dadurch eine gewisse Legitimität für die Verkündung seiner Positionen zukommen lässt. 460 Gleichzeitig deutet sich an dieser Stelle bereits ein pragmatischerer Ansatz an, indem er Ciceros Konzeption der bestehenden Literatur über das Zivilrecht vorzieht, da letztere nur „Wege zum Streiten“ überliefern würde (litigandi tradunt vias). Diese pragmatische Sichtweise steht dabei der stärker philosophisch orientierten des Atticus gegenüber. Im ersten Buch tritt sie besonders in dem Moment zutage, als das Gespräch droht, in einen Disput über das höchste Gut und das höchste Übel abzugleiten. Nachdem Quintus selbst eine umfassende Zusammenfassung der Kernthesen des ersten Buchs geliefert hat – mit der Feststellung, dass Marcus bereits die Begriffe aus dem juristischen Bereich verwende, von dem er einen Vortrag erwarten würde (quo de genere expecto disputationem tuam) 461 –, führt er das Ende des Exkurses herbei (Licebit alias; nunc id agamus quod coepimus). 462 Indem er vorschlägt, den Diskurs über das höchste Gut und das höchste Übel (de summo malo bonoque dissensio) zu verschieben, trägt er entscheidend dazu bei, das laufende Gespräch auf das eigentliche Thema, die Gesetze zu fixieren. 460F

461F

462F

c)

Quintus als Pragmatiker und Optimat

Der pragmatische Charakter der Dialogfigur, der sich bereits im ersten Buch ankündigte, äußert sich noch deutlicher im zweiten und tritt im dritten Buch von De legibus vollends zutage. Im zweiten Buch spielt Marcus auf das Ende des Clodius und seiner Anhänger an, welche durch das Entweihen seines Hauses und

460 461 462

Vgl. auch: Cic. leg. 1,20, 34; 2,8, 18. Ebd., 1,56. Ebd., 1,57. Den Umstand, dass Quintus den Bruder „drängen“ könne, „voranzumachen, um über alle Präliminarien zur Sache selbst zu kommen“, sah Gigon 1975, S. 372 vor allem der Tatsache geschuldet, dass jener der Bruder der Hauptperson ist.

429

De legibus

das Errichten eines Licentia-Tempels einen religiösen Frevel begangen, doch letztlich alle ihre verdiente Strafe erhalten hätten. 463 Quintus entgegnet darauf: 464 463F

46F

Equidem ista agnosco, frater, et meritas dis gratias ago; sed nimis saepe secus aliquanto videmus evadere. Mir ist das alles bekannt, mein Bruder, und ich erweise den Göttern die Dankbarkeit, die ihnen zusteht. Aber leider sehen wir, dass die Verhältnisse oft ganz anders sind.

Quintus’ Skepsis gegenüber einer göttlichen Gerechtigkeit, die er mit Blick auf die Gegenwart begründet (saepe […] videmus), hat zunächst eine technische Funktion: Sie gibt Marcus die Möglichkeit, ausführlicher auf die menschliche und daher getrübte Perspektive einzugehen, was eine göttliche Strafe ist (non […] recte existimamus, quae poena divina sit). 465 Die von Quintus an dieser Stelle geäußerten Bedenken können zudem als weiteres Indiz dafür gewertet werden, dass die Dialogfigur eher als philosophisch neutral dargestellt wird und nicht als Stoiker, wie sie im Dialog De divinatione in Erscheinung treten wird. 466 Im dritten Buch lässt sich Quintus ein deutlich politisches Profil attestieren, das optimatische Züge trägt. In dem uns erhaltenen Text tritt diese politische Haltung in zwei Themenkomplexen zutage: einerseits hinsichtlich der Frage nach dem Einfluss der Volkstribunen, andererseits bei der Frage nach dem Wahlrecht. 467 Dass er dem Volkstribunat sehr skeptisch gegenübersteht, wird schon einige Kapitel vor der eigentlichen Behandlung angedeutet, indem er es als magnum malum bezeichnet und den Bedeutungsverlust der Optimaten bedauert. 468 Die politische Gesinnung des Quintus, der seinen Bruder bei der neutral gehaltenen Beschreibung der Gesetze unterbricht, wird dabei bereits durch die wertende Wortwahl deutlich, indem er der gravitas optimatium die vis multitudinis gegenüberstellt: die Umschreibung der Senatsaristokratie weckt die Assoziation der Legitimität durch Autorität, die des Volkes eine der Illegitimität durch Gewalt. 469 Die eigentliche Debatte beginnt damit, dass er dem Hauptredner erneut ins Wort fällt, was in den eher harmonisch ablaufenden ciceronischen Gesprächskreisen äußerst selten zu beobachten ist: 470 465F

46F

467F

468F

469F

470F

463 464 465 466 467 468 469 470

Cic. leg. 2,42. Ebd., 2,43. Ebd. S. hierzu unten V 8.2. Cic. leg. 3,19–22, 34–37. Ebd., 3,17. S. hierzu: Dyck 2004, S. 488. Cic. leg. 3,19.

430

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten At mehercule ego, frater, quaero, de ista potestate quid sentias; nam mihi quidem pestifera videtur, quippe quae in seditione et ad seditionem nata sit. Cuius primum ortum si recordari volumus, inter arma civium et occupatis et obsessis urbis locis procreatum videmus; deinde cum esset cito necatus, tamquam ex XII tabulis insignis ad deformitatem puer, brevi tempore nescio quo pacto recreatus multoque taetrior et foedior natus est. Quid enim ille non edidit? Qui primum, ut impio dignum fuit, patribus omnem honorem eripuit, omnia infima summis patria fecit, turbavit, miscuit. Doch ich frage dich, beim Herkules, was du, mein Bruder, von diesem Amt hältst. Denn mir wenigstens scheint es Schaden anzurichten, da es ja während eines Aufstandes geschaffen wurde. Wenn wir uns an seinen Ursprung erinnern wollen, sehen wir, dass es im Bürgerkrieg nach der Besetzung und Belagerung von öffentlichen Plätzen der Stadt ins Leben gerufen wurde. Als dann das auffallend missgebildete Kind sozusagen im Sinne der Bestimmungen des Zwölftafelgesetzes schnell getötet worden war, wurde es auf unerklärliche Weise in kurzer Zeit wieder lebendig und noch viel hässlicher und scheusslicher neu geboren. Was hat es nämlich hervorgebracht? Wie es zu einem bösartigen Kind passt, raubte es zuerst den Vätern (Senatoren) alle Ehren, machte das Niedrigste dem Höchsten gleich, wirbelte alles durcheinander und vermischte es.

Quintus reagiert energisch (mehercule) und offenbart, indem er das Amt als „auffallend missgebildetes Kind“ (ad deformitatem puer) beschreibt und seine Entstehung in den Kontext gewalttätiger Unruhen stellt, eine typisch optimatische Sichtweise auf das Volkstribunat. 471 Dass er die Rolle des advocatus diaboli einnimmt, womit die Dialogfigur Marcus nicht gerechnet zu haben scheint (De qua disseri nihil necesse est), erfolgt aus innerer Überzeugung, worin sich sein Auftreten von dem des Philus im dritten Buch des Staatswerkes stark unterscheidet. 472 Im Folgenden untermauert er seine Ablehnung, indem er die aus seiner Sicht unheilvolle Geschichte des Amtes beschreibt, wodurch sich erneut ein bestimmter Grad historischer Versiertheit zeigt, wie er für einen Redner zur Zeit Ciceros. Im erhaltenen Werk handelt es sich zugleich um seinen längsten Part als Sprecher. 473 Nach dem Muster der Reden seines Bruders führt er als historische Beispiele eine lange Reihe von Tribunen an, welche sich chronologisch von der Zeit vor der Geburt des Autors (Gaius Curiatius, Tiberius und Gaius Gracchus, Saturninus, Sulpicius) bis in die Gegenwart erstreckt und die er bei Clodius enden lässt, dessen Namen er nicht zu nennen braucht: 474 471F

472F

473F

47F

471 472 473 474

Vgl. Dyck 2004, S. 28. Cic. rep. 3,8 (7). Cic. leg. 3,19–22. Ebd., 3,21f.

De legibus

431

Quem quom homines scelerati ac perditi non modo ulla in domo, sed nulla in gente reperirent, gentes sibi in tenebris rei publicae perturbandas putaverunt; quod nobis quidem egregium et ad immortalitatem memoriae gloriosum, neminem in nos mercede ulla tribunum potuisse reperiri, nisi cui ne esse quidem licuisset tribuno. (22) Sed ille quas strateges edidit! Eas videlicet quas sine ratione ac sine ulla spe bona furor edere potuit impurae beluae, multorum inflammatus furoribus. Quamobrem in ista quidem re vehementer Sullam probo, qui tribunis plebis sua lege iniuriae faciendae potestatem ademerit, auxilii ferendi relinquerit, Pompeiumque nostrum ceteris rebus omnibus semper amplissimis summisque effero laudibus, de tribunicia potestate taceo; nec enim reprehendere libet, nec laudare possum. Weil die verbrecherischen und verkommenen Subjekte einen solchen Kerl nicht nur in keinem Haus, sondern auch in keiner Familie fanden, meinten sie, sie müssten die Familienverhältnisse in der finstersten Stunde des Staates durcheinanderbringen. Die Tatsache ist für uns zwar ehrenvoll und bringt uns unsterblichen Ruhm ein, dass man um keinen Preis einen Tribunen hatte finden können außer diesem, der eigentlich gar nicht Tribun hätte sein dürfen. (22) Aber welches Unheil hat jener angerichtet! Ein solches natürlich, das nur das Wüten einer schmutzigen Bestie ohne Vernunft und ohne jeden Sinn und Zweck anrichten konnte, nachdem es durch die wahnsinnige Wut vieler anderer noch mehr aufgepeitscht war. Darum stimme ich wenigstens in diesem Punkt Sulla rückhaltlos zu, der den Tribunen mit seinem Gesetz die Möglichkeit nahm, Unrecht zu tun, ihnen aber weiterhin gestattete, Hilfe zu leisten. Und unseren Pompeius hebe ich sonst immer und in jeder Hinsicht in den Himmel, was aber die tribunizische Gewalt betrifft, so schweige ich. Ich möchte nämlich keine Vorwürfe machen, aber loben kann ich ihn auch nicht.

Dass es sich bei dem namentlich nicht explizit genannten Tribun, der als letztes Glied in der von Quintus chronologisch angeordneten Beispielkette erscheint, um Clodius Pulcher handelt, wird spätestens durch den Hinweis auf die Illegitimität seiner tribunizischen Gewalt deutlich. Besondere Schärfe erhält das Beispiel dadurch, dass gerade jener Tribun mit dem politischen Schicksal Ciceros in den 50er Jahren eng verbunden ist. 475 Das überstandene Unglück und der letztlich daraus entstandene „unsterbliche Ruhm“ (ad immortalitatem memoriae gloriosum) werden als Gemeinsamkeit der beiden Ciceronen herausgestellt. Da Quintus’ Haus im Zusammenhang mit der Verbannung seines Bruders ebenfalls vom Mob des Clodius zerstört wurde, handelt es sich hierbei nicht zwingend um eine Übertreibung. 476 Die Emotionalität in seinen Ausführungen und das Herausstellen des erlittenen Unglücks werden vom Autor Cicero gezielt eingesetzt, der die Ereignisse – wie gezeigt – von seinem Alter Ego geschickt umdeuten lassen wird. 475F

476F

475 476

Zur Anspielung auf Clodius s. auch: Dyck 2004, S. 501. Vgl. ebd., S. 502.

432

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Die Art, wie die Debatte um das Volkstribunat, die sich bereits zwei Kapitel vorher ankündigte, letztlich jedoch in seiner ganzen Heftigkeit unerwartet über das Gespräch hineinbricht, geführt wird, verrät eine bewusste Planung des Autors, für den dieses Thema offenbar einen hohen Stellenwert einnimmt. Dass die Debatte letztlich im Dissens endet, konfrontiert die Leserschaft mit zwei unterschiedlichen Positionen, einer streng optimatischen von Quintus und Atticus sowie einer kompromissbereiten des Marcus. 477 Durch die Argumentation des Quintus wird auch die Bedeutung der Frage für Ciceros Gegenwart deutlich. Zwar erlaubt er es sich nicht, Pompeius explizit zu kritisieren, doch bringt sein Schweigen an dieser Stelle seine Kritik deutlich zum Ausdruck. Bekanntermaßen war das Verhältnis zwischen Cicero und Pompeius in den 50er Jahren infolge des Triumvirats und Pompeius’ Passivität bei der Verbannung getrübt. 478 Es stellt dahingehend die Frage, inwieweit Quintus’ auf Pompeius zielende Kritik am Volkstribunat die Position des Autors widerspiegelt, auch wenn Marcus im Folgenden dagegen argumentieren wird. Quintus’ Positionierung gegen ein geheimes Abstimmungsverfahren für das Volk zeigt erneut eine klar optimatische Färbung der Dialogfigur. 479 So bemängelt er daran, dass dieses den „Einfluss der Optimaten völlig beseitigt“ hätte (quis autem non sentit omnem auctoritatem optimatium tabellariam legem abstulisse?) und das Volk es in einer Situation gefordert habe, in der es von „Willkür und Macht der führenden Politiker unterdrückt“ (oppressus dominatu ac potentia principum) gewesen sei. 480 In seiner Invektive zeigt er erneut juristischen Sachverstand, indem er die unterschiedlichen Stimmtafelgesetze chronologisch erwähnt. 481 Darüber hinaus erinnert er an die korrekte Haltung des Großvaters, wodurch er die Familiengeschichte der gens Tullia geschickt in die Argumentation einbindet. 482 Dass sich seine politische Grundhaltung hierbei klar von der seines Bruders unterscheidet, zeigt sich daran, dass er die Schuld für die Lex Cassia vorwurfsvoll dem von Cicero geschätzten Scipio zuweist (culpam Scipio tuus sustinet). 483 Interessant an beiden Debatten ist, dass sich Quintus und Atticus gemeinsam gegen die Dialogfigur Marcus stellen und beide trotz der Erläuterungen desselben bei ihrer Meinung zu bleiben scheinen. 484 Die Offenheit der Darstellung, in der von einer Überzeugung des Gesprächspartners abgesehen wird, erinnert an 47F

478F

479F

480F

481F

482F

483F

48F

477 478 479 480 481 482 483 484

Vgl. Sauer 2013, S, 176f. S. hierzu ausführlicher: Gelzer 2014, S. 125f. Cic. leg. 3,34–37. Ebd., 3,34. Ebd., 3,35. Ebd., 3,35f.; zur Datierung und Historizität des Beispiels s. Nicolet 1967, S. 277–280. Cic. leg. 3,37. Ebd., 3,26.

De finibus bonorum et malorum 1 und 2

433

spätere Dialoge (De natura deorum, De finibus, Lucullus), hier zeigt sie sich jedoch in einer rein politischen Angelegenheit. d)

Zusammenfassung

Fasst man die Figur des Quintus zusammen, so lässt sich festhalten, dass er wie seine beiden Gesprächspartner über ein gewisses Maß an Allgemeinbildung in den verschiedenen Disziplinen verfügt, wobei sein dichterisches Interesse, welches er zweifelsohne mit der historischen Persönlichkeit gemein hat, besonders stark ausgeprägt ist. Im Hinblick auf seine philosophische Haltung und Bildung folgt Quintus strikt dem Bruder und lässt keine dezidiert stoische Überzeugung zum Ausdruck kommen, geschweige denn ein eigenes, von seinem Bruder unabhängiges philosophisches Interesse. Unabhängigkeit zeigt sich jedoch hinsichtlich seiner politischen Orientierung, die als strikt konservativ und optimatisch dargestellt wird. Die optimatische Position erinnert zudem an jene des Mummius im dritten Buch von De re publica, dem dort ebenfalls eine technische Funktion zur Generierung eines Gegenpols zukommt. 485 Für den Dialog insgesamt lässt sich somit attestieren, dass dem Autor ein gewisses Maß an Diversität der politischen Positionen am Herzen lag. Der Dialogfigur Quintus können somit eine Reihe verschiedener Charakteristika zugeschrieben werden, die sowohl eine dialoginterne als auch eine dialogexterne Funktion erfüllen, indem sie dazu beitragen, einerseits ein möglichst breites Spektrum an Adressaten anzusprechen, andererseits die Entwicklung des Gesprächs in die vom Autor intendierte Richtung zu lenken. 0F

4

De finibus bonorum et malorum 1 und 2

In den Büchern 1 und 2 von De finibus wendet sich Cicero der Lehre Epikurs zu, die dabei im Vergleich zu den beiden anderen Systemen die entschiedenste Ablehnung erfährt. Das Datum des Gesprächs, das auf Ciceros Landgut Cumanum stattfindet, lässt sich unter Hinzunahme textexterner Informationen im Dezember 50 verorten. 486 Das Gespräch wird vom nahenden Bürgerkrieg überschattet, dem die beiden realhistorischen Personen L. Manlius Torquatus und C. Valerius Triarius zum Opfer gefallen sind, doch vermeidet der Verfasser konkrete Anspielungen im Schluss oder Proömium, so dass eine mit De re publica oder De oratore vergleichbare Phaidon-Stimmung ausbleibt. 1F

485 486

Cic. rep. 3,46. Zur Szenerie: Cic. fin. 1,14; die Datierung auf das Jahr 50 erfolgt durch den Verweis auf Torquatus’ Kandidatur auf die Praetur (fin. 2,74), die er 49 innehatte; vgl. Münzer 1928, Sp. 1205f.; Patzig 1979, S. 315; Steel 2013, S. 225.

434

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Aus einem Atticusbrief vom November 50 wird deutlich, dass Cicero zu der Zeit, in der er später seinen Dialog stattfinden lässt, verschiedene ethische Positionen mit Atticus reflektierte. 487 Dabei stellt er der von ihm präferierten These einer von Natur aus angeborenen Liebe zu den Kindern (φυσικὴν esse τὴν πρὸς τὰ τέκνα), welche die Lebensgemeinschaft der Menschen erst ermögliche, die Standpunkte des Karneades und die der Epikureer Lucius Saufeius und Patron gegenüber, welche zwischenmenschliches Wohlwollen nicht auf die Natur zurückführen (non quo id natura rectum sit), sondern auf das Kalkül, selbst keinen Schaden zu erleiden. Zwar handelt es sich hierbei nicht, wie früher angenommen, 488 um eine Referenz auf ein reales Gespräch, auf das sich Cicero in De finibus 1 und 2 bezieht, doch belegt der Brief, dass er sich spätestens ab dem November des Jahres 50 näher mit der epikureischen Ethik auseinandersetzte. 2F

3F

4.1

M. Tullius Cicero

a)

Cicero als Hauptredner und Literat

In Anbetracht der Konzeption von De finibus verwundert es nicht, dass die Figur des Autors eine zentrale Rolle im Personengefüge einnimmt. Dieser Umstand lässt sich auch rein quantitativ am Anteil der im Dialog gesprochenen Wörter belegen. 489 Die exponierte hierarchische Position Ciceros innerhalb des Gesprächskreises wiederum zeigt sich durch den Altersunterschied, zwischen ihm und seinen Gesprächspartnern liegt eine Generation. 490 Dass mit dem Alter auch ein hierarchischer Unterschied einhergeht, wird durch die Szenerie unterstrichen: Torquatus und Triarius erstatten ihm einen Besuch auf seinem Landgut, bei dem es zunächst nur darum zu gehen scheint, den ehrwürdigen Staatsmann zu grüßen (salutandi causa).491 Darüber hinaus wird darauf verwiesen, dass bereits im Vorfeld des eigentlichen Dialogs ein Gespräch im Gang war, das sich um Literatur (de litteris) drehte, wodurch der Eindruck des otium bekräftigt wird.492 Wie bereits in De legibus und Brutus präsentiert sich das Personengefüge als Zirkel literarisch interessierter Römer. Zwar werden keine Gattungen genannt, doch lassen spätere Rückverweise auf das Thema Dichtung schließen, wodurch die epikureische Dichtungskritik antizipiert wird. 493 Cicero präsentiert seine eigene Figur dabei als literaturschaffende Person und stellt einen Werkbezug her, indem 4F

5F

8F

487 488 489 490 491 492 493

Cic. Att. 7,2 = 125 Sh. B.,4. So etwa: Münzer 1928, Sp. 1205f. Vgl. Dickey 1997, S, 584f. Zum Alter von Torquatus und Triarius s. unten S. 447 u. 456. Cic. fin. 1,14. Ebd. Ebd., 1,25, 72; vgl. Gigon/Straume-Zimmermann 2002, S. 415.

435

De finibus bonorum et malorum 1 und 2

er sie während des Gesprächs auf die Rede des Laelius in De re publica verweisen lässt. 494 9F

b)

Cicero als akademisch-sokratischer Philosoph

Das philosophische Profil der Dialogfigur wird bereits unmittelbar zu Beginn des Dialogs deutlich, als der Themenwechsel von der Literatur zur Philosophie durch Torquatus vollzogen wird, der ihn nach dem Grund für seine Ablehnung des Epikur fragt, welche dadurch als öffentlich bekannt erscheint. 495 Der Autor lässt damit seine Dialogfigur mit einer ihm nachgesagten Attitüde konfrontiert werden, die darin bestünde, dass er den Kepos zwar nicht völlig verachten würde (non tu quidem oderis), jedoch entschieden ablehne (certe non probes), wofür der Gesprächspartner stilistische Gründe vermutet. Die Dialogfigur beginnt folglich nicht von sich selbst aus das philosophische Gespräch, sondern reagiert auf die Frage eines Standesgenossen. Erst nachdem durch diese bewusste Inszenierung der passende Rahmen erzeugt wurde, widerspricht Cicero ausführlich Torquatus’ Einschätzung: 496 10F

1F

oratio me istius philosophi non offendit; nam et complecitur verbis, quod vult, et dici plane, quod intellegam; et tamen ego a philosopho, si afferat eloquentiam, non asperner, si non habeat, non admodum flagitem. re mihi non aeque satisfacit, et quidem locis pluribus. sed quot homines, tot sententiae; falli igitur possumus. Der Stil stört mich an diesem Philosophen nicht; denn er fasst das, worauf es ihm ankommt, in Worte und formuliert es klar, so dass ich es verstehen kann. Ich würde freilich auch bei einem Philosophen weder, wenn er Wortgewandtheit aufzuweisen hätte, meine Nase rümpfen, noch dann, wenn sie ihm fehlte, unbedingt darauf bestehen. Es ist die Sache, in der er meinem Anspruch nicht genügt, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Aber es gibt so viele Meinungen wie Menschen. Also können wir uns täuschen.

Die Dialogfigur scheint eine Klarstellung vorzunehmen, indem sie betont, dass die Ablehnung rein sachlicher und nicht stilistischer Natur sei, was für seine Haltung gegenüber der Stoa im dritten und vierten Buch noch wichtig sein wird. Von der Gruppe derer, die Epikur aus Hass ablehnen, unterscheidet er sich dabei bereits dahingehend, dass er die Möglichkeit des eigenen Irrtums grundsätzlich einräumt (falli igitur possumus). Anders als Vertreter dogmatischer Schulmeinungen, als die Torquatus im ersten und der jüngere Cato im zweiten Gespräch fungieren, lässt er als akademischer Philosoph somit von Anfang an eine grundsätzliche Offenheit erkennen. 494 495 496

Cic. fin. 2,59. Ebd., 1,14. Ebd., 1,15.

436

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Das bereits in den zuvor untersuchten philosophischen Dialogen des Gesamtwerks herausgestellte sokratische Profil begegnet uns auch im ersten Teilgespräch von De finibus. Der Sokrates-Bezug zeigt sich am deutlichsten zu Beginn des zweiten Buchs, als Cicero nach Torquatus’ Vortrag nicht sofort inhaltlich auf diesen eingeht, sondern erst über das sokratische Verfahren des Philosophierens und dessen Geschichte referiert. 497 Von Anfang an scheint er methodisch anders vorgehen zu wollen als sein Gesprächspartner, indem er statt in der Form der oratio perpetua des Torquatus, welche ihm auch gefallen hätte (admodum delectatus sum), in jener sokratischer Manier fortfahren möchte, die bei dessen Nachfolgern in Vergessenheit geraten sei und die erst Arkesilaos wieder eingeführt habe. 498 Erst nach einem längeren Wechselgespräch, in dem die Dialogfigur als römischer Sokrates versucht, mittels Nachfragen die Position des Torquatus zu widerlegen, wird der Übergang zu einem längeren Vortrag eingeleitet. 499 Dieser Umschwung wird möglich durch die offene Ablehnung einer dialektischen Vorgehensweise durch Torquatus. Darauf erklärt Cicero: 500 12F

13F

14F

15F

Zenonis est […] hoc Stoici. omnem vim loquendi, ut iam ante Aristoteles, in duas tributam esse partes, rhetoricam palmae, dialecticam pugni similem esse dicebat, quod latius loquerentur rhetores, dialectici autem compressius. obsequar igitur voluntati tuae dicamque, si potero, rhetorice, sed hac rhetorica philosophorum, non nostra illa forensi, quam necesse est, cum populariter loquatur, esse interdum paulo hebetiorem. Von Zenon, dem Stoiker […] stammt folgende Bemerkung: Er sagte, wie vor ihm schon Aristoteles, die ganze Möglichkeit sprachlichen Ausdrucks gliedere sich in zwei Bereiche, von denen der rhetorische der Hand, der dialektische der Faust entspreche, weil die Rhetoriker weitläufiger, die Dialektiker jedoch gedrängter sprechen. Ich folge also deinem Wunsch und spreche, wenn ich es kann, wie die Rhetoren, aber im Sinne der philosophischen Rhetorik, nicht unserer forensischen, die notgedrungen, da sie sich volkstümlich ausdrückt, mitunter etwas gröber wirkt.

Nachdem die dialektische Vorgehensweise durch Torquatus zum Scheitern gebracht wurde, präsentiert sich Cicero als philosophischer Redner, wodurch suggeriert wird, dass er sowohl das dialektische als auch das rhetorische Verfahren beherrscht. Der Übergang zur oratio perpetua wird mit Rücksichtnahme auf den Gesprächspartner gerechtfertigt, da dieser das dialektische Verfahren bewusst ablehnt. 501 Mit seinem Bekenntnis zur philosophischen Rhetorik (hac rhetorica) 16F

497 498 499 500 501

Cic. fin. 2,1f. Ebd., 2,2f. Ebd., 2,3–17. Ebd., 2,17. Dass Cicero durch den sophistischen Redetyp der oratio perpetua auf den dictator perpetuus Caesar anspielen möchte, wie Peetz vorschlägt, ist fraglich, da Cicero diese

437

De finibus bonorum et malorum 1 und 2

strebt Cicero erneut einen Mittelweg zwischen einer rein dialektischen Philosophie und einer forensischen Rhetorik an. Der methodische Exkurs präsentiert die Figur des Autors dahingehend in einem scharfen Kontrast zu der des Torquatus. Ein sokratischer Charakter, der sich auch auf provokante Weise darum bemüht, die Positionen seiner Gesprächspartner herauszulocken, zeigt sich bereits im ersten Buch. Nachdem er seinem Gesprächspartner versichert hat, dass er die Lehre Epikurs sehr wohl kennen würde, lässt er Torquatus nach den genauen Gründen seiner Ablehnung fragen. 502 Auf diese Vorlage hin gibt Cicero eine eröffnende Stellungnahme ab, in der er seine inhaltliche Ablehnung begründet und seine Hauptkritikpunkte offenbart. 503 Die Kürze dieser Darstellung zielt dabei bewusst auf eine Provokation des Torquatus (ut illum provocarem), um ihn zu einem Gegenvortrag zu motivieren, wobei er nicht vom gebotenen Umgangston abweicht. 504 Obschon Cicero sich methodisch auf das Verfahren von Sokrates und den als Gründer der Neuen Akademie geltenden Arkesilaos beruft, hat er sich nach Patzig inhaltlich möglicherweise auch bei Antiochos von Askalon bedient. 505 Einen wichtigen Einfluss stellt ohne Zweifel die divisio Carneadea dar, nach deren Vorgabe er als philosophischer Redner Epikurs System in die nach jener Klassifizierung möglichen Theorien einordnet, um sie aufgrund der fehlenden Unterscheidung von Lust (voluptas) und Schmerzfreiheit (vacuitas doloris) als inkohärent zu überführen. 506 Für den Beweis seiner eigenen Annahme, wonach der Mensch von der Natur zu Höherem geschaffen wurde (ad maiora enim quaedam nos natura genuit) 507 , konfrontiert er dabei die epikureische Philosophie mit wichtigen Lebensbereichen der römischen Realität. 508 19F

20F

21F

2F

23F

c)

Cicero als umfassend gebildeter Hauptredner

Dieses akademische Profil wird durch seine umfassende Bildung passend ergänzt, welche sich ebenfalls bereits zu Beginn des Gesprächs zeigt. Als Torquatus nachlegt und ihm ein gerechtes Urteil (iudicem aequum) wegen fehlender

502 503 504 505 506 507 508

Form der Rede mit Torquatus einem Pompejaner in den Mund legt, der sich im Kampf gegen den Alleinherrscher das Leben nahm. Richtig dagegen ist die Beobachtung, dass Cicero die Dialektik als Typus philosophischer Rede, welche „Meinungsmonopole durch Gespräch aufbricht“, klar bevorzugt. S. etwa: Peetz 2008, S. 187. Cic. fin. 1,17. Ebd., 1,17–26. Ebd., 1,26. S. Patzig 1979, S. 315. S. etwa: Lévy 1984, S. 113–117; Peetz 2008, S. 187. Cic. fin. 1,23; vgl. ebd. 2,113. Dass Cicero dabei versucht, die traditionelle virtus der Vorfahren mit der der Philosophen zu verbinden, stellt Selem heraus: Selem 1987, S. 59.

438

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Kenntnis Epikurs absprechen möchte 509, gibt Cicero unmissverständlich zu erkennen, dass sich sein Gesprächspartner auch hierin täuschen würde: 510 24F

25F

Nisi mihi Phaedrum […] tu mentitum aut Zenonem putas, quorum utrumque audivi, cum mihi nihil sane praeter sedulitatem probarent, omnes mihi Epicuri sententiae satis notae sunt. atque eos, quos nominavi, cum Attico nostro frequenter audivi, cum miraretur ille quidem utrumque, Phaedrum autem etiam amaret, cotidieque inter nos ea, quae audiebamus, conferebamus, neque erat umquam controversia, quid ego intellegerem, sed quid probarem. Ich kenne zur Genüge alle Gedanken Epikurs, es müsste denn sein, dass du glaubst, Phaidros und Zenon hätten mich falsch informiert; denn beide habe ich gehört, obwohl mir außer ihrer Beflissenheit an ihnen nichts einleuchtete. Ich habe die genannten auch häufig mit unserem Atticus zusammen gehört, da er ja beide bewunderte, den Phaidros aber gar ins Herz geschlossen hatte, und wir besprachen täglich miteinander das Gehörte. Da gab es niemals eine Auseinandersetzung um die Frage, was ich verstand, sondern nur um das, was mich überzeugte.

Indem die eigene Auseinandersetzung mit der epikureischen Lehre gleich zu Beginn deutlich gemacht wird, wird mit der Dialogfigur auch dem Autor Cicero eine besondere Eignung zugesprochen, sich mit der Materie zu beschäftigen. Dieses Hervorheben einer ausgiebigen Beschäftigung mit Epikur legitimiert dabei nicht nur zur Darstellung der Lehre in utramque partem, sondern weist auch der philosophischen Beschäftigung als solcher Legitimität zu, selbst wenn es sich dabei um den Kepos handelt. Dass Cicero auch im Bereich der Literatur und Dichtung eine Autorität darstellt, wird bereits durch das nur angedeutete Eingangsgespräch impliziert, aus dem heraus der philosophische Diskurs erwächst. Der Schlussteil von Torquatus’ Rede macht zudem deutlich, dass die historische Persönlichkeit Cicero gegenüber beiden Gesprächspartnern eine lehrerähnliche Funktion erfüllte, da er sie zum Studium von Dichtung ermahnte (in poëtis evolvendis, ut ego te hortatore facimus). 511 Die Präsenz des Bildungsthemas im ersten Gespräch von De finibus ist dabei auch im Kontext der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Epikurs Bildungskritik und der darin enthaltenen Ablehnung der Dichtung zu sehen. Das Rekurrieren auf ein als historisch präsentiertes Lehrer-Schüler-Verhältnis konfrontiert diesen Teilaspekt epikureischer Ethik mit einer bereits existierenden römischen Praxis. Der daraus resultierende Gegensatz zwischen Cicero als Verteidiger einer Bildungskonzeption, welche den Unterricht in Dichtung und Geschichte zur Vorbereitung auf das öffentliche Leben als Redner postuliert, und Torquatus, 26F

509 510 511

Cic. fin. 1,15. Ebd., 1,16. Ebd., 1,72.

439

De finibus bonorum et malorum 1 und 2

einem von Epikur inspirierten Kritiker derselben, drückt sich auch stilistisch in den beiden Reden aus: Während letzterer auf Zitate aus der Dichtung völlig verzichtet, integriert der Vertreter des Autors diese kunstvoll in seine Argumentation, wodurch er einen Einblick in seine breiten literarischen Kenntnisse gewährt. 512 Dabei wird eine deutliche Tendenz zugunsten von Zitaten aus lateinischen Werken deutlich. Greift er jedoch auf griechische zurück, übersetzt er diese: 513 27F

28F

ut proverbia non nulla veriora sint quam vestra dogmata. vulgo enim dicitur: ‚Iucundi acti labores‘, nec male Euripides – concludam, si potero Latine; Graecum enim nunc sum nostis omnes-: ‚Suavís laborum et praeteritorum mémoria.‘ So wären manche Sprichwörter wahrer als eure philosophischen Lehrsätze. Der Volksmund sagt ja: „Überstandene Mühen sind mir lieb.“ Nicht übel drückt es auch Euripides aus – ich will versuchen, es auf Lateinisch in Versform zu übersetzen; den griechischen Vers kennt ihr ja alle –: „Süß ist es, überstandener Mühen zu gedenken.“

Indem ein bei seinen gebildeten Gesprächspartnern als bekannt vorausgesetzter griechischer Vers ohne Nennung des Originals in die lateinische Sprache transferiert und einer Sentenz des Volkes gegenübergestellt wird, verdeutlicht der Autor, dass er einen rein lateinischen intellektuellen Diskurs anstrebt. Die Figur des Autors führt somit Torquatus, der die Sinnhaftigkeit dichterischer Studien im Namen Epikurs hinterfragt hat, vor, wie diese verwendet werden können. Gleichzeitig ermahnt sie dabei bewusst zum Studium lateinischer Literatur, für das Cicero werben möchte. Mit der römischen Lyrik verweist er zugleich auf ein Gebiet, in dem der kulturelle Transfer bereits erfolgreich abgeschlossen wurde, während er im Bereich der Philosophie und der Geschichte noch aussteht. 514 Der Angriff des Torquatus auf das Gelehrtenleben und eine als zu theoretisch empfundene Bildungskonzeption am Ende des ersten Buchs 515 schafft für Cicero den Raum, sein eigenes Profil als Literat zu konkretisieren. Im Vorfeld des zweiten Buchs zeigt sich, dass das Profil des Philosophen für den Autor noch mit einer inneren Distanz verbunden ist: 516 29F

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Caecilius: Cic. fin. 2,13, 14; Lucilius: 2,23, 24, 25; Ennius: 2,41, 106; Accius: 2,94; Euripides: 2,105. Darüber hinaus zitiert Cicero mit Xenophons Kyropädie und Herodot auch zwei Historiker: 2,87, 97. Ebd., 2,105. Zu Ciceros Haltung zur zeitgenössischen römischen Geschichtsschreibung existiert bereits eine Fülle von Forschungsliteratur, auf die in diesem Rahmen nicht ausführlich eingegangen werden kann. Einen aktuellen Überblick liefert Gildenhard in einem für diese Arbeit sehr wichtigen Aufsatz: Gildenhard 2013, S. 241, Anm. 24. Cic. fin. 1,71f. Ebd., 2,1.

440

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten Primum, […] deprecor, ne me tamquam philosphum putetis scholam vobis aliquam explicaturum, quod ne in ipsis quidem philosophis magnopere umquam probavi. quando enim Socrates, qui parens philosophiae iure dici potest, quicquam tale fecit? eorum erat iste mos, qui tum sophistae nominabuntur, quorum e numero primus est ausus Leontinus Gorgias in conventu poscere quaestionem, id est iubere dicere, qua de re quis vellet audire. Zuerst muss ich euch bitten, dass ihr mich nicht gleichsam für einen Philosophen haltet, der euch irgendeinen gelehrten Vortrag halten will: Das habe ich ja nicht einmal bei den Philosophen selbst jemals besonders gutgeheißen. Wann hat denn Sokrates, den man mit Recht als den Stammvater der Philosophie bezeichnet, so etwas getan? Das war die Sitte derer, die man damals Sophisten nannte; als erster aus ihrer Schar hat Gorgias von Leontinoi es gewagt, in der Versammlung zu einer Frage herauszufordern, das heißt Auskunft zu erheischen, worüber man ihn hören wollte.

Die bereits von Crassus in De oratore formulierte Ablehnung eines belehrenden Vortragsstils wird nun von Cicero selbst als Dialogfigur innerhalb eines neuen dialogischen Universums vorgetragen, wodurch die Wichtigkeit dieses Punktes in dem etwa zehn Jahre später erschienenen Werk unterstrichen wird. 517 Der Philosophenstatus wird dabei nicht per se abgelehnt, sondern differenziert. Als Modell eines nicht gelehrt auftretenden Philosophen wird Sokrates, an den Cicero anknüpfen möchte, präsentiert. Als negativer Gegenpol zu diesem wird der Sophist Gorgias genannt, dessen Vorgehen von den späteren Vertretern seiner Schule übernommen worden sei. 518 Die Dialogfigur gibt sich damit nicht nur dezidiert als Akademiker zu erkennen, sondern macht auch deutlich, dass sie an die Tradition von Sokrates selbst anknüpfen möchte. 32F

3F

d)

Die Verwendung römischer exempla

Innerhalb der philosophischen Gegendarstellung greift Cicero häufig auf historische Beispiele von Persönlichkeiten zurück, welche ihre privaten Belange in besonders drastischer Form gegenüber den öffentlichen Erfordernissen der res publica zurückgestellt haben. Der Autor verfolgt damit mehrere Zielsetzungen, die im Zusammenhang mit seinen philosophischen wie auch politischen Intentionen gesehen werden müssen. Besonders deutlich zeigt sich dies daran, dass er im Kontext der philosophischen Argumentation bevorzugt exempla aus der gens Manilia heranzieht.519 So greift Cicero bereits in seinem ersten historischen Bei-

517 518 519

Vgl. Cic. de orat. 1,23. Vgl. Reid 1968, S. 104; Madvig 1874, S. 138. So erscheinen T. Manlius Imperiosus Torquatus, der Konsul von 347, 344 und 340: Cic. fin. 1,23; 2,60f., 72; T. Manlius Torquatus, der Konsul von 165: 1,24; A. Manlius Torquatus, Praetor von 52: 2,72; L. Manlius Torquatus, Vater der Dialogfigur: 2,62;

441

De finibus bonorum et malorum 1 und 2

spiel ganz bewusst auf einen Träger des Namens „Torquatus“ zurück, mit dem er die Dialogfigur Torquatus konfrontiert. 520 Das Aufgreifen von Namen aus der gens folgt dabei einer doppelten Strategie des Autors: Einerseits wird die von Cicero postulierte gegenseitige Verbundenheit deutlich, indem er dessen Vorfahren in die Diskussion integriert und so zugleich an diese erinnert. Zum anderen erfährt das historische exemplum, mit dem gegen die epikureische voluptasKonzeption argumentiert wird, für seinen Gesprächspartner aufgrund der verwandtschaftlichen Relation eine besondere Gewichtung. Ein Beispiel, das beide Aspekte veranschaulicht, findet sich in der letzten Hälfte des zweiten Buchs: 521 35F

36F

Fortemne possumus dicere eundem illum Torquatum? – delector enim, quemquam te non possum, ut ais, corrumpere, delector, inquam, et familia vestra et nomine. et hercule mihi vir optimus nostrique amantissimus, Aulus Torquatus, versatur ante oculos, cuius quantum studium et quam insigne fuerit erga me temporibus illis, quae nota sunt omnibus, scire necesse est utrumque vestrum. quae mihi ipsi, qui volo et esse et haberi gratus, grata non essent, nisi eum perspicerem mea causa mihi amicum fuisse, non sua, nisi hoc dicis sua, quod interest omnium recte facere. Können wir eben jenen Torquatus dann noch tapfer nennen? Es macht mir nämlich Freude, obwohl ich dich, wie du sagst, damit nicht bestechen kann, aber es macht mir ausgesprochene Freude, den Namen eurer Familie zu nennen. Dabei steht mir wahrhaftig Aulus Torquatus vor Augen, der vortreffliche Mann, der so große Sympathie für mich empfand. Wie groß und wie auffallend sein Engagement für mich in jener Zeit, die alle kennen, gewesen ist, muss jeder von euch beiden wissen. Dieses Verhalten wäre für mich selbst, der ich mich dankbar zeigen und als dankbar gelten will, nicht dankenswert, wenn ich nicht sicher wüsste, dass er um meinetwillen, nicht aus Eigennutz, mein Freund gewesen ist, es müsste denn sein, du bezeichnest das als Eigennutz, dass es im Interesse aller liegt, richtig zu handeln.

Cicero nutzt bewusst das Beispiel des T. Aulus Imperiosus Torquatus, um die Konsequenzen der epikureischen Ethik zu veranschaulichen, als er sich der Frage widmet, ob es nach dem epikureischen Tugendbegriff überhaupt eine Tugend wie Tapferkeit geben könne. Im Fall von A. Manilius Torquatus, dem Praetor von 52, der sich zur Entstehungszeit von De finibus im Exil befand, scheut er sich dabei auch nicht, die gegenseitige Sympathie herauszustellen (mihi vir opti-

520

521

zu Kontext und Aussage des Beispiels von Torquatus Imperiosus s. auch: Blösel 2015, S. 67f. Bereits im ersten Beispiel bezieht er sich auf den ersten Torquatus überhaupt (eum Torquatum, qui hoc primus cognomen invenerit): Cic. fin. 1,23. Ebd., 2,72.

442

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

mus nostrique amantissimus).522 Zugleich bringt er seine eigene Person ins Spiel, indem er eindringlich an den Beistand erinnert, den er während seines Exils von Aulus erhalten habe. Auf gleiche Weise ehrt Cicero den gleichnamigen Vater der Gesprächsfigur, den er als persönliches Vorbild nennt, durch das er sein Handeln stets mehr auf andere als auf sich selbst ausgerichtet hätte (ut omnibus potius quam ipsis nobis consoluerimus). 523 Die gegenseitige Verbundenheit mit dem Geschlecht der Torquati wird somit explizit herausgestellt. Cicero zeigt seinen Dank und seine Ehrerbietung nicht nur, indem er an jene Familie erinnert, sondern auch dadurch, dass er den verstorbenen Torquatus als Dialogfigur in seinem Dialog verwendet. Die memoria verweist jedoch auch auf den drastischen Charakter der epikureischen Philosophie, nach der man im Rahmen des Beispiels jenem alten Torquatus die Tapferkeit ausschlagen und die beschworene Freundschaft hinterfragen müsste. Wie in anderen Werken dienen die römischen Beispiele dazu, die Übertragbarkeit philosophischer Modelle auf das römische Denken zu überprüfen. Während sich der epikureische Gesprächspartner darum bemüht, dieses im Sinne des Kepos zu interpretieren, betont Cicero die grundsätzliche Unvereinbarkeit der epikureischen Lehre mit dem mos maiorum. Andere römische Beispiele können als Beleg dafür gesehen werden, dass der Autor die Bühne des Dialogs dafür nutzt, Aussagen über die jüngere Zeitgeschichte zu treffen, in welcher der Dialog situiert ist. Dies zeigt sich vor allem im Fall von Crassus Dives und Pompeius: Während ersterer als Negativbeispiel für einen gerissenen und zugleich mächtigen Übeltäter geschmäht wird (non solum callidum […] vera etiam praepotentem), erinnert Cicero zugleich an Pompeius Magnus, dessen Handeln Dankbarkeit verdienen würde (cui recte facienti gratia est habenda). 524 Ob Cicero mit dieser posthumen Rühmung von Pompeius’ Konsulat sine collega beabsichtigte, Kritik an Caesars Bürgerkrieg zu üben, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Mehr Brisanz musste diese Anmerkung für den Widmungsträger Brutus haben, der entschieden gegen das damalige Amt eintrat und mit Pompeius, den er für den Tod seines Vaters verantwortlich machte, erst nach langwierigen Überredungsbemühungen Frieden schloss. Dass er jenes Lob gegenüber Torquatus und Triarius – zwei bis zuletzt entschiedenen Pompejanern – vorbringt, bringt zumindest nach außen hin eine politische Gemeinsamkeit zum Ausdruck. Neben Familienmitgliedern der Manili Torquati finden noch weitere Freunde Ciceros als exempla Erwähnung, etwa Gnaeus Octavius 525 oder Atticus, auf dessen historisches Werk er aufmerksam macht. 526 38F

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Vgl. Münzer 1928, Sp. 1196; Fündling 1999, Sp. 825f. Insgesamt sind vier an Aulus Torquatus gerichtete Briefe aus dem Jahr 46 erhalten: Cic. fam. 6,1–4 = 242–245 Sh. B.; aus einer Erwähnung in Nepos’ Atticusbiographie (Nep. Att. 11,2) geht hervor, dass er zum Zeitpunkt des Erscheinens von De finibus noch am Leben war. Cic. fin. 2,62. Ebd., 2,57. Ebd., 2,93. Ebd., 2,67.

De finibus bonorum et malorum 1 und 2

443

Eine weitere Präferenz bei der Wahl seiner historischen Beispiele nehmen auch in De finibus Personen ein, die er bereits in früheren Dialogen auftreten ließ, wie etwa Laelius, Scipio oder Manilius. 527 Laelius erscheint einmal als Figur aus den Satiren des Lucilius, ein anderes Mal wird auf seinen Vortrag über die Gerechtigkeit in De re publica verwiesen, wo er bereits ausführlich über den menschlichen Sinn für Zuverlässigkeit, Billigkeit und Gerechtigkeit a natura gesprochen habe. 528 Die Referenz auf das Werk lässt dabei keinen Zweifel, dass Cicero selbst der Urheber seiner Rede ist (multa in nostris de re publica libris sunt dicta a Laelio), wodurch eine Verbindung der dialogischen Universen, wie wir sie zwischen De re publica, Laelius und Cato maior beobachten konnten, ausbleibt. Durch die Verweise auf ihr literarisches Schaffen zeigt sich die Dialogfigur gegenüber dem Leser erneut in der Maske des Autors, der auch als solcher erkannt werden möchte. Auf die von ihr angewandte Technik historischer Argumentation wird die Cicero-Figur von Torquatus explizit angesprochen (vestra se oratio, tua praesertim, qui studiose antiqua persequeris), um diese mit der These für hinfällig zu erklären (id totum evertitur), dass alles Handeln aus einem Lustkalkül entspringt. 529 Das Verwenden historischer Beispiele, das der Autor bekanntermaßen nicht nur innerhalb seiner Dialoge praktiziert, sondern auch im Kontext politischer Reden, in denen er an die „Sittlichkeit“ (honestas) seiner Zeitgenossen appelliert, wird als ein Charakteristikum herausgestellt. Cicero fungiert dabei selbst als exemplum für die philosophische Diskussion. So wie die Freundschaft Ciceros zu Aulus Torquatus durch Epikurs voluptas an Substanz verliert, so steht nun eine beliebte Angewohnheit in der öffentlich-politischen Diskussion zur Disposition. Im Kontext der epikureischen Argumentation für die Gerechtigkeit tritt der Autor erneut selbst als exemplum auf, indem Torquatus auf Ciceros Konsulat und die catilinarische Verschwörung verweist, bei der sich die improbi selbst verraten hätten. 530 Die Bewertung des historischen Ereignisses selbst steht dabei abseits der philosophischen Diskussion, doch wird durch die Verwendung der geschichtlichen Beispiele bewusst eine Verknüpfung zwischen den philosophischen Themen und der römisch-aristokratischen Lebenswelt hergestellt. Als Messlatte fungieren allerdings nicht nur die exempla berühmter Persönlichkeiten, sondern auch die politische Praxis selbst. Die Praxis der römischen Politik und der epikureische Grundsatz, alles zu tun, was einen Lustgewinn bewirke, seien im öffentlichen Raum – beim Antritt eines Amtes, vor dem Gericht oder vor dem Senat – nicht vereinbar. 531 Der politische Schwerpunkt in der Gegenargumentation zeigt nicht nur Ciceros pragmatischen Zugang zur Philoso43F

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Cic. fin. 2,24f., 105, 106. Ebd., 2,24, 59. Ebd., 1,36. Ebd., 1,50. Ebd., 2,74.

444

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

phie. Indem die Tagespolitik im Fokus der ethischen Diskussion steht, wird auch die dignitas jener Philosophie indirekt belegt. Der Vorwurf einer grundsätzlichen Unverträglichkeit der behandelten Lehre mit der römischen Lebenspraxis wird auch gegenüber der Stoa im nächsten Teilgespräch erhoben, wodurch der Vortrag Pisos antizipiert wird, der die Verbindung seiner Schule zur Politik als großen Vorzug des Peripatos preist. 532 48F

e)

Ciceros Auftreten im Rahmen der Gesprächsethik

Als weiterer Teil des politisch-römischen Profils fällt der Umgangston der Dialogfigur auf. Trotz seiner bekanntlich entschiedenen Ablehnung der Lehre Epikurs bleibt dieser gegenüber Torquatus stets freundlich. Wie zentral die Frage nach dem angemessenen Tonfall für eine philosophische Untersuchung für den Autor ist, zeigt sich daran, dass bereits im Vorfeld von Torquatus’ Gegenrede darüber dezidiert reflektiert wird: 533 49F

Quam ob rem dissentientium inter se reprehensiones non sunt vituperandae, maledicta, contumeliae, tum iracundiae, contentiones concertationesque in disputando pertinaces indignae philosophia mihi videri solent. Darum sind bei Vertretern unterschiedlicher Standpunkte kritische Einwände nicht zu tadeln, doch Schmähungen oder Beschimpfungen und erst recht Wutausbrüche, Streitereien und hitzige Wortgefechte bei einer Diskussion, die passen, wie mir scheint, nicht zur Würde der Philosophie.

Die dignitas der Philosophie, die Cicero im Proömium als gleichrangig gegenüber seiner dignitas als römischer Politiker einstufte, wirkt normierend auf das Gespräch. 534 Das humanitas-Denken offenbart sich nicht zuletzt dadurch, dass im aristokratischen Zirkel ein Herabsetzen der Person des Gesprächspartners (vituperae, maledicta, contumeliae) sowie ein zornerfülltes Verhalten und „hitzige Wortgefechte“ (iracundiae, contentiones concertationesque), die an den politischen Betrieb auf dem Forum erinnern, gemieden werden sollen. Der von der Dialogfigur des Autors vertretene Vorsatz erhält innerhalb des von ihm gezeichneten intellektuellen Milieus die volle Zustimmung des Mitunterredners, noch bevor dieser mit der Verteidigung der epikureischen Sittenlehre beginnt. 535 Die Figur dient somit nicht bloß der philosophischen Suche nach dem summum bonum, sondern darüber hinaus auch zur Reflexion über die angemessene Art des Philosophierens. 50F

51F

532 533 534 535

Vgl. Gigon 1987, S. 237. Cic. fin. 1,27. Ebd., 1,1. Ebd., 1,28.

De finibus bonorum et malorum 1 und 2

445

Die Vorträge beider Redner halten sich trotz der Unterschiedlichkeit der Meinungen strikt an diese Vorgabe und können als Muster für diesen Vorsatz gesehen werden. Wie Cotta in De natura deorum, so greift auch Cicero bisweilen auf einen stark polemischen Ton zurück, doch findet dabei stets eine Trennung zwischen der Person des Schulgründers Epikur und der seines römischen Vertreters statt. Gleich zu Beginn erfolgt eine direkte Anrede (Epicure) an den in der Gesprächsrunde nicht anwesenden Epikur, dessen Aussagen im weiteren Verlauf immer wieder, ähnlich wie in einem Kreuzverhör, herausgestellt werden. 536 Der rhetorische Charakter des Diskurses wird auch durch Abstrahierungen deutlich, mit denen die Personen selbst herausgenommen werden (non mihi cum Torquato, sed virtuti cum voluptate certatio). 537 Nicht Torquatus erscheint hier als Angeklagter, sondern sein Lehrmeister Epikur, dessen auctoritas dieser unkritisch zu folgen scheint, während Cicero vorgibt, der auctoritas der ratio zu folgen, um zu einem Urteil zu kommen. 538 Der Name des griechischen Schulgründers erscheint häufig in Verbindung mit beißender Ironie, wodurch dessen aus Ciceros Sicht überhöhte hierarchische Stellung innerhalb des dogmatischen Schulbetriebs karikiert wird. 539 Die „gewisse Gereiztheit“, welche Patzig Cicero gegenüber dem griechischen Philosophen attestierte, fehlt völlig, wenn er sich an seinen römischen Anwalt wendet. 540 Torquatus’ Person, die im folgenden Kapitel untersucht werden soll, wirkt nicht weniger präsent, indem ein erstaunlich großer Teil der historischen exempla auf seine Persönlichkeit zugeschnitten ist und seinen gesellschaftlich-politischen Rang herausstellt. 52F

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56F

f)

Zusammenfassung

Die Figur Cicero tritt wie zuvor in den Academici libri in dem Gewand eines Sokratikers auf, der dabei über ein erkennbar römisches Profil verfügt, wie durch die Beispielsetzung deutlich wird. Das Auftreten ist wie das der Hauptredner früherer Dialoge von dezidierter Freundlichkeit bestimmt, die den etwa eine Generation jüngeren Gesprächspartnern entgegengebracht wird. Darüber hinaus wird auf ein früheres Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Cicero und den Gesprächspartnern Bezug genommen, wie aus der Empfehlung der von Epikur geschmähten lyrischen Bildung deutlich wird. Trotz der humanitas der CiceroFigur, durch die ein positives Diskussionsklima bewahrt wird, veranschaulicht nicht zuletzt das Auftreten die Überlegenheit eines akademisch gebildeten Römers, dem durch seine universelle Bildung nicht nur ein größerer Fundus für seine Argumentation zur Verfügung steht, sondern darüber hinaus auch eine 536 537 538 539

540

Cic. fin. 2,22. Ebd., 2,44. Ebd., 2,39. Ebd., 2,28 (est enim tanti philosophi tamque nobilis audacter sua decreta defendere), 29 (severus et gravis philosophus), 70 (vestrum lumen). Vgl. Patzig 1979, S. 315.

446

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

dialektische Methode, um diesen anwenden zu können. Der freiwillige Verzicht auf ein sokratisches Frage-Antwort-Verfahren deutet an, dass der Autor auch dieses beherrscht und sich nur aus Rücksicht auf den Gesprächspartner der einfacheren Form des fortlaufenden Vortrags bedient.

4.2

L. Manlius Torquatus

a)

Historische Persönlichkeit

Mit Lucius Manlius Torquatus lässt Cicero eine Person aus hochadligem Geschlecht auftreten, in dessen gleichnamigem Vater (ca. 108–55) er einen Freund und Unterstützer während seines Konsulats und der Verbannung hatte. 541 Ein erstes öffentliches Wirken als adulescentulus lässt sich für das Jahr 66 nachweisen, in dem Torquatus seinen Vater als Redner bei dem ambitus-Verfahren gegen die gewählten Konsuln unterstützte. 542 Während dieser im Jahr 65 selbst Konsul wurde, erlangte er das Amt des Münzmeisters und trat mit Hilfe Cottas in das Kollegium der Quindecemviri sacris faciundis ein. 543 Nach der catilinarischen Verschwörung klagte er 62 P. Cornelius Sulla wegen Teilnahme an derselben an und unterlag in einem mit leidenschaftlicher Härte geführten Prozess der Verteidigung durch Hortensius und Cicero. 544 Seine Quaestur und Aedilität lassen sich zeitlich nicht exakt bestimmen, doch erfahren wir, dass er sich im Jahr 49 als Praetor vor dem herannahenden Caesar aus Alba zurückzog. 545 Geht man davon aus, dass er bei seiner Praetur das Mindestalter von 40 Jahren erreicht hatte, dürfte er spätestens 89 geboren und zum Dialogzeitpunkt Ende 30 gewesen sein. Mit der Dialogfigur bleibt Cicero seiner Linie treu, in seinen Dialogen an Verstorbene zu erinnern. Im Fall des Torquatus handelt es sich um einen Bürgerkriegsteilnehmer, der wie der jüngere Cato gegen Caesar kämpfte und nach der Niederlage bei Thapsos Suizid beging. 546 Plinius bezeugt, dass er sich neben Politik auch mit der Dichtung beschäftigte. 547 Ein grundsätzliches Interesse daran legt auch Catulls Epithalamion nahe, das möglicherweise ihm, oder zumindest einem engen Verwandten gewidmet ist. 548 Der Tod im Kampf gegen Caesar sowie seine Abstammung aus der durch den Kampf gegen die Gallier symbol57F

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Vgl. Münzer 1928, Sp. 1199–1203, bes. 1202f. Vgl. ebd., Sp. 1203; TLRR 201. Vgl. Münzer 1928, Sp. 1203f.; MRR 2, S. 485. Vgl. Münzer 1928, Sp. 1204; zur Rolle des Torquatus in diesem Prozess s.: TLRR 234 u. Alexander 1999. Caes. civ. 1,24,3; vgl. MRR 2, S. 257. Zu Torquatus’ Teilnahme am Bürgerkrieg sowie zu seinem Ende s.: Münzer 1928, Sp. 1206f. Plin. epist. 5,3,5. Catull. 61,209–218; vgl. Fündling 1999, Sp. 826.

447

De finibus bonorum et malorum 1 und 2

trächtigen Familie der Manlii Torquati, deren Sittenstrenge Cato bei der Verhandlung gegen die Catilinarier hervorhob, kennzeichnen die Wahl seiner Person im Vorfeld als potentiell politisch. 549 In dem im Jahre 46 erschienenen Dialog Brutus wird dem Torquatus zusammen mit Triarius als Bürgerkriegsopfer gedacht. Die Dialogfigur Cicero würdigt dort Torquatus, der eher als πολιτικός statt als rhetor zu bezeichnen sei, als eine Persönlichkeit von umfassenden literarischen Kenntnissen (plurumae litterae nec eae volgares, sed interiores quaedam et reconditae), herausragendem Gedächtnis, sprachlicher Eleganz und moralisch integrer Lebensführung (vitae decorabat gravitas et integritas). 550 Die politische Charakterisierung des Torquatus, die Cicero im Brutus vornimmt und die der historischen Persönlichkeit zu entsprechen scheint, erzeugt eine gewisse Spannung hinsichtlich der Rolle der Dialogfigur in De finibus, welche für eine apolitische Position wirbt und von politischem Einsatz abrät. Die Dialogfigur steht dahingehend in einem ähnlichen Spannungsfeld zwischen Begeisterung für griechische Philosophie und fester Verankerung innerhalb der römisch-aristokratischen Lebenswirklichkeit, wie es auch bei dem epikureischen Senator Velleius oder dem akademischen Oberpriester Cotta in De natura deorum beobachtet werden konnte. Die Erinnerung an Torquatus und Triarius im Brutus ist nicht nur hinsichtlich der Frage nach der Bildung der beiden historischen Persönlichkeiten interessant, sondern gibt darüber hinaus Aufschluss über ihr Verhältnis zum Autor und zu dessen Adressaten, M. Iunius Brutus. Bereits im Brutus weiß Cicero dies für sich zu instrumentalisieren, indem die Dialogfigur Brutus mit einem offenen Gefühlsausbruch auf die Erwähnung ihrer Namen (Torquati et Triari mentione commotus) reagiert und beklagt, dass Ciceros Friedensbemühungen erfolglos blieben (doleo mihi tuam perpetuam auctoritatem de pace valuisse). 551 Die Analogie zwischen ihrem Schicksal und dem der res publica wird durch die Dialogführung gezielt angestrebt und verweist dabei erneut auf die Politik des Autors. Aus der Erwähnung geht darüber hinaus hervor, dass beide Personen in einem besonderen Verhältnis zu Brutus standen, dem Widmungsträger von De finibus. Ihre Verwendung als Dialogfiguren in einem ihrem gemeinsamen Freund und Altersgenossen gewidmeten Werk kann nicht zuletzt im Zusammenhang mit der besonderen Kommunikation zwischen Cicero und Brutus gesehen werden. 552 65F

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Vgl. Peetz 2008, S. 186f.; Strasburger 1990, S. 449; Wassmann 1996, S. 239f. Cic. Brut. 265. Ebd., 266; zur Reaktion des Brutus s. unten S. 502 u. 524. Dass in der angeführten Stelle an beide als herausragende Individuen (excellentis viros) erinnert und zugleich sehr deutlich auf die politische Linie des Autors im Vorfeld des Bürgerkriegs verwiesen wird, unterstützt die von Cicero verfolgte Kommunikationsstrategie, Brutus von sich zu überzeugen.

448 b)

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Bildung und Stil der Torquatus-Figur

Die Dialogfigur Torquatus wird im Wesentlichen durch ihr philosophisches Profil bestimmt, das sich zunächst als das eines Verteidigers der Lehre Epikurs bestimmen lässt. Auf diese Funktion der Dialogfigur wird bereits im Proömium hingewiesen: 553 69F

accurate autem quondam a L. Torquato, homine omni doctrina erudito, defensa est Epicuri sententia de voluptate, a meque ei responsum, cum C. Triarius, in primis gravis et doctus adolescens, ei disputationi interesset. Gründlich ist aber Epikurs Auffassung von der Lust einst durch L. Torquatus, einen Mann von hoher Bildung und Gelehrsamkeit, dargestellt worden, und ich antwortete ihm, während C. Triarius, ein sehr ernsthafter und gelehrter junger Mann, an unserem Gespräch teilnahm.

Schon vor Beginn der eigentlichen Darstellung der epikureischen Lehrmeinung (sententia) wird vorausgeschickt, dass diese accurate vorgenommen worden sei. Ciceros erste Charakterisierung der Person des Torquatus stellt seine Bildung in den Vordergrund, die ähnlich wie im Brutus beschrieben wird: Als ein Mann von „höchster Bildung und Gelehrsamkeit“ (homine omni doctrina eruditio) fügt er sich in das personelle Universum des ciceronischen Dialogs nahtlos ein, wodurch auch in seinem Fall eine bestimmte Kompetenz suggeriert wird, die ihn zur Vorstellung einer griechischen Philosophenschule befähigt. 554 Diese habe er auch accurate vorgetragen. Die Hervorhebung dieser Eigenschaft kann zugleich als Teil einer postumen Würdigung des Verstorbenen gesehen werden. Darüber hinaus bewirkt dieses Profil des vortragenden Römers Torquatus eine gezielte Kontrastierung mit dem griechischen Philosophen Epikur, den Cicero immer wieder als wissenschaftlich schlecht gebildet 555 oder auch „wirr sprechend“ (confuse loquitur) 556 attackiert. Die persönliche Bildung ist erneut essentiell für das Dialoggeschehen. Wie in den bereits besprochenen Dialogen – mit Ausnahme von De natura deorum –, so wird auch in De finibus 1 deutlich, dass die Philosophie nicht das ursprüngliche Gesprächsthema darstellt, sondern erst aus einem anderen Gesprächsgegenstand heraus entsteht. Den Übergang von dem vorherigen Gesprächsthema Literatur hin zum eigentlichen Gegenstand des Werkes leistet Torquatus, indem er auf das otium verweist (sumus aliquando otiosum), welches den anschließenden Diskurs erst ermöglicht. 557 Die Tatsache, dass der historische Torquatus wohl über eine 70F

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Cic. fin. 1,13. Zur Bildung des Torquatus s. auch: Münzer 1928, Sp. 1203. Cic. fin. 1,26; vgl. Patzig 1979, S. 316. Cic. fin. 2,27. Ebd., 1,14.

449

De finibus bonorum et malorum 1 und 2

gewisse Bildung verfügt hat, verleiht ihm Zugang zu dem von Cicero kreierten Zirkel philosophierender Römer. Darüber hinaus schafft Cicero durch die Figur erneut eine Verbindung zu einer an Epikur interessierten Leserschaft, die von dem Autor eine ausführlichere Stellungnahme zum Epikureismus erfahren wollte (quid sit, quod Epicurum nostrum […] certe non probes). Die durch Torquatus an den Autor, einen Politiker konsularischen Ranges, herangetragene Frage nach dessen Haltung zur Philosophie Epikurs schafft den Rahmen für eine ausführliche Erklärung der eigenen Position. c)

Torquatus’ Auftreten als Epikureer

An dieser Stelle bleibt unklar, ob Torquatus hier eine Meinung vertritt, die aus der Cicero zum Epikureismus vorliegenden Quelle stammte und die der Autor selbst für plausibel hielt, oder ob er diese Position in einem realen Gespräch im Jahre 50 geäußert hat, wie es der bereits erwähnte Atticusbrief vermuten lässt. 558 Da die Lehre Epikurs als die einfachste von allen in De finibus zur Disposition stehenden Theorien charakterisiert wird (ut […] a facilimis ordiamur, prima veniat […] Epicuri ratio), 559 scheint der Verfasser für ihre Darstellung auf einfachere Quellen zurückgegriffen zu haben. 560 Der Vortrag ist gegliedert in eine aus acht Teilen bestehende confirmatio, worin er die Konzeption Epikurs von der voluptas als summum bonum und dem dolor als summum malum vorstellt, der sich eine kurze peroratio anschließt, in der Epikur gepriesen wird. 561 Wie in De natura deorum, so bemüht sich der Autor auch in De finibus, eine Harmonie zwischen dem Inhalt des Vortrags und der Person des Referenten herzustellen. Im Vergleich zu jenem Dialog lässt sich zunächst feststellen, dass sich Torquatus gegenüber Cicero deutlich weniger dogmatisch gebärdet als Velleius gegenüber Cotta, doch zeigt auch er Merkmale, die der Autor als typisch epikureisch wahrnahm. Hierzu gehört ein hohes Maß an Selbstbewusstsein, das auch in De finibus das Auftreten der Figur durchgehend bestimmt. Gleich zu Gesprächsbeginn, als Cicero versichert, ihm zuzustimmen, wenn er ihn überzeuge, offenbart sich das Selbstbewusstsein in der Siegesgewissheit des Torquatus (probabo […] modo ista sis aequitatte, quam ostenderis). 562 Diese bildet einen scharfen Kontrast zu Ciceros Auftreten, dessen akademisches Profil dadurch noch geschärft wird. Zu Beginn des zweiten Buches zeigt sich dies erneut, als die Cicero-Figur wissen möchte, ob sie Epikur gerade richtig zitiert habe, und der 74F

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558 559 560

561 562

Cic. Att. 7,2 = 125 Sh. B.,4. Cic. fin. 1,13; vgl. 1,27, 3,2f. Gigon nennt die Kyriai Doxai und περὶ τέλους als Hauptquellen, während das von Epikur für eine andere Leserschaft geschriebene περὶ φύσεως nicht in die Konzeptionalisierung passe. Patzig vermutet dagegen für den Vortrag des Torquatus eine jungepikureische Quelle: Patzig 1979, S. 315; vgl. Gigon 1987, S. 236. Zur Gliederung s. MacKendrick 1989, S. 132f. Cic. fin. 1,29.

450

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Autor Torquatus’ Reaktion als unerschrocken und sehr zuversichtlich (ille non pertimuit saneque fidenter […] inquit) schildert. 563 Die kurze Unterbrechung von Ciceros Vortrag zeigt Torquatus als selbstbewussten Kontrahenten, der bisweilen den Eindruck von Starrsinnigkeit erweckt. Dieser Eindruck wird durch das Ende des Gesprächs bestärkt, indem er zwar behauptet, selbst die gegen Epikur vorgetragenen Argumente widerlegen zu können, jedoch zunächst lieber zu anderen Epikureern gehen möchte, die dafür „gerüsteter“ (paratiores) seien. 564 Die Ablehnung eines sokratischen Frage-Antwort-Verfahrens zugunsten einer durchgehenden Rede (uti oratione perpetua malo quam interrogare aut interrogari) folgt ebenfalls dem Muster der epikureischen Schultradition, aus der kein Dialogwerk hervorgegangen zu sein scheint. 565 Aus dieser Haltung heraus protestiert die Dialogfigur Torquatus im zweiten Buch gegen Ciceros Vorgehen, der eigentlich nach sokratischem Muster fortfahren will: 566 79F

80F

81F

82F

Finem […] interrogandi, si videtur, quod quidem ego a principio ita me malle dixeram hoc ipsum providens, dialecticas captiones. Schluss mit den Fragen, wenn du einverstanden bist! Ich hatte ja schon zu Beginn erklärt, dass ich es so vorziehe; denn gerade das, die dialektischen Spitzfindigkeiten, sah ich kommen.

Erst sein entschiedener Einspruch führt zum Abbruch der von ihm als dialecticae captiones geschmähten Vorgehensweise im zweiten Buch, wodurch der Eindruck entsteht, dass Cicero nur ihm zuliebe auf dieses Verfahren verzichtet. Das rhetorische Vorgehen erfährt dabei durch den Dialog selbst eine Rechtfertigung. Die Person des Torquatus spiegelt hierin möglicherweise auch das Unbehagen des Autors, welches er selbst gegenüber sokratischen Wechselgesprächen empfand. Während Cicero jedoch seiner Dialogfigur eine offene Haltung und Vertrautheit mit beiden Vorgehensweisen zuschreibt, liefert er mit der des Torquatus einen Stellvertreter einer Leserschaft, die das sokratische Verfahren als zu diffizil ablehnt. Diesem setzt der römische Epikureer gezielt die Einfachheit seiner Lehre entgegen, die beinahe hymnenhaft gepriesen wird: 567 83F

O praeclaram beate vivendi et apertam et simplicem et directam viam! Welch herrlicher, gangbarer, einfacher und gerader Weg zu einem Leben in Glückseligkeit!

563 564 565 566 567

Cic. fin. 2,21. Ebd., 2,119. Ebd., 1,29. Ebd., 2,17. Ebd., 1,57.

451

De finibus bonorum et malorum 1 und 2

Neben dem Selbstbewusstsein und der Ablehnung der Dialektik lässt der panegyrische Ton gegenüber dem Schulgründer Epikur den Kontrast zwischen der Figur des Torquatus und der des Cicero deutlich hervortreten: 568 84F

Sed ut persicitatis, unde omnis iste natus error sit voluptatem accusantium doloremque laudantium, totam rem aperiam eaque ipsa, quae ab illo inventore veritatis et quasi architecto beatae vitae dicta sunt, explicabo. Damit ihr aber klar erkennt, woher der ganze Irrtum derer stammt, die die Lust anklagen und den Schmerz verherrlichen, will ich euch den ganzen Sachverhalt eröffnen und eben das klären, was jener Entdecker der Wahrheit und gleichsam Baumeister des glückseligen Lebens gesagt.

Die Figur des Epikur erfährt mit den Bezeichnungen „Entdecker der Wahrheit“ (illo inventore veritatis) und „Baumeister des glückseligen Lebens“ (architecto beatae vitae) die gleiche, fast kultische Anerkennung, die ihr durch Velleius in De natura deorum entgegengebracht wird und die eine gängige Praxis der Anhänger dieser Schule darstellte. 569 Der panegyrische Tonfall des Torquatus ist somit sinnbildlich für die vom Autor als dogmatisch und autoritätsgläubig geschmähte Weise des epikureischen Philosophierens. 85F

d)

Torquatus’ Auftreten im Kontext der Gesprächsethik und des Bildungsideals

Während sein epikureisches Profil hierin dem Auftreten des Epikureers aus De natura deorum stark gleicht, weist er zugleich deutliche Unterschiede zu dem sehr polemisch vorgehenden Velleius auf. Eine signifikant größere Offenheit des Torquatus zeigt sich bereits darin, dass er zu Beginn seines Vortrags auf zwei unterschiedliche Gruppen von Anhängern des Epikur eingeht. 570 Die Grundannahme, wonach in der voluptas das höchste Gut und im dolor das höchste Übel liege, würde von der einen Gruppe ausschließlich durch Sinnesurteile bewiesen, während die zweite, zu der er sich selbst zählt (alii autem, quibus ego assentior), die Notwendigkeit von „Argumentation“ (argumentandum), „gründlicher Erörterung“ (accurate disserendum) und methodisch ausgeklügelter „Diskussion“ (disputandum) ausdrücklich anerkenne. 571 Durch dieses grundsätzliche Zugeständnis wird bereits zu Beginn des Vortrags deutlich, dass Torquatus’ philosophisches Auftreten sich vom „starren Dogmatismus“ des Epikureers in De 86F

87F

568 569

570 571

Cic. fin. 1,32. Die unter den Epikureern übliche Heroisierung der Person Epikurs stellt nach Erler den Versuch dar, die „rational begründete Lehre mittels religiöser Formen auszudrücken“: Erler 1994, S. 207. Cic. fin. 1,31. Vgl. Spahlinger 2005, S. 76.

452

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

natura deorum klar unterscheidet. 572 Seine Offenheit lässt ihn überzogene polemische Kritik an anderen Schulmeinungen meiden und macht ihn für das philosophische Gespräch zu einem deutlich interessanteren Gesprächspartner, der zur Darlegung seiner Theorie nun ein ganzes Buch einnimmt und für dessen Widerlegung Cicero ein weiteres anfügt. Es verwundert daher nicht, dass Torquatus den von Cicero geforderten Grundregeln für das philosophische Diskutieren – wie dem Verzicht auf eine Herabsetzung des Gegners und auf Wutausbrüche 573– explizit zustimmt (prorsus […] assentior). 574 Die Erinnerung an die von Cicero als angemessen empfundene Kultur philosophischer Auseinandersetzung gibt dabei den Rahmen für das folgende Gespräch vor. Trotz der bereits sichtbar gewordenen Unterschiedlichkeit der Positionen der Dialogfiguren Torquatus und Cicero soll das Gespräch in jenem Umgangston geführt werden, der bereits in De oratore bestimmend war. Die Affirmation dieses Ideals erfolgt somit nicht nur durch eine einzelne Wortmeldung des Stellvertreters des Autors, sondern durch den Dialog selbst. Bereits in dieser Einigung auf gemeinsame Grundlagen des philosophischen Austausches lässt sich die performative Realisierung des Ideals erkennen, indem Torquatus sich erst vergewissert, seinem Gesprächspartner nicht lästig zu sein (nisi molestum est). 575 Durch diese Apposition und Ciceros Bereitschaft, ihm zuzuhören, erfolgt zugleich die Konstituierung und Bekräftigung der Gesprächsnormen. Während Torquatus damit grundlegende Gedanken des Autors zur Gesprächsethik übernimmt, bildet er einen Gegenpol zu dessen Bildungstheorie, indem er die im ersten Buch vorgetragene komprimierte Kritik an Epikur explizit aufgreift. Da Cicero im Finale seiner gewollt provokanten Polemik beide Gesprächspartner dezidiert als Gegenbeispiele für Epikurs Bildungskritik angeführt hat 576, nimmt Torquatus in seinem Schlusswort die Person des Schulgründers in Schutz und stellt den Begriff der eruditio auf den Prüfstand: 577 8F

89F

90F

91F

92F

93F

An ille tempus aut in poëtis evolvendis, ut ego et Triarius te hortatore facimus, consumeret, in quibus nulla solida utilitas omnisque puerilis est delectatio, aut se, ut Plato, in musicis, geometria, numeris, astris contereret, quae et a falsis initiis profecta vera esse non possunt et, si essent vera, nihil afferrent, quo iucundius, id est quo melius viveremus, eas ergo artes persequeretur vivendi artem tantam tamque et operosam et perinde fructuosam relinqueret? Non ergo Epicurus ineruditus est, sed ii indocti, qui, quae pueros non didicisse turpe est, ea putant usque ad senectutem esse discenda.

572 573 574 575 576 577

Spahlinger 2005, S. 77. Cic. fin. 1,27. Ebd., 1,28. Ebd. Ebd., 1,25. Ebd., 1,72.

453

De finibus bonorum et malorum 1 und 2

Hätte er aber seine Zeit darauf verwenden sollen, Dichter zu erklären, so wie ich und Triarius es unter deinem Einfluß tun? Darin steckt kein wirklicher Nutzen, sondern nur kindisches Vergnügen. Oder hätte er sich wie Platon mit Musik oder Geometrie, mit Algebra oder Astronomie beschäftigen sollen? Diese Wissenschaften gehen von falschen Voraussetzungen aus, können also nicht die Wahrheit treffen, und wenn sie sie träfen, würden sie nichts leisten, was zu einem angenehmen, das heißt zu einem besseren Leben, beiträgt. Hätte er sich also diesen Künsten widmen sollen, aber auf die so wichtige und so beschwerliche, zugleich aber jedoch so fruchtbare Kunst der Lebensführung verzichten sollen? Nein, Epikur zeigt keinen Mangel an Bildung, sondern es fehlt denen an Gelehrsamkeit, die glauben, sie müssten bis ins hohe Alter Dinge lernen, die sie als Kinder blamablerweise nicht gelernt haben.

Torquatus reagiert auf den provozierenden Vorwurf, Epikur habe es an wissenschaftlicher Bildung gefehlt, nicht weniger polemisch, indem er die Kritiker epikureischen Bildungsdenkens als ungebildet (indocti) bezeichnet. Dass die epikureische Kritik an den artes liberales aus seinem Mund vorgetragen wird, zeigt ein vom Autor beabsichtigtes Spannungsfeld zwischen der Person des Römers Torquatus, welcher der Dichtung sehr zugetan war, und der Philosophie Epikurs, die dieser kritisch gegenüberstand, auf. 578 94F

e)

Politisch-römisches Profil der Torquatus-Figur

Das philosophische Profil der Dialogfigur steht darüber hinaus in einem deutlichen Spannungsfeld mit einem typisch-römischen Gepräge, das mit der historischen Persönlichkeit der Vorlage verbunden ist. Diese Ambivalenz der Dialogfigur, der überzeugte Jünger Epikurs auf der einen Seite und das Mitglied einer alten römischen Familie auf der anderen Seite, wird von dem Autor kunstvoll in das Werk einbezogen. Die Dialogfigur des Autors greift gezielt auf die Genealogie der Manilii Torquati zurück und führt deren Ahnen als exempla an, um die epikureische Konzeption der voluptas als summum bonum des Irrtums zu überführen. Die bereits in der kurzen Gesamtkritik Ciceros aufgezeigte Ahnenreihe spannt geschickt den Bogen vom dreimaligen Konsul T. Manilius Torquatus (cos. 347, 344, 340) über den gleichnamigen Konsul von 165 bis zur Dialogfigur selbst, was im zweiten Buch in ähnlicher Weise wiederholt wird. 579 Der Umstand, dass sie in der Argumentation als Spross einer alterwürdigen Ahnenreihe präsentiert wird, soll die Unvereinbarkeit des römischen Staatsmanns mit der Theorie des Kepos veranschaulichen. Durch die Dialogfigur Torquatus gelingt es dem Autor, zwei wichtige Aspekte seines Schaffens zum Ausdruck zu bringen: zum einen die Übertragung eines griechischen Diskurses in den Bereich römischer Alltagspolitik, zum anderen die persönliche Ehrerbietung gegenüber der 95F

578 579

Zur Problematik der epikureischen Dichtungskritik s. Classen 1993, S. 114f. Cic. fin. 1,23–25; 2,60–63; ferner: 2,72f.

454

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Person und Familie der Dialogfigur, wie das Ende der Ahnenkette im zweiten Buch anschaulich zeigt: 580 96F

Te ipsum, dignissimum maioribus tuis, voluptasne induxit, ut adolescentulus eriperes P. Sullae consulatum? quem cum ad patrem tuum retulisses, fortissimum virum, qualis ille vel consul vel civis cum semper, tum post consulatum fuit! quo quidem auctore nos ipsi ea gessimus, ut omnibus potius quam ipsis nobis consuluerimus. Hat dich selbst, den so würdigen Spross deiner Ahnen, die Lust dazu gebracht, als noch ganz junger Mann dem P. Sulla das Konsulat zu nehmen? Als du es deinem Vater, diesem überaus tatkräftigen Mann, hattest zukommen lassen, was war das für ein Konsul und Bürger, zu jeder Zeit und ganz besonders nach seinem Konsulat! Nach seinem Vorbild habe ich selbst so gehandelt, dass ich eher für alle anderen sorgte als für mich.

Die historische Persönlichkeit des Torquatus selbst zeige die Realitätsferne der epikureischen Lustkonzeption. Die Tatsache, dass dieser über ein gewichtiges Ahnenkapital verfügt und darüber hinaus selbst politisch tätig ist, wird somit nicht verschwiegen, sondern zum zentralen Bezugspunkt der ciceronischen Gegenargumentation. Torquatus reagiert allerdings nicht mit Passivität auf Ciceros strategische Argumentation. Er erkennt dessen Strategie bereits im ersten Buch und versucht, sich jene zu eigen zu machen, indem er die ins Spiel gebrachten Torquati als Belege für die epikureische Theorie deutet 581 und in einem weiteren Schritt seinerseits Cicero als exemplum für Diskutanten heranzieht, die mit den Beispielen berühmter Männer und ihrer Taten (claris et fortibus viris commemorandis eorumque factis) den Ruhm der Sittlichkeit preisen (honestatis decore laudandis). 582 Unabhängig von der Frage, inwieweit die Themenstellung bereits durch vom Autor verwendete griechische Quellen vorgegeben war, kann konstatiert werden, dass die Diskussion über den Rang der gloria von Anfang an auf ein römisches Terrain übertragen wird. Die durch die Dialogfiguren beförderte Romanisierung des Diskurses zeigt dabei nicht nur die grundsätzliche Möglichkeit auf, eine philosophische Debatte auf die lateinische Sprache und den römischen Kulturraum zu übertragen, sondern trägt darüber hinaus auch dem Leser Rechnung. Doch nicht nur sein Ahnenkapital ist in der Gegenrede stets präsent. Dass die Dialogfigur auch für eine Persönlichkeit steht, die zum dramatischen Dialogzeitpunkt noch über politische Aufstiegschancen verfügt, wird explizit durch Cicero hervorgehoben: 583 97F

98F

9F

580 581 582 583

Cic. fin. 2,62. Ebd., 1,34f. Ebd., 1,36. Ebd., 2,76.

455

De finibus bonorum et malorum 1 und 2

Dic in quovis conventu te omnia facere, ne doleas. si ne hoc quidem satis ample, satis honeste dici putas, dic te omnia et in isto magistratu et in omnia vita utilitatis tuae causa facturum, nihil nisi quod expediat, nihil denique nisi tua causa: quem clamorem contionis aut quam spem consulatus eius, qui tibi paratissimus est, futuram putas? Eamne rationem igitur sequere, qua tecum ipse cum tuis utare, profiteri et in medium proferre non audeas? at vero illa, quae Peripatetici, quae Stoici dicunt, semper in senatu. officium, aequitatem, dignitatem, fidem, recta, honesta, digna imperio, digna populo Romano, omnia pericula pro re publica, mori pro patria, haec cum loqueris, nos barones stupemus, tu videlicet tecum ipse rides. Sag nur in einer beliebigen Versammlung, dass du alles tust, um keinen Schmerz zu leiden. Wenn du der Meinung bist, nicht einmal diese Forderung sei eindrucksvoll und ehrenhaft genug, dann sag, dass du in deinem Amte und in deinem ganzen Leben alles um deines Vorteils willen tun wirst, lediglich zu deinem Nutzen und überhaupt ausschließlich um deinetwillen. Was glaubst du wohl, was das für ein Geschrei der Volksversammlung geben wird und was für eine Hoffnung auf das Konsulat, das dir so leicht erreichbar ist! So willst du also einer Lehre folgen, an die du dich persönlich und mit den Deinen hältst, zu der du dich jedoch nicht öffentlich zu bekennen wagst? Dagegen führst du das, was die Peripatetiker und Stoiker erklären, stets vor Gericht und im Senat im Munde. Wenn du von Pflicht, Billigkeit, von Würde und von Treue redest, von dem, was richtig und sittlich geboten ist, wenn du davon sprichst, wie man allen Gefahren im Staatsinteresse trotzt und für das Vaterland stirbt, dann staunen wir Einfaltspinsel, während du dich selbst natürlich im Stillen amüsierst.

Erneut wird deutlich, wie präsent Torquatus als politische und historische Persönlichkeit in dem Vortrag Ciceros ist. Der Hinweis auf das für ihn erreichbare Konsulat ist im Kontext der Entstehungszeit durchaus mit einer Tragik verbunden, da die Fortsetzung der politischen Karriere durch den Bürgerkrieg unterbunden wurde, was dem Leser nicht entgangen sein dürfte. Cicero verwendet dabei bewusst die bei seinen Lesern noch präsente Erinnerung an die historische Persönlichkeit, die als öffentlicher Redner eine politische Rhetorik einsetzte, die in eher stoischer und peripatetischer Art das Staatsganze und das Gemeinwohl als Maxime vorgab. Die Dialogfigur würde sich daher selbst nicht an die ethischen Prinzipien seines Epikureismus halten, der sich hier aufgrund der Definition der Lust als summum bonum als Individualethik präsentiert. 584 Er selbst, dem politische Erklärungen vor dem Senat oder dem Volk bekannt seien, würde wissen, dass er dort niemals die voluptas als das Ziel seines politischen Handelns angeben könne. 585 Diesen Zwiespalt des Torquatus, im Rahmen des otium einem Weltbild verhaftet zu sein, dem er im Alltag selbst widerspricht, umgehen die Vertreter des Peripatos und der Stoa, die in den folgenden Einzelgesprächen zu Wort kommen. Der Epikureismus erscheint jedoch durch die Konfrontation mit 10F

10F

584 585

Vgl. Gigon/Straume-Zimmermann 2002, S. 466. S. auch: Cic. fin. 2,74.

456

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

dem öffentlichen Raum als Fremdkörper, dessen Grundsätze nicht nur dem römischen, sondern auch dem menschlichen Wesen widersprechen. 586 Die Figur des Torquatus illustriert dabei durch ihre Beschaffenheit den von Cicero gegen Epikur erhobenen Vorwurf eines performativen Widerspruchs zwischen Wort und Tat. 587 102F

103F

f)

Zusammenfassung

Es lässt sich somit festhalten, dass der Autor den Konflikt zwischen politischer Praxis und epikureischer Philosophie in der Figur des Torquatus deutlich stärker thematisiert als in der Figur des Velleius. Im Gegensatz zu Velleius stand er mit Torquatus, dessen Vater er auch als persönliches Vorbild nennt, in engerem persönlichen Kontakt. Seine Persönlichkeit steht dabei in einem engen argumentativen Kontext des Autors, der biographische Elemente gezielt in seinem Sinn nutzt. Neben der real-historischen Verbindung, die zwischen beiden Personen bestand, dürfte auch sein Tod im Kampf gegen Caesar zu einem positiveren Bild des Torquatus beigetragen haben. Die starke Präsenz der Dialogfigur in Ciceros Gegenrede – etwa durch Bezugnahme auf dessen Familiengeschichte oder Anspielungen auf seine politische Karriere – zeugt ebenfalls von einer inneren Verbundenheit, die der Autor für ihn zum Ausdruck bringen wollte. Sie hat somit nicht zuletzt den Charakter eines persönlichen Nachrufs, wie wir ihn auch bei Lucius beobachten konnten, wenn auch freilich in abgeschwächter Form.

4.3

C. Valerius Triarius

a)

Historische Persönlichkeit

Über das Leben des Gaius Valerius Triarius lassen unsere Quellen nur wenige Schlüsse zu. Aus dem Brutus erfahren wir, dass es sich auch bei ihm um einen Vertreter der aus Sicht Ciceros jüngeren Generation handelt. 588 Auch kann als gesichert gelten, dass er wie sein Altersgenosse Torquatus wenige Jahre vor der Abfassung von De finibus in den Wirren des Bürgerkriegs ums Leben kam, in dem er auf Seiten der Pompejaner gestanden hatte. 589 Ob er dabei ein überzeugter Anhänger des Pompeius war oder diesen – wie Brutus – aus pragmatischen Gründen Caesar vorzog, lässt sich aus den Quellen nicht erschließen; als Indiz für zweiteres könnte sprechen, dass sein Vater als Legat unter Lucullus gedient 104F

105F

586 587 588 589

Vgl. Peetz 2008, S. 188; Cic. fin. 2,80f. Zum Vorwurf des performativen Widerspruchs s. Peetz 2008, S. 188. Cic. Brut. 265f. Volkmann vermutet, dass Triarius in der Schlacht bei Pharsalus gestorben ist: Volkmann 1955, Sp. 234.

De finibus bonorum et malorum 1 und 2

457

hatte, der sich trotz mangelnder militärischer Kompetenz des Triarius für ihn stark machte. 590 Triarius stellte jedoch nicht nur ein berühmtes Opfer des ausklingenden Bürgerkriegs dar, er stand darüber hinaus mit Brutus in einem engen Verhältnis. 591 Aus dem Brutus erfahren wir weiterhin, dass er auch ein begabter Redner war, dessen Stil Cicero Freude bereitet habe (delectabat etiam Triari […] oratio) und von diesem hinsichtlich Mimik und Wortwahl (quanta severitas in voltu, quantum pondus in verbis) gelobt wird. 592 Triarius erscheint somit einerseits als überaus talentierter junger Mann, der auf dem besten Weg ist, ein großer Redner zu werden, andererseits birgt sein Name eine spürbare, mit dem Unglück der res publica verbundene Tragik, die sich durch seine Dialogfigur indirekt auf den Dialog De finibus überträgt. Dass der Verwendung als Dialogfigur ein gutes persönliches Verhältnis zwischen dem Autor und dem historischen Modell seiner literarischen Schöpfung zugrunde lag, lässt sich auch aus dem Briefkorpus schließen. Diesem entnehmen wir, dass niemand anderes als Cicero selbst aus persönlicher Wertschätzung für den Verstorbenen (amo illum mortuum) die Vormundschaft für Triarius’ Kinder übernahm. 593 Wie im Fall des Torquatus scheint er dessen Familie große Zuneigung und Wertschätzung entgegengebracht zu haben. 106F

107F

108F

109F

b)

Triarius’ Auftreten als doctus adolescens

Triarius erscheint zwar zusammen mit Torquatus in Ciceros Villa, vertritt jedoch selbst nicht die Lehre Epikurs und zeigt auch keine Anzeichen, mit dieser zu sympathisieren. Der als „sehr ernsthafter und gelehrter junger Mann“ (in primis gravis et doctus adolescens) eingeführte Gesprächsteilnehmer nimmt – wie die Figur des Lucius Cicero im fünften Buch – als überwiegend stummer Zuhörer teil. 594 Seine Bildung, im weiteren Sinne, ermöglicht es Cicero, ihn zusammen mit Torquatus in eine Polemik gegen die epikureische Ethik einzubeziehen, indem er auf die vielseitigen literarischen Interessen der beiden anspielt (quid huic Triario litterae, quid historiae, quid poëtarum evolutio, quid tanta tot versuum memoria voluptatis affert?). 595 Die kultivierte Lebenspraxis beider Personen ermöglicht es Cicero, die Unvereinbarkeit der voluptas-Lehre mit einer solchen herauszustellen, die nur durch das verbreitete Missverständnis der epikureischen Philosophie aufgehoben werden könne, welche in der Annahme bestünde, dass 10F

1F

590 591 592 593 594 595

Vgl. Volkmann 1955, Sp. 233. Zur Brutus’ Freundschaft mit Triarius und Torquatus s. unten S. 502 u. 524. Cic. Brut. 265. Cic. Att. 12,28 = 267 Sh. B.,3. Cic. fin. 1,13. Ebd., 1,25.

458

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

diese Dinge selbst voluptas brächten. 596 Die Biographie der Personen wirkt somit als Projektionsfläche für die Bildungskritik Epikurs. Da die Diskussion der epikureischen Moralphilosophie von den beiden anderen Gesprächsteilnehmern geführt wird, nimmt Triarius eine insgesamt zurückhaltende und passiv wirkende Rolle ein, die sich mit der eines aufmerksamen Beisitzers vergleichen lässt. Diese Funktion zeigt sich etwa im Anschluss an Ciceros einleitende Polemik, als er noch vor Torquatus das Wort ergreift: 597 12F

13F

Quae cum dixissem, magis ut illum provocarem quam ut ipse loquerer, tum Triarius leniter adridens: Tu quidem, inquit, totum Epicurum paene e philosophorum choro sustulisti. quid ei relinquisti, nisi te, ququomodo loqueretur, intellegere, quid diceret? aliena dixit in physica nec ea ipsa, quae tibi probarentur; si qua in iis corrigere voluit, deteriora fecit. disserendi artem nullam habuit. voluptatem cum summum bonum diceret, primum in eo ipso parum vidit, deinde hoc quoque alienum; nam ante Aristippus, et ille melius. addidisti ad extremum etiam indoctum fuisse. Als ich mich so geäußert hatte, mehr um ihn zu provozieren als um selbst zu reden, da ließ Triarius sich freundlich lächelnd vernehmen: „Was dich betrifft, so hast du ja den ganzen Epikur fast aus dem Kreis der Philosophen ausgestoßen. Was hast du ihm denn noch gelassen, außer dass du verstandest, was er meinte, gleichgültig wie er sich ausdrückte? Seltsame Thesen stellte er als Naturphilosoph auf und eben nicht eben solche, die dich überzeugten. Wenn er daran etwas verbessern wollte, machte er es nur noch schlimmer. In der Erörterung besaß er keinerlei System. Die Lust bezeichnete er zwar als das höchste Gut, doch erstens sah er darin noch zu wenig, und zweitens war auch das absonderlich. Denn das stand schon früher bei Aristipp, und bei ihm stand es besser. Schließlich hast du hinzugefügt, dass er sogar noch ungebildet war.“

Die Provokation des Hauptredners galt im genannten Kontext Torquatus, der lachend vorgetragene Einschub (leniter adridens) des Triarius erscheint durch das tum überraschend. Indem er aber Ciceros Kritik nochmals pointiert zusammenfasst, präsentiert er sich schon am Anfang des Dialoges als verständiger und aufmerksamer Teilnehmer. In seiner Zusammenfassung fällt darüber hinaus auf, dass er zwar sorgfältig die Hauptkritikpunkte Ciceros wiedergibt, jedoch gänzlich darauf verzichtet, hierzu ein abschließendes Urteil zugunsten einer der beiden Diskutanten abzugeben. Nach dieser Wortmeldung schweigt Triarius während des gesamten Vortrags des Torquatus im ersten Buch und kommt erst wieder im zweiten Buch zu Wort. Während seine erste Wortmeldung erst erfolgte, nachdem Cicero seine als Provokation gedachte Kritik beendet hatte, kommt die zweite deutlich überraschender. Triarius unterbricht Torquatus und zitert auf pointierte – aus objektiver 596 597

Cic. fin. 1,25. Ebd., 1,26.

459

De finibus bonorum et malorum 1 und 2

Sicht überzogene – Weise den zehnten Lehrsatz der κύριαι δόξαι, um die epikureische Definition der Lust anzugreifen: 598 14F

Hoc loco tenere se Triarius non potuit. Obsecro, inquit, Torquate, haec dicit Epicurus? quod mihi quidem visus est, cum sciret, velle tamen confitentem audire Torquatum. An dieser Stelle konnte Triarius nicht länger an sich halten: „Ich bitte dich, Torquatus“, rief er; „das behauptet Epikur?“ Dabei schien mir, dass er es wusste, aber trotzdem das Eingeständnis des Torquatus hören wollte.

Triarius’ Verhalten entspricht somit nicht dem eines neutralen Beobachters, vielmehr unterstützt es Cicero in seiner Gegenargumentation. Mit seiner Reaktion scheint die im zweiten Buch antizipierte Situation illustriert zu werden, wonach eine Position Epikurs sowohl in einer großen Menschenansammlung als auch in einem kleinen Kreis von Personen Unverständnis zur Folge haben müsse. 599 Nachdem Triarius während der Vorträge bis auf eine Wortmeldung stumm geblieben ist, spricht ihm Cicero am Dialogende die Rolle des Richters zu (sed erat aequius Triarium […] iudicare), worauf dieser antwortet: 600 15F

16F

Posthac quidem, […] audacius. nam haec ipsa mihi erunt in promptu, quae modo audivi, nec ante aggregiar, quam te ab istis, quos dicis, instructum videro. In Zukunft werde ich mich jedenfalls mutiger zeigen; dann wird mir nämlich auch das zu Gebote stehen, was ich eben hörte, und ich werde dich erst dann angreifen, wenn ich sehe, dass du dich von den genannten Männern hast belehren lassen.

Die an ihn herangetragene Richterrolle erinnert nicht zuletzt an die des Quintus und Atticus im fünften Buch 601 oder an die des jungen Cicero in De natura deorum, der dort sein eigenes iudicium anwendet. 602 Da es letzten Endes an ihm liegt, ein Urteil zu fällen, ähnelt seine Position der des Lesers des Werkes. Die Teilnahme an dem philosophischen Diskurs wird dabei mit einem erfolgreich beendeten Lernprozess verknüpft, der ihm in Zukunft ein mutigeres Auftreten (audacius) erlaube, wenn er mit seinem Altersgenossen Torquatus der Frage weiter nachgehen werde. Dass der eigentliche Diskurs noch keinen endgültigen Abschluss gefunden hat, was auf die generelle Bildungsintention des Autors 17F

18F

598

599 600 601 602

Cic. fin. 2,21. Zur Interpretation der Polemik gegen fr. 10 KD s. Bringmann 1971, S. 143. Ebd., 2,76f. Ebd., 2,119. Ebd., 5,96. Cic. nat. deor. 1,17; 3,95.

460

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

verweist, zeigt nicht zuletzt die Ankündigung, erst dann mit jenem zu diskutieren, wenn er sich bei seinen griechischen Lehrern weiter vorbereitet habe. c)

Triarius als Bezugspunkt in der Argumentation

Während er selbst sich im Gespräch nur selten zu Wort meldet, wird auf seine Anwesenheit immer wieder Bezug genommen. 603 Wie bei Torquatus geschieht dies dadurch, dass er als exemplum in die Argumentation Ciceros einbezogen wird, was sich nicht nur im Bereich der Bildung, sondern auch bei der Diskussion des epikureischen Konzepts der Freundschaft zeigt, wenn er auf den Lehrsatz, wonach Freundschaft nur aus Nützlichkeit gesucht werde (utilitatis causa amicitia est quaesita), entgegnet: 604 19F

120F

Num igitur utiliorem tibi hunc Triarium putas esse posse, quam si tua sint Puteolis granaria? Ja glaubst du etwa, dass dir unser Triarius mehr nützen kann, als wenn dir die Getreidespeicher von Puteoli gehörten?

Anhand des anwesenden Triarius unterzieht Cicero die inhaltliche Dimension des epikureischen Freundschaftsbegriffs einem sehr drastischen Praxistest: Gemessen an dem Kriterium des Nutzens kann Triarius als Freund nicht bestehen, so dass notwendigerweise das Kriterium hinterfragt werden muss. 605 Das Beispiel erfährt im Rahmen des Gesprächs durch die Anwesenheit der Dialogfigur und die amicitia zwischen ihm und Torquatus einen höheren Grad an Plastizität. 606 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass mit der Persönlichkeit des Triarius ein junger Römer auftritt, der sich für die Stoa interessiert, diese jedoch selbst nicht vertritt. Als somit nicht völlig neutraler Zuhörer des Gesprächs hält er sich seinem Alter entsprechend zurück und nimmt die Diskussion verständig und mit Wohlwollen auf. Wie im Falle des Torquatus kann über eine Affinität der historischen Persönlichkeit zu der von der Dialogfigur präferierten Philosophenschule nur spekuliert werden. Entscheidender ist die Erinnerung an die Person, die durch ihren Auftritt im Dialog erzeugt wird. Dass dieser einer rein politischen Motivation folgt, ist im Fall des mit Cicero wohlvertrauten Triarius zu bezweifeln, dennoch bedingt er einen politischen Subtext, der freilich nicht primär gegen Caesar gerichtet ist, sondern aus dem moralischen Krisenverständnis des Autors und seiner Zeitgenossen. 12F

12F

603 604 605 606

Cic. fin. 1,14, 25, 27, 72; 2,74, 84, 119. Ebd., 2,84. Vgl. Gigon/Straume-Zimmermann 2002, S. 468. Für eine solche spricht neben dem gemeinsamen Erscheinen im Dialog auch die Nennung zusammen mit Torquatus im Brutus: Cic. Brut. 265.

De finibus bonorum et malorum 3 und 4

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De finibus bonorum et malorum 3 und 4 Die Bücher drei und vier von De finibus liefern einen weiteren Dialog, den der Autor nach inhaltlichen Kriterien an den ersten anschließen lässt, der sich jedoch in Ort, Zeit und Personengefüge unterscheidet. In der Einleitung wendet er sich erneut an Brutus und erklärt, dass er sich bei dem Gespräch (sermo) mit Torquatus zwar nichts geschenkt habe, jetzt jedoch eine schwierigere Auseinandersetzung mit den Stoikern bevorstehe (acrior est cum Stoicis parata contentio). 607 Da deren Argumentation (disserendi genus), wie Brutus bezeugen könne, von scharfsinniger und spitzfindiger (subtile vel spinosum) Natur sei, lässt Cicero eine neue Gesprächseinheit mit unterschiedlichen Parametern folgen. Formal bleibt er dabei dem Schema treu, das Dialoggeschehen auf zwei Bücher aufzuteilen, sodass Buch 3 der Darstellung der stoischen Ethik mittels der Persönlichkeit des M. Porcius Cato dient, der er in Buch 4 selbst entgegnet. Der Zeitpunkt des fiktiven Gesprächs kann durch den dialoginternen Verweis auf die Nova lex de iudiciis des Pompeius auf das Jahr 52 v. Chr. datiert werden. 608 Während das erste Gespräch auf Ciceros Cumanum stattfand, bildet nun die nicht weit von seinem Tusculum gelegene Bibliothek der pompösen Villa des Lucullus, wohin er sich aufgemacht habe, um sich Bücher auszuleihen, den Rahmen des Gesprächs. 609 Eine einmalige Besonderheit des Gesprächskontextes stellt dabei die Zufälligkeit des Zusammentreffens dar 610 , denn der Erzähler erklärt, nicht gewusst zu haben, dass sich Cato auch dort befand (quem ibi esse nescieram). 611 Die Änderung des disserendi genus wird durch den Ortswechsel unterstrichen, indem die villa durch die bibliotheca ausgetauscht wird und die Zahl der Gesprächsteilnehmer sich von zuvor drei auf nur noch zwei verringert. Ähnlich der Szenerie von De natura deorum ist bereits ein Prozess der Wissensaneignung im Gange, bevor das eigentliche Gespräch beginnt. Der Fokus auf die Bücher stellt nicht nur von Anfang an die Belesenheit beider Dialogfiguren heraus, sondern untermalt auch die Grundstimmung des zweiten Gesprächs, indem die prächtige Ausstattung, für welche die Villa bekannt war, bewusst ausgeblendet wird. 612 Hinsichtlich der szenischen Ausgestaltung lässt sich eine 123F

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Cic. fin 3,2. Ebd., 4,1; vgl. Patzig 1979, S. 315. Cic. fin. 3,7; den Reichtum der Villa des Lucullus beschrieb Cicero im Hortensius, mit dem er sein philosphisches Spätwerk einleitete: Cic. Hort. frg. 2; 5 Grilli = 22–24 Str.-Z.; vgl. Gigon/Straume-Zimmermann 2002, S. 484f. Dies übersah Becker, der als generelles Charakteristikum des ciceronischen Dialogs angab, dass die Personenkonstellation, anders als bei Platon, nie zufällig sei: Becker 1938, S. 14. Cic. fin. 3,7. Vgl. Bringmann 1971, S. 147.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

deutliche Steigerung zum ersten Gespräch feststellen, was mit einer größeren Affinität Ciceros zur stoischen Lehre korreliert. 613 Der Dialog des dritten und vierten Buches von De finibus bonorum et malorum ist der erste aus den Philosophica, in dem Cicero nur zwei Personen als Sprecher auftreten lässt, ehe er dieses Muster in De divinatione und De fato wieder aufgreift. Der durch das Zwiegespräch gesteigerten Vertraulichkeit fällt damit die Rolle des jungen Zuhörers zum Opfer, die in den ersten beiden Büchern von De finibus durch Triarius, im fünften durch Lucius Cicero ausgefüllt wird. Während diese Stelle physisch frei bleibt, findet sich in dem jungen Lucullus, in dessen Bibliothek das Gespräch situiert ist, eine Art werkinterner jugendlicher Adressat, worauf im Folgenden einzugehen sein wird. 129F

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M. Porcius Cato Uticensis

a)

Historische Persönlichkeit

Mit M. Porcius Cato dem Jüngeren, auch Cato Uticensis genannt, lässt Cicero den im Jahr 95 geborenen Urenkel des Cato Censorius auftreten und schafft dadurch eine gewisse philosophische Tradition. 614 Die Diktatur des mit seinem früh verstorbenen Vater befreundeten Sulla erlebte Cato Uticensis nur als junger Heranwachsender, doch soll er nach dem Zeugnis des ihm positiv gestimmten Plutarch im Haus des Diktators verkehrt haben. 615 Seine Laufbahn nimmt zunächst den militärischen Weg: Nachdem er im Jahr 72 als Freiwilliger gegen Spartacus gekämpft hatte, kam er nach erfolgreicher Bewerbung 66 als Militärtribun zum Propraetor M. Rubrius nach Makedonien, wo er sich dem Urteil seines späteren Biographen zufolge ebenfalls bewährte und die Zuneigung der Soldaten gewann. 616 Ein wesentlicher Faktor für sein in der späteren Zivilkarriere strenges bis teils sogar rigides Auftreten als Politiker war offenbar seine stoische Ausbildung: So erfahren wir von Plutarch, dass er in seiner Jugend bei dem Philosoph Antipatros von Tyros lernte 617 und später den Philosophen Athenodoros von Kordylion, den er während seiner Zeit in Makedonien besucht habe, nach Rom gebracht habe, um mit ihm philosophische Gespräche zu führen. 618 Darüber hinaus habe er sich intensiv mit Büchern beschäftigt und Philosophen in seinem Gefolge geführt. 619 Neben seiner philosophischen Bildung bemühte er 130F

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So etwa: Bringmann 1971, S. 146f. Vgl. Miltner/Gross 1953, Sp. 168. Plut. Cato min. 3,2–3; zu den Erzählungen seiner Jugend s. Miltner/Gross 1953, Sp. 168. Plut. Cato min. 9,3; 12,1; vgl. Miltner/Gross 1953, Sp. 169f. Plut. Cato min. 4,1; s. hierzu auch: Jocelyn 1977, S. 336. Plut. Cato min. 10; 16,1; vgl. Miltner/Gross 1953, Sp. 171. Plut. Cato min. 20,1.

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sich noch vor Beginn der zivilen Karriere um umfassende Kenntnisse des römischen Rechts und der spezifischen Amtsbefugnisse, was sein späteres Auftreten maßgeblich bestimmte. 620 Dabei verfügte er bereits vor seiner Quaestur über eine hohe auctoritas, die auf seiner Abstammung von Cato Censorius und seiner Mitgliedschaft im Kollegium der decemviri sacris faciendis beruhte. 621 Das Amt des Quaestors nahm er 65 oder 64 ein und zeigte dabei ein striktes Amtsethos, das sich auch gegen weniger vorbildliche Beamte richten konnte. 622 Auf seine Amtszeit folgte eine Reise in die östlichen Provinzen des Reiches, bei der er sich mit Blick auf seine weitere Karriere über die regionalen Verhältnisse informierte. 623 Nach seiner Rückkehr nach Rom setzte er sich für den Triumphzug des mit seiner Stiefschwester verheirateten Lucullus ein und wurde für das Jahr 62 zu einem der zehn Volkstribunen gewählt. 624 In dieser Zeit kam es zu einem ersten Aufeinandertreffen mit Cicero, der den von ihm wegen ambitus angeklagten Murena verteidigte. 625 Dass er trotz der juristischen Niederlage und eines noch niedrigen Ranges bereits über ein hohes Ansehen verfügte, wird am Prozess gegen die Catilinarier im November 63 deutlich, in dem es ihm gelang, deren Hinrichtung gegen Caesars Vorschlag einer lebenslangen Haft im Senat durchzusetzen. 626 Das Vorgehen gegen Caesar, die Unterstützung des Lucullus und sein Engagement gegen Pompeius’ Antrag, seine Truppen gegen Catilina nach Italien zu beordern, brachten ihn bereits vor der Entstehung des Triumvirats in Gegnerschaft zu deren Akteuren. 627 Bei der Bekämpfung seiner mächtigen und zahlreichen Gegner setzte Cato ab 61 auf lange Dauerreden, durch die es ihm unter anderem gelang, Caesars Bewerbung für ein Konsulat zu verhindern. 628 Auf Initiative des Clodius, der von den Triumvirn unterstützt wurde, wurde er für die 136F

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Plut. Cato min. 16, 1f. In diesem Studium erkannte Miltner eine „ernsthafte Spezialvorbereitung“, die – wie im Fall des Pompeius – von „der klaren Absicht“ getragen worden sei, „zu einer wirklichen Verbesserung der Amtsführung zu gelangen“: Miltner/Gross 1953, Sp. 172. Die Datierung der Mitgliedschaft in dem Priesterkollegium ist in der Forschung umstritten und wird zwischen 75 und 65 angesetzt. Einen Überblick über die unterschiedlichen Positionen liefert: Van der Bloom 2012, S. 44, Anm. 26. Zur Datierung s.: MRR 2, S. 163; 3, S. 170f.; vgl. Franke 2001, Sp. 159. Vgl. Miltner/Gross 1953, Sp. 174. Vgl. ebd., Sp. 174f. Vgl. ebd., Sp. 175. Ciceros erhaltene Verteidigungsrede Pro Murena bezeugt, dass sich Catos philosophischer Unterricht offensichtlich auf seine uns nicht erhaltenen politischen Reden auswirkte und er in diesen keine Scheu zeigte, philosophische Dogmen einzubauen: Cic. Mur. 62 u. 64. Eine fundierte Untersuchung der Quellen zu den uns bekannten Reden bietet: Nelson 1950. Sall. Catil. 52,36; Cic. Sest. 61; vgl. Miltner/Gross 1953, Sp. 175. Vgl. Miltner/Gross 1953, Sp. 176f. Zu Catos Filibuster-Strategie s. Nelson 1950, S. 68. Als Caesar im Jahr 59 doch das Konsulat erlangte, kämpfte Cato in gleicher Weise gegen dessen Ackergesetz, was seine Inhaftierung zur Folge hatte. Vgl. Miltner/Gross 1953, Sp. 179.

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Jahre 58 bis 56 zur Vermögenseinziehung des Ptolemaios Auletes als quaestor pro praetore nach Zypern geschickt, wohin ihn sein Neffe M. Iunius Brutus begleitete. 629 Nach seiner Rückkehr setzte er sein Vorgehen gegen Pompeius und Caesar rigoros fort, indem er beispielsweise 55 Dauerreden gegen deren umstrittenes Gesetz zur Provinzverwaltung, die lex Trebonia, hielt und einen Antrag auf Auslieferung Caesars an die Germanen stellte. 630 Trotz seiner Erfolglosigkeit in diesen Angelegenheiten erhielt er 54 die Praetur und führte einen siegreichen Repetundenprozess gegen A. Gabinius, einen Anhänger des Pompeius, dem er sich in der Folgezeit annäherte, als der innere Konflikt unter den Triumviren immer offensichtlicher wurde. 631 Im Jahr 52, in dem Cicero das Gespräch stattfinden lässt, war die Annäherung soweit fortgeschritten, dass Cato die Wahl des Pompeius zum Consul sine collega vorschlug. 632 Im unmittelbaren Vorfeld des Bürgerkriegs lässt sich mit Botermann davon ausgehen, dass Cato bis kurz vor der Eskalation auf einen gemeinsamen Machtverzicht von Caesar und Pompeius gedrängt hat. 633 Nach dessen Ausbruch trat er demonstrativ im Trauergewand auf und führte nach der Niederlage von Pharsalos den Widerstand gegen Caesar in der Provinz Africa fort. 634 Wenige Tage nach der Niederlage von Thapsus am 6. April 45 beging er in der von ihm kontrollierten Stadt Utica Selbstmord, um einer Begnadigung Caesars zuvorzukommen. 635 Damit lieferte er nicht nur einen Akt des letzten Widerstands gegen einen siegreichen Feind, sondern auch den letzten Akt einer Selbststilisierung, welche die Auseinandersetzung um seine Person innerhalb der römischen Nobilität befeuerte. 636 Dem dadurch in Gang gesetzten, von Fehrle treffend als „literarischer Krieg“ bezeichneten und in der Verklärung Catos „als Vertreter des Prinzips der traditionellen Nobilitätsherrschaft“ endenden Prozess konnte sich Cicero nicht entziehen, vielmehr leistete er selbst einen aktiven Beitrag hierzu. 637 Bereits im Brutus finden sich erste Schritte, welche die spätere Verklärung begünstigten: Gegenüber Catos Neffe Brutus betont Cicero dort, dass sein Onkel der einzige Redner mit stoischer Bildung gewesen sei, der trotz seiner Affinität zu jener Schule eine meisterhafte Beredsamkeit erlangt habe (in quo perfectissi145F

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Vgl. Miltner/Gross 1953, Sp. 180f.; Franke 2001, Sp. 159. Vgl. Franke 2001, Sp. 159. Vgl. ebd., Sp. 159. Plut. Cato min. 44,6; vgl. Ducos 1994c, S. 243. S. hierzu: Botermann 1989. Trotz seiner Gegnerschaft zu Caesar scheint er sich damit der Gefahren der militärischen Eskalation bewusst gewesen zu sein. Obwohl er ohne Zweifel entschiedener als Cicero für die Sache der Optimaten kämpfte, gehörte er wie dieser nicht zu den treibenden Kräften, die den Beginn des Krieges beförderten, wie etwa die Marcelli. Vgl. Franke 2001, Sp. 159f. Vgl. ebd., Sp. 160. Vgl. Fehrle 1983, S. 280. Ebd.

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mo Stoico summam eloquentiam non desiderem) und daher gegenüber Fannius, Rutilius und Tubero eine positive Ausnahme darstelle. 638 Unabhängig davon, ob dieses Urteil zutreffend ist, trägt Cicero damit, wie Fehrle herausstellt, zur Assoziation der Persönlichkeit mit der Stoa bei, welche in den kurz darauf entstehenden Paradoxa Stoicorum noch gesteigert wird. 639 In diesen verfeinert er – erneut an dessen Enkel Brutus gerichtet – das Bild eines perfectus Stoicus, der sich in den Pausen zwischen den Senatssitzungen oft der anspruchsvollen Lektüre widmet und die Philosophie nicht nur zur Verbesserung der eigenen Rhetorik nutzt, sondern selbst ihre schwierigen Lehrsätze trotz drohender Widerstände konsequent vertritt. 640 Als weiterer Schritt Ciceros folgt der uns nicht erhaltene Cato, die laudatio, mit der er – und nicht dessen Sohn – die Verpflichtung der Totenehrung übernahm und in dem er die Tugend des Verstorbenen hervorhob. 641 Cicero erfüllte diese ihm von Brutus aufgetragene Aufgabe nicht ohne Bedenken, wie der Schriftverkehr mit Atticus belegt, in dem er von einem πρόβλημα Ἀρχιμήδειον spricht, 642 worin er sich bald bestätigt fühlen konnte, da kurz darauf Caesar selbst versuchte, mittels seines Anticato der Verklärung Catos entgegenzuwirken. 643 Betrachtet man das persönliche Verhältnis zwischen Cicero und Cato, so stellt man fest, dass dieses nicht von Anfang an von einer hohen Ehrerbietung geprägt war, wie aus der Atticuskorrespondenz deutlich wird. Gegenüber dem Freund äußert sich Cicero bereits im Jahr 60/59 abfällig über Catos philosophischen Idealismus, den er als hinderlich für politische Lösungen erachtete, etwa wenn Cato sich mittels einer Flut sinnloser Anträge einem Antrag der Steuerpächter entgegenstellte. 644 Als er ihn jedoch Ende 50 von Tarsus aus als Unterstützer für seine supplicatio gewinnen möchte, scheut er sich nicht, die Philosophie als beide verbindendes Element hervorzuheben (quae mihi tecum communis est) und sich ihm als Gesinnungsgenosse anzubiedern. 645 Anders als im Fall vieler anderer Dialogfiguren ist Catos Begeisterung für die Philosophie gut bezeugt. Wenn Cicero ihm gegenüber die Philosophie als Bindeglied anführt, verschweigt er dabei den völlig unterschiedlichen Zugang, den beide zu jener ars 154F

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Cic. Brut. 118. Vgl. Fehrle 1983, S. 282. Cic. parad. 1f. Inwieweit es sich dabei um eine Verherrlichung desselben gehandelt haben mag, wie Kierdorf annimmt, lässt sich aufgrund der wenigen Fragmente kaum feststellen. Richtig ist jedoch sicherlich, dass Ciceros Cato über eine übliche laudatio funebris hinausging, welche den Fokus auf die Trauer gerichtet hätte: Kierdorf 1978, S. 184; vgl. Fehrle 1983, S. 285–291. Cic. Att. 12,4 = 240 Sh. B.,2; Cic. orat. 35. Vgl. Franke 2001, Sp. 160; zur Cato-memoria durch die Werke Cato und Orator s. auch: Bringmann 2010, S. 255. Cic. Att. 1,18 = 18 Sh. B.,7; 2,1 = 21 Sh. B.,8. Cic. fam. 15,4 = 110 Sh. B.,16.

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vitae hatten und der im Rahmen der Dialoghandlung, wie zu zeigen sein wird, deutlich zum Vorschein kommt. 646 Indem Cicero die Figur in De finibus 3 und 4 als philosophischen Politiker präsentiert, bedient er sich eines in der römischen Öffentlichkeit vertrauten Bildes der historischen Person. Die Verwendung Catos muss im Kontext seiner Bemühungen gesehen werden, die memoria des gerade verstorbenen Staatsmannes positiv zu untermauern und vor einer Verzerrung seitens seiner siegreichen Gegner zu bewahren. Innerhalb dieses Unterfangens stellt der Auftritt in De finibus einen ersten Schritt dar, der bereits durch das Folgewerk, die Tusculanae disputationes, fortgesetzt wird, in dem sein Tod mit dem des Sokrates parallelisiert wird. 647 Im Folgenden soll gezeigt werden, wie Cicero die Dialogfigur in De finibus 3 und 4 als Philosoph und Politiker anlegt und dadurch ebenjene Synthese kreiert, die im Fokus seines staatspolitischen Denkens steht. Zuvor soll gezeigt werden, inwiefern die persönliche Verbundenheit der zwei Senatoren im Dialog der Selbstpräsentation des Autors zugutekommt. 162F

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b)

Catos Verhältnis zu Cicero und Auftreten im Bildungskontext

Die Dialogfigur übernimmt im dritten Buch die Rolle des Vortragenden und im vierten die des Zuhörers. Ihr Anteil am Gespräch ist dabei geringfügig kleiner als der Ciceros. 648 Sie erscheint gleich zu Beginn des Dialogs als Person, die mit dem Autor eng verbunden ist. Als dieser ihn in der Bibliothek sitzend antrifft, erhebt Cato sich augenblicklich (surrexit statim) und erklärt überrascht (quid tu […] huc?) ehrerbietig, dass er, wenn er von seiner Anwesenheit gewusst hätte, selbst zu ihm gekommen wäre (Si ibi te esse scissem, ad te ispse venissem). 649 Die gegenseitige Verbundenheit drückt sich darüber hinaus auch darin aus, dass sich beide die Aufgabe der Erziehung des jungen M. Licinius Lucullus, dem Sohn des als Hauptredner in den Academici Libri auftretenden Lucullus, zu teilen scheinen. 650 Cato, der wohl nur kurze Zeit vor dem Dialogzeitpunkt den etwa 164F

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Hinsichtlich des unterschiedlichen Zugangs erklärte Seel 1968, S. 143 treffend: „Cato sucht nicht, er hat. Er hat seine Dogmen wie ein Reglement, er weiß genau, was gut und was böse ist, hinter dem Panzer seiner Überzeugtheit und Unerschütterlichkeit wird kein schlagendes Herz spürbar, und die starre Disziplin seiner Haltung ist gewiss großartig, aber sie ist dies bis zur Unmenschlichkeit.“ Cic. Tusc. 1,74. Die Angleichung Catos erfordert, wie Görler anmerkt, eine dementsprechende Auslegung von Sokrates’ Hinrichtung als Freitod: Görler 2001, S. 247. Zum Gesprächsanteil in De finibus s. Dickey 1997, S. 584f. Cic. fin. 3,8. Zum jüngeren Lucullus: Münzer 1926, Sp. 418f. Das genaue verwandtschaftliche Verhältnis des jungen Lucullus zu Cato ist aufgrund widersprüchlicher Angaben in Plutarchs Catobiographie in der Forschung umstritten. In einer jüngeren Untersuchung plädiert Harders dafür, dass Lucullus der Sohn von Catos Nichte Servilia sei: Harders 2007, S. 457–461; ferner: Plut. Cat. min. 24.

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10-jährigen Jungen adoptiert hatte, erhält durch Cicero einen erzieherischen Beistand, der angibt, dass ihm die Erziehung wegen der Erinnerung an Lucullus’ Vater und an Catos Halbbruder Servilius Caepio besonders am Herzen liegen würde (memoria moveor). 651 Von Cicero darauf angesprochen, dass die Erziehung des Mündels eigentlich seine Aufgabe wäre (quamquam hoc quidem proprium tuum munus est), entgegnet er: 652 167F

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Praeclare, […] facis, cum et eorum memoriam tenes, quorum uterque tibi testamento liberos suos commendavit, et puerum diligis. quod autem meum munus dicis non equidem recuso, sed te adiungo socium. addo etiam illud, multa iam mihi dare signa puerum et pudoris et ingenii, sed aetatem vides. Es ist großartig von dir, dass du das Andenken der beiden Männer bewahrst, von denen jeder seine Kinder testamentarisch deiner Obhut anvertraute, und dass du den Jungen liebst. Wenn du das aber als meine Pflicht bezeichnest, so lehne ich das meinerseits nicht ab, doch ich beteilige dich daran. Ich darf auch das noch sagen, dass der Junge in meinen Augen viele Anzeichen von Bescheidenheit und von Begabung zeigt; aber du siehst ja, wie jung er ist.

Cato kommt dem Autor zunächst entgegen, indem er dessen Bemühen um die Erinnerung an den alten Lucullus und Caepio lobt. Gleichzeitig wird dem Leser bewusst, dass die Dialogfigur, deren historisches Vorbild erst im Vorjahr verstarb, bereits selbst Teil der memoria ist. Dieser Querverweis richtet sich möglicherweise vor allem an den ersten Leser Brutus, der wie M. Lucullus bereits im Kindesalter den Verlust des Vaters erleben musste und für den ebenfalls Cato die Rolle des Vormunds übernahm. 653 In seine als munus bezeichnete Erziehungsaufgabe bezieht er Cicero als socius mit ein, doch stellt er dessen Bemühen zunächst mit Verweis auf die Jugend (sed aetatem vides) des talentierten Lucullus in Frage, worin er der Stilisierung des Autors erneut entgegenkommt. Als dieser auf der Wichtigkeit eines frühen Unterrichts mit „diesen Wissenschaften“ (iis artibus) besteht, stimmt er ihm zu, verschiebt aber gleichzeitig das Thema auf unbestimmte Zeit (diligentius saepiusque ista loquemur), wobei er das gemeinsame Vorgehen nochmals betont (agemusque communiter). 654 Die Cato-Figur präsentiert sich somit bereits zu Dialogbeginn als Verbündeter in der gemeinsa169F

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Cic. fin. 3,8; Zum Verwandtschaftsverhältnis zwischen Cato und Servilius Caepio s.: Harders 2007, S. 457. Cic. fin. 3,9. Bereits im Proömium des dritten Buches hebt Cicero die Verwandtschaft zwischen Widmungsträger und Dialogfigur hervor: Cic. fin. 3,6: attendes igitur, ut soles, diligenter eamque controversiam diiudicabis, quae mihi fuit cum avunculo tuo, divino ac singulari viro. – So wirst du wie gewöhnlich gut achtgeben und dir dein Urteil über diese Auseinandersetzung bilden, die ich mit deinem Onkel, einem genialen und einzigartigen Mann, führte. Ebd., 3,9.

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men Erziehung des Lucullus, gleichzeitig wird durch den Dialog selbst deutlich, dass die Person des Cato das Ziel der memoria Ciceros darstellt, die jener nach dessen Tod übernahm. Die Dialogfigur begrüßt beides, doch bildet sie auch einen Gegenpol zu Cicero, indem sie diesem eine Rechtfertigung abverlangt, warum bereits einem Knaben Philosophie gelehrt werden soll. c)

Cato als stoischer Philosoph

Die zentrale Facette der Dialogfigur stellt jedoch seine Verbundenheit zur Stoa dar. Bereits zu Dialogbeginn, als Cicero ihn in der Bibliothek des Lucullus vorfindet, zeichnet der Autor das Porträt eines sich durch exzessive Lektüre auszeichnenden Römers: 655 17F

quo cum venissem, M. Catonem, quem ibi esse nescieram, vidi in bibliotheca sedentem multis circumfusum Stoicorum libris. erat enim, ut scis, in eo aviditas legendi, nec satiari poterat, quippe qui ne reprehensionem quidem vulgi inanem reformidans in ipsa curia soleret legere saepe, dum senatus cogeret, nihil operae rei publicae detrahens. quo magis tum in summo otio maximaque copia quasi helluari libris, si hoc verbo in tam clara re utendum est, videbatur. Als ich dorthin kam, sah ich Marcus Cato, von dessen Anwesenheit ich nichts gewusst hatte, wie er, umgeben von Schriften der Stoiker, in der Bibliothek saß. Er war ja, wie du weißt, in seinem Lesehunger unersättlich und pflegte ohne Scheu vor der belanglosen Kritik der Leute häufig selbst im Rathaus zu lesen, wenn der Senat zusammentrat, ohne dass sein politisches Engagement darunter litt. Umso mehr schien er mir damals in ungestörter Muße und angesichts der üppigen Bestände gleichsam in Büchern zu schwelgen, wenn dieser Ausdruck bei einer so bedeutenden Beschäftigung gestattet ist.

Das Bild der Persönlichkeit, das aus moderner Sicht exzentrisch wirken mag, greift offensichtlich auf eine Facette der historischen Vorlage zurück, da es gegenüber Brutus als bekannt vorausgesetzt wird (ut scis). 656 Die Lektüre philosophischer Bücher im öffentlichen Raum zeigt einen deutlichen Unterschied der Haltung der Dialogfigur im Vergleich zu den Hauptpersonen aus De oratore und De re publica, deren Begeisterung stärker von einer inneren Scheu geprägt war. Cato scheint dabei die Grenzziehung zwischen den beiden Sphären des otium und des negotium deutlich freier vorzunehmen, indem er die Philosophie nicht mehr auf die Villa beschränkt, sondern sie in den politischen Raum transferiert. 172F

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Cic. fin. 3,7. Hösle sieht hier die Andeutung eines „intellektuellen und charakterlichen Kontrasts“ zwischen den beiden Gesprächspartnern und einen „herablassenden Ton“ Ciceros gegenüber dem Stoiker, dem er sich „haushoch überlegen“ fühle und sich dadurch „teils als Mann von Welt […] teils auch als Intellektueller“ präsentiere: Hösle 2006, S. 220f.

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Er stellt in seiner Erscheinung jedoch keinen negativen Kontrast zu Dialogfiguren wie etwa seinem Urgroßvater in Cato maior dar, vielmehr knüpft er an diesen an, der dort erklärt, mit dem Erlernen des Griechischen einen „langen Durst“ (diuturnam sitim) stillen zu wollen. 657 Eben jenes Porträt des von philosophischer Lektüre begeisterten Römers hatte Cicero bereits im Jahr zuvor in den Paradoxa Stoicorum gezeichnet, wo er erklärt, jener habe auch bei seiner Meinungsäußerung in senatu philosophische Sätze vorgebracht und trotz ihrer fehlenden Eignung für den öffentlichen Raum (abhorrentes ab hoc usu forensi et publico) erreicht, dass sie dem Volk probabilia erschienen. 658 Dass Cato im Senat philosophische Literatur liest und philosophische Lehrmeinungen vor Versammlungen behandelt, bildet eine besondere Eigentümlichkeit seines Wesens, die hier offenbar ein Tabu bricht. Dieser Bruch macht die Figur für den Autor besonders interessant, der seine philosophische Schriftstellerei gegenüber seinen römischen Lesern rechtfertigen muss. Seine tiefe Zuneigung für die Stoa in De finibus tritt deutlich zutage, als ihm Cicero eröffnet, sich Bücher des Aristoteles ausleihen zu wollen, und Cato Bedauern äußert, dass sein Interesse nicht den Stoikern gegolten habe (Quam vellem […] te ad Stoicos inclinavisses!). 659 Indem er behauptet, dass die Lehre der Stoa zu Cicero passen würde (si cuiusquam, certe tuum), dient seine Figur als Bindeglied zwischen einer bestimmten Art von Leser und dem Autor, der daraufhin die für das Werk zentrale Auffassung anführt, wonach Stoa und Peripatos sich nur in der Ausdrucksweise unterscheiden würden, während das Denken übereinstimme (ratio enim nostra consentit, pugnat oratio). Dem widerspricht Cato: 660 173F

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Minime vero, […] consentit. quicquid enim praeter id, quod honestum sit, expetendum esse dixeris in bonisque numeraveris, et honestum ipsum quasi virtutis lumen extinxeris et virtutem penitus everteris. Von Übereinstimmung, kann keine Rede sein. Mit allem nämlich, was du außer dem sittlichen Guten als erstrebenswert bezeichnest und als ein Gut betrachtest, löschst du das sittlich Gute gleichsam wie eine Leuchte der Tugend aus und ruinierst die Tugend völlig.

Cato nimmt somit die Position des Antiochos ein, von der auch Balbus in De natura deorum überzeugt ist, deren Behandlung dort jedoch verschoben wurde. 661 In der folgenden Auseinandersetzung äußert er die Überzeugung, die Natur selbst lehre, dass nur ein Leben nach der Tugend ein glückliches sei und daher 17F

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Cic. Cato 26. S. oben S. 217f. Cic. parad. 1. Cic. fin. 3,10. Ebd. Cic. nat. deor. 1,16f.

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auch nur das „sittliche Gute“ (honestum) als Gut bezeichnet werden könne. 662 Das sich daraus ergebende Wechselgespräch, in dem Cicero immer wieder Einzelaspekte seiner These hinterfragt, wird schließlich von Cato beendet, der die Absicht seines Gesprächspartners, ihn in ein Frage-Antwort-Gespräch zu führen, erkennt und darauf mit Verweis auf die freie Zeit (quoniam otiosi sumus) höflich (nisi alienum putas) erklärt, eine vollständige Darstellung der stoischen Lehre (totam Zenonis Stoicorumque sententiam) geben zu wollen. 663 Durch seinen Einwand wechselt der Dialog von einer offenen Gesprächsführung hin zum gewohnten Vortragsstil. Der Wechsel erscheint dabei in zweifacher Hinsicht geboten, da er von Cato selbst vorgeschlagen wird und durch Cicero offene Unterstützung erfährt (explicatio tua ista profecerit). Wie Torquatus nutzt auch Cato die oratio perpetua als philosophische Darstellungsform. In seinem Vortrag versucht er, die von ihm vertretene Lehre gegenüber zwei Vorwürfen zu verteidigen: Einerseits wehrt er sich gegen die Gleichsetzung der Stoa mit dem Peripatos, wonach jene sich nur eines anderen Vokabulars bediene, um neben dem einen sittlichen Gut weitere Güter unter anderer Bezeichnung gelten zu lassen, andererseits dagegen, dass eine Gleichsetzung des sittlich Guten mit dem einzigen Gut eine Gleichgültigkeit gegenüber allem anderen zur Folge hätte, so dass sie nicht mehr von Ariston und Pyrrhon unterscheidbar wäre. 664 Die Abgrenzung gegen Peripatos einerseits und Ariston und Pyrrhon andererseits erfolgt dabei in einem Stil, der dem eines Lehrbuchs gleicht und möglicherweise auf die zugrunde liegende Quelle zurückgeht. 665 Als Autoritäten nennt Cato mit Zenon, Chrysipp und Diogenes von Seleukia hauptsächlich Vertreter der älteren Stoa in seinem Vortrag. 666 In Hinsicht auf Aufbau und Struktur lässt sich der Rede, wie Spahlinger feststellt, ein „Eindruck dogmatischer Geschlossenheit“ entnehmen. 667 Stilistisch bildet sie eine Kontrastfolie zu Ciceros Vortrag im vierten Buch, indem sie auf Zitate sowie rhetorische Ausgestaltung weitestgehend verzichtet. 668 178F

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Cic. fin. 3,11. Ebd., 3,14. Vgl. Bringmann 1971, S. 147f. So etwa Patzig 1979, S. 319. Aus der Aufgabenstellung geht jedoch, wie Bringmann betont, hervor, dass der Vortrag „kompilatorisch“ verfahren musste und sich nicht sklavisch an ein Handbuch halten konnte, um das System als Ganzes zu verteidigen: Bringmann 1971, S. 148; die Quellenforschung vermutete vor allem altstoisches Material als Grundlage, s.: Lörcher 1911, S. 136–207; s. hierzu: Spahlinger 2005, S. 97, Anm. 121. Cic. fin. 3,14, 15, 33, 49, 51, 57, 67. Spahlinger 2005, S. 98 u. S. 103f. Zur Stilistik der Cato-Rede s. Spahlinger 2005, S. 100.

471

De finibus bonorum et malorum 3 und 4

d)

Cato als Initiator griechischer Philosophie

Es fällt auf, dass dieses Unterfangen, obwohl er es selbst vorgeschlagen hat, in gewisser Weise neu und außergewöhnlich für ihn zu sein scheint, indem er den experimentellen Charakter des Folgenden von Anfang an hervorhebt: 669 185F

Experiamur igitur, […] etsi habet haec Stoicorum ratio difficilius quiddam et obscurius. nam cum in Graeco sermone haec ipsa quondam rerum nomina novarum ** non videbantur, quae nunc consuetudo diuturna trivit; quid censes in Latino fore? Versuchen wir es also, wenn auch die Lehre der Stoiker hier eine gewisse Schwierigkeit und Unklarheit enthält. Denn als im Griechischen für neue Vorstellungen neue Begriffe einzuführen waren, fand man die Ausdrücke nicht annehmbar, die heute durch den täglichen Gebrauch geläufig geworden sind. Was meinst du, wie es wohl im Lateinischen aussehen wird?

Er zeigt einerseits ein Bewusstsein für die Schwierigkeit einer angemessenen Darstellung der Stoa, die durch die Einführung neuer Termini erzeugt worden sei, andererseits lässt sich an jenem Zögern erkennen, dass bis zum Dialogzeitpunkt eine Zusammenstellung der stoischen Philosophie in Latein noch überhaupt nicht versucht wurde. Die Szenerie versinnbildlicht damit die Situation der Philosophie in Rom, die der Autor mit seinem Werk ändern möchte. 670 Wie bereits oben thematisiert, stellte Cato seine philosophische Grundhaltung auch durch demonstrative Lektüre zur Schau, doch beschränkte sich diese ohne Zweifel auf griechische Texte. Das theoretische System der Stoa nun selbst auf Latein vorzutragen, stellt somit ein Novum für ihn dar, wodurch das Kernanliegen Ciceros, die lateinische Literatur um den Bereich der Philosophie zu erweitern, auf die Dialogfigur übertragen wird, welche als Unterstützer dieses Vorhabens auftritt. Wie im Fall Pisos bringt die literarische Gestalt Anzeichen eines angemessenen Vorbehalts (pudor) gegen die nur in griechischer Sprache vorliegende Disziplin zum Ausdruck, die sie während des Dialogs durch die Szenerie verliert. Cato ist damit im dialogischen Universum die erste Dialogfigur, die eine systematische Darstellung der Stoa liefert – De natura deorum wird bekanntlich später als De finibus datiert – und die dadurch auch als Übersetzer bestimmter Fachtermini fungieren muss. Für dieses Unterfangen erhält sie von der Dialogfigur Cicero Rückendeckung, die darauf aufmerksam macht, dass es dem Römer Cato nicht weniger freistehen dürfe (cur non liceat Catoni?) neue Begriffe einzuführen als der Stoa, die dies unter dem Griechen Zenon sehr ausgiebig betrieben 186F

669 670

Cic. fin. 3,15. Nicht zufällig polemisiert er im Proömium des dritten Buchs gegen eine Gruppe von Mitbürgern, die lieber als Griechen denn als Römer gelten möchten (qui se Graecos magis quam nosotros haberi volunt): Cic. fin. 3,5.

472

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

habe. 671 Während des gesamten Vortrags lässt Cicero Cato zunächst die Fachwörter auf Griechisch nennen und anschließend nach einer angemessenen Entsprechung des Begriffs im Lateinischen suchen. 672 Wie Torquatus erfüllt Cato die Rolle des römischen Philosophen mit einer inneren Begeisterung und Verbundenheit zu der von ihm vorgestellten Rede. Dieser Ton zeigt sich besonders vor der peroratio: 673 187F

18F

189F

Sed iam sentio me esse longius provectum, quam proposita ratio postularet. verum admirabilis compositio disciplinae incredibilisque rerum me traxit ordo; quem, per deos inmortales! nonne mirariris? Doch wie ich merke, habe ich schon weiter ausgegriffen, als es meine Konzeption erforderte. Doch der bewundernswerte Aufbau dieser Lehre und die unglaubliche Ordnung ihrer Elemente hat mich mitgerissen. Bei den unsterblichen Göttern, bewunderst du sie etwa nicht?

Die innere Hingezogenheit (me traxit) zur Stoa zieht sich durch den Schlussteil seines Vortrags, mit dem er um die Zustimmung des Lesers und des Autors wirbt. Er erfüllt die ihm vom Autor zugeschriebene Rolle des Gründers des stoisch-lateinischen Diskurses nicht nur mit der daraus resultierenden Glaubwürdigkeit, sondern auch mit einer bestimmten Expertise, die sich unter anderem aus dem Zusammenspiel mit seinem römischen Profil ergibt. Dass sich seine philosophische Begeisterung nicht auf die Stoa beschränkt, deutet sich im vierten Buch an, in dem die Dialogfigur die Rolle des Referenten

671 672

673

Cic. fin. 3,15f. Ebd., 3,17 (καταλήψεις = comprehensiones vel perceptiones), 20 (ἀξία = aestimabile; καθῆκον = officium), 21 (ἔννοια = intelligentia vel notio; ὁμολογία = convenientia), 23 (ὁρμή = appetitio animi), 24 (κατορθώματα = recta aut recta facta), 25 (τέλος = tum extremum, tum ultimum, tum summum […] finem), 33 (ὠφέλημα = id, quod prodesset); 3,35 (πάθη, πάθος = morbus, ἡδονή = laetitia), 39 (κακία = vitia), 45 (εὐκαιρία = opportunitas, κατόρθωσις = recta effectio, κατόρθωμα = rectum factum), 52 (προηγμένον = productum esse ad dignitatem, προηγμένα = producta), 53 (ἀδιάφορον = indifferens), 55 (τελικά = pertinentia, ποιητικά = efficientia), 57 (εὐδοξία = bona fama); 3,69 (ὠφελήματα = emolumenta, βλάμματα = detrimenta, εὐχρηστήματα = commoda, δυσχρηστήματα = incommoda). Auf Ciceros Übersetzungsleistungen scheint auch der in der Forschung umstrittene Passus aus Att. 12,52 = 294 Sh. B.,3 hinzuweisen. Dies legt zumindest der jüngste Korrekturvorschlag von Bringmann nahe, der die gängige Lesart De lingua Latina securi es animo. dices: ‚qui alia conscribis? ἀπόγραφα sunt modifiziert, indem er Atticus’ Frage mit einem alia zu qui aliaque scribis? („Wie schreibst du nur eins nach dem anderen?“) ergänzt. Cicero scheint auf Bedenken des Atticus hinsichtlich der Übersetzung griechischer Fachtermini einzugehen. Für diese Arbeit standen Cicero ἀπόγραφα, Abschriften griechischer Texte zur Verfügung. S. hierzu: Bringmann 2012, bes. S. 30–36. Cic. fin. 3,74.

473

De finibus bonorum et malorum 3 und 4

mit der des Zuhörers tauscht. So zeigt er sich dezidiert offen, als er von Cicero während seines Vortrags höflich gefragt wird, ob er ein Zwischenwort einlegen möchte und ob jener schon zu ausführlich sei, indem er dessen Bedenken ausräumt (neutro vero […] nec tua mihi oratio longa videri potest) und ihn zur Fortsetzung ermutigt (a te perfici istam disputationem volo). 674 190F

e)

Cato als römisch-stoischer Redner

Auch die rhetorische Ausgestaltung der peroratio, die einem gerichtlichen Plädoyer ähnelt, rekurriert auf den historischen Redner und Politiker Marcus Porcius Cato. Dabei kommt es in De finibus erneut zu einer Auseinandersetzung mit der stoischen Rhetorik, die sich in der Person der Dialogfigur spiegelt. Dass es dem Autor hierbei nicht um eine Herabsetzung geht, wird bereits im Vorwort deutlich, in dem angekündigt wird, dass die folgende Untersuchung acrior werden würde, da die Verteidiger der Stoa geschickter als die Epikureer agieren und sich generell eines scharfsinnigen oder auch spitzfindigen Stils (subtile vel spinosum potius disserendi genus) bedienen würden. 675 Tatsächlich erhält Cato bereits früh Lob für seinen sprachlichen Stil: 676 19F

192F

Ne tu […] Cato, verbis illustribus et id, quod vis, declarantibus! itaque mihi videris Latine docere philosophiam et ei quasi civitatem dare. quae quidem adhuc peregrinari Romae videbatur nec offerre sese nostris semonibus, et ista maxime propter limatam quandam et rerum et verborum tenuitatem. Wahrhaftig, Cato, du sprichst in klaren Worten, die das, was du willst, auch deutlich werden lassen. So lehrst du die Philosophie auf Lateinisch und verleihst ihr damit das Bürgerrecht. Bisher schien sie in Rom ja fremd zu sein und sich in unseren Gesprächen nicht zu zeigen, weil sie im Sachlichen und Sprachlichen so fein gesponnen ist.

Indem Cato sich der Dialogfigur Cicero zufolge in klaren Worten (verbis illustribus) ausdrückt, leistet er der Autorintention Vorschub, die Philosophie in Rom einzubürgern. Eben jener Einbürgerungsprozess wird somit selbst durch den Dialog porträtiert, wie wir dies bereits auch in anderen Werken beobachten konnten. Das Lob ist umso bemerkenswerter, als der sprachliche Stil der Stoa zu Beginn des vierten Buchs von Cicero scharf kritisiert wird. 677 Es dient dabei nicht primär einer eitlen Selbsttranszendierung, welche Hösle an ähnlichen Stellen erkennt, sondern vielmehr zur Unterscheidung des Römers Cato von einem 193F

674 675 676 677

Cic. fin. 4,44. Ebd., 3,2f. Ebd., 3,40. Ebd., 4,5–7.

474

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

griechischen Stoiker. 678 Der wesentliche Unterschied wird innerhalb von Ciceros Stilkritik deutlich: 679 194F

195F

Ista ipsa, quae tu breviter: regem, dictatorem, divitem solum esse sapientem, a te quidem apte ac rotunde; quippe; habes enim a rhetoribus; illorum vero ista ipsa quam exilia de virtutis vi! Gerade diese Gedanken, die du kurz angedeutet hast, dass nur der Weise ein König, ein Diktator oder ein reicher Mann sei, die hast du zwar in angemessener, bündiger Form ausgedrückt; kein Wunder, du hast es ja von den Rhetoren gelernt; aber wie dürftig sind ihre eigenen Erklärungen über die Macht der Tugend!

Die Person des Cato und sein Stil (a te quidem) werden demonstrativ von der Beschränktheit stoischer Ausdrucksweise abgegrenzt. Den Vorzug einer Verbindung von Philosophie und Rhetorik hatte Cicero bereits im Brutus explizit herausgestellt, 680 doch konstituiert er hier zusammen mit dem stilistischen Lob die Dialogfigur als Exempel dafür, dass ein lateinischer Diskurs über Philosophie nicht nur möglich ist, sondern das Potential hat, griechische Darstellungen zu übertreffen. 681 Dieses Profil offenbart erneut eine bereits beobachtete Besonderheit der ciceronischen Dialogfiguren, die zwar als herausragende Schulvertreter dargestellt werden, sich jedoch von den gängigen Klischees abheben: Der römische Stoiker Cato spricht „angemessen“ (apte ac rotunde), woran nach Urteil des Verfassers stoische Autoren gescheitert seien. Auch im späteren Verlauf der Gegenrede stellt Cicero Cato den griechischen Stoikern mit dem Hinweis gegenüber, dass er besser als diese sprechen würde. 682 Die Dialogfigur symbolisiert damit nicht nur die Realisierbarkeit eines philosophischen Diskurses in lateinischer Sprache, sondern auch die Möglichkeit der Römer, mit den eigentlichen Gründern dieser Disziplin gleichzuziehen, wie es ihnen schon in der Rhetorik und der Dichtung geglückt sei. Dass das historische Vorbild der Dialogfigur in seiner Funktion als Gerichtsredner auch in heftige Auseinandersetzungen verwickelt war, wird dabei nicht verschwiegen. So wird das gerichtliche Aufeinandertreffen der beiden Personen im Fall des Murena gezielt angesprochen, indem die Dialogfigur Cicero selbst auf diesen Prozess eingeht: 683 196F

197F

198F

19F

678

679 680 681

682 683

So zu Laelius’ Kompliment an Scipios innovativer Vorgehensweise im zweiten Buch von De re publica: Hösle 2004, S. 156–160. Cic. fin. 4,7. Cic. Brut. 118. Der Anspruch einer stilistischen Überbietung der griechischen Vorlagen erschwert jede Mutmaßung, welcher Text die Vorlage für die Catorede gebildet haben könnte. Cic. fin. 4,26; vgl. 3,50: Unterscheidung Catos von illi. Ebd., 4,74.

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De finibus bonorum et malorum 3 und 4

non ego tecum ita iocabor, ut isdem his de rebus, cum L. Murenam te accusante defenderem. apud imperitos tum illa dicta sunt, aliquid etiam coronae datum; nunc agendum est subtilius. Ich will darüber mit dir nicht mehr so im Scherz verhandeln, wie ich es bezüglich dieser selben Fragen tat, als ich L. Murena gegen deine Anklage verteidigte. Damals sind diese Fragen vor Laien behandelt worden, das eine oder andere war auch ein Zugeständnis an das Publikum. Nun geht es um eine differenziertere Behandlung.

Dabei rekurriert Cicero auf die von ihm selbst in seiner damaligen Rede Pro Murena vorgetragene Polemik gegen die stoische Argumentation seines Kontrahenten. 684 Der Querverweis durch die Figur des Autors lässt die historische Persönlichkeit des stoischen Hauptredners deutlich hervortreten, mit dem er nun eine diffizilere Untersuchung führen würde, die nicht vor einer großen Menschenmenge geführt werde. Der Erwähnung des historischen Prozesses verweist nicht nur auf einen Römer, der versuchte, stoische Argumentation für die Praxis des römischen Gerichtswesens nutzbar zu machen, sondern auch auf dessen diesbezügliches Scheitern. Der damals gegen ihn erhobene Vorwurf des Rigorismus, der von Cicero als inhumaner stoischer Weiser präsentiert würde und dem Cicero die Offenheit des akademischen Weisen entgegensetzte, hat für den Autor nichts an Aktualität eingebüßt, sondern stellt immer noch einen der Hauptkritikpunkte an der Stoa dar. 685 Der Verweis auf den Murena-Prozess parallelisiert dabei die philosophische disputatio mit der juristischen Auseinandersetzung auf dem Forum und spielt auf das tatsächliche Verhältnis der beiden Persönlichkeiten an. Dieser Parallelisierung der disputatio bedient sich auch Cato, der im Jahr 54, also nur zwei Jahre vor dem fiktiven Gespräch, Praetor war und als solcher Gerichtsprozesse leitete. Zu Beginn des vierten Buchs spielt er auf Ciceros schnelles Antworten vor Gericht und dessen Scheitern im MiloProzess an, um dessen Bitte nach Bedenkzeit auszuschlagen. 686 Das rhetorische Vorgehen spiegelt damit bewusst eine philosophische Auseinandersetzung, die von römischen Anwälten und Richtern statt von griechischen Philosophen geführt wird. Dass zwischen dem Römer Cato und der zypriotischen Stadt Kition, dem Herkunftsort des als Poenulus gescholtenen Schulgründers, ein tatsächliches rechtliches Abhängigkeitsverhältnis bestand, wird in der Gegenrede von Cicero nicht verschwiegen (Citieos, clientes tuos), wodurch der kulturelle Gegensatz 20F

201F

20F

684 685

686

Cic. Mur. 61–66. Zum Bild des akademischen Weisen in Pro Murena s.: Neuhausen 1987; zu Ciceros Argumentation gegen Cato: vgl. Peetz 2008, S. 189. Zur Bedeutung des Academicus sapiens innerhalb der akademischen Lehre s. auch die kritischen Anmerkungen zu Neuhausens These bei Fuhrer, Schäublin und Haltenhoff: Fuhrer 1992, S. 267, Anm. 1; Schäublin 1992, S. 49f., Anm. 32; Haltenhoff 1998, S. 75. Cic. fin. 4,1.

476

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

zwischen den römischen Herrschern und den unterworfenen Griechen verdeutlicht wird. 687 203F

f)

Politischer Charakter der Cato-Figur

Bereits die Tatsache, dass Cato einen Auftritt in einem Dialog erhält, stellt im Kontext der Entstehungsperiode einen Ausdruck der Verbundenheit mit dem Verstorbenen dar, der im römischen Staat unter Caesar als politisch angesehen werden musste. 688 Cicero setzte damit das fort, was er mit dem uns nicht erhaltenen Cato begonnen hatte. Der politische Charakter der Dialogfigur kommt an einigen Stellen des Werkes deutlich zum Vorschein. Einen besonders heiklen Punkt in Verbindung mit seiner Person musste die Behandlung des Suizids darstellen. 689 Selbst wenn dessen ausdrückliche moralische Rechtfertigung dabei die textnahe Übersetzung eines griechischen Originaltextes sein sollte, so erzeugt die Tatsache, dass jene Rechtfertigung von Cato artikuliert wird, eine nicht ungewollte Spannung. 690 Diese kommt in der Ausführung zum eines Einzelnen für die Heimat zu ihrem Höhepunkt: 691 204F

205F

206F

207F

ex quo fit, ut laudandus is fit, qui mortem oppetat quam nosmet ipsos. quoniamque illa vox inhumana et scelerata ducitur eorum, qui negant se recusare quo minus ipsis mortuis terrarum omnium deflagratio consequatur – quod vulgari quodam versu Graeco pronuntiari solet –, certe verum est etiam iis, qui aliquando futuri sint, esse propter ipsos consulendum. Deshalb ist der zu loben, der sein Leben für den Staat hingibt, weil uns das Vaterland teurer sein muss als wir selbst. Da jener Ausspruch, man habe nichts dagegen, dass nach dem eigenen Tod die ganze Welt in Flammen aufgehe – was gewöhnlich mit einem ganz bekannten griechischen Vers ausgedrückt wird – als unmenschlich und verbrecherisch gilt, ist es sicher wahr, dass man auch für die, die einmal künftig leben werden, um ihrer selbst willen zu sorgen hat.

Die Legitimation der Aufopferung für das Gemeinwesen vonseiten Catos kontrastiert die beiden Extreme des aufopferungsvollen Bürgers und des staatenlosen Verbrechers, die von Ciceros Zeitgenossen unschwer mit Cato und Caesar assoziiert werden konnten. Noch konkreter wird Cato in der peroratio seiner Rede, indem er gegenüber dem Ideal des Weisen mit Sulla einen Politiker der jüngeren und mit Crassus Dives einen der jüngsten Vergangenheit als exempla in Stellung

687 688 689 690

691

Cic. fin. 4,56. Vgl. Peetz 2008, S. 189. Cic. fin. 3,60f. Auch Strasburger ging davon aus, dass Catos Vortrag in De finibus sachbezogen und daher weniger anstößig sei, s.: Strasburger 1990, S. 459f. Cic. fin. 3,64.

477

De finibus bonorum et malorum 3 und 4

bringt, von denen der erste ein Meister in Ausschweifung, Habsucht und Grausamkeit war (luxuriae, avaritiae, crudelitatis, magister fuit), der ohne Kriegsgrund den Euphrat überqueren wollte (Euphraten nulla belli causa transire voluisset). 692 Wie Cicero in seiner Gegenrede zu Torquatus, so wendet nun Cato die Ethik der Stoa direkt auf die römische res publica an. Die Beispielkette von Tarquinius-Sulla-Crassus nimmt dabei in direkter Weise Bezug auf die Politik der jüngeren, von ihm und dem Autor durchlebten Geschichte. Die Anspielung auf den als unnötig und maßlos geschilderten Partherfeldzug des Crassus kann als politische Abrechnung mit dessen Politik gewertet werden, die in der Person Catos durch einen glaubwürdigen Gegner des ersten sogenannten Triumvirats artikuliert wird. Indem die Kritik an dem von Cicero wenig geschätzten Crassus Dives durch die Dialogfigur Cato vorgetragen wird, erhält die negative memoria ein zusätzliches Gewicht. Der politisch-aristokratische Charakter der Dialogfigur zeigt sich auch durch dessen Ahnen, die Cicero – wie im ersten Gespräch mit Torquatus – bewusst anspricht, um die Philosophie einem Praxistest auszusetzen. 693 Gegen das stoische Argument, wonach sich alle Nichtweisen gleichermaßen im Elend befänden, greift er auf einen für den Republikaner drastischen Vergleich zurück: 694 208F

209F

210F

conferam avum tuum Drusum cum C. Gracchum, eius fere aequali? quae hic rei publicae vulnera inponebat, eadem ille sanabat. si nihil est, quod tam miseros faciat quam inpietas et scelus, ut iam omnes insipientes sint miseri, quod profecto sunt, non est tamen aeque miser, qui patriae consulit, et is, qui illam extinctam cupit. Levatio igitur vitiorum magna fit in iis, qui habent ad virtutem progressionis aliquantum. Soll ich deinen Großvater Drusus mit dem fast gleichaltrigen Gaius Gracchus vergleichen? Die Wunden, die der letztere dem Staate schlug, versuchte der erstere zu heilen. Wenn es nichts gibt, was Menschen so unglücklich macht wie die Ruchlosigkeit und das Verbrechen, dann mögen zwar alle Toren unglücklich sein, was sie auch sicher sind, aber trotzdem ist der, der Sorge für das Vaterland trägt, nicht ebenso unglücklich wie der, der es vernichten will.

Indem er Catos Großvater mütterlicherseits, M. Livius Drusus, seinem Amtskollegen C. Sempronius Gracchus gegenüberstellt, führt er ein Beispiel gegen die philosophische Position an, das durch die persönliche Verwandtschaft der Dialogfigur und das negative Bild des jüngeren Gracchus in der Geschichte eine besondere Wirkung erzielen muss. Der Großvater, der nach der stoischen Definition nicht als Weiser gelten könne, müsse aufgrund seiner Leistung für den Staat

692 693 694

Cic. fin. 3,75. Zum aristokratischen Profil des Torquatus s. oben S. 453–456. Cic. fin. 4,66.

478

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

weniger unglücklich sein als dessen Zerstörer. 695 Wie im Fall des Torquatus und Brutus dient die historische Persönlichkeit der Dialogfigur somit als Projektionsfolie für die inhaltliche Untersuchung, indem auf die Familiengeschichte zurückgegriffen wird. Das Beispiel dient dabei nicht nur der Widerlegung der stoischen Lehre, sondern auch der Ehrung der Familie des verstorbenen Verteidigers der Stoa, deren Einsatz für die res publica anhand des Drusus belegt wird. Da die gens der Porcier nur über einen berühmten Vorfahren verfügte, bleibt es bei einer einzigen direkten Nennung. 21F

g)

Cato im Kontext des Bildungsideals und der Gesprächsethik

Durch das Zusammenspiel von philosophischer und rhetorischer Ausbildung stellt sich die Figur Cato als römischer Philosoph dar, der in der Lage ist, die schwierige Philosophie der Stoa in angemessener – nach Ciceros eigenem Bekunden sogar besserer – Weise zu vertreten. Sie kommt dadurch dem Bildungsideal sehr nahe und scheint von diesem nur darin abzuweichen, dass sie zu viel Energie auf eine einzelne Schule verwendet habe, was bereits zu Beginn des Dialogs veranschaulicht wird, indem Cato in die Lektüre stoischer Bücher vertieft ist (in bibliotheca sedentem multis Stoicorum libris). 696 Mit Blick auf seine Zugehörigkeit zu jener Schule lässt Cicero durch das rhetorische Mittel der Prosopopöie die Schüler Platons (Platonis illi) gegen ihn sprechen, wobei sie ihn zunächst als „einen so eifrigen Anhänger der Philosophie, einen so gerechten Mann, einen so guten Richter und so gewissenhaften Zeugen“ (studiosissimum philosophiae, iustissimum virum, optimum iudicem, religiosissimum testem) bezeichnen und die ihm attestierten Eigenschaften anschließend mit seiner Wahl der Stoa kontrastieren. 697 Die gegen ihn vorgebrachte Kritik erinnert an jene des Crassus in De oratore, der die Praxisferne und den Dogmatismus der jungen stoischen Redner bemängelte. 698 Dass diese Schule, ebenso wie die des Kepos, für einen Römer und aufstrebenden Redner die falsche Wahl darstellt, wird durch die Prosopopöie sehr deutlich thematisiert. Die Schule der Akademie wird erneut als die Philosophenschule gepriesen, die aufgrund ihrer staatspolitischen Themenfelder (omniumque rerum publicarum rectionis genera, status, mutationes, leges etiam instituta ac mores civitatum perscripsimus) und ihrer eloquentia für die dignitas eines führenden Staatsmannes am angemessensten sei. Die Person des Cato wird dabei zum anschaulichen, tragischen Beispiel, indem auf den potenziellen Gewinn hingewiesen wird, der ihm aus der Lektüre der akademischen Bücher (quantum tibi ex monumentis nostris addidisses!) gewunken hätte. Der Irrealis der Vergangenheit addidisses musste den zeitgenössischen Leser an den 21F

213F

214F

695 696 697 698

Vgl. Gigon/Straume-Zimmermann 2002, S. 532. Cic. fin. 3,7. Ebd., 4,61. Cic. de orat. 3,79.

De finibus bonorum et malorum 3 und 4

479

Tod Catos erinnern, der diese Lektüre somit auch nicht mehr nachholen konnte. Auf die Prosopopöie Ciceros entgegnet er: 699 215F

Rogarem te, […] ut diceres pro me tu idem, qui illis orationem dictavisses, vel potius paulum loci mihi, ut iis responderem, dares, nisi et te audire nunc mallem et istis tamen alio tempore responsurus essem, tum scilicet, cum tibi. Ich würde dich bitten, für mich zu sprechen, da du auch ihnen ihre Worte in den Mund gelegt hast, oder vielmehr mir ein wenig Raum zur Antwort auf ihre Rede zu geben, wenn ich nicht lieber dich hören und ihnen doch zu anderer Zeit antworten wollte, nämlich dann, wenn ich dir Antwort gebe.

Die Dialogfigur knüpft an die von Cicero eingeleitete irreale Begebenheit an (rogarem […] nisi […] mallem, […] responsurus essem) und versucht sich damit nicht nur siegesgewiss zu geben, sondern auch humorvoll. Trotz der scharfen Kritik, die Cicero gegen die Lehre der Stoa hervorbringt, bleibt die Figur ihrer philosophischen Überzeugung treu, wie das Gesprächsende zeigt: 700 216F

Nos vero, […] nam quid possumus facere melius? et hanc quidem primam exigam a te operam, ut audias me quae a te dicta sunt refellentem. sed memento te, quae nos sentiamus, omnia probare, nisi quod verbis aliter utamur, mihi autem vestrorum nihil probari. O ja, was könnten wir denn Besseres tun? Und den Gefallen will ich jedenfalls als ersten von dir fordern, dass du mir zuhörst, wenn ich das widerlege, was du gesagt hast. Doch denke daran, dass du alle meine Auffassungen, abgesehen von meiner anderen Ausdrucksweise billigst, während mir an eurer Lehre nichts einleuchtet.

Anders als Torquatus, der zwar ebenfalls nicht auf Ciceros Seite übertritt, jedoch eine gewisse Unsicherheit zu erkennen gibt, indem er äußert, sich vor einer weiteren Auseinandersetzung erst mit Siron und Philodem besprechen zu wollen, 701 zeigt sich Cato fast „penetrant selbstsicher“. 702 Wie Cicero (videbimus) bringt auch er mit seinen letzten Worten die Bereitschaft zum Ausdruck, den philosophischen Diskurs fortzusetzen (quid possumus facere melius), so dass sich die Cato-Figur trotz ihrer Beharrlichkeit und dogmatischen Versteifung auf die Stoa ideal in das ciceronische Dialoguniversum eingliedert. Angesichts der gegen seine Schule vorgetragenen Kritik zeigt er sich bisweilen harsch, indem er das 217F

218F

699 700 701 702

Cic. fin. 4,62. Ebd., 4,80. Ebd., 2,119. Gigon/Straume-Zimmermann 2002, S. 537.

480

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Vorgetragene als „volkstümlich“ (popularia) deklassiert und nach Anspruchsvollerem (elegantiorem) verlangt. 703 219F

h)

Zusammenfassung

Die Dialogfigur steht, wie auch Torquatus, gleichermaßen in Licht und Schatten: Der Autor bemüht sich, den philosophischen Referenten als kompetenten Vertreter der Stoa zu zeichnen, dessen Vortrag denen der griechischen Lehrer mindestens ebenbürtig sei. Ihre anfängliche Scheu überwindet sie schnell und leistet mit Hilfe Ciceros zugleich eine Übersetzung griechischer Begriffe. In ihr findet der Leser das Beispiel eines Römers, der Philosophie und Politik zu verbinden und seine Ideale hartnäckig zu verfechten wusste. Die gemeinsame Bildungsaufgabe im Hinblick auf den jungen Lucullus suggeriert darüber hinaus eine politische Nähe zwischen den beiden einflussreichen Staatsmännern. Andererseits ist das durch die Dialogfigur kreierte Bild des M. Porcius Cato Uticensis nicht nur positiv. In ihm spiegelt sich gerade am Ende eben jene dogmatische Unbeugsamkeit, die Cicero fremd war und seiner eigenen philosophischen Überzeugung völlig widersprach. Das Bild des unbeugsamen Streiters musste beim Leser Assoziationen an den Freitod Catos wecken, der zur Entstehungszeit des Werks, sechs Jahre nach jenem fiktiven Gespräch, politisch zunehmend vereinnahmt wurde.

5.2

M. Tullius Cicero

a)

Gesprächsanteil, Lehrerrolle gegenüber Lucullus und memoria

Auch im zweiten Gespräch von De finibus bonorum et malorum nimmt die Dialogfigur Cicero den Löwenanteil der insgesamt gewechselten Worte ein, obschon Cato ein deutlich größerer Raum zur Darlegung der stoischen Lehre bleibt als Torquatus in den beiden ersten Büchern zusammen. 704 Analog zu De finibus 1 und 2 übernimmt er im dritten Buch die Rolle des Zuhörers und im fünften die des Referenten. Der Dialog setzt erneut nicht direkt mit der Philosophie ein, sondern erschafft zunächst eine allgemeine Bildungsszenerie, durch die der spätere philosophische Diskurs im Vorfeld legitimiert wird. So gibt Cicero, angesprochen auf den Grund seines Aufenthalts auf dem Land, mit dem Verweis auf die Spiele (ludis commissis) zunächst zu erkennen, dass seine Anwesenheit auf dem Land und in der Bibliothek in den Bereich des otium fällt, in dessen Rahmen seine Absicht, sich aus der Bibliothek Bücher mitzunehmen (quosdam hinc libros promere), legitim 20F

703 704

Cic. fin. 4,24. Zum quantitativen Gesprächsanteil von Cicero in den Büchern 3 und 4 s. Dickey 1997, S. 584f.

De finibus bonorum et malorum 3 und 4

481

erscheint. 705 Davon ausgehend kommt er auf den Eigentümer der Bibliothek zu sprechen: 706 21F

2F

et quidem, Cato, hanc totam copiam iam Lucullo nostro notam esse oportebit; nam his libris eum malo quam reliquo ornatu villae delectari. est enim mihi magnae curae – quamquam hoc quidem proprium tuum munus est –, ut ita erudiatur, ut et patri et Caepioni nostro et tibi tam propinquo respondeat. laboro autem non sine causa; nam et avi eius memoria moveor – nec enim ignoras, quanti fecerim Caepionem, qui, ut opinio mea fert, in principibus iam esset, si viveret –, et Lucullus mihi versatur ante oculos, vir cum virtutibus omnibus excellens, tum mecum et amicitia et omni voluntate sententiaque coniunctus. Freilich, Cato, wird nun unser Lucullus mit diesen ganzen reichen Beständen Bekanntschaft machen müssen. Denn lieber soll er sich an diesen Büchern als an dem übrigen Schmuck seines Landhauses ergötzen. Ich kümmere mich nämlich sehr gern darum – obwohl es eigentlich deine persönliche Aufgabe ist –, ihm eine solche Bildung zu vermitteln, dass er es so mit seinem Vater, unserem Caepio und dir, der ihm so nahe steht, aufnehmen kann. Ich mühe mich jedoch nicht ohne Grund; denn einerseits bewegt mich die Erinnerung an seinen Großvater – du weißt ja gut, wie hoch ich Caepio schätzte, der meiner Meinung nach, wenn er noch lebte, zu den führenden Persönlichkeiten gehören würde –, und andererseits steht mir mit Lucullus ein Mann vor Augen, der sich durch sämtliche Vorzüge auszeichnet und dem ich mich besonders durch Freundschaft und Gemeinsamkeit unseres ganzen Sinnens und Trachtens verbunden fühle.

Die Dialogfigur gibt sich dabei nicht von Anfang an als Philosoph zu erkennen, sondern erklärt ihre Anwesenheit mit ihrem Bildungsauftrag für den jungen Marcus Licinius Lucullus, für den eigentlich Cato zuständig sei (quidem proprium tuum munus est). Dass dabei eine charakterliche und geistige Bildung intendiert ist, wird durch Ciceros Kommentar angedeutet, dass der Knabe sich eher an den Büchern als an der Ausstattung der Villa erfreuen solle (his libris eum malo quam reliquo ornatu villae delectari), welche für ihren exorbitanten Luxus berühmt war. 707 Indem die Dialogfigur als Rechtfertigung vorgibt, dass der junge Lucullus seinem Vater und Caepio gleichkommen solle und sie von deren „Andenken“ (memoria) bewegt werde, erscheint im Dialog eine Konstellation, welche an die dialogexterne Verbindung erinnert und dem Leser nicht entgehen konnte: Die Erinnerung an die beiden aus Sicht des dramatischen Datums erst vor wenigen Jahren verstorbenen Persönlichkeiten Lucius Lucullus und Quintus Servilius Caepio bildet eine auffällige Parallele zu der vom Autor vollzogenen Erinnerung an die Dialogfigur Cato, der sich nur ein Jahr vor der Veröffentli23F

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Cic. fin. 3,8. Ebd. Ebd., 3,7. Zur Villa des Lucullus s. oben S. 461f.

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chung von De finibus das Leben nahm. 708 Der Dialog impliziert dahingehend, dass jene Verbindung durch Freundschaft und gemeinsame Anschauung (amicitia et omni voluntate sententiaque coniunctus) nicht nur zwischen Cicero, Lucullus und Caepio, sondern auch zwischen Cicero und Cato bestand, dem Onkel des Brutus. Ciceros Engagement für die Bildung des jungen Lucullus wird durch den Dialog als berechtigtes Unternehmen charakterisiert, indem er den lobenden Zuspruch (praeclare […] facis) seines Gesprächspartners erntet. 709 Jener preist das Talent und die Bescheidenheit des noch nicht anwesenden Schülers (multa iam mihi data signa puerum et pudoris et ingenii), gibt jedoch mit dem Hinweis auf dessen junges Alter (sed aetatem vides) auch eine Skepsis dahingehend zu erkennen, ob Lucullus bereits studieren sollte. Die Cicero-Figur entgegnet darauf: 710 24F

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Video equidem. […] sed tamen iam infici debet iis artibus, quas si, dum est tener, conbiberit, ad maiora veniet paratior. Das sehe ich natürlich, aber man muss ihn doch schon in Berührung mit diesen Wissenschaften bringen, in denen er dann besser gerüstet zu Höherem gelangen wird, wenn er sie schon in zartem Alter in sich aufgenommen hat.

Zwar bleibt offen, welches Fach mit „diesen Wissenschaften“ (iis artibus) konkret gemeint ist, doch weist sich Cicero als Vertreter jener Position aus, wonach bereits sehr früh eine Einführung in die artes gegeben werden müsse, wodurch er zu der in De finibus 1 durch Torquatus aufgeworfenen Bildungsfrage Stellung bezieht. 711 Das kurze Gespräch über die Bildung des Lucullus endet mit der grundsätzlichen Zustimmung Catos, der daraufhin das Gesprächsthema umleitet, indem er Cicero nach den Büchern fragt, die er sich ausleihen möchte. 712 27F

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b)

Cicero als akademischer Philosoph

Das philosophische Profil der Person wird bereits unmittelbar vor Beginn der philosophischen Untersuchung deutlich, indem die Dialogfigur erklärt, wegen Aufzeichnungen des Aristoteles (commentarios quosdam […] Aristotelios) die

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Bei Caepio scheint es sich um den Q. Servilius Caepio gehandelt zu haben, welcher der Onkel mütterlicherseits des Lucullus war und bereits früh verstarb. Zur Zuordnung s.: Wright 1991, S. 119; Gigon/Straume-Zimmermann 2002, S. 484. Cic. fin. 3,9. Ebd., 3,9. Ebd., 1,71f. Ebd., 3,9f.

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Bibliothek aufgesucht zu haben, die er lesen wolle, sobald er Zeit dafür habe. 713 Das Interesse für jene Bücher weist ihn nicht zwangsläufig als Peripatetiker aus, da er als Akademiker einer umfassenden Lektüre verpflichtet ist, es genügt jedoch, um Cato zu provozieren und das Gespräch in Gang zu setzen. Auf dessen Aussage, dass er sich Cicero als Anhänger der Stoa wünschen würde, entgegnet dieser: 714 29F

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Vide, ne magis, […] tuum fuerit, cum re idem tibi, quod mihi, videretur, non nova te rebus nomina imponere. ratio enim nostra consentit, pugnat oratio. Sieh zu, dass es nicht eher deine Aufgabe gewesen wäre, da du doch in der Sache meine Meinung teilst, den Dingen keine neuen Namen zu geben. Im Denken stimmen wir ja überein, nur in der Ausdrucksweise gibt es einen Gegensatz.

Die These, wonach Stoa und Peripatos sich nur in der Ausdrucksweise (oratio) unterscheiden würden, wurde bekanntlich von Antiochos von Askalon, dem neben Philon von Larissa wichtigsten Lehrer Ciceros, vertreten. 715 Ein zentraler Aspekt seiner Kritik an der Stoa besteht in dem Vorwurf, dass die stoische Definition des summum bonum sich nur auf die Vernunftnatur des Menschen richte und dabei die körperliche Natur des Menschen vernachlässige. 716 Die Beschränkung des höchsten Guts auf die virtus würde dazu führen, dass das Streben nach dem Naturgemäßen seinen ethischen Wert verliere und die Weisung, gemäß der Natur zu leben, nicht aufrechterhalten werden könne. 717 Während die CiceroFigur im ersten Gespräch gegenüber Torquatus versuchte, ihren Kontrahenten durch ein sokratisches Wechselgespräch zu überführen, bleibt diese Art der Untersuchung diesmal aus, indem sie dem Drängen ihres Gesprächspartners, der sich das Recht auf einen zusammenhängenden Vortrag selbst einräumt, nachgibt. 718 Dagegen räumt Cicero Cato ein, ihn jederzeit unterbrechen zu dürfen, 231F

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Cic. fin. 3,10. Hinter den commentarii vermutet man die esoterischen Schriften, die einen mit Vorlesungen vergleichbaren Charakter besitzen, vgl. Merklin 2003, S. 508, Anm. 9. Cic. fin. 3,10. Ob Antiochos der erste Vertreter dieser These war, ist fraglich. Als relativ sicher gilt, dass er sie in den frühen 70er Jahren in Buchform veröffentlichte, was aus einer Referenz in De natura deorum hervorgeht: Cic. nat. deor. 1,16; Patzig hielt sie für den entscheidenden Einfluss Ciceros in De finibus: Patzig 1979, S. 315; vgl. Gawlick/Görler 1994, S. 1040. Dass die Dialogfigur sich als Vertreter der Akademie in De finibus 3 und 4 auf ihn beruft, während er in den Academici libri dessen Lehrer Philon vertritt, stellt aufgrund der verschiedenen Schwerpunktsetzungen keinen Seitenwechsel dar, da der Konflikt zwischen den beiden Philosophen sich im Bereich der Erkenntnistheorie abspielte. Cic. fin. 4,24–39; vgl. Gawlick/Görler 1994, S. 1040. Cic. fin. 4,40–48; vgl. Gawlick/Görler 1994, S. 1040f. Cic. fin. 3,14.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

während er der Lehre Zenos die von Speusipp, Aristoteles, Polemon und Theophrast gegenüberstellen werde, wodurch er sich zwar einerseits dem Gesprächspartner anpasst, ihm jedoch andererseits überlegen scheint, da er sich beider Verfahrensweisen, der zusammenhängenden Rede ebenso wie dem sokratischen Wechselgespräch, als fähig erweist. 719 Das Ziel des Akademikers Cicero, der sich im Wesentlichen auf die Ältere Akademie und den Peripatos zu stützen scheint, scheint dabei nicht die Widerlegung der Stoa als solcher, sondern ihres von ihm als dogmatisch empfundenen Anspruchs, als einzige Schule die Wahrheit zu repräsentieren. 720 Im Rahmen der Widerlegung zeigt sich die Dialogfigur nicht nur als sich auf Vernunftargumente stützender Philosoph, sondern auch als römischer Advokat der Akademie. 235F

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c)

Cicero als römischer Politiker und Kritiker der Stoa

Als sich die Figur des Autors gleich zu Beginn des vierten Buchs eine Bedenkzeit für ihre Replik erbittet, wird die Gesprächssituation durch den Gesprächspartner Cato mit der Praxis des römischen Gerichts parallelisiert, indem er fordert, dass Cicero als Verteidiger nun am selben Tag noch dem Ankläger antworten müsse (eodem die accusatori respondere). 721 Dabei spielt Cato auch auf den skandalträchtigen Milo-Prozess an, der in dem Jahr, in dem der Dialog angesetzt ist, stattfand und in dem er einer der Richter war. 722 Der Verweis auf die Rollen, welche beide Gesprächspartner in der Realität der res publica innehatten, antizipiert bereits die Grundlage für Ciceros Hauptkritik an der Ethik der Stoa. Diese wird erneut als im öffentlichen Leben Roms nicht realisierbar gesehen. Aus dem soziokulturellen Kontext heraus äußert die Dialogfigur vor allem Kritik an dem sprachlichen Stil der Stoiker, der aus dem Verhältnis der Stoa zur Staatsphilosophie und Rhetorik erwachse. Während die Alte Akademie und der Peripatos zu diesen Bereichen eine Fülle von Büchern verfasst hätten, würde die stoische Schultradition diese stiefmütterlich behandeln. 723 Aufgrund der Ablehnung der Rhetorik hätte die Stoa mit einem kommunikativen Problem zu kämpfen und würde es nicht fertigbringen, eine Menschenmenge von ihren Ideen zu überzeugen. 724 Der Vorwurf, von dem er Cato aufgrund seiner auch rhetorischen Ausbildung dezidiert ausnimmt, ähnelt der Kritik an Epikur, doch ist er in die237F

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Cic. fin. 4,3. Zu der Spannung zwischen den beiden unterschiedlichen Systemen, die durch die Dialoginszenierung hervorgerufen wird, s. auch: Gorman 2005, S. 134. Vgl. Lévy 1984, S. 119–121. Cic. fin. 4,1. Zur Verteidigung des Milo s. etwa: Gelzer 2014, S. 188–192; Bringmann 2010, S. 167–169. Cic. fin. 4,5–7. Ebd., 4,7.

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sem Fall nicht durch die Kernaussagen der Philosophie selbst bedingt, sondern durch eine grundsätzliche Ablehnung des forensischen Stils. 725 Die Unvereinbarkeit der stoischen Sprache mit dem öffentlichen Leben wird durch die historischen Beispiele der Bedrohung durch Hannibal und des Triumphs des Scipio Africanus mit rhetorischer Schärfe illustriert und abschließend nochmals betont: 726 241F

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quae est igitur ista philosophia, quae communi more in foro loquitur, in libellis suo? praesertim cum, quod illi suis verbis siginifent, in eo nihil novetur, [de ipsis rebus nihil mutetur] eaedem res maneant alio modo. Was ist das eigentlich für eine Philosophie, die auf dem Markt eine normale Sprache spricht, in ihren Traktätchen dagegen eine ganz spezielle? Zumal in dem, was diese Leute mit ihren Worten bezeichnen, keine Neuerung und in der Sache selbst keine Änderung stattfindet, die Dinge also unter veränderter Bezeichnung dieselben bleiben.

Wie im Vortrag gegen Epikur im zweiten Buch wird versucht, den stoischen Rigorismus als wirklichkeitsfern zu entlarven, indem man ihn mit der Realität eines römischen Gerichts kollidieren lässt. 727 Die Sprache der Stoa sei demnach im öffentlichen Raum (in foro) unbrauchbar und nur auf den Bereich der Bücher (in libellis) beschränkt. Die mitschwingende Stilkritik rekurriert auf den Standpunkt von Ciceros Werken zur Rhetorik (De oratore, Brutus). Die Dialogfigur unterlässt es dabei aus Respekt gegenüber Cato, diesen selbst und seine Niederlage im Murena-Prozess als Beispiel heranzuziehen und belässt es bei einer Anspielung auf jene causa. 728 Um die Unvereinbarkeit der stoischen Doktrin mit der res publica zu beweisen, greift die Dialogfigur auch auf ein Familienmitglied Catos zurück. 729 Durch die Gegenüberstellung des Drusus mit Gaius Gracchus betont er eine republikanisch orientierte Tradition, welche bis auf seinen Urgroßvater Cato Censorius zurückginge. 730 Die res publica erscheint damit wie in De finibus 1, 2 und 5 als Experimentierfeld, auf dem sich die Stoa beweisen müsste, auf dem sie jedoch aufgrund ihrer mangelnden Sprache und der rigorosen Härte ihrer Forderungen scheitern würde. Als besseres Modell empfiehlt Ciceros Alter Ego die Philosophie des Peripatos, deren Klarheit er bereits zu Beginn seiner Gegenrede der Stoa (verbum nullum est, quod non intellegatur) gegenüberstellt. 731 Neben der ver243F

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Cic. fin. 4,7. Ebd., 4,22. Vgl. Gigon/Straume-Zimmermann 2002, S. 520. Cic. fin. 4,74. Ebd., 4,66. Ebd., 3,37; vgl. Gigon/Straume-Zimmermann 2002, S. 496f. Cic. fin. 4,2.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

ständlicheren Sprache wird auch ihre reichhaltige schriftstellerische Produktion gelobt, in der sie sich „glanzvoll“ (polite apteque), die Stoiker dagegen kaum und wenn, dann „schmucklos“ (squalidus) hervorgetan hätten. 732 Mit dem Beispiel des M. Pupius Piso, den er als gemeinsamen Freund nennt (noster familiaris), verweist er auf einen römischen Anhänger des Peripatos, der gegen die Stoa eiferte, und kündigt kompositorisch bereits das Gespräch des nächsten Buchs an. 733 Von der genannten Kritik gegenüber der Stoa nimmt er jedoch ausdrücklich Panaitios aus, dessen Verbindung zur römischen Aristokratie er ostentativ herausstellt: 734 248F

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itaque homo in primis ingenuus et gravis, dignus illa familiaritate Scipionis et Laelii, Panaetius, cum ad Q. Tuberonem de dolore patiendo scriberet, quod esse caput debeat, si probari posset, nusquam posuit, non esse malum dolorem, […]. Deswegen hat Panaitios, ein besonders edler und bedeutender Mann, der des vertrauten Umgangs mit einem Scipio und Laelius gewürdigt wurde, in einer Q. Tubero gewidmeten Schrift über das Erdulden von Schmerzen nirgends die These aufgestellt, die die Hauptsache hätte bilden müssen, wenn sie bewiesen werden könnte, dass der Schmerz kein Übel sei, […].

Der hohe Rang, den Panaitios für den Autor einnimmt, zeigt sich ebenfalls in der peroratio, in der er als Muster eines anspruchsvolleren Stoikers gepriesen wird, der auf die in jener Schule verbreitete herbe Sprache und Spitzfindigkeit verzichtet habe (illorum tristitiam atque asperitatem fugiens), wodurch er umgänglicher und deutlicher sprach (fuitque in altero genere mitior, in altero illustrior), und der häufig auf die Autoritäten Platon, Aristoteles, Xenokrates, Theophrast und Dikaiarch zurückgegriffen hätte. 735 Durch das Lob auf Panaitios zeigt sich die Dialogfigur Ciceros der des Cato als deutlich überlegen, da sie hinsichtlich der Stoa über mehr Sachverstand zu verfügen scheint als ihr Gesprächspartner. Zudem wird erkennbar, dass es ihm nicht um eine generelle Ablehnung jener Lehre geht, von der er behauptet, dass sie sich nur terminologisch vom Peripatos unterscheide. 251F

d)

Cicero als Übersetzer und Auftreten im Kontext der Gesprächsethik

Im Hinblick auf den bereits angesprochenen Übersetzungsaspekt konnten wir bereits im vorherigen Kapitel eine interessante Rollenverteilung feststellen: die Dialogfigur Cicero regt den Gesprächspartner Cato erfolgreich dazu an, für die 732 733 734 735

Cic. fin. 4,5. Ebd., 4,73. Ebd., 4,23. Ebd., 4,79.

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De finibus bonorum et malorum 3 und 4

von der Stoa eingeführten Fachausdrücke lateinische Pendants zu finden. 736 Der Autor gibt somit das Verdienst der Übersetzung an die Person Catos ab, behält sich jedoch die Rolle des Unterstützers vor, wodurch dem Leser signalisiert wird, wer der eigentliche Übersetzer ist. Als Cato bevorzugt, den Begriff der κακία mit vitia statt mit malitia zu übersetzen, erhält er neben einem generellen Lob auf seine Darstellung Rückendeckung durch Cicero: 737 25F

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Virtutibus igitur recitissime mihi videris et ad consuetudinem nostrae orationis vitia posuisse contraria. quod enim vituperabile est per se ipsum, id eo ipso vitium nominatum puto, vel etiam a vitio dictum vituperari. sin κακίαν malitiam dixisses, ad aliud nos unum certum vitium consuetudo Latina traduceret. nunc omni virtuti vitium contrario nomine opponitur. So scheint mir, dass du völlig richtig und entsprechend unserem Sprachgebrauch den Tugenden die Laster entgegenstellst. Ich glaube nämlich, dass man das, was seinem Wesen nach so ist, dass man darüber lästern kann, gerade darum als Laster bezeichnet hat, oder auch dass das Wort ‚lästern‘ von ‚Laster‘ kommt. Wenn du jedoch das Wort ‚κακία‘ mit ‚Bosheit‘ wiedergegeben hättest, so würde uns der Sprachgebrauch in unserer Sprache auf einen anderen Gedanken bringen, nämlich den an ein bestimmtes Laster. So aber wird der Tugend insgesamt das Laster mit dem entgegengesetzten Begriff gegenübergestellt.

Der Autor überlässt damit die Rolle des Übersetzers ostentativ der Dialogfigur Catos, während die eigene Figur nur unterstützend einwirkt, ehe sie sich im vierten Buch an der von dem Gesprächspartner entworfenen Grundlage orientiert. Durch die Thematisierung der Übersetzung stellt der Autor die grundsätzliche Eignung der eigenen Sprache für den philosophischen Diskurs heraus. Betrachtet man vergleichend das Auftreten beider Dialogfiguren in Hinsicht auf den in ciceronischen Dialogen üblichen Umgangston, so lässt sich ein Kontrast feststellen, der die unterschiedliche philosophische Ausrichtung auch sozial zu illustrieren scheint. Zwar fehlt es in Ciceros Rede nicht an Ironie gegenüber den Sätzen stoischer Autoritäten, 738 doch unterlässt er es nach Catos Vortrag nicht, diesen ausdrücklich für die Darstellung der stoischen Lehre und die Übersetzung des Fachvokabulars zu loben. 739 Darüber hinaus wird seine Persönlichkeit von der Dialogfigur des Autors ausdrücklich als „Muster aller Tugend“ 254F

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Cic. fin. 3,15. Ebd., 3,40. So etwa gleich zu Beginn gegen Zenon von Kition, Cic. fin. 4,21: O magnam vim ingenii causamque iustam, cur nova existeret disciplina! […] haec videlicet est correctio philosophiae veteris et emendatio, […]. – „Welch große Geisteskraft und welch triftiger Grund für die Entstehung einer Lehre. […] Das ist wahrhaftig eine Richtigstellung und Verbessererung der alten Philosophie; […].“ Cic. fin. 4,1; ebenso 4,14.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

(omnium virtutum auctor) gepriesen. 740 Dieser hingegen zeigt sich zwar als begeisterter Verteidiger seines Fachs, präsentiert sich jedoch, anstatt Ciceros Vortrag ein Kompliment zu machen, als kompromissloser und rechthaberischer Zeitgenosse, der seine letzten Worte für eine Stichelei (scrupulum) nutzt. 741 Der Kontrast zeigt sich auch in der Haltung der beiden Figuren zur Methode: Während Cato darum bittet, seine Position ohne Zwischenworte vortragen zu dürfen, bietet Cicero jenem ausdrücklich an, von solchen Gebrauch zu machen. 742 Dabei entsteht der Eindruck, dass sich der Autor durch die Verschiedenheit der beiden Dialogfiguren selbst profilieren will, indem er Cato als einen ihm zumindest in philosophischer Hinsicht unterlegenen Redner präsentiert. Allerdings konnte es Cicero nicht um eine Herabsetzung der Person gehen, da eine solche dem Werben um die Gunst seines Neffen Brutus zuwidergelaufen wäre. 743 Der Kontrast zwischen beiden Dialogfiguren korrespondiert vielmehr mustergültig mit dem akademischen Philosophieverständnis des Autors, dessen Dialogfigur sich insgesamt als flexibler erweist als sein stoischer Konkurrent. 744 256F

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Zusammenfassung

Es lässt sich somit konstatieren, dass es dem Autor neben der memoria an den gefallenen Bürgerkriegsteilnehmer vor allem darum ging, auch im zweiten Gespräch ein Milieu aufzuzeigen, in dem die Philosophie in lateinischer Sprache gedeihen kann. Während er seine Dialogfigur parallel zu dem ersten und dritten Dialog von De finibus als akademischen Philosophen darstellt, der sich undogmatisch der philosophischen Auseinandersetzung stellt, porträtiert er durch die des jüngeren Cato einen raueren Typus des Intellektuellen, der mit Leidenschaft und Hartnäckigkeit seine Denkschule authentisch verkörpert. Der Vertreter des Autors präsentiert sich gegenüber ihm als Helfer und Unterstützer in dem lebendig dargestellten Transferprozess griechischer Philosophie. Erneut sticht der römische Charakter der Dialogfigur hervor, indem sie sich von Anfang an als Mahner präsentiert, der an die Verstorbenen erinnert, wodurch das dialogexterne Anliegen der memoria in die literarische Welt projiziert wird. Die Verbindung zum Ort und der nicht anwesenden Person des jungen Lucullus zeigt beide in 740 741 742 743

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Cic. fin. 4,44. Ebd., 4,80. Ebd., 4,14, 44. Fraglich ist auch, ob innerhalb der römischen Nobilität eine in literarischer Form dargebrachte Kritik an den philosophischen Standpunkten eines Familienangehörigen überhaupt als persönlicher Angriff gewertet wurde oder hierin nicht vielmehr ein gewisser Freiraum bestand. Zu einer vergleichbaren Interpretation kommt auch Long, der insbesondere im Vergleich Catos mit Piso im fünften Buch eine intendierte Gegenüberstellung akademischen und stoischen Stils erkannte, der die Überzeugungskraft der akademischen Rhetorik unterstreicht: Long 2015, S. 190–197.

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Brutus

einer lehrerähnlichen Funktion, die für das philosophische Gespräch ein adäquates Bildungsumfeld erzeugt. Der im Dialog skizzierte Kontakt zwischen Cato und Cicero erscheint dabei als ein Treffen zweier römischer Anwälte und Staatsmänner, die die Sache ihrer jeweiligen philosophischen Lehrmeinung wie Klienten vor einem Gericht vertreten.

6

Brutus

Mit dem Dialog Brutus nahm Cicero seine literarische Tätigkeit wieder auf, die, lässt man die publizierten Reden außer Acht, nach seiner Arbeit an De legibus geruht hatte. Die genaue Datierung des Dialogs und damit des dramatischen Datums, welches mit nuper auf einen Zeitpunkt kurz vor der Publikation hindeutet, 745 erweist sich mangels einer expliziten Erwähnung der Schrift in der Korrespondenz des Jahres 46 als schwierig. Zur Orientierung soll im Folgenden von der Zeit um den 6. April 46, als der Ausgang der Schlacht von Thapsos in Rom bekannt wurde, ausgegangen werden. 746 Cicero, der nach der Schlacht von Pharsalos (August 48) elf Monate in Brundisium ausgeharrt hatte und im Herbst 47 begnadigt worden war, wartete im Frühjahr auf die nächsten politischen Schritte des Diktators. 747 Im Brutus, der eine neue Phase literarischer Produktivität einleitet, spiegelt sich seine Ungewissheit über die Zukunft der res publica. 748 Mit Blick auf den 261F

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Cic. Brut. 9. Die verschiedenen Datierungsversuche der Forschung variieren deutlich: so versuchte Groebe die Datierung des Brutus unter Berücksichtigung der Erwähnung einer nach Brutus benannten Schrift in den Paradoxa Stoicorum und der Kalenderreform auf das Ende Februar 46 einzuschränken: Groebe 1920; ihm folgten Kroll 1939, Sp. 1099 und Douglas 1966a, ix–x, der die Möglichkeit einer Überarbeitung im April einschloss. Narducci nahm eine Fertigstellung im März ohne spätere Eingriffe in das Werk an: Narducci 1997, S. 102 u. 2002a, S. 401. Robinson setzte den Beginn der Abfassung im Herbst des Jahres 47 an und ging von einer zwischenzeitlichen Unterbrechung der Arbeit aus, die dann erst im März 46 vollendet worden sei: Robinson 1951; gegen die Datierungsversuche der älteren Forschung argumentierte Bringmann, der lediglich an dem April des Jahres 46 als terminus ante quem festhielt: Bringmann 1971, S. 13–16 u. 2010, S. 217. Während aufgrund dialoginterner Hinweise lange von einer Entstehung vor dem Bekanntwerden des Ausgangs der Schlacht von Thapsos (6. April 46) ausgegangen wurde, stellte Gowing zuletzt einige Aspekte heraus, die für einen Zeitpunkt kurz nach der Nachricht von Caesars Sieg in Africa sprechen könnten, s.: Gowing 2000, bes. S. 60–62; ihm folgte zuletzt: Hall 2009. Zur Datierung des Brutus s. auch: Marinone/Malaspina 2004, S. 191. Vgl. Narducci 1997, S. 103. Einen detaillierten Überblick über den politischen Kontext während der Abfassungszeit sowie zu Ciceros damaligem Verhältnis und Beurteilung der res publica liefert: Rathofer 1986, S. 1–23.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Entstehungskontext der Schrift unter der Diktatur Caesars und angesichts der Widmung an M. Iunius Brutus steht seit geraumer Zeit der politische Charakter der Schrift im Interesse der historischen Forschung. 749 Dieser ist jedoch nicht alleine durch die ereignisreiche Zeitgeschichte bedingt, sondern ergibt sich auch durch das Thema des Werkes, das sich um eine Darstellung der Geschichte der Rhetorik bemüht, deren Wirkungsbereich der öffentliche Raum, Kurie und Forum, darstellt. 750 Hierbei ist zu fragen, wie sich der Inhalt des Brutus gegenüber Caesar positioniert und inwiefern er einen apologetischen Charakter aufweist, der an Ciceros Standesgenossen adressiert war, worauf im folgenden Teil nochmals zurückzukommen sein wird. 751 Der politische Charakter des Brutus zeigt sich dahingehend nach Bringmann nicht nur in der Klage über den Bürgerkrieg und der durch ihn bedingten Situation der römischen Beredsamkeit, sondern auch in dem Bild, das der Autor von sich selbst entwirft. 752 Neben dem politischen Kontext stellt die zeitgenössische Problematik zweier konkurrierender Stilideale der Rhetorik einen wichtigen Einfluss auf das Werk dar. Frühestens ab 54 v. Chr. entbrannte ein Konflikt zwischen Anhängern eines wortreichen, von ihren Gegnern als schwülstig kritisierten Asiaticum genus orationis und einer sich auf Lysias und Hypereides berufenden, bewusst einfach gehaltenen Attica dictio, wofür sich in der Wissenschaft die Begriffe des Asianismus und Attizismus eingebürgert haben. 753 Die von einem Generationenkonflikt befeuerte Auseinandersetzung wird im Brutus erstmals von Cicero aufgegriffen, der möglicherweise das eigene rednerische Ideal angegriffen sah, demzu265F

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Schon Schmidt erkannte im Brutus einen „politischen Text“, der großes Aufsehen erregt habe, aber von Caesar als „republikanischer Stoßseufzer“ ungestraft geblieben sei: Schmidt 1893, S. 39. Dagegen interpretierte Gelzer die Schrift als Gesprächsangebot an Caesar, der die Republik wie einst Sulla wiederherstellen solle: Gelzer 1963, S. 248–250; hierzu kritisch: Bringmann 1971, S. 17f. Am weitesten ging Baldson, der das Werk in Bezug auf die Iden des März als Aufforderung an Brutus interpretiert, den regierenden Tyrannen Caesar zu ermorden: Baldson 1958; hierzu kritisch: Narducci 1997, S. 99f., Anm. 8. Eine ausgewogenere Auffassung vertritt Strasburger, der in der Schrift einen „ritterlichen Angriff“ auf Caesar sieht, der als Schriftsteller, jedoch nicht als Staatsmann geehrt werde: Strasburger 1990, S. 436. Zu einer anderen Einschätzung kommt Heldmann, der im Brutus einen „Rückzug ins Private“ erkannte, der zugleich als „politischer Akt“ betrachtet werden müsse: Heldmann 1982, bes. S. 213; dagegen argumentierte überzeugend: Rathofer 1986, S. 24–32. Der sich dadurch ergebende politische Grundcharakter spricht, wie Bringmann hervorhob, gegen die von Robinson vorgetragene These einer späteren Überarbeitung des Textes, s. Bringmann 1971, S. 16; Robinson 1951. Vgl. Bringmann 1971, S. 17f.; Bellincioni 1985, S. 59; Allegri 2009, S. 727f. Der apologetische Charakter der Schrift spielt mit Blick auf das herauszustellende politische Profil der Dialogfigur eine entscheidende Rolle. Vgl. Allegri 2009, S. 728: „Il ‚Brutus‘ non è solo tessitura della storia dell’eloquenza, ma è costruzione della immagine di Cicerone.“ Vgl. Kytzler 1973, S. 477.

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Brutus

folge der ideale Redner neben anderen auch die Fähigkeit zur ausdrucksreicheren Rede im Stile der Asianer beherrschen sollte. 754 Der Einfluss jener Auseinandersetzung auf die Schriften Brutus und Orator ist unumstritten: während Douglas ihm weniger Bedeutung für die Interpretation beimaß 755, erkannte Narducci in der Geschichte griechischer und römischer Redner den Versuch des von den Attizisten kritisierten Autors, das eigene Stilideal historisch zu fundieren. 756 Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, nutzt Cicero auch das dialogische Setting dafür, sich mit der gegen ihn vorgebrachten Kritik auseinanderzusetzen. Der Kern des Werks, das hinsichtlich seiner Thematik in der antiken Literatur Einzigartigkeit beanspruchen kann, besteht aus einer Darstellung der Entwicklung der römischen Redekunst mittels einer chronologischen Analyse der einzelnen Redner in Dialogform. 757 Die Behandlung der insgesamt 275 Redner erfolgt dabei in Gruppierungen nach der persönlichen dignitas und dem Geburtsjahr. 758 Eingeschoben finden sich Sondergruppen wie beispielsweise die Stoici oder die aus Provinzstädten stammenden Redner. 759 Durch die im Brutus dargestellte Geschichte der Redner thematisiert Cicero – wie Gowing herausstellte – die Bedeutung der zeitgenössischen Redner für die memoria, welche „vital to he health of the Republic“ sei. 760 Das individuelle Schweigen Ciceros, das als durch den Bürgerkrieg hervorgerufen erscheint, wird durch das Verfassen einer Schrift durchbrochen, die dahingehend gleichzeitig als Plädoyer für die Wiederherstellung einer Gesellschaft gesehen werden kann, in der Redner eine Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit gewährleisten können. 761 Der Charakter des Dialogs ähnelt in einigen zentralen Punkten stärker den Werken aus den 50er Jahren als den kommenden: So lässt sich die Figur des Autors zwar gemessen am Gesprächsanteil problemlos als „Hauptredner“ klassifizieren, doch wirken Brutus und Atticus neben ihm als gleichberechtigte Gesprächspartner, die sich häufig zu Wort melden und dadurch die von Kytzler gelobte „wechselreiche lebendige Gesprächsführung“ erst ermöglichen. 762 Das auch im Brutus applizierte aristotelische Prinzip der zusammenhängenden Rede, welches Cicero in seinem philosophischen Spätwerk bevorzugte, wird auf diese Weise aufgeweicht, wodurch die Gefahr der Monotonie verringert wird. 763 Während das dramatische Datum mit nuper auf eine gegenwartsnahe Zeit gelegt wird, 270F

271F

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279F

754 755 756 757 758 759 760 761

762 763

Vgl. Kytzler 1973, S. 477; Narducci 1997, S. 124–133. Vgl. Douglas 1966a, S. xiii. Narducci 1997, S. 127–133. Zur Einzigartigkeit des Brutus s.: Kytzler 1973, S. 460–462; Narducci 1997, S. 103f. Zur Strukturierierung des Brutus s. Douglas 1966b, S. 291–304. Cic. Brut. 117–121, 169–172; vgl. Kytzler 1973, S. 467. Gowing 2000, S. 41. Zum Motiv des Schweigens, das am Anfang von Pro Marcello anklingt, s. Gowing 2000, S. 59–61. Kytzler 1973, S. 464. Vgl. Narducci 1997, S. 108f.

492

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

verleiht die Wahl von Ciceros Haus in Rom (domi) als Gesprächsort dem Brutus eine gewisse Einzigartigkeit, da es sich um den einzigen Dialog handelt, der in Rom selbst situiert ist. 764 Beweggründe für den Verzicht auf das otium der Villa liefern sowohl die Thematik des Werks, das sich den römischen Rednern widmet, deren Zentrum das Forum darstellt, als auch der Bürgerkrieg und die Abwesenheit Caesars, wodurch der politische Betrieb in Rom ohnehin ruhen musste. 280F

6.1

M. Tullius Cicero

a)

Cicero als Hauptredner

Wie zuvor in De legibus, so nimmt Cicero auch im Brutus eine zentrale Rolle ein, in der er sich den Gesprächspartnern und den Lesern als Autor präsentiert. Das Gespräch entsteht infolge eines Besuchs seiner beiden Freunde Atticus und Brutus, die ihn in der Säulenhalle (xysto) auf- und abgehend und im Zustand der Muße (cum inambularem […] essem otiosus) antreffen. 765 Das otium rekurriert auf die politische Situation Ciceros, der zum Zeitpunkt der Entstehung des Brutus zwar bereits begnadigt war, der jedoch hinsichtlich der res publica und der nächsten Schritte Caesars nach dessen Rückkehr in eine ungewisse Zukunft blickte. Die Brüchigkeit dieser Mußezeit wird bereits durch seine erste Wortmeldung beim Erscheinen der beiden Freunde deutlich, indem er sogleich nach „Neuigkeiten“ fragt (numquid tandem novi?). 766 Das Auf- und Abgehen in der Säulenhalle präsentiert die Dialogfigur gegenüber dem Rezipienten in einem philosophischen Habitus, der an den Peripatos anknüpft, jene philosophische Tradition, deren Wert für die Ausbildung des Redners später im Werk positiv hervorgehoben wird. 767 In dem darauffolgenden Gespräch legt Cicero die Geschichte der römischen Beredsamkeit dar, wobei – anders als in den kommenden philosophischen Werken – viele Unterbrechungen den Vortrag auflockern und Exkurse ermöglichen. Der offene Gesprächsstil ermöglicht es darüber hinaus auch den Nebenfiguren, ein persönliches Profil zu entwickeln. 768 281F

28F

283F

284F

b)

Cicero als Leser und Schriftsteller

Wie zuvor in De legibus präsentiert sich die Figur als Schriftsteller, doch erfährt dieses Profil im Brutus eine bedeutende Erweiterung, die bereits am Anfang des Dialogs deutlich zutage tritt. Nachdem Atticus von seiner Freude bei der Lektüre

764 765 766 767 768

Cic. Brut. 10. Ebd. Ebd. Ebd., 120. Vgl. Hirzel 1895, S. 495.

Brutus

493

eines Werkes des Brutus berichtet hat, schließt sich Cicero diesem Urteil an und erklärt: 769 285F

nam me istis scito litteris ex diuturna perturbatione totius valetudinis tamquam ad aspiciendam lucem esse revocatum. atque ut post Cannensem illam calamitatem primum Marcelli ad Nolam proelio populus se Romanus erexit posteaque prosperae res deinceps multae consecutae sunt, sic post rerum nostrarum et communium gravissimos casus nihil ante epistulam Bruti mihi accidit, quod vellem aut quod aliqua ex parte sollicitudines adlevaret meas. Dein Schreiben hat mich aus langer Zerrüttung des ganzen Gesundheitszustandes wieder dahin gebracht, gleichsam das Tageslicht zu schauen. Und wie nach jener Katastrophe von Cannae durch das Gefecht des Marcellus bei Nola das römische Volk wieder Mut fand und sich danach von Mal zu Mal viele Erfolge einstellten, gerade so fiel mir nach den völlig niederschmetternden Unglücksfällen in unseren persönlichen Belangen und in denen des Gemeinwesens vor Brutus’ Schreiben nichts zu, was ich mir gewünscht oder was mir in irgendeiner Hinsicht aus meiner bedrückten Stimmung aufgeholfen hätte.

Während Cicero in De legibus noch der einzige im Gesprächskreis war, dessen literarisches Schaffen thematisiert wurde, kommt die Autorenrolle nun auch den beiden Gesprächspartnern zu. Er selbst tritt somit erstmals als Leser von lateinischen Werken seiner Gesprächspartner in Erscheinung. In dieser neuen Rolle fungiert die Dialogfigur des Autors als Überbringer von Lob und Anerkennung für die literarische Leistung des Gesprächspartners, der diese stellvertretend für die historische Vorlage in Empfang nimmt. 770 Die Anspielung auf die Niederlage bei Cannae (post Cannensem illam calamitatem) erzeugt einen Vergleich der Situation Ciceros mit jenem dunklen Moment römischer Geschichte. Die Erwähnung des Marcellus stellt wahrscheinlich eine Referenz an jenen im Exil auf Mytilene lebenden Marcellus dar, den Brutus kurz zuvor dort besucht hatte. 771 Cicero präsentiert sich mittels seiner Dialogfigur als Leser und Adressat, wodurch das Verfassen seines Werkes eine weitere Legitimität dahingehend bekommt, dass er auf die ihm gewidmeten Werke reagieren muss. Die Würdigung der Bücher seiner Gesprächspartner lässt den Dialog zum Kommunikationsmedium der realen Konversation werden, wobei der Unterschied zur realen Konversation darin besteht, dass der Autor in dieser Form – im Unterschied zur Briefform – die Möglichkeit einer künstlerisch komplexeren, das heißt einer dramatischen Einkleidung hat, wovon er rege Gebrauch macht. Das Gespräch 286F

287F

769

770 771

Cic. Brut. 12. Der Text zum Brutus folgt stets der Edition von Malcovati, die Übersetzung, wenn nicht anders vermerkt, der Ausgabe von Gunermann. Zu Marcellus s. auch unten S. 499f. u. 502. Hendrickson hält es für möglich, dass Cicero an dieser Stelle auf die ihm von Brutus zugesandte Schrift De virtute anspielt und einen dort getroffenen Vergleich aufgreifen könnte: Hendrickson 1939, S. 410f.

494

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

selbst, das in einem sorgenvollen Tonfall und in Erinnerung an das Unglück der res publica beginnt, verweist dabei nicht nur auf die trostspendende Wirkung der Literatur und des geistigen Austausches, sondern illustriert diese auch, indem das Gespräch von der Politik zur Literatur überwechselt. 772 Aus dieser Position des Empfängers heraus inszeniert sich Cicero nun als säumiger Autor, der durch jene Werke in der Schuld der anderen stehe, indem er zum Liber annalis anmerkt, dass die literarische Beschäftigung (tractatio litterarum) für ihn rettend (salutaris) gewesen sei und ihn ermahnt habe, Atticus, gemäß Hesiods Wort, nun ein gleichwertiges Geschenk zu machen. 773 In diesem Kontext erklärt er: 774 28F

289F

290F

ego autem voluntatem tibi profecto emetiar, sed rem ipsam nondum posse videor; idque ut ignoscas, a te peto. nec enim ex novis, ut agricolae solent, fructibus est unde tibi reddam quod accepi – sic omnis fetus repressus exustusque flos siti veteris ubertatis exaruit –, nec ex conditis, qui iacent in tenebris et ad quos omnis nobis aditus, qui paene solis patuit, obstructus est. seremus igitur aliquid tamquam in inculto et derelicto solo; quod ita diligenter colemus, ut impendiis etiam augere possimus largitatem tui muneris: modo idem noster animus efficere possit quod ager, qui quom multos annos quievit, uberiores efferre fruges solet. Ich werde dir gewiss in rechtem Maß deine gute Absicht belohnen, aber die Schuld als solche abzutragen, dazu bin ich, scheint mir, noch nicht imstande. Darum bitte ich um Nachsicht. Ich habe ja weder Erträge aus neuer Ernte, um dir, wie Bauern dies tun, damit zurückzuerstatten, was ich erhalten habe – so ist jeder Trieb im Keime erstickt, die Blüten sind von Hitze ermattet und im Durst nach einstiger Üppigkeit verdorrt –, noch solche von gespeicherten Vorräten, die uns in dunkler Tenne liegen und zu denen uns jeglicher Zugang, der fast uns allein offenstand, versperrt ist. Wir werden eine Aussaat machen, gleichsam auf unbebautem und verödetem Boden, den wir so sorgsam bearbeiten werden, dass wir die Großzügigkeit deines Geschenkes sogar mit Zinseszins vermehren können, vorausgesetzt nur, unser Geist vermag dasselbe zu leisten wie ein Acker, der nach vielen Jahren der Brache reifere Früchte zu erbringen pflegt.

Die fruchtlose Zeit seit der letzten literarischen Publikation, die mit dem Brutus beendet wird, wird mittels der Dialogfigur als Fürsprecher des Autors thematisiert, der erklärt, wieso die Schuld gegenüber Atticus nicht beglichen werden konnte. 775 Das Bild aus der Landwirtschaft deutet an, dass ein sich in Arbeit befindendes Werk nicht abgeschlossen werden konnte (omnis fetus repressus 291F

772 773 774 775

Cic. Brut. 10f. Ebd., 15. Ebd., 16. Hinsichtlich der durch den Dialogmoment geschaffenen Markierung von Ciceros Wiederaufnahme der schriftstellerischen Tätigkeit spricht Narducci treffend von einem „giuoco metaletterario“: Narducci 1997, S. 107f.

495

Brutus

exustusque), was als Anspielung auf die nicht abgeschlossenen Arbeiten an De legibus gewertet wird. 776 Mit dem Bild der Landwirtschaft korreliert das des Geldverleihs, in dem der Autor als Bauer (agricola) eine Schuld in Form der von Atticus erhaltenen Aussaat aufgenommen hat und nach einer Dürre mit der Rückzahlung in Verzug geraten ist. Atticus und Brutus spielen die Rolle der Schuldeintreiber mit, was zur von ihnen gewollten Erheiterung Ciceros (paulo te hilariorem) beiträgt und die Grundlage des Gesprächs, das von Zwängen befreite otium, herbeiführt. 777 In dieser Funktion erscheint Atticus erneut als Antragssteller, der von ihm fordert, dass er etwas schreiben solle, da es seit De re publica still um seine Schriftstellerei geworden sei, und ihm versichert, dass dieses frühere Werk ihn selbst zum Schreiben veranlasst hätte. 778 29F

293F

294F

c)

Cicero als Brutus’ Lehrer und Historiker der Redekunst

Nachdem seine Stimmung aufgeheitert wurde, folgt Cicero dem Wunsch seines Freundes, ein neulich in seinem Tusculanum begonnenes Gespräch über die Redner (nuper in Tusculanum incohavisti de oratoribus) wieder aufzunehmen, da Brutus, der von Atticus davon erfahren habe, großes Interesse an dem Thema zeige (magno opere hic audire se velle dixit). 779 Die Konstellation erinnert deutlich an das didaktische Umfeld aus De oratore und De re publica: während Atticus die Rolle des Mittlers und Brutus die eines interessierten Schülers einnimmt, präsentiert sich der Autor mittels seiner Dialogfigur in einer mit einem Lehrer vergleichbaren Rolle. Er vermeidet dabei bewusst einen anmaßenden oder gar arroganten Ton, der auf den Rangunterschied der beiden Redner hinweisen würde, indem er darauf hinweist, dass er in dem früheren Gespräch von Brutus’ rednerischem Erfolg bei der Verteidigung des Deiotarus (causam […] ornatissume et copiosissume a Bruto […] defensam) gehört habe. 780 Durch das Lob auf den jungen Gesprächsteilnehmer lässt Cicero diesem ein gewisses Maß an Gleichrangigkeit zukommen, das die Asymmetrie beider Personen hinsichtlich ihrer Rolle als Redner in der dialogexternen Welt abschwächt. Indem er sich – nach Atticus – dabei auch um Brutus’ Zukunft auf dem Forum besorgt gezeigt habe, signalisiert der Autor diesem Sympathie und Anteilnahme, während er mit der Erwähnung des Deiotarus-Prozesses zugleich auf Gemeinsamkeiten anspielt. Cicero wiederholt daraufhin an Brutus gerichtet sein Bedauern darüber, dass dessen rednerische Zukunft trotz seiner bewundernswerten Begabung (natura admirabilis), seiner vorzüglichen Bildung (exquisita doctrina) und seines einzigartigen Fleißes (singularis industria) aufgrund des Zusammenbruchs der res 295F

296F

776 777 778 779 780

Zur Abfassungszeit von De legibus s. oben S. 378f., Anm. 216. Cic. Brut. 17f. Ebd., 19. Ebd., 20. Ebd., 21.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

publica und des Schweigens der eloquentia ungewiss geworden ist. 781 Obwohl jener über zentrale Qualifikationen verfügt, positioniert er sich gegen Cicero, indem er zu erkennen gibt, dass ihm die Beschäftigung mit der Redekunst um ihrer selbst willen ausreichend erscheint und die vera eloquentia nur durch prudentia möglich sei. 782 Dieser verzichtet zunächst auf eine Replik und kommt Brutus mit Lob entgegen (praeclare […] dicis), um im Anschluss seinen Vortrag auf dem Rasen bei einer Platonstatue zu beginnen (in pratulo propter Platonis statuam consedimus). 783 Die deutliche Reminiszenz an die Platonische Akademie kurz vor dem Beginn des eigentlichen Gesprächs illustriert den akademischen Grundton, den Ciceros Darstellung einnimmt, während zugleich eine weitere Gemeinsamkeit zwischen dem Autor und Brutus angesprochen wird. Dieser Grundton findet sich auch in der Behandlung der 275 Redner, in der er – wie Kytzler herausstellte – vor allem drei Kategorien aus einer explizit philosophischen Tradition als Wertmaßstab zur Beurteilung der einzelnen Redner heranzieht, die auf den vom Autor häufig zitierten Phaidros zurückgehen: zum einen die φύσις, die Cicero mit ingenuum und natura wiedergibt, zum zweiten die ἐπιστήμη, die sich als doctrina, disciplina, ars oder litterae nachweisen lässt, sowie als drittes Kriterium die μελέτη als industria, labor und studium. 784 Wie gezeigt, spricht Cicero dem Schüler genau jene positiven Eigenschaften zu. Gemäß der didaktischen Intention des Autors kommt dem letzten Kriterium ein besonderes Interesse zu, wie der Vergleich zwischen ihm und Hortensius zeigt. 785 Eine Replik auf Brutus’ Auffassung zum Verhältnis zwischen Redekunst und Philosophie erfolgt bei der Behandlung der stoischen Redner. 786 Der junge Gesprächsteilnehmer kommt durch den Vortrag zu dem Schluss, dass die stoischen Redner sich mit Ausnahme des Cato vornehmlich auf wissenschaftliche Reden verstünden, auf dem Forum jedoch versagen würden. 787 Cicero erklärt dies mit deren einseitiger Ausrichtung auf die Dialektik (in dialectis omnis cura consumitur) und nennt darauf als Gegenbeispiel Brutus’ Onkel Cato (avunculus tuus), das sich gegenüber stoischen Rednern wie Tubero dahingehend auszeichne, dass er seine philosophische Ausbildung um eine rhetorische ergänzt hätte (sed dicere didicit a dicendi magistris). 788 Die Philosophie bleibt zwar ein wichtiges Kriterium für die Ausbildung, doch lasse sich von den Philosophen eben nicht alles lernen, wie der anschließende Irrealis im Konditionalsatz (quod si omnia a philosophis essent petenda) deutlich macht, wodurch sich ein deutlicher 297F

298F

29F

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304F

781 782 783 784 785 786 787 788

Cic. Brut. 22. Ebd., 23. Ebd., 24. Plat. Phaidr. 269d; vgl. Kytzler 1973, S. 471–474. Vgl. Kytzler 1973, S. 473. Cic. Brut. 116–120. Ebd., 118. Ebd., 119.

497

Brutus

Kontrast zu Brutus’ Vorstellung eines völligen Vorrangs der prudentia abzeichnet. 789 Dieser Stellungnahme lässt Cicero jedoch erneut ein deutliches Lob dafür folgen, dass Brutus sich für die Akademie entschlossen habe, woraufhin die Sprache Platons gewürdigt wird. 790 Der Verweis auf Demosthenes als Leser Platons bestärkt die grundsätzliche Position des Autors, die der des Widmungsträgers entgegensteht, wonach die Rhetorik der Philosophen für die Praxis der Gerichtshöfe zu friedfertig sei (et illorum in iudicia pacatior). 791 305F

306F

307F

d)

Ciceros Bildungsweg und Bekenntnis zur Akademie

Nachdem die Cicero-Figur etwa in der Mitte ihrer Ausführungen die aus De oratore bekannten Redner Antonius und Crassus stellvertretend für die erste Reife lateinischer Rhetorik (dicendi Latine prima maturitas) präsentiert hat, die lediglich noch bessere Kenntnisse in den Bereichen philosophia, ius civile und historia benötigt hätten, 792 widmet sie sich im Finale des Werks Hortensius und der eigenen Person. In einem autobiographischen Part stellt Cicero parallel zu Hortensius seinen Weg zur Spitze römischen Redekunst vor. 793 Innerhalb dieser Beschreibung nennt er seine römischen und griechischen Lehrer namentlich: 794 308F

309F

310F

ego autem iuris civilis studio multum operae dabam Q, Scaevolae P. f., qui quamquam nemini ad docendum dabat, tamen consulentibus respondendo studiosos audiendi docebat. atque huic anno proxumus Sulla consule et Pompeio fuit. tum P. Sulpici in tribunatu cotidie contionantis totum genus dicendi penitus cognovimus; eodemque tempore, cum princeps Academiae Philo cum Atheniensium optimatibus Mithradatico bello domo profugisset Romamque venisset, totum ei me tradidi admirabili quodam ad philosophiam studio concitatus; in quo hoc etiam commorabar adtentius delectatione retinebat –, sed tamen sublata iam esse in perpetuum ratio iudiciorum videbatur. Ich aber hing aus Interesse für das Zivilrecht sehr dem Quintus Scaevola an, dem Sohn des Quintus, der sich zwar keinem Menschen für die Unterweisung zur Verfügung stellte, doch Leute, die zuhören wollten, belehrte, indem er Ratsuchenden Rechtsbescheide erteilte. Das darauffolgende Jahr war das des Konsulats des Sulla und Pompeius. Damals lernte ich den gesamten Redestil des Publius Sulpicius gründlich kennen, der bei seinem Tribunat täglich vor der Volksversammlung redete. Als zu derselben Zeit Philon, der Schulleiter der Akademie, mit führenden Persönlichkeiten der Athener im Krieg gegen Mithradates aus seiner Heimatstadt geflohen und nach Rom gekommen war, da verschrieb ich mich ihm mit Leib und 789 790 791 792 793 794

Vgl. Martin 2014, S. 221. Cic. Brut. 120. Ebd., 121. Ebd., 161. Ebd., 304–321. Ebd., 306.

498

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten Seele, getrieben von einer ganz unwiderstehlichen Begeisterung für Philosophie. Dabei blieb ich auch mit umso lebhafterem Interesse – freilich erfreute und faszinierte mich die Vielseitigkeit und die Bedeutung der Themen an sich schon im höchstem Maße –, als doch nunmehr die Ordnung des Gerichtswesens ein für alle Mal beseitigt schien.

Während der platonische Unterton des Brutus bereits im Vorfeld des Hauptgespräches durch die Szenerie angedeutet wurde, geht Cicero gegen Ende noch einen Schritt weiter, indem er auf seine Bekehrung zur Akademie durch Philon von Larissa zu sprechen kommt. 795 Diese Hingabe „mit Leib und Seele, getrieben von einer ganz unwiderstehlichen Begeisterung für die Philosophie“ (totum ei me tradidi admirabili quodam ad philosophiam studio concitatus), stellt eine entscheidende Ergänzung seines vielgestaltigen Bildungsweges dar, der sich gemäß seines eigenen Ideals um universelles Wissen bemüht. Vergleicht man die Dialogfigur in dieser Eigenschaft mit der des Scipio oder des Crassus, so lässt sich in dem klaren Bekenntnis zur Akademie ein weiterer Schritt der Hauptfigur hin zum eigenen Ideal feststellen. Dieses Studium ergänzt er mit einer Unterweisung in der Dialektik durch den Stoiker Diodot, bei der er jedoch – wie er es zuvor dem jüngeren Cato attestierte – seine Deklamationen nicht vernachlässigte. 796 Das griechische Deklamieren habe ihm erst den Unterricht bei griechischen Redelehrern ermöglicht, von denen Molon, Demetrios aus Syrien, Menippos aus Stratonikeia, Dionysios aus Magnesia, Aischylos von Knidos und Xenokles von Adramyttion genannt werden. 797 Die umfassende und vielseitige Bildung erscheint als Grundlage seiner Eloquenz, die die praktische Erfahrung auf dem Forum und römische Rechtskenntnisse mit der Expertise griechischer Philosophen und Rhetoren verbindet. 31F

312F

31F

e)

Ciceros politisches Profil: Republikaner und Friedenspolitiker

Die Dialogfigur zeigt trotz des Vorsatzes, nicht über Politik zu sprechen, an mehreren Stellen deutlich politische Züge, die keinen Zweifel über ihre Grundgesinnung zulassen. Dies wird besonders deutlich, wenn er die Reihe römischer Redner mit L. Brutus beginnen lässt, der die civitas nicht ohne das Mittel rhetorischer Überzeugung von der Königsherrschaft befreien hätte können (quod certe effici non potuisset, nisi esset oratione persuasum). 798 Indem Cicero L. Brutus als ersten Redner Roms aufführt, würdigt er nicht nur einen Ahnen des Brutus (illi nobilitatis vestrae), der sich seines Ahnenkapitals durchaus bewusst war, sondern er bringt darüber hinaus seine republikanische Grundgesinnung zum Ausdruck, wenn er jenen als Begründer der römischen Republik darstellt. Diese 314F

795 796 797 798

Zur Bedeutung des Bekenntnisses zur Akademie s. Lévy 1992, S. 629. Cic. Brut. 309. Ebd., 310, 312, 315f. Ebd., 53.

499

Brutus

Gründerrolle stellt das wichtigere Argument dafür dar, ihn in die Reihe der Redner einzuordnen, da – wie Cicero ebenfalls deutlich macht – die Redekunst weder in Zeiten staatlicher Umbrüche noch in Zeiten der Königsherrschaft oder Kriege (nec enim in constituentibus rem publicam nec in bella gerentibus nec in impeditis ac regum dominatione devinctis) gedeihen könne, sondern als Begleiterin des äußeren und inneren Friedens sowie einer geordneten Bürgerschaft (pacis est comes otique socia et iam bene constitutae civitatis quasi alumna) erscheint. 799 Der Zusammenhang von Republik und Beredsamkeit, den Cicero am Beispiel des L. Brutus aufzeigt, stellt damit die Grundvoraussetzung der römischen eloquentia per se dar, die im gegenwärtigen Zustand nicht gewährleistet ist. 800 Dieser Zusammenhang war bereits in De oratore von Crassus zu Beginn seines an die Jugend (Cotta und Sulpicius) gerichteten Enkomions auf die Beredsamkeit deutlich gemacht geworden, wo er durch die dramatische Szenerie des sich anbahnenden Bürgerkriegs bedroht schien. 801 Dieselbe Bedrohungslage bildet den Ausgangspunkt des Brutus. Statt Crassus wendet sich nun Cicero an die Jugend, indem er an den jungen Gesprächspartner appelliert, dass er dem Gemeinwesen fehle und das Gemeinwesen ihm fehle (quod et ipse re publica careas et illa te). 802 Anders als in De oratore ist im Brutus und zur Zeit seiner Entstehung die Zukunft ungewiss, wodurch die Bedrohung der römischen eloquentia einen existentielleren Charakter erhält. Der sorgfältig vorbereitete Aufruf an die Dialogfigur Brutus am Ende des Dialogs verlässt damit den dialogischen Rahmen und richtet sich an die historische Persönlichkeit selbst mit der Forderung, die Tradition der römischen Beredsamkeit und ihre Grundlagen, die seine Ahnen geschaffen hätten, zu bewahren. Die politische Tragweite dieses Aufrufs ist strittig, doch zeigt sich erneut, dass Cicero mittels seiner Lehrerrolle zugunsten der res publica auf Brutus einwirken wollte. Die Dialogfigur erhebt hier stellvertretend für den Autor seine Stimme für diese und spricht mit der BrutusFigur direkt das historische Vorbild an. Während er sich über Brutus sehr deutlich ausspricht, gibt er vor, sich aus Angst vor Kritik seiner Zeitgenossen nicht über lebende Redner äußern zu wollen. 803 Vom Drängen des jungen Gesprächspartners genötigt, doch auf Marcellus und Caesar einzugehen, sorgt die Dialogfigur durch Fragen an die Gesprächspartner dafür, dass nicht ihr als Stellvertreter Ciceros, sondern den beiden Mitunterrednern die Beurteilung jener Personalien zufällt, die hinsichtlich des Bezugs zur politischen Situation der Gegenwart besonders heikel erscheinen mussten. 804 315F

316F

317F

318F

319F

320F

799 800 801 802 803 804

Cic. Brut. 45. Zum Gegenwartsbezug: vgl. Wassmann 1996, S. 165. Cic. de orat. 1,30. Cic. Brut. 332. Ebd., 231. Ebd., 249, 251.

500

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Nachdem der spätere Caesarmörder die Bildung und die Ähnlichkeit des Marcellus mit Cicero herausgestellt hat, antwortet dieser: 805 321F

etsi, […] de optumi viri nobisque amicissimi laudibus lubenter audio, tamen incurro in memoriam communium miserarium, quarum oblivionem quaerens hunc ipsum sermonem produxi longius. Wenngleich ich Worte der Anerkennung für einen herausragenden und mit mir eng befreundeten Mann gerne höre, so kommt mir doch die Vergegenwärtigung von unser aller Elend in den Sinn. Gerade weil ich dieses zu vergessen suche, habe ich die jetzige Erörterung weiter in die Länge gezogen.

Obwohl Cicero Marcellus nicht selbst als Redner vorstellt, hebt er sein enges Freundschaftsverhältnis (nobisque amicissimi) mit jenem „herausragenden Mann“ (optumi viri) hervor. Dies ist nicht allein deshalb als „politisch“ zu bezeichnen, weil er auf diese Weise einen im Exil lebenden Caesarkritiker würdigt, sondern auch deswegen, weil er damit erneut eine Gemeinsamkeit mit Brutus, der Marcellus in De virtutibus als Muster der Tugend gepriesen hatte, anspricht. 806 Daneben handelt es sich bei Marcellus genauso wie bei dem schon genannten Deiotarus um eine Persönlichkeit, für deren Rückkehr und Begnadigung sich Brutus und Cicero bekanntlich stark machten. 807 Indem die Dialogfigur stellvertretend für den Autor ein positives Urteil fällt und ihre Verbindung zu jenen Personalien ausdrückt, wird auch auf dieses Ziel hingearbeitet, das im Falle des Marcellus noch im Herbst des Jahres 46 erreicht wurde, wie die Rede Pro Marcello belegt. Parallel zu Brutus’ Darstellung des Caesargegners wird die Behandlung Caesars von Atticus übernommen, der Ciceros Taktik, sich nicht selbst über lebendige Redner zu äußern, durchschaut. 808 Dieser äußert diesbezüglich eine leichte Kritik an dem Vorgehen, da Ciceros Urteil über Caesars Talent ohnehin allgemein bekannt sei (praesertim cum et tuum de illius ingenio notissimum iudicium esset), wie auch das Caesars über ihn. 809 Die sanfte Kritik des Atticus kommt dabei dem Autor zugute, der offensichtlich fürchtet, dass ihm auch ein Schweigen verübelt werden könnte. Darüber hinaus umgeht Cicero es dadurch, selbst über das ausdrückliche Lob zu referieren, dass ihm von Caesar zugesprochen worden war, der ihn als princeps und inventor eines reichen Stils bezeichnet hatte, der sich um den Namen und die Würde des römischen Volkes verdient gemacht habe (de nomine ac dignitate populi Romani meritum esse). 810 Brutus 32F

32F

324F

325F

326F

805 806 807 808 809 810

Cic. Brut. 251. Zu Brutus’ Vorstellung des Marcellus s. unten S. 523–525. Fuhrmann 2007, S. 206f. Cic. Brut. 251. Ebd. Ebd., 253.

501

Brutus

greift diese Aussage auf und betont, welch freundschaftliches und großes Lob Cicero dabei zugefallen sei (amice […] magnifice te laudatum puto). 811 Im Folgenden antizipiert Brutus den Vergleich zwischen Feldherr und Redner, indem er bekundet, Ciceros Ruhm für die Redekunst, in der allein die Römer von Griechenland besiegt worden seien (quo enim uno vincebamur a victa Graecia), sei gemeinsam mit der Leistung Caesars höher zu schätzen als die Triumphzüge vieler (sed triumphis multorum antepono). 812 Der für Ciceros Selbstinszenierung wichtige Diskurs über das Verhältnis von Redner und Feldherr wird sorgfältig vorbereitet, indem als Ausgangspunkt ein Zitat Caesars herangezogen wird, das zu einem Gespräch zwischen Brutus und Atticus führt. Der an geistigen Dingen interessierte Brutus leistet dabei die Vorarbeit, indem er die kulturelle Leistung Ciceros als römischen Sieg über das – militärisch bereits besiegte – Griechenland beschreibt. Dieser erkennt das Lob, das ihm zugetragen wird, und entgegnet: 813 327F

328F

329F

Et recte quidem, […] Brute; modo sit hoc Caesaris, non benevolentiae testimonium. plus enim certe adtulit huic populo dignitatis quisquis est ille, si modo est aliquis, qui non inlustravit modo sed etiam genuit in hac urbe dicendi copiam, quam illi qui Ligurum castella expugnaverunt: ex quibus multi sunt, ut scitis, triumphi. (256) verum quidem si audire volumus, omissis illis divinis consiliis, quibus saepe constituta est imperatorum sapientia salus civitatis aut belli aut domi, multo magnus orator praestat minutis imperatorinus. Und zwar mit Recht, mein Brutus, […] vorausgesetzt nur, dies ist ein Zeugnis von Caesars Urteil, nicht eines nur freundlicher Gesinnung. Denn sicherlich hat derjenige dem römischen Volk höhere Anerkennung verschafft – wer immer es auch ist, wenn es überhaupt einen solchen gibt –, der dem reichen Stil in dieser Stadt nicht nur Geltung verschafft, sondern ihn überhaupt erst geschaffen hat, als jene, die Schanzwerke der Ligurer erobert haben, über die, wie ihr wisst, viele Triumphe gefeiert wurden. (256) Wenn wir aber die Wahrheit hören wollen: Abgesehen von jenen von einer Gottheit eingegebenen Entscheidungen, dank derer oft durch die Weisheit von Feldherren die Existenz einer Bürgerschaft in Krieg in Frieden gesichert worden ist, ist ein großer Redner unbedeutenden Feldherren weit überlegen.

Cicero stellt das Kompliment Caesars, wonach er der Erfinder des reichen Stils sei, in Zweifel, indem er die Urheberschaft eines einzigen Begründers hinterfragt (quisquis est ille, si modo est aliquis). Dabei verweist er auf eine Kernaussage des Brutus, wonach die römische eloquentia nicht das Ergebnis einer einzelnen Person, sondern das vieler verschiedener Redner ist. Der Politikertypus des Redners wird daraufhin dem des Feldherrn als mindestens gleichwertig gegenübergestellt, indem die Überlegenheit eines magnus orator gegenüber einem ge811 812 813

Cic. Brut. 254. Ebd., 254f. Ebd., 255f.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

wöhnlichen Feldherrn (minutis imperatorinus) attestiert wird. Da bereits zu Beginn die positiven Grundvoraussetzungen des Brutus hervorgehoben wurden, richtet sich der Vergleich erneut an ihn, dem dadurch bescheinigt wird, selbst ein solcher zu werden. Gleichzeitig verweist die Diskussion auf das zentrale Anliegen des Autors, für einen zivilen Politikertypus zu werben, den er selbst verkörperte und den er für das Wohl der res publica für nicht minder essentiell hält als jenen des Militärs. Die Erwähnungen von Marcellus und Caesar sowie einer Reihe jüngerer Bürgerkriegstoter, darunter mit Torquatus und Triarius zwei enge Freunde des Brutus 814, folgen einerseits der Intention der Dialogfigur, eine Geschichte der römischen Redner bis Hortensius zu liefern, andererseits erlauben sie einen gewollten Exkurs, der eine politische Selbstdarstellung des Marcus Tullius Cicero par excellence liefert und erneut durch die Dialogfigur des Brutus an den Autor herangetragen wird. Als dieser die Namen seiner verstorbenen Freunde hört, äußert er sich emotional (Torquati et Triari mentione commotus): 815 30F

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ne ego, […] ut omittam cetera quae sunt innumerabilia, de istis duobus cum cogito, doleo nihil tuam perpetuam auctoritatem de pace valuisse. nam nec istos excellentis viros nec multos alios praestantis civis res publica perdidisset. Wahrlich, um von anderen Misslichkeiten, die zahllos sind, nicht weiter zu reden: wenn ich an diese beiden denke, dann erfüllt es mich mit Schmerz darüber, dass deinem fortwährenden Einsatz für den Frieden der Erfolg versagt blieb. Denn es hätte das Gemeinwesen weder diese herausragenden Männer noch viele andere ausgezeichnete Bürger verloren.

Das in Brutus’ Klage mitschwingende Lob für Ciceros „fortwährenden Einsatz für den Frieden“ (tuam perpetuam auctoritatem de pace) porträtiert jenen als verantwortungsbewussten Staatsmann, dessen politische Linie vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs die richtige gewesen sei. Die Rechtfertigung beinhaltet dabei einen unverkennbaren Seitenhieb auf namentlich nicht genannte Gegner seiner Verhandlungsbemühungen. 816 Diese Form der Selbstinszenierung knüpft nahtlos an die Klage über das Schicksal der Republik im Proömium an, in der er in vorwurfsvollem Ton anprangert, dass jene, die gelernt hätten, mit Waffen militärischen Ruhm zu ernten (didicerant eis uti gloriose), nicht auch gelernt hätten, sich ihrer in heilsamer Weise zu bedienen (quem ad modum salutariter 32F

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Cic. Brut. 265. Ebd., 266. Dahingehend lässt sich die Interpretation Strasburgers und Wassmanns konkretisieren, dass der polemische Unterton des Brutus nicht nur einen Angriff auf Caesar darstelle, sondern auch auf optimatische Standesgenossen, die Ciceros Haltung angriffen: Strasburger 1990, S. 436f.; Wassmann 1996, S. 160–172.

Brutus

503

uterentur, non reperiebant). 817 Zwar lässt sich dieser Vorwurf leicht auf Caesar übertragen 818, jedoch ebenso leicht auf Pompeius und die radikal optimatischen Kreise in dessen Umfeld, die Cicero für sein langes Verbleiben in Italien kritisierten. 819 3F

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Ciceros Positionierung gegenüber erwarteter Kritik

Während Cicero gegenüber Brutus als eine Art Mentor auftritt, lässt sich Vergleichbares gegenüber Atticus nicht feststellen. Als zentraler Hauptredner erhält er von diesem Vorlagen für Exkurse oder Rechtfertigungen, mit denen er – wie in De legibus – Einwänden und Fragen vonseiten einer kritischen Leserschaft zuvorkommen will. Ein besonders deutlicher Einwand erfolgt dabei durch Atticus selbst, der hinter der lobenden Darstellung der römischen Redner Ironie vermutet. 820 Hierauf entgegnet Cicero: 821 36F

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longi sermonis initium pepulisti, inquam, Attice, remque commovisti nova disputatione dignam, quam in aliud tempus differamus. (298) volvendi enim sunt libri cum aliorum tum in primis Catonis. intelleges nihil illius liniamentis nisi eorum pigmentorum, quae inventa nondum erant, florem et colorem defuisse. nam de Crassi oratione sic existumo, ipsum fortasse melius potuisse scribere, alium, ut arbitror, neminem. nec in hoc εἴρωνα me duxeris esse, quod eam orationem mihi magistram fuisse dixerim. nam etsi [ut] tu melius existumare videris de ea, si quam nunc habemus, facultate, tamen adulescentes quid in Latinis potius imitaremur non habebamus. (299) quod autem plures a nobis nominati sunt, eo pertinuit, ut paulo ante dixi, quod intellegi volui, in eo, cuius omnes cupidissimi essent, quam pauci digni nomine evaderent. Du hast Anstoß zu einem langen Gespräch gegeben, Atticus, und ein Thema angesprochen, das eine neue Diskussion verdient. Wir wollen dies auf einen anderen Zeitpunkt verschieben. (298) Man muss nämlich die Bücher anderer, besonders die des Cato heranziehen. Du wirst einsehen, dass seinen Zeichnungen nichts fehlte als Lebhaftigkeit und Abwechslung der Farbtöne, die noch gar nicht erfunden waren. Denn über Crassus’ Redestil ist dies mein Urteil: Er selbst hätte vielleicht

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Cic. Brut. 8. So: Lancotot 2014, S. 198. Offen schreibt Cicero im Juni 46, dass er auch den Sieg der Pompeianer fürchtete: Cic. fam. 9,6 = 181 Sh. B.,3: […] quam quidem ego etiam illorum timebam ad quos veneramus; crudeliter enim otiosis minabantur, eratque iis et tua invisa voluntas et mea oratio. – „[…] und den fürchtete ich auch in der Hand derer, denen wir uns angeschlossen hatten. Denn schrecklich drohten sie denen, die abseits standen, und deine friedliche Gesinnung war ihnen ebenso zuwider wie mein Eintreten für den Frieden.“ Zu Ciceros Situation im Jahr 49 s. auch: Bringmann 2010, S. 186–206. Cic. Brut. 292–297. Zur Ironie s. auch unten S. 529f. Ebd., 297–299.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten besser schreiben können, ein anderer nach meiner Meinung nicht. Halte mich nicht in diesem Punkt für ironisch, weil ich sagte, diese Rede sei für mich ein Lehrstück gewesen. Denn wenngleich du günstiger über das, was ich jetzt allenfalls an Fähigkeit habe, zu urteilen scheinst, so wusste ich doch in meiner Jugend nicht, welches Vorbild in der lateinischen Literatur ich lieber hätte nachahmen sollen. (299) Wenn aber von mir eine zu große Zahl von Rednern genannt worden ist, so zielte dies, wie ich oben sagte, darauf ab: Ich wollte die Einsicht vermitteln, wie wenige auf einem Feld, auf dem sich alle beweisen wollten, sich einer Nennung würdig zeigten.

Die Kritik des geschichts- und philosophiekundigen Atticus am Ende des Brutus spiegelt eine Rezeption wider, die der Autor vermeiden möchte, weshalb sein Repräsentant sich klar gegen sie ausspricht. Er widerspricht dem Gesprächspartner, der den qualitativen Unterschied von Ciceros Reden gegenüber denen früherer Redner wie Cato oder Crassus offenbar für so groß hält, dass er ihre pädagogische Rolle für ihn als Ironie einstufen möchte. Die Methode verteidigt er mit einem erneuten Rückgriff auf seine Metaphern der Bildhauerei und Malerei, die mit der Redekunst parallelisiert wurden. 822 Die Beurteilung der Persönlichkeiten, die als erste Redner ihrer Generation geschildert wurden, müsse im Kontext ihrer Zeit geschehen, weshalb man Cato nicht das Fehlen der „Lebhaftigkeit und Abwechslung der Farbtöne“ (nihil illius liniamentis nisi eorum pigmentorum […] florem et colorem defuisse) vorwerfen könne, da diese zu dieser Zeit noch nicht erfunden gewesen seien. Die eloquentia selbst erscheint dadurch als eine sich weiterentwickelnde Kunst, deren Entfaltung nicht ohne eine Reihe von Einzelpersonen möglich gewesen sei. Diese Entwicklung richtet den Blick erneut auf die Gegenwart, auf Brutus und Cicero, der sich demonstrativ bescheiden zeigt und seine Überlegenheit gegenüber den alten Rednern nur von Atticus andeuten lässt (nam etsi [ut] tu melius existumare videris de ea, si quam nunc habemus). Als Kenner der alten Reden fungiert Cicero als Mittler der Tradition, indem er Brutus’ Bitte – jener kennt sie offenbar nicht –, ihm diese näherzubringen, mit der Zusage eines späteren Gesprächs in der Villa bei Cumae oder in der bei Tusculum nachkommt. 823 Cicero nutzt den Dialog nicht nur, um sich mittels seiner Dialogfigur mit politischen Kritikern auseinanderzusetzen, sondern tritt auch den Kritikern seines Redestils entgegen. Dies zeigt sich anhand der Attizismusdebatte, die durch die Dialogfigur Brutus an ihn herangetragen wird: So lässt er diesen während der Behandlung des Redners Calvus darauf hinweisen, dass jener als attischer Redner bezeichnet werden wollte, 824 woraufhin die Cicero-Figur die Gelegenheit für eine kritische Auseinandersetzung mit den von der Untersuchung eigentlich ausgeschlossenen zeitgenössischen Rednern nutzt. Der Autor fügt an dieser Stel38F

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Brutus

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le ein Zwiegespräch mit einem imaginären Gesprächspartner ein, der die – aus seiner Sicht – „Möchtegernattizisten“ vertritt und dessen Argumentation er Stück für Stück auf eloquente Weise zerlegt. 825 341F

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Zusammenfassung

Wie in De legibus spiegelt das Auftreten der Dialogfigur ganz den Autor wider. Der besondere Reiz des Brutus entsteht jedoch aus zwei unterschiedlichen Aspekten: der Verwurzelung des Dialogs in der Gegenwart oder einer gegenwartsähnlichen Zeit sowie dem darin auftretenden Adressaten Brutus, an den sich Cicero bewusst wendet. Wie in der folgenden Analyse zu zeigen sein wird, konstituiert sich aus dieser Konstellation und dialoginternen Konversation eine Form dialogexterner Kommunikation. Viele Facetten von Ciceros Auftreten resultieren nicht zuletzt aus dieser zweiten Gesprächsebene: die Sorge um Brutus’ Zukunft in der res publica, die Betonung der gemeinsamen geistigen Interessen (Akademie), die Hinwendung zu ihm im Epilog sowie sein deutliches, aber nie aufdringliches Auftreten als Lehrer. Dass Cicero dem Ideal des orator perfectus großenteils entspricht, wird zwar durch die ausführliche Beschreibung seines Bildungsweges angedeutet, jedoch von der Figur selbst nie postuliert, welche stattdessen an die Tradition römischer Redekunst erinnern möchte. Trotz der Ankündigung, die aktuelle Politik nicht zum Gegenstand der Untersuchung zu machen, wird Ciceros republikanische Grundgesinnung bereits in der Anlage des Dialogs deutlich. Zudem verschweigt er nicht seine Verbundenheit mit den Gegnern Caesars, ohne jedoch dabei jenen selbst direkt anzugreifen. Gleichzeitig findet eine Rechtfertigung der eigenen Politik statt, die – so wird suggeriert – die gegenwärtige Misere hätte verhindern können. Wie zuvor in De legibus ist das Auftreten somit eng an die Zeitgeschichte und die Persönlichkeit des M. Tullius Cicero gekoppelt.

6.2

M. Iunius Brutus

a)

Historische Persönlichkeit

Die historische Persönlichkeit des M. Iunius Brutus stellt ohne Zweifel eine der bedeutendsten Personalien dar, derer sich Cicero für sein dialogisches Korpus bedient. Aufgrund des eminenten Zusammenhangs zwischen biographischen Aspekten der historischen Vorlage und dem Agieren der Dialogfigur muss sowohl seine Biographie bis zur Ermordung Caesars als auch sein Verhältnis zu unserem Autor während Caesars Diktatur eingehend betrachtet werden. Seine Darstellung ist wegen seiner Rolle als Verschwörer und Caesarmörder bereits in 825

Cic. Brut. 284–291; s. hierzu: auch May 1990.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

der antiken Geschichtsschreibung getrübt, die versucht, sein späteres Handeln bereits in seiner Jugend abzubilden. 826 Der folgende biographische Überblick fokussiert jene Lebensjahre, die vor den Iden des Märzes und daher abseits des Hauptinteresses antiker und moderner Rezipienten liegen. Die Geburt des Brutus wird in der Forschung auf das Jahr 85 datiert. 827 Mit ihm lässt Cicero einen Römer auftreten, der im Gegensatz zu ihm und Atticus auf eine hohe Abstammung verweisen konnte: So stammte seine Mutter Servilia, die Halbschwester des späteren Caesargegners M. Porcius Cato, aus dem prestigeträchtigen Haus der Servilii Caepiones 828, während die Familie väterlicherseits ihre Abstammung seit dem zweiten Jahrhundert vor Christus auf den Tyrannenvertreiber L. Iunius Brutus zurückführte. 829 Die Familie der Mutter präsentierte sich zugleich als Nachfahrin des Servilius Ahala, eines weiteren Befreiers Roms. 830 Einen entscheidenden Einschnitt im Leben des Brutus stellte der Tod des Vaters im Jahr 78 dar, der gegen die sullanischen Reformen revoltierte und daraufhin von Pompeius ermordet wurde. Dies führte zum einen dazu, dass seine Erziehung nach der Adoption durch die mütterliche gens bei seinem Onkel Cato erfolgte, zum anderen wurden dadurch die Weichen für eine starke persönliche Feindschaft mit dem späteren Triumvirn gelegt. 831 Neben der Mutter und Cato übte auch Atticus eine nicht unwichtige Beraterrolle für den deutlich jüngeren Brutus eingenommen zu haben. 832 342F

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Vgl. Gotter 2000, S. 329f. Einen Überblick über die antiken Quellen liefert Bengtson, der jedoch die heute als unecht geltenden griechischen Briefe des Brutus mit aufführt: Bengtson 1970, S. 4–7. Die Tendenz, seine Person unter ein positives oder, deutlich häufiger, negatives Zerrbild zu fassen, setzte sich auch in der Geschichtswissenschaft von der nachhegelianischen Zeit bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts fort, wobei jeweils Bewertungsmaßstäbe der eigenen Gegenwart auf die Antike übertragen wurden. Eine detaillierte Darstellung der Problematik lieferte Gotter, der sich um ein Brutusbild jenseits der Stereotypen des „unpolitischen Schwächlings“ und des „idealistischen Doktrinärs“ bemüht: Gotter 1996a, S. 207–212; vgl. Dettenhofer 1992, S. 99f. und ihre Argumentation gegen die aus dem Nachlass veröffentlichte Charakterisierung Alföldis, der zuletzt eine stark moralisierende Kritik gegen Brutus im Stile Mommsens vertrat. S. etwa: Alföldi 1985, S. 361. Einen Überblick zu den unterschiedlichen Forschungspositionen liefert: Dettenhofer 1992, S. 100f., Anm. 11. Vgl. Gelzer 1918, Sp. 974. Zur Anknüpfung der Iunii an L. Iunius Brutus s. Schnur 1931. Plut. Brut. 1,3f.; vgl. Dettenhofer 1992, S. 101. Vgl. Gotter 1996a, S. 213. Über den Einfluss seines Stiefvaters D. Iunius Silanus, der nicht lange nach seinem Konsulat von 62 gestorben zu sein scheint, ist wenig bekannt; vgl. Dettenhofer 1992, S. 101f. Nep. Att. 8,2. Mit Verweis auf die Rolle der Mutter und des Atticus schließt Dettenhofer eine „einseitige Prägung“ durch Cato aus, deren Eindruck durch Nepos und Plutarch aus ihrer kaiserzeitlichen Perspektive erweckt werde: Dettenhofer 1992, S. 102.

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Brutus

Als junger Mann erscheint er in den Primärquellen erstmals im Zusammenhang mit der Vettiusaffäre im Jahr 59, bei der er denunziert wurde, einen Mordanschlag auf den Triumvirn Pompeius geplant zu haben, die jedoch folgenlos für ihn blieb. 833 Allerdings machte Brutus auch in der Folgezeit nie ein Geheimnis aus seiner Abneigung gegen jenen Triumvirn, den er für den Tod seines Vaters verantwortlich machte, stattdessen stellte er ihn öffentlich durch das Unterlassen der Begrüßung zur Schau. 834 In der Forschung ist nach wie vor umstritten, ob Brutus mit einem Servilius Caepio identisch ist, der in den kaiserzeitlichen Quellen als potentieller Gatte von Caesars Tochter Iulia genannt wird. 835 Dass sich Pompeius in dieser Angelegenheit durchsetzte, könnte, gesetzt den Fall einer Identität, den frühen Hass auf beide Triumviren noch verstärkt haben. 836 Im Jahr 58 ging er mit seinem Onkel nach Zypern, das erst kurz zuvor in das römische Reich eingegliedert worden war, und legte dort möglicherweise den Grundstein für seine späteren Geldgeschäfte. 837 Nach seiner Rückkehr 55 wurde er in das Kollegium der tresviri monetales gewählt und nutzte das Amt sogleich dafür, Denare mit dem Abbild des Tyrannenvertreibers und herausragenden Vorfahren seiner gens L. Iunius Brutus und der Libertas bzw. mit dem Tyrannenmörder C. Servilius Ahala prägen zu lassen. 838 Die Aktion, die gegen seinen Intimfeind Pompeius gerichtet war, belegt, dass Brutus sich bereits früh aktiv seines genealogischen Kapitals, das ihm durch die väterliche und mütterliche Familie zur Verfügung stand, bediente. 839 Die Ämterlaufbahn begann Brutus als Quaestor im Jahr 53, wobei es durch die bürgerkriegsähnlichen Zustände und den Widerstand des Pompeius zu einer Verzögerung des Amtsantritts gekommen ist. 840 Kurz vor der Quaestur, die er in Kilikien ausführte, heiratete er die Tochter des Appius Claudius Pulcher, um sein aristokratisches Prestige zu erhöhen. 841 Er scheint dabei ein Angebot für einen Posten in Gallien vonseiten Caesars, der sich offensichtlich um ihn bemühte, wegen seines Engagements im Geldwesen ausgeschlagen zu haben, was dafür spricht, dass Brutus’ Opposition gegen die Triumvirn eher durch die Gegnerschaft zu Pompeius als zu Caesar bedingt war. 842 349F

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Cic. Att. 2,24 = 44 Sh. B.,2–3; vgl. Dettenhofer 1992, S. 103. Plut. Brut. 4,1. Zur Frage nach der Identität s. Dettenhofer 1992, S. 103f., Anm. 31. Vgl. Dettenhofer 1992, S. 104. Vgl. ebd., 104f. Vgl. ebd., 105; Crawford 1974, S. 455f. Dettenhofer macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass die „Berufung auf Freiheitshelden“ zu diesem Zeitpunkt einen überpersönlichen Charakter hatte, da sie bereits ein „Allgemeinplatz oppositioneller Propaganda“ gewesen sei: Dettenhofer 1992, S. 105f. Vgl. Dettenhofer 1992, S. 106. Vgl. ebd., 106f. Vgl. ebd., 107.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Die vorrangige Rolle, die seine Agitation gegen Pompeius in seiner politischen Linie einnahm, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass er im Jahr 52 eine Streitschrift De dictatura Pompei veröffentlichte und sich dadurch von der Politik seines Onkels Cato distanzierte, der bereits eine Annäherung mit Caesars Verbündetem anstrebte. 843 Im Jahr 51 brachte er eine von ihm verfasste fiktive Rede zur Verteidigung des Milo in Umlauf, worin er, nach Asconius zum Missfallen Ciceros, dessen Mord an dem Bandenführer Clodius als nützliche Tat für den Staat verteidigte. 844 Gleichzeitig sind für diesen Zeitraum einige Gerichtsprozesse erwähnt, bei denen er an der Seite des Hortensius und Ciceros auftrat, worauf im Brutus angespielt wird. 845 Höhepunkt seiner noch jungen Karriere als Anwalt vor Beginn des Bürgerkriegs war die Verteidigung des Appius Claudius Pulcher zusammen mit Hortensius und Pompeius, wobei es zu einer Annäherung an diesen zuungunsten Caesars kam. 846 Für das Jahr 49 hatte er sich eine Stelle als Legat in Kilikien gesichert, wodurch er möglicherweise zu Beginn des Konflikts eine abwartende Haltung einnehmen wollte, obschon er sich damit auch offen gegen Caesar stellte, der sich weiterhin um ihn bemühte. 847 Wie Cicero ließ sich Brutus bei der Entscheidung, sich auf die Seite des Pompeius zu schlagen, reichlich Zeit und folgte dabei dem Drängen seines Onkels. 848 Seine Anwesenheit in dessen Lager war weniger von militärischer als vielmehr von prestigeträchtiger Bedeutung, da er als Nachfahre von zwei römischen Freiheitshelden der Sache der Optimaten Legitimität verlieh. 849 Nach deren Niederlage bei Pharsalos wandte er sich als einer der ersten hochrangigen nobiles mit der Bitte um Begnadigung an Caesar, der ihn Plutarch zufolge in den Kreis seiner engsten Berater aufnahm. 850 Als solcher setzte er sich für die Begnadigung weiterer Pompeianer ein, im Fall des Deiotarus mit einer aufsehenerregenden Rede, die in Teilen der Forschung bereits als ein erstes Zeichen der politischen Opposition gegen den Diktator gewertet wurde. 851 Neben dem Engagement für einzelne Optimaten lässt sich feststellen, dass Brutus sich in der Zeit von 47 bis 46, wel359F

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ORF4 S. 463, fr. 16–17; Vgl. Dettenhofer 1992, 107f. Ascon. 41; weitere Fragmente liefert Malcovati: ORF4 S. 464, fr. 18–21; vgl. Bleicken 1975, S. 489. Cic. Brut. 22, 192, 230, 324, 328. ORF4 S. 465, fr. 22; vgl. Dettenhofer 1992, S. 113. Vgl. Dettenhofer 1992, S. 115f. Vgl. ebd., S. 192f. Vgl. ebd., S. 194. Plut. Brut. 6,1f.; vgl. Dettenhofer 1992, S. 194–197. Für Diskussionen sorgt dabei ein von Caesar nach der Rede geäußerter Satz, der uns aus der Korrespondenz mit Atticus überliefert ist: Cic. Att. 14,1 = 355 Sh. B.,2: magni refert hic quid velit, sed quicquid vult, valde vult. – „Es kommt darauf an, was er will; aber was er will, das will er ganz.“ Einen Überblick über die Forschungsdiskussion liefert Dettenhofer, die in dem Satz eine Überraschung Caesars erkennt: Dettenhofer 1992, S. 198f.; s. auch: Bengtson 1970, S. 10–12.

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Brutus

che mit Blick auf die Entstehung des Dialogs von höchster Relevanz ist, weiterhin in der unmittelbaren Nähe Caesars befand. Dettenhofer vermutet, dass sowohl der Brief, den Brutus im September 47 an Cicero schickte, als auch sein Besuch bei dem im Exil lebenden und sich seiner Begnadigung widersetzenden Marcellus auf Betreiben des Diktators erfolgten. 852 Hinsichtlich seiner damaligen politischen und philosophischen Position überliefert Seneca ein längeres Fragment der von Brutus’ in dieser Zeit verfassten Schrift De virtute, das auf seinen Besuch des Marcellus in Mytilene Bezug nimmt und den glühenden Caesargegner als ein Beispiel der Tugend preist. 853 Mit Blick auf die sich stellende Frage nach der politischen Tendenz der Schrift kann ausgeschlossen werden, dass es ihm dabei um eine offene Kritik an dem Diktator gegangen sein könnte 854, da einerseits seine politische Karriere stark von der Gunst Caesars profitierte, in dessen Gefolge er sich offensichtlich befindet, andererseits zu diesem Zeitpunkt noch die Hoffnung auf eine Rückkehr der res publica bestand. 855 Ein politischer Charakter könnte jedoch darin bestanden haben, dass die Schrift durch das in ihr entworfene Bild des Marcellus einen indirekten Beitrag zur Begnadigung des Exilierten liefern sollte, welche noch im Jahr 46 erfolgte. Auch für die Zeit nach dem Verfassen des Brutus lässt sich zunächst keine direkte oder indirekte Opposition seines Adressaten feststellen, der dessen caesarkritische Untertöne eher mit Unbehagen aufgenommen zu haben scheint, wie aus Quintilian hervorgeht. 856 Anders als seine gleichaltrigen Freunde Torquatus und Triarius, welche nach der Niederlage von Pharsalos mit Cato den Widerstand in Africa fortsetzten, scheint sich Brutus mit der neuen Situation, dem Sieg der Caesarianer und den daraus resultierenden Tatsachen, überraschend schnell abgefunden zu haben. 857 Aus einem Brief vom Oktober 46 an Aulus Caecina erfahren wir, dass Brutus von Caesar die Statthalterschaft über die Provinz Gallia Cisalpina zugesprochen wurde, worin sich nicht nur das anfänglich erfolgreiche Bemühen des Diktators um die Gunst seiner früheren Gegner zeigt, sondern auch 368F

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Vgl. Dettenhofer 1992, S. 199–201; dass der Brief Brutus’ De virtute enthalten habe, wird von Hendrickson vertreten: Hendrickson 1939, S. 406–413; Zweifel äußert dagegen: Bringmann 1971, S. 66, Anm. 25. Sen. dial. 12,9,4–6. Strasburger sah in der Tatsache, dass Marcellus zunächst auf Mytilene bleibt, eine Provokation gegen Caesar: Strasburger 1990, S. 430. Vgl. Dettenhofer 1992, S. 196. Die verbreitete Hoffnung auf die Wiederherstellung der Republik darf als Motiv für Brutus’ Handlungen unter Caesar nicht unterschätzt werden. Sie widerspricht auch dem Bild eines Opportunisten. Vgl. Gotter 1996a, S. 223f. Quint. inst. 5,10,9; vgl. Dettenhofer 1992, S. 202. Vgl. Dettenhofer 1992, S. 195. Dettenhofer geht sogar weiter, indem sie vermutet, Brutus sei im Vertrauen auf die Wiederherstellung der Republik selbst zu einem „überzeugten Caesarianer geworden“: ebd., S. 204; dagegen kritisch: Gotter 1996a, S. 233–235 u. S. 278f.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

der Wille des Brutus, die politische Laufbahn fortzusetzen. 858 Die Laudatio auf Cato, der sich in Folge der Niederlage das Leben nahm, bat er Cicero zu verfassen, der sich des heiklen Charakters dieser Angelegenheit sehr wohl bewusst war. 859 Erst nach dem Erscheinen von Ciceros Cato veröffentlichte er selbst einen Nachruf auf seinen Onkel, in dem er dessen Freitod anprangerte und Cicero brüskierte, indem er das Hauptverdienst an der Niederschlagung der Catilinarier nicht ihm, sondern Cato zuschrieb. 860 Nach seiner Rückkehr aus der Provinz heiratete er im Sommer 45 ließ er sich von seiner Frau scheiden und heiratete die Cousine Catos und Witwe von Bibulus, des einstigen Amtskollegen Caesars, was von dem Diktator kritisch gesehen werden musste. 861 Es scheint, dass Brutus Caesars Machtanhäufung auch nach dessen Sieg in Spanien als vorübergehend betrachtet hat. 862 Seine Loyalität bezeugt auch der Umstand, dass er nach der Ermordung des M. Marcellus im Mai 45 einen Brief an Cicero schrieb, in dem er sich gegen jede Verdächtigung des Diktators aussprach. 863 Dieser förderte weiter seine Karriere, indem er ihm den Posten des praetor urbanus für das Jahr 44 zusicherte. 864 Der Moment, in dem Brutus das Vertrauen in Caesar verlor und sich der Verschwörung anschloss, ist in der Forschung umstritten, es lässt sich jedoch konstatieren, dass Brutus es bis Ende 45 verstand, seine eigene Karriere unter dem Alleinherrscher zu befördern. 865 374F

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Cic. fam. 6,6 = 234 Sh. B.,10. Über den offiziellen Status, mit dem er dieses Amt antrat, geben die Quellen keinen genauen Aufschluss, doch scheint – wie von Broughton vorgeschlagen – eine Stellung als legatus pro praetore wahrscheinlich: MRR 2, S. 301; vgl. Dettenhofer 1992, S. 205. Vielleicht auch aus diesem Grund verwies Cicero nochmals im Orator darauf, dass er von Brutus darum gebeten worden war: Cic. orat. 33f.; Ciceros Brieffreund Caecina äußerte sich diesbezüglich: Cic. fam. 6,7 = 237 Sh. B.,4: tu […], qui in ‚Oratore‘ tibi per Brutum et ad excusationem socium quaereris. – „In Deinem Orator versteckst du dich hinter Brutus und suchst Dir zu Deiner Entschuldigung einen Komplizen“; vgl. Dettenhofer 1992, S. 206. Vgl. Dettenhofer 1992, S. 206f; Plasberg 1962, S. 153. Gelzer 1918, Sp. 986 sieht in der Hochzeit einen Beleg für Brutus’ stets vorhandene politische Ideale. Bengtson erkennt in der Hochzeit eine „ausgesprochene Neigungsehe“ und betont, dass sie mitnichten zu einem Bruch zwischen Brutus und Caesar geführt haben kann: Bengtson 1970, S. 13. Dettenhofer verweist hinsichtlich Brutus’ Motivation auf ein „Gefühl der Verpflichtung“ gegenüber dem Onkel: Dettenhofer 1992, S. 208. Vgl. Gelzer 1918, Sp. 986f. Cic. Att. 13,10 = 318 Sh. B.,3; vgl. Dettenhofer 1992, S. 208f. Vgl. Dettenhofer 1992, S. 210f. Gelzer 1918, Sp. 988 verortete den Moment auf den 15. Februar 44, als Caesar sich zum lebenslänglichen Diktator ernennen ließ. Dagegen mahnt Bengtson aufgrund der besonderen Quellensituation zu Zurückhaltung: vgl. Bengtson 1970, S. 13–18. Dettenhofer 1992, S. 236 vermutete die ausgebliebene Designation für das Konsulat des

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Brutus

Mit Brutus lässt Cicero eine Person als Dialogfigur auftreten, die in der Realität politisch zwischen zwei Polen steht. Dass er bis Anfang 44 nicht von Caesar abwich, macht ihn nicht zwangsläufig zu einem überzeugten Caesarianer, der seine republikanischen Wertvorstellungen verriet. Seine politische Position ähnelt einerseits der Ciceros, der sich ebenfalls um die Begnadigung alter Pompejaner bemüht, doch lässt er sich deutlich stärker als dieser von Caesar fördern, wodurch er möglicherweise Kritik vonseiten der Optimaten ausgesetzt war. Eine weitere Facette der historischen Persönlichkeit stellen deren Bildung und intellektuelle Betätigung dar. Der kaiserzeitliche Biograph Plutarch lobt seine breiten Kenntnisse in der Philosophie und rechnet ihn, aufgrund seiner Bewunderung für Antiochos von Askalon und seiner Freundschaft mit dessen Bruder (θαυμάζων μὲν Ἀντίοχον τὸν Ἀσκαλωνίτην, φίλον δὲ καὶ συμβιωτὴν τὸν ἀδελφὸν αὐτοῦ), der Alten Akademie zu (ἐξήρτητο τῆς παλαιᾶς). 866 Die bereits angesprochenen Schriften, die Rede gegen Pompeius sowie der Traktat Über die Tugend, weisen nach all dem, was uns daraus bekannt ist, darauf hin, dass Brutus wie sein Onkel Cato versuchte, seine philosophischen Studien für das politische Alltagsgeschehen nutzbar zu machen. Das Fragment aus De virtute zeigt, dass Brutus in ethischer Hinsicht – zumindest in jener Abhandlung – die stoische Auffassung der Autarkie der Tugend vertrat, die er von Antiochos gelernt hatte. 867 Trotz der Ähnlichkeit der Ethik spricht sich die jüngere Forschung gegen eine Einordnung seiner Person als Stoiker aus und betont die Verbindung zur Akademie des Antiochos. 868 Neben seiner philosophischen Tätigkeit war Brutus auch als Redner tätig. 869 Dass er dabei mit dem Hauptvertreter der attizistischen Rhetorik, C. Licinius Calvus, befreundet war und jenem Rhetorikideal nahestand, stellt einen wichtigen Anknüpfungspunkt für die Thematik des Brutus dar. In Hinblick auf die unterschiedlichen Stilideale ist es denkbar, dass die Einbindung seiner Person in den Dialog eine Vereinnahmung für Ciceros moderatere Auffassung darstellen könnte. 870 Vor einer Untersuchung der Rolle der Dialogfigur muss auch in diesem Fall ein Blick auf das Verhältnis zwischen den historischen Persönlichkeiten, die als Modell der Dialogfiguren dienen, geworfen werden. Durch die erhaltene Korrespondenz erfahren wir, dass dieses keineswegs nur von Herzlichkeit geprägt war. An Brutus’ Geldgeschäften, in deren Rahmen er Geld an in Not geratene griechische Stadtstaaten zu einem Zinssatz von 48 Prozent verlieh, wurde von Cicero starke Kritik geübt, als er 51 das Prokonsulat über Kilikien ausübte und damit für 382F

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Jahres 41 als zentrales Motiv für den Seitenwechsel, diesbezüglich kritisch äußert sich: Gotter 1996a, S. 279. Plut. Brut. 2,1–3. Vgl. Bringmann 1971, S. 66; Sedley 1997, S. 51. S. etwa: Sedley 1997. Quintilian, der sowohl Brutus’ Philosophica als auch seine Reden kannte, schenkt letzteren wenig Beachtung: Quint. inst. 10,1,123. Vgl. Kytzler 1973, S. 478.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

das Eintreiben jener Schulden von den Provinzialen zuständig war. 871 Der Kontakt kam dabei über Atticus zustande, der mit beiden ein gutes Verhältnis pflegte und – wie bereits angesprochen – ebenfalls Geldgeschäfte tätigte. 872 Dieser Konflikt zwischen Brutus und Cicero, in dessen Verlauf sich unser Autor bei Atticus über die Unfreundlichkeit des jungen nobilis beschwerte, 873 spiegelt par excellence die Unterschiedlichkeit ihrer politisch-ethischen Standpunkte wider: Es kollidiert dabei nach Dettenhofer die „magistratische Pflichtauffassung“ des homo novus mit dem „selbstverständlichen Herrschaftsanspruch“ des Aristokraten, der die Angelegenheit der Salamiten aus einer rein ökonomischen Perspektive sah. 874 Die Tatsache, dass Atticus hierbei eine Mittlerrolle zwischen beiden einnahm, stellt mit Blick auf das Personengefüge des Dialogs ein wichtiges Detail dar, wie zu zeigen sein wird. Brutus ist ohne Zweifel der bevorzugte Widmungsträger im philosophischen Spätwerk. 875 Diese Form der persönlichen Ehrerbietung wird in der Forschung als Bestandteil des Werbens Ciceros um seine Person interpretiert. 876 Folgt man dieser Interpretation, so stellt der Brutus möglicherweise einen ersten Schritt dieser Strategie dar, der sich der Arpinate bis zum Zeitpunkt der Ermordung Caesars bediente und von der er ab De divinatione wieder Abstand nahm. In diesem Kontext muss der im Brutus selbst erwähnte Umstand berücksichtigt werden, dass Cicero vor diesem Werk eine Abhandlung von Brutus erhalten hat, möglicherweise De virtute. Indem er sich zum reagierenden Part jener Zweierkonstellation stilisiert und Brutus die Rolle des aktiven Werbers zukommen lässt, vertauscht er die Rollenverteilung des realhistorischen Verhältnisses, in dem sein Werben immer wieder auf die Zurückhaltung des aufstrebenden Politikers stieß. 877 In der Einleitung der kleinen Abhandlung Orator, die etwa gleichzeitig oder kurz nach Brutus entstand, wird ein ähnliches Bild entworfen, wonach Cicero mit seiner Publikation den häufigen Bitten seines jungen Zeitgenossen nachkommen würde, der seine Meinung hinsichtlich der Frage nach der Beschaffenheit des idealen Redners zu erfahren wünsche. 878 Cicero stellt sein Schaffen mit 387F

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Vgl. Dettenhofer 1992, S. 110f. Vgl. ebd., S. 11. Cic. Att. 5,21 = 114 Sh. B.,13; 6,1 = 115 Sh. B.,6. Dettenhofer 1992, S. 112; ähnlich Plasberg 1962, S. 149. Innerhalb der Werke, deren Widmungsträger wir sicher bestimmen können, nimmt er mit sechs Referenzen (Brutus, Paradoxa Stoicorum, Orator, De finibus, Tusculanae Disputationes und De natura deorum) die Adressatenrolle mit Abstand am häufigsten ein. So Strasburger, der dieses Werben als Bestandteil der anticaesarischen Politik begreift: Strasburger 1990, S. 437 u. S. 445; einen Schritt weiter ging Alföldi, der Cicero gar zum „ideologischen Anstifter des Caesarmordes“ deklarierte: Alföldi 1985, S. 367–377; dagegen s. Gotter 1996a, S. 211f. Vgl. Plasberg 1962, S. 149. Cic. orat. 1–3.

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Brutus

Nachdruck als eine Reaktion auf Brutus’ Initiative dar. Der literarische Austausch zwischen beiden Römern wurde also – glaubt man dem Zeugnis Ciceros – von Brutus und nicht von unserem Autor initiiert. 879 Alle drei rednerischen Schriften nach 52 (Brutus, Orator und De optimo genere oratorum) stehen im Kontext der Debatte um den Asianismus und Neuattizismus, in der beide unterschiedliche Positionen vertraten. 880 Diese Meinungsverschiedenheit zwischen Brutus, der einem strengeren und an den Neuattizisten um Calvus orientierten Stilideal anhing, und Cicero, dessen Reden von den Vertretern dieses Stilideals angegriffen wurden, bildet einen wichtigen Hintergrund für Brutus’ Adressatenrolle in den rhetorischen Werken. 881 Während er in dem Traktat Orator vergleichbar einem Rhetorikschüler angesprochen wird, der sich fragend an seinen Lehrmeister wendet (tibi saepius roganti) 882, wird im Jahr darauf im Proömium von De finibus die Gleichrangigkeit beider betont: 883 395F

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ego autem quem timeam lectorem, cum ad te ne Graecis quidem cedentem in philosophia audem scribere? quamquam a te ipso id quidem facio provocatus gratissimo mihi libro, quem ad me de virtute misisti. Wen soll ich dagegen als Leser fürchten, wenn ich es wage, meine Schrift an dich zu richten, der in der Philosophie sogar den Griechen nicht nachsteht? Doch tue ich das allerdings, nachdem du selbst mich mit dem hochwillkommenen Buch Über die Tugend, das du mir gewidmet hast, dazu anregtest.

Der zum Dialogzeitpunkt 39 Jahre alte und Cicero zufolge philosophisch äußerst begabte Iunier habe ihn regelrecht herausgefordert (provocatus), weitere philosophische Werke zu verfassen. Der Autor signalisiert dabei, dass der literarische Dialog zwischen beiden von Brutus initiiert wurde und er letztlich auf dessen Buch, das ihm überaus angenehm wäre (gratissimo mihi libro), antworte. Während durch die Proömien der Werke somit der Eindruck eines lebendigen intellektuellen Austausches bemüht wird, wird durch die Korrespondenz gleichzeitig deutlich, dass Atticus Cicero, der diesbezüglich lange und gründlich überlegte,

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Dass Brutus nicht nur passiver Rezipient innerhalb des literarisch-intellektuellen Austausches war, sondern Cicero um eine Darstellung seiner Position bat, geht auch aus einem auf den Mai 44 datierten Brief an Atticus hervor, in dem Cicero betont, De optimo genere oratorum auf Brutus’ Bitten hin verfasst zu haben (cum ipsius precibus paene adductus scripsissem ad eum): Cic. Att. 14,20 = 374 Sh. B.,3. Vgl. Douglas 1966a, S. xx; Albrecht 2012, S. 446. Zur wohl sehr ernsten Redekunst des Brutus s. auch: Tac. dial. 25; Quint. inst. 10,1,123. Cic. orat. 1. Cic. fin. 1,8.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

offensichtlich zu den Widmungen an Brutus geraten hatte. 884 Ob dem Dialog im Brutus letztlich ein reales Gespräch zugrunde liegt, lässt sich weder beweisen noch ausschließen, wichtiger ist jedoch, dass mit dem Werk selbst ein literarischer Dialog zweier, mit Atticus letztlich sogar dreier Autoren praktiziert wird. 40F

b)

Brutus’ Auftreten im Dialog und seine Beziehung zu Cicero

Brutus’ Rolle im Dialog wird in der Forschung gegenüber der des Atticus als untergeordnet beschrieben. 885 Aus der Untersuchung des historischen Verhältnisses können wir festhalten, dass er nicht wie Atticus und Quintus zum engsten Umkreis Ciceros gehörte, wodurch er als Dialogfigur erstmals eine Sonderstellung einnimmt. Betrachten wir sein Auftreten im Dialog vor dem geschichtlichen Hintergrund, so fällt sehr deutlich auf, dass der Autor gleich zu Beginn seine persönliche Verbundenheit mit der Dialogfigur zum Ausdruck bringt. Bereits beim Übergang vom Proömium zum Dialog wird ein enges persönliches Verhältnis zwischen Cicero und Brutus behauptet, indem er diesen gemeinsam mit Atticus als „liebe und willkommene Leute“ (mihi cari itaque iucundi) bezeichnet. 886 Der Hinweis ut consueverat legt zudem nahe, dass er bereits seit einiger Zeit den regelmäßigen Kontakt mit dem Autor suchte, was an das im Orator beschriebene Verhältnis zwischen fragendem Schüler und antwortendem Lehrer erinnert. Brutus’ Rolle als Besucher birgt allerdings auch eine politische Note, wie unmittelbar nach der Begrüßung der beiden Gäste deutlich wird: 887 401F

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quid vos, inquam, Brute et Attice? numquid tandem novi? Nihil sane, inquit Brutus, quod quidem aut tu audire velis aut ego pro certo dicere audeam. „Was gibt’s, Brutus und Atticus? Doch nicht etwa eine Neuigkeit?“ „Nein, nein“, antwortete Brutus, „jedenfalls keine, die du hören wolltest oder die ich als gesichert auszugeben wage.“

Ihr Erscheinen verweist auf die politische Situation der res publica, hinsichtlich der Cicero auf Nachrichten (numquid tandem novi) wartet, die er von beiden zu erfahren hofft. Brutus’ Antwort verrät, wie jüngst Martin herausstellte, zugleich eine gewisse politische Distanz zwischen Autor und Adressat, indem Brutus andeutet, etwas zu wissen, das Cicero jedoch nicht hören möchte (nihi […] quod […] tu audire velis). 888 Zwar zeigt sich Brutus durch den Unterton (tu […] ego) 40F

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Cic. Att. 13,21a = 327 Sh. B.,1: rectumne existima cuiquam Bruto, cui te auctore προσφωνῶ? – „Hältst du es für richtig, dass jemand sie eher in die Hand bekommt als Brutus, dem sie auf deinen Rat hin gewidmet ist?“ Vgl. Martin 2014, S. 217. Cic. Brut. 10. Ebd. Vgl. Martin 2014, S. 219.

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Brutus

seiner Worte nicht zwingend als Caesarianer im Sinne einer Befürwortung der Diktatur, doch zeichnet sich darin die Ausgangslage, das politische Abseits des gerade begnadigten Konsulars sowie die Nähe des aufstrebenden jungen Staatsmanns zum neuen Zentrum der Macht, ab. 889 405F

c)

Brutus als Literat, Schüler und kommender Redner

Nachdem Atticus die Politik aus dem Gespräch verbannt hat, 890 nimmt es die Form eines intellektuellen Austauschs zwischen den drei gebildeten Römern an. Wie oben bereits angesprochen, erscheinen Atticus und Brutus nicht nur als Leser der Literatur des Arpinaten, sondern selbst als Autoren, deren schriftstellerische Tätigkeit thematisch aufgegriffen wird. Die beiden Freunde präsentieren sich als Leser von Brutus’ Schreiben aus der Provinz Asia, das Atticus perlibenter gelesen habe und das Cicero aus einer „langen Zerrüttung des ganzen Gesundheitszustands“ (ex diuturna perturbatione totius valetudinis) wieder zur Betrachtung des Tageslichts „zurückgerufen“ habe (ad adspiciendam lucem esse revocatum). 891 Auch gesetzt den Fall, dass dieses Schreiben nicht De virtute enthielt, wird deutlich, dass die besagte epistula, die den Autor offensichtlich – im guten oder schlechten Sinne – angesprochen hat, als Ausgangspunkt für Ciceros neuerliches literarisches Schaffen dargestellt wird. 892 Mit der Reaktion seiner Gesprächspartner zeigt sich Brutus zufrieden: 893 406F

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volui id quidem efficere certe et capio magnum fructum, si quidem quod volui tanta in re consecutus sum. sed scire cupio, quae te Attici litterae delectaverint. Gerade das wollte ich ja sicherlich erreichen, und es ist mir ein rechter Lohn, wenn ich wirklich in einer so wichtigen Sache erreicht habe, was ich wollte. Aber ich möchte doch wissen, welches Schriftstück des Atticus dir die Freude gemacht hat.

Nachdem Atticus Brutus’ Schreiben ins Gespräch gebracht hat, lenkt Brutus nun seinerseits den Fokus auf das Werk des gemeinsamen Freundes. Mit seiner Frage 889 890 891 892

893

Vgl. Martin 2014, S. 219. Cic. Brut. 11. Ebd., 11f. Durch eine Bemerkung des Atticus an dieser Stelle wird deutlich, dass der Charakter des Schreibens Cicero direkt ermahnte und auf seine consolatio ausgerichtet war: Cic. Brut. 11: qua mihi visus est et monere et prudenter et consolari amicissime. – „Darin, so schien mir, hat er dich in kluger Weise ermutigt und überaus freundlich getröstet.“ Aus der späteren Korrespondenz erfahren wir, dass Brutus sich bei einem Trostbrief anlässlich Tullias Tod im Ton vergriff und damit nicht zum ersten Mal Ciceros Missmut erregte; vgl. Dettenhofer 1992, S. 207f. Dass Brutus Schreiben wirklich amicissime geschrieben war, darf also bezweifelt werden. Cic. Brut. 13.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

bietet er dem Autor eine Vorlage, dessen Schrift und ihre Wirkung auf ihn zu würdigen. Anhand des Hinweises, dass Atticus sich in jenem Buch direkt an Cicero wandte und ihn darin aufrichtete (quo me hic adfatus quasi iacentem excitavit), 894 kann Brutus die Schrift als dessen Geschichtswerk identifizieren und signalisiert, es bereits gelesen zu haben (ut mihi quidem visus est), wodurch er sich als gleichrangiger Gesprächspartner in das Personengefüge einfügt. 895 Die persönliche Nähe zu Atticus und Cicero wird durch das gemeinsame geistige Interesse verstärkt. In dem anschließenden Gespräch wird der literarische Austausch metaphorisch mit Finanzgeschäften verglichen. 896 Die Tatsache, dass Brutus selbst Autor eines an Cicero adressierten Werkes ist, macht ihn – ebenso wie Atticus – zu einem Gläubiger, der auf die Rückzahlung in Form eines an ihn gerichteten Werkes wartet. Während Atticus noch vertröstet wird und weiter (auf De legibus) warten muss, erhält Brutus, der das von Atticus begonnene Rollenspiel mitspielt und sich als procurator präsentiert, die Auszahlung durch den Brutus. 897 Die Motivation für sein Erscheinen – so wird am Anfang deutlich – liegt jedoch weder in einer politischen Absicht noch im Eintreiben der Schuld, sondern in seiner Wissbegierde begründet, wie aus Atticus’ Erklärung deutlich wird: 898 410F

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Quod mihi nuper in Tusculano inchoavisti de oratoribus: quando esse coepissent, qui etiam et quales fuissent. quem ego sermonem cum ad Brutum tuum vel nostrum potius detulissem, magnopere hic audire se velle dixit. itaque hunc elegimus diem, cum te sciremus esse vacuum. quare, si tibi est commodum, ede illa quae coeperas et Bruto et mihi. Das Gespräch über den Redner, das du unlängst in deinem Haus in Tusculum begonnen hast: wann sie zum ersten Mal auftraten, wer sie waren und welche Vorzüge sie hatten. Als ich dieses Gespräch deinem oder vielmehr unserem Brutus berichtet hatte, da sagte er, er wolle unbedingt darüber hören. Deshalb haben wir den heutigen Tag gewählt, da wir wussten, dass du sonst nichts vorhast. Wenn es dir also gelegen ist, dann lege Brutus und mir dar, was du angesprochen hast.

Brutus’ Rolle erinnert hierbei an jene idealisierte Schülerrolle, die wir bereits in De oratore bei Cotta und Sulpicius kennenlernten: Während er einerseits ein deutliches Interesse an der zu behandelnden Materie mitbringt, äußert er dieses nicht selbst, sondern lässt den älteren Atticus, der wie Scaevola als Mittelsmann fungiert, sein Anliegen vortragen. Der Charakterzug des wissbegierigen Schülers zeigt sich bereits in seiner ersten Reaktion auf Ciceros Vortrag. Nachdem dieser

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Cic. Brut. 13. Ebd., 14. Ebd., 17–19. Ebd., 17; vgl. Narducci 1997, S. 106. Cic. Brut. 20.

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die Geschichte der griechischen Redner abgeschlossen hat, erklärt Brutus, dass die Ausführungen für ihn iucunda und eher zu kurz statt lang gewesen seien (non longa, sed etiam breviora quam vellem). 899 Dabei gibt er sich nicht nur als dankbarer Rezipient zu erkennen: Dass er sich den Vortrag über die griechischen Redner länger gewünscht hätte, spiegelt zugleich einen gewissen Philhellenismus wider, der über den des Autors hinauszugehen scheint. In dem Vortrag über die römischen Redner wiederum äußert Brutus seine Zustimmung zu der genealogischen Vorgehensweise Ciceros, die ihn ebenfalls erfreuen würde (delector). 900 Das fiktive Gespräch des Brutus setzt ein früheres, ebenfalls fiktives als Ausgangspunkt voraus, in dem Cicero Atticus zufolge zwar Brutus’ Verteidigung des Deiotarus gelobt, aber auch seinen Schmerz über ihn und die Verwaisung des Forums geäußert habe (ruti dolentem vicem quasi deflevisse iudicorum vastitatem et fori). 901 Cicero erklärt darauf: 902 415F

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Feci […] istuc quidem et saepe facio. nam mihi, Brute, in te intuenti crebro in mentem venit vereri, ecquodnam curriculum aliquando sit habitura tua et natura admirabilis et exquisita doctrina et singularis industria. cum enim in maximis causis versatus esses et cum tibi aetas nostra iam cederet fascisque submitteret, subito in civitate cum alia ceciderunt tum etiam ea ipsa, de qua disputare ordimur, eloquentia obmutuit. Das habe ich getan und ich tue das oft. Denn wenn ich dich anschaue, Brutus, dann drängt sich mir die bange Frage auf, welche Laufbahn dereinst deine Begabung, deine ausgezeichnete Bildung und dein einzigartiger Arbeitseifer vor sich haben werden. Denn als du mit den bedeutendsten Prozessen befasst warst, als ich dir aufgrund meines Alters Platz machte und die Rutenbündel vor dir senkte, da verstummte inmitten des allgemeinen Zusammenbruchs gerade auch sie, die wir zu erörtern beginnen, die Beredsamkeit.

Die Zukunft des Brutus als Redner, um die sich Cicero sorgt, stellt damit einen zentralen Gedanken des gleichnamigen Dialogs dar. Das ausdrückliche Lob seiner Qualitäten (et natura admirabilis et exquisita doctrina et singularis industria) und seiner bereits gehaltenen Rede, die er selbst gehört habe, ist dabei sowohl an die Dialogfigur (dialogintern) als auch an die noch lebende Persönlichkeit (dialogextern) gerichtet. Gleichzeitig lässt sich die Figur als Vertreter einer neuen, vielversprechenden Generation von Rednern sehen, unter denen Brutus sich durch Begabung, Gelehrsamkeit und Fleiß auszeichne. Dass eben jene drei Kategorien von Cicero als Hauptkategorien zur Beurteilung einer Vielzahl von Rednern herangezogen werden, zeigt, dass der Inhalt des Brutus an der

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Cic. Brut. 52. Ebd., 74 Ebd., 21. Ebd., 22.

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gleichnamigen Persönlichkeit ausgerichtet wird. 903 Indem er auch über praktische Erfahrung verfügt, kommt er dem Bildungsideal aus De oratore nahe. Seine Verwendung als Dialogfigur lässt sich insofern als ein Novum der Dialogtechnik Ciceros bezeichnen, als die Rolle der Jugend von einer lebenden Persönlichkeit eingenommen wird, deren politische Zukunft zum Zeitpunkt der Niederschrift des Dialoges tatsächlich unklar sein muss. Während Rutilius Rufus, Cotta und Sulpicius Rufus – Figuren mit vergleichbarem Altersunterschied in den Vergangenheitsdialogen – die Leserschaft an ihr tragisches Schicksal erinnerten, gerät mit der Person des Brutus die unmittelbare Zeitgeschichte und die mögliche Zukunft in den Fokus. Auf seine Person und seine ungewisse Zukunft wird immer wieder Bezug genommen, am deutlichsten jedoch am Ende des Werkes, erneut durch die Vertretung des Autors: 904 419F

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Sed in te tuens, Brute, doleo, cuius in adulescentiam per medias laudes quasi quadrigis vehentem transversa incurrit misera fortuna rei publicae. hic me dolor tangit, haec me cura sollicitat et hunc mecum socium eiusdem et amoris et iudici. tibi favemus, te tua frui virtute cupimus, tibi optamus eam rem publicam, in qua duorum generum amplissimorum renovare memoriam atque augere possis. Aber wenn ich auf dich meinen Blick richte, dann schmerzt es mich, Brutus. Als deine Jugend mitten durch Zurufe des Beifalls wie auf einem Viergespann daherkam, da trat ihr das unheilvolle Geschick des Gemeinwesens in die Quere. Der Schmerz darüber trifft mich, die Sorge darum bedrückt mich und ihn hier, der mit mir diesselbe Zuneigung und Anerkennung für dich teilt. Dir gehört meine Sympathie; dass du den Lohn deiner Tugend genießt, das wünsche ich dir, für dich ersehne ich ein Gemeinwesen, in dem du die Erinnerung an zwei überaus bedeutende Familien erneuern und erhöhen kannst.

Durch Brutus’ Integration in eine fiktive textinterne Parallelwelt gibt Cicero auch eine politische Erwartungshaltung in der textexternen realen Welt zu erkennen. Indem der aufstrebende junge Politiker einem Gespräch mit dem erfahrenen Konsular beiwohnt, wird auch eine politische Nähe zum Ausdruck gebracht. Der jeweils am Anfang und Ende des Werks erscheinende Aufruf an die Dialogfigur Brutus signalisiert der historischen Person auf eindringliche Weise, dass sie sich der Rednerbühne zuwenden und damit Ciceros Nachfolge antreten soll. 905 Der Dialog spiegelt dabei nicht nur die Sorge des Autors um die Zukunft der Rhetorik in Rom, sondern fungiert für diesen auch als Werkzeug bei dem Versuch, die Person des Brutus zu vereinnahmen. Die Brutus-Figur stellt dabei einen werkin421F

903

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Als Ursprung jener Kategorien nennt Kytzler den Phaidros: Kytzler 1973, S. 271; Plat. Phaidr. 269d. Cic. Brut. 331. Vgl. Rathofer 1986, S. 116.

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ternen Rezipienten dar, der dahingehend weniger eine Leserschaft als vielmehr die Person selbst zu vertreten scheint. d)

Brutus’ Schülerrolle im Rahmen der Autorinszenierung

Das Auftreten der Dialogfigur Brutus steht – wie das von Atticus und Quintus in De legibus – in einem engen Zusammenhang mit der Selbstinszenierung des Autors, die sich durch die Interaktion der Gesprächspartner ergibt. Dies zeigt sich beim jüngsten Teilnehmer des Kreises vor allem dadurch, dass er den Vorsatz Ciceros, nicht über die zeitgenössischen Redner zu sprechen, am entschiedensten anfechtet und dessen Gründe dafür hinterfragt. Als dieser vorgibt, nicht über die Zeitgenossen zu sprechen, damit Atticus und Brutus ihn nicht „mit zu großer Neugier“ über jene ausfragen würden (ne vos curiosius eliceretis ex me, quid de quoque iudicarem), äußert Brutus den Verdacht, dass Cicero damit nicht den wahren Grund für sein Stillschweigen genannt habe (non est […] ista causa, quam dicis, quam ob rem de eis […] nihil velis dicere). 906 Auf die Frage von Cicero, was er denn für den eigentlichen Grund halte, vermutet Brutus, er fürchte sich, dass durch sie das Gespräch bekannt werde und sich die von ihm nicht genannten Redner angegriffen fühlen könnten (ii tibi suscenseant, quos praeterieris). 907 Von dem Einwurf scheinbar in die Defensive getrieben erklärt Cicero, dass er nicht damit gerechnet habe, in dem Gespräch bis zur eigenen Generation der Redner zu gelangen. Als Cicero ankündigt, bis zum Hortensius fortzufahren, über sich selbst aber andere reden lassen wolle, insistiert Brutus hartnäckig darauf, dass er auch über sich selbst sprechen solle: 908 42F

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Minime vero […]. nam etsi me facile omni tuo sermone tenuisti, tamen is mihi longior videtur, quod propero audire de te; nec vero tam de virtutibus dicendi tuis, quae cum omnibus tum certe mihi notissimae sunt, quam quod gradus tuos et quasi processus dicendi studeo cognoscere. Nein, nein. […] Denn wenn es dir auch leichtfiel, mich in deinem Vortrag zu fesseln, so zieht sich der doch, wie mir scheint, zu sehr in die Länge, weil ich rasch über dich hören möchte, und zwar nicht so sehr über die Vorzüge deiner Rede, die allen und gewiss gerade mir bekannt sind, als vielmehr, weil ich gleichsam die Etappen deiner Fortschritte als Redner kennenlernen möchte.

Brutus, der sich als interessierter Zuhörer Ciceros präsentiert, der dessen rednerische Tugenden besonders gut kennen würde (tum certe mihi notissimae sunt), erzeugt durch seinen Wunsch einen legitimen Rahmen für die Selbstdarstellung des Autors, da diese nun nicht der eitlen Darstellung der eigenen Qualitäten 906 907 908

Cic. Brut. 231. Ebd. Ebd., 232.

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dient, sondern dem Aufzeigen seines Bildungswegs. Indem Brutus als lernbegieriger Schüler spricht, muss Cicero seiner Aufgabe als verantwortungsbewusster Lehrer nachkommen. In seiner Funktion als Schüler kommt es nicht zufällig ihm zu, den AttizistenExkurs einzuleiten, indem er bei der Behandlung des Calvus einwendet, dass dieser mit ihm offensichtlich persönlich verbundene Redner (Calvus noster) als Attizist bezeichnet werden möchte (Atticum […] dici oratorem volebat). 909 Die vom Autor gesuchte Auseinandersetzung mit seinen Kritikern wird somit durch die Dialogfigur des Brutus ermöglicht, der diese anschließend als ihm „sehr willkommen“ (periucunda […] digressio) lobt. 910 425F

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e)

Brutus als philosophisch gebildeter Redner

Im Zusammenhang mit seinem rednerischen Profil werden jedoch erneut Unterschiede in den Ansichten der historischen Persönlichkeiten deutlich. Den deutlichsten stellt dabei Brutus’ Präferenz der Philosophie gegenüber der Redekunst dar, wenn er auf Ciceros Folgerung zum Zusammenbruch und dem Verstummen der Beredsamkeit (eloquentia obmuit) 911 erklärt, dies aus anderen Gründen (ceterarum causa) zu bedauern: 912 Zwar betont er im Sinne des ciceronischen Bildungsideals die Notwendigkeit der prudentia für die Redekunst (dicere enim bene nemo potest nisi qui prudenter intellegit), doch gibt er sich mit einer deklamatorischen Beredsamkeit zufrieden, die auf „Gewinn und Ruhm“ (fructus et gloria) verzichtet. 913 Die Praxis der Rhetorik scheint für ihn damit nur zweitrangig, worin die Dialogfigur die Haltung der historischen Persönlichkeit zum Ausdruck bringt. 914 Die spezifische philosophische Bildung des Brutus in der Akademie wird von Cicero ausdrücklich gebilligt (tuum […] iudicium probo, qui eorum […] philosophorum sectam secutus es), da sie die wissenschaftliche Rede mit dem Reichtum der rhetorischen verbunden habe (disserendi ratio coniugitur cum suavite dicendi et copia). 915 Dabei unterstreicht er die Bedeutung dieser im Peripatos und der Akademie gepflegten Praxis als notwendige Bedingung rednerischer Exzellenz (nec sine ea orator esse perfectus). Im Kontext des Brutus ist die Philosophie zwar vornehmlich auf ihre Rolle in der rednerischen Ausbildung beschränkt, doch drückt sich in dem Verweis auf sie auch eine Gemeinsamkeit zwischen dem Autor und dem Widmungsträger des Werks aus. Die anerkennen427F

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Cic. Brut. 284. Ebd., 292. Ebd., 22. Ebd., 23. Hierauf weist auch Gunnersmanns Kommentar in der verwendeten Übersetzung hin: Gunnermann 2012, S. 260f., Anm. 32. Vgl. Martin 2014, S. 220. Cic. Brut. 120.

521

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den Worte enthalten einen zugleich mahnenden und empfehlenden Charakter, indem vor dem Redestil der Stoiker gewarnt wird (Stoicorum astrictior est oratio aliquantoque contractior quam aures populi requirunt), was auf Brutus’ persönliche Vorliebe für die stoische Dialektik rekurriert. 916 Das Lob auf die philosophische und rhetorische Ausbildung des Brutus sowie das Herausstellen der gemeinsamen Leidenschaft für die Philosophie erhalten dadurch einen deutlich auffordernden Charakter, wie das Ende des Dialogs zeigt: 917 432F

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tu tamen, etsi cursum ingeni tui, Brute, premit haec importuna clades civitatis, contine te in tuis perennibus studiis et effice id quod iam propemodum vel plane potius effeceras, ut te eripias ex ea, quam ego congessi in hunc sermonem, turba patronorum. nec enim decet te ornatum uberrumis artibus, quas cum domo haurire non posses, arcessivisti ex urbe ea, quae domus est semper habita doctrinae, numerari in volgo patronorum. nam quid te exercuit Pammenes vir longe eloquentissimus Graeciae, quid illa vetus Academia atque eius heres Aristus hospes et familiaris meus, si quidem similes maioris partis oratorum futuri sumus? Du aber, Brutus, wenngleich der Laufbahn deines Talentes diese bedrückende Katastrophe der Bürgerschaft im Wege steht, verbleibe dennoch bei deinen nie unterbrochenen Studien und erwirke, was du schon nahezu oder vielmehr vollkommen erwirkt hattest, dich herauszuheben aus dieser Schar von Anwälten, die ich in dieser Erörterung zusammengestellt habe. Denn es geht nicht an, dass du, ausgezeichnet mit den erfolgversprechenden Kenntnissen, die du dir, weil du sie dir in deiner Heimatstadt nicht aneignen konntest, aus der Stadt geholt hast, die stets als Heimat der Bildung gegolten hat, unter das Fußvolk der Anwälte eingereiht wirst. Denn wozu hat dich Pammenes geschult, der bei weitem fähigste Redner Griechenlands? Wozu jene Alte Akademie und ihr Erbe Aristus, mein Gastfreund und Vertrauter, wenn wir doch nur wie der Großteil der Redner sein werden?

Eben darum, weil Brutus – wie Cicero – eine Ausbildung durch griechische Experten genossen hat, dürfe es nicht sein, dass er einer niedrigen Anwaltstätigkeit nachgehe. Der nahezu perfekt ausgebildete Redner, der nur darauf warte, an den großen Prozessen der res publica teilzunehmen, drohe durch den als „Katastrophe“ beschriebenen Zustand des Staates (clades civitatis) zur tragischen Gestalt zu werden. Nebenbei wird auf das Freundschaftsverhältnis des Autors mit Pammenes hingewiesen (hospes et familiaris meus), wodurch die gemeinsame philosophische Orientierung angedeutet wird. Ihre Bildung erscheint dabei als ein verbindendes Element der beiden nobiles, welches die Angleichung der Persönlichkeiten Cicero und Brutus begünstigt. 918 43F

916 917 918

Cic. Brut. 118f. u. 309; orat. 114; s. hierzu: Rathofer 1986, S. 114. Cic. Brut. 332. Zu der intendierten Parallelisierung von Cicero und Brutus s. Rathofer 1986, S. 117.

522 f)

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Brutus’ Unkenntnis römischer Redner

Während die philosophische und rednerische Ausbildung in hohen Tönen gelobt wird und dazu beiträgt, den dramatischen Charakter des Schlusses zu steigern, wird in der Passage auch nochmals deutlich, dass die Aufzählung der zahlreichen Redner von Cicero für Brutus unternommen wurde. Hinsichtlich der Geschichte römischer Rhetorik zeigt Brutus deutliche Wissenslücken, worauf zuletzt Martin mit Recht aufmerksam gemacht hat. 919 Dies zeigt sich besonders deutlich im Fall einer Rede des Curio, die zur Jugendzeit des Autors viel gelesen wurde, zur Gegenwart des Dialogs jedoch kaum mehr auffindbar sei. 920 Als Cicero darauf verweist, dass auch wegen seiner zahlreichen Publikationen nun viele Bücher von den meisten nicht mehr gelesen würden (sed a plerisque legi sunt desitae), zählt sich Brutus einerseits selbst zu dieser Gruppe (me numera […] in plerisque), zeigt sich aber andererseits gewillt, diese zu lesen (video mihi multa legenda iam te auctore quae antea contemnebam). 921 Es lässt sich dahingehend eine Bildungsasymmetrie zwischen Brutus auf der einen und Atticus und Cicero auf der anderen Seite feststellen, doch erwecken die Wissenslücken nicht zwingend den Eindruck, dass es Cicero darum geht, ihn bewusst als ignorante Persönlichkeit bloßzustellen, wie Martin vermutet, da die Dialogfigur zugleich Bereitschaft zeigt, sich fortan mit jener Rede des Curio zu beschäftigen. 922 Brutus repräsentiert vielmehr eine junge Generation von Rednern, die aufgrund der Dominanz der publizierten Reden des Arpinaten nicht mehr dazu kommt, Reden der älteren Generation zu lesen. Diese Rolle spielt er mustergültig, indem er Neugier und Interesse an den Tag legt, so auch am Ende des Dialogs, als er Cicero um die Erklärung der Reden des alten Cato bittet (sed tu […] orationes nobis veteres explicabis?). 923 Brutus reagiert immer wieder als aufmerksamer Schüler, dem sich durch den Vortrag Ciceros Zusammenhänge erschließen, wie nach dessen Lob auf Crassus und Scaevola deutlich wird: Er präsentiert sich als dankbarer Empfänger der Überlieferung Ciceros und nimmt sie mit Vergnügen auf (cepi voluptatem), da ihm der rednerische Ruhm des letzteren bis dahin nicht bekannt gewesen sei (ista mihi eius dicendi tanta laus nota non erat). 924 Die Unkenntnis, die sich durch den Vergleich mit den beiden Gesprächspartnern offenbart, erscheint teilweise durch sein Alter bedingt. Als jüngerer Redner kennt er dagegen die Reden Caesars, die er sehr schätzt, und bringt dessen Commentarii de bello Gallico ins Gespräch ein. 925 Da er jedoch, wie seine überraschte Reaktion zeigt, De analogia nicht zu kennen scheint, bleibt dennoch der Eindruck, dass er hin435F

436F

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919 920 921 922 923 924 925

S. hierzu auch: Martin 2014, S. 21–24. Cic. Brut. 122. Ebd., 123. Martin 2014, S. 223: „Pour l’instant, Brutus apparaît plutôt comme … un brutus!“ Cic. Brut. 299. Ebd., 147. Ebd., 262.

Brutus

523

sichtlich der lateinischen Beredsamkeit und ihrer Theorie weniger belesen ist als in der griechischen Philosophie. 926 42F

g)

Brutus als Referent über den Redner Marcellus und Vertreter seiner gens

In seiner Rolle als Schüler scheint Brutus einen Bildungsprozess zu durchlaufen, der in sein Urteil über Marcellus mündet. Darin wird deutlich, dass sich seine Rolle im Gespräch nicht bloß auf Nachfragen und Kommentieren – wodurch er eine Kommunikation zwischen Leser und Autor ermöglicht – beschränkt, sondern zunehmend von Selbstständigkeit geprägt ist. Indem die Dialogfigur Cicero sich verpflichtet, nicht über lebende Redner zu sprechen, wird die Behandlung von Marcellus und Caesar den Gesprächspartnern überlassen. Brutus, der sich diese sehnlichst gewünscht hatte (quam vellem […] de his etiam oratoribus, qui hodie sunt, tibi dicere liberet), 927 liefert selbst die Beschreibung des Marcellus, als ihn Cicero nach seinem Urteil über den Mann, den er oft gehört habe (quem saepe audivisti) 928, fragt: 929 43F

4F

45F

Atque et ita est, […] et vehementer placet; nec vero sine causa. nam et didicit et omissis ceteris studiis unum id egit seseque cotidianis commentationibus acerrume exercuit. itaque et lectis utitur verbis et frequentibus , splendore vocis, dignitate motus fit speciosum et inlustre quod dicitur, omniaque sic suppetunt, et ei nullam deesse virtutem oratoris putem; maxumeque laudandus est, qui hoc tempore ipso, cum liceat in hoc communi nostro et quasi fatali malo, consoletur se cum conscientia optumae mentis tum etiam usurpatione et renovatione doctrinae. vidi enim Mytilenis nuper virum atque, ut dixi, vidi plane virum. itaque cum eum antea tui similem in dicendo viderim, tum vero nunc a doctissimo viro tibique, ut intellexi, amicissimo Cratippo instructum omni copia multo videbam similiorem. Er gefällt mir sehr gut, und das nicht ohne Grund; denn er hat sich weitergebildet, alle anderen Ziele zurückgestellt, sich nur darum bemüht und sich Tag für Tag mit großem Einsatz in Redeentwürfen geübt. (250) Daher hat er einen ausgezeichneten Wortschatz und Reichtum an Gedanken. Durch die Deutlichkeit seiner Aussprache und die Vornehmheit seiner Gestik wird seine Aussage beeindruckend und anschaulich, und alle Eigenschaften eines Redners stehen ihm so zu Gebote, dass ihm, wie ich glaube, nicht ein einziger Vorzug eines Redners fehlt. Die größte Anerkennung verdient er dafür, dass er gerade in der gegenwärtigen Situation, soweit dies in diesem unseren gemeinsamen und dabei gleichsam schicksalhaften Unheil möglich ist, Trost sucht in dem Bewusstsein, der rechten Gesinnung zu sein, besonders auch in der Ausübung und der Auffrischung seiner wissenschaftli-

926 927 928 929

Cic. Brut. 254. Ebd., 248. Ebd., 249. Ebd., 250.

524

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten chen Bildung. Ich habe den Mann ja unlängst in Mytilene gesehen, und, wie ich sagte, ich sah einen Mann in dessen Wortes rechtem Sinn. Und so begann ich ihn, wenngleich ich ihn schon vorher als dir in der Beredsamkeit ähnlich gesehen habe, jetzt, da er von dem hochgelehrten Mann, dem, wie ich bemerkte, mit dir eng befreundeten Kratippos, mit umfassendem Wissensschatz ausgestattet ist, als dir viel ähnlicher zu sehen.

Die Tatsache, dass Brutus über Marcellus referiert, folgt einerseits dem Konzept der Dialogfigur Cicero, über Lebende nicht sprechen zu wollen, andererseits erscheint er als besonders geeigneter Referent, da er ihn nicht nur oft gehört, sondern auch erst vor kurzem persönlich getroffen habe (vidi enim Mytilenis nuper visum). Die Ähnlichkeit des Urteils mit der Charakterisierung des Marcellus in dem von Seneca überlieferten Fragment aus De virtute, in dem ebenfalls Marcellus’ wiederbelebte wissenschaftliche Tätigkeit (renovatione doctrinae) im Exil und seine virtus als beispielhaft gelobt werden, spricht dafür, dass – selbst wenn De virtute nicht in jenem Brief an Cicero enthalten war – die hier vorgetragene Meinung über jenen Caesargegner die des Brutus ist. 930 Das Lob auf den römischen nobilis, der sich in der Philosophie tröstet, entbehrt dabei bewusst jeglicher konkreten Anspielung auf dessen politische Gegnerschaft zu Caesar, welcher von Atticus später ebenfalls aus einer unpolitischen Perspektive betrachtet wird. 931 Die Verbindung von Marcellus und Cicero mit dem Philosophen Kratippos lässt die beiden Römer in Brutus’ Augen als überaus ähnlich erscheinen, wodurch das Beispiel letztlich zur Selbstinszenierung des Autors beiträgt. Die Beurteilungen von Marcellus und Caesar stehen am Anfang einer Reihe weiterer Bewertungen von Rednern, die wieder vom Arpinaten übernommen werden. 932 Die Erwähnung von Torquatus und Triarius, deren Tod noch nicht lange zurückzuliegen scheint, führt zu Brutus’ emotionaler Erregung (tum Brutus Torquati et Triari mentione commotus), der daraufhin beklagt, dass man auf Ciceros Friedensbemühungen nicht gehört hätte. 933 Die Dialogfigur erscheint dabei politisch eng an der Seite des Autors und fördert zugleich dessen politische Selbstdarstellung, indem er dessen umstrittenes Vorgehen post eventum für richtig erklärt. Eine ähnliche Situation entsteht bei der Erwähnung des Rechtsexperten Servius Sulpicius, dessen Verbundenheit mit Cicero von Brutus hervorgehoben wird, der ihn vor kurzem auf Samos besucht habe. 934 Bei dieser Gelegenheit wendet sich Brutus erneut an den Staatsmann Cicero und bedauert das lange Fehlen seiner Stimme für das römische Volk (itaque doleo et illius consilio et tua voce populum Romanum carere tam diu). 935 Wie im Fall des Marcellus durch 46F

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930 931 932 933 934 935

Sen. dial. 12,9,4–6. Cic. Brut. 252f. Ebd., 263–265. Ebd., 266. Ebd., 156. Ebd., 157.

525

Brutus

Cicero wird hier durch Atticus ein Abdriften des Gesprächs auf die Tagespolitik verhindert. 936 Brutus, der zum Zeitpunkt des Dialogs an der Seite Caesars aktiv im politischen Geschehen involviert war, bedroht zweimal explizit Atticus’ Vorsatz, die Politik außen vor zu lassen. Beide Male kommt dabei eine hohe Anerkennung für Cicero als Staatsmann zum Ausdruck, der jedoch demonstrativ bei seinem Schweigen bleibt. Der Aufruf an den Autor, seine Stimme wieder der res publica zurückzugeben, wird im Schlussappell an die Adresse des Brutus zurückgespielt (et ipse re publica careas et illa te). 937 Da er über alle notwendigen Dispositionen verfüge, sei es vor allem Brutus, der durch das Fehlen der res publica beeinträchtigt werde. Zu den notwendigen Voraussetzungen gehört neben den rhetorischen Fähigkeiten und der dazugehörigen Bildung vor allem die Familie. Auf sein Ahnenkapital, aus dem vor allem L. Brutus und Servius Ahala hervorragen, wird immer wieder als eine Art Leitmotiv angespielt. 938 Da es sich bei der historischen Vorlage der Dialogfigur um eine Persönlichkeit handelte, die sehr auf ihre Abstammung bedacht war und sich nicht scheute, daraus politisches Kapital zu schlagen, geschieht dies nicht ohne Kalkül. Der Autor kommt dieser Haltung im Brutus nicht nur durch den zweideutigen Titel, der sich auch auf L. Brutus beziehen könnte, sondern auch im Dialog entgegen, indem er bei jeder Erwähnung eines Vorfahren die Verwandtschaft herausstellt. Nachdem er die Geschichte der römischen Beredsamkeit mit dem Gründer der Republik L. Brutus beginnen hat lassen, werden weitere Stammväter genannt: D. Brutus Gallaecus (cos. 138), M. Iunius Pennus, M. Iunius Brutus „accusator“, D. Iunius Brutus (cos. 77), D. Iunius Silanus sowie der Schwiegervater Ap. Claudius Pulcher. 939 Bis auf M. Iunius Brutus, der als „Schandfleck“ seiner Familie genannt wird (dedecus generi vestro), 940 erscheinen dabei alle in teils direkter, teils verdeckterer Weise als Verfechter der Freiheit der res publica. 941 Für seine gezielte Integration der Genealogie konnte Cicero neben dem Liber annalis auch den von Atticus für Brutus entworfenen Stammbaum heranziehen. 942 452F

453F

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456F

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458F

h)

Zusammenfassung

Die Dialogfigur zeigt M. Iunius Brutus in einer idealisierten Schülerrolle gegenüber Cicero. Hinsichtlich dieser Rolle lassen sich Parallelen zu Personen in früheren Dialogen herstellen, etwa zu Cotta und Sulpicius in De oratore, welche ebenfalls als die Redner der kommenden Generation gepriesen werden. Der mit 936 937 938 939 940 941 942

Cic. Brut. 157 u. 266. Ebd., 332. Vgl. Martin 2014, S. 231. Cic. Brut. 53, 107, 109, 130, 175, 240. Ebd., 130. Martin 2014, S. 224–231. Vgl. ebd., S. 226.

526

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Blick auf die Zukunft gerichtete Appell für den Einsatz in der res publica ist in seinem Fall jedoch von größerer Tragweite, da der Dialog in einer gegenwartsnahen Zeit spielt, wodurch sich die Aufforderung nicht bloß an die von Cicero modellierte Figur richtet, sondern auch an den Zeitgenossen, der aufseiten Caesars seiner politischen Karriere nachging. Innerhalb des Personengefüges des Dialogs fügt er sich in den Kreis der belesenen und an geistigen Dingen interessierten Römer. Durch ein von ihm verfasstes, an Cicero gerichtetes Werk wird er zusammen mit Atticus als Initiator von dessen Rede dargestellt, die dadurch als eine von den beiden gewünschte Antwort erscheint. Während er mit den publizierten Reden des Autors vertraut scheint, legt er eine deutliche Unkenntnis hinsichtlich älterer Schriften an den Tag, die er jedoch gelobt zu lesen und hinsichtlich derer er sich eine Kommentierung vonseiten Ciceros wünscht. Dieser zeigt sich ihm gegenüber als Förderer und Lehrer, worin sich eine deutliche Überzeichnung des realen Verhältnisses ausmachen lässt. Das beiden gemeinsame literarische und philosophische Interesse, allen voran das für die Akademie, illustriert im Dialog selbst Verbundenheit, während es an die historische Persönlichkeit des Brutus für eine solche appelliert. Die Figur des Brutus fügt sich dahingehend einerseits als interessierter Schüler und Vertreter einer Leserschaft in ein bekanntes Rollenmuster ein, andererseits trägt sie Züge, die eine Vereinnahmung der historischen Person anstreben. Die Vorlage der Dialogfigur schimmert an mehreren Stellen des Gesprächs deutlich durch, etwa wenn das von ihm präferierte Stilideal diskutiert wird oder jener selbst Marcellus in derselben Weise wie in seinem Werk De virtute beurteilt.

6.3

T. Pomponius Atticus

a)

Atticus als Initiator und Literat

Die Figur des Atticus nimmt vergleichbar ihrem Auftreten in De legibus eine zentrale Funktion für den Verlauf des Gesprächs ein. Sie kommt dabei der Dialogfigur Cicero von Beginn an entgegen und wirkt lenkend auf die Richtung des Dialogs ein. Dieser katalysatorische Effekt zeigt sich bereits unmittelbar im Eingangsgespräch, indem er erklärt, dass man nicht über Politik sprechen (ut de re publica esset silentium) und lieber etwas von ihm hören wolle, als ihm lästig zu sein (aliquid audiremus potius ex te quam te adficeremus ulla molestia). 943 Der von Atticus stellvertretend auch für Brutus vorgetragene Vorsatz dient zur Erzeugung des für die Untersuchung notwendigen otium, da die Stimmung aufgrund der Sorge um die Republik zunächst angespannt ist. Die Forderung, die Politik außen vor zu lassen, wird im späteren Verlauf noch einmal von ihm 944 459F

460F

943 944

Cic. Brut. 11. Ebd., 156f.

527

Brutus

sowie zwei weitere Male von Cicero wiederholt 945, wenn das Gespräch durch den jüngeren Gesprächspartner doch auf die Tagespolitik zurückzukommen droht. 946 Die apolitische Haltung steht dabei möglicherweise im Zusammenhang mit seinem Epikureismus und erinnert an sein Auftreten in De legibus, in dem er zwar eine eindeutig optimatische Grundeinstellung zeigte, ein detailliertes Eingehen auf die Tagespolitik jedoch dem Quintus überließ. 947 Die Nähe zwischen Atticus und dem Autor zeigt sich wie zuvor im Dialog über die Gesetze in dem gemeinsamen literarischen Interesse und der Schriftstellerei. Auch im Brutus tritt er als interessierter Leser von Ciceros Werken auf. Dabei vergleicht er diese mit jenen der griechischen Vorbilder und nutzt diese Vergleiche, um auf eigenständige Merkmale aufmerksam zu machen. Die Rezipientenposition erinnert erneut an einen Dialog zwischen Autor und Leser, welcher auffordernd den Wunsch an ersteren richtet, dass er etwas schreiben solle (ut scribas […] aliquid) und diesem vorhält: 948 461F

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46F

iam pridem enim conticuerunt tuae litterae. nam ut illos de re publica libros edidisti, nihil a te sane postea accepimus: eisque nosmet ipsi ad rerum nostrarum memoriam comprehendendam impulsi atque incensi sumus. sed illa, cum poteris; atque ut possis, rogo. (20) nunc vero, […] si es animo vacuo, expone nobis quod quaerimus. Schon lange ist es ja um deine Schriftstellerei still geworden. Denn seit du jene Bücher über das Gemeinwesen veröffentlicht hast, haben wir danach so gar nichts mehr von dir in die Hände bekommen. Die Begeisterung über diese Bücher hat mich selbst veranlasst, meinerseits eine Zusammenfassung unserer Geschichte zu schreiben. Aber dazu erst, wenn du in der Lage bist, und dass du dies ermöglichst, das erbitte ich. (20) Für jetzt aber, […] leg uns dar, worüber wir dich zu Rate ziehen, wenn du sonst nichts vorhast.

Atticus erinnert nicht nur daran, dass Cicero seit De re publica kein Werk mehr veröffentlicht hat, sondern weist explizit darauf hin, dass er sich selbst von der Schriftstellerei seines Freundes habe inspirieren lassen, wodurch auf seinen Liber annalis verwiesen wird. Wie Cicero und Brutus tritt er als Schriftsteller in Erscheinung. Der Verweis auf die gegenseitige Anregung weist den Personenkreis als intellektuelle Gemeinschaft aus, die, mit Steels Worten, den Eindruck einer „reciprocal and supportive research environment“ forciert. 949 Beide Gesprächspartner sind mit seinem Werk vertraut und loben es auf unterschiedliche 465F

945 946 947 948 949

Cic. Brut. 251 u. 266. Vgl. Jacotot 2014, S. 193–197. Vgl. ebd., S. 195. Cic. Brut. 19f. Steel 2002, S. 196.

528

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Weise. Wie oben dargelegt wurde, preist Cicero die rettende Wirkung dieses Buches, das ihn nun aber in eine Schuldnerposition gebracht hätte. 950 Atticus spielt – wie Brutus – das durch die Hesiodanspielung eröffnete Rollenspiel mit, wobei er sich, als er erfährt, dass ein ihm schon länger versprochenes Werk, bei dem es sich wohl um das Gesetzeswerk handeln dürfte, noch nicht geliefert werden könne und ein Aufschub verlangt wird 951, zunächst als geduldiger Gläubiger (ego vero et exspectabo ea quae polliceris nec exigam nisi tuo commodo) darstellt. 952 Durch die Rolle gegenseitiger Schuldeneintreiber, die auf ihre tatsächlichen Geldgeschäfte anspielt, wird die Aufmunterung des Autors erwirkt, die der Entstehung des Gesprächs den Weg ebnet. Sein Erscheinen mit Brutus verweist zugleich auf die dialogexterne Freundschaft zwischen den beiden Römern, deren Verhältnis deutlich enger war als das zwischen Brutus und Cicero. 953 Die Mittlerrolle, die er zwischen beiden Persönlichkeiten einnehmen musste, klingt dabei explizit an, wenn er sich als Brutus’ Schuldeneintreiber positioniert und stellvertretend für ihn um das bittet, was Cicero ihm schulde (quod huic debes, ego a te peto). 954 Seine Rezipientenrolle beschränkt sich nicht auf die Kenntnisse von De re publica, sondern beinhaltet auch Brutus’ Schrift, welche jener Cicero aus Kleinasien geschickt habe und worunter man De virtute vermutet. 955 Der gebildete Charakter des Atticus kommt im Dialog voll zur Geltung, indem er im Zweifel als Fachmann bei historischen Fragen herangezogen wird. In dieser Funktion antwortet er auf Cicero, der eine andere Todesart des Coriolan vermutet als jene, die im Liber annalis stand: 956 46F

467F

468F

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472F

At ille ridens: tuo vero, inquit, arbitratu; quoniam quidem concessum est rhetoribus ementiri in historiis, ut aliquid dicere possint argutius. ut enim tu nunc de Coriolano, sic Clitarchus, sic Stratocles de Themistocle finxit. Da meinte Atticus mit einem Lachen: „Ganz, wie du willst, da es den Rednern nun einmal zugestanden ist, sich in Geschichtsfragen die Wahrheit zurechtzurücken, damit sie lebendiger erzählen können. Wie du nämlich jetzt über Coriolan, so haben Kleitarchos, so Stratokles über Themistokles ihrer Phantasie freien Lauf gelassen.“

Offensichtlich amüsiert (ridens) nimmt Atticus die ihm zugespielte Rolle als Gutachter an. Als Autor eines Geschichtswerks zeigt er dabei ebenbürtige, wenn

950 951 952 953 954 955 956

Cic. Brut. 15f. Ebd., 16. Ebd., 17. Zur Freundschaft zwischen Cicero und Brutus s. oben S. 511–514. Cic. Brut. 19. Ebd., 11. Ebd., 42.

529

Brutus

nicht sogar höhere Kenntnisse in seinem Fach als die Dialogfigur Cicero, den er seiner anachronistischen Vorgehensweise überführt, mit der er die Geschichtsschreibung des Thukydides als ein besseres Zeugnis für Themistokles’ Tod als die des Kleitarchos und Stratokles nennt. 957 Durch seinen sachverständigen Kommentar veranlasst Atticus die Cicero-Figur, höhere Vorsicht hinsichtlich der Geschichtsschreibung zu geloben (ego cautius […] historiam attingam). 958 473F

47F

b)

Atticus’ Epikureismus und Verhältnis zur Philosophie

Zugleich erscheint er im Brutus erneut als philosophisch hochgebildete Persönlichkeit, die ihr Wissen in das Gespräch mit einfließen lässt und dem Autor wichtige Exkurse ermöglicht. Dies zeigt sich besonders am Ende des Dialogs, indem er als Vertreter einer literarisch versierten Leserschaft in Ciceros Darstellung sokratische Ironie (ironiam illam quam in Socrate dicunt fuisse) vermutet, die er in den Werken Platons, Xenophons und Aischines’ als geistreich schätzen würde (facetam et elegantem puto). 959 Als Kenner der platonischen Dialoge spricht er Cicero auf Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen seiner Darstellungsweise und der Platons an. Dabei kritisiert er einerseits Epikur, indem er dessen Kritik an einer ironischen Sokratesdarstellung (nec Epicuro, qui id reprehendit, assentior) nicht teilt, worin er sich erneut als undogmatischer Epikureer präsentiert. Andererseits bemängelt er den Einsatz der Ironie in der vom Autor gebrauchten historischen Darstellung, bei der sie ebenso unangebracht sei wie in einer Zeugenaussage (tam reprehendenda sit ironia quam in testiomio), wodurch er in der Rolle eines inneren Kritikers des Autors auftritt, der Fragen anspricht, die Cicero vom Rezipienten erwartete. Nachdem jener seine eigene Figur darauf mit Unverständnis hat reagieren lassen (Quorsus […] istac? Non enim intellego), 960 lässt er Atticus seine Position in aller Ausführlichkeit und Deutlichkeit vortragen: 961 475F

476F

47F

Quia primum […] ita laudavisti quosdam oratores ut imperitos posses in errorem inducere. equidem in quibusdam risum vix tenebam, cum Attico Lysiae Catonem nostrum comparabas, magnum mercule hominem vel potius summum et singularem virum – nemo dicet secus – sed oratorem? sed etiam Lysiae similem? quo nihil potest esse pictius. bella ironia, si iocaremur; sin adseveramus, vide ne religio nobis tam adhibenda sit quam si testimonium diceremus. Zunächst weil du einige Redner derart gelobt hast, dass du Unbedarfte in die Irre führen konntest. Ich für meinen Teil konnte mir bei einigen kaum das Lachen ver-

957 958 959 960 961

Cic. Brut. 43. Ebd., 44. Ebd., 292. Ebd. Ebd., 293.

530

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten kneifen, so als du einem Lysias aus Athen unseren Cato gleichzustellen versuchtest, einen wahrhaft großartigen Menschen oder vielmehr einen ganz herausragenden und einzigartigen Mann – niemand wird anderes behaupten –, aber als Redner und sogar einem Lysias ähnlich? Wessen Rede kann feiner ausgearbeitet sein? Eine herrliche Ironie, wenn wir scherzen wollen! Wenn wir es aber ernst meinen, dann kommt es wohl darauf an, Gewissenhaftigkeit ebenso anzuwenden, wie wenn wir eine Zeugenaussage machten.

Indem er davor warnt, dass durch Ciceros Darstellungen der Redner „Unbedarfte“ (imperitos) getäuscht werden könnten, wird ersichtlich, dass Atticus selbst über breite, vielleicht sogar breitere Kenntnisse über die Einzelpersonen verfügt, die als Redner gelobt wurden. Die von Cicero beschriebene Gleichrangigkeit der römischen und griechischer Redner wird als Ironie identifiziert, wobei er im Fall von Cato dem Älteren, dessen Darstellung ihm besonders unglaubwürdig erscheint, auf dessen Origines verweist. 962 Auch die Urteile zu Galba, Africanus, Laelius, Carbo, den beiden Gracchen, Crassus, Antonius und Sulpicius werden von ihm deutlich kritisiert und dem Vorwurf der Ironie ausgesetzt. 963 Der Einwand des Atticus, dessen Gewicht dadurch verstärkt wird, dass jene Persönlichkeit gerade selbst ein Geschichtswerk verfasst hatte, ermöglicht es dem Autor, auf diesen Punkt einzugehen und seine Porträts zu verteidigen, was erneut dessen bewussten Umgang mit der Dialogform zeigt. 964 Diese Kritik könnte dabei nicht von der Dialogfigur Brutus vorgetragen werden, da diese – wie gezeigt – einen deutlichen Mangel an geschichtlichem Wissen hat. Der Verdacht der Ironie lässt somit die Dialogfigur Cicero das Prinzip ihres Vorgehens verdeutlichen, die daraufhin die Ernsthaftigkeit ihres Anliegens betont. 965 Atticus’ Aussage, dass er diese Ironie, die auch Scipio und Sokrates gehabt hätten, bei ihm in einem anderen Kontext nicht unpassend (non alienum) gefunden hätte, kann dabei in einer Zubringerfunktion für den Autor Cicero gewertet werden, der dadurch eben doch als ironisch gekennzeichnet und mit beiden parallelisiert wird. 966 478F

479F

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c)

Atticus als Referent über den Redner Caesar

Anders als in De legibus ist es im Brutus schwer, eine politische Position des Atticus herauszustellen. Wie der Dialogfigur Brutus in Hinsicht auf Marcellus, so kommt auch ihm die Rolle zu, die Beurteilung eines – mit Caesar nicht weniger problematischen – Zeitgenossen zu übernehmen. 967 Als aufmerksamem Zuhörer entgeht es ihm nicht, dass Ciceros diesbezügliche Bitte dessen Grundsatz 483F

962 963 964 965 966 967

Cic. Brut. 294. Ebd., 295–297. Vgl. Kytzler 1973, S. 299. Cic. Brut. 299. Vgl. Görler 2001, S. 250. Cic. Brut. 251–261.

531

Brutus

geschuldet ist, sich nicht über Zeitgenossen zu äußern. 968 Er kommt diesem entgegen, indem er explizit darauf verweist, dass beide bekanntlich eine hohe Meinung voneinander hätten und es eigentlich nicht notwendig sei, dass er nicht selbst spräche. Sein Urteil (ipse ita iudico) richtet sich zunächst auf die latinitas Caesars, die dieser sich durch ausgiebige Lektüre, anspruchsvolle Studien und Gründlichkeit (multis litteris et eis quidem reconditis et exquisitis summoque studio et diligentia) angeeignet habe. 969 Anschließend stellt er ausdrücklich dessen Lob auf den Autor dar: 970 48F

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qui[n] etiam in maxumis occupationibus ad te ipsum, inquit in me intuens, de ratione Latine loquendi accuratissume scripserit primoque in libro dixerit verborum dilectum originem esse eloquentiae tribueritque, mi Brute, huic nostro, qui me de illo maluit quam se dicere, laudem singularem; nam scripsit his verbis, cum hunc nomine esset adfatus: ‚ac si, cogitata praeclare eloqui possent, nonnuli studio et usu elaboraverunt, cuius te paene principem copiae atque inventorem bene de nomine ac dignitate populi Romani meritum esse existumare debemus: hunc facilem et cotidianum novisse sermonem nunc pro relicto est habendum?‘ „Wo er doch“, so fuhr er fort – und dabei richtete er seinen Blick auf mich –, „sogar mitten in den gewaltigsten Unternehmungen mit größter Genauigkeit über die wissenschaftliche Begründung einer korrekten Sprache dir persönlich sein Buch zugedacht und gleich am Anfang dieser Untersuchung behauptet hat, die Wortwahl sei der Ausgangspunkt der Beredsamkeit, und dabei, mein Brutus, unseren Cicero hier, dem es lieber war, dass ich über ihn spreche als er selbst, einzigartige Anerkennung gezollt hat. Denn er schrieb, nachdem er Cicero namentlich angesprochen hatte, Wort für Wort folgendes: ‚Und wenn einige, um ihre Gedanken vortrefflich aussprechen zu können, durch ihre Studien und durch Redepraxis einen reichen Stil geschaffen haben, als dessen Wegbereiter geradezu und Erfinder du dich – das müssen wir anerkennen – um Ruhm und Anerkennung des römischen Volkes verdient gemacht hast, – so sollte es deswegen für überholt gelten, sich die Kenntnis dieser einfachen Sprache, der des Alltags, angeeignet zu haben?‘“

Er zeigt sich erneut als überaus belesene Dialogfigur, die, an Brutus gerichtet, ein Zitat aus De analogia vorträgt, welches Caesars hohe Meinung von Cicero als „Wegbereiter und geradezu Erfinder“ eines „reichen Stils“ (te paene principem copiae atque inventorem), der sich um nomen und dignitas Roms verdient gemacht habe, beweist. Die Dialogfigur Atticus nimmt hierbei eine doppelte Mittlerposition ein: zum einen zwischen Caesar und Cicero als Vermittler von dessen Lob, zum anderen zwischen Cicero/Caesar und Brutus als Vermittler des Inhalts von De analogia, welches letzterer, wie seine ungläubige 968 969 970

Cic. Brut. 251. Ebd., 252. Ebd., 253.

532

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Folgereaktion zeigt (mehercule), bisher noch nicht gelesen hat. 971 In dieser Rolle als Mittler leitet er den Vergleich von Feldherr und Redner ein, in dem sich Cicero ausdrücklich für seinen Berufsstand stark macht. 972 487F

48F

e)

Zusammenfassung

Die Figur des Atticus im Brutus ähnelt in ihrem Auftreten und in ihren einzelnen Facetten ihrem Äquivalent in De legibus. Während sie dort nach einem würdigen Geschichtswerk in lateinischer Sprache verlangte, hat sie inzwischen selbst ein Werk verfasst, das vom Autor viel Zuspruch erfährt. Noch immer schwingt in seinen Worten eine deutliche Kritik gegen römische Historiker wie Cato Maior mit, den er nicht als Redner anerkennen möchte. Sein großes Wissen lässt ihn erneut als werkinternen Kritiker von Ciceros Dialog erscheinen, der hierin auch der Figur des Brutus überlegen ist.

7

Academici libri posteriores

Die Academica posteriora waren die von Cicero vorgesehene letzte Fassung der überarbeiteten Bücher Catulus und Lucullus, deren Szenerie und personelles Gefüge er austauschte und deren Inhalt er von zwei auf vier Bücher verteilte. 973 Sie lassen sich aufgrund der Korrespondenz sehr exakt datieren: so erfahren wir von der Umgestaltung erstmals in den Atticusbriefen vom 24. und 25. Juni 45, 974 ihre Fertigstellung wiederum wird aus einem Brief an Varro vom 11./12. Juli 45 deutlich, der die neue Version als Widmungsträger empfangen zu haben scheint. Darin wird deutlich, dass in der überarbeiteten Version die Position des Antiochos, welche in der ersten Fassung von zwei Personen vertreten wurde, nun nur noch von einer Person, nämlich Varro verfochten wird (tibi dedi partis Antiochinas). 975 In dem Brief macht Cicero keinen Hehl aus der Fiktionalität des Gesprächs, indem er mit dessen Verwunderung rechnet (mirere nos id locutos esse inter nos quod numquam locuti sumus). 976 Da Atticus nur als Anwesender genannt wird (cum esset una Pomponius), scheint er eine hinsichtlich der thematischen Auseinandersetzung stark untergeordnete Rolle eingenommen zu haben, worin er die Position des Hortensius übernimmt. Zusammen mit dem personellen Gefüge ändert sich auch das dramatische Datum: Während die erste Version im Jahr 62 oder 61 angesiedelt war, rückt der 489F

490F

491F

492F

971 972 973 974 975 976

Cic. Brut. 254. Ebd., 255–258. Vgl. Lefèvre 1988, S. 113f. Cic. Att. 13,12 = 320 Sh. B.,3; 13,13 = 321 Sh. B.,1. Cic. fam. 9,8 = 254 Sh. B.,1. Vgl. Hösle 2006, S. 95.

533

Academici libri posteriores

Autor das Geschehen in eine gegenwartsnahe Vergangenheit (nuper). 977 Statt bereits verstorbener Staatsmänner, die ihn während seines Konsulats bei der Niederwerfung des catilinarischen Verschwörung unterstützt hatten, handelt es sich bei beiden Gesprächspartnern nun um lebendige Zeitgenossen, mit denen Cicero einen regen intellektuellen Austausch führte. Der fiktive Dialog nimmt, wie zu zeigen sein wird, über die Figuren explizit Bezug auf diesen historischen Dialog, den wir in Teilen durch die Korrespondenz fassen können. Die Verlagerung der Szenerie in den privaten Raum, die sich durch die Personenwahl spiegelt, war nicht die erste, sondern die dritte Wahl des Autors, der zwischenzeitlich Brutus und dessen Onkel Cato als Sprecher favorisierte. 978 Eine Beschreibung der Dialogfiguren und ihrer Funktionen kann aufgrund des Fehlens der Bücher 2–4 und eines nicht unbeträchtlichen Teils von Buch 1 keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, doch lässt gerade der erhaltene Dialogbeginn einige Schlüsse zu. 493F

49F

7.1

M. Terentius Varro

a)

Historische Persönlichkeit

Marcus Terentius Varro wurde nach Zeugnis spätantiker Quellen im Jahr 116 in der Stadt Reate geboren und entstammte sehr wahrscheinlich dem Ritterstand. 979 Nachdem er zwischen 95 und 90 als triumvir capitalis gedient hatte, begann er seinen cursus honorum mit der Quaestur im Jahre 86 und schloss ihn im Jahr 68 mit dem Erreichen der Praetur ab. 980 Zwischen diesen beiden Eckdaten ist bekannt, dass er nach 78 zunächst als Legat im Illyrerkrieg tätig war und anschließend von 77 bis 72 unter Pompeius diente, dem er im folgenden Jahr als Berater zur Seite stand. 981 Nachdem er im Jahr 70 das Amt des Volkstribuns innegehabt hatte, kommandierte er die römische Flotte in dem von Pompeius angeführten Seeräuberkrieg von 67. 982 Während des von ihm mit einem Pamphlet geschmähten Triumvirats in den 50er Jahren unterstützte Varro Caesars Landreform, zugleich scheint er aber bewusst auf das Ausüben von Ämtern verzichtet zu haben. 983 Im Bürgerkrieg stand er als Legat auf der Seite seines familiaris Pompeius, kehrte jedoch nach seiner Niederlage in Spanien und der Schlacht von Phar495F

496F

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498F

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977 978 979

980 981 982 983

Cic. ac. 1,1. Cic. Att. 13,16 = 323 Sh. B.,1. Vgl. Cardauns 2001, S. 9; Ax 2005, S. 2. Einen quellenbasierten Überblick liefert auch: Arkenberg 1993, S. 335–337. Gell. 13,12,6; MRR 2, S. 466; vgl. Ax 2005, S. 9; Sallmann 2002, Sp. 1130. Varro rust. 2,10,8; 3,12,7; vgl. Ax 2005, S. 2f. Varro rust. 2, proem. 6; vgl. Ax 2005, S. 3. Plin. nat. 7,176; vgl. Sallmann 2002, Sp. 1130.

534

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

salos 48 nach Rom zurück und hielt sich vom weiteren Kriegsgeschehen fern. 984 Aus den Kenntnissen über sein umfangreiches literarisches Werk, von dem nur ein kleiner Teil überliefert wurde, lässt sich schließen, dass er wohl für beide Kontrahenten des Bürgerkriegs Sympathien besaß, da er nach Pompeius’ Tod mit den De Pompeio libri III die Erinnerung an diesen hochhielt, während er gleichzeitig Caesar die Antiquitates rerum divinarum widmete. 985 Anders als unser Autor überlebte Varro die Proskriptionen unter Antonius und Octavius durch die Fürsprache des gemeinsamen Freundes Q. Fufius Calenus, die zur Streichung seines Namens aus den Listen führte. 986 Wie bereits im Fall des Atticus wählt Cicero mit Varro einen hochgebildeten und geistigen Interessen sehr zugetanen Römer als Dialogfigur aus, der sich von diesem jedoch durch sein politisches Engagement stark unterscheidet. Zwar war auch Atticus kein gänzlich unpolitischer Römer, doch scheint Varro eine Amtsausführung oder militärische Posten nur dann gescheut zu haben, wenn durch diese eine Kompromittierung innerhalb des innergesellschaftlichen Konflikts zu erwarten war. Wie Cicero hinderte ihn die politische Beschäftigung nicht an einer regen literarischen Tätigkeit, allerdings sind von seinem 74 Titel umfassenden Werk nur die Rerum rusticarum libri III und De lingua Latina partiell erhalten geblieben. 987 Einige Jahre vor Cicero hielt sich auch Varro in Athen auf (84/82), wo er den akademischen Philosoph Antiochos von Askalon hörte, dessen Denken sich in seinem Liber de philosophia wiederspiegelte. 988 Von seinem großen literarischen Interesse zeugt darüber hinaus der Umstand, dass er von Caesar mit dem Bau einer Bibliothek in Rom beauftragt wurde und später in der ersten öffentlichen Bibliothek Roms arbeitete. 989 Neben Antiochos von Askalon hatte er auch Umgang mit den römischen Gelehrten L. Accius und L. Aelius Stilo, die seine Mentoren und Freunde waren. 990 Aus der Korrespondenz vor dem Bürgerkrieg erfahren wir, dass Varro Atticus unter Berufung auf die Freundschaft versicherte (pro amicitia confirmasse), sich für die Aufhebung von Ciceros Verbannung bei Pompeius einzusetzen (confirmasse causam nostram Pompeium certe suscepturum). 991 Atticus, der in einem amiticia-Verhältnis mit Varro und Cicero war, scheint dabei öfter als Vermittler zwischen den beiden gewirkt zu haben. Im Sommer 54 erfahren wir, dass Cicero eine Würdigung des Varro in einer seiner Vorreden zu De re publica 50F

501F

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Caes. civ. 1,38; 2,17–20; vgl. Ax 2005, S. 3. Lact. inst. 1,6,7; Aug. civ. 7,35; zur Widmung und Datierung: Cardauns 1976, S. 132f.; vgl. Sallmann 2002, Sp. 1130f. App. civ. 4,47; vgl. Sallmann 2002, Sp. 1131; Ax 2005, S. 3f. Für einen umfassenden Überblick über die Werke s. Sallmann 2002, Sp. 1131–1142. S. hierzu: Traver 1997, S. 145–161; Cardauns 2001, S. 11 u. S. 69f. Vgl. Sallmann 2002, Sp. 1130. Vgl. Traver 1997, S. 132f. Cic. Att. 3,18 = Sh. B. 63.

535

Academici libri posteriores

überlegte, die Atticus von ihm wünschte. 992 Dass Varro ein aktives Interesse daran hatte, in Ciceros Werk zu erscheinen, geht auch aus dem Briefverkehr vom Juni 45 hervor, als die Umarbeitung der Academici libri bereits im Gang war. Cicero schreibt an Atticus, dass Varro ihm vor zwei Jahren ein Werk versprochen habe (iam Varro mihi denuntiaverat magnam sane et gravem προσφώνησιν), dieses Versprechen jedoch immer noch nicht eingelöst habe, während er schon ein Werk für ihn vorbereite (ego autem me parabam). 993 Der Plan, die Academici libri umzuschreiben, bestand zwar – wie oben gezeigt – bereits im Vorfeld, doch scheint der dringende Wunsch Varros, in Ciceros Werk zu erscheinen, den Ausschlag dafür gegeben zu haben, die Äußerungen der hochadligen Aristokraten (ab hominibus nobilissimis) der ersten Version auf den gemeinsamen Freund (nostrum sodalem) zu übertragen. 994 Erst als er davon erfuhr, habe er den Gedanken, sie auf Cato und Brutus zu übertragen, verworfen. 995 Obwohl Cicero Bedenken hatte, den ihm eifersüchtig (ζηλοτυπεῖν) scheinenden Varro ohne vollbrachte Gegenleistung zu würdigen, 996 war er mit seiner Entscheidung bald zufrieden, da dieser ein wirkliches Interesse an der Philosophenschule zu haben schien, die er im Dialog vertreten würde. 997 Auch der Brief, den Cicero im Juli 45 an Varro selbst schreibt, suggeriert, dass jener die Positionen der Neuen Akademie kennt (nosti enim profecto os illius adulescentioris Academiae). 998 Dass gemeinsame geistige Interessen einen wichtigen Aspekt der ihrer Freundschaft darstellten, wird auch aus den anderen zwischen Ende 47 bis Juli 45 verfassten Briefen deutlich: in vier der acht Schreiben wird auf die gemeinsamen Studien (nostra studia), derer sich beide aufgrund der Schwere der Zeit nun verstärkt widmen würden, explizit eingegangen. 999 Häufige griechische Zitate weisen darauf hin, dass man die Lektüre des anderen kannte. 1000 Neben den gemeinsamen geistigen Interessen befinden sich beide nach der Niederlage des Pompeius, die sie in Pharsalos miterleben mussten, im politischen Abseits, 1001 doch freundete sich Varro bald mit der neuen Situation an, während Cicero in einer inneren Opposition verharrte. 508F

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992

Cic. Att. 4,16 = 89 Sh. B.,2. Ebd., 13,12 = 320 Sh. B.,3. 994 Ebd., 13,13f. = 321 Sh. B.,1; vgl. ebd., 13,18 = 325 Sh. B.; 13,19 = 326 Sh. B.,3. 995 Ebd., 13,16 = 323 Sh. B.,1. 996 Ebd., 13,18 = 325 Sh. B. 997 Ebd., 13,19 = 326 Sh. B.,5. 998 Cic. fam. 9,8 = 254 Sh. B.,1. 999 Ebd., 9,1 = 175 Sh. B.;9,2 =175 Sh. B.,5; 9,3 = 176 Sh. B.,2; 9,6 = 181 Sh. B.,5. 1000 Ebd., 9,2 = 177 Sh. B.,1–5; 9,3 = 176 Sh. B.,2; 9,4 = 180 Sh. B.; 9,7 = 178 Sh. B.,1f. 1001 Ebd., 9,6 = Sh. B. 181.,3. 993

536

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Varro als Literat und Kritiker einer lateinischen Philosophie

b)

Das in den Briefen beschworene gemeinsame geistige Interesse wird bereits zu Beginn des Werkes dezidiert angesprochen: Varro wird als mit Cicero in wissenschaftlicher Arbeit und alter Freundschaft verbundener Mensch (hominem nobiscum et studiis eisdem et vetustate amicitiae coniunctum) präsentiert. 1002 Der Dialog in seiner Villa bei Cumanum beginnt mit Ciceros Frage nach Neuigkeiten aus Rom, woraufhin Atticus ein mögliches Gespräch über Tagespolitik verhindert, indem er die Frage an Varro richtet, ob es bereits Neues von seinem schon lange in Arbeit befindlichem Werk gäbe. 1003 Varro präsentiert sich daraufhin als Schriftsteller, der seine Bringschuld gegenüber dem Autor rechtfertigen muss: 1004 518F

519F

520F

Minime vero […] intemperantis enim arbitror esse scribere quod occultari velit; sed habeo magnum opus in manibus. quae iam pridem; ad hunc enim ipsum (me autem dicebat) quaedam institui, quae et sunt magna sane et limantur a me politius. „Keineswegs, denn nach meiner Meinung wäre es rücksichtslos, etwas zu schreiben, was man dann doch nur verstecken will. Jedenfalls habe ich ein großes Werk in Arbeit, und dies schon seit langer Zeit; gerade für ihn“ – damit meinte er mich – „habe ich nämlich etwas wirklich Bedeutendes angefangen und arbeite es mit der größten Genauigkeit aus.“

Das schriftstellerische Profil verweist auf den literarischen Austausch zwischen Cicero und Varro, doch zeigt sich darin zugleich eine über die Grenzen des dialogischen Universums hinausreichende Aufforderung, wie der oben genannte Brief an Atticus zeigt. 1005 Die Dialogfigur fungiert dabei als Empfänger, der die historische Persönlichkeit in dem fiktiven Mikrokosmos vertritt. Dass die Bringschuld eines einzelnen Gesprächspartners Ausgangspunkt für das weitere Gespräch wird, wie wir es auch in De legibus und im Brutus beobachten konnten, bezweckt jedoch nicht nur die Unterstreichung eines Anspruchs, sondern dient auch der Charakterisierung des gesamten Personengefüges. Dieses zeigt römische Aristokraten, welche das durch Caesars Herrschaft entstandene otium zum intellektuellen Austausch nutzen, der sich nicht mehr nur auf eine mündliche 521F

1002

Cic. ac 1,1. Ebd., 1,2. 1004 Ebd. Der Text der Academici lirbi posteriores folgt der Ausgabe von Plasberg, die Übersetzung, wenn nicht anders vermerkt, stammt von Straume-Zimmermann. 1005 Wie wichtig es Cicero offensichtlich war, dass Varro sein Versprechen einlösen würde, zeigt auch seine Ungeduld in einem Brief aus dem Juli 45, worin er ihn explizit daran erinnert (ego autem mandavi, ut rogarent): Cic. fam. 9,8 = 254 Sh. B., 1. 1003

537

Academici libri posteriores

Kommunikation – wie in den Kollektiven um Crassus und Scipio – beschränkt, sondern sich auf eine schriftstellerische Tätigkeit erstreckt. In seiner Rolle als Vertreter eines realen extradialogischen Diskurses fungiert Varro auch als innerer Kritiker von Ciceros Kernanliegen. Als dieser ihn darum bittet, ebenfalls ein philosophisches Werk in lateinischer Sprache zu verfassen, 1006 entgegnet er: 1007 52F

523F

Rem a me saepe deliberatam et multum agitatam requiris. itaque non haesitans respondebo, sed ea dicam quae mihi sunt in promptu, quod ista ipsa de re multum ut dixi et diu cogitavi. nam cum philosophiam viderem diligentissime Graecis litteris explicatam, existimavi si qui de nostris eius studio tenerentur, si essent Graecis doctrinis eruditi, Graeca potius quam nostra lecturos, sin a Graecorum artibus et disciplinis abhorrent, ne haec quidem curaturos, quae sine eruditione Graeca intellegi non possunt. itaque ea nolui scribere quae nec indocti intellegere possent nec docti legere curarent. Du fragst mich nach etwas, was ich schon oft erwogen und hin und her überlegt habe; deshalb zögere ich nicht mit der Antwort, sondern sage Dir alles, was ich darüber im Kopf habe; denn ich habe, wie gesagt, gerade darüber viel und lange nachgedacht. Ich sah nämlich, dass die Philosophie auf die umsichtigste Weise in griechischer Sprache dargestellt war, und glaubte deshalb, dass Landsleute von uns, die sich dem Studium der Philosophie widmeten, lieber die griechischen Urtexte lesen würden, sofern sie sich in den griechischen Wissenschaften auskannten, statt unsere lateinischen Übertragungen; wenn sie aber an Wissen und Bildung der Griechen keinerlei Interesse hätten, dann würden sie sich auch nicht mit etwas beschäftigen, was man ohne Unterricht im Griechischen ohnehin nicht verstehen kann. Deshalb habe ich nichts schreiben wollen, was die Ungebildeten nicht verstehen können, die Gebildeten aber nicht lesen wollen.

Anders als Cicero scheut Varro das Verfassen einer lateinischen Philosophie und plädiert dafür, dass sich ein philosophisches Studium weiterhin auf griechische Texte statt auf lateinische Übertragungen stützen solle (Graeca potius quam nostra). Während er dadurch eine bekannte Kritikerposition einnimmt, der sich der Autor ausdrücklich in diversen Proömien widmet, 1008 wird gleichzeitig deutlich, dass ihn diese Frage sehr beschäftigt (rem a me saepe deliberatam et multum agitatam). Als selbst philosophisch gebildeter Römer, der persönlichen Kontakt mit Antiochos hatte, 1009 stellt er nicht grundsätzlich in Frage, dass mit dem Studium der Philosophie ein Gewinn verbunden ist. Zur skeptischen Haltung gegenüber lateinischer Philosophie veranlassen ihn die auch von Cicero in den Tuskulanen kritisierten Übersetzungen von Amafinius und Rabirius, welche die 524F

52F

1006

Cic. ac. 1,3. Ebd., 1,4. 1008 Cic. fin. 1,1; ac. 2,5f.; Tusc. 2,1–5; vgl. Graff 1963, S. 59. 1009 Cic. ac. 1,14. 1007

538

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

epikureische Lehre in einer zu alltäglichen Sprache darstellen würden (qui nulla arte adhibita […] vulgari sermone disputant). 1010 526F

Varro als römischer Philosoph

c)

Trotz dieser Kritik, die dem Autor eine ausführliche Gegendarstellung im Dialog erlaubt, tritt Varro als Römer auf, der der Philosophie nicht nur aufgeschlossen gegenübersteht, sondern sie als Ganzes (totum […] philosophiae studium) aktiv in seine Lebensführung integriert. 1011 Als Rechtfertigung für die eigene Beschäftigung führt er dabei zwei praktische Aspekte an, indem er von einem positiven Effekt auf die eigene Lebensführung (ad vitae constantiam quantum possum) ausgeht und sich eine delectatio animi verspricht. Die Rolle als Vertreter der Position des Antiochos erfüllt er im fiktiven Raum des Dialogs dahingehend mit einer inneren Überzeugung für das Fach. Im erhaltenen Teil verteidigt er die Schulmeinung seines Lehrers, bei dem er selbst studiert habe, 1012 gegen die von Philon aufgestellte und von Cicero präsentierte These, wonach es keinen Unterschied zwischen Alter und Neuer Akademie gäbe. 1013 Diese Rolle erfüllt er mit einem dezidiert vorsichtigen Auftreten, das sich bereits dadurch zeigt, dass er seinen Vortrag von der Zustimmung des Atticus abhängig macht, der diese euphorisch erteilt. 1014 Die innere Scheu kommt nach wenigen Kapiteln erneut zum Vorschein, indem er seine philosophiegeschichtliche Darstellung bei Aristoteles abrupt enden lässt: 1015 527F

528F

529F

530F

531F

Sed quid ago […] aut sumne sanus qui haec vos doceo? nam etsi non sus Minervam ut aiunt, tamen inepte quisquis Minervam docet. Aber was rede ich nur! Bin ich noch ganz bei Sinnen, dass ich euch derart belehre? Denn wenn auch nicht gerade das Schwein die Minerva belehrt, wie das Sprichwort sagt, so macht sich doch lächerlich, wer immer Minerva belehrt.

Als Kritiker einer lateinischen Darstellung der Philosophie verspürt er ein deutliches Unbehagen bei der Vorstellung, seine Gesprächspartner zu belehren (haec vos doceo). Er fürchtet dabei, dass sein Vortrag unangemessen (inepte) gegenüber seinen hochgebildeten Gesprächspartnern sein könnte. Erst als Atticus erklärt, dass ihm der Vortrag in lateinischer Sprache Freude brächte (meque ista delectant cum Latine dicuntur) und sich Cicero diesem Urteil anschließt (quid

1010

Cic. ac. 1,5f.; vgl. Cic. Tusc. 4,6f. Cic. ac. 1,7. 1012 Ebd., 1,12. 1013 Ebd., 1,13. 1014 Ebd., 1,14. 1015 Ebd., 1,18.

1011

Academici libri posteriores

539

me […] putas), 1016 setzt Varro diesen fort. Dabei bleibt er vorsichtig und auf seine Zuhörer bedacht, von denen er sich die Erlaubnis, bestimmte Begriffe aus dem Griechischen zu übersetzen, erst erteilen lässt. 1017 Das Erfinden neuer Termini rechtfertigt er folgendermaßen: 1018 532F

53F

534F

aut enim nova sunt rerum novarum facienda nomina aut ex aliis transferenda. quod si Graeci faciunt qui in his rebus tot iam saecla versantur, quanto id nobis magis concedendum est, qui haec nunc primum tractare conamur. Entweder muss man neue Ausdrücke für die Dinge finden, oder man muss Ausdrücke aus anderen Gebieten auf die neuen Dinge übertragen. Wenn die Griechen dies tun, die sich mit diesen Dingen schon so viele Jahrhunderte beschäftigen, dann muss es uns umso mehr gestattet sein, die wir gerade erst mit dem Versuch beginnen, diese Fragen zu behandeln.

Varro zeigt dahingehend einen Charakterzug, der an den römischen Konservativismus der Dialogfiguren aus den Vergangenheitsdialogen ohne Teilnahme des Autors erinnert. Gerade weil die Griechen sich schon länger mit der Philosophie beschäftigen würden, habe er als Römer das Recht, ihre Arbeitsweise zu übernehmen. Nachdem Cicero ihm versichert hat, dass er sich im Hinblick auf seine Mitbürger einen großen Verdienst erwerbe (bene […] meriturus mihi videris tuis civibus), da er ihr Wissen und Vokabular vermehre (non modo copia rerum auxeris, […] sed etiam verborum) 1019, erklärt er: 1020 53F

536F

Audebimus ergo, inquit, novis verbis uti te auctore, si necesse erit. „Riskieren wir es also“, entgegnete er, „unter Deiner Verantwortung neue Begriffe zu verwenden, wenn es sich als notwendig erweist.“

Das Unbehagen hinsichtlich der Frage, ob man die Begriffe übersetzen solle, wird erneut durch das Wort audebimus angedeutet: die Dialogfigur erkennt, dass sie einen neuen Weg beschreitet, der zuvor noch nicht begangen wurde. Gleichzeitig wird durch die Berufung auf die Verantwortung Ciceros (te auctore) ersichtlich, dass dieses Wagnis nicht durch die historische Persönlichkeit Varro, sondern durch den Autor eingegangen wird. 1021 Der Sinn und Zweck von Varros Vorbehalt liegt jedoch nicht allein in der auktorialen Selbstdarstellung, vielmehr rekurriert er auf einen Typus des römischen Rezipienten, welcher einer lateini537F

1016

Cic. ac. 1,18. Ebd., 1,25. 1018 Ebd. 1019 Ebd., 1,26. 1020 Ebd. 1021 In dieser Hinsicht kann die Referenz als Selbstranszendierung im Sinne Hösles gedeutet werden: Hösle 2004.

1017

540

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

schen Darstellung kritisch gegenübersteht. Indem die Dialogfigur jene Haltung einnimmt, trägt sie als Gesprächspartner zur Diversität der Runde bei. Das Hauptargument der von ihr anfangs eingenommenen These wird letztlich von der Figur selbst widerlegt, die – um ihre Angemessenheit (aptus) stets bedacht – einen den Zuhörern Atticus und Cicero willkommenen Überblick der Geschichte der Akademie liefert, ihre einzelnen Gegenstände erläutert und damit den von ihr selbst gesetzten Anspruch an die Philosophie, die delectatio, erfüllt. 1022 538F

d)

Zusammenfassung

Die Figur des Varro erinnert in ihrer anfänglichen Skepsis an die bereits untersuchten Dialogfiguren, welche diese erst durch den Zuspruch eines Gesprächspartners ablegen. Im Gegensatz zu Scipio, Laelius oder Crassus kann ihr intellektuelles Profil eine höhere Glaubwürdigkeit beanspruchen. Ihr Vorbehalt, sich an einem philosophischen Austausch zu beteiligen, gründet nicht auf Zweifeln hinsichtlich der gesellschaftlichen Angemessenheit eines solchen Unterfangens, sondern hinsichtlich der Realisierbarkeit in der lateinischen Sprache. Der Vorbehalt wird bewusst am Anfang des Dialogs vorgetragen, um ihn durch Varros Darstellung selbst auszuräumen, der dadurch ein positives Beispiel für die Umsetzbarkeit eines philosophischen Diskurses in lateinischer Sprache gibt. Wie bei den anderen Gesprächsteilnehmern trägt sein Auftreten zur Konstituierung eines idealen Bildungsumfelds bei, in dem das Gespräch trotz Vortragscharakter stets in freundlicher und rücksichtsvoller Weise geführt wird. Ein deutlicher Unterschied der Figur zu Vorgängern wie Cato Uticensis, Torquatus oder Triarius besteht in der Tatsache, dass der Autor mit der historischen Vorlage tatsächlich in einem intellektuellen Austausch stand, der sich in der gegenseitigen Widmung von Werken manifestiert. Wie bereits am Beispiel des Brutus erläutert, steht der Gesprächspartner im Dialog auch für die historische Persönlichkeit selbst, an die sich der Autor wendet. Die Dialogfigur ist dahingehend eng in das kommunikative System der extradialogischen Welt eingebunden. Die im Dialog an sie gerichtete Erinnerung, ein dem Autor gewidmeten Werk fertigzustellen, ist an die Person Varro adressiert.

7.2

M. Tullius Cicero

a)

Cicero als Schriftsteller und Literat

Wie im Brutus erscheint die Dialogfigur des Autors in den Academici libri als Teil eines kleinen Kreises literaturschaffender Personen, die sich über ihre eigene schriftstellerische Tägtigkeit austauschen. Diese Rolle des Literaten wird 1022

Cic. ac. 1,15–43.

541

Academici libri posteriores

zunächst jener des Politikers untergeordnet, indem sie den Gesprächspartner Varro eingangs nach politischen Neuigkeiten aus der Hauptstadt (ecquid […] Roma novi) fragt. 1023 Erst eine Intervention des unpolitischen Atticus lenkt das Gesprächsthema abrupt auf das Werk, welches Varro dem Autor versprochen hatte. 1024 Als dieser mehr Zeit für sein Unternehmen erbittet, macht die CiceroFigur seine Forderung erneut geltend, indem er erklärt, schon lange zu warten, es aber nicht wage, ihn direkt zu bitten (ista quidem […] iam diu expectans non audeo tamen flagitare). 1025 Die Dialogfigur, welche der Erwartungshaltung des Autors gegenüber der Person des Terentius Varro Ausdruck verleiht, fügt dabei sich selbst vergewissernd hinzu, vom gemeinsamen Freund Libo erfahren zu haben, dass Varro bereits dabei sei, die Bringschuld zu begleichen. Der von Cicero entworfene Dialog rezipiert das reale Verhältnis, das zwischen beiden zum Zeitpunkt der Ausarbeitung des Werks im Sommer 45 bestand. Mittels der einzelnen Figuren erfolgt somit eine Fortführung der realen Konversation innerhalb der literarischen Welt des Dialogs. Das Gespräch über Literatur bildet, ähnlich wie in De legibus, den Ausgangspunkt, von dem aus auf das eigentliche Thema des Werks übergegangen wird. Als Kenner von Varros literarischem Schaffen wendet Cicero sich an ihn mit einer Frage, durch die ein entscheidendes Diskursfeld aufgetan wird: 1026 539F

540F

541F

542F

illud autem mihi ante hoc tempus numquam in mentem venit a te requirere. sed nunc postea quam sum ingressus res eas quas tecum simul didici mandare monumentis philosophiamque veterem illam a Socrate ortam Latinis litteris illustrare, quaero quid sit cur cum multa scribas genus hoc praetermittas, praesertim cum et ipse in eo excellas et id studium totaque ea res longe ceteris et studiis et artibus antecedat. Doch es gibt etwas anderes, nach dem zu fragen mir bisher nicht in den Sinn gekommen ist; aber nachdem ich jetzt begonnen habe, die Dinge, die ich einst mit dir zusammen gelernt habe, schriftlich niederzulegen und jene alte, von Sokrates begründete Philosophie in lateinischer Sprache dazustellen, frage ich dich, warum du, obwohl du soviel schreibst, gerade dieses Gebiet ausläßt, zumal du es doch selbst hervorragend beherrschst und da doch diese Arbeit und überhaupt dieser ganze Gegenstand bei weitem alle andere wissenschaftlichen Arbeiten übertreffen.

Durch diese Frage wird die eigene Rolle, die Cicero als Schriftsteller einnimmt und durch die er sich von Varro unterscheidet, deutlich gemacht. Dieser schreibe zwar viel, aber nicht über die Philosophie, für die Cicero die Rolle des Erfinders in der lateinischen Sprache zukommt und durch die er Sokrates gleicht, der als

1023

Cic. ac. 1,1. Ebd., 1,2. 1025 Ebd., 1,3. 1026 Ebd. 1024

542

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

ihr Begründer genannt wird (philosophiamque […] a Socrate ortam). Die Frage zielt jedoch nicht allein auf eine Selbstinszenierung des Autors als Erneuerer der Tradition und Archeget der Philosophie in lateinischer Sprache, sondern muss darüber hinaus im Kontext seines groß angelegten Bildungsanliegens gesehen werden. Die Eignung des Römers Varro für diese literarische Gattung wird explizit betont (praesertim […] ipse in eo excellas). Die Frage an die Dialogfigur stellt somit zugleich eine Einladung an die historische Persönlichkeit dar, sich dem römischen Aneignungsprozess griechischer Philosophie in aktiver Form anzuschließen. b)

Cicero als Verteidiger eines lateinischen Philosophierens

In der darauffolgenden Diskussion nimmt Varro, wie gezeigt wurde, eine ablehnende Haltung zu Ciceros Projekt ein, wodurch dieser die Möglichkeit hat, auf potentielle dialogexterne Kritik an diesem einzugehen. 1027 Zunächst verweist Cicero auf die römische Dichtung und die Redekunst, die sich auch an griechischen Dichtern und Rednern orientiert hätten, heute jedoch auch von Römern gelesen würden, die in griechischer Literatur gebildet seien (Graecis litteris eruditi legant). 1028 Damit werden nicht nur Beispiele genannt, die bereits erfolgreich abgeschlossene Aneignungsprozesse griechischer Kunstformen darstellen, sondern auch in der Form des imitari ein Anspruch formuliert, der sich nicht auf ein bloßes Übersetzen beschränkt. 1029 Auch das Herausstellen des eigenen Bezugs zur Philosophie dient nicht zuletzt der Verteidigung des Philosophierens: 1030 543F

54F

54F

546F

Ego autem Varro (dicam enim ut res est), dum me ambitio dum honores dum causae, dum rei publicae non solum cura sed quaedam etiam procuratio multis officiis implicatum et constrictum tenebat, animo haec inclusa habebam et ne obsolesceret renovabam cum licebat legendo; nunc vero et fortunae gravissimo percussus vulnere et administratione rei publicae liberatus doloris medicinam a philosophia peto et otii oblectationem hanc honestissimam iudico. aut enim huic aetati hoc maxime aptum est, aut his rebus si quas dignas laude gessimus hoc in primis consentaneum, aut etiam ad nostros cives erudiendos nihil utilius, aut si haec ita non sunt nihil aliud video quod agere possimus. Ich, Varro, – denn ich werde sagen, wie es sich in Wahrheit verhält – habe, solange mich der Ehrgeiz, die Magistraturen, die Führung von Prozessen, solange mich nicht nur die Sorge um den Staat, sondern bis zu einem gewissen Grade auch die Verwaltung des Staates verpflichteten und in Anspruch nahmen, die Liebe zur Philosophie in meinem Herzen bewahrt und sie, sooft es die Zeit erlaubte, durch 1027

Cic. ac. 1,4–8. Ebd., 1,10. 1029 Vgl. Levèfre 1988, S. 116f. 1030 Cic. ac. 1,11. 1028

Academici libri posteriores

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Lektüre aufgefrischt, damit sie mir nicht verlorenging. Jetzt aber, da ich von einem überaus harten Schicksalsschlag getroffen und zugleich von der Verantwortung für den Staat befreit bin, suche ich Heilung für meinen Schmerz in der Philosophie und halte die Beschäftigung mit ihr für die edelste Freude in meiner Muße. Denn entweder ist diese Beschäftigung meinem Alter am ehesten angemessen, oder sie stimmt besonders gut mit meiner politischen Leistung überein – falls ich etwas geleistet habe, was des Nachruhms wert ist –, oder es gibt nichts, was für die Bildung unserer Mitbürger nützlicher wäre; oder – wenn all das nicht zutrifft – so sehe ich eben nichts anderes, womit ich mich beschäftigen könnte.

Indem die Dialogfigur darauf verweist, dass die philosophische Beschäftigung stets den soziopolitischen Verpflichtungen untergeordnet war, bleibt der Primat der Praxis gegenüber der Theorie zwar bestehen, gleichzeitig wird mit ihm selbst jedoch ein Beispiel genannt, das beide Bereiche vereinen konnte. Die Erwähnung des persönlichen Schicksalsschlags (fortunae gravissimo percussus vulnere), womit auf den Tod der Tochter angespielt wird, und die Befreiung von seinen politischen Aufgaben (administratione rei publicae liberatus) verweisen nicht nur auf den individuellen tröstend-heilenden Nutzen der Philosophie (doloris medicinam), sondern liefern zudem eine standesgemäße Rechtfertigung für das eigene philosophische Projekt. Da dieses der Erziehung und Bildung der eigenen Mitbürger dient (ad nostros cives erudiendos), ist es mit einem praktischen Nutzen für das Gemeinwesen verbunden (nihil utilius). Nachdem er sich gegenüber Varro – stellvertretend für seine Kritiker – für die Vereinbarkeit philosophischer und politischer Beschäftigung ausgesprochen hat, fügt er M. Iunius Brutus als Beispiel für einen Römer an, dem die Darstellung der Philosophie auf Latein derart gelungen sei, dass man das Griechische nicht vermissen würde (nihil ut isdem de rebus Graeca desideres), und der wie sein Gesprächspartner der Alten Akademie folge (sententiam sequitur quam tu). 1031 Mit jenem und ihm selbst stehen damit zwei Beispiele gegen die von Varro ins Spiel gebrachten Negativbeispiele Amafinius und Rabirius 1032, die belegen, dass neben der Lyrik auch die Philosophie in der lateinischen Sprache gelingen könne und bereits gelingt. Der Prozess aktiver Aneignung zeigt sich als bereits im Gang und Cicero ruft als Dialogfigur seinen Standesgenossen zur Mitgestaltung auf (quam ob rem da quaeso te huic etiam generi litterarum). 1033 In dem Spannungsfeld zwischen der eigenen Figur und der des Varro spiegelt sich das zwischen Autor und Kritiker wider. Als Schriftsteller verteidigt er mittels seiner Dialogfigur nicht bloß das eigene Schaffen, sondern wirbt aktiv für eine Partizipation. Im Zeichen dieses Werbens steht auch das Auftreten Ciceros, dessen Gesprächsanteil im ursprünglichen ersten Buch den des Varro nicht wesentlich überstiegen haben dürfte. Trotz seiner unterschiedlichen philosophischen Positi547F

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Cic. ac. 1,12. Ebd., 1,5. 1033 Ebd., 1,12. 1032

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on bleibt er stets freundlich und zeigt sich im Einklang mit Atticus bereits kurz nach Beginn von Varros Vortrag hocherfreut über diesen. 1034 Wiederholt geben er und Atticus dem sich vorsichtig immer tiefer in die Materie wagenden Gesprächspartner ihr Einverständnis, 1035 dessen Ausführungen er schließlich als kurz (breviter) und klar verständlich (minime obscure) beurteilt. 1036 In der Rolle des Zuhörers fungiert er durch sein affirmatives und ermutigendes Auftreten als Geburtshelfer eines römischen Philosophiediskurses, für dessen Realisierbarkeit er stets plädiert hat. Hierzu passt der symmetrische Charakter des Dialogs, durch den die Dialogfiguren Ciceros und Varros auf Augenhöhe und ohne erkennbare Hierarchie untereinander sprechen. 1037 50F

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c)

Cicero als Vertreter der Position des Philon von Larissa

Darüber hinaus tritt die Dialogfigur als Vertreter der Neuen Akademie auf, deren Bezeichnung er jedoch in seiner Antwort auf den Vorwurf, die Alte verlassen zu haben, gleich zu Beginn attackiert: 1038 54F

Quid ergo, […] Antiocho id magis licuerit nostro familiari, remigrare in domum veterem e nova, quam nobis in novam e vetere? certe enim recentissima quaeque sunt correcta et emendata maxime. quamquam Antiochi magister Philo, magnus vir ut tu existimas ipse, negaverat in libris, quod coram etiam ex ipso audiebamus, duas Academias esse, erroremque eorum qui ita putarent coarguit. Ja und? […] Sollte es unserem Freund Antiochos eher erlaubt sein, aus dem neuen in das alte Haus zurückzukehren, als mir, aus dem alten in das neue? Denn gewiss ist das Neuste auch das Richtigste und am meisten von Fehlern Freie. Allerdings hat Philon, der Lehrer des Antiochos und auch nach deinem Urteil ein bedeutender Mann, in seinen Schriften – ich habe es aus seinem Munde gehört – die Behauptung abgelehnt, dass es zwei Akademien gebe und nachgewiesen, dass sich die Leute, die das behaupten, im Irrtum befänden.“

Die von ihm im Folgenden eingenommene Position des Philon habe er nicht nur aus dessen Schriften, sondern auch von ihm selbst (coram ex ipso) erfahren, wodurch Cicero die einzige Dialogfigur darstellt, welche die beiden Protagonisten des Akademikerstreits persönlich kannte. 1039 Sich selbst als Schüler Philons präsentierend stellt er sich auch hierarchisch mit dem gemeinsamen Freund (nostro familiari) Antiochos auf eine Stufe, indem er für seine philosophische 5F

1034

Cic. ac. 1,18. Ebd., 1,26, 33, 35. 1036 Ebd., 1,43. 1037 Vgl. Hösle 2006, S. 297. 1038 Cic. ac. 1,13. 1039 Den Bericht seiner Bekehrung zur Philosophie Philons lieferte er bereits im Brutus: Cic. Brut. 306. 1035

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Richtungswahl ein gleiches Recht beansprucht. Die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Unterscheidung der beiden Akademien stellte einen zentralen Gegenstand des ersten Buchs dar, in dem von Ciceros Gegenrede nur die ersten Kapitel erhalten geblieben sind. Im erhaltenen Anfang führt er die Geschichte der Philosophie nach Varros Überblick ab Zenon und Arkesilaos weiter aus, wobei er dessen kritischen erkenntnistheoretischen Ansatz in die platonisch-sokratische Tradition stellt. 1040 Die Stoa Zenons wird – möglicherweise in Anlehnung an Sosos – lediglich als Korrektur der Akademie, nicht jedoch als neue Schule beschrieben. 1041 Als Referent griechischer Positionen bleibt die Dialogfigur stets mit der historischen Persönlichkeit Cicero verbunden, indem sie – wann immer es möglich ist – darauf aufmerksam macht, wenn sie einen griechischen Philosophen nicht nur gelesen, sondern auch persönlich gekannt hat. 1042 56F

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d)

Zusammenfassung

Eine Gesamtbeurteilung der Dialogfigur Cicero in der zweiten Version der Academici libri ist zwar aufgrund der fragmentarischen Überlieferung nicht möglich, dennoch lassen sich folgende Beobachtungen festhalten, die über die Arbeitsweise des Autors Aufschluss geben: Es wird deutlich, dass die Kommunikation mit dem noch lebendigen Varro innerhalb des fiktiven Gegenwartsdialogs die reale Kommunikation zwischen beiden aufgreift und weiterführt. Das mahnende Erinnern seines Gesprächspartners an das noch ausstehende Werk wird dadurch verstärkt, dass er Varro mit den ihm gewidmeten Akademischen Abhandlungen zuvorkommt und die Bringschuld damit noch erhöht. Der Dialog stellt darüber hinaus nicht nur eine Fortführung der Kommunikation zwischen Cicero und Varro, sondern auch eine zwischen Cicero und seinen kritischen Lesern dar, gegenüber denen er sein philosophisches Projekt verteidigt. Cicero präsentiert sich als Akademiker philonischer Prägung, die er – als römischer Schüler desselben – gegen dessen griechischen Schüler Antiochos verteidigt. Sein Auftreten ist dabei von einer grundsätzlichen Aufgeschlossenheit geprägt, die sich am deutlichsten in der Freude über Varros Vortrag zeigt, der ihm – trotz ihrer unterschiedlichen Positionen – willkommen ist. Auf diese Weise trägt die Dialogfigur zur Konstituierung einer idealen Bildungsgemeinschaft bei, die einen römischen Diskurs über Philosophie befördert.

1040

Cic. ac. 1,44–46. Zur Quellenkritik s. Lefèvre 1988, S. 118, Anm. 37. 1042 Neben den bereits erwähnten Philosophen Antiochos und Philon trifft dies auch für den Epikureer Zenon zu, der als Gewährsmann für Karneades genannt wird, welcher keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen hat: Cic. ac. 1,46. 1041

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

7.3

T. Pomponius Atticus

a)

Atticus’ Anteil und Rolle im Gespräch

Die Aufnahme der Dialogfigur Atticus in das Personengefüge der überarbeiteten Version der Academici libri stellt die Frage in den Raum, inwieweit diese die Funktionen einer oder mehrerer ursprünglicher Personen ersetzt. Dass diese sich mit einem längeren philosophischen Beitrag an dem Gespräch beteiligt haben könnte, kann zwar nicht ausgeschlossen werden, scheint jedoch einerseits wegen der thematischen Ausrichtung des Dialogs, andererseits durch einen Vergleich mit seinem Auftreten in anderen Werken eher unwahrscheinlich. Bei der Betrachtung des erhaltenen Textes fallen Charakteristika auf, die auf eine Kontinuität dieser Persönlichkeit in Ciceros Dialogen verweisen. Ein erstes stellt seine aktivierende Rolle im Gespräch dar, welche sich in den Academici libri erneut gleich zu Beginn zeigt. Als Cicero bei der Begegnung mit Varro diesen nach politischen Neuigkeiten aus Rom fragt, schaltet sich Atticus mit der Bitte dazwischen, dies zu unterlassen, da ein Gespräch darüber nur Kummer nach sich ziehe (omitte ista quae nec percunctari nec audire sine molestia possumus). 1043 Stattdessen solle er nach etwas Neuem bei Varro selbst fragen (quaere potius ecquid ipse novi), dessen Musen schon länger als üblich schweigen würden (diutius Musae Varronis quam solebant). In auffällig ähnlicher Weise wie im Brutus verhindert er die Entstehung einer politischen Lagebesprechung und lenkt das Gespräch auf den Bereich der schriftstellerischen Tätigkeit, den alle drei Personen miteinander teilen. Die Dialogfigur gibt sich erneut als Freund der Literatur zu erkennen, der das literarische Schaffen der Gesprächspartner beobachtet und ihren Werken entgegenfiebert. Das weitere Auftreten offenbart die freundliche und dezidiert aufgeschlossene Wesensart des Atticus. So kommt er Varro, dem seine Rolle als Referent griechischer Philosophie deutliches Unbehagen bereitet, aufmunternd entgegen, indem er – trotz seines Philhellenismus – die Darstellungen in lateinischer Sprache und die gewählte Methode ostentativ begrüßt (valde enim amo […] meque ista delectant cum Latine dicuntur et isto modo). 1044 Dadurch nimmt er eine dezidiert positive Rezipientenhaltung ein, welche dem Autor entgegenkommt. Er bildet dabei einerseits einen Gegenpol zu Varros kritischer Haltung, hilft jedoch andererseits, diese – zumindest im Dialog – zu überwinden. Zusammen mit Cicero fordert er diesen nicht nur auf (perge Varro), seinen Vortrag fortzusetzen, sondern ermutigt ihn auch durch ein Lob seiner bisherigen Darstellungen des Peripatos und der Akademie (praeclare enim explicatur Peripateticorum et Academiae veteris auctoritas). 1045 Dieses Lob deutet auch auf seine hohe philo59F

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1043

Cic. ac. 1,2. Ebd., 1,18. 1045 Ebd., 1,33. 1044

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Academici libri posteriores

sophische Bildung hin, die es ihm ermöglicht, die Darstellungen des Varro zu beurteilen. Bereits im Vorfeld des ersten Vortrags wird deutlich gemacht, dass auch er Antiochos vor langer Zeit selbst gehört habe (ex Antiocho iam pridem audita), was sein Interesse noch befeuert (quod malim […] recordari). 1046 Wie in Brutus und De legibus besitzt er ein umfangreiches Wissen über das zu behandelnde Thema, wodurch ihm eine Richterrolle innerhalb des Personengefüges zukommt. Diese Funktion zeigt sich in dem erhaltenen Text etwa bei der Frage des Varro, ob man seiner Übersetzung eines griechischen Fachbegriffs mit comprehendibile zustimmen würde, woraufhin Atticus dies bestätigt (quonam enim alio modo καταλημπτὸν diceres?). 1047 Stellvertretend für Cicero zeigt er in seiner Antwort, dass er mit Varros Quellen vertraut ist und stimmt als Fachmann der gelieferten Übersetzung zu. Die Übersetzung der griechischen Fachtermini hat er dabei zuvor gutgeheißen und ihm auch die Option nahegelegt, griechische Wörter unübersetzt zu verwenden, falls keine lateinische Äquivalente gefunden werden könnten (etiam Graecis licebit utare cum voles, si te Latine forte deficient). 1048 In seiner Funktion als Beistand bei der Übertragung griechischer Wörter rekurriert die Figur auf die historische Vorlage, mit der sich Cicero über dieses Thema beriet, wie ein Brief aus dem Juli 45 zeigt, in dem der Autor den Vorschlag seines Verlegers, ἐποχή mit inhibere zu übersetzen, ausschlägt. 1049 562F

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b)

Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich somit feststellen, dass die Dialogfigur des Atticus im erhaltenen Teil der Academici libri posteriores ein Auftreten zeigt, welches an das in früheren Dialogen anknüpft. Der Freund des Autors zeichnet sich neben seiner freundlichen und aufgeschlossenen Wesensart vor allem durch seine hohe Bildung aus, die ihn zu einem textinternen Richter innerhalb des Gesprächs macht. Er nimmt dabei eine dezidiert positive Rezipientenhaltung ein, indem er seine Freude an dem Gespräch zeigt und den vortragenden Gesprächspartner unterstützt. Der Epikureismus des Atticus hindert ihn auch in diesem Werk nicht daran, sich an der nun auf Latein vorgetragenen akademischen Philosophie zu erfreuen, noch zwingt er ihn zum Einspruch, wenn Varro gegen die Lehre des Kepos argumentiert. 1050 Die Dialogfigur des Atticus hat somit wie im Brutus und in De legibus eine unterstützende und – wie der Anfang des Dialogs zeigt – auf die Gesprächshandlung einwirkende Funktion inne und bereichert das Gespräch durch ihre humanitas. Zwar ist ihre Anwesenheit strenggenommen für eine Dis56F

1046

Cic. ac. 1,14. Ebd., 1,41. 1048 Ebd., 1,25. 1049 Cic. Att. 13,21 = 351 Sh. B.,3; den Bezugspunkt bildet der Ausdruck ad finem veniam, equos sustinebo aus einer nicht exakt bestimmbaren, offensichtlich substantivisch konstruierten Quelle in: Cic. ac. 2,94. 1050 Ebd., 1,6f. 1047

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

kussion des akademischen Schulstreits nicht zwingend notwendig, doch kommt ihr für den von Cicero intendierten Entwurf einer philosophierenden Gemeinschaft aus Römern eine wichtige Rolle zu. 1051 567F

8

De divinatione

Mit dem Dialog De divinatione schließt Cicero an De natura deorum an und widmet sich nun dem dort ausgenommenen Thema der Weissagekunst, auf das in dem vorherigen Dialog bereits angespielt wurde.1052 Das Werk entstand in der ersten Hälfte des Jahres 44, wobei die Vorarbeiten noch im Juli 45 erfolgt zu sein scheinen und nach dem Tod Caesars offensichtlich Änderungen und Einschübe erfolgten.1053 Auffallend ist, dass das Werk keinen Widmungsträger mehr nennt, was angesichts der Tatsache, dass die vorherigen Werke zumeist Brutus gewidmet waren, als Indiz für eine Abfassung nach den Iden des März gewertet wurde. 1054 Der Tod des Diktators bedeutete nicht nur einen Wendepunkt für die Geschichte der römischen Republik, sondern bekanntlich auch für Cicero, dem in der finalen Phase der res publica eine tragische Rolle zufiel. Zwar war er in die Pläne der Verschwörer, unter denen M. Iunius Brutus, jene Person, mit der er sich bis dato in einem regen philosophischen Austausch befand, eine Führungsrolle einnahm, nicht eingeweiht, doch begrüßte er die Tat zunächst sehr.1055 Die veränderte politische Stimmungslage und die Hoffnung des Autors auf eine Wiederkehr der Republik haben deutliche Spuren in den letzten Werken hinterlassen, die in einer offeneren Auseinandersetzung mit der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart sowie in der Personengestaltung der Dialoge sichtbar werden. Das Personengefüge des Dialogs De divinatione setzt sich nur aus der Person des Autors und der seines Bruders Quintus zusammen, was in der älteren Forschung dahingehend gewertet wurde, dass Quintus der eigentliche Adressat sei.1056 Zur Disposition stehen die von Quintus vertretene stoische Sichtweise auf die Mantik sowie die diesbezügliche Position der Neuen Akademie, welche die Figur des Autors selbst vertritt. Die in die unmittelbare Gegenwart (nuper) gelegten Gespräche finden auf Ciceros Tusculanum statt, das des ersten Buchs wird

1051

Hösle 2006, S. 276 sah dagegen Atticus’ Funktion in den Academici libri als „überflüssig wie ein Kropf“. Dieses Urteil kann jedoch mit Blick auf Atticus’ verbindende Rolle innerhalb des Gesamtgefüges als übertrieben angesehen werden kann. 1052 Cic. nat. deor. 3,19. 1053 Zur Datierung s. Pease 1963, S. 13–15; vgl. Gawlick/Görler 1994, S. 1044. 1054 So Hirzel 1895, S. 535f.; gegen diese Argumentation wendet sich: Pease 1963, S. 15f. 1055 Vgl. Gelzer 2014, S. 295; Bringmann 2010, S. 244. 1056 So etwa Hirzel 1895, S. 536; Philippson 1939, Sp. 1157; auch Pease sah eine implizite Widmung: Pease 1963, S. 16.

De divinatione

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bei einem gemeinsamen Spaziergang (in ambulando) zum Lyceum,1057 das des zweiten sitzend in der Bibliothek geführt.1058 Die Gesprächsanteile beider Dialogfiguren weichen insgesamt nur geringfügig zugunsten der Marcus-Figur voneinander ab, so dass der Eindruck einer ausgewogenen Diskussion und symmetrischen Gesprächskonstellation entsteht.

8.1

Q. Tullius Cicero

a)

Quintus als Bruder und Leser

Die Figur des Quintus war zuvor bereits in den Dialogen De legibus und De finibus bonorum et malorum 5 in Erscheinung getreten. Das Verhältnis der beiden Brüder war in den Jahren vor der Entstehung von De divinatione zerrüttet, die Versöhnung scheint dabei dem Werk unmittelbar vorauszugehen. Nicht zuletzt die Tatsache, dass der Autor Quintus erstmals seit De legibus wieder mit einer größeren Rolle in seinem Werk würdigt, wurde mit Blick auf das Verhältnis der beiden als ein Zeichen der Aussöhnung gewertet.1059 Die familiäre Verbindung zwischen Autor und Bruder wird gleich zu Beginn des Dialogs durch die Szenerie herausgestellt (cum essem cum Q. fratre in Tusculano).1060 Die aus ihr resultierende Vertrautheit äußert sich in der Charakterisierung der Quintus-Figur als interessierter Leser der Bücher seines Bruders, welche insgesamt für die Dialogfigur bestimmend ist. In dieser Rolle und durch die Nähe zum Autor schafft die Quintus-Figur die Verbindung zwischen dem gerade entstehenden Werk De divinatione und dem Vorgängerwerk, indem er den Dialog damit eröffnet, dass er gerade erst die drei Bücher De natura deorum aufmerksam gelesen habe (perlegi […] tuum paulo ante tertium de Natura Deorum). Der Vortrag Cottas habe zwar für eine Erschütterung seiner ursprünglichen Meinung gesorgt (labefactavit sententiam meam), sie aber nicht grundsätzlich beseitigt (non funditus tamen sustulit). Nachdem Cicero sein Interesse und seine skizzierte Reaktion gelobt (optime vero) und erklärt hat, dass Cotta

1057

Cic. div. 1,8; Philippson weist hierbei auf den letzten mittels seiner Korrespondenz sicher zu bezeugenden Aufenthalt Ciceros auf seinem Tusculanum im Dezember des Jahres 45 hin: Cic. Att. 13,42 = 354 Sh. B.; Philippson 1939, Sp. 1157. Das Gespräch erweckt allerdings nicht den Eindruck, als sei es zu dieser Zeit entstanden, da es – auch wenn es sich um spätere Einschübe handeln sollte – den Tod Caesars voraussetzt; s. z. B.: Cic. div. 2,99. 1058 Cic. div. 2,8. 1059 So sah Strasburger 1990, S. 446 darin eine „Amnestisierung“ des Bruders. 1060 Cic. div. 1,8.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

absichtlich so argumentiere, dass er nicht die religiösen Überzeugungen an sich, sondern lediglich die stoische Beweisführung widerlege, entgegnet Quintus:1061 Dicitur quidem istuc […] a Cotta, et vero saepius, credo, ne communia iura migrare videantur; sed studio contra Stoicos disserendi deos mihi videtur funditus tollere. (9) eius rationi non sane desiderio quid respondeam; satis enim defensa religio est in secundo libro a Lucilio, cuius disputatio tibi ipsi, ut in extremo tertio scribis, ad veritatem est (credo, quia commodius arbitratus es separatim id quaeri deque eo disseri), id est de divinatione, quae est earum rerum, quae fortuitae putantur, praedictio atque praesensio. Gewiss, eben das behauptet Cotta, ja sogar mehrfach, wie ich glaube, um dem Verdacht vorzubeugen, er übertrete allgemeingültiges Recht. In seinem Bemühen freilich, sich mit den Stoikern auseinanderzusetzen, schafft er die Götter, scheint mir, gänzlich ab. (9) Trotzdem beschäftigt mich nicht übermäßig, was ich auf seine Rede erwidern soll; denn hinlänglich wurde die Gottesverehrung im zweiten Buch von Lucilius verteidigt, und du selbst schreibst am Ende des dritten Buches, sein Vortrag habe nach deiner Meinung die stärkere Neigung zur Wahrheit hin. Allerdings blieb in jenen Büchern ein Bereich ausgespart – doch wohl deshalb, weil du es für angemessener hieltest, ihn getrennt zu untersuchen und von ihm zu handeln, nämlich die Wahrsagung, unter der wir die Verkündung und Vorahnung der Dinge verstehen, die man dem Zufall zuschreibt.

Indem Quintus hinter Cottas Absichtserklärung eine Schutzbehauptung zu erkennen glaubt, spiegelt er als Dialogfigur zunächst einen aufmerksamen und kritischen Rezipienten der ciceronischen Literatur. Gleichzeitig gibt er zu erkennen, dass er seine Position im zweiten Buch von De natura deorum durch Lucilius ausreichend vertreten sieht und gibt damit bereits unmittelbar zu Beginn des Werkes seine grundsätzliche Haltung im kommenden Gespräch zu erkennen. Als aufmerksamer Leser des vorherigen Werkes kann er darauf verweisen, dass die Behandlung der Weissagekunst dort übergangen wurde und somit noch aussteht, wodurch er eine Überleitung zwischen den thematisch zusammenhängenden Dialogen schafft. Durch seine Repetition von Kernaussagen und Inhalten von De natura deorum zeigt Quintus nicht nur philosophischen Sachverstand, sondern bietet darüber hinaus eine Verständnishilfe für den Rezipienten.1062 Die Charakterisierung als aufmerksamer Leser zieht sich durch das gesamte erste Buch. In seiner Funktion als Kenner der ciceronischen Literatur begegnet er dem Autor und dessen skeptischer Haltung, indem er gezielt aus dessen dichterischem Werk zitiert, um seine eigene Argumentation für die Weissagung zu un-

1061

Cic. div. 1,8f.: Der lateinische Text von De divinatione folgt der Ausgabe von Giomini, die Übersetzung stammt, wenn nicht anders vermerkt, von Schäublin. 1062 Eine weitere Zusammenfassung der Kernthesen von De natura deorum findet am Ende des ersten Buchs statt: Cic. div. 1,117.

De divinatione

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termauern (Sed quo potius utar aut auctore aut teste quam te?).1063 So gibt Quintus 78 von ihm auswendig gelernte Verse (edidici) aus dem Epos seines Bruders wieder, in denen dessen Konsulat von der Muse Urania als Erfüllung der Weissagung eines Haruspex gepriesen wird.1064 Durch das Zitieren des Epos versucht Quintus seinen Bruder gezielt der Widersprüchlichkeit zu überführen:1065 Tu igitur animum poteris inducere contra ea, quae a me disputantur [et] de divinatione, dicere, qui et gesseris ea, quae gessisti, et ea, quae pronuntiavi, accuratissime scripseris? Du also vermöchtest dich dazu zu bringen, meine Ausführungen über die Wahrsagekunst zu bestreiten – obwohl du doch das, was du vollbracht und das, was ich vortrug, mit größter Sorgfalt gedichtet hast?

Das Zitieren aus Ciceros Werk folgt dabei einer dialogtechnischen Logik: die Dialogfigur des Quintus fungiert als Vertreter des Lesers, der in der skeptischakademischen Position, die der Autor in De divinatione erneut vertritt, einen scheinbaren Widerspruch zu dem Staatsmann und ehemaligen Konsul Cicero sieht, dem dadurch eine Vorlage für eine erläuternde Stellungnahme gegeben wird.1066 Quintus nimmt somit – ähnlich wie in De legibus – eine Mittlerrolle zwischen dem Rezipienten und dem Autor ein, doch zeigt er sich in De divinatione philosophisch kompetenter. In der Rolle des Lesers rezipiert die Dialogfigur nicht nur die vom Autor erwartete Adressatenhaltung, sondern auch eine erhoffte Reaktion. Die Aufgeschlossenheit des Quintus gegenüber der philosophischen Debatte zeigt sich bereits anfangs darin, dass er – und nicht Marcus – die Fortsetzung der mit De natura deorum begonnenen Untersuchung vorschlägt (id, si placet, videamus quam habeat vim et quale sit).1067 Indem nicht die Dialogfigur des Autors selbst das Gespräch initiiert, sondern sein Gesprächspartner, vermeidet Cicero den Eindruck, sich gegenüber seinem Mitbürger hinsichtlich der Philosophie aufzudrängen. Stattdessen scheint er einem bereits vorhandenen Interesse entgegenzu1063

Cic. div. 1,17. Ebd., 1,19: Nunc ea, Torquato quae quondam et consule Cotta / Lydius ediderat Tyrrhenae gentis haruspex, / omnia fixa tuus glomerans determinat annus. – „Und das, was nach langer Entwicklung endlich eintrat – / dass dies sich ereignen werde, verkündete mit ständigen und deutlichen Zeichen immer wieder / der Göttervater selbst dem Himmel und der Erde.“ 1065 Ebd., 1,22. 1066 Krostenko sieht darin einen bewussten Versuch Ciceros, sich von seiner bisherigen Dichtung zu distanzieren, die eine persönliche Beziehung zwischen Göttern und Menschen postulierte. Ciceros Haltung habe sich jedoch durch die negative Erfahrung der Diktatur Caesars und dessen sakrale Überhöhung gewandelt: Krostenko 2000, S. 383– 385. 1067 Cic. div. 1,9. 1064

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

kommen. Quintus bleibt auch während der Gegendarstellung seines Bruders stets freundlich und zeigt in seiner einzigen Wortmeldung im zweiten Buch Aufgeschlossenheit (mihi vero […] placet) und reges Interesse (quid sentias et quibus ea rationibus infirmes, audire sane velim) angesichts Marcus’ Ankündigung, im Folgenden weiter auszuholen. 1068 Auch Quintus’ Schlusssatz entspricht jener offenen Geisteshaltung, wenn er auf Marcus’ Angebot einer weiteren Untersuchung erklärt, dass ihm nichts angenehmer erscheinen könne (mihi vero […] nihil potest esse iucundius).1069 Die konkrete Entscheidung, welcher der beiden Vorträge als der überzeugendere zu gelten hat, wird dem Urteilsvermögen der Leser überlassen. Statt einer Konversion zur Position des Autors deutet Quintus in seiner Antwort die Offenheit der philosophischen Diskussion an. b)

Quintus als kritischer Verteidiger der Wahrsagekunst

Die Rolle des Kenners unterstützt auch das philosophische Profil der Dialogfigur als Vertreter der philosophischen Auffassungen, welche die Existenz der Weissagekunst innerhalb des philosophischen Diskurses verteidigen, ohne dabei eine einheitliche Theorie der Mantik vorzulegen. 1070 Ein strukturierendes Element seines Vortrags ist die aus dem Phaidros bekannte Einteilung in die künstliche und die natürliche Mantik, welche jeweils zweimal behandelt werden.1071 In dem Proömium des ersten Buchs erfährt diese Position durch den Autor einen gewissen Rückhalt, indem sie als Mehrheitsmeinung der bisherigen Philosophen vorgestellt wird, von der nur Xenokrates, Epikur, Karneades und Panaitios abgewichen seien.1072 Gleich zu Beginn formuliert die Dialogfigur selbst (ego enim sic existimo) ihren an De natura deorum anknüpfenden Standpunkt, wonach die Existenz der Götter als Prämisse der Existenz der Weissagekunst und vice versa angesehen wird (si sint ea genera divinandi vera […], esse deos, vicissimque, si di sint, qui divinent).1073 Der Gedanke, den Marcus als „stoisches Bollwerk“ erkennt (acrem tu quidem Stoicorum […] defendis),1074 erscheint als Leitgedanke von Quintus’ Argumentation, wodurch er an den stoischen Redner Balbus aus De natura deorum anknüpft. Es deutet sich bereits an dieser Stelle an, dass Quintus keine besondere Affinität zur Stoa besitzt, sondern dass es ihm im Wesentlichen um die Verteidigung der Weissagekunst an sich geht, an der er primär als Römer, nicht als Philosoph ein Interesse hat. Dementsprechend beginnt er seinen Vortrag mit 1068

Cic. div. 2,100. Ebd., 2,150. 1070 Vgl. Gawlick/Görler 1994, S. 1045. 1071 Plat. Phaidr. 244d. Heinimann vermutete, dass die Trennung noch älter sei und bereits in Herodot Anwendung fand. S. hierzu: Heinimann 1961, S. 128f. 1072 Cic. div. 1,5–7. 1073 Ebd., 1,9. 1074 Ebd., 1,10. 1069

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dem Hinweis, dass er nichts „Neues“ (nihil […] quidem novi) darlegen werde, sondern eine vom Konsens aller Völker getragene antiquissima sententia wiedergeben würde.1075 Die Verteidigung einer alterwürdigen Position folgt dabei der Logik eines Konservativismus, als dessen Vertreter sich Quintus bereits in De legibus präsentierte.1076 Während er im Verlauf des ersten Buches – oft mit Verweis auf die jeweilige Quelle – die Beweise der Stoiker, vor allem Chrysipps und Poseidonios’ vorträgt, zeigt er sich diesen gegenüber im zweiten Buch zunehmend kritisch. Als sein Bruder darum bittet, bei der Behandlung der Weissagekunst aus Träumen und Ekstase weiter ausholen zu dürfen, gibt Quintus sein Einverständnis (mihi vero […] placet) und erklärt, dass er die stoische Lehre zur Weissagung bereits vor der Bestätigung durch die Rede seines Bruders (tua me oratio confirmavit) von sich aus (mea sponte) für abergläubisch gehalten habe (nimis superstitiosam […] iudicabam). 1077 Dabei zeigt sich, dass Quintus nicht als Anhänger einer bestimmten Schulmeinung betrachtet werden darf, da er die kritisierte stoische Argumentation während seines eklektizistischen Vortrags selbst nutzte. Dahingehend weist die Äußerung nicht zuletzt darauf hin, dass schon bestehende Zweifel durch den Vortrag Ciceros vermehrt beziehungsweise bestätigt wurden.1078 Indem er die Positionen des Peripatos an dieser Stelle als glaubwürdiger preist (haec me Peripateticorum ratio magis movebat), wird auf die traumdeutende Weissagekunst übergeleitet, die daraufhin von Marcus als unsichere Form des Orakels verworfen wird.1079 Dass Quintus während seines rhetorisch strukturierten Vortrags diverse Philosophen für seine Position anführt, stellt die Frage in den Raum, woher die Dialogfigur diese Kenntnisse hat.1080 Als wichtigste Quelle für sein Wissen erscheint die Lektüre der philosophischen Literatur, auf die er entweder verweist1081 oder aus der er aus seinem Gedächtnis zitiert.1082 Persönlicher Kontakt zu Philosophen spielt hingegen bei der Beschreibung seines Bildungshintergrun-

1075

Cic. div. 1,11. Etwa in der Frage des Volkstribunats, s.: Cic. leg. 3,21–26; s. oben S. 429–433. 1077 Cic. div. 2,100. 1078 Gawlick/Görler sehen in der Stelle sogar eine Bekehrung des Quintus und verweisen auf De oratore 3,145 und Hortensius: Gawlick/Görler 1994, S. 1025. Eine Bekehrung würde jedoch ein vorheriges Bekenntnis zur Stoa voraussetzen, welches man weder der historischen Persönlichkeit noch der Dialogfigur attestieren kann, die sich der Sache der Mantik, nicht der der Stoa verschreibt. Glaubt man der Quintus-Figur, war sie bereits im Vorfeld alles andere als überzeugt von der stoischen Argumentation. 1079 Cic. div. 2,100–147. 1080 Zum rhetorischen Charakter von Quintus’ Vortrag, der in seiner Struktur eine signifikante Ähnlichkeit zu Pro Caelio aufweist, s. Krostenko 2000, S. 371–373. 1081 S. z. B.: Cic. div. 1,39 (Chrysipp), 46 (Heraklides von Pontos), 52 (Platon und Xenophon), 53 (Aristoteles), 64 (Poseidonios), 83 (Chrysipp, Diogenes und Antipater). 1082 Hierzu etwa: Cic. div. 1,60 (Platon), 71 (Kratippos), 80 (Demokrit u. Platon). 1076

554

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

des nur eine untergeordnete Rolle: Diesbezüglich stellt er lediglich seine persönliche Bekanntschaft mit dem Peripatetiker Kratippos durch ein noster heraus, auf das er bei dem Stoiker Poseidonios verzichtet.1083 Anders als etwa in der ersten Version der Academici libri wird nicht auf ein vorheriges Gelehrtengespräch verwiesen, sondern auf eine eigene Lektüreleistung, die dem Leser hinsichtlich seiner Person einigermaßen glaubwürdig erschienen sein muss. c)

Das römische Profil der Quintus-Figur

Indem Quintus die dichterischen Werke seines Bruders wörtlich zitiert, verleiht er dem philosophischen Diskurs einen gewissen römischen Anstrich.1084 Diese Funktion zeigt sich auch in der Verwendung der Beispiele: So erklärt Quintus während seines Vortrags offen, nun römische zu gebrauchen, da ihm diese mehr zusagen würden (Sed quid ego Graecorum? nescio quo modo me magis nostra delectant). 1085 Das Bemühen, die philosophische Ausgangsfrage anhand von römischen exempla zu behandeln, steht im engen Zusammenhang mit der Intention des Autors, die griechische Philosophie für seine Mitbürger attraktiv zu machen.1086 Mit dem Bürgerkrieg und dem Tod Caesars rezipiert Quintus historische Ereignisse, die aus der Perspektive der Entstehungszeit von De divinatione einen überaus hohen Grad an Aktualität aufweisen. 1087 Unter den Exempla nimmt dabei vor allem sein Bruder eine wichtige Rolle ein. Bei der Verteidigung der Weissagekunst gegenüber dem Vorwurf, dass es oft zu Fehldeutungen komme, vergleicht er diese mit der Wissenschaft der Staatskunst:1088 aut num propterea nulla est rei publicae gerendae ratio atque prudentia, quia multa Cn. Pompeium, quaedam M. Catonem, non nulla etiam te ipsum fefellerunt? Oder gibt es deswegen keine vernünftige Methode der Staatsführung, weil vielfach Cn. Pompeius sich täuschen ließ, in bestimmten Fällen M. Cato – manchmal sogar du selbst?

Mit Pompeius, Cato und Cicero nennt Quintus drei römische Politiker, die hinsichtlich einer ratio atque prudentia in der Staatslenkung einen Beispielcharakter besäßen, obwohl auch sie sich geirrt hätten. Der Vergleich lässt den Anspruch des Autors erkennen, politisch mindestens den gleichen Rang einzunehmen wie 1083

Cic. div. 1,70, 113; 2,100. S. auch: Cic. div. 1,13–16 (Ciceros Übersetzung des Arat), 106 (Ciceros Gedicht auf Marius). 1085 Cic. div. 1,55. 1086 An diese zentrale Intention erinnert das Proömium des zweiten Buchs gleich zu Beginn: Cic. div. 2,1. 1087 Ebd., 1,68, 119. 1088 Ebd., 1,24. 1084

De divinatione

555

die erst wenige Jahre zuvor im Kampf gegen Caesar verstorbenen Staatsmänner Pompeius und Cato. Die semantische Steigerung zwischen saepe (= Pompeius), quaedam (= Cato) und non nulla (= Cicero) stellt den Staatsmann Cicero trotz einer selbstkritischen Färbung des Satzes über die beiden anderen Politiker. Durch den Tod des Diktators nimmt die Frage nach dem politischen Rang des Autors in De divinatione generell wieder einen wichtigeren Platz ein. Quintus tritt hierbei als Unterstützer seines Bruders auf, indem er ihn als Muster eines Politikers darstellt und durch das Zitieren aus dem Konsulatsepos an dessen größten politischen Erfolg erinnert. Das gezielte Verwenden römischer Exempla ist Teil einer doppelten Strategie Ciceros: Zum einen erweisen sich Beispiele aus der römischen Lebenswelt mit Blick auf die Leserschaft als angemessener und wirklichkeitsnäher, wodurch sie die philosophische Argumentation der Quintusfigur stärken. 1089 Zum anderen erlauben sie Werturteile über politische Standesgenossen und den Autor selbst. Wie wichtig jenem ihre Verwendung ist, zeigt sich gleich zu Beginn von Marcus’ nun in seiner Bibliothek gehaltenen Gegenvortrag:1090 Adcurate tu quidem, […] Quinte, et Stoice Stoicorum sententiam defendisti, quodque me maxime delectat, plurimis nostris exemplis usus es, et iis quidem claris et illustribus. Sorgfältig, mein Quintus, und auf echt stoische Weise hast du die Ansicht der Stoiker vertreten; und was mich besonders freut: du hast dich sehr vieler Beispiele aus der römischen Geschichte bedient, und zwar leuchtender und eindrücklicher.

Die Beispiele des Quintus erfahren explizites Lob, da sie aus dem römischen Kulturkreis stammen (nostris exemplis) sowie allgemein „bekannt“ (claris) und „einleuchtend“ (illustribus) seien. Neben den Exempla und den Querverweisen auf Ciceros dichterisches und philosophisches Werk zeigen auch die Zitate lateinischer Dichter eine Romanisierungsintention. Wie die stoisch gezeichnete Dialogfigur des Balbus in De natura deorum, so zitiert auch Quintus römische Dichtungen, um auf philosophisch-argumentativer Ebene zu überzeugen.

1089

Die Argumentation folgt dabei einer inneren Logik, da Quintus für seine Position auf eben solche Erfahrungsmomente angewiesen ist und nicht, wie Marcus im zweiten Buch, auf Vernunftargumente zurückgreifen kann. Zu ihrem anekdotenhaften Charakter s. Schofield 1986, S. 51–53; zu einer kritischeren Beurteilung der exempla im argumentativen Kontext kommt Krostenko 2000, S. 372: „the accumulation of exempla also becomes a kind of symbol for the cognitive habits of those who claim the existence of divination, revealing an imprecise, a priori enthrallment with various sorts of paranormal phenomena, which can be fitted into analytical categories only a posteriori.“ 1090 Cic. div. 2,8.

556 d)

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die Figur des Quintus zunächst praktischen Überlegungen des Autors entgegenkommt: Wie zuvor im Fall von Varro und Atticus will Cicero eine lebendige Person aus seinem engsten Umfeld ehren, womit hier auch ein Schlussstrich unter einen langwierigen Streit gezogen wird. Wie bei Atticus und Varro drückt sich die persönliche Nähe durch eine besondere Kenntnis der Person des Autors und seiner literarischen Werke aus, welche die Dialogfigur in die Lage versetzt, als Sprecher des Lesers zu fungieren. Durch diese Art der Leservertretung kann Cicero möglichen Fehlinterpretationen zuvorkommen, wie insbesondere das Beispiel seiner eigenen Dichtung zeigt. In dieser Funktion eines literarisch interessierten Römers lässt sich eine eindeutige Kontinuität zwischen der Dialogfigur in De legibus und der in De divinatione erkennen. Indem Quintus die Debatte nach der Lektüre von De natura deorum einleitet, vollzieht sich mittels seiner Person in der literarischen Welt des Dialogs die Transformation eines schriftlichen Diskurses in einen mündlichen. Im Bewusstsein der Fiktionalität des vorherigen Dialogs knüpft die philosophische Auseinandersetzung unmittelbar an den vorherigen an.1091 Weder der historische Quintus noch die vom Autor geschaffene Kunstfigur sind Stoiker, doch verfügt die dialogische Figur über umfassende Kenntnisse jener Schule sowie der des Peripatos, deren Auffassungen sich in seiner Rede widerspiegeln. Die hohe Zahl von Beispielen der römischen Geschichte zeigt nicht nur den römischen Charakter der Dialogfigur, sondern unterstreicht auch die Relevanz der philosophischen Frage für die römische Lebenswirklichkeit. Indem sie sich dabei auch in die jüngere Geschichte wagt, kommt die Dialogfigur selbst mit der politischen Sphäre in Berührung. Neben Pompeius und dem jüngeren Cato erwähnt er dabei auch eine Fehlentscheidung seines Bruders, so dass die Figur stellvertretend für den Autor eine leichte Selbstkritik zum Ausdruck bringt.

8.2

M. Tullius Cicero

a)

Cicero als Vertreter der Akademie

Nach den Academici libri und De finibus bonorum et malorum tritt Cicero hier zum dritten Mal in einem seiner Werke als Vertreter der akademischen Skepsis auf. Nachdem er im Gespräch des Vorgängerwerks De natura deorum nur als stummer Zuhörer anwesend war und die gegenüber der Stoa kritische Position

1091

Ein nicht direkt philosophisches Brückengespräch über Dichtung oder Geschichtsschreibung, wie wir es in De legibus, Hortensius und anderen Werken beobachten konnten, fällt somit weg.

De divinatione

557

der Akademie von Cotta vortragen ließ, wird diese nun von seiner Dialogfigur vertreten. Erneut stellt sich damit die schwierige Frage, ob der gleichnamige Sprecher die tatsächliche Position des Autors wiedergibt oder nur als eine Art advocatus diaboli fungiert, um einer Diskussion in utramque partem gerecht zu werden. Betrachtet man die Stimme des Autors im Proömium des ersten Buches, so lässt sich feststellen, dass Cicero nach einer doxographischen Einführung,1092 welche die Bedeutung der Sache herausstellt, eine dezidiert vorsichtige, doch klar skeptische Haltung einnimmt, indem er auf die Auseinandersetzung des Skeptikers Karneades mit der Stoa anspielt (quod a Carneade multa acute et copiose contra Stoicos disputata sint) und sich mit diesem durch ein emphatisches nobismet auf eine Ebene stellt. 1093 Hinsichtlich des Themas selbst, der Frage nach der Legitimation der Weissagekunst, äußert Cicero an dieser Stelle keine feste Überzeugung. Stattdessen betont er das potentielle Risiko, sich bei der Behandlung der Kulte in impia fraus oder „dem Aberglauben alter Weiber“ (anili superstitione) zu verfangen, welche antithetisch der religio gegenübergestellt werden.1094 Dass die Äußerungen im Proömium im Vergleich zur Rede im zweiten Buch eher maßvoll erscheinen, lässt jedoch nicht den Schluss zu, dass diese eher auf ihn zutreffen könnten, da es ihm mit Blick auf die noch anstehende Rede im ersten Buch für die Weissagekunst nicht darum gehen konnte, diese Position im Vorfeld zu unterminieren.1095 Gleich zu Beginn ihrer Gegenrede im zweiten Buch stellt sich die Dialogfigur Marcus Cicero analog zum Autor im ersten Buch in die Tradition des Karneades, welcher dem Phänomen der divinatio eine sinnliche Wahrnehmbarkeit absprach. 1096 Während Quintus die Weissagekunst als berechtigten Untersuchungsgegenstand der Philosophie klassifizierte, differenziert Marcus zwischen „Sehern“ (divini) und „Philosophen“ (sapientes), um die Überlegenheit der letzteren zu unterstreichen:1097 De illis vero rebus, quae in philosophia versantur, num quid est, quod quisquam divinorum aut respondere soleat aut consuli, quid bonum sit, quid malum, quid neutrum? Sunt enim haec propria philosophorum. (11) quid? de officio num quis haruspicem consulit, quem ad modum sit cum parentibus, cum fratribus, cum amicis vivendum? quem ad modum utendum pecunia, quem ad modum honore, quem ad modum imperio? ad sapientes haec, non ad divinos referri solent.

1092

Cic. div. 1,5–7. Ebd., 1,7; vgl. Schultz 2014, S. 65f. 1094 Zum Begriff der religio s. Schultz 2014, S. 66f. 1095 Die unbestreitbar „positiven Tendenzen“ des Proömiums, die sich auch im Aufbau der Doxographie offenbaren, wurden von Schäublin auf einen Text des Poseidonios Text zurückgeführt: Schäublin 1985a, S. 157–163. Badalì 1976 erkannte in ihnen Ironie, wogegen sich Schäublin 1985a, S. 161, Anm. 17 ausspricht. 1096 Cic. div. 2,9. 1097 Ebd., 2,10f. 1093

558

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten Hinsichtlich der Gegenstände freilich, mit denen sich die Philosophie befasst: gibt es da ein Problem, das irgendeiner der Seher zu lösen pflegte oder über das er sich befragen ließe: etwa was gut sei, was schlecht, was indifferent? Diese Fragen gehören doch ins Gebiet der Philosophen. (11) Ferner: hinsichtlich des sittlichen Handelns – holt da wohl jemand bei einem Beschauer Rat: wie man mit Eltern mit Brüdern, Freunden umzugehen habe? Wie man sich in Geldsachen, wie in einem Amt, wie in einem Kommando verhalten solle? Solches pflegt man den Philosophen, nicht den Sehern vorzulegen.

Durch die Verwendung von parallelem Satzaufbau und Trikola (quid bonum sit, quid malum, quid neutrum […] cum parentibus, cum fratris, cum amicis […] quem ad modum […] pecunia, quem ad modum […] honore, quem ad modum […] imperio) sowie rhetorischer Fragestellung (num quid est […] Quid? […] num […]?) wird dem haruspex als Fachmann für Weissagekunst die Fähigkeit einer beratenden Funktion für ethische Fragestellungen – und damit eine Funktion innerhalb der Staatsführung – wirkungsvoll abgesprochen. Der Kritikpunkt korrespondiert mit dem im Proömium des zweiten Buchs vorgetragenen Gedanken des Autors, wonach alle theoretische Reflexion dem Staat gelten muss.1098 Die Dialogfigur Marcus schlägt dahingehend gleich zu Beginn seiner Gegenrede einen Bogen zum Autor Cicero: indem sie der Philosophie und den sapientes eine zentrale Beratungsfunktion innerhalb eines Gemeinwesens zugesteht, wird das Verfassen philosophischer Literatur implizit als Dienst am Staat gewertet wird. Die im Proömium aufgeworfene Fragestellung, inwieweit die Traumdeutung als superstitio oder doch als religio zu werten ist, wird am Ende des Vortrags im zweiten Buch eindeutig zugunsten der superstitio beantwortet, worauf Marcus erklärt:1099 quod et in iis libris dictum est, qui sunt de natura deorum, et hac disputatione id maxime egimus. multum enim et nobismet ipsis et nostris profituri videbamur, si eam funditus sustulissemus. nec vero (id enim diligenter intellegi volo) superstitione tollenda religio tollitur. nam et maiorum instituta tueri sacris caerimoniisque retinendis sapientis est, et esse praestantem aliquam aeternamque naturam, et eam suspiciendam admirandamque hominum generi pulchritudo mundi ordoque rerum caelestium cogit confiteri. Das führte ich in den Büchern aus, die dem „Wesen der Götter“ gelten, und auch in der heutigen Erörterung kam es mir vor allem darauf an. Ich meinte nämlich, ich würde uns selbst und unseren Mitbürgern einen großen Dienst erweisen, wenn es mir gelänge, den Aberglauben restlos auszurotten. Freilich (dass dies richtig verstanden werde!): Indem man den Aberglauben ausrottet, rottet man keineswegs auch die Religionsausübung aus. Vielmehr ist gerade der Philosoph darauf be1098 1099

Cic. div. 2,7. Ebd., 2,148.

De divinatione

559

dacht, die Einrichtungen der Ahnen zu bewahren, indem er an heiligen Handlungen und Bräuchen festhält; und die Schönheit des Alls und die Ordnung der Dinge am Himmel nötigen ihn zum Bekenntnis, es gebe eine überragende und ewige Natur und das Menschen-geschlecht sei gehalten, zu ihr aufzublicken und sie zu bewundern.

Während die Dialogfigur Cicero auch die Weissagekunst der Träume mit deutlichen Worten als superstitio klassifiziert, beharrt sie nachdrücklich darauf (id enim diligenter intellegi volo), dass dadurch die religio selbst nicht aufgehoben werde. Die wiederholte Ablehnung der divinatio im Epilog seiner Rede rückt erneut die Frage in den Fokus, ob die Worte der Dialogfigur hierbei die tatsächliche Meinung des Autors wiedergeben. Unverkennbar ist die Diskrepanz der Cicero-Figur mit jener im zweiten Buch von De legibus, welche die Existenz der divinatio ausdrücklich annimmt.1100 In der Forschung lassen sich dazu zwei unterschiedliche Grundtendenzen ausmachen: Schofield, der sicher nicht zu Unrecht davor warnt, dass der moderne Leser der Rede der Marcus-Figur instinktiv mehr Sympathie entgegenbrächte als der des Quintus, wertete die Auseinandersetzung als eine rhetorisch-philosophische Redeübung und zog damit eine scharfe Trennlinie zwischen den Aussagen der Dialogfiguren und deren historischen Vorlagen.1101 Dagegen sprach sich in der jüngeren Forschung vor allem Repici aus, die auf die gänzlich unterschiedliche stoische Argumentation von De divinatione 1 und De natura deorum 2 hinweist und von einer tatsächlichen Ablehnung der stoischen Argumentation zur Weissagekunst seitens des Arpinaten ausgeht.1102 Für diese Interpretation spricht auch, dass Quintus sich, wie wir gesehen haben, im zweiten Buch selbst gegen die stoischen Auffassungen aussprechen wird. Die Kritik an der Mantik scheint daher tatsächlich im Namen des Autors zu geschehen, der damit seine Meinung aus den späten 50ern entweder revidiert1103 oder seine tatsächliche Meinung damals aufgrund der anderen Zielsetzung dem Leser vorenthielt.1104 1100

Cic. leg. 2,31–33; als kritische Gegenstimme weist in jenem Werk Atticus auf die häufige Uneinigkeit unter den Auguren hin; vgl. Pease 1963, S. 11. 1101 Schofield 1986. Eine in der Konsequenz ähnliche Position bezog Beard, die den Zweck von De divinatione eher in der Schaffung eines generellen Diskurses sah und den Dialog dahingehend als eine von der Autorenposition getrennte Untersuchung nach dem Schema in utramque partem bewertete: Beard 1986; diese Argumentation teilen auch Gawlick/Görler 1994, S. 1045. 1102 Repici 1995; ihr schloss sich Narducci in seiner Cicero-Monographie an: Narducci 2012, S. 273. 1103 Als Grund für eine solche Revision vermutete Blänsdorf die Erfahrungen des Missbrauchs der religiösen Institutionen während der Bürgerkriegszeit: Blänsdorf 1992, S. 54. 1104 Vgl. Goar 1968, S. 247f.: „De legibus, the constitutional treatise, glorifies the Roman constitution as it functioned in the Scipionic era, and sees it as fit to be the basis of an ideal polity. All of Rome’s inherited institutions are affirmed, and, in book II, Roman

560 b)

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Cicero als römischer Augur und Politiker

Dennoch bleibt die Unterscheidung zwischen superstitio und religio für den Autor grundlegend, der sein Werk eben nicht als Angriff auf die religiösen Institutionen verstanden wissen wollte.1105 Es lässt sich darüber hinaus beobachten, dass die Doppelrolle der historischen Persönlichkeit Cicero als einerseits begeisterter Schüler der Philosophie und andererseits römischer Politiker und Inhaber eines Priesteramts keineswegs verschwiegen wird. Seine Dialogfigur wird von ihrem Gesprächspartner bewusst daran erinnert, dass jener selbst ab 53 das Augurenamt innehatte (Quid de auguribus loquar? tuae partes sunt, tuum, […] auspiciorum patrocinium debet esse).1106 Die Cicero-Figur ist somit bereits im ersten Buch nicht nur als Literat und Vertreter der Akademie, sondern auch als römischer Priester und Politiker, der als Konsul vom Augur Appius Claudius vor einem bellum domesticum gewarnt wurde, präsent. Wie bereits bei Cotta in De natura deorum führt die doppelte Natur des akademischen Gesprächsteilnehmers zu einer Spannung, welche auf einen potentiellen Konflikt zwischen griechischer Philosophie – in beiden Fällen die der Neuen Akademie – und der römischen Praxis in der res publica hinweist. Die dadurch im Raum stehende Frage nach der Haltung des Autors gegenüber den religiösen Institutionen wird von der Dialogfigur nach zweierlei Maß beantwortet, wie ein Abschnitt zeigt, der sich den haruspices widmet:1107 quam ego rei publicae causa communisque religionis colendam censeo – sed soli sumus; licet verum exquirere sine invidia, mihi praesertim de plerisque dubitanti – […]. Ich trete dafür ein, dass man sie pflegen muss, um des Staates und der allgemeinen Religiösität willen – aber wir sind ja alleine; da sollte es möglich sein, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, ohne Anstoß zu erregen, vor allem mir, der ich hinsichtlich der meisten Dinge meine Zweifel hege.

Die Haltung der Dialogfigur ist zunächst von einem deutlichen Zweckrationalismus geprägt, der diese Institution mit Blick auf das Staatswesen und die religio selbst rechtfertigt. Mit Verweis auf die Intimität des Gesprächs erlaubt sie sich jedoch, wie Cotta gegenüber Balbus in De natura deorum 3, einen von ihrer Position als Staatsmann gesonderten Blick auf den Gegenstand.1108 Ebenso er-

religious law is supported by Greek theory an practice to show that it has universal validity, that it meets the standard of Natura.“ 1105 Vgl. Goar 1968, S. 248. 1106 Cic. div. 1,105. Seine Freude über dieses Amt äußerte er auch in einem Brief um 51/50 gegenüber Cato: Cic. fam. 15,4 = 110 Sh. B.,13. 1107 Cic. div. 2,28. 1108 Cic. nat. deor. 3,5; s. oben 300f.

De divinatione

561

folgt eine Verteidigung der religiös-politischen Institution der augures nicht aus einer philosophischen Argumentation heraus, sondern orientiert sich an dem römisch-konservativen Traditionalismus des Autors, der aus Rücksicht auf die Volksmeinung und den Nutzen des Staates (ad opinionem vulgi et ad magnas utilitates rei publicae) an ihnen festhält. 1109 Die Argumentation, dass es sich hierbei um eine Art Zugeständnis für das Volk handele, erinnert an Ciceros Verteidigung des Volkstribunats in De legibus, welches man der plebs zugunsten ihrer Freiheit zugestehen müsse.1110 Der deutliche Rombezug verleiht Ciceros Rolle als philosophischer Kritiker der Mantik ein unverkennbar politisches Gepräge. Der philosophische Diskurs erscheint dabei eben nicht losgelöst von der römischen Lebenswirklichkeit, wie das otium des Settings zunächst suggeriert. Dies zeigt auch die Verwendung der Exempla, auf die im Folgenden eingegangen werden muss. Das persönliche Selbstverständnis des Autors als römischer Politiker wird nicht zuletzt dadurch in seiner Figur widergespiegelt, dass der Gesprächspartner Quintus auf seine Amtsführung als Konsul und Prokonsul in Kilikien Bezug nimmt, bei der er sich um die genaue Einhaltung der religiösen Bräuche bemüht habe.1111 Das politische Profil der Figur zeigt zudem, dass der Autor nicht nur als philosophischer Redner wahrgenommen werden möchte, sondern auch als römischer Staatsmann, der im mos maiorum verwurzelt ist und diesen in der öffentlichen Sphäre stets geachtet hat. Dieser politische Charakter der Dialogfigur wird durch das Verwenden römischer Beispiele verstärkt. Wie Quintus im ersten Buch verwendet die MarcusFigur häufig römische Beispiele zur Veranschaulichung der philosophischen Fragestellungen. Wie wichtig ihr diese sind, wird gleich zu Beginn ihres Vortrags deutlich, indem er seinen Gesprächspartner ausdrücklich lobt, dass er viel und treffend aus der römischen Lebenswelt zitiert habe.1112 Die Verwendung der römischen exempla steht dabei in einem engen Zusammenhang mit der Intention des Autors, die Philosophie in den lateinischen Sprachraum zu transferieren, da sie deren praktische Relevanz für die Zeitgenossen unterstreicht. Eine Besonderheit der Beispiele in De divinatione 2 liegt darin, dass diese häufiger als in den vorherigen Dialogen Ereignisse der unmittelbaren Zeitgeschichte aufgreifen und kommentieren, was ihren politischen Charakter hervorhebt. Wie bereits erwähnt, wurde das Werk nach dem Tod Caesars fertiggestellt. Das veränderte politische Klima zeigt sich besonders deutlich, wenn die MarcusFigur das von Quintus ins Spiel gebrachte Beispiel eines Stieropfers Caesars

1109

Cic. div. 2,70. Cic. leg. 3,25. 1111 Cic. div. 1,103: quae quidem a te scis et consul et imperator summa cum religione esse servata. – „Du bist dir ja bewusst, dass du selbst als Konsul und als Feldherr mit höchster Sorgfalt auf diese Bräuche geachtet hast.“ 1112 Cic. div. 2,8. 1110

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

damit kommentiert, dass das Opfertier kein Herz gehabt habe.1113 Während kein einziges der Werke, die zwischen 46 und den Iden des Märzes 44 veröffentlicht wurden, eine direkte kritische Referenz auf Caesar aufwies, welche ohne den Umweg der Assoziation hätte wahrgenommen werden können, nutzt der Autor nun die veränderten politischen Zeitumstände, um mittels der Dialogfigur eine aggressivere Wertung der jüngeren Vergangenheit durchzuführen. So liefert Marcus eine Gegeninterpretation, die von einem deutlichen Seitenhieb auf den kürzlich ermordeten Alleinherrscher begleitet wird:1114 tu vero quid habes, quare putas, si paulo ante cor fuerit in tauro optimo, subito id in ipsa immolatione interisse? an quod aspexit vestitu purpureo excordem Caesarem, ipse corde privatus est? Dir aber, was gibt dir das Recht zu glauben, wenn kurz zuvor sich in dem erlesenen Stier ein Herz befunden habe, so habe es sich eben während der Opferung verflüchtigt? Oder meinst du: weil er Caesar angeblickt habe, dem ob seiner Purpurkleidung Herz und Verstand geschwunden waren, deshalb verlor der Stier seinerseits das Herz?

Die offene Darstellung Caesars als Usurpator im Purpur (vestitu purpureo), welche der Autor durch seine Dialogfigur vornehmen lässt, spiegelt eine Annäherung der fiktionalen Dialogwelt an die Realität: das Medium des Dialogs wird – so wie das Genre der philosophischen Literatur generell – stärker Gegenstand der politischen Auseinandersetzung. Während der Tyrannendiskurs in den Tusculanae disputationes noch keine namentliche Verbindung zu Caesar hergestellt hat,1115 sondern nur das Bild des Usurpators generell diskreditierte, wird jener ab dem Moment seines Todes mit einem Tyrannen identifiziert.1116 Noch unter dem Eindruck der Iden des März werden in De divinatione Bezüge zu den Ereignissen hergestellt, welche die letzten Jahrzehnte und das eigene politische Schicksal maßgeblich bestimmt hatten. Caesar, Pompeius und Crassus Dives etwa fungieren nicht zufällig als Gegenbeispiele für die Wirksamkeit der Mantik, da ihnen zwar ein ruhmvoller Tod im hohen Alter prophezeit wurde, sie jedoch das Gegenteil erlitten.1117 Ebenfalls wird auf den Antrag des L. Aurelius Cotta Bezug genommen, nach dessen Interpretation der sibyllinischen Bücher Caesar der

1113

Cic. div. 1,119. Ebd., 2,37. 1115 Cic. Tusc. 5,57–66. Cicero diskutiert dort das Glück des Tyrannen anhand des griechischen Beispiels Dionysios. Für einen ausdrücklichen Bezug des Tyrannendiskurses auf Caesar sprach sich zuletzt Lefèvre 2008, S. 225–238 aus. 1116 Die aggressive Tonlage gegen Caesar zeigt sich besonders deutlich in Ciceros letztem, wenn auch nicht dialogischem Werk De officiis: Cic. off. 1,26, 112; 2,26, 28f., 84. 1117 Cic. div. 2,99. 1114

De divinatione

563

Königstitel verliehen werden sollte, was zur Disqualifikation jenes Mediums der natürlichen Mantik beiträgt.1118 Die Tendenz, das dialogische Gespräch zur Rechtfertigung der eigenen Politik der letzten Jahre zu instrumentalisieren, ist uns bereits im Brutus begegnet, in dem die Dialogfigur Brutus ihr Bedauern äußert, dass man nicht auf Cicero gehört habe. 1119 Die dort immer wieder von den Gesprächspartnern gebrochene Devise, über die Politik kein Wort zu verlieren, ist in De divinatione 2 verschwunden, stattdessen lässt der Autor nun seine eigene Dialogfigur als Zeitzeuge Kommentierungen vornehmen, die mit der Diskussion um die Sinnhaftigkeit bestimmter mantischer Deutungen verwoben werden. Besonders schlecht kommen dabei die haruspices weg: Pompeius habe während des Bürgerkriegs zu sehr auf diese geachtet, wie er selbst und sein Bruder (tibi praesertim qui interfuisti) durch ihren Aufenthalt in Griechenland miterleben konnten, und eben dessen Schicksal habe deren Wirkungslosigkeit gezeigt.1120 c)

Cicero als Schriftsteller und Übersetzer

Dass es sich bei dem im Dialog dargestellten Gespräch nicht nur um eine Kommunikation zwischen den Figuren Marcus und Quintus handelt, sondern auch um eine zwischen dem Autor und dem Leser, zeigt sich – wie in De legibus und im Brutus – daran, dass durch die Quintus-Figur gezielt Passagen aus dem literarischen Œuvre Ciceros aufgegriffen und den Äußerungen der Dialogfigur des Autors gegenübergestellt werden.1121 Dieses literarische Profil wird bereits direkt zu Beginn des Dialogs deutlich, indem die Lektüre seines Werkes De natura deorum als Auslöser der philosophischen Auseinandersetzung fungiert. 1122 Indem der Auslöser des philosophischen Diskurses über die divinatio auf der Lektüre dreier auf Latein verfasster Werke basiert, wird der Nutzen von Ciceros literarischem Projekt durch den Dialog in Szene gesetzt und für den Leser illustriert. Die Cicero-Figur unterstreicht dieses Unterfangen dadurch, dass sie erneut auch als Übersetzer fungiert und im eigenen Vortrag lateinische Äquivalente oder erläuternde Umschreibungen für griechische Termini anbietet.1123 Ciceros Fähigkeiten als Übersetzer und Kenner griechischer Literatur werden auch durch das Zitat einer längeren Passage aus der Odyssee deutlich, was an De natura 1118

Cic. div. 2,110–112. Cic. Brut. 266. 1120 Cic. div. 2,53; die Stelle wurde von Blänsdorf als eine durch die Erfahrungen des Bürgerkriegs bedingte Abwendung Ciceros von mantischen Praktiken gewertet: Blänsdorf 1991, 57f. 1121 Cic. div. 1,13–16 (Ciceros Arat-Übersetzung), 17–22 (De consulatu suo), 106 (Marius-Gedicht). 1122 Ebd., 1,8f. 1123 Ebd., 2,89 (ζωδιακός), 92 (ὁρίζοντες), 108 (λήμματα, πρόσληψις), 111 (ἀκροστιχίς), 118 (φιλιππίζειν), 124 u. 142 (συμπάθεια).

1119

564

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

deorum erinnert, in dem er Balbus seine Arat-Übersetzung verwenden und loben ließ.1124 Der Bezug auf das eigene literarische Werk erfolgt dabei nie durch die Cicero-Figur selbst, sondern stets durch dessen Gesprächspartner, wodurch der Autor die Möglichkeit erhält, kontextualisierende Aussagen über frühere Schriften zu treffen, ohne dass die gleichnamige Figur ein anmaßendes oder eitles Auftreten innerhalb der Dialogsituation zeigt.1125 d)

Zusammenfassung

Es lässt sich konstatieren, dass die Cicero-Figur auch in De divinatione von einer unverkennbaren Vielschichtigkeit geprägt ist. Als Stellvertreter des Autors fungiert sie nicht nur als Sprecher der Akademie des Karneades, dessen Prinzip der Zurückhaltung des eigenen iudicium sie am Ende ihres Vortrags herausstellt,1126 sondern illustriert zudem das Spannungsfeld zwischen jener Philosophie und der von der gründlichen Einhaltung religiöser Riten geprägten Realität des Staatsmanns. Mit diesem Konflikt wird sie besonders durch die Figur des eigenen Bruders konfrontiert. Es kommt darin eine Ambiguität des Autors zum Ausdruck, die zwar für den modernen Leser nicht völlig befriedigend geklärt werden kann, für den antiken jedoch keinen Zweifel daran lässt, dass der Staatsmann Cicero stets um die Einhaltung der Riten bemüht war, während der gleichnamige Philosoph das otium als Ort der philosophischen Debatte nutzt, in der die divinatio in den Bereich der superstitio gerückt werden darf. Trotz des unpolitischen Settings lässt sich dabei eine verstärkt politische Note der Figurengestaltung erkennen, indem die römischen exempla auf wichtige Ereignisse der politischen Gegenwart Bezug nehmen. Die Wertung Caesars als Tyrann weist bereits auf eine Wende im Leben des Autors hin, die noch während der Arbeiten an De divinatione eintrat: die Rückkehr aus der durch Caesars Diktatur entstandenen Passivität in den politischen Alltag der Übergangszeit bis zur Konstituierung des Triumvirats. Während Cicero in der literarischen Welt des Dialogs als Geburtshelfer eines lateinischen philosophischen Diskurses auftritt, den er von der Lektüre seiner Werke ausgehen lässt, kündigt sich bereits seine tragische Rolle im Überlebenskampf der Republik an, indem er gegen den ermordeten Diktator Stellung bezieht.

1124

Cic. div. 2,63; nat. deor. 2,104–114. Beachtung verdient in diesem Kontext die Interpretation Krostenkos, nach der die Zitate auf eine Distanzierung des Autors von seinen früheren dichterischen Werken hinweisen: Krostenko 2000, S. 380–385. 1126 Cic. div. 2,150.

1125

De fato

9

565

De fato

Der nur fragmentarisch erhaltene Dialog De fato bildet den dritten und abschließenden Teil von Ciceros Werktrias zur Religionsphilosophie, die mit De natura deorum eingeleitet wurde und deren mittlerer Teil De divinatione bereits auf eine weitere Abhandlung verweist.1127 Der erhaltene Text verfügt über drei größere Lücken, welche seine Auswertung und Einordnung erschweren: Zum einen setzt der Text erst am Ende des Proömiums ein, wodurch unklar ist, ob es einen Widmungsträger gab und wer dies gegebenenfalls war, zum anderen fehlen der Übergang vom Einleitungsgespräch zu der Cicero-Rede sowie der Schluss.1128 Das Werk entstand zwischen März und Juni des Jahres 44, also zur Zeit der durch die Ermordung Caesars ausgelösten politischen Wirren und unklaren Machtverhältnisse, als der Autor sich noch nicht zu seinem späteren strikt gegen Antonius gerichteten Kurs durchgerungen hatte.1129 Auf diese komplexe Gemengelage muss vor den Einzeluntersuchungen eingegangen werden, da Cicero die Gegenwart als dramatischen Zeitpunkt seines Dialogs verwendet. Dessen Situation hat sich im Vergleich zu den letzten beiden Jahren grundlegend geändert: Mit dem Tod Caesars am 15. März 44 endete die politische Isolation des Autors, der daraufhin versuchte, wieder eine tragende Rolle in der res publica einzunehmen.1130 Als dienstältester Konsular genoss er immer noch ein gewisses Prestige, das ihn aus Sicht der Verschwörer zu einem potentiellen Verbündeten machte.1131 Sein anfänglicher Optimismus, der durch den von ihm als Tyrannenmord empfundenen Tod Caesars ausgelöst wurde, wich schnell der nüchternen Feststellung, dass die Tyrannis nicht mit dem Tyrannen untergegangen war.1132 Der Startschuss für Ciceros entschlossenes Vorgehen gegen Antonius waren bekanntlich seine philippischen Reden im Herbst des Jahres 44.1133 Der Beginn seiner persönlichen Feindschaft zu Antonius lässt sich spätestens auf den 22. April des

1127

Cic. div. 1,27; 2,3. Zu Inhalt und Länge der verlorenen Passagen s. Eisenberger 1979. 1129 Ausführlich zur Datierung s.: Schallenberg 2008, S. 38–41; ferner: Bayer 1963, S. 112; Bringmann 1971, S. 171. 1130 Vgl. Gotter 1996a, S. 126. 1131 So sollte er gleich zu Beginn die Verhandlungen mit Antonius übernehmen, was er jedoch ablehnte: S. hierzu: Bringmann 2010, S. 246. 1132 Cic. Att. 14,14 = 368 Sh. B.,2: sublato enim tyranno tyrannida manere video; vgl. Gotter 1996a, S. 126. In der zerfahrenen politischen Lage, die sich schon zwei Tage nach den Iden des März darin zeigte, dass es einerseits nicht möglich war, die von Caesar getroffenen Entscheidungen mit der Begründung auszusetzen, dass jener ein Tyrann gewesen sei, dass aber andererseits ohne diese Legitimation sein Mord nicht als Tyrannenmord klassifiziert werden durfte, was das Handeln der Caesarmörder illegitim machte, kommt es durch Cicero zur Einigung auf die politische Amnestie für den Kreis um Brutus. Vgl. Bringmann 2010, S. 246. 1133 Vgl. Gotter 1996a, S. 107. 1128

566

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

gleichen Jahres datieren und wurde offenbar durch die Fälschung der acta Caesaris sowie die daraus resultierende Einmischung des Antonius in Ciceros Klientel verursacht.1134 Am 26. April klassifiziert Cicero Antonius in einem Brief an Atticus erstmals als neuen, ja sogar schlimmeren Caesar, nachdem jener ihn sehr selbstgefällig zur Rückberufung von Clodius’ Sohn aus dem Exil aufgefordert hatte.1135 Im selben Brief gibt er unmissverständlich zu erkennen, dass er fest mit einer neuen kriegerischen Auseinandersetzung rechne und ihm eine Neutralität wie unter Caesar diesmal wohl verwehrt sein wird (neque enim iam licebit, quod Caesaris bello licuit, neque huc neque illuc).1136 Im Mai des Jahres kommt es zu den oben bereits erwähnten Verhandlungen mit den gemäßigten Caesarianern, die er auf die Seite von Brutus und Cassius bringen wollte.1137 Noch im Juni 44, ehe jene beiden im August Italien verließen, wird Cicero auf den jungen Octavius aufmerksam und hofft, diesen gegen den im Lager der Caesarianer an Einfluss gewinnenden Antonius in Stellung bringen zu können.1138 Im Juli fasst er den Plan, Italien in Richtung Griechenland zu verlassen, muss die Reise jedoch zweimal wegen schlechtem Wetter abbrechen, ehe er sich am 18. August nach langen Überlegungen und auf Bitten des Brutus hin für die Rückkehr nach Rom entscheidet.1139 Die anschließende Zeit ist geprägt von der scharfen Auseinandersetzung mit M. Antonius, bei der Cicero ohne Zweifel die Konfrontation mit seinem Widersacher gesucht hat. Der Dialog De fato entsteht demnach in einer Zeit, in der der Autor auf Seiten der Caesarmörder wieder politisch tätig ist und seinen politischen Hauptgegner in Marcus Antonius sieht, dies jedoch noch nicht – wie später in den Philippica – offen zum Ausdruck bringt. Wie viele seiner Standesgenossen hatte er Anfang April 44 Rom verlassen und seine Landgüter besucht, wo er politische Beratungen abhielt, während er gleichzeitig beabsichtigte, im Juli mittels eines Sonderkommandos, einer legatio libera, nach Athen zu gelangen.1140 In eben jenen historischen Kontext politischer Verhandlungen situiert Cicero den Dialog: Als Ort des Gesprächs zwischen ihm selbst und Aulus Hirtius dient seine Villa in Puteoli, in der er sich – wie uns die Atticuskorrespondenz verrät – am 21. April tatsächlich aufhielt und Gespräche mit Hirtius führte, ehe er am 17. Mai zu seinem Tusculanum aufbrach.1141 Wie zuvor in De divinatione fällt das dramatische Datum auf eine gegenwartsnahe Zeit, doch wird der konkrete historische Anlass noch deutlicher, so dass die Grenzen zwischen Fiktion und Wirk-

1134

So Gotter 1996a, S. 50 u. 128. Cic. Att. 14,13 = 367 Sh. B.,6; vgl. Bringmann 2010, S. 248. 1136 Cic. Att. 14,13 = 367 Sh. B.,2. 1137 Vgl. Bringmann 2010, S. 250. 1138 Vgl. ebd., S. 254. 1139 Vgl. ebd., S. 255. 1140 Vgl. Schallenberg 2008, 33. 1141 Cic. Att. 14,11 = 365 Sh. B., 2. 1135

De fato

567

lichkeit stark verschwimmen. 1142 Die Konzipierung des Werks erfolgte sehr wahrscheinlich noch während seiner Arbeiten an dem Dialog De divinatione.1143 Auch in De fato begnügt sich Cicero mit nur einer weiteren Dialogfigur, welche aber im eigentlichen Hauptteil keinen Redepart erhält und nach dem Eröffnungsgespräch – zumindest in dem erhaltenen Text – nur als stummer Zuhörer in Erscheinung tritt.1144 Dennoch hält der Autor an der Dialogform fest, sodass sich die Frage aufdrängt, warum der Autor diese literarische Form, welche die Präsenz eines Gesprächspartners verlangt, der des Traktats vorzieht. Dies verwundert umso mehr, als die Hirtius-Figur auf die inhaltliche Darstellung des Sachverhalts im erhaltenen Text keinen Einfluss nimmt und dies wohl auch im verlorenen Text nicht getan haben dürfte. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, bieten möglicherweise der politische Kontext der Abfassungszeit und ein bestimmtes politisches Kalkül ein Indiz hinsichtlich der Frage, warum der Arpinate eine über weite Teile monologe Dialogform gegenüber der nichtmonologischen Form präferierte.

9.1

A. Hirtius

a)

Historische Persönlichkeit

Unser Wissen über das Leben des Aulus Hirtius ist wie bei vielen anderen ciceronischen Dialogfiguren unvollständig. Sein Geburtsjahr ist unbekannt, jedoch lässt sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vermuten, dass er kurz vor 85 in Ferentinum geboren wurde, womit er zum fiktiven Gesprächszeitpunkt etwa das typische Alter römischer Konsuln hatte.1145 Er trat während des gallischen Krieges in den Dienst Caesars und übernahm dort bald als Sekretär zivile Aufgaben, wobei sich nicht ausschließen lässt, dass er auch kriegerische Kommandos führ-

1142

Vgl. hierzu Grimal 1988, S. 483f.: „Angesichts einer so wirklichkeitsnahen historischen Kulisse kann man kaum mehr von literarischer ‚Fiktion‘ sprechen.“ 1143 Dass dabei, wie in der Forschung aufgrund einer Anspielung der Quintus-Figur in De divinatione vermutet wurde, ursprünglich Quintus als Gesprächspartner vorgesehen war, lässt sich nicht belegen. Dagegen spricht, dass Cicero auch zuvor bei Anschlussdiskussionen das dialogische Personal austauschte, wie die Beispiele De re publica / De legibus und De natura deorum / De divinatione zeigen. Einen Forschungsüberblick hierzu liefert Schallenberg 2004, S. 35f., Anm. 9. 1144 Ein Gegenvortrag des Gesprächspartners im Stil des akademischen in utramque partem disserere war möglicherweise ursprünglich geplant, wurde jedoch letztlich ausgespart. Vgl. Schallenberg 2008, S. 88. 1145 Zum Geburtsjahr s. Cristofoli 2010, S. 462.

568

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

te.1146 Im Dezember 50, also unmittelbar vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs, befand sich Hirtius auf Geheiß Caesars in Rom, um die Verhandlungen mit Pompeius und dem Senat zu führen. In einem auf den 11. Dezember desselben Jahres datierten Brief Ciceros an Atticus wird er als familiarissimus mit Caesars bezeichnet, woraus ersichtlich wird, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits zum engsten Umfeld des künftigen Diktators gehörte.1147 Bald darauf stand Hirtius jedoch auch in einem engen Kontakt mit Cicero, den er sogar vor seinem illoyalen Neffen Quintus warnte, als dieser ihn im April des Jahres 47 bei Caesar anschwärzte.1148 Darüber hinaus erfahren wir, dass jener Neffe zusammen mit dem Caesarianer im Jahre 47 in Antiochia war, worin Cristofoli einen Beleg für das besondere Verhältnis zwischen Hirtius und Cicero sieht.1149 Im Jahr 46 war er Praetor, im Anschluss leitete er die Provinzen Gallia Transalpina und Narbonensis.1150 Aus der Korrespondenz mit Paetus erfahren wir, dass Cicero im selben Jahr Hirtius zusammen mit Dolabella Unterricht erteilte (Hirtium ego et Dolabellam dicendi discipulos habeo).1151 Cicero, der sich in jener Zeit politisch zurückgezogen hatte, erweckt in der weiteren Korrespondenz nicht den Eindruck, als ob ihm der Rhetorikunterricht für die beiden Caesarianer viel Freude bereiten würde.1152 Trotz Hirtius’ Werben um seine Person zeigt Cicero eine innere Distanz, die vermutlich politisch oder durch seine persönliche Abneigung gegenüber Genussmenschen bedingt war.1153 Einen guten Einblick in das ambivalente Verhältnis der beiden gewährt ein Brief, den Cicero am 13. Mai von Astura aus nach Rom schickte:1154 Et Hirtium aliquid ad te συμπαθῶς de me scripsisse facile patior (fecit enim humane) et te eius epistulam ad me non misisse multo facilius; tu enim etiam humanius. ilius librum, quem ad me misit de Catone, propterea volo divulgari a tuis ut ex istorum vituperatione sit illius maior laudatio.

1146

Vgl. Von der Mühll 1913, Sp. 1956f. Cristofoli 2010, S. 464 hält es aufgrund späterer Belege für sehr wahrscheinlich, dass Hirtius in Gallien neben zivilen auch militärische Aufgaben wahrnahm. 1147 Cic. Att. 7,4 = 127 Sh. B.,2; vgl. Cristofoli 2010, S. 464f. 1148 Cic. Att. 10,4 = 195 Sh. B.,6; vgl. Cristofoli 2010, S. 465. 1149 Cic. Att. 11,20 = 235 Sh. B.,1; Cristofoli 2010, S. 466. 1150 Zur Praetur s. MRR 2, S. 295; Cristofoli 2010, S. 467f. 1151 Cic. fam. 9,16 = 190 Sh. B.,7; vgl. ebd., 9,18 = 191 Sh. B.,1 u. 3; 9,20 = 193 Sh. B.,1– 3. 1152 Kerschensteiner 1986, S. 566 spricht hinsichtlich der Briefe an Paetus von „Galgenhumor“ des Autors bei der Beschreibung jener Schülerschaft. 1153 Eine Nähe zum Epikureismus lässt sich nicht beweisen, doch sympathisierte Hirtius möglicherweise wie andere Aristokraten um Caesar mit jener Schule: vgl. Empli 2000, S. 803. 1154 Cic. Att. 12,44 = 285 Sh. B.

De fato

569

Dass Hirtius Dir mit Teilnahme über mich geschrieben hat, freut mich zu hören, und ich bin ihm dankbar für seine zarte Rücksichtsnahme, aber noch dankbarer bin ich Dir, dass Du mir seinen Brief nicht beigelegt hast, denn damit hast Du Dich als noch rücksichtsvoller erwiesen. Seine mir übersandte Broschüre über Cato möchte ich deshalb von Deinen Leuten verbreitet sehen, damit der Tadel aus dem Munde dieser Menschen seinen Ruhm nur um so heller erstrahlen lässt.

Hirtius bemühte sich demzufolge um die Sympathie Ciceros und es ist nicht unwahrscheinlich, dass er damit rechnete, dass Atticus jenem seine teilnahmsvollen Worte zum Tod von Ciceros Tochter zukommen lassen würde. Zugleich wird eine scheinbar unüberwindbare Kluft zwischen beiden deutlich, wenn es um den Nachruhm des gerade verstorbenen Caesargegners Cato geht. Dabei kommt Ciceros abschätzige Meinung gegen Hirtius klar zum Vorschein, indem er sich von dem Tadel der Catogegner (ex istorum vituperatio) mehr Glanz für seine Cato-Laudatio erhofft.1155 Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass Cicero zu jenem Zeitpunkt ernste Zweifel hinsichtlich der Personalie des Hirtius, einem Caesarianer ersten Ranges, hatte.1156 Betrachtet man Hirtius’ Verhalten unmittelbar nach dem Tod Caesars, so erscheint es plausibel, dass dieser schon zu Lebzeiten Caesars um einen Ausgleich mit den republikanischen Eliten bemüht war: Ein Brief von Decimus Brutus an die Köpfe der Verschwörung, Iunius Brutus und Cassius, zeigt, dass Hirtius bereits vier Tage nach den Iden als Mittelsmann zwischen den Fronten der Caesarianer und der Caesarmörder agierte.1157 Demnach habe er Brutus und Cassius über die Position des Antonius informiert und dabei seine Skepsis über jenen zum Ausdruck gebracht.1158 Unter den Caesarianern selbst plädierte er am 16. März 44 für den Ausgleich mit den Verschwörern und stellte sich damit gegen ein von Lepidus favorisiertes gewaltsames Vorgehen. 1159 Sein Aufenthalt bei Cicero in dessen Villa in Puteoli muss ebenfalls im Kontext diplomatischer Bemühungen zwischen den Fraktionen der Caesarianer, Verschwörer und Republikaner gesehen werden. Die Strategie der Republikaner, Hirtius gegen Antonius auf ihre Seite zu ziehen, war letzten Endes erfolgreich, da auch Antonius’ Politik das Lager der Caesarianer spaltete.1160 Nach dem Ausbruch des Bürgerkrieges im Dezember 44 starben die Konsuln Hirtius und Pansa im Frühjahr 43 nach der Schlacht bei Mutina.1161

1155

S. auch: Cic. Att. 12,44 = 285 Sh. B.,1; vgl. Att. 12,45 = 290 Sh. B.,2. Hierzu ausführlicher: Bringmann 1971, S. 194f. 1157 Cic. fam. 9,1 = 325 Sh. B., 1; vgl. Gotter 1996a, S. 23; Kerschensteiner 1986, S. 566. 1158 Vgl. Gotter 1996a, S. 28. 1159 Vgl. ebd., S. 23. 1160 S. hierzu: ebd., S. 67–69. 1161 Vgl. Blösel 2015, S. 251f. 1156

570 b)

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Hirtius als um Eintracht und Frieden bemühter Staatsmann

Bereits die Beschreibung der Dialogsituation von De fato spielt direkt auf die Verhandlungen im Frühjahr 44 an und verweist damit auf die politischen Rahmenbedingungen, unter denen das Gespräch damals stattfindet:1162 nam cum essem in Puteolano Hirtiusque noster, consul designatus, isdem locis, vir nobis amicissimus et his studiis, in quibus nos a pueritia viximus, deditus. multum una eramus, maxime nos quidem exquirentes ea consilia, quae ad pacem et ad concordiam civium pertinerent. cum enim omnes post interitum Caesaris novarum perturbationum causae quaeri viderentur iisque esse occurrendum putaremus, omnis fere nostra in his deliberationibus consumebatur oratio: idque et saepe alias et quodam liberiore, quam solebat, et magis vacuo ab interventioribus die. cum ad me ille venisset, primo ea, quae erant cottidiana et quasi legitima nobis, de pace et otio. Als ich auf meinem Landgut in Puteoli war, hielt sich unser Hirtius, der designierte Konsul, in der gleichen Gegend auf, ein mir eng befreundeter Mann, der den geistigen Bestrebungen, mit denen mein Leben von Jugend auf erfüllt war, zugetan ist. Wir waren viel zusammen, wobei wir vor allem solche Maßnahmen erörterten, die für den Frieden und die Eintracht unter den Bürgern dienlich sein könnten. Da es nämlich den Anschein hatte, dass man nach Caesars Fall alle möglichen Gründe für neue Verwirrungen suchte, wir aber der Meinung waren, dass man diesem Treiben Einhalt gebieten müsse, befasste sich fast unser ganzes Gespräch mit Überlegungen dieser Art. So war es oftmals; auch an einem Tage, der mehr Muße bot als gewöhnlich und weniger von störenden Besuchern in Anspruch genommen war, bewegte sich, nachdem Hirtius zu mir gekommen war, unsere Unterhaltung zuerst um die Themen, die uns fast wie ein tägliches Programm beschäftigten, nämlich um Frieden und Ruhe im Staate.

Mit der Anspielung auf die politischen Wirren nach Caesars Tod (post interitum Caesaris) wird die philosophische Diskussion erneut in den Kontext politischer Gespräche über die Zukunft des Staates eingebettet und diesen symbolisch untergeordnet, wodurch der Vorrang der letzteren zum Ausdruck gebracht wird. Anders als in früheren Dialogen ist die politische Krise zur Entstehungszeit von De fato keineswegs historisch oder abgeschlossen, sondern Teil der unmittelbaren Gegenwart und ihr Ausgang – passend zur philosophischen Frage – noch offen. In dieser diffizilen Gemengelage präsentiert der Autor beide Gesprächspartner als politische Gesinnungsgenossen, welche sich gemeinsam um die concordia civium – was an Ciceros programmatische Forderung einer concordia

1162

Cic. fat. 2. Der lateinische Text von De fato folgt der Ausgabe von Giomini, die Übersetzung stammt, wenn nicht anders vermerkt, von Bayer.

De fato

571

omnium bonorum aus den 50er Jahren erinnert1163 – und um die Abwendung des drohenden Unheils bemühen. Die persönliche Nähe des Hirtius wird sowohl durch einen Verweis auf das Freundschaftsverhältnis (vir nobis amicissimus) als auch durch das gemeinsame philosophische Interesse zum Ausdruck gebracht. Explizit wird sein politisches Amt, das Konsulat für das Jahr 43, durch die Bezeichnung als consul designatus hervorgehoben. Da das persönliche Verhältnis zwischen dem Autor und der historischen Persönlichkeit durchaus zwiespältig war, wie oben gezeigt wurde, waren bei der Entscheidung für diese Personalie offensichtlich politische Aspekte ausschlaggebend.1164 Das Erscheinen als Dialogfigur stellte zunächst, wie wir am Beispiel des Varro gesehen haben, eine Form der persönlichen Ehrung dar, doch erscheint die Frage berechtigt, inwieweit das Hervorheben der gemeinsamen Friedensabsicht von Cicero auch dazu gedient haben könnte, Hirtius, der bereits designierter Konsul für das kommende Jahr war, für die Sache der Caesarmörder zu vereinnahmen.1165 Im Zusammenhang mit dieser Fragestellung lässt sich eine frappierende Nähe des Dialogsettings zum zeitgeschichtlichen Geschehen feststellen, auf die im Folgenden eingegangen werden soll. Dass Cicero tatsächlich darum bemüht war, ihn für sein politisches Lager zu gewinnen, geht aus der Korrespondenz klar hervor.1166 Bei den realen Gesprächen der beiden, die im Mai 44 fern von Rom stattfanden, musste Cicero jedoch zu seiner Ernüchterung feststellen, dass sein ehemaliger Schüler der Person Caesar noch sehr verbunden war (meus vero discipulus […] valde amat illum quem Brutus noster sauciavit) und seine Fraktion den Frieden fürchtete (timent otium).1167 Cicero musste seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt und sein politisches Vermächtnis bedroht sehen.1168 Allerdings wird Hirtius’ Verbundenheit mit Caesar in De fato ebenso verschwiegen wie Ciceros Skepsis gegenüber seinem Gast und seine Zusammenarbeit mit den Caesarmördern, wohingegen die einende Friedensabsicht betont wird: Beide werden als Politiker gezeigt, die sich

1163

Adamczyk 1961, S. 299 erkennt hierin eine Anspielung auf jene programmatische Forderung Ciceros. 1164 So auch u.a.: Bringmann 1971, S. 194–195; Schallenberg 2008, S. 37; Begemann 2012, S. 25. 1165 Einen sehr ausführlichen Überblick über die diversen und voneinander abweichenden Forschungspositionen gibt: Schallenberg 2008, S. 38, Anm. 26. Dass es dabei tatsächlich um eine aktive Form der Vereinnahmung ging, vertrat zuletzt auch Begemann 2012, S. 25. 1166 In einem Brief an Atticus von Mitte Mai heißt es: Cic. Att. 14,21 = 375 Sh. B.,4: postridie apud Hirtium cogitabam et quidem Πεντέλοιπον. sic hominem traducere ad optumatis paro. – „Morgen gedenke ich bei Hirtius zu speisen, dem einzigen, der von dem ‚fünfblättrigen‘ Kleeblatt noch da ist. So fange ich es an, einen Menschen zu den Optimaten hinüberzuziehen.“ 1167 Ebd., 14,22 = 376 Sh. B.,1. 1168 Vgl. Strasburger 1990, S. 47f.

572

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

trotz der betont widrigen Umstände unermüdlich um den innenpolitischen Frieden (de pace et otio) bemühen. Der Verwendung des Hirtius selbst sowie der spezifischen Art seiner Darstellung kann durchaus ein appellierender Charakter attestiert werden, der den Leser Hirtius an ein gemeinsames Ziel erinnern sollte. Indem der literarisch interessierte Adressat selbst in einem von Ciceros Werken in Erscheinung tritt, wird der ermahnende Beiklang durch eine gleichzeitige Ehrerweisung in dezidiert diplomatischer Form übermittelt. Dass er dadurch auf die Seite der Optimaten gezogen oder seine Position unter den Caesarianern geschwächt werden sollte, ist zweifelhaft, da der Leser sich stets darüber im Klaren ist, dass die Figur ein Kunstprodukt des Autors darstellt. 1169 Zugleich lässt sich überlegen, ob Hirtius nicht umgekehrt dem Lager der Caesarmörder empfohlen werden sollte, da seine Nähe zum Konsular Marcus Tullius Cicero ostentativ betont wird. Dies erscheint angesichts der Tatsache, dass Brutus ohne Zweifel zu den ersten Lesern von Ciceros Werken gehörte, plausibel. Hier wird erneut der kommunikative Rahmen des Gegenwartsdialogs deutlich: die literarische Figur erscheint als Repräsentant der historischen Persönlichkeit. Der philosophische Dialog knüpft dabei an eine existierende Kommunikation an. Indem an die gegenseitige Verbundenheit und eine gemeinsame Zielsetzung (pax et otium) appelliert wird, kommt es zur Fortsetzung dieser Kommunikation. c)

Hirtius als philosophisch interessierter Schüler

Während die politische Gemeinsamkeit nur umrisshaft angedeutet wird, wird Cicero bei der Beschreibung der gemeinsamen intellektuellen Interessen deutlich: Gleich zu Beginn des uns erhaltenen Textes wird Hirtius als Person vorgestellt, die „den geistigen Studien“ sehr zugetan sei (his […] studiis deditus)1170, was dialogintern seine fachliche Eignung als Gesprächsfigur unterstreicht. 1171 Nachdem die Hirtius-Figur als designierter Konsul und Friedenspolitiker vorgestellt wurde, zeigt sie sich als kultivierter Gast, indem sie – und nicht die CiceroFigur – das Gespräch auf die Philosophie überleitet:1172 quid ergo? […] quoniam oratorias exercitationes non tu quidem, ut spero, reliquisti, sed certe philosophiam illis anteposuisti, possumne aliquid audire?

1169

Vgl. Schallenberg 2008, S. 91, der von einem „weitaus sachlicheren“ realen Verhältnis der beiden Gesprächspartner ausgeht. 1170 Cic. fat. 2. 1171 Wie Cicero Hirtius’ philosophische Fähigkeiten tatsächlich einschätzte, geht aus den Briefstellen nicht hervor. Schallenberg vermutet jedoch, dass Cicero diese eher geringschätzte und er deshalb auf die Form des in utramque partem disserere verzichtet habe: Schallenberg 2008, S. 92. 1172 Cic. fat. 3.

De fato

573

Was können wir jetzt noch tun? Nun – da du ja, wie ich hoffe, deine rednerischen Übungen nicht eingestellt, sondern sicherlich nur der Philosophie den Vorrang vor ihnen eingeräumt hast, könnte ich da wohl etwas hören?

Hirtius erscheint hier, ähnlich wie die Figur des Atticus, als eine Person, die mit den literarischen Studien des Autors bestens vertraut ist. Seine Bitte nach einer Kostprobe, mit der das vorherige Gespräch abgeschlossen wird, weist ihn dabei als Persönlichkeit aus, die philosophischen Studien gegenüber aufgeschlossen ist. Die Cicero-Figur stellt es ihm daraufhin frei, ob er nur zuhören oder auch sprechen möchte, und bestätigt, dass die rhetorischen Studien, für die er Hirtius damals entflammt (te incendi) und als begeisterten Schüler unterrichtet habe (flagrantissimum acceperam), von ihm nicht aufgegeben wurden.1173 Nachdem dadurch an ein früheres Lehrer-Schülerverhältnis erinnert wurde, konstruiert der Dialog ein neues, das die Hirtius-Figur nun nicht mehr als Ciceros Schüler der Rhetorik, sondern der Philosophie ausweist, indem diese dankbar (gratissimum) antwortet:1174 nihil enim umquam abnuit meo studio voluntas tua. (4) sed quoniam rhetorica mihi vostra sunt nota teque in iis et audivimus saepe et audiemus, atque hanc Academmicorum contra propositum disputandi consuetudinem indicant te suscepisse Tusculanae disputationes, ponere aliquid, ad quod audiam, si tibi non est molestum, volo. Denn noch nie hast du dich meinen Wünschen verschlossen. (4) Da mir aber deine rhetorischen Übungen bekannt sind und ich dich schon oft darin gehört habe und noch oft hören werde, und andererseits deine Tusculanae disputationes erkennen lassen, dass du dir diese akademische Gepflogenheit, gegen die vorgelegte These zu disputieren, angeeignet hast, wäre es mir lieb, wenn ich dir ein Thema stellen dürfte, zu dem ich dich hören könnte, wenn es dir nicht unangenehm ist.

Die Stelle verweist nebenbei (rhetorica mihi vostra sunt nota) auf das Jahr 46, in dem Hirtius eine rhetorische Ausbildung bei Cicero absolvierte. Das Schülerverhältnis erscheint im Dialog jedoch in einem anderen Licht als das reale, mit dem Cicero – wie seine damalige Korrespondenz beweist – nicht sonderlich glücklich war.1175 Zwei Jahre nach seinem Rhetorikunterricht findet sich Hirtius erneut als Schüler bei ihm ein, doch nimmt jetzt die Philosophie den Platz der Rhetorik ein, was auf Ciceros Bildungskonzept anspielt, wonach philosophischer Unterricht die rednerische Ausbildung komplettieren solle. Als interessierter Schüler, der sich aus eigenem Antrieb in diesem Fach unterrichten lassen möchte, gleicht Hirtius den adulescentes in den Vergangenheitsdialogen, wodurch dem Leser 1173

Cic. fat. 3. Ebd., 3f. 1175 Besonders deutlich äußert sich Cicero hierzu in seiner Korrespondenz mit Paetus: Cic. fam. 9,16 = 190 Sh. B.,7; 9,18 = 191 Sh. B.,1–3; 9,20 = 193 Sh. B.,1–2. 1174

574

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

erneut eine ideale Haltung veranschaulicht wird. Dass Hirtius auch als Vertreter des Lesers an den philosophischen Autor Cicero herantritt, wird durch die Erwähnung seiner Lektüre der Tusculanae disputationes unterstrichen. Diese habe ihn über Ciceros akademische Verfahrensweise informiert, und ebendiese wünscht er sich für die anstehende Untersuchung.1176 Die im Folgenden wohl monologisch gehaltene Darstellungsform erfährt somit durch den Gesprächspartner eine Berechtigung, indem die vom Autor getroffene Entscheidung, das Thema in dieser Form darzustellen, als höfliches Erfüllen eines Wunsches erscheint. Die exakte Formulierung fiel der Überlieferung zum Opfer und befand sich in der Lacuna B.1177 Im restlichen Text fehlen Wortmeldungen des Hirtius, so dass unklar bleiben muss, ob die Figur in der Rolle des stummen Zuhörers verblieb oder noch eine Kommentierung von seiner Seite erfolgte. d)

Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die Dialogfigur des Hirtius im Wesentlichen zwei konkrete Funktionen erfüllt: eine politisch-kommunikative, die sich aus dem Verhältnis der literarischen Figur und der historischen Persönlichkeit ergeben musste, und eine dialogtechnische, die auch eine beliebige andere Person hätte ausfüllen können. Die politische Funktion, das Werben um einen Politiker des gegnerischen Lagers, erinnert an die Einbindung des Brutus im gleichnamigen Dialog, doch hebt sie sich von jener dadurch ab, dass sie nicht auf einen Gesinnungsgenossen zielt, sondern auf einen überzeugten Caesarianer. Die Besetzung der Dialogfigur mit einer Person, die – anders als etwa Atticus oder Quintus – in der dialogexternen Gegenwart des Autors eine politisch ausschlaggebende Rolle einnahm, ist durchaus als politische Agitation zu verstehen. Das Auftreten des Hirtius als philosophisch interessierter Schüler und Leser von Ciceros Werk erfüllt mehrere Funktionen: Neben dem Ausdruck der Verbundenheit des Autors mit seinem Adressaten wird dadurch an das Bildungsprogramm Ciceros erinnert, wonach der Unterricht in Rhetorik und der in Philosophie einander ergänzen. Der Bildungskontext, der bereits in allen vorherigen Dialogen spürbar war, ist somit auch in De fato präsent. Jene schülerhafte Rolle ist jedoch nur möglich, indem gleichzeitig eine Gleichrangigkeit der beiden nobiles angedeutet wird. Dies geschieht durch das von Freundlichkeit dominierte Gesprächsklima und das Interesse der Dialogfigur, die aus eigenem Antrieb das Gespräch von der Politik auf die Philosophie lenkt und sich eine philosophische disputatio ausdrücklich wünscht. Auf diese Weise fügt sich das von Cicero entworfene Hirtius-Porträt nahtlos in die Reihe der bisherigen Gesprächspartner ein, anhand

1176

Cic. fat. 4: Ita, inquit, audiam te disputantem, ut ea lego, quae scripsisti […]. – „In der Art will ich dich disputieren hören“, erwiderte Hirtius, „wie sich das liest, was du geschrieben hast.“ 1177 Vgl. Schallenberg 2008, S. 495; Begemann 2012, S. 25.

De fato

575

derer der Autor das Gemälde einer römischen Aristokratie entwirft, welche sich zunehmend mit der griechischen Philosophie auseinandersetzt.

9.2

M. Tullius Cicero

a)

Cicero als Politiker und Lehrer des Hirtius

Durch die Anspielung auf das zeitgeschichtliche Geschehen lässt sich der Dialogfigur Cicero zunächst ein politisches Profil attestieren: Sie und Hirtius geben sich bereits in der Einleitung des Werkes als um politische Eintracht bemühte Friedenspolitiker zu erkennen.1178 Aufgrund des historischen Kontextes von De fato muss hierbei ein starker Leserbezug angenommen werden, vor dem sich der Autor selbst zu einem friedfertigen und konsensorientierten Staatsmann stilisieren möchte. 1179 Jene adressatenbezogene Selbstdarstellung, welche die eigene Seite klar als die moralisch überlegene zeigt, führt die gegnerische als die schlechtere, die kriegstreibende (omnes post interitum Caesaris novarum perturbationum causae quaeri viderentur) vor.1180 Dass dabei eine namentliche Nennung der Unruhestifter ausbleibt, spiegelt möglicherweise die Hoffnung, weitere Politiker, auch gemäßigte Kräfte unter den Caesarianern, für seine Linie zu gewinnen. Zwischen Mitte April und Ende Mai 44 dürfte der Leser den Satz als Anspielung auf den erst am 13. April hingerichteten sogenannten falschen Marius oder jene Caesarianer, die wie Gaius Matius und Antonius einen offenen Konfrontationskurs gegenüber den Caesarmördern fuhren, verstanden haben.1181 Neben jenem selbstdarstellerischen Auftreten präsentiert sich die CiceroFigur parallel zu der des zum Schüler stilisierten Hirtius in der Rolle eines Lehrers. Dabei tritt sie betont zurückhaltend auf und lässt sich von jenem darum bitten, ihm etwas aus der Philosophie zu berichten, welche er angeblich der Redekunst vorziehen würde.1182 Auf diese Vorlage reagiert er zunächst dezidiert zuvorkommend, indem er es dem Gesprächspartner überlässt, ob er Zuhörer oder 1178

Cic. fat. 2; vgl. Schallenberger 2008, S. 92. Vgl. Bringmann 2010, S. 251. 1180 Cic. fat. 2. 1181 Vgl. Bringmann 2010, S. 248f.; zur hoffnungsvollen Reaktion Ciceros auf den Tod des falschen Marius: Cic. Att. 14,17A = 371A Sh. B.; fam. 9,14 = 326 Sh. B.; seine Bedenken gegenüber C. Matius teilt Cicero am 7. April Atticus mit, wobei er das moderatere Auftreten des Caesarianers Oppius dem des Matius entgegenstellt: Cic. Att. 14,1 = 355 Sh. B.,1: o prudentem Oppium! qui nihilo minus illum desiderat, sed loquitur nihil, quod quemquam bonum offendat – „Da lobe ich mir Oppius mit seiner Zurückhaltung, der IHN nicht weniger schmerzlich vermisst, aber kein Wort über seine Lippen kommen lässt, das einen Optimaten verletzen könnte“; ähnlich: Att. 14,4 = 358 Sh. B.,1. 1182 Cic. fat. 2. 1179

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Sprecher sein möchte. 1183 Anschließend greift er die Feststellung des Hirtius bezüglich seiner gegenwärtigen Präferenz für Philosophie (oratoria illa studia deserui) auf und nutzt die Gelegenheit, ihren Nutzen für die Redekunst (augent […] illam facultatem) und die „enge Verbindung“ (magnam societatem) zwischen jener und der akademischen Philosophie herauszustellen. Der Gedanke, wonach die Beschäftigung mit Philosophie eine Ergänzung der Rhetorik liefere, legitimiert diese im Vorfeld des philosophischen Diskurses.1184 In dieser Selbstpositionierung tritt der Autor als philosophischer Lehrer seines begeisterten Schülers (flagrantissimum acceperam) auf, der von ihm bereits in der Rhetorik unterrichtet wurde. 1185 Die philosophische Unterweisung erscheint erneut als krönender Abschluss der rhetorischen Ausbildung und dem römischen Staatsmann als angemessen. Im Kontext der politischen Krise präsentiert sie sich daher nicht als Rückzug von der politischen Verantwortung, sondern als Stärkung für kommende Herausforderungen. b)

Die Cicerofigur im Kontext der Gesprächsethik

Der angedeuteten bedrohlichen Lage der res publica, in der das Gespräch stattfindet, scheint der Autor eine bewusst harmonische Dialogszenerie entgegenzustellen. Die Cicero-Figur begegnet dem freundlichen und respektvollen Verhalten des Gesprächspartners mit nicht geringerer Freundlichkeit, wodurch das von humanitas und urbanitas geprägte Gesprächsklima die Friedenssehnsucht widerspiegelt. Gleichzeitig wird der Eindruck eines aufdringlichen und schulmeisterhaften Auftretens der Cicero-Figur von Anfang an dadurch umgangen, dass sie nicht ungefragt über das Thema referiert, sondern damit explizit dem Wunsch des Hirtius nachkommt. Weiterhin überlässt sie ihm die Entscheidung, ob über Rhetorik oder Philosophie gesprochen werden solle, wodurch sie nicht nur betont zuvorkommend agiert, sondern auch ihre Kompetenz, selbst über beides referieren zu können, unterstreicht. Hirtius nimmt im Folgenden die Option dankend an, selbst nicht sprechen zu müssen, und bittet freundlich (si tibi non est molestum) ein Thema vorschlagen zu dürfen, über das er Cicero gerne sprechen hören würde.1186 Nicht weniger freundlich entgegnet ihm dieser zunächst, dass ihm nichts lästig sein könne, was ihm gefalle (an mihi […] potest quicquam esse molestum, quod tibi gratum futurum sit?), und betont anschließend, dass er ihn als Römer hören werde, der sich schüchtern an die Materie heranwage (timide ingredientem) und diese nach nach langer Unterbrechung wieder begonnen habe (ut longo intervallo haec studia repetentem). Die sich bescheiden gebende Anspielung auf die eigene Unzulänglichkeit, die er als Romanus homo im Hinblick

1183

Cic. fat. 3. Vgl. Schallenberg 2008, S. 92f. 1185 Vgl. Begemann 2012, S. 24. 1186 Cic. fat. 4. 1184

De fato

577

auf die anstehende philosophische Untersuchung angeblich aufweist, illustriert hierbei erneut den Prozess der Aneignung griechischer Philosophie in Rom. Gleichzeitig wird ein Vorrang der Politik und die Selbsteinschätzung als Politiker statt als Philosoph angedeutet, der seine Studien zudem lange unterbrochen habe.1187 Die Rolle Ciceros wirkt im Vergleich zu der seines Gesprächspartners aufgrund der fehlenden Gegenrede einerseits „überlegen“, 1188 doch wird diese Asymmetrie durch das Auftreten des Hauptredners zumindest teilweise kaschiert, indem er die Hirtius-Figur die das Gespräch konstituierenden Entscheidungen treffen lässt. Die humanitas der Dialogfigur Cicero verstärkt zusätzlich den Anschein, dass es sich bei den als geeinte Friedenspolitiker zusammenfindenden Aristokraten um primi inter pares handelt. c)

Cicero als Verteidiger der Willensfreiheit

In seiner Rede geht die Cicero-Figur in ähnlich kritischer Manier gegen die stoische Konzeption der εἱμαρμένη vor, wie sie in De divinatione gegen die μαντική vorging, worin er der Tradition der Neuen Akademie des Karneades folgt.1189 Neben seinem einstigen Lehrer Poseidonios1190 stehen mehr noch Chrysipp und der Megariker Diodoros Kronos als Vertreter eines harten Determinismus, Epikur dagegen als Vertreter des Indeterminismus im Zentrum der kritischen Auseinandersetzung. 1191 Als Verteidiger des freien Willens sieht er dessen entschiedensten Gegner in der Stoa, die den Menschen dessen berauben (spoliatam) und ihn an eine vorherbestimmte Notwendigkeit fesseln würde (devinciunt).1192 Dabei geht es ihm, wie die Arbeit von Schallenberg eindrucksvoll belegt, nicht um die Ablehnung jeglicher Kausalität, sondern um einen wohl auf Karneades zurückgehenden Mittelweg, der Kausalitätsdenken und freien Willen vereint, indem die Unabhängigkeit von Willensakten gegenüber der Naturkausalität an-

1187

Begemann 2012, S. 24 erkennt hierin richtig, dass Cicero sich bewusst als Politiker anstatt als Gelehrter präsentieren möchte. Mit Blick auf den römischen Leser und den philosophisch wohl nicht wirklich bewanderten Gesprächspartner vermutet Kerschensteiner, dass es Cicero an dieser Stelle um eine captatio benevolentia ging, da die von Hirtius genannte Verfahrensweise der Tusculanae disputationes „einen anderen Partner voraussetzen“ würde: Kerschensteiner 1986, S. 573. Dem muss jedoch entgegengehalten werden, dass Cicero Gesprächsfiguren des Öfteren einen philosophischen Sachverstand zuschreibt, den sie in der Realität definitiv nicht besaßen, wie beispielsweise den Zeitgenossen Hortensius, Catulus und Lucullus oder auch den unter III behandelten Gesprächspartnern. Für war ihm anscheinend wesentlicher wichtiger, römische Aristokraten beim Philosophieren zu zeigen. 1188 Begemann 2012, 24. 1189 Vgl. Eisenberger 1979, S. 170; Gawlick/Görler 1994, S. 1045. 1190 Cic. fat. 5. 1191 Vgl. Begemann 2012, S. 23. 1192 Cic. fat. 20; s. zu der Stelle auch: Schallenberg 2008, S. 168.

578

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

genommen wird.1193 Als Voraussetzung für individuelle Verantwortung stellt die Willensfreiheit für Cicero, der sich dabei auf „die Alten“ (veteres illi) beruft, ein Fundament dar, ohne das moralische Urteile nicht möglich wären.1194 Die philosophische Auseinandersetzung mit der Fatumslehre und die von der Cicero-Figur eingenommene Verteidigung des freien Willens werfen erneut die Frage auf, inwieweit der Autor selbst diese Position vertrat und um diese werben wollte. Anders als in De natura deorum und De divinatione entbehrt die Rede jedoch eines auch nur ansatzweise kompromittierenden Charakters. Stattdessen fügt sich der daraus resultierende Appell zur Verantwortung nahtlos in das ciceronische Denken ein, und dass der Autor für diese bei seinen Lesern werben wollte, ist nach dessen Erfahrungen der Vergangenheit und mit Blick auf die Gegenwart durchaus nachvollziehbar.1195 Im Hinblick auf die römische Leserschaft lässt sich erneut feststellen, dass die Cicero-Figur sich dieser auch während des Vortrags verpflichtet fühlt, indem er sich als Übersetzer der unterschiedlichen Positionen präsentiert und Beispielsätze mit römischen Persönlichkeiten zur Illustration nutzt.1196 d)

Zusammenfassung

Die Dialogfigur Cicero in De fato präsentiert sich erneut in der Doppelrolle eines Referenten über die Position der Neuen Akademie und eines römischen Staatsmanns. Sie erscheint gegenüber dem deutlich jüngeren Caesarianer Hirtius als rhetorischer und philosophischer Mentor, wobei an ein tatsächliches ehemaliges Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen den beiden Persönlichkeiten angeknüpft wird. Obwohl sie selbst keine wertenden politischen Äußerungen verlauten lässt, scheint das Gespräch für sich selbst zu sprechen, das trotz der Differenzen der beiden zu Friedenspolitikern stilisierten Gesprächspartner in dezidierter Höflichkeit inszeniert wird. Der philosophische Diskurs wird durch das Zusammenspiel der beiden Figuren behutsam eingeleitet: Erst nach Abschluss der Beratungen um den Frieden und nach der Bitte seines Gesprächspartners wagt sich Cicero an das Thema heran, zu dem eine innere Distanz als Romanus homo angedeutet wird. Dabei fällt auf, dass die Dialogfigur Cicero erstmals im philosophischen Spätwerk das philosophische Gespräch eröffnet. Als Referenzpunkt seines Vortrags fungierte die nicht erhaltene Themenstellung des Hirtius, über deren Form sich nur spekulieren lässt. Die Selbstdarstellung mittels seiner Dialogfigur zeigt Cicero nicht nur als akademischen Philosophen und um Frieden bemühten Poli1193

Vgl. Schallenberg 2008, S. 298–305, bes. 301. Cic. fat. 40; vgl. Schallenberg 2008, S. 305. 1195 Vgl. Narducci 2012, S. 275: „Mit diesem Plädoyer für die menschliche Willensfreiheit wollte Cicero wohl auch gesellschaftlich ‚fatalistischen‘ Tendenzen entgegentreten und den Sinn für die moralische und politische Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen in seinem Leser wachrütteln.“ 1196 Cic. fat. 12 (Fabius), 17 (Scipio), 27 (Scipio), 28 (Cato, Hortensius), 33 (Marcellus). 1194

Partitiones Oratoriae

579

tiker, sondern auch als Persönlichkeit, die den von ihm beschriebenen Idealen des orator perfectus und des rector rei publicae nahekommt. Dass es dem Autor dabei primär um eine Empfehlung der eigenen Person ging, ist aufgrund seiner Absicht, Italien zu verlassen, äußerst zweifelhaft. Die Empfehlung betrifft vielmehr die Beschäftigung mit der Philosophie selbst, für die der Dialog mittels seines Personensettings einen Raum – inmitten wachsender Bürgerkriegsgefahr – kreiert, in dem diese möglich ist und ihre Wirkung entfalten kann.

10

Partitiones Oratoriae

Der kurze Dialog, den Quintilian als Partitiones Oratoriae bezeichnete,1197 lässt sich aufgrund fehlender eindeutiger Erwähnungen im Briefverkehr und anderen Werken nicht exakt datieren.1198 Biographische Indizien in den Partitiones selbst, wie die Referenz der Dialogfigur auf sein otium und das fortgeschrittene Alter des Sohnes, lassen die Jahre zwischen 54–52 oder 46–45 als potentielle Entstehungszeiträume vermuten.1199 Ciceros Hinweis, dass die Darlegungen ex media Academia entsprungen seien, führte in der älteren Forschung zu der Annahme, dass die Partitiones stark von einem akademischen Rhetorikhandbuch abhängig seien.1200 Zwar fehlt es an weiteren Indizien, welche die Annahme einer solchen direkten Quelle für die Partitiones als gerechtfertigt erscheinen lassen, doch 1197

Quint. inst. 3,3,7; 3,11,19; möglicherweise in Orientierung an den Text selbst: Cic. part. 139; zum Titel s. Bayer 1994, S. 125f. 1198 Der Umstand, dass Cicero die Partitiones oratoriae selbst nicht erwähnte, ließ in der Forschung auch Zweifel an dessen Urheberschaft aufkommen, s. hierzu: Gaines 2002, S. 447, Anm. 7 u. 8; eine mögliche Erwähnung der Schrift vermutet Arweiler in den Topica, in denen Cicero von einem Werk mit Titel Praecepta oratoria spricht: Cic. top. 92; Arweiler 2003, S. 214. 1199 Zur Datierung s.: mit Präferenz für die Jahre 54–52: Hirzel 1895, S. 493f. Anm. 4; Schanz/Hosius 1979, S. 468; Gilleland 1961, S. 29–32; Kennedy 1972, S. 229; Arweiler 2003, S. 210–214; Scholz 2011, S. 333, Anm. 443; Narducci 2012, S. 183; Albrecht 2012, S. 445; mit Präferenz für die Jahre 46–45: Rackham 1942, S. 306; Curcio 1972, S. 204f.; Bayer 1994, S. 121–124. Kritik an den gängigen Datierungsversuchen lieferte Gaines, der für das beschriebene Vater-Sohn-Gespräch die Notwendigkeit einer konkreten realhistorischen Situation in Frage stellte und aufgrund der textinternen Bezüge zur akademischen Rhetorik den möglichen Entstehungszeitraum auf die Jahre zwischen 65 und 44 ausweitete: Gaines 2002, bes. S. 464–466. Zwar findet sich in Ciceros Werk tatsächlich kein schriftlich fixierter Grundsatz, der für den Dialog eine konkrete historische Situation als Anknüpfungspunkt verlangt, doch war ein solcher bisher in allen untersuchten Dialogen vorhanden, so dass der Verzicht darauf in den Partitiones einzigartig wäre. Zur Kritik an Gaines s.: Lévy 2010, S. 257f. Arweiler argumentierte hinsichtlich zitierten exempla und einer größeren thematischen Nähe zu De oratore für eine Entstehung in den 50er Jahren: Arweiler 2003, S. 210–214. 1200 Cic. part. 139; s. hierzu: Schanz/Hosius 1979, S. 463; Kennedy 1972, S. 229f.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

könnte der Rückgriff auf philosophisches Vokabular nach Lévy auf den Einfluss der Neuen Akademie Philons zurückzuführen sein.1201 Das von der modernen Forschung lange Zeit vernachlässigte Werk nimmt aus mehreren Gründen eine Sonderrolle unter den Dialogen Ciceros ein. Neben der nicht eindeutigen Datierbarkeit wird ihre Interpretation auch durch die spezifische Organisation des Dialogs in Fragen und Antworten erschwert, der ihm eine unverkennbare Ähnlichkeit zum Katechismus verleiht und zu seinem negativen Ruf als künstlerisch minderwertiges Handbuch in der älteren Forschung beigetragen hat. 1202 Aufgrund der Kürze und der im Œuvre des Arpinaten nahezu einzigartigen, an einem Unterrichtsgespräch angelegten Dialogstruktur kann von einer Funktion als Lehrbuch ausgegangen werden.1203 Da von Cicero selbst keine Zeugnisse über die Partitiones überliefert sind, bleibt es jedoch unklar, ob sie von ihm selbst oder erst nach seinem Tod posthum herausgegeben wurden beziehungsweise ob sie nur für den Sohn oder einen größeren Adressatenkreis angedacht waren, der den familiären Lehrdialog als ein „Formzitat“ erkennen sollte.1204 Die lehrbuchhafte Anlage und die intendierte brevitas der Partitiones Oratoriae üben einen markanten Einfluss auf die Figurenkonstellation und gestaltung aus, indem sie beiden Sprechinstanzen die spezifischen Rollen des „Fragenden“ und des „Antwortenden“ zuweisen. Eine „freie“, profilstiftende Interaktion beider Figuren, welche der Autor in anderen Dialogen etwa durch überraschende Wendungen der Dialoghandlung, personenbezogene Kommentare und Exkurse signalisiert, ist dadurch von vornherein nur eingeschränkt möglich. Trotz dieses spezifischen, an einen Katechismus erinnernden Gesamtcharakters des Werkes lässt sich konstatieren, dass Cicero auf eine dialogische Einkleidung der Partitiones nicht verzichten mochte. Das primär in Fragen und Antworten organisierte Dialoggespräch erscheint dabei wie De legibus, Cato maior, Laelius und die Tusculanae disputationes in „dramatischer“ statt referierter Form. 1205 Der sich aus Vater und Sohn konstituierende Dialog setzt ohne ein

1201

Hierzu und zum komplizierten Verhältnis der Akademie zur Rhetorik s. Lévy 2010, bes. S. 258–261. 1202 Die Ähnlichkeit zum Katechismus führte Hirzel auf das Vorbild des nicht erhaltenen Dialogs De iure civili libri tres des Brutus zurück: Hirzel 1895, S. 494; vgl. Schanz/Hosius 1979, S. 463; Curcio 1972, S. 201 u. 203f. Die neuere Forschung erkennt dagegen eine engere Beziehung der Partitiones zu den εἰσαγογαί / institutiones des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts: Arweiler 2003, S. 17; zur εἰσαγωγή: Asper 1998. 1203 Vgl. Kennedy 1972, S. 229; Arweiler 2003. 1204 Für letztere Position s.: Arweiler 2003, S. 32f. Zugleich machte Arweiler auf die Ähnlichkeit der kurzen Schrift, welche die bereits in De oratore beschriebenen Regelkomplexe in ein für den an praecepta interessierten Leser komprimiertes und schlüssiges System zusammenfasse, mit der Gattung der Epitome aufmerksam: ebd., S. 78–81, bes. 79f. 1205 Vgl. Gawlick/Görler 1994, S. 1023.

Partitiones Oratoriae

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Vorwort des Autors ein. Aus den Hinweisen der Cicero-Figur, dass sie hinreichend freie Zeit (otium […] est summum) und endlich die Möglichkeit habe, Rom zu verlassen (aliquando Roma exeundi potestas data est), lässt sich schließen, dass das dramatische Datum in zeitlicher Nähe zur Entstehungszeit des Werkes und seine Szenerie außerhalb Roms angesiedelt ist.1206 Indem der Autor die dialogische Einkleidung bewusst knapp hält, wird die dem Leser gewährte Perspektive auf das familiär-private Umfeld des Autors hervorgehoben. Die Selbstinszenierung des Autors als den Sohn unterrichtender Vater verfügt zu Ciceros Zeit bereits über eine lange Tradition in der lateinischen Prosa. Die Übernahme des Motivs der väterlichen Unterweisung des Sohnes in eine Dialoghandlung lässt sich vor den Partitiones im Dialog De iure civili libri tres des M. Iunius Brutus belegen, der jedoch aufgrund der wenigen Fragmente kaum Rückschlüsse hinsichtlich der literarischen Umsetzung geschweige denn einer Vorbildfunktion für die Partitiones zulässt.1207

10.1

M. Tullius Cicero, M. f.

a)

Historische Persönlichkeit

Im Folgenden soll die Biographie von Ciceros Sohn mit Schwerpunkt auf dessen Erziehung, die den Bezugspunkt der in den Partitiones geschilderten Dialogszenerie bildet, kurz dargelegt werden.1208 Die Geburt des M. Tullius Cicero wird anhand eines Briefes seines Vater an Atticus auf den Spätsommer des Jahres 65 datiert.1209 Er wurde ab 56 gemeinsam mit dem etwas älteren Sohn des Quintus von Terentias griechischem Sklaven Tyrannion und teilweise auch vom Vater selbst unterrichtet,1210 was als Indiz für eine Datierung der Partitiones Oratoriae auf das Jahr 54 gewertet wurde.1211 Fest steht, dass die beiden Söhne damals auch auf das Tusculanum des Vaters mitgenommen wurden und mit M. Pomponius Dionysios, einem Freigelassenen des Atticus, einen neuen Lehrer erhiel1206

Cic. part. 1; Rackham verortete das Gespräch in Ciceros Villa bei Tusculum, nannte hierfür jedoch keine Gründe. 1207 Cic. Brut. 218; vgl. Hirzel 1895, S. 428–430; Curio 1972, S. 203; Arweiler 2003, S. 28. 1208 Eine ausführliche historische Zusammenfassung der Erziehung der gleichnamigen Söhne des Marcus und Quintus Cicero, welche einen einzigartigen Einblick in die familiäre Sozialisation der späten Republik gewährt, lieferte zuletzt: Scholz 2011, S. 329–350. 1209 Cic. Att. 1,2 = 11 Sh. B.,1; Ciceros Vermerk L. Iulio Caesare, C. Mario Figulo consulibus bezieht sich hierbei auf die designierten Konsuln des Jahres 64, s.: Hanslik 1948, Sp. 1281; Testard 1962, S. 198. 1210 Cic. ad Q. fr. 2,12 = 16 Sh. B.,2. 1211 S. hierzu: Hanslik 1948, Sp. 1281.

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Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

ten.1212 In der Zeit des kilikischen Prokonsulats seines Vaters gelangte der junge Cicero in die östlichen Provinzen des Reiches, wo er in Phrygien dem jungen Deiotarus vorgestellt wurde und die Stadt Athen kennenlernte.1213 Bereits kurz nach Ausbruch des Bürgerkriegs dachte sein Vater daran, ihn und seinen Neffen in Griechenland unterzubringen,1214 entschied sich aber letztlich für das Formianum, auf dem sich auch Marcus’ und Quintus’ Mütter befanden.1215 Ende März 49, als Caesar in Rom eintraf, verlieh Cicero seinem Sohn in Arpinum die toga virilis.1216 In der Zeit vor der gemeinsamen Überfahrt nach Dyrrachium versuchte der junge Cicero offensichtlich, seinen lavierenden Vater zu überreden, sich auf die Seite der Pompeianer zu schlagen.1217 Nach der Niederlage von Pharsalos gingen beide nach Brundisium, wo sie auf die Begnadigung durch den siegreichen Caesar warteten, die ihnen im Herbst 47 erteilt wurde und ihnen die Rückkehr nach Rom ermöglichte.1218 Im Jahr 46 machte Cicero den Sohn gemeinsam mit dem Neffen und M. Caesius zu Aedilen seiner Heimatstadt Arpinum, wobei es sich um das einzige Amt des municipium handelte (nec alius ullus creari solet).1219 Ein Brief an Atticus verrät, dass Cicero seinem Sohn am Ende des gleichen Jahres ausreden musste, sich nach Spanien zu begeben und nun auf Seiten Caesars wieder am Bürgerkrieg teilzunehmen.1220 Vermutlich nach langer Überzeugungsarbeit gelang es ihm, den 20-jährigen filius dazu zu bringen, sich 45 für Studienzwecke nach Athen zu begeben, wo er von der inzwischen geschiedenen Mutter Terentia finanzielle Unterstützung erhielt. 1221 Dort wurde er von dem Peripatetiker Kratippos sowie den Rhetoren Bruttius und Cassius unterrichtet.1222 Die auf seinen Aufenthalt bezugnehmenden Briefe zwischen 45 und 44 lassen erkennen, dass der Sohn das Studium bisweilen vernachlässigte und Mühe hatte, mit den ihm zur Verfügung stehenden Geldmitteln auszukommen.1223 Der Brief an den Freigelassenen Tiro, der wohl in dem Bewusstsein verfasst wurde, dass sein Inhalt dem Vater nicht verborgen bleiben würde, deutet dabei nicht nur implizit auf die Schwierigkeiten des Sohnes hin, den väterlichen Vorschriften gerecht zu werden,1224 sondern lässt auch dessen Absicht erkennen, sich fortan zu

1212

Cic. Att. 4,15 = 90 Sh. B.,10; 4,18 = 92 Sh. B.,5; vgl. Hanslik 1948, Sp. 1282. Vgl. Hanslik 1948, Sp. 1282. 1214 Cic. Att. 7,13 = 136 Sh. B.,3; 7,17 = 141 Sh. B.,1 u. 4. 1215 Ebd., 7,18 = 142 Sh. B.,1: eas ego […] in Formiano esse volui et una Cicerones. 1216 Ebd., 9,6 = 172 Sh. B.,1; Hanslik 1948, Sp. 1282. 1217 Cic. Att. 10,4 = 195 Sh. B.,5; 10,9 = 200 Sh. B.,2; 10,11 = 202 Sh. B.,3. 1218 Vgl. Hanslik 1948, Sp. 1283. 1219 Cic. fam. 13,11 = 278 Sh. B.,3. 1220 Cic. Att. 12,7 = 244 Sh. B.,1. 1221 Vgl. Hanslik 1948, Sp. 1283f.; Scholz 2011, S. 341. 1222 Cic. fam. 16,21 = 337 Sh. B.,3–7. 1223 Zum Aufenthalt in Athen s. Hanslik 1948, Sp. 1284f. 1224 Vgl. Testard 1962, bes. S. 213. 1213

Partitiones Oratoriae

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verbessern.1225 In der unruhigen Zeit zwischen der Ermordung Caesars und dem August 44 plante Cicero ebenfalls nach Athen zu kommen und sich selbst aktiver in die Erziehung einzubringen, von der ihm bereits erste Fortschritte gemeldet wurden.1226 Wie wichtig ihm diese war, belegt auch das dem Sohn gewidmete Werk De officiis, welches im Sommer desselben Jahres entstand.1227 Während sein Vater im August nach Rom zurückkehrte und sich dort dem Kampf gegen Antonius widmete, schloss sich Marcus gegen Jahresende der Armee der Caesarmörder an.1228 Nach der Niederlage von Philippi und dem Vertrag von Misenum folgte eine politische Karriere unter Octavian, die im Jahr 30 mit dem Konsulat gekrönt wurde, ihm jedoch ein negatives Urteil in der Nachwelt einbrachte.1229 Dass Cicero als Vater selbst eine bestimmende Rolle in der Erziehung seines Sohnes einnahm, der als kompetenter Redner sein politisches Erbe übernehmen sollte, und dass jener auch im Erwachsenenalter den väterlichen Anweisungen Folge leisten musste, stellt im Kontext der römisch republikanischen Führungsschicht keine Ausnahme dar, sondern scheint der gängigen Praxis der Zeit entsprochen zu haben.1230 Trotz der Schwierigkeiten, den in ihn gesetzten Erwartungen gerecht zu werden, und der für die Zeit unter Caesars Diktatur nicht untypischen Meinungsverschiedenheiten, scheint der jüngere Marcus stets den Vorschriften des Vaters gefolgt zu sein und diesen als zentrales Vorbild für das eigene Leben akzeptiert zu haben.1231 b)

Marcus als wissender Schüler

Das Auftreten der Marcus-Figur in den Partitiones spiegelt par excellence das Interesse des um die Bildung seines Sohnes bemühten Autors wider. Marcus wird dem Leser bereits direkt zu Beginn des Dialogs als Schüler präsentiert, der aus eigenem Antrieb die Unterweisung durch seinen Lehrer sucht:1232 Studeo, mi pater, Latine ex te audire ea quae mihi tu de ratione dicendi Graece tradidisti, si modo tibi otium et si vis.

1225

Vgl. Scholz 2011, S. 345. Cic. Att. 15,16 = 391 Sh. B.; vgl. Bringmann 2010, S. 254 u. 324f., Anm. 22. 1227 Vgl. Hanslik 1946, Sp. 1285; Testard 1962. 1228 Vgl. Hanslik 1946, Sp. 1285. 1229 So auch das Urteil von Hanslik, der ihm eine Trunksucht attestierte und seine spätere Karriere einzig dem Ruhm des Vaters zuschrieb: Hanslik 1946, Sp. 1286. 1230 Vgl. Scholz 2011, bes. S. 349f. 1231 Vgl. ebd., S. 350. 1232 Cic. part. 1: Der deutsche Text der Partitiones folgt hier und im Folgenden, wenn nicht anders vermerkt, der Übersetzung von Bayer. 1226

584

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten Ich möchte, mein lieber Vater, das auf Lateinisch von dir hören, was du mir über die Redekunst auf Griechisch mitgeteilt hast, vorausgesetzt, du hast Zeit und Lust dazu.

Hierbei zeigen sich Parallelen zu Dialogfiguren anderer Werke mit vergleichbarem Profil: So ist es Aufgabe des jungen Schülers, sein Interesse aktiv kundzutun, wodurch ein Reaktionsraum für die Lehrerfigur kreiert wird, um nicht aufdringlich oder belehrend zu erscheinen. Gleichzeitig signalisiert der Schüler sittsame Scheu und höfliche Ehrerbietung, indem er sich vergewissert, dass sein Gegenüber über Zeit und Willen (si modo tibi otium et si vis) verfügt, worin er den adulescentes früherer Dialoge ähnelt. Das Auftreten als Bittsteller gegenüber dem Alter Ego des Autors folgt zugleich der Logik des Proömiums, da es dem Leser Aufschluss über die Autorintentionen gibt.1233 Die erste Wortmeldung zeigt darüber hinaus, dass Marcus bereits vor dem Dialoggeschehen das Subjekt väterlicher Unterweisung in der ratio dicendi ist, die jedoch bisher auf Griechisch stattgefunden habe (quae mihi […] Graece tradidisti).1234 Die Forderung nach einer Belehrung in lateinischer Sprache geschieht dabei mit Nachdruck und wird mit dem Anliegen verknüpft, seinem Vater Fragen stellen und die Reihenfolge vorgeben zu dürfen (ut tu me Graece soles ordine interrogare, sic ego te vicissim isdem de rebus Latine interrogem).1235 Die Bitte um eine lateinische Unterweisung knüpft an die zentrale Intention des Autors an, einen bisher auf Griechisch geführten Theoriediskurs in die Muttersprache zu transferieren. Die Dialogfigur des Sohnes spiegelt dabei das Interesse der intendierten Leserschaft, auf die der Autor mittels seiner gleichnamigen Figur reagiert. Die Rolle des Schülers als Vertreter der Rezipienten konstituiert einen Bezugsrahmen der auktorialen Selbstinszenierung, der auch in den bisher untersuchten Dialogen häufig durch die Präsenz junger Dialogfiguren geschaffen wurde. Indem gleich zu Beginn des Werkes hervorgehoben wird, dass der junge Marcus bereits griechischen Rhetorikunterricht erhält (ut tu me Graece soles ordine interrogare), werden die Zielgruppe und der Anspruch der Partitiones kenntlich gemacht: diese richten sich nicht an gänzlich unerfahrene Leser, sondern an solche, die bereits mit der Materie – etwa durch Unterricht bei griechischen Rhetoriklehrern oder Lektüre griechischer Fachbücher – vertraut sind. Ciceros Lehrdialog verspricht dem Leser, nun in lateinischer Sprache die gleiche Qualität liefern zu können, die er von griechischen Rhetoren oder Handbüchern bereits kannte. Die Antwort Ciceros an seinen Sohn legt zugleich die Rollen für den weiteren Verlauf des Dialogs fest: so soll der junge Marcus Fragen stellen, mit denen er zu erkennen geben kann, was er bereits gelernt habe (te meminisse […] quae accepisti), während der Vater die verlangten Antworten darlegen werde. Der 1233

Vgl. Arweiler 2003, S. 18f. Vgl. ebd., S. 44f. 1235 Cic. part. 2.

1234

Partitiones Oratoriae

585

Sohnfigur, die über einen gewissen Kenntnisstand verfügt, ohne den sie keine Beiträge liefern könnte, kommt dabei eine essentielle Funktion zu, indem sie die Reihenfolge determiniert und sich durch nachfragende Kommentare als Vertreter eines kritischen Lesers präsentiert.1236 Die Konzeptionierung als fragender und zugleich wissender Schüler wird bereits recht früh innerhalb des Gesprächsverlaufs deutlich, nachdem der Vater über die Möglichkeit des Redners, Vertrauenswürdigkeit zu erzielen, referiert hat. Der junge Marcus markiert in einem Satz sowohl den Abschluss der vorherigen Untersuchung als auch den Übergang zur Behandlung der Emotionen: Quoniam de fide respondisti, volo audire de motu.1237 Obwohl diese erst an späterer Stelle genauer erfolgen soll, verdeutlicht die anschließende Antwort des Vaters, dass der von ihm verlangte nächste Schritt zum richtigen Zeitpunkt gefordert wurde (loco quidem quaeris). Die Überleitung von der fides zur conlocatio wird somit von einem berechtigten Wunsch des Sohnes nach einer anderen Reihenfolge markiert, wodurch der Fokus des Lesers auf das Vorgehen des Autors gelenkt wird, das die Behandlung der motus auf einen späteren Moment verschiebt.1238 Durch knappe Zusammenfassungen und Kommentare zu den bisherigen Ausführungen kommt der Figur des Sohnes eine strukturierende Funktion im Gesprächsverlauf zu, die nur durch die spezifische Anlage der Figur möglich ist. Dies zeigt sich etwa im Anschluss an die Behandlung der Verfahren zur Begriffsbestimmung (definitio ratio):1239 F.: Sunt exposita iam fere ea quae de facto quaeque de facti appellatione quaeruntur. Nempe igitur ea restant quae, cum et factum constat et nomen, qualia sint vocatur in dubium? P.: Est, ut dicis. F.: Quae sunt igitur in eo genere partes? S. „Nun sind schon fast alle Fragen erörtert, die sich bezüglich der Tat und der Benennung der Tat stellen. Es steht aber doch noch das aus, dessen Bewertung dann, wenn die Tat und die Bezeichnung dafür feststehen, noch in Zweifel gezogen wird?“ V. „Es ist so, wie du sagst.“ S. „Was sind also die Teile dieser Art der Beweisführung?“

Die Figur des jungen Marcus erkennt zunächst, dass die ersten beiden status, ob die Tat begangen wurde und um welche es sich handele, weitestgehend abge-

1236

Vgl. Arweiler 2003, S. 33f. Cic. part. 8: „Da du nun über die Methode, Vertrauenswürdigkeit zu erzielen, Auskunft gegeben hast, möchte ich auch über die Möglichkeit, Emotionen zu wecken, etwas hören.“ 1238 Wie Arweiler zeigt, erfolgt in den Partitiones keine systematische Behandlung der Affekte an einer bestimmten Stelle, stattdessen rekurriert Cicero immer wieder als „zentrale Größe“ auf sie: Arweiler 2003, S. 175–190, bes. 187f. 1239 Cic. part. 42.

1237

586

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

schlossen sind (sunt exposita iam fere), und leitet anschließend auf die Behandlung des dritten status über (qualia sint).1240 Die Einschätzung zum bisherigen Stand der Ausführungen weist die Figur erneut als bereits mit der Thematik erfahrenen Hörer aus. Dieser Charakterzug ermöglicht es ihr, das Gespräch der Partitiones immer wieder voranschreiten zu lassen, indem sie vorangehende Themenkomplexe als abgeschlossen einstuft und somit den Übergang zu neuen ermöglicht oder nach der Präzisierung eines vorher nur angedeuteten Teilaspektes verlangt.1241 In seiner Rolle als Schüler fällt ihm auch das Schlusswort der Partitiones zu, das auf Ciceros Verortung seiner Rhetorik in die Akademie folgt:1242 Ego vero ac magno quidem studio, mi pater, multisque ex tuis praeclarissimis muneribus nullum maius exspecto. Ich, lieber Vater, empfinde dafür echte Begeisterung und erwarte nach den umfangreichen Geschenken, die du mir aus deinem großartigen Vorrat gemacht hast, kein größeres mehr.

Hierbei präsentiert sich Marcus als dankbarer Schüler und Sohn, dessen am Anfang gehegte Erwartungen durch die praeclarissima munera des Vaters in Gänze erfüllt wurden. Indem er seinen Lerneifer (magno quidem studio) beteuert, zeigt er sich zugleich für den Erwerb weiterer Erkenntnisse bereit, die von seinem Vater zuvor in Aussicht gestellt wurden (multo maiora alia cognosces).1243 Die Antwort signalisiert somit einerseits den Abschluss der bisherigen Ausführungen der Partitiones, andererseits lässt er erkennen, dass das dargestellte Wissen für den angehenden Redner zwar eine hilfreiche Stütze darstellt, jedoch noch weitere Bemühungen auf dem Weg zu einer Eloquenz notwendig sind, die sich mit der des Vaters messen lassen kann. c)

Zusammenfassung

Die Figur des jungen Cicero präsentiert sich in der Rolle des Sohnes und des aufmerksamen und wissenden Schülers, der von seinem Vater den von ihm gewünschten, kompendienhaften Überblick über die Rhetorik erhält. Durch seinen Lerneifer, der sich am Anfang des Gesprächs durch den Wunsch artikuliert, die ihm bereits bekannte Materie nun in lateinischer Sprache zu hören, setzt er den Lehrdialog in Gang und führt diesen durch Fragen fort. Indem er die richtigen Fragen zur rechten Zeit stellt und immer wieder sein Verständnis der vorangehenden Themenkomplexe signalisiert, erweist sich Marcus nicht nur als neugie1240

Vgl. Bayer 1994, S. 158f. Vgl. Cic. part. 33, 61, 83, 92, 132. 1242 Ebd., 140. 1243 Ebd. 1241

Partitiones Oratoriae

587

riger, sondern auch als kompetenter und dadurch mustergültiger Schüler, worin er den als adulescentes gekennzeichneten Dialogfiguren ähnelt. Wie diese fungiert er dabei als ein impliziter Leser innerhalb des fiktiven Raums des Dialogs, doch ist er als ein noch jüngerer Hörer konzipiert und der ihm gebotene Bildungsgang von einer elementareren Natur als der, den Crassus in De oratore erteilt. Dass er nach Beendigung des Gesprächs seine Erwartungen erfüllt sieht und sein magnum studium betont, zeigt ihn als mustergültigen Schüler der Rhetorik, dessen Ausbildungsweg noch nicht abgeschlossen ist. Die Gesprächssituation könnte dahingehend auf die Zeit kurz vor Antritt seiner Reise nach Athen anspielen, was für die Spätdatierung der Partitiones sprechen würde. Durch die Verwendung seines Sohnes als Dialogfigur gewährt der Autor seinem Leser zugleich einen Einblick in den privaten Raum seiner gens. Indem der junge Marcus als Rhetorikschüler des Autors präsentiert wird, erscheint er zugleich als dessen Nachfolger, der sein rednerisches und politisches Erbe antreten soll.

10.2

Marcus Tullius Cicero, pater

a)

Cicero als lehrender Vater

Nach den Regeln des Schüler-Lehrer-Dialogs bildet die Figur des Vaters Cicero in der Rolle des Lehrers den komplementären Part zu der des Sohnes. Dieser Wesenszug wird ebenfalls unmittelbar am Anfang des Werkes exponiert, als sie auf das Gesuch des Sohnes entgegnet:1244 An est, mi Cicero, quod ego malim quam te quam doctissimum esse? otium autem primum est summum, quoniam alquando Roma exeundi potestas data est; deinde ista tua studia vel maximis occupationibus meis anteferrem libenter. Gibt es etwas, mein Sohn, etwas anderes, das ich lieber wollte, als dass du möglichst gut unterrichtet bist? Zunächst einmal habe ich Zeit in Fülle, da ich endlich einmal Gelegenheit erhalten habe, Rom zu verlassen; zudem würde ich diesen deinen Interessen gerne sogar vor meinen wichtigsten Beschäftigungen den Vorrang einräumen.

Von Beginn an präsentiert sich Cicero als ein seiner Verantwortung gerecht werdender Vater, der die Aufgabe, den Sohn erfolgreich zu unterrichten (te quam doctissimum esse), aus innerer Überzeugung (an est […] quod ego malim) annimmt. Er räumt ihr nicht nur höchste Priorität bei der Gestaltung seiner freien Zeit ein (otium autem primum est summum), sondern gibt ihr auch bereitwillig den Vorzug gegenüber den gesellschaftlichen Pflichten (maximis occupationibus meis anteferrem libenter). Durch das bereitwillige Übernehmen der an ihn ge1244

Cic. part. 1.

588

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

richteten Bitte präsentiert sich die Autorpersona von Beginn an als römischer pater familias, der seine erzieherischen Pflichten und seine Verantwortung gegenüber dem eigenen Nachkommen mustergültig erfüllt.1245 Die Rolle des Lehrers geht dabei einher mit der des Übersetzers für einen dezidiert lateinischen Rhetorikdiskurs, indem die Figur der Bitte des Sohnes nachkommt, die bereits auf griechisch behandelte Unterrichtsmaterie auf Lateinisch darzulegen.1246 Die Ausführungen Ciceros, der in Anspruch nimmt, die gesamte Lehre der Redekunst zu behandeln (omnis doctrina dicendi), werden bereits zu Beginn des Dialoges in drei Teile gegliedert1247: die „Fähigkeit des Redners“ (vis oratoris), die Rede selbst (oratio) und die Untersuchung (quaestio) spezifischer Probleme, deren Behandlung etwa den Umfang der beiden vorherigen zusammengenommen einnimmt.1248 Gleichzeitig lässt sich attestieren, dass die von ihm erteilten Antworten auf die Fragen seines Sohnes ab dem zweiten Teil an Ausführlichkeit gewinnen und sich die Dynamik des Wechselgesprächs, das mit einem schnellen Austausch kürzerer Wortmeldungen der Sprecher begann, markant verändert. Indem der strukturelle Aufbau des Werkes durch den Dialogbeginn exponiert und im fortlaufenden Gespräch realisiert wird, spiegelt sich in der Figur auch das planmäßige methodische Vorgehen des Autors, der sich dabei gegenüber dem dialoginternen Marcus sowie dem dialogexternen Leser als ein kompetenter Lehrer offenbart.1249 In ihrer doppelten Rolle als Lehrer und Vater befindet sich die Dialogfigur notwendigerweise in einer hierarchisch weit über dem Sohn stehenden Gesprächsposition. Die Asymmetrie wird jedoch teilweise durch die Interaktion der Figuren vermindert, indem der jüngere Marcus als mit der Materie vertraut beschrieben wird oder indem der ältere diesen um seine Einwilligung für die Fortführung der gemeinsamen Untersuchung (si placet, disputemus!) bittet.1250 b)

Ciceros Selbstentwurf als akademischer Redner

Am Ende und damit an exponierter Stelle verweist Cicero mittels seiner gleichnamigen Dialogfigur auf die philosophische Provenienz seiner Ausführungen, welche „aus der Mitte unserer (heutigen) Akademie“ zur Blüte gelangt seien (e media nostra Academia effloruerunt).1251 Analog zum Orator und Brutus wird die Redekunst in einen engen Kontext mit der Philosophie der Akademie ge1245

Vgl. Arweiler 2003, S. 22. Zum Verzicht auf griechisches Vokabuar in den Partitiones s. Arweiler 2003, S. 40. 1247 Cic. part. 3. 1248 Die Behandlung der ersten beiden fällt auf Cic. part. 5–26 und 27–60, die quaestiones auf 61–138. Zum Aufbau der Partitiones s. auch: Arweiler 2003, S. 89f. 1249 Vgl. Arweiler 2003, S. 73. 1250 Cic. part. 70; zur strukturellen Asymmetrie des Lehrer-Schüler-Gesprächs s. Arweiler 2003, S. 22f. 1251 Cic. part. 139. 1246

Partitiones Oratoriae

589

stellt. 1252 Wie zuletzt Lévy deutlich machte, beinhaltet der Ausdruck e media Academia durch seine Doppeldeutigkeit eine gewisse Schwierigkeit, da er auch als e Media Academia („aus der Mittleren Akademie“) gelesen werden könne.1253 Da es jedoch an eindeutigen Belegstellen, in denen Cicero selbst von einer Mittleren Akademie spricht, fehlt und er als Dialogfigur im Brutus die Rolle seiner Lehrer Philon und Antiochos hervorhebt, die beide nicht mit der Mittleren Akademie in Verbindung gebracht werden können, scheint es plausibler, dass an dieser Stelle von der Akademie als Ganzes gesprochen wird. Die Hinwendung zur akademischen Philosophie am Ende der Partitiones deutet nicht nur auf ihre zentrale Stellung innerhalb Ciceros Redekonzeption, sie bildet auch einen vorläufigen Höhepunkt der Unterweisung seines Sohnes. Sein an ihn gerichtetes Schlusswort weist dabei über die Redekunst selbst hinaus:1254 Qua re haec tibi sint, mi Cicero, quae exposui, quasi indicia fontium illorum; ad quos si nobis eisdem ducibus aliisve perveneris, tum et haec ipsa melius et multo maiora alia cognosces. Daher sei für dich, mein lieber Cicero, das, was ich ausgeführt habe, gleichsam ein Wegweiser zu jenen Quellen. Wenn du zu ihnen mit den gleichen Führern wie ich oder auch mit anderen gelangst, wirst du ein tieferes Verständnis für das, was ich dir vorgetragen habe, gewinnen und auch für andere, viel bedeutendere Gegenstände.

Ciceros letzte Worte in den Partitiones verweisen somit zugleich darauf, dass das Studium des Sohnes noch nicht abgeschlossen ist, sondern noch ein weiteres Stadium zu erreichen sei, das größere und „andere Erkenntnisse“ verspreche (multo maiora alia cognosces). Der Hinweis auf die Schule der Akademie präsentiert sich dahingehend als eine Referenz auf den eigenen erfolgreichen Bildungsweg, der von dem Sohn – wenn auch vielleicht mit anderen „Führern“ (ducibus aliisve perveneris) – nachzuahmen sei.1255 Der Selbstentwurf Ciceros als gelehrte Persönlichkeit, die Rhetorik und Philosophie verbindet, knüpft dabei nahtlos an seine anderen die Rhetorik betreffenden Werke an (De oratore, Brutus, Orator, Topica).1256

1252

Cic. orat. 11; Brut. 306. Unter Berücksichtigung des Index Academicorum aus Herculaneum kommt Lévy zu dem Schluss, dass die Einteilung in Mittlere und Neue Akademie bereits zu Ciceros Zeit üblich war: Lévy 2010, S. 249–253. 1254 Cic. part. 140. 1255 Dies kann als Indiz für die Spätdatierung des Werkes herangezogen werden, da der junge Cicero in Athen nicht von einem Akademiker, sondern von dem Peripatetiker Kratippos unterrichtet wurde. 1256 Vgl. Arweiler 2003, S. 81–84 u. 283–312. 1253

590 c)

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Zusammenfassung

Die literarische Selbstpräsentation als lehrender Vater, der seinem Sohn die für dessen spätere politische Laufbahn notwendigen Fachkenntnisse vermittelt, stellte in der lateinischen Literatur keine Neuerung dar, sondern konnte sich auf prominente Vorbilder berufen. Die Ausweitung dieser Selbstinszenierung auf den Raum des literarischen Dialogs scheint zur Entstehungszeit ebenfalls bereits vorweggenommen worden zu sein. Die dialogtechnische Innovation Ciceros bestand jedoch darin, das römische Motiv des Lehrgesprächs zwischen Vater und Sohn auf das Gebiet der Rhetorik ausgeweitet zu haben. Wie viele seiner Zeitgenossen greift der Autor für die rednerische Ausbildung seines Nachkommen auf griechische Gelehrte zurück. Als selbst erfahrener und erfolgreicher Redner präsentiert sich der Autor in den Partitiones jedoch als eine fachliche Autorität, die in den Unterricht seines Sohnes persönlich und aktiv eingreift. Dass er hierbei nicht das Bild einer aufdringlichen griechischen Lehrerpersönlichkeit evoziert, wie sie von den Dialogfiguren in De oratore kritisiert wurde, wird einerseits durch den Rückgriff auf das traditionelle Vater-Sohn-Gespräch und andererseits im Dialog selbst erreicht, indem seine Figur erst spricht, nachdem sie um eine Darstellung gebeten wurde. Insbesondere das Ende der Partitiones verweist auf einen weiteren Vorzug der Person des lehrenden Vaters, indem es das dargelegte rhetorische Regelwerk mit der Tradition der Akademie assoziiert. Dadurch gibt Cicero seine persönliche Verbundenheit mit jener Philosophenschule zu erkennen und behauptet – wie Crassus in De oratore – ihren Nutzen für die Ausbildung des Redners. Gleichzeitig wird durch das Lob auf die Akademie erneut das Bild eines rhetorisch und philosophisch gebildeten Autors entworfen, der mit seiner Autorität für den Anspruch der Ausführungen der Partitiones bürgt. Somit deutet der Hinweis auf die Philosophie auch das in De oratore artikulierte und im Brutus erneut thematisierte Bildungsverständnis an, das den Wert dieser und anderer Disziplinen für die rednerische Ausbildung betont.

11

Conclusio

In allen untersuchten Dialogszenerien konnte beobachtet werden, dass die Dialogfigur Cicero die zentrale Person des jeweiligen Gesprächskollektivs bildet. Dieser Umstand lässt sich quantitativ belegen, da sie in allen Dialogen die höchste Anzahl von Wortmeldungen hervorbringt. Qualitativ wird dies durch ihr Auftreten und ihre Funktionen erkennbar, die im Folgenden nochmals kurz zusammengefasst werden sollen: Mit Ausnahme von De legibus, Brutus und Hortensius tritt die Figur stets als Sprecher der Neuen Akademie auf. Sie spricht in der Regel als zweites, um eine kritische Gegendarstellung zu einer von einem anderen Sprecher dargestellten Theorie zu liefern. Die Figur spielt vor allem in De finibus darauf an, dass sie auch das sokratische Wechselgespräch zur Untersu-

Conclusio

591

chung verwenden könnte, verzichtet jedoch aus Rücksichtnahme gegenüber den Gesprächspartnern darauf und hält jeweils einen längeren Vortrag. Die Dialogfigur Cicero bildet dahingehend eine römische Variante der Sokratesfigur ab. Darüber hinaus fungiert sie als Vertreter des Politikers M. Tullius Cicero selbst, wie zahlreiche Anspielungen auf dessen politisches Leben nahelegen. Der Dialog liefert diesem einen kommunikativen Raum, um auf die jüngste Geschichte in Rom Bezug zu nehmen. In De legibus zeigte sich dies etwa in Anspielungen auf die catilinarische Verschwörung oder sein Exil, im Brutus auf die Verhandlungen im Vorfeld des Bürgerkriegs, für die er durch die Brutus-Figur Zuspruch erhält. In De fato ließ sich feststellen, dass der kommunikative Aspekt der Dialogfiguren nicht nur darin besteht, Ciceros früheres Handeln zu rechtfertigen, sondern auch Teil einer gegenwärtigen Strategie sein kann, indem die Figuren Cicero und Hirtius als Friedenspolitiker porträtiert werden, die sich dem kriegerischen Zeitgeist entgegenstellen. Es würde jedoch zu kurz greifen, den sich durch die Dialogfiguren konstatierenden kommunikativen Raum lediglich in seiner Relation zu der römischen Politik zu betrachten. In De legibus, Partitiones Oratoriae, Brutus, Academici libri posteriores, De divinatione und De fato sehen wir die Dialogfigur des Autors in einem Austausch mit lebendigen Personen (Atticus, Quintus, Marcus iunior, Brutus, Varro, Hirtius), die zu den ersten Lesern der Werke gezählt werden können. All diese Persönlichkeiten weisen eine intellektuelle Verbindung zu Cicero auf: Während mit Hirtius ein ehemaliger Rhetorikschüler auftritt, handelt es sich bei Atticus, Quintus, Brutus und Varro um Personen, mit denen ein tatsächlicher literarischer Austausch stattfand, auf den die Dialogfiguren am Anfang des Dialogs Bezug nehmen. Indem der Autor durch seine Figur Varro an den versprochenen Dialog erinnert, die literarische Produktion der anderen lobt oder ihnen gegenüber rechtfertigt, warum er noch nicht an einem Geschichtswerk arbeitet, scheinen die Dialogfiguren die reale Kommunikation innerhalb der fiktiven Welt des Dialogs fortzusetzen. Mit Atticus und Quintus treten dabei zwei Personen in dieser Welt auf, die den Autor und sein bisheriges Werk besonders gut kannten, wodurch sie diesen in Fragen verwickeln können, die Cicero von einer aufmerksamen Leserschaft erwartete. Der ciceronische Dialog entwirft im Fall der zeitgenössischen Gesprächspartner kein rein fiktives intellektuelles Milieu, sondern rekurriert auf ein existentes. Er ist somit Teil einer intellektuellen und nicht abgeschlossenen Kommunikation. Im Fall der bereits verstorbenen Gesprächsteilnehmer Lucullus, Hortensius, Catulus, Torquatus, Triarius und Cato stehen die Dialoge auch im Zeichen der memoria der jeweiligen Persönlichkeiten. Die Dialogfigur erinnert an diese als aufgeschlossene Römer, die Cicero in einem aktiven philosophischen Austausch mit seiner eigenen Person zeigt. Mit der Figur des Hortensius wird ein römischer Kritiker der Philosophie abgebildet, dem die Sinnhaftigkeit des Philosophierens erst bewiesen werden muss (Hortensius), ehe er sich als zufriedener Teilnehmer an der philosophischen Diskussion beteiligen kann (Catulus*, Lucullus). An den

592

Die Vergangenheitsdialoge mit Cicero als Protagonisten

Figuren Lucullus, Cato und Varro wird darüber hinaus deutlich, dass die auf Latein stattfindende Auseinandersetzung mit philosophischer Theorie ein Novum darstellt, weshalm im Gespräch erst das passende Vokabular gefunden werden muss. Besonders in De finibus 3 und 4 wird deutlich, dass die Cicero-Figur ihren Gesprächspartnern den Vortritt gewährt, um anschließend unterstützend einzugreifen. Die Dialogszenerien scheinen dahingehend die Geburt der lateinischen Philosophie darzustellen. Die Anwesenheit römischer Experten aus den Bereichen Geschichtsschreibung, Dichtung und Rhetorik (Lucullus, Catulus, Hortensius, Varro, Atticus) verweist dabei auf artes, in denen die römische Literatur bereits weiter fortgeschritten ist, während die Philosophie für Rom noch zu erschließen ist.

VI Zusammenfassung Die Untersuchung der insgesamt 32 verschiedenen Dialogfiguren ergibt nicht nur ein komplexes Bild hinsichtlich ihrer jeweiligen Verwendung, sondern auch des ciceronischen Dialogs als solchem. Wenden wir uns zunächst der Figur des Autors zu, so lässt sich feststellen, dass diese in den Dialogen mit gegenwartsnahem Gesprächszeitpunkt (V) durchgehend präsent ist und eine dominante Rolle innerhalb des Gesprächs einnimmt. In den Dialogen, in denen sie als adulescens fungiert (IV), spielt sie eine zwar nicht unwichtige, jedoch gegenüber einer älteren Figur (Piso, Cotta) untergeordnete Rolle, wodurch diese ein Bindeglied zur Gruppe der Dialoge ohne Autorpräsenz (III) darstellen. In De oratore und De re publica erscheinen mit Crassus und Scipio Figuren, die ohne Zweifel eine Sprachrohrfunktion übernehmen. Gleichzeitig finden sich in diesen Dialogen mit Antonius und Laelius weitere Sprecher, die ebenfalls eine gewichtige Position innerhalb der entworfenen Dialogwelten einnehmen und zu einer das Gespräch befruchtenden Heterogenität beitragen, wobei sie den Eindruck einer vom Autor intendierten Reflektion erwecken. Das in De re publica entworfene Universum wurde durch die Dialoge Laelius und Cato maior erweitert, in denen die Autorstimme zwar erneut dem jeweiligen Hauptredner zugewiesen werden konnte, dieser jedoch auch über ein markantes eigenständiges Profil verfügt, um dem Leser oder Hörer des Dialogs das Gefühl zu vermitteln, in den Figuren die historische Persönlichkeit wiederzufinden. In den Gegenwartsdialogen gibt sich der Hauptredner deutlich als Schriftsteller Marcus Tullius Cicero zu erkennen, wie Bezugnahmen auf frühere literarische Werke zeigen. Die einzelnen Referenzen auf De re publica, wie sie etwa durch Atticus in De legibus unternommen werden, zeigen, dass die dialogischen Universen der Gegenwartsdialoge nicht nur realitätsnaher, sondern auch in Bezug auf die Universen der Vergangenheitsdialoge autark sind, indem in ihnen ein Bewusstsein für deren Fiktionalität besteht. Für eine abschließende Bewertung der übrigen Figuren, die für weitere Aussagen über die Autorfigur zentral sind, bietet sich ein schematischer Überblick an.

1

Typologie der Dialogfiguren

Ausgehend von der Untersuchung der einzelnen Dialogfiguren lassen sich unterschiedliche Typologien bilden, die eine Beurteilung von Ciceros Arbeitsweise erleichtern. Verwendet man dabei zunächst die zeitliche Nähe zum Autor als Kriterium, ergeben sich folgende Gruppierungen:

594

Zusammenfassung

Vorfahren

Zeitgenossen

verstorben vor Geburt des Autors

verstorben, während verstorben Cicero adulescens war

lebendig

Cato maior (234–49) Manilius (vor 194–nach 129) Laelius (ca. 190–n. 129) Mummius (zw. 190 u. 179–n. 129) Scipio (ca. 185–129) Philus (v. 179–n. 129) Tubero (v. 154–n. 129) Fannius (ca. 170–n. 122)

Scaevola (zw. 174 u. 168–87) Catulus I (zw. 159 u. 149–87) Rutilius (zw. 158 u. 154–n. 78) Antonius (143–87) Crassus (140–91) Caesar Strabo (ca. 131–87) Sulpicius (ca. 124–88)

Varro (116–27) Atticus (ca. 110–32) Quintus (ca. 102–43) Hirtius (ca. 90–43) Brutus (v. 85–42) Cicero M.f. (65–n. 30)

Cotta (ca. 124–ca. 74) Catulus II (ca. 121–60) Lucullus (ca. 118–56) Piso (ca. 115–v. 47) Hortensius (114–50) L. Cicero (99/97–68) Cato minor (95–46) Torquatus (ca. 89–47) Balbus (? –n. 76) Velleius (? –n. 76) Triarius (? –v. 46)

Eine erste zentrale Unterscheidung, die sich bei den Dialogfiguren vornehmen lässt, besteht in der Trennung zwischen „Vorfahren“ und „Zeitgenossen“ Ciceros. Die Gruppe der Vorfahren tritt in den Dialogen Cato maior, De re publica, Laelius und De oratore auf und lässt sich untergliedern in Persönlichkeiten, die Cicero als junger Mann noch erlebt hat, und solche, die vor seiner Geburt oder während seiner frühesten Kindheit gestorben sind. Sie divergieren hinsichtlich ihres Alters um mindestens eine aetas vom Autor. Es handelt sich bei ihnen um berühmte Mitglieder der römischen Aristokratie in der Zeit vor seiner Geburt beziehungsweise seiner Jugend. Zieht man das Kriterium des „persönlichen Kontakts“ hinzu, lässt sich diese Gruppe erneut unterteilen in Persönlichkeiten, die Cicero nur über Berichte Dritter, die Lektüre historischer Werke sowie überlieferte Reden kennen konnte, und Persönlichkeiten, zu denen er persönlichen Kontakt hatte. Mit Ausnahme des Rutilius, den Cicero während seiner Griechenlandreise in den frühen 70er Jahren in seinem Exil besuchte, fällt der Tod der ihm bekannten „Vorfahren“ spätestens in die Zeit der Bürgerkriegswirren der 80er Jahre, die dahingehend eine Zäsur darstellen. In die Gruppe der Zeitgenossen fallen die Personen, die diese überlebten und deren Wirken Cicero als Erwachsener aus eigener Anschauung kennen konnte. Auch diese Gruppe lässt sich unterteilen in Personen, die zur Abfassungszeit der Dialoge, in denen sie auftreten, bereits verstorben sind, und jene, die zur Zeit der

Ideale Diskursgemeinschaften im sozialen und kommunikativen Kontext

595

Veröffentlichung noch lebten und sich somit selbst ein Bild von den sie verkörpernden Sprechern in den Dialogen machen konnten. Schwierig gestaltet sich diese Unterscheidung bei den Dialogfiguren Velleius und Balbus, da unsere Quellen keinen Aufschluss über ihr Todesdatum geben. Nimmt man in der Gruppe der verstorbenen Zeitgenossen Velleius, Balbus und Ciceros früh verstorbenen Vetter Lucius aus, so lässt sich zunächst konstatieren, dass es sich bei all diesen Persönlichkeiten um Staatsmänner handelt, die die politische Karriere des Autors auf unterschiedliche Weise begleiteten. Bei Lucullus, Hortensius und dem jüngeren Catulus handelt es sich um jene Konsulare, die Ciceros Vorgehen gegen Catilina entscheidend unterstützten, bei dem jüngeren Cato, Triarius, Torquatus und Piso dagegen um Personen, die während des Bürgerkriegs (49–45) auf Seiten des Pompeius kämpften und ihren Tod fanden. Es wurde gezeigt, dass es zwischen ihnen und Cicero bisweilen starke politische Meinungsverschiedenheiten gab. Ihr Auftritt in den philosophischen Werken, die während der Diktatur Caesars erschienen, erinnert an die Gegner des Herrschers, was ohne Zweifel eine politische Spannung in sich bergen musste. Von dieser Gruppe lassen sich Dialogfiguren unterscheiden, welche die ihnen durch das Erscheinen im Dialog entgegengebrachte Ehrerweisung selbst lesen konnten und sollten. Der Dialog bildet dabei einen intellektuellen Austausch zwischen den jeweiligen Personen und Cicero ab, der an existierende Kommunikationsverhältnisse anknüpft. Im Fall von Brutus, Atticus, Quintus und Varro handelte es sich um einen literarischen Austausch, der in der Realität durch das gegenseitige Zusenden literarischer Eigenproduktionen – oft mit persönlichen Widmungen – stattfand und im Dialog seine Fortsetzung fand. Dies trifft in gewisser Weise auch auf Hirtius zu, der nur wenige Jahre vor De fato Rhetorikunterricht bei Cicero nahm, doch ist sein Erscheinen wesentlich stärker politisch geprägt.

2

Ideale Diskursgemeinschaften im sozialen und kommunikativen Kontext

Die Untersuchung der Dialogfiguren in De re publica, Cato maior, Laelius und De oratore zeigte, dass der Autor bewusst bestimmte maiores als Dialogfiguren verwendet und diesen hinsichtlich ihres politischen Wirkens eine Vorbildfunktion für sich beimisst. Die von ihm gewählten Persönlichkeiten dienen dabei nicht lediglich als Sprachrohre seiner eigenen Positionen, sondern entwerfen gleichzeitig ein eigenes Milieu, in dem das otium zum intellektuellen Austausch genutzt wird. Dieses Umfeld römischer Theoriebildung beginnt im dialogischen Universum mit Cato maior, der den Eroberer Tarents, Quintus Maximus, als entscheidenden Einfluss in seiner Jugend nennt und damit auf eine noch ältere intellektuelle Tradition verweist. Die Einzelpersonen fungieren dahingehend als deren Überliefernde und Geburtshelfer, die durch das generationenübergreifende Gefüge Kontinuität erhält. Die Tatsache, dass der schon in De oratore als senex auf-

596

Zusammenfassung

tretende Scaevola in De re publica eingefügt wird, bindet das Personengefüge von Ciceros erstem Dialog nachträglich in dieses Schema ein. Bereits die frühere Forschung unter Müller hat vermutet, dass es Cicero bei der Verflechtung der Personengefüge um die Schaffung einer „geistigen Ahnenreihe“ ging, die ihm als homo novus nicht ungelegen gewesen sei.1 Die als philosophierend dargestellten maiores, die dem Leser zu Ciceros Zeit durch die komplexe römische Erinnerungskultur (pompa funebris, imagines) oder als positive exempla in Reden präsent waren, nobilitieren durch ihre auctoritas gleichzeitig die Philosophie als standesgemäße Beschäftigung. Einen besonderen Reiz der ciceronischen Szenerien macht aus, dass die Figuren dabei unterschiedliche Haltungen hinsichtlich des Theoretisierens einnehmen: Figuren wie Laelius und Antonius legen eine Zurückhaltung gegenüber der Philosophie an den Tag und verfügen über ausgeprägt römische Charakterzüge, wodurch die res publica während der theoretischen Erörterung weiter im Blickfeld bleibt. Beide verweisen durch das Zitieren eines Verses aus dem Neoptolemos auf das richtige Maß in der Debatte. Ihnen gegenüber stehen Figuren, die einen unbefangeneren Umgang zeigen, wie etwa die für die Wissenschaften aufgeschlossenen Figuren Philus und Catulus oder auch die stoischen Gesprächsteilnehmer Tubero, Rutilius und Scaevola. Um die Glaubwürdigkeit der Ausführungen der Dialogfiguren in den Vergangenheitsdialogen zu stärken, spielt Cicero auf ihre Bildungskontakte an, indem er auf die Philosophengesandtschaft unter Karneades, die Scipio, Laelius, Philus und Scaevola selbst gehört hätten, auf politische Aufenthalte im griechischen Osten des Reichs, wie etwa im Fall des Scipio, Mummius, Crassus und Antonius, oder auf Freundschaftsverhältnisse mit griechischen Philosophen verweisen lässt. Während die Hauptredner in den Vergangenheitsdialogen dabei den Eindruck erwecken, eine ideale Verbindung griechischer Theorie und römischer Praxis zu verkörpern, werden sie in De oratore und De re pubica von Figuren umgeben, die über individuelle Stärken verfügen, wie etwa die als Rechtsexperten dargestellten Figuren Manilius oder Scaevola. Dass Cicero mit seinen Figurenkonstellationen Bildungsszenerien entwirft, zeigt sich in den Vergangenheitsdialogen vor allem an einer durchgängig differenzierten Altersstruktur zwischen Hauptrednern konsularischen Rangs auf der einen und am Anfang ihrer politischen Laufbahn stehenden adulescentes auf der anderen Seite. Der in diesen Dialogen gezeigte Diskurs erweckt dahingehend den Eindruck, von einer älteren Generation auf die jüngere übertragen zu werden. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass einige Personen mehrmals und in unterschiedlichen Rollen erscheinen: So treten Scipio und Laelius im Cato maior als adulescentes, in De re publica hingegen als Hauptredner auf. Eine ähnliche Verbindungslinie entsteht durch Scaevola zwischen De re publica und De oratore sowie durch Cotta zwischen De oratore und De natura deorum,

1

Müller 1965, S. 160f.; ebenso: Harder 1971, S. 34; Steel 2013.

Ideale Diskursgemeinschaften im sozialen und kommunikativen Kontext

597

wodurch der letztgenannte Dialog ein Übergangswerk zwischen den Vergangenheits- und den Gegenwartsdialogen darstellt. Die entworfene Bildungsszenerie macht nicht nur auf das ciceronische Ideal des philosophisch reflektierenden Staatsmannes aufmerksam, sondern zeigt darüber hinaus einen standesgemäßen Raum auf, in dem ein römischer Aristokrat philosophische Reflexion betreiben kann. Indem die Gesprächsinszenierung der Vergangenheitsdialoge immer wieder auf die gesellschaftlichen und politischen Rollen der Sprecher jenseits des otium verweist, entwirft der Autor für den römischen Leser den Archetypus eines philosophierenden Römers, der seine Rolle als Senator nicht mit der eines Theoretikers tauscht, sondern erweitert. Durch diese intendierte Intellektualisierung der maiores gelingt es Cicero einerseits, dem Leser ein Rollenmuster anzubieten, das mögliche Vorbehalte gegenüber der Beschäftigung mit philosophischer Theorie ausräumt – indem es diese nämlich mit der römischen dignitas harmonisiert – und als anregendes Vorbild dienen konnte, zum anderen legitimiert er dadurch nicht zuletzt auch seine eigene Position als sich mit Staatsphilosophie und Rhetorik beschäftigender Autor, als der er hinter den verschiedenen Masken punktuell immer wieder durchschimmert. Gleichzeitig entwirft er in den vier Vergangenheitsdialogen ein Spannungsfeld zwischen den präsentierten Idealvorstellungen (orator, rector, senex, amicus), den vier Protagonisten (Crassus, Scipio, Cato maior, Laelius), die durch ihre historische Biographie Ähnlichkeiten zum jeweils behandelten Ideal aufweisen, und seiner eigenen Person als philosophischem Denker, auf den die theoretischen Grundlagen der jeweiligen Ausführungen eigentlich zurückzuführen sind. Nicht wenige der Dialoge der jüngeren Vergangenheit bzw. der Gegenwart weisen Elemente auf, die – wenn auch in abgeschwächter Form – an diese Bildungsszenerie erinnern. So verfügen De finibus V, De natura deorum, De finibus I und II sowie Brutus mit Lucius, Cicero, Triarius und letztlich Brutus über Figuren, die als vorbildliche Zuhörer der jeweiligen Untersuchungen auftreten und sich gegenüber den anderen Dialogfiguren hinsichtlich ihres Alters um eine aetas unterscheiden. Mit Ausnahme des Brutus stehen in all diesen Dialogen durchgehend philosophische Themen im Vordergrund. Während sich die Individualität der Dialogfiguren in den Vergangenheitsdialogen durch biographische Aspekte oder in der grundsätzlichen Haltung zu einem als griechisch empfundenen Theoriediskurs artikulierte, kommt in den Gegenwartsdialogen die Schulzugehörigkeit als weiteres Unterscheidungsmerkmal hinzu. Dies trifft vor allem auf stoische und epikureische Gesprächsteilnehmer zu, die nicht nur hinsichtlich ihrer philosophischen Argumentation unterschiedlich auftreten, sondern auch hinsichtlich ihres Gesprächsverhaltens. Mit Velleius und Torquatus zeigt Cicero etwa Epikureer, welche die von ihm kritisierte Autoritätsgläubigkeit und den Dogmatismus jener Schule verkörpern. Es spricht jedoch für die Kreativität und das Interesse des Autors an seinen literarischen Geschöpfen, dass man auch in dieser Gruppe deutliche Unterschiede feststellen kann, indem er etwa mit Velleius einen im Vergleich zu Torquatus deutlich polemischer auftretenden Vertreter

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Zusammenfassung

jener Richtung präsentiert. Der Epikureer Atticus, der selbst keinen epikureischen Vortrag hält, erscheint sogar als überaus sympathischer Schüler des Kepos, der ein dezidiert aufgeschlossenes und freundliches Gesprächsverhalten an den Tag legt. Die stoischen Gesprächspartner Balbus und Cato zeichnen sich dagegen durch einen sprichwörtlich stoischen Ernst und Gesprächston aus, der dem Auftreten der anderen Gesprächspartner entgegengesetzt zu sein scheint. Je weiter sich das dramatische Datum des Dialogs der Gegenwart des Autors annähert, umso mehr rückt dabei dessen eigene Person in den Fokus. In allen Dialogen ab dem Frühjahr 45 inszeniert Cicero sein Alter Ego als Vertreter der Neuen Akademie. In jedem der drei Gespräche aus De finibus wird auf die Methode des sokratischen Wechselgesprächs angespielt, auf welche seine Figur jedoch aus Rücksicht auf die Gesprächsteilnehmer zu verzichten scheint und stattdessen den zusammenhängenden Vortrag wählt. Durch ihr betont freundliches und undogmatisches Auftreten bildet sie einen Gegenentwurf zum kühl gezeichneten Stoiker Cato oder zu den angriffslustigen Epikureern Velleius und Torquatus. Gleichzeitig wird durch diese Figur auf die Person des Autors und sein literarisches Schaffen angespielt. Vor allem Quintus und Atticus ermöglichen durch ihre dialogexterne enge Beziehung zu Cicero Anspielungen auf sein bisheriges Werk und Handeln, wodurch auch potentiellen Verständnisproblemen des Lesers begegnet werden kann: So versucht Quintus in De legibus, ihn durch den Verweis auf seine Dichtung und frühere Aussagen der Widersprüchlichkeit bei der Widerlegung der stoischen Divinationslehre zu überführen, wodurch ein Raum entsteht, welcher der Dialogfigur eine Rechtfertigung gegenüber der dialogexternen Leserschaft ermöglicht. Der kommunikative Aspekt der Dialogfiguren mit besonderer Nähe zum Autor beschränkt sich dabei nicht nur auf die Vertretung der Leserschaft. Im Falle der Figuren Varro, Brutus und Hirtius lässt sich erkennen, dass sich einige der von der Cicero-Figur an sie gerichteten Aussagen direkt an die historischen Figuren richten. Auf diese Weise entwickelt sich die dialoginterne Kommunikation zur realen dialogexternen beziehungsweise eine solche wird fortgesetzt. So wird Varro durch seine Figur an eine literarische Bringschuld gegenüber dem Autor erinnert, Brutus die Fortsetzung seiner rednerischen Laufbahn empfohlen und bei Hirtius versucht, ihn auf eine Ausgleichsund Friedenspolitik einzuschwören. Der beabsichtigte Effekt ist hierbei ein zweifacher: Indem die angeblich private Kommunikation mittels eines zur Publikation vorgesehenen Mediums transzendiert wird, suggeriert der Autor einerseits, über eine besonders intime Verbindung zur angesprochenen Person zu verfügen, andererseits verleiht er an diese gerichteten Forderungen und Empfehlungen Nachdruck. Die Komplexität der Figuren, die meist einen pragmatischen römischen und einen theorieaffinen griechischen Wesenszug in sich vereinen, wird auch daran deutlich, dass die von Cicero dargestellten Gesprächskollektive eine für die Zeitgenossen ungewohnte Situation porträtieren, indem römische Aristokraten selbst, ohne Hinzuziehen eines griechischen Lehrers, einen philosophischen Diskurs

Ideale Diskursgemeinschaften im sozialen und kommunikativen Kontext

599

führen, der darüber hinaus in lateinischer Sprache erfolgt. Zwar standen, wie die Untersuchung der Biographien der einzelnen Dialogfiguren zeigte, nicht wenige der Persönlichkeiten tatsächlich in Verbindung mit griechischen Lehrern, doch signalisiert der Autor als Regisseur des Dialogs stets, dass die einzelnen Protagonisten mit ihren lateinischen Darstellungen griechischer Lehrmeinungen etwas Neues wagen. Die Dialogszenerie gleicht somit punktuell einer Umkehrung der realen Hierarchien, indem ihre Figuren von der Rolle der audientes in die der Lehrmeister schlüpfen und ihre Funktion als herrschende Beamte über den griechischen Osten des Imperiums scheinbar temporär ablegen. Eine derartige Umkehrung konnte auf einzelne Leser, die derselben sozialen Schicht angehörten, eine Wirkung haben, die man frei nach Bachtin als „karnevalesk“ bezeichnen könnte.2 Wie jedoch oben dargelegt, ging es dem Autor nicht um eine grundsätzliche Inversion des Rollenverständnisses der römischen Aristokratie, da der römische Charakter der Dialogfiguren stets präsent bleiben sollte. Die von einzelnen Dialogfiguren und der Szenerie ausgehenden Hinweise auf das Außergewöhnliche des Verfahrens beziehen sich dahingehend nicht nur auf die Harmonisierung der griechischen Theorie mit der römischen Lebenswelt, sondern zugleich auch auf die Leistung des Autors, der den eigentlichen Schöpfer dieser Synthese darstellt. Diese von Cicero dargestellten Geburtsmomente römischen Philosophierens sind freilich komplexer Natur: Die Szenerie steigert einerseits den literarischen Reiz, indem sie Ungewohntes mit Althergebrachtem kombiniert, wodurch der römische Leser, um den es Cicero ging, für die Philosophie gewonnen werden sollte. Gerade die Skepsis, mit der einige Römer die Darstellbarkeit griechischer Philosophie in lateinischer Sprache betrachteten, wie das Proömium von De finibus I zeigt, wird in den jüngeren Dialogen durchaus thematisiert. Der Dialog soll dem skeptischen Leser das Gegenteil beweisen und tut dies nicht zuletzt, indem er deutlich macht, dass sich dieser Transferprozess unmittelbar in dem dargestellten Gespräch abspielt, wenn die Dialogfiguren nach geeigneten lateinischen Äquivalenten für griechische Fachtermini suchen. Cicero zeichnet durch die Dialoge, die teils in einer von ihm entfernten Vergangenheit, teils in seiner Gegenwart spielen, ein Bild von sich, das auf den ersten Blick weniger an den Archegeten der Philosophie in Rom, sondern eher an einen Geburtshelfer eines lateinischen Diskurses denken lässt. Es lassen sich zwar – wie auch in anderen Werken Ciceros – Dialogmomente herausstellen, die als Teil eitler Selbstinszenierung und als Werbung für die eigene Person interpretiert werden können, doch zeigen gerade die Wahl des Dialogs als Medium seines philosophischen Projekts sowie der Entwurf philosophierender Diskursgemeinschaften, die als Produkt einer römischen Tradition präsentiert werden, dass die Etablierung der Philosophie in der Lebenswelt der res publica für ihn eine die eigene Person übersteigende Bedeutung besitzt. Die lateinische Philosophie, die er mit dem 2

Zu Bachtins Begriff des Karnevalesken s.: Schmitz 2002, S. 83–85.

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Zusammenfassung

älteren Cato, Scipio und Laelius bereits hundert Jahre vor seiner Zeit beginnen lässt, erscheint dabei stets als Produkt einer generationenübergreifenden Gemeinschaft von Individuen, nicht als das eines Einzelnen.

Zur Zitierweise und verwendeten Siglen Die lateinischen Texte von De re publica, De legibus, Laelius und Cato maior folgen der Edition von Jonathan Powell herausgebenen Ausgabe der Oxford Classical Texts. Zitate aus dem Hortensius werden nach der textkritischen und kommentierten Ausgabe von Alberto Grilli wiedergegeben, Zitate aus dem Lucullus folgen dagegen der kommentierten, textkritischen Übersetzung von Schäublin. Alle anderen Werke Ciceros werden nach den im Literaturverzeichnis angeführten Editionen der Bibliotheca Teubneriana wiedergegeben. Zur Absetzung der wörtlichen Rede wurden stellenweise zusätzliche Kommata in die lateinischen Texte eingefügt. Die Wiedergabe von Übersetzungen folgt dabei der reformierten Rechtschreibung, insofern es sich dabei nicht um Forschungsliteratur älterer Zeit handelt. Die Abkürzung antiker Autoren und ihrer Werke erfolgt nach der Konvention des Neuen Pauly. Wissenschaftliche Zeitschriften werden im Literaturverzeichnis nach der L’année philologique abgekürzt. Darüber hinaus finden in Fußnoten und Literaturverzeichnis folgende Siglen für Quelleneditionen und Nachschlagewerke Verwendung:

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Lucilius, C.: Satiren. Lateinisch-Deutsch, eingel., übers. u. erl. v. Johannes Christes u. Giovanni Garbugino, Darmstadt 2015 (Texte zur Forschung 106).

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ORF4

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Kommentare

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Orts- und Personenregister Accius, L. 271, 320, 439, 534 Aculeo, C. Visellius 46 Aelius, L. 118, 534 Africa 211, 348, 464, 489, 509 Ägypten 141, 348 Ahala, C. Servilius 506f., 525 Aischines 55, 293f., 529 Aischylos von Knidos 498 Akropolis (Athen) 423 Alba 446 Albucius, T. (pr. 105) 114 Alexander d. Gr. 360 Alexandria 363 Amafinius, C. 28, 537, 543 Ampius Balbus, T. (pr. 58) 420 Anaxagoras 64, 364 Anicia (Pomponii Attici consobrina) 286 Antias, A. Furius 124 Antiochia 124, 355, 568 Antiochos von Askalon 260f., 267, 269f., 276, 294f., 297, 322f., 342, 349, 356f., 362f., 366f., 369f., 373f., 376, 378, 391, 413, 437, 469, 483, 511, 532, 534, 537f., 544f., 547, 589 Antiochos III. 211 Antonius, M. (cos. 99) 41–46, 49, 52, 54, 60, 62, 66, 69–90, 95f., 98f., 101–105, 108– 112, 115, 117f., 120f., 125– 132, 134, 144, 171, 174f., 193f., 204, 215, 235, 242, 255f., 270, 286, 306, 308, 363, 401, 411, 497, 530, 593f., 596

Antonius, M. (cos. 44) 107, 248, 288, 534, 565f., 569, 575, 583 Antipatros von Sidon 124 Antipatros von Tyros 462 Antistius, P. (tr. pl. 88) 99, 106 Apollo 227, 238–240, 243 Apollonios von Alabanda 120f. Appian 162, 203 Aquilius, M’ (cos. 101) 70 Aratos 174, 271, 320, 330, 368f., 554, 563f. Arausio 88 Archias, A. Licinius 47, 124, 353, 355, 426 Archimedes 147, 179, 187 Archytas 216 Aristipp 458 Ariston von Alexandria 363 Ariston von Chios 390, 470 Ariston von Keos 209f. Aristos von Antiochos 261, 363 Aristoteles 18, 35, 37f., 52, 82, 104, 109, 119, 128, 130, 134, 147, 245, 260, 321, 346, 388, 390, 436, 469, 482, 484, 486, 538, 553 Arkesilaos 393, 436f., 545 Arpinum 380, 398, 400, 403, 405, 417, 582 Asconius Pedianus, Q. 262, 275, 508 Asia / (Klein-)Asien 44, 69, 121, 189, 281, 287, 318, 348, 361, 515, 528 Athen 14, 44, 47, 55f., 58, 77f., 89, 134, 138, 216, 238f., 261,

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Orts- und Personenregister

270, 275f., 285f, 289–292, 294, 305, 309, 348, 370, 406, 416, 418f., 423f., 529f., 534, 566, 582f., 587, 589 Athenaios 114, 184 Athenodoros von Kordylon 462 Atticus, T. Pomponius 38, 97, 100, 122, 132, 134, 140f., 175, 195f., 199, 208, 210, 225, 234, 252–254, 261, 263, 275f., 281, 283–293, 308, 310, 317, 338, 356–359, 365, 370, 372, 380, 382– 387, 391f., 394, 396, 398– 428, 432, 434, 438, 442, 449, 459, 465, 472, 491– 495, 500f., 503f., 506, 508, 512–517, 519, 522, 524– 532, 534–536, 538, 540f., 544, 546–548, 556, 559, 566, 568f., 571, 573–575, 581f., 591f., 593–595, 598 Augustinus 169, 336, 339 Babylon 141 Balbus, L. Lucilius 310, 318 Balbus, Q. Lucilius 222, 264, 271, 274, 297, 300–303, 305f., 308, 310, 312, 315–325, 328–330, 332f., 469, 552, 555, 560, 564, 594f., 598 Bauli 358, 369 Bestia, L. Calpurnius (cos. 111) 107 Bias 241 Boethius 22 Brundisium 489, 582 Bruni, Leonardo 15 Brutus, D. Iunius 525 Brutus, L. Iunius 498f., 506f., 525 Brutus, M. Iunius (Jurist) 581 Brutus, M. Iunius (trib. pl. 83) 506

Brutus, M. Iunius (Caesarmörder) 75, 261, 282f., 287f., 296, 299, 308, 310, 325f., 330, 356, 442, 447, 456f., 460f., 464f., 467f., 474, 478, 482, 488–493, 495–528, 530– 533, 535, 540, 543, 548, 563, 565f., 571f., 574, 580, 591, 594f., 597f. Brutus Accusator, M. Iunius 525 Brutus Albinus, D. Iunius 569 Brutus Gallaecus, D. Iunius 525 Bruttius (rhetor) 582 Caieta 65 Caecina, A. 93, 509f. Caepio, Q. Servilius (cos. 106) 44, 46, 70 Caepio, Q. Servilius (procos. 90) 467, 481f. Caesar, C. Iulius 29, 31f., 39, 134, 141, 173, 208f., 231f., 248f., 262, 281f., 287, 297, 349, 352f., 407, 436, 442, 446, 456, 460, 463–465, 476, 489f., 492, 499–503, 505f., 507–512, 522–526, 530f., 533f., 536, 548f., 551, 554f., 561f., 564–572, 575, 578, 582f., 595 Caesar, L. Iulius (cos. 64) 581 Caesar Strabo, C. Iulius 42f., 54, 57, 62f., 73, 80, 90f., 95f., 98–101, 105–112, 123, 125f., 185, 594 Caesius, M. 582 Calenus, Q. Fufius 534 Calidius, M. (pr. 57) 282 Calvus, C. Licinius 504, 511, 513, 520 Camillus, L. Furius (cos. 338) 217 Cannae 493

Orts- und Personenregister

Carbo, C. Papirius (cos. 113) 44, 163, 247, 249, 530 Cassius (rhetor) 582 Cassius Longinus, C. (tr. pl. 49) 566, 569 Cassius Longinus Ravilla, L. (cos. 125) 247, 364 Castiglione, Baldassare 15 Catilina, L. Sergius 286, 349, 360, 399, 463, 595 Cato Censorius, M. Porcius 24, 28, 64, 107, 138f., 150–154, 161, 167, 177, 181, 203, 209–231, 234–242, 244– 246, 255, 266, 272, 362, 400, 405f., 461, 463, 503f., 522, 529f., 532, 578, 594f., 597, 600 Cato Uticensis, M. Porcius 22, 29, 183, 195, 210, 265, 274, 277, 288, 319, 345, 353, 356, 378, 400, 435, 446f., 461–489, 496, 498, 506, 508–511, 533, 535, 540, 554–556, 560, 568f., 591f., 594f., 598 Catullus, C. Valerius 446 Catulus, Q. Lutatius (cos. 102) 42f., 50, 57, 64–66, 73, 79– 83, 85f., 88, 95, 107–109, 111f., 115, 123–134, 138f., 185, 189, 191, 207, 256, 303, 352–355, 366, 411, 594, 596 Catulus, Q. Lutatius (cos. 78) 335– 337, 339, 342f., 350, 352– 360, 365f., 371, 372–376, 577, 591f., 594f. Caudium 216 Censorinus, L. Marcius 203 Charmadas 55f. Charondas 395f., 425

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Chrysipp 168, 300f., 312, 320, 470, 553, 577 Cicero, L. Tullius (patruus) 69, 72 Cicero, L. Tullius L. f. 261, 267, 269f., 273f., 276f., 281, 284f., 292–296, 332, 456f., 462, 594f., 597 Cicero, M. Tullius 14, 17–25, 27– 49, 51–55, 60–63, 66–73, 75, 78–83, 85, 89–91, 93, 95–101, 103, 105–107, 113– 115, 120, 122f., 125f., 130– 140, 142–144, 146, 149– 153, 156–164, 166, 168, 170, 172–177, 181–184, 186, 189–202, 204, 207– 211, 213–220, 222–228, 231–237, 239–241, 244, 248–250, 252–255, 259– 266, 268–299, 301, 303– 315, 317, 319f., 325–332, 335–347, 349–549, 551–599 Cicero, M. Tullius M. f. 579–590, 594 Cicero, Q. Tullius 37, 39f., 43, 47, 134–136, 142, 191, 211, 253, 261, 275f., 280–285, 287, 290–292, 329, 336, 339, 380, 382–387, 396, 398f., 402f., 406, 408–411, 413–415, 419f., 422–433, 459, 514, 519, 527, 548– 557, 559, 561–563, 567f., 574, 581, 591, 594f., 598 Cicero, Q. Tullius Q. f. 568, 581f. Cinna, L. Cornelius 41, 124. 262, 266, 303f., 337 Clodius Pulcher, P. 100, 173, 263, 349, 365, 374, 378, 398– 400, 428, 430f., 463, 508, 566 Congus, M. Iunius 76 Consentina 192

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Orts- und Personenregister

Coriolanus, Cn. Marcius 528 Cornelius, C. (tr. pl. 67) 337, 353, 355 Coruncanius, Ti. (cos. 280) 64, 222, 300f. Cotta, C. Aurelius 25, 41–43, 47, 54, 58–60, 67, 74, 86, 90– 101, 103–105, 110, 112– 116, 121, 191, 194, 197, 228f., 264, 274, 296–309, 311f., 314–317, 319, 321, 323–329, 331–333, 348, 352, 360, 445–447, 449, 499, 516, 518, 525, 549– 551, 557, 560, 562, 593f., 596 Cotta, L. Aurelius (cos. 144) 144 Cotta, M. Aurelius (cos. 74) 348 Crassus, Ap. Claudius (cos. 349) 216f. Crassus, L. Licinius 41–69, 70–81, 84–86, 89–91, 94–98, 100– 105, 107–122, 125–127, 130–135, 143f., 148f, 155, 157, 161, 169, 180, 194, 203f., 207, 222, 226f., 235, 243, 255f., 263f., 286, 298, 302, 305f., 308, 310, 314, 317f., 323, 337, 347, 360, 363, 397, 401, 440, 478, 497–499, 503, 504, 522, 530, 537, 540, 587, 590, 593, 594, 596f. Crassus Dives, M. Licinius 31, 40, 282, 352, 407, 442, 476f., 562 Crassus, P. Licinius (leg. 58/57) 338 Crassus Mucianus, P. Licinius (pont. max. 132–130) 172, 364 Cumae 504 Curiatius, C. (tr. pl. 138) 430

Curio, C. Scribonius (cos. 76) 70, 88, 103, 522 Curius, M’. Dentatus 222 Deiotarus Philohormaios 495, 500, 508, 517, 582 Delos 423f. Demetrios von Phaleron 391f. Demetrios von Syrien 498 Demokrit 64, 111, 321, 364, 553 Demosthenes 43, 267, 293f., 497 Dikaiarch 199, 390, 486 Diodor von Tyros 55, 350 Diodoros Kronos 577 Diodotos 370, 498 Diogenes von Babylon/Seleukeia am Tigris 129, 139, 390, 470, 553 Dion von Alexandria 363 Dionysios von Magnesia 498 Dionysios (Tyrann) 562 Dionysios, M. Pomponius 581 Dolabella, P. Cornelius 568 Drusus, M. Livius 41, 45, 47, 90, 92, 99, 303, 477f., 485 Duronius, M. 70 Dyrrachium 582 Ennius, Q. 83–85, 135, 138, 171, 211, 218, 222, 242, 245, 271, 320, 439 Ekbatana 141 Empedokles 364 Ephoros von Kyme 351 Epikur 245, 280, 282, 288, 290f., 299, 305–316, 318, 320– 323, 390, 393f., 412–414, 416, 419, 422, 433–435, 437–439, 443–445, 447– 453, 456–459, 484f., 529, 552, 577 Euphrat 477 Euripides 439

Orts- und Personenregister

Euripus 417 Fabricius Luscinus, C. (cos. 282, 278) 64, 222 Fannius M. f., C. 142, 182, 184, 188, 195–200, 208, 234, 238–240, 247, 249–254, 256, 465, 594 Fibrenus 404 Flaccus, L. Valerius (cos. 195) 211 Flaccus, L. Valerius (cos. 100) 70 Flaminius, C. (cens. 220) 364 Flavius Josephus 263 Gabinius, A. (tr. pl. 139) 247 Gabinius, A. (cos. 58) 464 Gallien / Gallia 45, 92, 281, 507, 509, 568 Galba, Ser. Sulpicius 163, 168, 530 Galus, C. Sulpicius (cos. 166) 237, 240f., 246 Gellius, A. 233 Gellius Poplicola, L. (pr. 94) 413 Glabrio, M’. Acilius (cos. 191) 223 Glaucia, C. Servilius 189 Gorgias aus Leontinoi 132, 440 Gracchus, Ti. Sempronius Maior (cos. 177) 174 Gracchus, Ti. Sempronius 44f., 70, 99, 135f., 142, 163, 171f., 175, 184, 192, 196, 203, 237, 247f., 318, 320, 430, 530 Gracchus, C. Sempronius 44f., 70, 99, 132, 163, 175, 189, 247f., 251, 318, 430, 477, 485, 530 Gratidianus, M. Marius 70, 124 Gratidius, M. 72 Griechenland / Graecia 50, 93, 129f., 135, 149, 205, 227, 238f., 262, 281, 286, 297, 306, 314, 348, 352, 354,

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360, 375, 409f., 413, 501, 521, 563, 566, 582, 594 Großgriechenland / Magna Graecia 129, 243 Hannibal 141, 211, 344, 485 Herakleides von Pontos 37f., 553 Heraklit von Ephesos 387 Heraklit von Tyros 363 Herculaneum 589 Herodot 351, 439, 552 Hesiod 245, 494, 528 Hieron 299 Hippias von Elis 132 Hirtius, A. 566–578, 591, 594, 595, 598 Homer 192, 216, 271, 424 Hortensius, Q. Hortalus 67, 77, 133, 335–347, 351, 353, 355–360, 365f., 372– 374, 376–378, 446, 496f., 502, 508, 519, 532, 577, 578, 591f., 594f. Hypereides 43, 490 Isokrates 53, 68, 133, 245 Italien / Italia 27, 129, 141, 212, 217, 261, 368, 398f., 405, 463, 503, 566, 579 Iugurtha 189 Iulia Caesaris 507 Kampanien 336 Karneades 52, 55f., 84, 104, 120, 123, 125, 129f., 139, 179f., 213, 267, 276, 295, 372, 374f., 390, 393, 434, 545, 552, 557, 564, 577, 596 Karthago 141, 148, 196, 203, 205, 212, 223, 230, 236 Kilikien / Cilicia 69, 72, 77f., 134, 282, 348, 360, 378, 507f., 511, 561

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Orts- und Personenregister

Kition 475, 487 Kleanthes 300f., 320 Kleitarchos 528f. Kleitomachos 55, 180, 363, 372 Knossos 380 Kolonos 283f. Korinth 199 Kratippos 23, 523f., 553f., 582, 589 Kreta 385, 404 Kritolaos 55, 129, 139 Kyros 216, 223 Laelius Sapiens, C. 65, 114, 123, 129f., 137–142, 144, 146– 149, 152f., 156, 158–183, 186–188, 191, 193, 195– 199, 205f., 208f., 215f., 221f., 224, 227–231, 234– 254, 256, 266, 272, 300f., 401, 408, 435, 443, 474, 486, 530, 540, 593f., 596– 597 Laktanz / Lactantius, L. Caecilius Firmianus 159, 340 Lanuvium 309 Latium 337 Laurentum 65 Lavinium 124 Lentulus, P. Cornelius (cos. 162) 174 Lepidus, M. Aemilius (cos. 78) 352 Lepidus, M. Aemilius (cos. 46) 569 Licinia 44 Livius Drusus, M. 45, 92, 99, 477 Lucca 40 Lucceius, L. (Historiker) 40 Lucullus, L. Licinius (cos. 151) 347 Lucullus, L. Licinius 25, 281, 335f., 338f., 343–345, 347–

351, 353–369, 371–378, 456, 461–463, 466f., 481f., 577, 591f., 594f. Lucullus, M. Licinius L. f. 466– 468, 480–482, 488 Lucilius, C. 18, 65, 114, 140, 144, 156, 163f., 203f., 245, 439, 443 Lucilius, L. 318 Lukrez / T. Lucretius Carus 28, 282, 312, 313 Lutatia Catuli 337 Lykurg 64, 206, 425 Lysias 194, 490, 529f. Makedonien 55, 147, 212, 462 Mancinus, C. Hostilius 176, 182 Manilius, M’. 66, 151f., 155, 164, 170, 198f., 203–208, 236, 443, 594, 596 Marcellus, M. Claudius (cos. 215– 213, 210, 208) 493 Marcellus, M. Claudius (cos. 166, 155, 152) 578 Marcellus, M. Claudius (cos. 51) 493, 499f., 502, 509f., 523f., 526, 530 Marcius, Ancus 164, 167 Marius, C. 70, 99, 123f., 189, 266, 286, 303, 355, 364, 382, 398, 400, 416, 423f., 554 Marius, C. (Pseudo-Marius) 575 Marius, M. 41 Massinissa 154 Matius, C. 232, 249, 575 Maximus, Cn. Mallius 88 Maximus, Valerius 69, 114, 157 Maximus Verrucosus Cunctator, Q. Fabius 211, 222, 595 Memmius, C. (tr. pl. 111) 44 Memmius, C. (tr. pl. 66, pr. 58) 289f., 349 Menippos aus Stratonikeia 498

Orts- und Personenregister

Messalla Niger, M. Valerius (cos. 61) 356 Metellus, L. Caecilius (cos. 251, 247) 223 Metellus Macedonicus, Q. Caecilius 172, 174, 177f. Metrodoros von Stratonikeia 55, 372 Milo, T. Annius 100, 173, 338, 475, 484, 508 Misenum 81, 583 Mithridates VI, Eupator 28, 189, 344, 348, 352, 355, 360, 497 Mnesarch von Athen 55 Molon 498 Mummius, Sp. 141, 176, 182, 199– 203, 237, 433, 594, 596 Mummius, L. 141, 199f. Murena, L. Licinius (cos. 62) 183, 463, 474f., 485 Mutina 569 Mytilene 493, 509, 523f. Naevius, Cn. 218 Naevius, Sex. 337 Narbo Martius 44 Nearchos aus Tarent 216f. Nepos, Cornelius 210f., 286–288, 442, 506 Nikomachos von Tyros 342 Nil 417 Nola 99, 493 Nonius Marcellus 336, 339, 342 Norbanus, C. 70, 87f., 95, 99, 102 Numantia 142, 148, 192f., 236 Numa Pompilius 129, 151, 203, 207, 382f., 401, 406, 411, 424 Octavius, Cn. (cos. 87) 288, 442 Octavius, C. / C. Iulius Caesar Octavianus Augustus 288, 534, 566, 583

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Opimius, L. 44 Orata, C. Sergius 70 Pacuvius 129f., 242, 271, 320 Paetus Catus, Sex. Aelius 170, 204 Paetus, L. Papirius 568, 573 Panaitios von Rhodos 55, 114, 121, 130, 141–146, 148, 161, 164, 182f., 184–186, 188, 190, 197, 200, 218, 233, 349, 362, 390, 486, 552 Pansa Caetronianus, C. Vibius (cos. 43) 569 Parmenides 364 Patron (Epikureer) 289f., 434 Paulus, L. Aemilius 141, 152, 155f., 171, 222, 224f., 237, 239f., 246 Pennus, M. Iunius 525 Perikles 267, 293 Phaidros (Epikureer) 289f., 327, 413, 438 Phalaris 278 Phaleron 293, 391f. Pharsalos 464, 489, 508f., 535, 582 Phidias 125 Philippi 583 Philippus, L. Marcius 41, 45f., 73, 90, 107, 124 Philistos 351 Philon von Larissa 28, 275f., 305f., 309, 311, 327, 354–356, 363, 370, 372–375, 378, 483, 497f., 538, 544f., 580, 589 Philus, L. Furius 137–141, 146f., 152, 155, 159, 161, 168– 171, 173, 176–182, 187, 192f., 199, 206f., 236f., 246, 253, 408, 430, 594, 596 Phrygien 582 Piso, C. Calpurnius (cos. 67) 30, 365

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Orts- und Personenregister

Piso Frugi Calpurnianus, M. Pupius 59, 130, 261–280, 283–285, 290, 292–297, 313, 326, 332f., 444, 471, 486, 488, 593–595 Piso Frugi, C. Calpurnius 262f. Piso Frugi, L. Calpurnius (cos. 133) 266, 272 Pittakos 64 Platon 13, 16–19, 35, 50–53, 56, 68, 89, 118,119, 122, 130, 145–147, 150, 154, 165f., 173, 180f., 186, 193–195, 216f., 221, 231–234, 244f., 260, 265f., 275f., 311, 321, 340, 345f., 364, 380, 382, 385f., 388–390, 395–397, 403, 407, 414, 419, 427, 453, 461, 478, 486, 496f., 529, 553 Plautus, T. Maccius 111, 243 Plutarch 143, 162, 196, 210f., 219, 349f., 361, 462, 466, 506, 508, 511 Polemon von Athen 266f., 272, 390, 484 Polybios 130, 138, 141–144, 148, 154, 161, 166, 197, 203 Pompeius, Q. (cos. 141) 176f., 364 Pompeius, Sex. 310, 318 Pompeius Magnus, Cn. 31, 39, 41, 134, 140f., 175, 262f., 281f., 287, 337, 349f., 352f., 378, 399f., 420f., 431f., 442, 456, 461, 463f., 497, 503, 506– 508, 511, 533–535, 554– 556, 562f., 568, 595 Pompeius Rufus, Q. (cos. 88) 99, 234f., 497 Pontius, C. 216 Poseidonios 190, 200, 306, 322f., 327, 342, 353, 554, 557, 577

Postumius, Sp. Albinus (cos. 334, 321) 216 Proculus, Iulius 382 Ptolemaios Auletes 464 Pulcher, Ap. Claudius (cos. 143) 172 Pulcher, Ap. Claudius (cos. 54) 378, 507f., 560 Puteoli 460, 566, 569f. Pydna 141, 143 Pyrrhon 470 Pythagoras 64, 129, 146, 151, 205, 217, 316 Quinctius, P. 337 Quintilian(us), M. Fabius 73, 75, 194, 338, 509, 511, 579 Rabirius 28, 537, 543 Remus 399f. Rex, Q. Marcius 69, 88 Rhodos 114, 121, 141, 200, 202, 212, 329 Rom 20, 27–29, 34, 41, 45, 58, 67–69, 81, 84, 99, 104, 106, 114, 119, 124, 128–130, 133f., 138, 144, 148f., 151, 173, 177, 181, 185, 190, 194, 205, 209, 211f., 226f., 230, 244, 247, 255, 262, 266, 275f., 280, 286, 289, 300, 339, 344, 348f., 352, 362, 367, 376, 398, 400, 404, 406, 410, 417, 462f., 471, 473, 484, 489, 492, 498, 506, 518, 531, 534, 536, 541, 546, 559, 561, 566, 568, 571, 577, 581– 583, 587, 591f., 599 Romulus 124, 165f., 195, 382, 399f., 406 Roscius, Q. 309 Rubrius, M. 462

Orts- und Personenregister

Rufus, P. Rutilius 84, 92f., 95, 114, 124, 135, 154, 182–184, 188–195, 197–200, 237, 303, 326, 465, 518, 594 Rufus, P. Sulpicius 42f., 47, 54, 58–60, 67, 70, 74, 86–88, 90–106, 109f., 112f., 115f., 163, 228f., 233–235, 256f., 286, 296, 298, 332, 430, 497, 499, 516, 518, 525, 530, 594, 596 Rufus, Ser. Sulpicius (cos. 51) 524 Rullus, P. Servilius 338 Rupilius, P. 176, 199, 237 Rutilia 92 Sallust(ius) Crispus, C. 29, 92, 233, 379 Sallustius, Cn. 37–39 Sardinien 211 Saturninus, L. Appuleius 45, 70, 99, 106, 114, 124, 189, 191, 199, 352, 364, 430 Saufeius, L. 434 Scaevola, P. Mucius (cos. 133) 172, 204, 206, 300f., 364 Scaevola, Q. Mucius (tribunus plebis 54) 423 Scaevola Augur, Q. Mucius 41–45, 48f., 54–56, 58f., 62f., 65f., 73, 76f., 80, 91, 94, 112– 123, 125–128, 130–133, 142, 154, 182, 184, 188f., 191, 194–200, 204, 207f., 233f., 236, 239–241, 247, 249–254, 256, 267, 306, 363, 385, 497, 516, 522, 594, 596 Scaevola Pontifex, Q. Mucius 45, 303, 385 Scaurus, M. Aemilius 45, 124, 189 Scipio Aemilianus Africanus, P. Cornelius 64f., 115, 129f.,

649

132, 136–168, 170–178, 181–188, 190–193, 195– 197, 199–210, 216, 218f., 221f., 224, 226–231, 233– 238, 240f., 244–247, 249, 253, 255, 266, 272, 320, 349, 362, 367, 397, 401f., 406, 432, 443, 474, 486, 498, 530, 537, 540, 578, 593f., 596f., 600 Scipio Africanus, P. Cornelius 141, 155, 160, 211, 213, 224f., 346, 485 Scipio Asiaticus, L. Cornelius (cos. 83) 262 Scipio Nasica Corculum, P. Cornelius 212f., 300f. Scipio, Cn. Cornelius (cos. 222) 224f. Serranus, S. Atilius (cos. 136) 176 Sertorius, Q. 92 Servilia Caepionis 466, 506 Servilius, C. (pr. 102) 348 Servius Honoratus, Maurus 197 Sextilius, P. (pr. 89/88) 106 Silanus, D. Iunius (cos. 62) 506, 525 Simonides von Keos 299 Sisenna, L. Cornelius 338 Sizilien 123, 192, 233, 281, 292f. Smyrna 135, 189, 191f., 195 Sokrates 17, 50–54, 67f., 80f., 89, 119, 133f., 139, 145f., 150f., 154f., 161, 165f., 168, 170, 172, 174, 176, 186, 194, 197, 218, 222, 227, 239– 242, 244, 272, 306, 321, 364, 382, 384, 395, 397, 402, 404, 427, 436f., 440, 466, 529f., 541, 591 Solon 64, 216, 425 Sophokles 282–284

650

Orts- und Personenregister

Spanien 92, 162, 176, 196, 203, 211, 223, 262, 510, 533, 582 Spartacus 462 Speusippos 266, 272, 284, 390, 484 Staseas von Neapel 59, 116, 264f., 269f., 275, 277f. Statius, C. Caecilius 80, 218, 242 Stilo, L. Aelius 534 Stratokles 528f. Sulla Felix, L. Cornelius 41, 92, 99, 114, 124, 163, 183, 261f., 266, 286, 305, 309, 337, 348, 352f., 399f., 419, 431, 462, 476f., 490, 497 Sulla, P. Cornelius 446, 454 Syrien 141, 498 Tarent 50, 192, 211, 216f., 591 Tarquinius Superbus 157, 382f., 424, 477 Terentia Ciceronis 581f. Terenz / P. Terentius Afer 144, 156, 164, 177, 242f., 245, 271, 320 Tertia, Aemilia 213 Thales 312, 341f. Thapsos 446, 464, 489 Themistokles 360, 528f. Theophrast 119, 130, 233, 245, 270, 274, 390f., 484, 486 Theopomp 351 Thukydides 351, 529 Tiro 582 Titinia Cottae 93 Titius, Sex. (tr. pl. 99) 70, 88 Torquatus Imperiosus, T. Manlius (cos. 347, 344, 340) 440– 442, 453 Torquatus, A. Manlius (pr. 52) 440–443 Torquatus, L. Manlius (cos. 65) 440f., 446

Torquatus, L. Manlius f. L. 271, 308, 312, 317, 433–461, 470, 472, 477–480, 482f., 502, 509, 524, 540, 591, 594f, 597f. Torquatus, T. Manlius (cos. 165) 440, 453 Triarius, C. Valerius 296, 433f., 442, 447f, 452f., 456–460, 462, 502, 509, 524, 540, 591, 594f., 597 Tubero, Q. Aelius 114, 144–147, 152, 156, 161, 170, 172f., 182–188, 190, 192f., 197f., 237, 326, 465, 486, 496, 594, 596 Tullia (Tulli Ciceronis filia) 262f., 515 Tullius, Servius 167 Tusculum 41, 73, 98, 125, 210, 214, 366, 405, 461, 504, 516, 581 Tyrannion 581 Tyros 342, 363, 462 Utica 464 Valerius Poplicola, P. 364 Varro, M. Terentius 38, 97, 356f., 359, 367, 532–547, 556, 571, 591f., 594f., 598 Varro Lucullus, M. Terentius 348 Velleius, C. 264, 271, 297, 299f., 302–322, 325–328, 333, 343, 447, 449, 451, 456, 594f., 597f. Vercellae 123 Vergilius, C. (pr. 62) 281 Verginius, A. 237 Verres, C. 67, 142, 292, 337 Veturius Calvinus, T. (cos. 334, 321) 216 Vigellius, M. 310, 318

Orts- und Personenregister

Xenokles von Adramyttion Xenokrates 266f., 272, 284, 390, 486, 552 Xenon (Epikureer) 289 Xenophanes 364 Xenophon 13, 124, 216, 223, 245, 351, 404, 439, 529, 553 Zaleukos von Lokroi 395f., 425 Zenon von Kition 300f., 320, 390, 413, 436, 470f., 487, 545 Zenon von Sidon 305f., 315, 438, 545 Zypern 464, 507

651

Stellenregister

APPIAN civ. 1,37 4,47 Lib. 15,101f. APULEIUS apol. 66,4

92 534

203

106

ARISTOTELES eth. Nic. 8,1155b31‒56a5 233 9,1161a 246 ASCONIUS PEDIANUS Pis. 62 262, 275 ATHENAIOS 6,108,274e

114

AUGUSTINUS civ. 2,13‒19 179 2,21 169, 179 7,35 534 conf. 3,7‒8

346

CAESAR civ. 1,24,3

446

1,38 2,17–20

534 534

CATULL 61,209‒218

446

CICERO ac. 1,1 1,2 1,3 1,4 1,4–8 1,5 1,5f. 1,6f. 1,7 1,10 1,11 1,12 1,13 1,14 1,15–43 1,18 1,25 1,26 1,33 1,35 1,41 1,43 1,44–46 1,46 2,1 2,2 2,3 2,4

536, 541 28, 536, 541, 546 537, 541 537 542 543 538 547 538 542 542 538, 543 370, 538, 544 537f., 547 540 538f., 544, 546 539, 547 539, 544 544, 546 544 547 370, 544 545 545 348, 360 360 359‒361 361

654 2,5 2,5f. 2,6 2,7 2,7f. 2,8 2,9 2,10 2,11 2,12 2,12f. 2,13 2,14 2,17 2,18 2,55 2,61 2,62 2,63 2,64 2,66 2,80 2,94 2,98 2,105 2,113 2,115 2,118‒131 2,120 2,125 2,135 2,137 2,147 2,148

ad Q. fr. 1,1 1,3 1,4 2,10 2,12

Stellenregister

217f., 362 537 33 358, 367f. 369 374 358 366, 372f., 376 372 125, 354 363 364 364 366 366, 373 366 366, 376 364, 368 365, 371‒373, 377 371, 375 301, 368 369 547 372 369 370 370 371, 375 369 369 184 213 369 125, 354, 366, 372‒374, 377

142, 216, 282f. 281, 339 281 282 581

2,13 2,16 3,1 3,5 3,7

137 282 282 37f., 136, 282 282

Arch. 6 15f. 16

124, 354 140, 177 140

Att. 1,1 1,2 1,5 1,13 1,14 1,16 1,18 2,1 2,6 2,7 2,9 2,12 2,13 2,16 2,17 2,19 2,24 2,25 3,18 4,5 4,13 4,15 4,16 4,18 5,10 5,21 6,6 7,2 7,3 7,4

533 286, 581 292 263 263, 365 263 30, 465 195, 286, 288 410 410 418 30 30 417 417 141, 175 353, 507 338 534 125 39 582 38, 121f., 137, 182, 196, 535 582 289 512 338 434, 449 164 568

655

Stellenregister

7,13 7,17 7,18 9,1 9,6 9,10 9,11 10,4 10,9 10,11 11,20 12,4 12,5b 12,7 12,20 12,28 12,44 12,45 12,52 13,5 13,6 13,10 13,12 13,13 13,13f. 13,16 13,18 13,19 13,21 13,21a 13,30,2f. 13,32 13,33 14,1 14,4 14,11 14,13 14,14 14,17a 14,20 14,21

582 582 582 282 582 287 287 282, 568, 582 582 582 568 465 196, 338 582 93 467 568f. 569 472 200 200 510 356‒358, 532, 535 359 357, 535 356f., 533, 535 535 38, 97, 298, 308f., 357, 535 547 514 200 372 338 508, 575 575 566 566 565 575 513 208, 210, 571

14,22 15,16 16,13a(b) Brut. 2 4‒6 8 9 10 10f. 11 11f. 12 13 13–15 14 15 15f. 16 17 17f. 17–19 19 19f. 20 21 22 23 24 42 43 44 45 52 53 65‒74 70 74 82 83 84

571 583 196

339 339 503 489 492, 514 494 515, 526, 528 515 492 515f. 288, 411 516 494 132, 528 494, 528 516, 528 495 516 495, 528 527 495, 516 495, 517 496, 508, 517, 520 496, 520 496 528 529 529 499 517 498, 525 226 504 517 144 162, 164 144, 162, 164

656 85 85‒89 94 99‒101 101 102 107 108 109 113 114 114f. 114–118 115 116–120 117 117–121 118 118f. 119 120 121 122 123 130 132 132f. 133 138 139–142 143 147 154 156 156f. 157 161 163 164 175 177 192

Stellenregister

163, 191 192 200 195 197 123 525 177, 204 525 124, 190 190 193 93 194 496 183f. 491 184, 190, 465, 474, 496 521 495 492, 497, 520 497 522 522 525 125 124 353 43, 46, 67, 71 71 46, 49 522 318 524 526 524f. 69, 162, 497 71 46 525 106 508

201–204 202 203 203f. 211 212 213f. 214 218 222 226 230 231 232 236 240 248 249 250 251 251–261 252 252f. 253 254 254f. 255f. 255–258 258 262 263–265 265 265f. 266 269 284 284–291 292 292–297 293 294

96 93 100, 101 60, 90, 95, 101 44 123 75 71, 103 581 353, 360 106f. 508 499, 519 519 263, 265 262, 525 523 499, 523 523 499f., 527, 531 530 531 524 500, 531 501, 523, 532 501 501 532 140 522 524 447, 457, 460, 502 456 447, 502, 524, 527, 563 310 504, 520 505 520, 529 503 529 530

657

Stellenregister

295–297 297–299 299 300 304–321 305 306 307 309 310 312 315 315f. 322 324 325 328 331 332

530 503 522, 530 504 497 92f., 107 100, 114, 275, 497, 544, 589 42, 370 498, 521 498 498 276, 370 498 338 508 339 508 518 499, 521, 525

Caecin. 97

93

Catil. 1,2 1,11 1,30 2,1 2,2 3,25 4,3

399 399 399 399 399 352 399

Cato 3 4 5 6 8 10 12 14

209, 213f., 219, 225, 228 227f. 219, 231 227f. 227, 230 211, 218, 222 222 218, 222

15 16 19 20 23 24 25 26 28 28f. 30 31 32 33 35 38 39‒41 41 44 46 50 51 52 54 59 73 75 77 78 79‒81 79‒82 85

223 218 224, 229 218 216, 229 218 218 216f., 469 229 224 216, 223 216 223 229 229 217, 226 216 216 216f. 216 218 219 220 216, 226 216 217f. 226 221, 224, 229, 244 217 216 216 229

de orat. 1,1 1,3 1,5 1,7–23 1,11 1,13 1,17f. 1,23

40 40 40 48 47 78 108 440

658 1,24 1,25 1,26 1,27 1,28 1,29 1,30 1,30–34 1,32 1,33 1,34 1,35 1,35f. 1,35–44 1,37f. 1,39 1,40 1,43 1,45 1,45f. 1,45–48 1,45-73 1,47 1,58 1,66 1,71 1,74 1,74–77 1,75 1,76 1,76f. 1,78 1,80f. 1,81 1,82 1,82–95 1,83–92 1,94 1,95 1,96 1,96–98 1,97

Stellenregister

41, 43f., 73, 115 90 41f., 93, 298 61 115, 118, 132 42, 49 90f., 499 48 62 323 60 115f. 115 48, 115 118 116f. 118 119 47, 120 55 54 49 56 115 117 66 117 115 54, 120 66 122, 131 64, 66 73 77 73, 77 54 78 71, 75 66, 78 91, 101 101 60, 102

1,98 1,99 1,100 1,101 1,102 1,104 1,105 1,105f. 1,106 1,113 1,122 1,123 1,130 1,131 1,131f. 1,132 1,133 1,134 1,136 1,148 1,159 1,160 1,160f. 1,161 1,162 1,163 1,164 1,165 1,166–203 1,167 1,171 1,171f. 1,178 1,190 1,191 1,203 1,204 1,205 1,206 1,207f. 1,208 1,209–262

104 58, 62, 74 94 94 58, 101 59, 116, 130, 263f. 56, 59, 115 116 62, 91 115 52 113 52 59, 91, 101 60, 101 86 91, 94 91, 96 101 91,101 108 115f. 94 91, 94 115 91, 94, 112, 116 115, 121 49, 115 49 115 226 75 70 49 47, 117 101 115 101 101 74 71, 85 73

Stellenregister

1,211 1,212 1,224 1,227 1,227‒231 1,227–233 1,229 1,230f. 1,234 1,234–256 1,235f. 1,243 1,248 1,255 1,265 2,1 2,1–7 2,2 2,3 2,4 2,5 2,7 2,10f. 2,12 2,12–28 2,13 2,14 2,15 2,16 2,17 2,17f. 2,18 2,19 2,19f. 2,20 2,22 2,26 2,27 2,28 2,28f. 2,28–30 2,32–38

174 204 84 193 193 95 95, 194 193 117 117 76 62 76 76 77, 115, 118 80 43 46f., 107 69, 71 47, 57, 72f., 80, 83 49 44, 83 43 60, 86, 95, 125 64 115, 126 107, 111, 127 127 57 57 111 57 56, 132 64 132 44, 64, 115 65, 109 112 127 87 79 79

2,36 2,39 2,40 2,41–73 2,43 2,47 2,48 2,49 2,50 2,51 2,51–64 2,54 2,59 2,60 2,61 2,62 2,64 2,71 2,75 2,77 2,88 2,88f. 2,89 2,96f. 2,97 2,98 2,100 2,106 2,107 2,117 2,122 2,124 2,125 2,132 2,133 2,142 2,151 2,152 2,152f. 2,153 2,154 2,154f.

659 411 79 79f. 130 130 130 70, 88, 130 130 130 79, 130, 132, 411 81 130 80f., 130 81 82 81, 411 81 130 132 56 47, 86, 88, 98, 101 91 70, 87, 102 87, 103 101 88, 96, 110 87 77, 88 70, 95 87 77 70, 88, 95 88 88 87 49 128 82, 128, 130 128 82 128, 140, 157 129, 138, 164,

660

2,155 2,156 2,158–161 2,161 2,164 2,165 2,167 2,169 2,170 2,179 2,188 2,194–196 2,196 2,197 2,197–204 2,201f. 2,202–204 2,216 2,216–290 2,217 2,227 2,227–230 2,228 2,229 2,230f. 2,231 2,232f. 2,233 2,235 2,235–290 2,336 2,260 2,263 2,265 2,275f. 2,290 2,360 2,361 2,362 2,365 2,366 2,367

Stellenregister

177 83 83, 85, 171, 242 84 84 70 88 70 88 88 132 88 88 86 87, 91 70 95 87, 101 109f. 108 111 62, 109 84 62, 133 63 109 101, 109 63, 110 110 111 108 101 79 79 107 108 111 47 85 85, 89 89 94 94, 111

3,1‒3 3,1–6 3,1–12 3,1–14 3,6 3,10 3,11 3,17 3,17f. 3,18 3,20 3,21 3,25–28 3,29 3,29–34 3,30 3,31 3,32–34 3,46 3,46f. 3,47 3,51 3,54 3,56 3,56–73 3,56–80 3,59f. 3,60f. 3,61–68 3,63–68 3,64 3,65f. 3,68 3,69 3,71 3,74 3,75 3,77f. 3,78 3,80 3,82 3,83f.

298 45 42 53 46 70, 81 92f., 100 111 108 111 47 50, 130 50 108, 127 62 108 91, 95, 101 62 60, 96, 103 60, 101 60 73 71 64 53 96 50 50, 53, 305 51 64 51 52 44, 114, 120 52 52 63, 66 44, 47 310 200, 304, 318, 323 310 66, 131 66

661

Stellenregister

3,85–90 3,87 3,90 3,92 3,93 3,95 3,122 3,126–131 3,131 3,133 3,135 3,143 3,144f. 3,145 3,146 3,147 3,177 3,182 3,187 3,189 3,208 3,226 3,228 3,229 3,229f. 3,230

64 143, 184 66 112 56 66 71 132 56 44, 66, 203f. 226 54, 64 54, 94 96, 298, 305f., 553 54, 108, 110 54, 97, 101, 103f. 44 130 130 71, 73, 84f. 94 108 337 337 67 91

div. 1,5–7 1,7 1,8 1,8f. 1,9 1,10 1,11 1,13–16 1,17 1,17–22 1,19 1,22 1,24 1,27

552, 557 557 549 329, 550, 563 551f. 552 553 554, 563 551 563 551 551 554 565

1,39 1,46 1,52 1,53 1,55 1,60 1,64 1,68 1,70 1,71 1,80 1,83 1,103 1,105 1,106 1,113 1,117 1,119 2,1 2,1‒3 2,1‒4 2,2 2,3 2,4 2,7 2,8 2,9 2,10f. 2,28 2,37 2,53 2,63 2,70 2,89 2,92 2,99 2,100 2,100–147 2,108 2,110–112 2,111 2,118 2,124

553 553 553 553 554 553 553 554 554 553 553 553 561 560 554, 563 554 550 554, 562 554 297 259 259 134, 208, 565 33, 410 558 549, 555, 561 557 557 560 562 563 564 561 563 563 549, 562 552–554 553 563 563 563 563 563

662

Stellenregister

2,142 2,148 2,150

563 558 552, 564

div. in Caec. 63 69

106 142

fam. 1,9 5,7 6,1‒4 6,2 6,6 6,7 7,1 9,1 9,2 9,3 9,4 9,6 9,7 9,8 9,14 9,16 9,18 9,20 11,27 11,28 13,1 13,11 15,4 16,21

38 140, 175 442 72 510 510 41 535, 569 535 535 535 503, 535 535 532, 535f. 575 568, 573 568, 573 568, 573 232 232 289 582 465, 560 582

fat. 1 2 3 3f. 4 5 12 17

312 570, 572, 575 572f., 576 573 574, 576 577 578 578

20 27 28 33 40 fin. 1,1 1,1–5 1,2 1,4 1,7 1,8 1,13 1,14 1,15 1,16 1,17 1,17‒26 1,23 1,23‒25 1,24 1,25 1,26 1,27 1,28 1,29 1,31 1,32 1,34f. 1,36 1,50 1,57 1,65‒70 1,71f. 1,72 2,1 2,1f.

577 578 578 578 578

29, 261, 274, 411, 444, 537 128 341 67 190, 192 513 448f., 457 433‒435, 448, 460 435, 438 438 437 437 437, 440f. 453 440 434, 452, 457f., 460 437, 448, 458 444, 449, 452, 460 444, 452 449f. 451 451 454 443, 454 443 450 233 439, 482 434, 438, 452, 460 439 436

663

Stellenregister

2,2 2,2f. 2,3‒17 2,13 2,14 2,17 2,21 2,22 2,23 2,24 2,24f. 2,25 2,27 2,28 2,29 2,37 2,39 2,41 2,44 2,57 2,59 2,60f. 2,60‒63 2,62 2,67 2,70 2,72 2,72f. 2,74 2,76 2,76f. 2,78‒85 2,80f. 2,84 2,87 2,93 2,94 2,97 2,105 2,106 2,113 2,119

260 436 436 439 439 436, 450 450, 459 445 439 164, 439, 443 443 439 448 445 445 277 445 439 445 442 435, 443 440 453 440, 442, 454 442 445 440f. 453 433, 443, 455, 460 454 459 233 456 460 439 442 439 439 439, 443 439, 443 437 450, 459, 460,

3,1 3,2 3,2f. 3,5 3,6 3,7 3,8 3,9 3,9f. 3,10 3,11 3,14 3,15 3,15f. 3,16‒18 3,20 3,21 3,23 3,24 3,25 3,33 3,35 3,37 3,39 3,40 3,45 3,49 3,50 3,51 3,52 3,53 3,55 3,57 3,60f. 3,64 3,67 3,69 3,70 3,74 3,75 3,79

479 261 308, 461 449, 473 471 467 461, 468, 478, 481 366, 467, 481 345, 467, 482 482 469, 483 470 470, 483 470f., 487 472 277 472 472 472 472 472 470, 472 472 485 472 473, 487 472 470 474 470 472 472 472 470, 472 476 476 470 472 233 472 477 478

664 4,1 4,2 4,3 4,5 4,5–7 4,7 4,14 4,21 4,22 4,23 4,24 4,24–39 4,26 4,40–48 4,44 4,56 4,61 4,62 4,66 4,73 4,74 4,79 4,80 5,1 5,2 5,2‒4 5,3 5,4 5,5 5,6 5,7 5,7f. 5,8 5,15 5,15‒23 5,24‒26 5,24‒60 5,27

Stellenregister

461, 475, 484, 487 485 484 486 473, 484 474, 484f. 487f. 487 485 145, 164, 184, 486 480 483 474 483 473, 488 476 478 479 477, 485 263, 265, 486 474, 485 486 479, 488 261, 266, 293 266, 272 284 283, 290, 417 276, 290 267, 293, 295 267, 274, 276, 294f. 267‒269, 285, 295 260 261, 268, 270, 272, 274f., 295 269, 295 270 277 270 269, 277, 295f.

5,28f. 5,31 5,32 5,49 5,50‒54 5,53 5,54 5,58 5,61‒74 5,62 5,71 5,74 5,75 5,75‒86 5,76 5,76f. 5,78 5,81 5,84f. 5,85 5,86 5,86‒95 5,87 5,89 5,95 5,96

271 271 271 271 271 271 269, 295 271 270 271 269, 295 273 269, 277f., 295f. 270 273, 296 278 273 278 278 278 274, 277, 279, 295 270 269 270 279, 295f. 284, 291, 459

Hort. (= fr. Grilli) 1 336 2 336, 350, 461 3 350 4 354 5 461 8 354 10 355 11 350 13 351 14 351 15 351 17 339 18 339 21 355

665

Stellenregister

22 24 25 26 26‒32 32 33 34 36 37 41 50 51 52 53a 54 55 63 63‒87 74‒76 77‒83 84‒87 92 93 96‒105 106‒109 115

344 339 339 340 340 344 340 347 340 341 336 342 341 341 344 342, 344 344 346 345 345 345 345 345 345 346 345 346

Hort. (= fr. Str.-Z.) 8 336 inv. 1,1 2,122 2,166

51 45 233

Lael. 1 1f. 2 2‒5 3

114, 254 233 100 234 233f., 253

4 5 6 6f. 7 7f. 8 8‒16 9f. 10 11 13 14 14f. 16 17 17‒32 18‒19 18‒24 19 20 21 22 24 25 26 30 32 33 33‒35 33‒100 33‒104 36 37 38 40 41 42 43 45

208, 213, 234, 252 235, 251 238 163, 250 238 239 240, 250f. 238 239 227, 236, 240, 243 236 243 236, 244f. 236 250f., 253 242 238 241 250 245 245 236, 241, 246 242 242 196, 242, 250, 252f. 242 236 245, 250f. 238, 250f. 238 236 238 242 184 241 246 236, 246, 251 248f. 249 245

666 46 51 59 60‒62 64 69f. 73 86 89 93 95f. 96 99 101 102‒104 103 leg. 1,1 1,1‒3 1,2 1,3 1,4 1,5 1,5–7 1,6f. 1,7 1,8 1,9 1,10 1,11 1,12 1,13 1,14 1,15 1,16 1,18 1,18f.

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245 236 241 236 242 236 236 245 164, 242 242 249 162f., 236, 249 242 176, 199, 236f. 236 162

408, 416, 423 409 382, 423 382, 409 382, 409 383, 391, 398, 409, 424 132 411 425 383, 399, 410, 413, 421, 425 384 384 384 384, 425 114, 385, 401, 425 380, 385 385, 397, 404, 414 245, 387, 401 245, 387, 427 387, 389

1,20 1,21 1,27 1,28 1,32 1,34 1,34f. 1,35 1,36 1,37 1,38 1,39 1,42 1,53 1,53f. 1,54 1,55 1,56 1,57 1,58‒63 1,62 1,63 2,1 2,2 2,3 2,4 2,5 2,6 2,8 2,11 2,12 2,14 2,16 2,17 2,18 2,21 2,23 2,24 2,31–33 2,32 2,34

397, 401, 413, 428 412 397 413 401, 409 428 426 415 392 392, 401 390, 392 51, 392, 413 388 413, 415 413 391, 413 390, 397 428 425, 428 389, 394 389 394, 416 404 404, 416 404f. 417f. 405f. 398, 400, 414, 420 388, 428 426 426f. 395, 416 427 396f., 427 428 407 397, 401, 411 416, 419 559 411, 419 407, 419

667

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2,36 2,38 2,41 2,42 2,43 2,45 2,47‒49 2,48–51 2,62 2,67 2,67f. 2,69 3,1 3,4 3,5 3,9 3,12 3,13 3,14 3,14f. 3,17 3,18 3,19 3,19‒22 3,21f. 3,21–26 3,23 3,25 3,26 3,30 3,32 3,33‒37 3,34 3,34‒37 3,35 3,35f. 3,37 3,38 3,39 3,40 3,44f. 3,48 3,49

399, 419 397 397 399, 429 429 397, 414 385 123 412 419 397 397, 419 397, 414, 419 397, 401 397 407 397, 401, 426 401 391, 422 390 402, 429 419 407, 429 429f. 398, 430 553 402 398f., 561 399, 420, 432 421 397 402 432 429, 432 432 432 402, 420, 432 248, 402 403 400 398 421 421

leg. agr. 2,64

140

Manil. 51 59 59f. 62 63 64 66

352 352 352 463 352 463 352

Mur. 61 61f. 61–66 66 75f.

29 241 475 140, 145 183f.

nat. deor. 1,1 1,6 1,7 1,8 1,10 1,11 1,15 1,16 1,16f. 1,17 1,18 1,24 1,24‒43 1,43 1,56 1,57 1,57‒124 1,58 1,59

299, 316 323, 326 328 331 313f., 316, 322, 328 328 93, 314, 316, 322, 326 264, 297f., 314, 322, 326, 483 469 299, 311, 314, 316, 327, 459 306, 311 321 312 313 313, 316 307 299 314 305, 307, 315

668 1,60 1,61 1,79 1,87 1,121 1,123 2,1 2,2 2,3 2,4 2,4‒44 2,6 2,10 2,11 2,14 2,20 2,37 2,45‒72 2,47 2,61 2,73 2,73‒153 2,74 2,76 2,88 2,99 2,104 2,104‒114 2,138 2,147 2,148 2,154‒168 2,160 2,165f. 2,167 2,168 3,1 3,2 3,2‒4 3,4 3,5

Stellenregister

299 303, 307, 309 309, 352 308 233 306 304, 316 305, 324 319 320 319 319 319f. 318 318, 320 321 222 319 321 321 297, 321 319 315, 323 321 322 222 271, 320, 330 320, 330, 564 323 321, 323 323 319 321 320 321 300, 302, 305, 324 308 317 308 319 162, 300, 323f., 560

3,5‒9 3,6 3,8 3,9 3,9‒93 3,13 3,14 3,18 3,19 3,20 3,43 3,80 3,80f. 3,81 3,95

301 301 323f. 302 299 302 302 297 548 302 162 189 303 304 299, 317, 328, 459

off. 1,26 1,50‒58 1,103 1,108 1,112 1,122 1,133 2,26 2,28f. 2,31 2,40 2,47 2,50 2,84 3,10 3,43‒46 3,63

562 233 106 106 562 91 125, 353 562 562 231 162 191 106, 348 562 190 233 184

orat. 1 1–3 11 12 18 33

513 512 589 275 71 71

669

Stellenregister

33f. 35 69 100 105 114 120

510 465 71 71 71 521 288

Rab. perd. 21

parad. 1 1f. 50

469 465 203

1,14

part. 1 2 3 5–26 8 27–60 33 42 61 61–138 70 83 92 132 139 140

581, 583, 587 584 588 588 585 588 586 585 586 588 588 586 586 586 579, 588 586, 589

Phil. 11,11

107

Pis. 6

353

Planc. 12

123

p. red. in sen. 37

281

rep. 1,1 1,1‒13 1,2 1,13

1,15 1,15f. 1,16 1,17 1,18

1,19 1,20 1,21f. 1,21‒24 1,23 1,26 1,28 1,29 1,30 1,31 1,32 1,33 1,34 1,36 1,37 1,38 1,39 1,54‒64 1,55‒64 1,56 1,58‒64 1,66 1,68 1,70

114, 191

214 135 392 135, 146, 155, 191 135, 142, 152, 183, 185f. 145, 186f. 169 146 152, 156, 177f., 192 152, 156, 182, 196‒198, 204, 230 169, 178, 206 164, 170, 206 179 147 147, 187 147, 155, 187 205 170, 205 170f., 242 171, 247 172 173, 198 141, 147, 167 148 178 168 245 159 174 174 174 164 164 149, 156

670

Stellenregister

1,71 2,1 2,3 2,18 2,21 2,21f. 2,28f. 2,28‒30 2,29 2,30 2,33 2,37 2,51 2,64 2,65f. 2,67 2,69 3,5 3,8 (7) 3,17 3,28 3,33 3,41 3,42 3,46 3,47 3,48 4,3 [IIb] 5,2 5,5 5,6 5,11 6,2 6,9 6,12 6,12‒24 6,15f. 6,20 6,29

148, 167 153 150, 154, 165 175 165 165 129 151 151 151 164 167 157 156, 187 188 162 167 139, 181 179f., 430 206 182 168 172, 247 168 201, 433 201 200f. 197 136 206 156 200 162 155 156, 160, 175 244 221 155 346

98 103f. 121 138f.

40 249 353 403

top. 92

579

Tusc. 1,1‒5 1,1–8 1,3 1,5 1,7f. 1,74 1,81 2,1–5 2,4 2,9 4,4 4,5 4,6f. 5,6 5,10 5,55 5,57–66 5,66

410 67 29, 33 33 22 465 145 537 356 28 184 164 327, 538 28 146 72, 106 562 64

Verr. 2,1,37 2,2,28 2,2,86 2,4,73 2,4,86 2,4,98 2,4,126 3,170 4,25 4,137f.

262 142 142 142 157 157 125 292 292 292

Sest. 61 97‒103

463 403

CICERO, Q. TULLIUS Comm. pet. 46 281

671

Stellenregister

DIODOR 4,21,4 30,22 36,9,1

349 141 348

GELLIUS 1,3,11‒31 1,22,7 13,12,6

233 184 533

HERAKLIT fr. 114 DK

387

HOMER Od. 12,184‒191

271

LAKTANZ inst. 1,6,7

534

LIVIUS 44,44,1‒3

141

LUCILIUS (= fr. Chr. Gbg) 82–92 114 671‒672 204 1141‒46 163 LUKREZ 5,8f. 5,703–771

313 173

NEPOS Att. 2,1 2,1f. 2,2f. 6,1 8,2 8,3f. 11,2 15,3

100 286 286 287 506 287 442 338

18

288

Cato 1,3 1,4

211 211

PAUSANIAS 7,11,4–8

28

PLATON Gorg. 447a 463c 484c‒485e

170 382 340

leg. 1,624a 1,625b 1,626d‒e 1,634b‒c 2,653a7‒9 4,722b

386, 408 380, 404 419 419 271 396

Phaidr. 229a 229a‒d 229e 230d 244d 257c 269d 278e–279b 279a

119 382 384 404 552 81 496, 518 133 68

polit. 259b9–c4

207

Prot. 314e

153

rep. 1,331d

122

672

Stellenregister

1,336e 4,429d 8,562c‒563c

181 345 164

Tht. 143b‒c

234

Tim. 69c

16,1 16,1f. 20,1 24 44,6

462 463 462 466 464

Cic. 47,1‒3

282

Luc. 1f. 1,4 1,5 2,1 3‒5 41,3 42,2‒4

348 349 349 348 361 350 349

Ti. Gracchus 4,6 8,4f. 11,1

196 162 203

POLYBIOS 4,10,12‒14 29,18 32,8‒15 32,9‒16 32,11

154 141 143 141 143

216

PLINIUS DER ÄLTERE nat. 7,112 213 7,176 533 PLINIUS DER JÜNGERE epist. 5,3,5 446 PLUTARCH Aem. 6,8‒10

143

Brut. 1,3f. 2,1–3 4,1 6,1f.

506 511 507 508

Cato mai. 1 2,3 3 12,4 22,5 22f.

211 211 211 212 28 213

Cato min. 3,2f. 4,1 9,3 10 12,1

462 462 462 462 462

POMPONIUS (SEXTUS) 1,2,2,40 184 PS.-PLATON epin. 991e-922a QUINTILIAN inst. 2,1,44 2,4,27 2,17,6 3,1,19

338 338 73 71, 75

673

Stellenregister

3,3,7 3,11,19 5,10,9 10,1,123 11,1,12‒13 12,1,35 12,9,5 SALLUST Catil. 49,2 52,36 Iug. 31,15

579 579 509 53, 511, 513 194 213 74

353

233

SENECA DER JÜNGERE dial. 12,9,4–6 509, 524 epist. 15,95,72f. 16,98,13 SERVIUS Aen. 6,875

183 183

197

STOICORUM VETERUM FRAGMENTA 3,314 388 3,432 156 SUETON Iul. 15 55,2

353 106

TACITUS dial. 25

513

VALERIUS MAXIMUS 3,8,5 114 5,1,6 157 5,1,7 157 9,12,4 124 VARRO rust. 2, proem. 6 2,10,8 3,12,7

533 533 533

VELLEIUS PATERCULUS 2,16,3 338 2,22,4 124 2,32,1 352 2,43,3 353 XENOPHON Kyr. 8,7,17–22

216

oik. 5,12

404